Deutsche Poetik . ────── Theoretisch-praktisches Handbuch der deutschen Dichtkunst . Nach den Anforderungen der Gegenwart von Dr . C. Beyer. ────── Zweiter Band. ────── Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1883. K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart. Vorwort . ────── Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers- und Formenlehre die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie und vollendet somit den Auf- und Ausbau einer Wissenschaft der deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart. Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Gesetz &c. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen, sondern auch den Feinheiten in der Technik &c. nachzugehen, alle auf die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen. Jnsbesondere wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungsarten erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteraturgeschichte auch durch diesen Band herzustellen. So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichtskreise zu erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich finden dürfte, welche nicht Neues, Jnteressantes, litterarhistorisch Wertvolles böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dramaturgie ergebenden §§ 20─43, 149─177 &c., ferner jenen, den Begriff der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, die Paragraphen über Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunstepos, Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch dramatischen, wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musikdrama, Operette und Schauspiel mit Musik &c.) eingehend dargelegt werden konnte. Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Entgegenkommen hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter, welche Privat= wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar erwähne ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek Dr . Faust Pachler, Hofrath Dr . v. Zoller, Geh. Hofrath Dr . v. Wehl, Rektor Dr . Blancke, Gymnasialdirektor Dr . Authenrieth, Professor Dr . Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr . Joh. Minckwitz, Bibliothekvorstand Professor Dr . Wintterlin u. a. Erfreulich war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeichnungen poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach förderten und in ihren Trägern ehrten. Jndem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohlwollende Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles, Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen; als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter; als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bildungsuchende Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für den gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei, der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die Kunst motivierten Jdealismus und zu ewig währenden idealen Dichterthaten. Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882. Dr . C. Beyer. Jnhalts-Verzeichnis. ────── Deutsche Poetik. Zweiter Teil. Die Dichtungsgattungen. Einleitung. Charakter der Poesie und Einteilung derselben. Seite § 1. Objektive und subjektive Poesie 1 § 2. Volkspoesie und Kunstpoesie 2 § 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und moderne Poesie 6 § 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form 7 (Lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie) 7 § 5. Einteilungsschema der Poesie 9 ────── Erstes Hauptstück: Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik. I . Lyrik. § 6. Begriff der Lyrik 10 § 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht 11 § 8. Eigenart des Lyrikers 12 § 9. Anforderungen an den Lyriker 13 § 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik 15 § 11. Umfang des lyrischen Gedichts 16 § 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik 16 II . Didaktik. § 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie 18 § 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie: der Gedankenlyrik; ferner das Gesetz der Didaxis 20 § 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter 23 III . Epik. § 16. Begriff der Epik 24 § 17. Anforderungen an den Epiker 24 § 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik 25 § 19. Epischer Stil 26 Proben des epischen Stils 27 IV . Dramatik. Seite § 20. Begriff der Dramatik 29 § 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama 31 § 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden 32 § 23. Anforderungen an die Handlung 33 § 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama 35 § 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held 36 § 26. Stoff des Drama 37 § 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale 38 § 28. Tendenz des Drama 40 § 29. Das Motivieren im Drama 41 § 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung 41 § 31. Teile des Drama und Umfang desselben 42 § 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog 43 § 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart 46 Beispiele für den Bau ganzer Dramen 47 § 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama 47 § 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama 49 § 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung 51 Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen 52 Liebesscenen, Ensemblescenen 53 Massenscenen 54 § 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen 54 § 38. Sprache und Form des Drama 54 § 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen 56 § 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung 58 § 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung 59 § 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung 59 § 43. Erfolg der dramatischen Dichtung 61 V . Übergänge der Gattungen der Poesie. § 44. Einteilung der Übergangsformen 62 § 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen 63 § 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten 64 (Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.) § 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen 68 ────── Zweites Hauptstück: Die lyrischen Dichtungen. § 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen 70 I . Formen ruhiger Empfindung. Das Lied und seine Formen. § 49. Begriff und Einteilung 71 § 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen 72 Volkslied. Seite § 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes 73 § 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage und poetisch=schöpferischer Volkskraft 78 § 53. Das Volkslied als Naturpoesie 81 § 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds 82 § 55. Einteilungsversuch der Volkslieder 87 Beispiele des Volksliedes 91 § 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des Volkslieds 94 § 57. Das geistliche Volkslied 95 § 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes 96 § 59. Das Volkslied der letzten Decennien 98 Kunstlied. § 60. Mission des Kunstliedes 99 § 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes 100 Formen des Kunstliedes. Weltliches Lied. § 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101 Das Bardiët 103 § 63. Das Naturlied 107 § 64. Minne- oder Liebeslieder 109 § 65. Das komische Lied 113 § 66. Das gesellige Lied 116 1. Gesellschaftliches Lied 116 2. Anakreontisches Lied 117 3. Skolion 118 § 67. Elegisches Lied 119 § 68. Jdyllisches Lied 122 Geistliches Lied. § 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123 1. Das religiöse Lied 123 2. Das Kirchenlied 125 II . Lyrik der Begeisterung. § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame derselben 132 § 71. Die Ode 134 § 72. Die lyrische Rhapsodie 139 § 73. Hymnus (Hymne) 141 § 74. Dithyrambus 145 § 75. Elegie 146 § 76. Nänie 152 § 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen 153 Anthologien und Hilfsmittel 157 Drittes Hauptstück: Die didaktischen Dichtungen. Seite § 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen 159 I . Symbolische Didaktik. § 79. Fabel 160 a . Tierfabel 163 b . Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt 164 § 80. Parabel 167 § 81. Paramythie 171 § 82. Sinnbild 174 § 83. Allegorie 175 § 84. Rätsel 179 a . Das Worträtsel 179 b . Charade oder Silbenrätsel 180 c . Logogriph 181 d . Anagramm 182 e . Palindrom (Doppelrätsel) 183 f . Die Homonyme 184 II . Lehrgedichte mit besonderer Tendenz. § 85. Satire 185 § 86. Travestie 191 § 87. Parodie 193 § 88. Humoristische Dichtungen 195 III . Eigentlich didaktische Gedichte. § 89. Die ideale Gedankenlyrik 200 § 90. Kulturhistorisches Gedicht 203 § 91. Sinngedicht oder Epigramm 203 § 92. Die Priamel oder der Schnepper 207 § 93. Xenien 209 § 94. Gnome 210 § 95. Epistel 212 § 96. Heroide 215 § 97. Kurze lyrisch=didaktische Formen 218 § 98. Wirkliches Lehrgedicht 219 § 99. Großes Lehrgedicht 222 ────── Viertes Hauptstück: Die epischen Dichtungen. § 100. Einteilung der epischen Poesie 227 I . Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende epische Gattungen. § 101. Poetische Erzählung 228 1. Humoristische poetische Erzählung 229 2. Ernste poetische Erzählung 230 Seite § 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie) 231 § 103. Die Jdylle 231 § 104. Beschreibendes Gedicht 236 II . Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen. § 105. Die Sage 240 § 106. Mythus 246 § 107. Legende 250 α . Ernste Legende 251 β . Komische Legende 252 § 108. Das Märchen 253 § 109. Romanze und Ballade 262 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung von Romanze und Ballade 263 2. Die Romanze. Romaneska. Romancero 264 3. Die Ballade 268 § 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied 274 § 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches 279 § 112. Die Volksepen 282 § 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen 283 § 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption, Ausführung &c. 1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee 283 2. Die indischen Nationalepen: Mah â bh â rata und R â m â jana 285 3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c. 289 4. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen 291 a . Das finnische Volksepos Kalew â la 291 b . Kalewipoeg 294 c . Das Volksepos der Lappen 297 § 115. Gemeinsame Ausgangspunkte od. Vergleichsmomente sämtl. Volksepen 300 § 116. Die Kunstepen 302 § 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos 304 § 118. Altromantisches oder höfisches Epos 304 § 119. Vorführung der altromantischen Epen 306 1. Parzipal 307 2. Tristan und Jsolde 308 3. Jwein 311 4. Rolandslied 313 5. Der rasende Roland 315 § 120. Das neuromantische Epos 317 1. Wielands Oberon 317 2. Ernst Schulzes Cäcilie 317 3. „ „ Bezauberte Rose 318 4. Kinkels Otto der Schütz 319 5. Redwitz' Amaranth 320 6. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard 320 § 121. Das religiöse Epos 322 1. Die Messiade von Klopstock 322 2. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri 323 3. Das verlorene Paradies von Milton 323 § 122. Das idyllische Epos (Eidyllion) 325 1. Luise von Voß 325 2. Jukunde, von Theobul Kosegarten 326 3. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard 326 4. Hermann und Dorothea, von Goethe 327 Seite § 123. Das historische Epos (Heldenepos) 329 1. Das Schah-Nameh des Firdusi 329 2. Rostem und Suhrab, von Rückert 331 3. Vergils Äneis 332 4. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso 333 5. Die Lusiaden des Camo ë ns 334 6. Scherenbergs historische Epen 335 § 124. Das komische, humoristische, satirische Epos 337 1. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann 337 2. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün 339 3. Tulifäntchen von Karl Jmmermann 340 § 125. Das Tierepos 342 1. Reineke Fuchs, von Goethe 342 2. Rollenhagens Frosch-Meuseler 344 3. Der Muckenkrieg, von H. C. Fuchs 345 III . Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen. Roman und Novelle. § 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans 347 § 127. Verhältnis des Romans zum Epos 349 § 128. Verhältnis des Romans zum Drama 350 § 129. Stoff des Romans 352 § 130. Jdee des Romans 353 § 131. Bau des Romans 356 § 132. Der Held des Romans 356 § 133. Die übrigen Charaktere des Romans 359 § 134. Das Jdealisieren im Roman 360 § 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans 361 § 136. Stilgesetze des Romans 362 § 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman 364 § 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit 366 Arten des Romans. § 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul 367 § 140. Einteilung nach Form und Jnhalt 367 § 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane 371 § 142. Unsere Einteilung der Romane 372 1. Der historische Roman 372 2. Der philosophische Roman 374 3. Der moderne Roman 374 4. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte 375 § 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische Stilproben 375 § 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans 381 § 145. Novelle 388 § 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten 390 § 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische Stilproben 391 § 148. Litteratur der Novelle 399 Fünftes Hauptstück: Die dramatischen Dichtungen. Seite § 149. Einteilung der dramatischen Poesie 403 I . Formell dramatische Gedichte. § 150. Monolog 404 § 151. Dialog 406 1. Lyrischer Dialog 407 2. Didaktischer Dialog 407 3. Epischer Dialog 408 4. Dramatischer Dialog 409 § 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet) 410 II . Eigentliche Dramen. § 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen 413 § 154. Das dramatische Gedicht 413 § 155. Tragödie == Trauerspiel 421 § 156. Der Held der Tragödie 425 § 157. Die poetische Gerechtigkeit 428 § 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie 431 § 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen 434 § 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein praktisch erläutert 439 § 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien 449 § 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung 450 1. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien 450 2. Philosophische Tragödien 451 3. Geschichtliche oder heroische Tragödien 451 4. Bürgerliche Tragödien 452 5. Schicksalstragödie 454 § 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor. Analysen der wichtigsten Tragödien aller Völker 456 § 164. Schauspiel (Drama) 465 § 165. Einteilung der Schauspiele 466 § 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und Würdigung hervorragendster Schauspiele 468 § 167. Komödie oder Lustspiel 475 § 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel 478 § 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle 479 § 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen des Helden, sowie nach ihrer Tendenz und Herkunft 481 § 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie das Jdeal eines deutschen Lustspiels 483 § 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung 484 § 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank 485 § 174. Die Tierkomödie 488 § 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer Gattungen und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer Dichtungen 490 § 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener dramatischer Gattungen 491 § 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben 493 § 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von Dramen aller Arten, Übersetzungen und Quellenschriften 500 III . Musikalisch-dramatischweltliche und kirchlich-musiaklische Formen. Seite § 179. Einteilung dieser Formen 503 I . Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen. § 180. Das Melodrama 503 § 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel 505 § 182. Das Schauspiel mit Musik 507 § 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches 508 § 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland 509 § 185. Die komische Oper in Deutschland 510 § 186. Die Operette 511 § 187. Das Jntermezzo. (Zwischenspiel) 512 § 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien, Frankreich und Deutschland 513 Erste und älteste deutsche Oper 517 § 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform 520 § 190. Wagners Tetralogie 524 § 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive 525 § 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die Libretto-Dichtung, und Beispiele besserer Librettos 527 II . Kirchlich-musikalische Formen. § 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung derselben 528 § 194. Der Choral 529 § 195. Das deutsch=accentuierende Prinzip und der Choral 531 § 196. Die Motette 532 § 197. Psalm 533 § 198. Die Kantate 534 § 199. Die Passion 536 § 200. Die Messe 538 § 201. Das Requiem 540 § 202. Das Oratorium 541 § 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie Litteratur des Oratoriums. Weltliche Oratorien 543 Schlußbemerkung 546 ────── Anhang. Sach- und Namenregister für Band 1 und 2 547 Die Dichtungsgattungen. Sämtliche Künste lernt und treibet der Deutsche; zu jeder Zeigt er ein schönes Talent, wenn er sie ernstlich ergreift. Eine Kunst nur treibt er, und will sie nicht lernen, die Dichtkunst. Darum pfuscht er auch so; Freunde, wir haben's erlebt. Goethe. Einleitung. Charakter der Poesie und Einteilung derselben. ────── § 1. Objektive und subjektive Poesie. 1. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes- oder dem der Sinnenwelt her: aus dem Anschauungs- und dem Empfindungsreiche. Auch die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in beiden gemeinschaftlich. 2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen. 3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder Beabsichtigte entgegentritt. 1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff, welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Gedicht entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit der von außen entgegen tretenden Objektivität. 2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität hinzusetzen. Man könnte einen geringfügigen Stoff einem glatten Stamme vergleichen, an welchem sich die subjektive Empfindung des Dichters emporrankt und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto bedeutender wird sich das Überwiegen des Subjektiven vor dem Objektiven nötig machen müssen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpfungskraft zu bewähren haben. Jn folgendem Gedichte von Martin Greif überwiegt die subjektive Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes: Am Buchenbaum. Jch sah im Herbst einen Buchenbaum Jm leeren Felde steh'n; Jm fahlen Laube sah ich kaum Ein grünes Blättlein weh'n. Lang stund ich da in tiefem Traum Jhn anzuseh'n. Der Sommer und die Lieb' sind heiß, Jhr weiß ich keinen Dank; Sie sengte mich auf alle Weis', Das grüne Laub entsank! Zuletzt entschwand sie still und leis Und ließ mich krank. Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum Helden seiner Dichtung macht, schreibt subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Jnhalt des subjektiven Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objektiv, als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Jndividualität aufgeprägt. Sein Geist, seine Anschauungs- und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Jch mit in die Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommnisse bei diesem Dichter sprechen als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Graf von Habsburg Str. 5, dessen Die Macht des Gesanges Str. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt. 3. Objektiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Gebiet des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche eingreift, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten. Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu empfinden, was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter den Blicken des Lesers; nie schaut er direkt aus seinen Dichtungen hervor, nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung und Darstellung ist es, was das Jnteresse des Hörers fesselt und fesseln will. § 2. Volkspoesie und Kunstpoesie. Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunstpoesie . 1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät und Wahrheit. 2. Die Kunstpoesie dagegen entreift dem individuellen Arbeiten des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunstdichters. 1. Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie, Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Darstellung der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie war wesentlich beschreibend, auch wo es sich um Darlegung des subjektiven Gefühls handelte: sie bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch=naiven Sprache voll Wohllauts. Ein Beispiel der Volkspoesie möge dies illustrieren: Es wollt' ein Mägdlein tanzen gehn, Sucht Rosen auf der Heide, Was fand sie da am Wege stehn? Eine Hasel, die war grüne. „Nun grüß' dich Gott, Frau Haselin! Von was bist du so grüne?“ „Nun grüß' dich Gott, feins Mägdelein! Von was bist du so schöne?“ „Von was daß ich so schöne bin, Das kann ich dir wohl sagen: Jch eß' weiß Brod, trink kühlen Wein, Davon bin ich so schöne.“ „Jßt du weiß Brod, trinkst kühlen Wein Und bist davon so schöne, Auf mich so fällt der kühle Tau, Davon bin ich so grüne.“ „Hüt' dich, hüt' dich, lieb Haselin, Und thu' dich wohl umschauen; Jch hab' daheim zween Brüder stolz, Die wollen dich abhauen.“ „Und hau'n sie mich im Winter ab, Jm Sommer grün' ich wieder; Verliert ein Mägdlein ihren Kranz, Den find't sie nimmer wieder.“ (Aus Uhlands Volkslieder Bd. 1. S. 66.) 2. Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch, daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes, den sie mit der Naturpoesie gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Jdee zu Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes mögen dies beweisen. a . Die Verlassene von Geibel. O singt nur ihr Schwestern mit fröhlichem Mund, Und führet den Reigen im Lindengrund Mit den Burschen bei Zithern und Geigen! ─ Mich aber laßt gehn und schweigen. Was blickt ihr mir nach, und was wollt ihr von mir? Jch habe die Freude getragen wie ihr Jn der Brust mit Lachen und Scherzen ─ Nun trag' ich den Tod im Herzen. Durch alle Wipfel der Lenzhauch geht, Jch bin der Baum, der laublos steht; Die Wasser rieseln so helle, Jch bin die vertrocknete Quelle. Die Treue, die Treue, darauf ich gebaut, Sie ist mit dem Schnee vor der Sonne zertaut; Wie Spreu vor dem Winde, so stiebet Meine Liebe, die ich geliebet. b . Die Verlassene, von Martin Greif. Denk' ich nach, was ich nun bin, Seit er mich verlassen, Tauscht' mit mir kein' Bettlerin Wahrlich auf der Straßen. Geh' ich auf den Bittgang mit, Weichen sie zur Seiten. Tanzen! Gott, mein Lebtag nit ─ Das Gesichterschneiden! Mach ich, was ich machen will, Niemand thu' ich's rechte: Trutzig heiß' ich, wenn ich still, Red' ich, heiß' ich schlechte. Tret' ich in die Kirche ein, Geht es an's Gedeute; Donnert recht der Pfarrer d'rein, Blinzeln alle Leute. Abends kann ich vor der Thür' Keine Stunde bleiben. Noch am liebsten ist es mir, Meine Gänse treiben. Komm ich an der Godel Haus, Muß' ich mich verfärben ─ Wollt', ich wär' zum Dorf hinaus Oder könnte sterben. NB . Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünsteltes, Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform zu wagen. Vgl. z. B. kein' für kei' u. s. w. c . Das verlassene Mägdlein, von Ed. Mörike. Früh', wann die Hähne krähn, Eh' die Sternlein verschwinden, Muß ich am Herde stehn, Muß Feuer zünden. Schön ist der Flammen Schein, Es springen die Funken; Jch schaue so drein, Jn Leid versunken. Plötzlich, da kommt es mir, Treuloser Knabe, Daß ich die Nacht von dir Geträumet habe. Thräne auf Thräne dann Stürzet hernieder; So kommt der Tag heran ─ O ging' er wieder! Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift „Gebrochene Treue“ tragen. Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegenstand der Scene und die Trägerin der Jdee. Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern nämlich der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der dritten Strophe und ihre rhetorische Pathetik in der vierten zu Erwägungen über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Empfindung in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Ausdruck, daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird. Und dennoch sind diese Dichtungen subjektiv. Sie zeichnen sich gewissermaßen durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere der abstrakten Jdee und der tiefen Empfindung ist. So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objektiven Charakter Rechnung, wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die Jdee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal der Kunstpoesie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge: Blumengruß. Der Strauß, den ich gepflücket, Grüße dich viel tausendmal! Jch habe mich oft gebücket Ach, wohl ein tausendmal, Und ihn an's Herz gedrücket Wie hunderttausendmal! (Goethe.) Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Gedicht Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Jdee der Vergänglichkeit mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall das subjektive Fühlen des deutschen, tiefinnigen Dichtergemütes das Poem überstrahlt. Derjenige Kunstdichter, welcher die Natur in ihrer Einfachheit, in ihrer naiven Schönheit aufzufassen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunstdichter. Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV . 3) hinweist: Jch hörte, Daß, nächst der großen schaffenden Natur, Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt. Sei's: Doch wird Natur durch keine Art gebessert, Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst, Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen. Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm, Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst, Die die Natur verbessert ─ mind'stens ändert: Doch diese Kunst ist selbst Natur. § 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und moderne Poesie. Jn Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste und komische Poesie, insofern sie traurige, mitleidsvolle, strafende, erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, romantische und moderne Poesie ein. Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine mustergültige, fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung. Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in der Gediegenheit der Form, in der Jdealisierung und in der Erhabenheit des innern Gehaltes mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man anerkannt, daß die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c. allen Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man hat diese Dichter als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I . S. 88.) Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen; denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene, und es läßt sich erwarten, daß Geister kommen werden, welche größer sein werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c. Unter romantischer Poesie versteht man diejenige Poesie, welche dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenverehrung und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen des Mittelalters sich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Übernatürlichen zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantastische allenthalben hervortritt, so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätselhafte. Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „ romantisch “ wurde zuerst litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller Unbefangenheit gewählten Titel „ Romantische Dichtungen “ herausgegeben hatte. (Vgl. R. Köpke: „Ludwig Tieck.“ I . 265.) Die romantische Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine Vereinung der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur. Jhre mit Fichtes Jdealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich=christlicher Schwärmerei und Pantheismus. Die Gedichte der romantischen Dichter (vgl. Bd. I . S. 58 und 88) zeichnen sich durch eine gewisse Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charakterisiert. Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem Anschauungskreise unserer Generation sich bewegt, welche ihre Figuren und Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum= und Phantasieleben der romantischen Poesie einen Gegensatz bildet und dem Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen, Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf Anschaulichkeit und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will. § 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form. 1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie. 2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen Fundaments. 3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a . im Zweck, b . im Ursprung und Stoff der Poesie. 1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A . in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („ Τοιοίδε που τινὲς , ─ sc . εἰσὶν οἱ περὶ θεολογίας τύποι ─ ἦν δ' ἐγώ, οἷος τυγχάνει ὁ θεὸς ὤν, ἀεὶ δή που ἀποδοτέον, ἐάν τε τις αὐτὸν ἐν ἔπεσι ποιῇ, ἐάν τε ἐν τραγῳδίᾳ .“) Als Philosoph macht er nicht gelegentlich, sondern recht systematisch nur einen Unterschied zwischen nachahmender und heiliger Poesie. Selbst Homer verbannt er aus seinem Jdealstaate, in welchem nur die heilige Poesie geduldet sein soll. ( Rep . Buch II. III . gelegentlich, dann X . bis pg . 607.) Anderwärts teilt er nach Bedürfnis ein in Epos und Tragödie oder in diese und Komödie, oder er spricht auch noch vom Drama ( Sympos. 222 D .). Bis in unsere Zeit teilte man in der Regel nur in lyrische, epische und dramatische Poesie. Wackernagel und auch Goethe (über das Lehrgedicht) sprachen sich noch gegen die didaktische Poesie als vierte Hauptgattung aus. Derselbe Goethe sagt jedoch: „Alle Poesie soll belehrend sein, sie soll den Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen, wie aus dem Leben.“ (Vgl. hierzu Horatius A. P . 333 ff: Aut prodesse volunt, aut delectare poetae; aut simul et jucunda, et idonea dicere vitae. Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci, lectorem delectando, pariterque monendo .) Wir weisen der didaktischen Poesie aus den in den §§ 13, 14, 15 S. 18 ff. d. Bds. entwickelten Gründen eine hohe ebenbürtige Stellung an. 2. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Einteilung in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie scheinbar an einem logischen Fehler leidet. Sie scheint des einheitlichen Fundaments zu entbehren, indem Lyrik ( μέλος == das Gesungene), Epik ( ἔπος == das Gesprochene), Drama ( δρᾶμα == die Handlung) auf das Darstellungsmittel der Poesie fundiert sind, die Didaktik hingegen auf den Zweck. 3. Doch zeigt eine genauere Betrachtung die Möglichkeit einer einheitlichen Fundierung a . im Zweck, b . im Ursprung und Stoff. a . Jm Zweck. Es steht fest, daß die Lyrik (d. i. die Poesie der Empfindung) die eigenen d. i. subjektiven Gefühle und Empfindungen des Dichters, seine eigene Welt ausdrückt und ihm ermöglicht, sein eigenes Fühlen zum Objekt und zum Gegenstand der Empfindung auch für Andere, für die äußere Welt zu machen; daß weiter die Didaktik (d. i. die Gedankenlyrik) mit der Absicht zu belehren und sich über Fragen aus Natur, Welt, Menschenleben u. s. w. zu verbreiten, das Gleiche thut; daß drittens die epische Poesie (oder die Poesie der Anschauung) von vergangenen Dingen erzählt und der Anschauung und Empfindung die äußere Welt mit den Gestalten und Begebenheiten einer Vergangenheit vorführt; daß endlich die Dramatik (d. i. die Poesie der Handlung) redend handelnde Personen unmittelbar vorführt und den übrigen Dichtungsgattungen Gelegenheit zur ebenbürtigen Entfaltung wie zur harmonischen Vereinigung bietet. b . Jm Ursprung und Stoff. Die lyrische und die didaktische Poesie sind subjektiv, denn der Dichter giebt nur seine eigenen Gefühle und ist der eigene Held seiner Dichtungen, während die epische Poesie objektiv ist und die dramatische das subjektive und objektive Element vereinigt. Ein Fundament für die Einteilung ergiebt somit der Umstand, ob der Stoff der Poesie der Jnnen- oder Außenwelt entstammt, ob er der Thätigkeit unserer Phantasie entspringt, oder ob er der Sage und Geschichte entquillt, ob erzählt wird, oder ob die Personen handelnd und redend auftreten. (Erinnerung an eine antike Einteilung in I. μίμησις a . Ausprägung in Bildern für die Phantasie, b . Plastische Darstellung. II. ἀπαγγελία und διήγησις , erzählende und belehrende Darstellung. III . Reflexion.) Die Phantasie, die man nicht ohne Grund das Vermögen der Dichter genannt hat, befähigt uns, die übersinnliche Welt von Begriffen und Jdeen in sinnlichen Bildern auszudrücken. Sie zeigt sich zunächst als schaffende und als empfindende Phantasie. Die schaffende erzeugt unter Anwendung des ihr aus der Außenwelt zukommenden Stoffes die epische und die dramatische Poesie, während die empfindende Phantasie die Lyrik und die Didaktik hervorbringt. Diese Thatsache beweist ein einheitliches Einteilungsfundamentum. § 5. Einteilungsschema der Poesie. Aus dem Abgehandelten ergiebt sich folgendes übersichtliche Einteilungsschema: Die Poesie entstammt stofflich A . Der Jnnenwelt. Die Jnnenwelt (ihrer Art nach sub= jektiv) umschließt: a . Empfinden, b . Denken, und äußert sich als 1. Lyrik. 2. Didaktik. Die Lyrik schildert Die Didaktik lehrt, subjektiv. sofern sie schildert oder erzählt. B . Der Außenwelt. Die objektive Außenwelt behandelt: c . Raum, d . Zeit, und äußert sich als 3. Epik. 4. Dramatik. Die Epik erzählt Die Dramatik handelt, objektiv. gestaltet dialogisch. Erstes Hauptstück. Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik. ────── I . Lyrik. § 6. Begriff der Lyrik. 1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung. 2. Jhren Namen hat sie von der Lyra ( λύρα ), einem griechischen, an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos. 1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik. Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die Stimmung künstlerische Gestalt gewonnen, steht das Gemüt ihr nicht nur als einer fremden gegenüber, sondern es sieht seine Empfindungen, der Erdschwere entnommen, in den lichten Äther gehoben und dem flüchtigen Spiel eine schöne Dauer gegeben. 2. Man nannte die lyrische Poesie ursprünglich die melische in der Absicht, durch diese Benennung die lyrischen Gedichte als organisch gegliederte Ganze auszuzeichnen. ( τὸ μέλος und τὰ μέλη , einstrophige und mehrstrophige Gesänge, ähnlich: „daz liet und diu liet.“ Die Benennung μέλος oder μέλη hatte auch den Gesang (Melodie) mitbezeichnet. Aristoteles kennt den Ausdruck λυρική noch nicht: in den Anakreontea kommt λυρικὴ μοῦσα vor, noch bei Plutarch aber μελικὴ ποίησις neben λυρική . (Vgl. Plut. Num . 4 u. Anth. ─ Plut. consol. ad Apoll. p. 365. ─ Schol. Ar. Av . 209.) § 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht. 1. Die Stoffe der Lyrik sind so reich und mannigfach, als die Empfindung und die subjektive Auffassung verschieden ist. (Vgl. Bd. I . § 16. S. 39.) 2. Sie erblühen der individuellen Behandlungsweise, der eigenartigen Geisteswelt und Weltanschauung des Lyrikers. (Vgl. Bd. I . S. 40. 2.) 3. Da somit weniger der objektive Stoff, als die subjektive Auffassung und Behandlung des Stoffs das Wesentliche ist, (vgl. Bd. I . S. 40. 3) so ist das Stoffgebiet der Lyrik unerschöpflich. 4. Das lyrische Gedicht ist seiner Veranlassung nach Gelegenheitsgedicht. 1. Der Lyriker singt: „von Lenz und Liebe, von sel'ger goldner Zeit, Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit; Er singt von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, Er singt von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.“ (Uhland.) 2. Der Stoff der Lyrik ändert sich nicht, aber „der stets sich erneuernde Blumenflor“, wie Hegel die Lyrik nennt, treibt immer wieder neue Blumen hervor, je nach der Originalität des Dichters. Von den Naturlauten der Volkspoesie bis zu den gedankenreichen malerischen lyrischen Dichtungen der Kunstpoesie unserer Zeit ist die reichste Stufenleiter der Stoffe nachweisbar, die lediglich durch die eigenartige Behandlung, d. h. durch den Zusatz von Subjektivität seitens des Dichters Stoffe der Lyrik werden. Je einfacher, geringfügiger, unscheinbarer der Stoff, desto mehr wird die Subjektivität des Dichters hinzuthun. Zum Beleg beachte man das folgende Gedicht M. Greifs, dessen winziger Stoff ein Mädchen ist, das in den Bach hineinblickt: Die Einsame. „Vor meinem Kämmerlein fließet Ein Wasser bei Tag und Nacht; Jch seh' ihm zu vom Fenster, Wenn einsam mein Leid erwacht. Mir wird so traurig zu Mute Bei seinem eiligen Lauf; Die Wellen ziehen hinunter Und kommen nimmer herauf.“ 3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt. 4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind. Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann I . S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.“ „Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht, Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“ (Goethe.) § 8. Eigenart des Lyrikers. 1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise. 2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“, mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind. 3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann, sind in der Lyrik das Wesentliche. 1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird. Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender. 2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell, der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl, oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe. 3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt: „Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist, Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf; Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.“ (Geibel, Distichen XVI .) § 9. Anforderungen an den Lyriker. 1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag, Harmonie des Seelenlebens. 2. Der Dichter muß erhöht empfinden. 3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein. 1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen, oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne darnach zu fragen, wer ihn höre. „Wenn Jhr fragt, wer hier nun spricht, Jch, der Dichter, oder sie? Sag' ich Euch: ich weiß es nicht, Sondert Jhr's, ich sondr' es nie.“ (Rückert.) Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert, der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.) „Jch will die Fluren meiden Mit meinem trüben Gram, Daß nicht der Lenz muß scheiden, Wo ich zu nahe kam.“ (u. s. w.) (Rückert.) Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen, was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht. „Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer, Jch finde sie nimmer und nimmermehr.“ (Goethe.) Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl, unbeachtet zu sein. 2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das Medium seines Herzens hindurch gegangen ist. „Was mir nicht gesungen ist, Jst mir nicht gelebet.“ (Rückert.) Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern: man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst zu verdecken suchen.“ 3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus, der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft. Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet, mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. Ebenso muß er bei Stoffen aus der Natur die Natur mit seinem Gefühl durchziehen, sie mit seiner Jdealität vermählen und aus diesem Gefühl heraus sie reden lassen, wie es beispielsweise Heine in den Naturbildern „Fichtenbaum“ und „Lotosblume“, ─ Goethe in „Erwin und Elmire“ &c. gethan hat. Auch bei den Naturbildern muß die Empfindung und das Gefühl des Dichters der Mittelpunkt bleiben, und stets muß der weitauszubreitende Blütenbaum seiner Poesie auf dem Stamm seines subjektiven Jch ruhen bleiben. „Herz, was willst du weiter, Da der Himmel heiter, Wie in dieser Flut, Dir im Herzen ruht?“ § 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik. 1. Die Anschauung=verleihenden, malenden Beiwörter sind die wichtigsten Bestandteile der Lyrik. 2. Viele derselben erscheinen wie eingetrocknete, gewissermaßen zu Versteinerungen gewordene Metaphern. 3. Der gebildete Dichter wird seine erhöhte Empfindung durch geschickte Verwendung der Metaphern beweisen, dem weniger gebildeten fehlt der sprechende Ausdruck. Abgr. Beiwort 1. Schon Aristoteles sagt (Rhetorik III . 3) von Alkidamas, daß ihm die Epitheta nicht bloß eine Würze der Rede ( ἥδυσμα ) seien, sondern die Hauptkost ( ἔδεσμα ). Wie sehr er im Rechte war, haben wir in Bd. I . § 30 S. 137 ff. gezeigt. Jn der Lyrik sind die malenden Beiwörter umsomehr am Platze, als sie wesentlich dazu beitragen, dem Gefühlsausdruck seine eigenartige Färbung zu verleihen. 2. Die Auffassung der Lyrik als paläontologische Weltanschauung ─ wie sie Karl du Prel in „Psychologie der Lyrik“ versucht hat, ─ zwingt uns, an den Standpunkt zu denken, welchen der Mensch im Naturzustand und ohne Schulbildung einnimmt. Es ist der Zustand, in welchem der Mensch seine Anschauung durch Naturbelebung und Naturbeseelung (Personifikation) ausdrückt. Viele Beiwörter aus jener Zeit und aus jener Bildungssphäre lassen keinerlei Reflexion zu und haben es lediglich auf Anschaulichkeit abgesehen. Sie sind Grenzsäulen der dichterischen Anschauung und muten uns wie Versteinerungen an. Bekanntlich ist die Sprache der Wilden um so reicher an personificierenden Metaphern, je ärmer sie ist. Vgl. Bd. I . S. 148 ff. u. S. 169 ff. 3. Die erhöhte Empfindung des Lyrikers zeigt sich in der glücklichen Anwendung des metaphorischen Beiworts, das dem lyrischen Gedichte jedesmal ein besonderes Gepräge verleiht, und durch welches, wie schon B. I . S. 138. 2. angedeutet, z. B. Goethe seine Weichheit und Anmut, Schiller seinen idealen Schwung, Rückert seine herzerwärmende Jnnigkeit, Platen seine klassische Würde, Lenau seinen gewitterschwülen, die Brust beängstigenden und doch so süß bestrickenden Zauber, Heine seine bald leichtfertig tändelnde, bald ergreifende Leichtigkeit, Chamisso seine anmutend liebenswürdige Naturwahrheit, Freiligrath seine hochfliegende Freiheitsbegeisterung, Geibel seine glatte, einfache, sinnige Weichheit, Gottschall seine vom Gedanken durchleuchtete Klarheit, Keller sein sinniges Gemüt und seine gesunde Männlichkeit erreicht. Die Metapher bedingt zum Teil das Unterscheidende der Richtungen und Schulen. Ein Dichter des Mittelalters hat andere Metaphern als Homer, oder auch als der Dichter des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, Personen: Dichter des MA, Homer, Dichter des 17., 18., 19. Jh. ein Romantiker andere als ein Klassiker, Heine andere als Geibel, Herwegh Personen: Romantiker, Klassiker, Heine, Giebel, Herwegh andere als Freiligrath. Person: Freiligrath Freilich macht die Metapher nicht das Wesen der Lyrik aus; dieses liegt, wie im vorigen Paragraphen ausgeführt wurde, im dichterischen Jngenium, im gebildeten Gefühl des Dichters, in seiner quellsprudelnden Phantasie, wodurch er befähigt wird, im Geistesflug über die Erde und ihre Erscheinungen zur reinsten Ätherhöhe sich emporzuschwingen, bald hier das Auge an den lebensvollsten Erscheinungen labend, bald dort den Blick an den brillantesten Phantasiegemälden bezaubernd &c. § 11. Umfang des lyrischen Gedichts. Da das reine Gefühl nur Eine Grundstimmung haben kann, da ferner das lyrische Gedicht der Stimmung des Augenblicks entquillt, so erhellt, daß ein Abirren nicht gut möglich ist. Das Eine Gefühl bedarf keiner Ausbreitung; auch kann die Empfindung als Spannung auf einen Punkt wohl Dauer, aber keinen großen Umfang haben, weshalb das lyrische Gedicht seiner Natur nach kurz und einfach ist, im Gegensatz zum epischen Gedicht, das unendlich ausgebreiteten Stoff zur Beschauung gewährt. Wird der äußeren Anschauung ein das subjektive Fühlen beeinträchtigendes Übergewicht eingeräumt, so wird das Gedicht episch=lyrisch, ─ sofern es aber Gedankenreihen entwickelt, didaktisch=lyrisch. § 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik. 1. Der Stil im allgemeinen, wie speziell der Stil eines Gedichtes ist von wesentlicher Bedeutung. Jeder Stil ist Form und doch spricht aus ihm zugleich die Seele, das Eigenartige des Schriftstellers und Dichters. Man unterscheidet in der sprachlichen Darstellung: a . den niederen Stil, b . den mittleren Stil, c . den hohen Stil oder den Stil der Lyrik. 2. Der Stil der Lyrik selbst hat mehrfache Abstufungen. 1. Der niedere Stil ist die Redeform des Verstandes und beherrscht das Gebiet der Prosa. Er verlangt Deutlichkeit. Der mittlere Stil steht im Dienste der Einbildungskraft und fordert vor Allem Anschaulichkeit, weshalb er in der gesamten Poesie ─ die lyrische ausgenommen ─ sich findet. Der höhere Stil ist der Stil des Gefühls, weshalb Erregung, Erhabenheit über das Gewöhnliche, Leidenschaft &c. seine Merkmale sind, wenn er auch der Deutlichkeit und Anschaulichkeit nicht entraten kann oder will. Sofern der höhere Stil neben Belebung des Gefühls auch Deutlichkeit erstrebt, ist er der oratorische Stil. Sofern er jedoch mit Erregung des Gefühls epische Anschaulichkeit erstrebt, ist er der Stil der Lyrik. Die griechischen Rhetoren führen als leidenschaftliche Erregungen des Gefühls an: Ethos ( ἦθος ) und Pathos ( πάθος ), wofür Quintilian die affectus mites und affectus concitatos setzt. Die Affekte des Ethos sind sanfter, ruhiger, rührender, gemütlicher Natur, die des Pathos lebhafter, bewegter, ergreifender, leidenschaftlich fortreißender Art. 2. Man teilt den Stil der Lyrik ─ denselben an sich betrachtet ─ wieder ein in einen niederen, in einen mittleren und in einen höheren Stil der Lyrik. Die Elegie, (§ 75) welche dem Lyrischen noch das Epische am meisten beimischt, repräsentiert in dieser Beimischung den niedern Stil der Lyrik. Das Lied, (§ 62 ff.) welches sich von den epischen Äußerlichkeiten teilweise losringt, zeigt den mittleren Stil der Lyrik. Die Ode, (§ 71), der Hymnus (§ 73) und der Dithyrambus (§ 74) hingegen, in welchen Gattungen die Empfindung zum höchsten Jdealismus sich emporschwingt, zeigt den höheren Stil der Lyrik. Jn der rührenden Elegie zeigt sich das Ethos; in der Ode, dem Hymnus &c. das Pathos; das Lied steht in der Mitte. Von dem Stil der oratorischen Prosa, welcher vor allem Deutlichkeit neben Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, d. i. eine lebensvolle, schöne Wirklichkeit erstrebt, unterscheidet sich der Stil der lyrischen Poesie dadurch, daß er nicht das Verstandesmäßige aufsucht, weil das sezierende Verstandesmäßige nur eine negative Rolle in der Lyrik spielt, und daß er Wohllaut in der metrischen Anordnung der Worte fordert. Sein Ziel ist vielmehr schöner Ausdruck und lebhafte Erregung des Gefühls. Dabei ist sein Ausdruck bald Ethos, bald Pathos, bald eine Vereinigung beider. Jn seiner niedern Form bedient er sich mehr der Figuren, in der höhern der plastischen Tropen. Der niedern Art steht der volkstümliche, idyllische Ton gut, weshalb sie sich auch zuweilen der Provinzialismen bedient, oder ganze Gedichte in einer der Mundarten bietet, während die höhere Form kühnen Gedankenflug, kühne Bilder, Wortschöpfungen, Neologismen erstrebt oder gestattet. Die Ode liebt Satzgefüge, die Elegie kürzere Sätze (vgl. Schillers Elegie Der Spaziergang mit den Oden Klopstocks &c.). Die Lyrik als höchste Gattung der Poesie (die vollkommenste ist das umfassende, auch die Lyrik ermöglichende Drama) erhebt aus den Gebieten des Sinnlichen zu denen des Jnnerlichen, Übersinnlichen, Geistigen, Gefühlsmäßigen. Daher ist der Stil der Lyrik nicht mit der monotonen Wiederkehr gleicher Rhythmen zufrieden, wie Epos und Drama, sondern er verlangt eine der Bewegung, dem Gefühlsausdruck entsprechende Mannigfaltigkeit in den Verstakten, Versen und Strophen. Wie die Gefühlszustände wechseln, so läßt er im Äußeren belebte Mannigfaltigkeit eintreten. Er verbindet die verschiedenartigsten Versarten unter einander, sowie symmetrische und unsymmetrische Strophengebäude, er wendet zwei- und mehrgliedrige Strophen an, Antistrophen und Epoden und a. m. II . Didaktik. § 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie. 1. Gedichte der Kunstpoesie, in denen der Gedanke, die Jdee vorherrscht, oder denen es lediglich um Veranschaulichung eines Gedankens zu thun ist, oder welche Wahrheiten der Sittenlehre, der Religion, der Philosophie in schöner Form zur Kenntnis bringen, sind didaktische Gedichte. 2. Die didaktische Poesie gehört zur subjektiven Poesie. Sie ist die Lyrik des Verstandes, die Gedankenlyrik. Jhr Gegenstand und Wesen ist ein geist- und gemütreiches Abstraktes, das sie in schöner Form bietet. Dieses Abstrakte ist der durch die dichterische Phantasie bestrahlte und verklärt durch das Medium des Herzens gegangene Gedanke. 3. Jm Gegensatz zur Lyrik läßt die Didaktik daher das Reflektierende, das Jnstruktive und Spekulative zu, wenn dieses auch nicht ihr eigentlicher Zweck ist. 1. Von der Lyrik des Gefühls unterscheidet sich die Didaktik dadurch, daß die Erregung des Gefühls keine unmittelbar oder direkt diktierte ist, vielmehr das Gefühl erst durch verstandesmäßige Anregung in Schwingung versetzt wird, daß also die Erhebung auf den Gedanken gegründet ist und als Zweck der poetischen Produktion erscheint. 2. Der Didaktiker wählt den Weg zum Herzen durch den Kopf und erreicht seine Wirkung durch den Wiederhall, welchen der Gedanke dem Herzen entlockt. Da die didaktische Poesie somit hauptsächlich den Gedanken zu ihrem Vorwurf nimmt, so gehören ihre Gegenstände entweder der Außenwelt, oder doch wenigstens der objektiven Herzenswelt an. Letztere verwertet dieselben nicht selten zu Spekulationen, so daß Gedankenreihen entstehen, die zunächst belehrend (instruktiv) wirken, die aber mit dem Gemüt immerhin verschwistert sind, und selbst in der Belehrung wie in der Spekulation mindestens eine Beziehung auf das Gefühl haben. Jch denke hier zunächst an Rückerts Lehrgedicht „ Weisheit des Brahmanen “ und muß mich daher auf Belehrung und Spekulation als zwei durch Rückert in die didaktische Poesie gebrachte wesentliche Momente etwas weiter einlassen. 3. Spekulation, Reflexion und Belehrung in der Didaxis. An sich darf und will die Poesie nicht belehren; ihr ursprünglicher Zweck ist, wie der alles Schönen, zu erfreuen. Daher gehören Belehrung und Spekulation nicht in den eigentlichen Begriff der Poesie, deren Gesetz allein die Schönheit ist. Beides, das Jnstruktive wie das Spekulative, beeinträchtigt das ruhige Empfinden, die unmittelbare Aufnahme und den ungeteilten Eindruck: das Jnstruktive, weil es das Gefühl erst in zweiter Linie berücksichtigen kann; das Spekulative, weil es seinem Wesen nach nicht als fertig dargereicht wird, und somit ebenfalls nicht auf das Gefühl unmittelbar wirkt. Dante (Göttliche Komödie) und Goethe (Faust) haben allerdings das Problem der Vereinigung von Spekulation und Poesie gelöst, während andere, wie W. Jordan (Demiurgos), Mosen (Ahasver) philosophisch reflektierend blieben. Wenn schon eine leichte Reflexion dem Dichter zum Gedichte werden kann, und er zu seinem Gedichte die passende, schöne Form findet, soll dann nicht auch für den höchsten Gedanken, für die höchste Spekulation eine Form gefunden werden können, unter welcher das Gedankliche, Spekulative für die Poesie flüssig gemacht wird, sollte nicht eine vollendete dichterische Darstellung zu erzielen möglich sein, in welcher auch dieser tiefe Jnhalt mit einer dichterischen Form sich deckt? Da hier der Jnhalt an das Erhabene grenzt, so wird allerdings auch die Form erhaben sein müssen. Das Erhabene aber ist nur das Schöne in gewaltiger Form. (Vgl. Bd. I . S. 92 u. 93.) Die wahre ästhetische Freiheit liegt gerade in der Form, durch welche auf das Ganze des Menschen gewirkt werden kann. Wir geben zu, daß ein in Reime gebrachtes philosophisches System noch kein Gedicht sei; aber wir verlangen eben vom didaktischen Gedichte etwas anderes, vielleicht das Höchste, was durch dichterische Darstellung auszudrücken ist. Wir verlangen, daß der Dichter und der Philosoph nicht zwei Personen seien, sondern eine einzige normale, geist- und phantasiereiche Persönlichkeit, welche ihren Platz auf dem Parnaß hat, der aber die Thäler der Weisheit nicht verschlossen seien. Nur so finden die ernsten Harfentöne drunten im Thale ihren entzückenden Wiederhall, während oben neben der Harfe die Lyra bebt und leise harmonische Accorde mit einmischt, wenn die Schallwellen der Harfe über sie hinstreichen. Dies war auch Rückerts Ansicht. Er sprach sie nur mit andern Worten aus: Poetische Blumenles' und hohes Spekulieren, Von einem muß ich mich zum andern hin verlieren. Das eine würd' ich denn verlieren überm andern, Wenn ich von diesem weit zu jenem müßte wandern. Die Auskunft traf ich drum, hier beides zu vereinen, Wo Stern' und Blumen durch einander blühn im Kleinen. (Weisheit des Brahmanen X . 98. S. 379.) Jene sogenannte Didaktik, bei welcher sich das Lehrhafte als solches ausschließlich in den Vordergrund drängt, oder die das Ergebnis von Spekulationen ohne alle subjektive Durchdringung und Belebung nur in bloße Reime bringt, fällt aus aller Poesie heraus, eben weil eine, wenn auch noch so schön aufgeputzte nüchterne Lehre nur Reimerei sein kann; eine Reimerei, bei welcher die Lyra nimmermehr mitschwingen wird. Jene Didaktik jedoch, welche die höchsten Fragen aus Natur und Menschenleben begeistert zu erfassen und mit den gemütbestrickenden Herztönen der dichterischen Empfindung sinnig zu vermählen versteht, kann vielleicht als die vornehmste und höchste Gattung aller Poesie angesehen werden. Jn diesem Sinne darf man kühn behaupten, daß derjenige Dichter, welcher einen ewigen Jnhalt aus den Gebieten der Belehrung und der Spekulation in eine schöne dichterische Form zu gießen vermag, ein echter Didaktiker, ein wahrer Dichter sei, welcher geistige Kunst übt und für die Unsterblichkeit wirkt. Ja, in dieser Richtung ist alle wahre Poesie belehrend, didaktisch, jeder wahre Dichter ein Lehrer, ein Didaktiker. § 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie: der Gedankenlyrik. (S. § 13. 2. dss. Bds.) Ferner das Gesetz der Didaxis. 1. Die von Schiller und Rückert gegebene didaktische Poesie wirkt auf das tiefere Erkenntnisvermögen und läßt den tiefen Gedanken im Gefühle aufgehen. 2. Beide Dichter bilden für die didaktische Poesie eine Epoche. Von ihren Dichtungen ist daher für die Folge der Begriff und das Gesetz der Didaktik zu abstrahieren. 3. Jean Paul ahnte bereits die Zukunft der didaktischen Poesie. 4. Rückert war der erste, der ihre Mission klar legte und betonte. 1. Die didaktische Poesie, welche auf das tiefere Erkenntnisvermögen wirkt, und bei welcher der Gedanke im Gefühle aufgeht, behauptet einen ausgezeichneten Platz. Diesen Standpunkt nimmt die Schillersche wie die Rückertsche Didaktik ein. Nie zur Unzeit schaut aus dem Dichter der Philosoph mit seiner dürren Metaphysik hervor, überall deckt sich schöne Form mit dem tiefen Gedanken, reine geistige Kunst ist vorhanden. Um auf den Verstand zu wirken, stellen diese Dichter ihre Wahrheiten in poetischer Form dar; für Einwirkung auf das Gefühl geben sie denselben eben diese schöne Form. 2. Nach Schillers und Rückerts didaktischen Gedichten wird man für die Folge den Begriff und das Gesetz der wahren Didaktik, die man als Gedankenlyrik bezeichnen muß, folgendermaßen zu präcisieren haben: Die Didaktik besteht darin, das Abstrakte in konkreter Form zu geben, um Wahrheiten und Jdeen bessern Eingang und Dauer zu verschaffen. Jenes Abstrakte aber muß geist- und gemütreich, diese Form aber vollkommen, schön und gediegen sein. Der durch die dichterische schöpferische Phantasie bestrahlte Gedanke muß durch das Medium des Herzens verklärt werden und im Gefühle aufgehen; die schöne Form muß den tiefen Jnhalt decken. Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes in „Gott und Welt“ und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden, fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „Unsterblichkeit“ finden; das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen, verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern, wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen), v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen), Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedge (Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des Reims unter der hochtrabenden Firma: „ Didaktisches Gedicht “ in das Gebiet der Poesie einschmuggeln zu können. Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie, der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „Werken und Tagen“, entgegentritt. (Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte, es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie, welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging, zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie jetzt einnimmt, und unter der ihr der letztgenannte Dichter in der Weisheit des Brahmanen ein unvergleichliches Denkmal gesetzt hat. 3. Jean Paul ahnte bereits mit prophetischem Geiste die Zukunft der didaktischen Poesie zu ihrer nur von Schiller (z. B. die Glocke), Rückert, und annähernd nur noch von wenigen erreichten Höhe, z. B. von Schefer (Laienbrevier), Agnes Franz (Der Christbaum, an Schillers Glocke erinnernd), Uz (Theodicee, eine didaktische Ode), Haller (vom Ursprung des Übels), Tiedge (Urania, ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit in 6 Gesängen, schön in Form und Gedanken, aber ermüdend und ohne Tiefe), Herder (Jch, Selbst), Gleim (Halladat, eine eigentümliche Art kurzer Lehrgedichte, aus seinen Studien des Koran entstanden), Hammer (Schau in dich und schau um dich, 1851, und Zu allen guten Stunden, 1854), ferner von den sog. philosophischen Lyrikern Mosen, Sallet, Titus Ulrich (Das hohe Lied, 1845), Jordan, Gottschall, Schloenbach, Prutz und Geibel. Jean Paul sagt: „Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre, sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereicht, und als eine mit Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten. Jn der Dichtkunst ist jeder Gedanke Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer.“ Wie mochte er sich freuen, diesen Gedanken in den Werken Schillers verkörpert gesehen zu haben (im Genius; An die Freude; Würde der Frauen; Die Glocke; Die Jdeale; Resignation; Macht des Gesangs; Das Jdeal und das Leben; u. s. w.). Wie mochte ihn die Wahrnehmung überrascht haben, daß Schiller auf dem Gebiete des Denkens Eroberungen auch für die Poesie zu machen verstand (z. B. im Gedicht: Die Künstler, welches als seine Ästhetik in der Poesie bezeichnet werden darf), was ja auch Goethe anerkennt (vgl. Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem er ihm schreibt: „Jhre Gedichte haben besondere Vorzüge; sie sind nun, wie ich sie vormals von Jhnen hoffte. Diese besondere Mischung von Anschaun und Abstraktion, die in Jhrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung hervor“ &c.). Wie mochte er in der Glocke die erreichte Harmonie zwischen Jnhalt und Erscheinung, zwischen Jdee und Vorstellung erkennen. Bei Schiller fand er eine gewaltige Fülle der schönen Gedanken mit dichterischem Gefühl vermählt. Schiller, wie später besonders Rückert, wurde Repräsentant der zur Gedankenlyrik gewordenen Didaktik. 4. Die hohe Mission der Didaktik hat zuerst Rückert in folgenden Alexandrinern gezeichnet: Wo der Gedanke fehlt, die unverwandte Richtung Auf hochgestecktes Ziel, da ist ein Tand die Dichtung. Das Phantasieenspiel der Kindermärchenlieder Jst mit der Kindheit hin, und niemand bringt sie wieder. Statt Ammenkinderfrau sei nun Erzieherin Die Muse dem Geschlecht zu höherm Lebenssinn. Hinfort genügt nicht mehr anmutig Klingendes, Nur Himmelringendes, Geschickbezwingendes. (Rückerts W. d. Br. XIX . 6.) Ferner: Mannhafte Poesie ist was ich hier, o Sohn, Dir bringe, denn du hast die knabenhafte schon. Mannhafte Poesie, die Grundsatz und Gedanken Führt gegen Phantasie und Traumwerk in die Schranken. (W. d. Br. V . 1.) § 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter. Der Didaktiker, der es auf das höhere Erkenntnisvermögen abgesehen hat, bleibt Dichter, auch da, wo er noch so sehr als Philosoph oder Sittenlehrer auftritt, sofern ihm ─ wie bemerkt ─ der Gedanke im Gefühl aufgeht, und die schöne Form den schönen Jnhalt deckt. (Vgl. § 13 d. Bds. am Schluß.) Wie der Didaktiker im Stoffe einen Januskopf hat, der mit dem einen Gesichte in das naheliegende, einzelne, kleine, deutsche Leben, mit dem andern in weite fremdländische Zaubergärten schaut, so hat er auch in der Produktion und in der Form seines dichterischen Geistes eine doppelte Gestalt. Die eine ist ihm Quell rein lyrischer Ergüsse, die andere singt ihm in poetischem, vom Gefühl geleiteten Schwunge philosophische Sätze und Weisheitssprüche. Beim wahren Didaktiker bleibt, wie an Schiller und Rückert zu sehen ist, die lebendige Vorstellung Hauptsache für die Dichtung. Wer könnte uns poetischer, das Herz ergreifender mit den Worten der Weisheit erfreuen, als solche Dichter, denen Natur, Leben und Menschenherz, ja, die ganze Welt das Buch war, in dem sie forschten, die in goldenem Gefäß den tiefsten Jnhalt vermittelten? Wo bei ihnen einmal das ästhetische Element weniger stark hervortrat, da war es stets das ethische, das den Ersatz bildete und befriedigte. Der didaktische Dichter stellt sich als Ziel seiner didaktischen Poesie nicht eben die Belehrung an sich, vielmehr die auf den Gedanken gegründete Erhebung, Erquickung und eine nachdrückliche Erbauung der Phantasie hin. Jch mache zum Überfluß noch auf Rückerts Gedicht: „Griechische Tageszeiten“ (Ges. Ausg. VII . 262) aufmerksam, welches, so lyrisch auch Ton und Sprache im einzelnen sind, doch wegen seines Endzwecks und gedanklichen Zieles echt didaktisch genannt werden muß. Der Didaktiker verkörpert eben seine Jdeen dichterisch, ohne daß man ihnen die Gedankenschwere und Abstraktion anmerkt. Dadurch erreicht er das Höchste, was man von der subjektiven Poesie verlangen kann, dadurch sichert er sich im hervorragenden Sinn den Ehrennamen ─ eines wahren Dichters. III . Epik. § 16. Begriff der Epik. 1. Die epische Poesie hat ihren Namen vom griechischen Worte Epos ( ἔπος == Wort, Erzählung τὰ ἔπη , Od. 4. 597). Sie ist die dichterische Erzählung des Geschehenen, des erlebten Wirklichen wie des in der Sage Lebenden, oder auch des Erdichteten. Epische Poesie und erzählende Poesie sind gleichbedeutend. 2. Sie ist objektive Poesie. 1. Sofern die Epik auf der Basis der nationalen Sage ruht, ist sie national, während die das dichtende Subjekt wiederspiegelnde Lyrik individuell oder im weiten Sinne kosmopolitisch, universell ist. 2. Die epische Poesie ist im Gegensatz zur subjektiven lyrischen und didaktischen Poesie objektiv. Jhr Objekt sind äußere, außerhalb des Dichters liegende Erscheinungen, Thatsachen, Begebenheiten des menschlichen Lebens, oder auch Erdichtungen, welch letztere nur der innern Wahrscheinlichkeit nicht entbehren dürfen und so dargestellt sein müssen, wie sie möglicherweise geschehen konnten. Es soll nicht gesagt sein, daß die epische Poesie das Gefühl ganz ausschlösse. Dieses geht jedoch von den Personen des Epos aus, sofern es nicht in symbolischer Form auftritt. Ein Vorzug der Poesie im Epos ist es, wenn sie ihre Helden mit dem dichterischen Zauber subjektiven Empfindens schmückt, so daß ─ unter Hinzutritt anmutiger Wahrscheinlichkeit in den Verhältnissen und Situationen ─ der objektive Gegenstand gleichsam mit der subjektiven Empfindung und Anschauung zusammenschmilzt. § 17. Anforderungen an den Epiker. 1. Der Epiker muß malend vorgehen. Er muß das Leben erzählen; er muß vergangene Begebenheiten in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge wiedergeben, wie wir es des näheren unter Epos darlegen werden. 2. Der Epiker darf sich nie in den Vordergrund drängen. 1. Die Anforderungen an den Epiker sind wahr in folgenden Versen geschildert: Hoch, o Demodokos, preist dich mein Herz vor den Sterblichen allen! Dich hat die Muse gelehrt, Zeus Tochter sie, oder Apollon! So genau nach der Ordnung besingst du der Danaer Schicksal, Was sie gethan und erduldet im lang ermüdenden Feldzug; Gleich als ob du selber dabei warst, oder es hörtest. (Odyssee, übers. v. Voß 8. 487 ff., vgl. 11. 368 ff.) 2. Wesentlich für den Epiker ist, daß er hinter seinem epischen Helden ganz verschwindet, daß er Entwickelung, Fortgang, Verwickelung und Lösung aus den Charakteren hervorgehen lasse, ohne daß man seine leitende Hand merkt. „Wie die Gottheit hinter'm Weltgebäude, so muß der epische Dichter hinter seinem Werke stehen.“ (Vgl. Schiller: „Über naive und sentimentale Dichtung.“ Die Sage von der Blindheit epischer Dichter z. B. des Demodokos, Od. 8. 64, des Homeros, soll andeuten, daß des Dichters Persönlichkeit, sein Urteil und die Gegenwart verschwinde. Jch erinnere an die Stelle in Goethes Sänger: „Der Sänger drückt' die Augen ein, und schlug in vollen Tönen“ &c.) § 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik. 1. Die epische Poesie ist der Anfang und die Quelle aller Poesie. Sie war überall die erste. 2. Erst nach Ausbildung der Epik entwickelte sich die Lyrik. 3. Die aufblühende Lyrik drängte zum Drama hin. 1. Mit der Epik begann überall die Litteratur. (Vgl. Bd. I . S. 18 ff.) Sie ließ ursprünglich geschichtliche Stoffe in volksmäßig dichterischer Weise als Sage erscheinen. Spätere Nachfragen nach Grund und Ursache dieser Sagen ließen aus Naturphilosophie und Religion den Mythus erstehen, d. i. die Erklärung der Erscheinung. So lange die spekulativ=phantastische Lösung geglaubt wurde, war der Mythus rein. Später wurde derselbe didaktisch behandelt oder mit Absicht allegorisch. Sobald die dichterische Phantasie eines Volkes Geschichte und Naturleben in Sage und Mythe allseitig durchgearbeitet und genügendes Material beschafft hatte, begann die Blütezeit der Epik. Große Dichter bearbeiteten den aufgehäuften Stoff in künstlerischer Weise und Rhapsoden verbreiteten die Dichtungen. Welche poesieempfänglichen Zeiten müssen es gewesen sein, in denen nach Homers Bericht die Hörer dem Demodokos lauschten, oder von denen Beowulf berichtet: So kühnen Kampf hat der König der Schildinge Mit gediegenem Golde mir gütig gelohnt Und manchem Kleinod, als der Morgen kam, Und wir beim Schmause saßen und zechten. Da war Hall und Schall. Bald hub der alte Schilding, Der vielerfahrene, von fernen Zeiten an; Bald begann ein Held der Harfe Wonne Lustsam zu wecken, bald ein Lied zu singen Süß und schaurig; Geschichten erzählte bald Der Wahrheit gemäß der weitherz'ge König. Ein ander Mal hörten wir den altergebundenen Greisen Krieger von des Kampfes Strenge Der Blüte melden, daß die Brust ihm schwoll, Wenn der Winterreiche der Wagnisse gedachte. So saßen wir im Saale den sonnenlangen Tag, Den Genuß erneuend. Die Nacht befiel nun Die Erde abermals. (Beowulf. Übers. und erläut. v. Simrock S. 106.) An das Heldengedicht jener deutschen Zeit, die auch einen einheitlichen Baustil für Errichtung unvergleichlicher Dome schuf, reihte sich das Kulturepos; aus diesem entwickelte sich das idyllische Epos, wie aus der religiösen Sage des Mittelalters die dem Didaktischen sich zuneigende christliche epische Gattung, die Legende, erblühte. Die ursprüngliche bloße poetische Erzählung war lediglich Naturpoesie. Zur Kunstpoesie wurde das Epos, das einen mehr reflektierenden Charakter annahm und dessen Stoff einer großen Jdee Ausdruck verlieh. Nunmehr war die epische Muse einem lebendigen Gemälde zu vergleichen, auf welchem der Blick die Mannigfaltigkeit durch die Kunst des Dichters zur Einheit sich gestalten sah. 2. Als die Epik ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte sich ähnlich, wie bei den Griechen, das subjektive Element der Poesie geltend. Die Erzählung in Liedform (Ballade, Romanze) führte die Lyrik ein. Das lyrische Element trennte sich nach und nach vom Epos ab. Die Formen, in welchen sich diese Lostrennung offenbarte (Volkslied, Ballade &c.), waren sehr einfach, bis endlich die Subjektivität erstarkte, die epischen Formen sprengte und gemischtere Weisen zur Blüte führte. 3. Mit dem Aufblühen der Lyrik fiel das Abblühen der Epik zusammen, bis endlich die Vereinigung des Subjektiven und Objektiven in der nunmehr aufblühenden Poesie der Handlung, im Drama, erfolgte. § 19. Epischer Stil. Der epische Stil kann sich nach drei Richtungen hin kundgeben: Er kann a . naiv (vgl. Bd. I S. 103), b . ironisch (vgl. Bd. I S. 199), c . sentimental sein. (Letzteres als Übergewicht des Subjektiven über das Objektive in der poetischen Darstellung aufgefaßt.) Die Stilarten hängen ─ um mich der Worte Keiters in Versuch einer Theorie d. Rom. S. 223 zu bedienen ─ mit der Konstitution des Dichtergeistes zusammen. Wo sich Phantasie, Gefühl und Verstand in schöner Harmonie zusammenfinden, haben wir den objektiven Stil der Epik. Er ist Eigentum des naiven Dichters oder eines solchen, der ihm in den Zeitaltern der Kultur am nächsten kommt. Der naive Dichter geht (wie wir dies im § 17 d. Bds. forderten), in seinem Stoffe auf und gewinnt so die einzig künstlerische Darstellungsweise. Wiegt von den dreien den Dichter bildenden Kräften der Verstand vor, so ist der ironische Stil das Ergebnis. Der Dichter erhebt sich gleichsam über seinen Stoff. Er sieht weiter als die von ihm dargestellten Personen, sein Horizont ist ein unbeschränkter, während der Blick seiner Personen auf dem Nahen haften bleibt. Seine Miene zeigt deshalb gern etwas gutmütig Spöttisches; er nimmt aber an den Schicksalen seiner Personen herzlichen Anteil. Ein durchgängig ironischer Stil wird schließlich unleidlich. Es muß deshalb des Dichters Streben sein, ihn den verschiedenen Stadien der Entwickelung anzupassen. Ganz vortrefflich handhabt beispielsweise Eliot in „Die Mühle am Floß“ den ironischen Stil. So lange die Hauptpersonen noch Kinder sind, macht die Dichterin uns mit gutmütigem Spott auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive) Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat. Proben des epischen Stils : a . Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke XVI . S. 102.) „Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte, und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.) b . Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der Reichsfestung Ziebingen.) Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse teils Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet, welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung. Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte eine solche Verletzung der Weideparität nicht schweigend erdulden, wenn sie bleiben wollte, was sie war. ─ Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die Festung geschickt ─ auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden ─ Schmerzensgelder wurden gefordert ─ Sturmläufer gedroht. ─ Aber die Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus, daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif, neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen müsse, woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den feindlichen Gänsen verschossen ... u. s. w. Wir gingen da zu einem Töpfer, um ein Kabinetsgefäß zu kaufen, welches allerdings nur dann in eine Küche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter man's stellt, sonst nie. „Welche reine Farbengebung und Zeichnung,“ sagt' ich, als ich in das Gefäß hineinschaute, und die Blumenstücke recht in's Auge faßte, „Meister! Führ' Er so fort, und lief' Er sich täglich so selber den Rang ab, Meister, ob Er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder Portlandvase überraschte? Da möchte ich den Mann sehen, der sich herstellte und schwüre, diese könn' Er so wenig machen, als ein egyptischer Zauberer eine Laus.“ ─ Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß jetzo seine Schüssel saurer Milch erst ausessen, bis er allmählich sich durch den Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel- oder Blumenstück aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist? Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt, und die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. „Ach,“ sagte der Töpfer, „vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein; und da verfumfeiet er freilich jeden Bettel.“ So ist also die Bemerkung nicht allgemein wahr, daß immer in Kriegsläufen, wie z. B. in Athen, die Künste besonders blühen u. s. w. ─ (Man vgl. hiezu Bd. I S. 199.) c . Sentimentaler Stil. (Bruchstück aus Brachvogels Friedemann. Buch I S. 40 und 41.) „Welch' eine stolze Versammlung Alles dessen, was Sachsen Reiches, Schönes, Vornehmes und Berühmtes bot! Welche Fülle strahlender, froher Gesichter! ─ War es nicht gerade, als wüßten diese Leute nicht, was eine Thräne sei, als wäre unter ihnen der Schmerz ein Fremdling? ─ O prahlt nur, wallende Federn, wehende Fächer, schwellende Busen, auf denen Demanten blitzen! ─ Und wie das lacht und schwatzt und lustig ist, als sei die Ewigkeit ein Traum und das Glück eine gefesselte Magd! ─ Und doch tanzt dieses ganze Geschlecht auf seinem Grabe, und doch ist so manches Lächeln erlogen, erzwungen; unter jenen seidenen Gewändern schlägt ein gemartertes, wimmerndes Herz, unter diesen Sternen windet sich ein falsches, treuloses und gequältes Gewissen. Schon seh' ich den geheimnisvollen Finger, der das Mene tekel an die Wand schreibt, und ein schattenhaftes Gespenst, das durch die Gruppen schreitet und bald auf diese, bald auf jene Stirn, wie sorglos sie noch heute glänzen mag, das Siegel des Verhängnisses drücken wird.“ ─ (Als weiteres Beispiel des sentimentalen Stils vgl. Börnes bekannte Denkrede auf Jean Paul.) IV . Dramatik. § 20. Begriff der Dramatik. 1. Die dramatische Poesie (von δρᾶμα == Handlung) ist die Poesie des Thuns oder der werdenden Handlung. Jhr Zweck ist die Darstellung von etwas Geschehendem in mimisch und dialogisch handelnder Form; ihre Absicht: Darstellung der Leidenschaft, die zur That fortreißt, Darstellung jener starken Seelenbewegungen und inneren Kämpfe, die der Mensch vom ersten Regen der Empfindung bis zum leidenschaftlichen Handeln durchmacht, oder auch die das Handeln anderer in ihm hervorruft. 2. Die dramatische Poesie soll das wirkliche Leben in seinen erhabensten, entzückendsten Gestalten, in seinen ergreifendsten, reizvollsten Weisen, durch Schönheit verklärt und durch Harmonie verbunden, poetisch vorführen. 3. Auf die aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung der dramatischen Poesie ist unsere Bezeichnung „Spiel“ mit seinen Zusammensetzungen (Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel, Singspiel &c.) zu beziehen. 4. Das Skelet des dramatischen Körpers ist das, was mit den Augen gesehen werden kann, was auf der Bühne (Scene) vorgeht. Das gesprochene Wort trägt für die Ausschmückung Sorge. 1. Durch die Darstellung einer sich entwickelnden Handlung oder einer Kette von Handlungen unterscheidet sich die dramatische Poesie wesentlich von der epischen, welche Geschehenes, Thaten, Begebenheiten erzählt, oder dem Erzähler in den Mund legt. Ebenso unterscheidet sie sich durch die handelnde Form von der lyrischen Poesie, welche lediglich die innern Zustände (Gefühle und Empfindungen) schildert und besingt. Jn ihrer sich selbst entrollenden Handlung ist die dramatische Poesie die Poesie des in Bewegung begriffenen Werdens, während die Lyrik als Ausdruck innerer Zustände und Seelenbewegungen die Poesie der Gegenwart des Gefühls, und die Epik als Erzählen des Geschehenen die Poesie der Vergangenheit genannt werden kann. Das Drama, welches sich aus der epischen und lyrischen Poesie entwickelt hat, wurde schon von Aristoteles ( Poet . 26) als höchste Poesie bezeichnet. Derselbe räumt der Epopöe die zweite Stelle ein, sofern sie dramatisch ist oder es sein kann. Das Drama war erst nach Ausbildung der Epik und Lyrik möglich. Es ist die Blüte aller Dichtkunst, indem es durch Verschmelzung von Epik und Lyrik ─ also der äußern Wirklichkeit und der innern Seelenzustände ─ ebenso auf die Anschauung wie auf die Empfindung zu wirken vermag. (Aristoteles sagt in dieser Hinsicht in Poet . 3: ὅθεν καὶ δράματα καλεῖσθαί τινες αὐτά φασιν, ὅτι μιμοῦνται δρῶντας , desgleichen in Poet. 2: μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας .) Der Handelnde repräsentiert die subjektive gegenwärtige Empfindung im Affekt, in der Leidenschaft. Anstatt Erzählung der Begebenheiten ─ wie im Epos, ─ führt das Drama die Begebenheit in dialogischer Form wirklich auf, und es werden die Begebenheiten im Drama zur That, oder besser zu dem, was man eben Handlung (d. i. die in Entwickelung begriffene entscheidende That bis zur Vollendung) nennt. Jm Drama begiebt sich nicht nur Verschiedenes mit und an den auftretenden Personen, sondern diese zeigen durch eigene handelnde Vor- und Darstellung alle Seelenprozesse, welche in der Hauptperson des Drama bis zur leidenschaftlich vollbrachten That sich vollziehen, alle inneren Motive in ihrer vollen Geltung, weshalb die griechische Bezeichnung Drama (von δρᾶν == handeln) viel bezeichnender ist, als die lateinische fabula , die doch nur das epische Moment charakterisiert. (Der Lateiner hilft sich, indem er sagt: fabulam agere .) 2. Nach Shakespeare (Hamlet Akt III , Scene 2) bezweckt die dramatische Poesie, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (Jm Englischen lauten die letzten Worte: to show ... the very age and body of the time his forme and pressure . Delius (3. Aufl. Elberf. 1872. II . 391) kommentiert: Dem Jahrhundert ( age ) selbst wie der in Eins zusammengefaßten Zeit ( body of the time ) ihre Gestalt und ihren Ausdruck zu zeigen. Nach S. Johnson bedeutet age bei Shakespeare any period of time attributed to something as the whole or part of his duration : also jede Periode, den ganzen Verlauf der Zeit, auch den Charakter der Zeit soll das Drama nach Shakespeare darstellen. Wir möchten ergänzend auch an die verkörperte Zeit, d. i. die Zeitgenossen denken, insofern sie persönliche Zuschauer resp. Leser sind. 3. Das Wesen des Drama ist die in Kampf, Gegenkampf, Spannung &c. sich zeigende Handlung. Diese bedarf zu ihrer Vorführung einer Bühne ( σκηνή ), der Dekorationen, der Kostüme, wobei selbstredend auch ein Schauplatz ( θέατρον ) und Zuschauer vorausgesetzt sind. Die Ausmalung, Schilderung und die Beschreibungen der Gegenden sind beim Drama Aufgabe der Scenerie. 4. Zum Ausdruck der innern Empfindungen und der Zustände, welche in einem kausalen Verhältnisse stehen, bedient sich das Drama der Gesprächsform, des durch Mimik und Gestikulation unterstützten Wortes, der wechselnden Rede und Gegenrede. § 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama. Die unmittelbar vor den Augen des Zuschauers sich entrollende Begebenheit ist die Handlung. Sie wird als äußere That durch den freien Willen des Handelnden hervorgebracht. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Fabel, unter welcher lediglich diese nicht zur Darstellung gelangte Begebenheit zu verstehen ist. Die handelnden Personen nennt man die Charaktere. Die Fabel im Drama ist die äußere stufenweise Entwickelung der Begebenheiten, aus denen die That resultiert. Oder besser: Unter Fabel im Drama versteht man die nach dem Zweck des Dichters eingerichteten Begebenheiten, deren Anfang, Fortgang und Ende sich der Dichter dem Ausgang entsprechend zubereitet, während Handlung die in Ausführung begriffene Begebenheit ist. Oder endlich: Handlung ist dasjenige, wodurch die Begebenheit geschieht, ihren Fortgang gewinnt, ihr Ende erreicht: die Vorführung alles dessen, was sich begiebt, was geschieht. Über die Begriffe Handlung und Fabel herrscht selbst bei den gewiegtesten Dramaturgen keine Übereinstimmung. Manche bezeichnen als Fabel, was wir als Handlung bezeichnen, und umgekehrt. Die Römer nennen die Handlung, wie erwähnt, fabula . (Vgl. S. 30 d. Bds.) Die Handlung, welche im freien, nach bestimmter Absicht handelnden Wesen ihren Grund haben und also aus den Charakteren und Verhältnissen der Personen gewissermaßen entspringen muß, ist so wichtig, daß die handelnden Personen erst in zweite Linie zu setzen sind. Ja, sie ist das Wichtigste im Drama. Aristoteles sagt ( Poet . 6): „Man handelt nicht, um seinen Charakter darzustellen, sondern man macht durch seine Handlungen zugleich auch seinen Charakter kund. “ Daher sind die Thatsachen und die Fabel der Endzweck der tragischen Darstellung, der Grundbestandteil und gleichsam die Seele der Tragödie. Das zweite darin sind die Charaktere, d. h. die idealen Personen, welche durch Kraft der Empfindung, Eigenart des Willens und Wesens besondern Charakter besitzen. (Das Dritte sind nach Aristoteles die Gedanken, d. i. die Gesamthandlung, die über die Entfaltung des Charakters hinübergeht, oder wodurch die Charaktere ihr inneres Leben bethätigen: die nach bestimmter Jdee organisierte Begebenheit, welche eben durch die Charaktere dargestellt wird.) Eine Tragödie ohne Handlung ist undenkbar; aber immerhin wäre eine solche ohne individuelle Charaktere möglich. Charakterschildernde Reden und geistreiche Gespräche geben kein Drama, aber sie werden in einem Drama möglich sein, in welchem die Handlung fortschreitet. § 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden. 1. Wesentlich ist im Drama der Fortschritt der Handlung. Es ist daher ein Mangel des Drama, wie ein Verstoß gegen seine Schönheitsgesetze, wenn das überwiegende lyrische oder epische Moment diesen Fortschritt hindert, d. h. wenn die auftretenden Personen anstatt zu handeln, sich in lyrischen Tiraden ergehen, oder den Fortschritt der Begebenheit mehr erzählen und beschreiben, als durch wirkliche plastische Handlungen vorführen. 2. Einschaltungen und Zwischenhandlungen, Episoden, können nur mit gewisser Beschränkung gestattet werden. 3. Kein deus ex machina , kein Schicksal, keine Gottheit darf den Fluß der Handlung stören. 1. Es soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine lyrischen und epischen Stellen im Drama vorkommen könnten. Jn den besten Dramen finden sich dergleichen, z. B. im Tell das Alpenjäger- und Fischerlied, die Erzählung vom Ursprung der Schweizer &c.; im Wallenstein Erzählung des schwedischen Hauptmanns; in der Jungfrau von Orleans Raouls Erzählung I . 9. Johannas Monolog I . 4 u. s. w. Erzählende Stellen sind sogar am Platze, wo wesentliche Momente, die nicht auf der Bühne darstellbar sind, mitgeteilt werden müssen, um die Handlung des Helden zu motivieren. (Vgl. hierzu: Segnius irritant animos demissa per aurem, Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, et quae Ipse sibi tradit spectator. Non tamen intus Digna geri, promes in scenam; multaque tolles Ex oculis, quae non narret facundia praesens: Ne pueros coram populo Medea trucidet, Aut humana palam coquat exta nefarius Atreus, Aut in avem Progne vertatur, Cadmus in anguem. Quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi. Horatius, A. P. 180 u. flg .) Jn besonderer Macht kommt u. a. bei Shakespeare in Romeo und Julie die Leidenschaft der Liebe zum Ausdruck und zeigt, daß das lyrische Element die Vorstufe des dramatischen ist. Das lyrische oder epische Element muß den Verlauf der Handlung unterstützen, in genauer Verbindung mit dem Fortschritt derselben stehen, zu deren größerer Veranschaulichung dienen, aber es darf nicht dominieren wollen. Der Dichter kommt sonst in Gefahr, den Rahmen der dramatischen Technik zu durchbrechen und seinem Gedichte die lyrische Form zu verleihen, wie es Rückert in „Saul und David“ that, wo er z. B. (Ges. Ausg. Bd. IX , S. 202) einen allzulangen, lyrisch. gefärbten Monolog mit einem Sonett beginnt u. a. m. 2. Die sich absichtsvoll entwickelnde Handlung muß das Wesentliche des Drama sein. Kein Moment darf im Drama sich finden, das nicht auf das Endziel dieser Handlung hindrängte. Daher sind auch alle Einschaltungen und Zwischenhandlungen (sog. Episoden), sofern sie nur äußere und keine innere Verbindung mit der Handlung haben, unstatthaft. Sie thun der Mustergültigkeit des Drama Eintrag, indem sie der Abgeschlossenheit der Handlung entgegenstreben und sie hindern, aufhalten. Lediglich als Schmuck können sie an Stellen, wo die Handlung Ruhe ermöglicht, zu Situationsbildchen erweitert werden, um dem Dichter die Jllustration eines bedeutenden Grundzuges, einer Eigenartigkeit seines Helden, einer interessanten Gestaltung der Nebenfiguren zu ermöglichen. Episoden mit innerer Verbindung dienen im Drama auch zur Motivierung. (Lady Milford ist z. B. die Motivierung der Härte des Präsidenten gegen die Liebe seines Sohnes zu Luise. Jch verweise auch auf die Liebesepisode des Max und der Thekla in Wallenstein. Aristoteles Poet . 17 sagt: ἐν μὲν οὖν τοῖς δράμασι τὰ ἐπεισόδια σύντομα, ἡ δ' ἐποποιία τούτοις μηκύνεται .) Shakespeare hat so viel des Schönen, die Totalwirkung Fördernden in Episoden gegeben, daß sie niemand bei diesem Dichter vermissen möchte; z. B. Hamlets Unterhaltung mit Schauspielern und Hofleuten, die Totengräberscenen &c. sind für die psychologische Charakterentwickelung wertvolle Zieraten, die dem Ganzen verwachsen sind und nicht ohne Schädigung abgelöst werden können. Ähnlich ist es bei Lessing, dessen Maler und dessen Gräfin Orsina in Emilia Galotti, Riccaut in Minna von Barnhelm, Derwisch in Nathan &c. als Muster der deutschen Episoden bezeichnet wurden. Goethe hat Episoden in den regelmäßigen Dramen Tasso, Clavigo, Jphigenia vermieden, nicht aber Schiller, der (z. B. durch den überflüssigen Parricida in Tell) des Guten zu viel thut. 3. Schon Horaz ist gegen das Eingreifen eines deus ex machina. (Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. A. P . 192. Vgl. hiezu Aristoteles Poet . 15.) Jnteressant ist, wie Euripides und Goethe sich unterscheiden. Ersterer hat in der Katastrophe seiner Jphigenia des Eingriffs der Athene nötig, während Goethe alles so fest exponiert und vorbereitet hat, daß er dieses Eingreifens entraten konnte. § 23. Anforderungen an die Handlung. Die Hauptforderungen an die Handlung beziehen sich auf ihre Einheit, Wahrscheinlichkeit und Wichtigkeit oder Bedeutung. 1. Einheit der Handlung. Unter Einheit der Handlung ist das Hinstreben sämtlicher Teile des Drama nach einem gemeinsamen letzten Ziele der Haupthandlung zu verstehen: also Einheit des Zweckes und beabsichtigte Richtung des Gemütes des Zuschauers nach diesem einen Zweck. (Vgl. Aristoteles Poet . 23.) Die Einheit verlangt, daß die Handlung ─ sie mag aus noch so vielen Einzelheiten zusammengesetzt sein ─ die gleiche vom Anfang bis zum Schluß der dramatischen Dichtung bleibe. Die Einheit der Handlung, bei der das Ende dem Anfang entspricht, bedingt nur einen Helden, nur eine Haupthandlung, auf die sich alles bezieht. Ein gutes Drama kann anfänglich als aus mehreren Handlungen zusammengesetzt erscheinen, aber es müssen diese einzelnen Handlungen wie Bahnen einander nahe rücken und sich endlich zu einer Haupthandlung vereinigen. Man vergleiche z. B. Shakespeares Kaufmann von Venedig, wo ein Liebesabenteuer und eine Rechtssache nebeneinander herlaufen. Jn Schillers Tell laufen sogar drei Handlungen neben einander her, wodurch mehrfach das Jnteresse für die Haupthandlung geschädigt wird. Die Familie Attinghausen könnte leicht ganz gestrichen werden, um die Abschwächung des Jnteresses an der Haupthandlung, sowie die vielen Striche unserer Schauspieler zu vermeiden. Jm „Geräuschlosen Feldzug“ vom Verfasser (2. Aufl., Leipzig, C. G. Theile) läuft neben der Liebe der Fürstin das Unglück der Familie Warandin her, um sich zur rechten Zeit als wesentliches Moment in die Haupthandlung einzufügen. Jn A. Werners Martin Luther, dessen geniale Einzelheiten wie zerstreute Blitze durch die mystische Nacht des ganzen Schauspiels hindurch zucken, und dessen Gebetsscene am Schlusse des II . Aktes wunderbar ergreifend wirkt, fehlt doch ganz und gar die Einheit der Handlung. Der Dichter hat anstatt eines Drama eine Reihe wandelnder Bilder ohne inneren Zusammenhang gegeben, in denen selbst die Gestalt des Helden einer nebelhaften Verschwommenheit anheim fällt und mehr durch Pathos der Rede, als durch Energie der That sich an unser Jnteresse wendet. Luther in Wittenberg, Luther in Worms, Luther auf der Wartburg: das sind die Hauptpartieen des Stücks, von denen jede einzeln für sich als selbständiges Drama gelten sollte und könnte u. s. w. Lessing bewahrt die Einheit der Handlung am meisten; Goethe beweist sie in Clavigo, in Tasso und in Jphigenia; Schiller in Kabale und Liebe. Schillers Neigung zu Episoden und Doppelhelden ließ ihn zuweilen die Grenze des Erlaubten streifen, z. B. in Maria Stuart oder Wallenstein, wo ihn eine zu dunkle Figur zur Schaffung der glänzenden des Max veranlaßt, die sich sodann als Genius erweist, dem kein Gehör geschenkt wird. Es stört die Einheit, wenn z. B. Schiller den feindlichen Brüdern in der Braut von Messina überwiegende Bedeutung verleiht, was Klinger in den Zwillingen (dem Vorbilde Schillers) dadurch vermieden hat, daß er den einen der Zwillinge von vorne herein in den Vordergrund stellte. Jn Äschylus' „Sieben gegen Theben“ kommt nur Polynices auf die Bretter, vom zweiten Bruder werden die Begebenheiten erzählt &c. 2. Wahrscheinlichkeit der Handlung. Wahrscheinlich ist die Handlung, wenn sie jeden Augenblick in diesem oder jenem Lebenskreise möglich ist. Zur Wahrscheinlichkeit der Handlung gehört, daß der Stoff der Wirklichkeit entnommen und allgemein verständlich ist, daß nicht Unrichtigkeiten vorkommen, die jeder Gebildete rügen muß (z. B. das Absenden von Seeschiffen am böhmischen (!) Ufer, oder das Schießen mit Kanonen zur Zeit Karls des Großen), daß nicht gegen die Stimmungen und berechtigten Empfindungen des jeweiligen Publikums verstoßen werde, daß die Menschen, welche das Drama darstellt, eben Menschen bleiben u. s. w. Wenn Riesen, Elfen, Zwerge auf unseren Bühnen erscheinen, so verletzt dies die Wahrscheinlichkeit nicht, da diese Gestalten im Volksglauben Teil an menschlicher Empfindung haben. Mephisto ist Lustspielfigur. Shakespeares Zuschauer faßten den Geist Banquos, Cäsars, des alten Hamlet und die Hexen in Macbeth gewiß anders auf als wir. Aber auch uns stören sie nicht, weil wir uns in die frühere Anschauung leicht zu versetzen vermögen. Für uns sind sie Arabesken, welche die Anschauung und Stimmung der Zeit widerspiegeln. Der Geist Banquos ist uns z. B. eine mit psychologischer Feinheit nach außen projicierte Hallucination des bösen Gewissens in der eigentümlichen Situation, die dann natürlich als real genommen wird und somit auch mit der Anschauung der Zeit harmoniert. 3. Wichtigkeit der Handlung. Die Handlung ist wichtig, bedeutungsvoll, wenn sie in ihrem Verlauf, wie in ihrem Ausgang das Jnteresse aller Edlen wachzurufen vermag. Um dies zu erreichen, muß sie vor allem jene Lebenskreise aufsuchen, die das Leben widerspiegeln und die einer großen Jdee Ausdruck verleihen. Nur eine solch bedeutende Handlung kann ihre großen Personen rechtfertigen. Bei einer unbedeutenden Handlung wird ein Mißverhältnis der großen leidenschaftlichen Bewegung der Charaktere unschön berühren. Eine wichtige Handlung vermag durch lebhafte Bewegung der Charaktere eine fortdauernde Steigerung der Wirkungen zu erstreben, wie sie z. B. politische Staatsaktionen, Handlungen eines staatsklugen Fürsten nicht ergeben, wohl aber die Stoffgebiete der innern Kämpfe unserer Denker, Erfinder, Künstler. Wir lieben für die Beweglichkeit keine epischen Berichte, wohl aber wichtige Aktionen, wie sie den Griechen trotz Flugwerken und perspektivischer Malerei unmöglich waren, z. B. Kriegführung u. s. w. § 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama. 1. Aristoteles verlangte Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit. 2. Die Franzosen beachten auch bis heute seine Forderung: Einheit der Zeit, der Handlung und des Ortes. 3. Wir Deutsche begnügen uns mit der Einheit der Handlung. 1. Für ein gutes Drama fordert Aristoteles ursprünglich weniger die Einheit des Ortes, als Einheit der Zeit und der Handlung. Es war dies selbstverständlich, da die Handlung ohne Unterbrechung und Einschieben nebenhergehender Handlungen vor den Augen des Zuschauers sich abwickeln mußte, weil der Chor, anders als bei Akteinteilungen, nie die Bühne verließ und die Pausen durch Gesang (in der Komödie durch Parabasen) ausfüllte. Die Zeit der Handlung durfte einen Sonnenlauf, also die Zeit von Sonnenuntergang bis wieder dahin nicht überschreiten, und der Ort durfte, wenigstens bei der Genossenschaft des Sophokles, nicht wechseln. 2. Die sog. klassische Schule der Franzosen hält an der Aristotelischen Lehre aus gewohnter Pedanterie fest, ohne wie bei den Griechen durch Einrichtung der Bühne und durch den Chor dazu gezwungen zu sein. Es erklärt sich das vielleicht dadurch, daß die Franzosen sich an die geläufige Jllusion halten, welche die auf der Bühne erwirkten Jllusionen oder Vorstellungen genau dem Leben adäquat macht, so daß z. B. eine Stunde auf der Bühne auch einer Stunde der Wirklichkeit entspricht, daß ferner der Ort bleibt, weil das Leben keinen unvermittelten Scenenwechsel giebt. Aber die Täuschung sollte wenigstens nur so weit gehen, als es das Prinzip des Schönen gestattet. Deshalb ändern wir Deutsche so oft, als es die Handlung fordert; uns gilt die Minute oft für einen Tag. Wir haben eben Vertrauen in die geistigen Fähigkeiten des Zuschauers, dessen Phantasie wir mehr als ein bloßes Hinnehmen zumuten, und der bei uns nicht teilnahmloser Zuschauer ist (um ─ wie in Frankreich ─ alles ruhig genießend am Auge vorübergehen zu lassen), sondern thätiger Mitdichter. 3. Die französische Schule läßt z. B. zur Erreichung der Einheit des Ortes in ein- und demselben Zimmer die Hausfrau wie die Kammerzofe ihre Liebesintriguen abspinnen und zum Austrag bringen; während nach Shakespeares Vorgang besonders die deutschen Dramatiker ohne Nachteil für den ästhetischen Eindruck sich eine größere Freiheit gestatten und namentlich seit Lessing (vgl. Hamburger Dramaturgie) nur die Einheit der Handlung respektieren, derselben die Einheit des Ortes und der Zeit unterordnend. Wohl muß das Drama, das ja in wenigen Stunden vorzuführen ist, sich auch in der Zeit beschränken, wohl fordert schon die Einheit der Handlung, daß nicht zu Verschiedenartiges verbunden werde, und daß sich nicht die Helden mit ihren Zwecken nach einander ablösen (wie etwa Cäsar und Brutus), aber für die strenge Aristotelische Lehre läßt sich doch kein Beweis der Ästhetik erbringen. § 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held. Die Handlung wird nach § 20 repräsentiert durch die handelnden Personen, die sog. Charaktere, vorzugsweise aber durch eine Hauptperson, um deren Geschick sich alles dreht, und die aus freiem Entschluß ihrem ganzen Wesen nach nicht anders handeln kann, als sie eben handelt. Man nennt diese Hauptperson im Drama den Helden. Jhm gegenüber sind die übrigen Personen Nebenpersonen. Statisten nennt man sie, wenn sie als stumme Teilnehmer an der Handlung für irgend einen Zweck auf der Bühne erscheinen. Nach der Hauptperson sind viele klassische und moderne Dramen benannt. Die hauptsächlich handelnde Person ─ der Held ─ muß einen ausgeprägten Charakter, einen bestimmten Zweck haben. Der Held muß der Centralpunkt des Ganzen sein, er muß die sich entgegentürmenden Widerwärtigkeiten, Hindernisse, Jntriguen kräftig bekämpfen, so daß durch den Aufbau dieser Widerwärtigkeiten spannende Verwickelungen entstehen mit einer logischen Schürzung des sog. dramatischen Knotens. Ein fortwährend schwankender Charakter paßt für eine komische Figur, nimmermehr aber zum Helden eines Stückes, das feste Ziele und Endzwecke haben soll. Ferner eignet sich ein Held, der nur duldet, so wenig für's Drama, als ein solcher, welcher lediglich handelt ohne die Rückwirkung seiner Handlungen zu verspüren. Er ist dann ein epischer Held, ähnlich wie Odysseus, der bis zum Schluß des Epos ohne Veränderung derselbe listige, ausdauernd unternehmende Held bleibt. Ein dramatischer Held verändert sich in seinen einflußübenden Handlungen durch das Werden. Man betrachte bei Othello, Richard III ., Macbeth &c. die Seelenstimmung, die Gewissensschläge, das Grausen, das diese dramatischen Charaktere durchleben. Weiche Naturen, die einer leidenschaftsvollen Erregung nicht fähig sind, passen ebenso wenig für's Drama, als hartgesottene Scheusale, die jede Handlung unberührt läßt. Aristoteles ( Poet . 2) will weder untadelhafte noch durchaus böse Charaktere haben. Jedenfalls soll der Held in der Handlung mit den sittlichen Anforderungen des Jahrhunderts im Einklang stehen. Jn der Nichtbeachtung dieser Forderung ist wohl der Grund zu suchen, weshalb z. B. Sakuntala mit der eigenartigen Ringgeschichte und der stark orientalisch gefärbten Scene in der Laube (selbst in der verdienstlichen Wolzogenschen Bearbeitung) für unsere deutsche Bühne nicht paßt, während ein Hamlet, ein Othello nicht von ethischen Anschauungen des Jahrhunderts und des bestimmten Volkes abhängen, da eben die Leidenschaft etwas allen Jahrhunderten Gemeinsames ist. Shakespeare hat nur solche Helden gewählt, welche durch beispiellose Energie und wunderbare Kraft der Leidenschaft und des Willens die Handlung lebhaft vorwärts treiben. Die Helden der Deutschen waren im vorigen Jahrhundert meist durch äußere Verhältnisse bewegt, und selbst Schiller gab nicht selten den Gegenfiguren im ersten Teil die Führung. § 26. Stoff des Drama. Einzelne Dramatiker entlehnen ihre Stoffe aus der Sagenwelt und Geschichte, andere aus dem gesellschaftlichen Familienleben, andere aus schon vorhandenen dichterischen Arbeiten, (aus der Novelle, aus dem Romane, aus der Ballade), andere endlich aus der eigenen Erfindung, aus der Phantasie. (Vgl. Bd. I . § 16. S. 36.) Ein wirklich dramatischer Stoff darf in seiner Ausführung weder gegen die ästhetischen, noch gegen die Rechts- oder Sittlichkeitsverhältnisse des Zuschauers und seiner Zeit verstoßen. Alle Lebensphasen, alle Verhältnisse des Menschen bilden die Domäne des Dramatikers für den dramatischen Stoff. Hier eine Badekur, leichtes Leben, dort Faust im Ringen nach dem Höchsten ─ nach Erkenntnis; hier Burleske und Spott, dort Ernst und Würde: Aristophanes und Sophokles! Hier ein Handel, der sich um nichts dreht, dort eine den Untergang eines Reiches erzielende Jntrigue, hier Robert und Bertram, dort Julius Cäsar. Eine große Anzahl der Shakespeareschen Dramen wurzelt in den so mannigfaltigen tiefen Gemütsstimmungen, welche in der Seele des Menschen sich regen, oder in sündlichen Leidenschaften, die mit ihren riesengroß anwachsenden Begierden das ganze Wesen erfassen, verwildern, beherrschen u. s. w. Bei den Griechen, die unsere Liebesscenen und deren Stoffgebiete in ihren Dramen nicht kannten, enthält jeder Sagenkreis Verlust und Wiederfinden: das Erkennen. Kinder finden z. B. ihre bis dahin ungekannten Eltern, Gatten begegnen sich nach langer Trennung, Gäste, Freunde und Feinde, welche Namen und Absicht verhüllten, enthüllen sich u. s. w. § 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale. 1. Der Dichter muß sich den rohen Stoff, den er bearbeiten will, erst zurichten, herrichten; er muß ihn dichterisch gestalten. Alles Zufällige, Gräßliche, Verletzende, Unsittliche muß er von ihm losschälen und aus eigener Erfindung ihn zu einem einheitlichen Gefüge mit festem Ziel gestalten. Diese so entstandene neue Einheit, dieses Ziel ist die Jdee des Drama. 2. Man spricht von Jdealisieren des Stoffs, wenn dieser nach solch einheitlicher Jdee künstlerisch umgebildet wird, und man nennt auch die Personen des Dichters, im Gegensatz zu ihren Stoffbildern, Jdeale. (Vgl. den geschichtlichen und den Schillerschen Wallenstein.) 3. Schon Aristoteles verlangt vom dramatischen Dichter das Jdealisieren. 1. Obwohl die originelle Erfindung höchst verdienstlich ist, so ist es doch nicht der Stoff allein und somit auch nicht die Erfindung ausschließlich, wodurch sich der Genius bewährt, vielmehr ist es die Gewalt der Darstellung, die Weltanschauung, d. i. das, was der Dichter aus der Fabel zu machen versteht: wie er eine Jdee im Drama entfaltet. 2. Jst der Stoff aus der Geschichte, so hat der Dichter in der Veränderung wirklicher Umstände und in der Hinzudichtung neuer Momente sorgfältig zu sein, um die innere Wahrheit nicht zu verletzen. Aber auch sonst hat er die Stoffe erst zu dramatischen Stoffen zu gestalten, d. h. eben: er hat sie zu idealisieren. So hat Shakespeare seine der italienischen Novelle entnommenen Stoffe nicht etwa bloß dramatisiert (d. i. in dramatische Dialogform gebracht), sondern die schöpferische Gewalt seines Genius hat sie neu gebildet; Shakespeare hat sie idealisiert. Sollen Personen aus der mythischen oder sagenhaften Zeit als Träger von Jdeen dargestellt werden, so muß die Behandlung so allgemein werden, daß sie lediglich zu typischen Personen umgeschaffen werden. Wenn freilich der Dichter den Stoff modern gestalten will, darf er eine individuelle Behandlung an Stelle der typischen treten lassen. Äschylus hat mehr typische Behandlungsweise, Shakespeare mehr individualisierende. Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung fordert, als die der Übersichtlichkeit. Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors, der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme aller fühlenden Seelen. Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfnis geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem Verhältnis von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang findet die schaffende Seele in einer Täuschung, dem Verdachte von der Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes geworfen ist. Jn solcher Weise macht der Dichter den Bericht sich und andern verständlich, indem er, frei erfindend, einen inneren Zusammenhang hineinträgt. Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht, und etwa folgenden Jnhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt, daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das wirkliche Ereignis dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen ab; ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso hundertmal wieder eintreten und bei den angenommenen Charakteren und dem gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein.... Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß bereits erkennbar. Jn dem letzten Satz: „Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches u. s. w.“ macht der Berichterstatter den ersten Versuch, die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, die Katastrophe zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhtes Jnteresse zu verleihen, daß ihrem Wesen ein anziehender Jnhalt gegeben wird ─ u. s. w. Um an einem andern Beispiel zu zeigen, wie der Dichter den Stoff dramatisch gestaltet, wie er ihn durch Umarbeitung idealisiert, motiviert, neu schafft, erinnere ich noch daran, daß Schiller aus der geschichtlichen, ränkesüchtigen, buhlerischen Maria Stuart eine ideale, über alles menschliche Leid erhabene vorbildliche Fürstin schuf, aus deren Charakter sich das Warum ihres tragischen Geschicks mit Notwendigkeit entrollte. Das Wesen Wallensteins hat er für einen ergreifenden Eindruck so umgebildet, daß der finstere, angsterweckende Bandenführer ein peripatetischer Philosoph, ein hochsinniger, träumerisch reflektierender General wird; und hiefür dichtet er die Begebenheiten um, schafft er neue Charaktere (z. B. den Max), gestaltet er Schicksale und Schuld, verfährt er mit souveräner Dichterfreiheit, und gliedert er sein Material in dramatische Momente. 3. Schon Aristoteles verlangt (Kap. 17. 5. 6. 7. 8.), was Freytag im obigen Beispiel ausführte, daß sich nämlich der dramatische Dichter bei überlieferten wie bei selbsterfundenen Stoffen zuvörderst die allgemeinen Grundzüge entwerfe, daß er sodann die Stoffe von allen Zufälligkeiten entkleide, bevor er sie ins einzelne ausführt. Am Stoff der Jphigenia zeigt Aristoteles, wie der dramatische Dichter den Hergang erst in allgemeinen Umrissen zur Anschauung bringen müsse, wie also die Jphigenia und der Orestes im Drama durchaus anders gestaltet sind, als im überlieferten Stoffe. Er beweist, daß die Beibehaltung der Namen des rohen Stoffes für den schaffenden Dichter fast gleichgültig ist. Erst wenn der Dichter Handlung und Charaktere aus dem Zufälligen, aus dem geschehenen Faktum herausgeschält und einen allgemein gültigen Jnhalt an dessen Stelle geschaffen habe, möge er den Personen die Namen des rohen Stoffes und die Episoden desselben einfügen, „dabei aber wohl darauf achten, daß die Episoden wirklich zur Sache gehören, wie z. B. beim Orestes der Wahnsinnsanfall, durch welchen seine Gefangennahme zu Wege gebracht wird, und seine Rettung durch die (vorgebliche) Reinigung.“ § 28. Tendenz des Drama. Die schwebende Jdee der Gegenwart nennt man Tendenz. Die Tendenz hat es mit den Tagesfragen zu thun. So ist die Befreiung des Menschengeschlechts, wie des Jndividuums als absoluter Begriff Welt idee; die Befreiung Jtaliens von den Bourbonen und von der päpstlichen Herrschaft als relativer Begriff Zeit idee; diese Jdee ist eben die Tendenz des Drama. Das Tendenzdrama wird immer nur politische und sociale Konflikte zum Stoff der Handlung wählen, nie aber einfach menschliche Konflikte, deren Darstellung doch die Bühne allein gewidmet sein soll. Die Tendenz erhält Berechtigung, wenn sie sich mit der allgemeinen Weltidee verschmilzt, wie es Lessing that, der von dem widerwärtigen Dogmenkampf mit der Sehnsucht erfüllt wurde, im philosophischen Drama „Nathan“ der Toleranz und Gleichberechtigung einen Ausdruck zu geben. Nathan war gegenüber einem Göze, Wöllner und Konsorten Tendenzstück, im Hinblick auf die Weltidee der Toleranz hat es ewige Bedeutung. § 29. Das Motivieren im Drama. Alle überraschenden Ereignisse in der Handlung des Drama müssen so vorbereitet und erklärt sein, daß sie als wahrscheinlich erscheinen; sie müssen ihre Begründung erhalten. Man nennt dies motivieren. Durch Motivieren bringt der Dichter die einzelnen Teile der Handlung in enge Beziehung, in einheitlichen Guß und Fluß, durch sie bewirkt er das dramatische Jdealisieren seines Stoffes (§ 27). Jch erinnere beispielsweise daran, wie Shakespeare durch feine Motivierung eine kleine Novelle zur Tragödie Romeo und Julia gestaltet. Er führt die übermütigen Genossen des Romeo ein, um diesen schwermütig erscheinen zu lassen. Er schafft die Masken= und die Balkonscene, um die entstehende Zuneigung der Liebenden glaubhaft zu machen und um zu beweisen, wie die süße Liebesleidenschaft das treibende Agens edler Liebenden wird. Er schafft die Figur des Lorenzo, um Verwicklung und Katastrophe zu motivieren. Er begründet den Haß Tybalts gegen Romeo und dessen Genossen schon in der Zwischenscene beim Maskenfest, um später durch Entfaltung der stärksten Motive, zu denen der Tot Mercutios gehört, Romeo zum Kampfe zu reizen. Die Novelle läßt hier den Romeo ohne weiteres verbannen. Shakespeare zeigt jedoch erst durch Motivierung den edlen Charakter der Julia, um für deren späteren verzweifelten Entschluß das Substrat zu liefern. Der Brautnacht läßt der Dichter das Versprechen des als heftig und hart motivierten Vaters vorausgehen, dem Paris die Tochter zu geben. Nun motiviert der Dichter auch noch durch Herbeiziehung des Zufalls, der sich an Schlaftrunk und Begrabenwerden reiht und dem Zuschauer als wahrscheinlich erscheint. Damit das Unglück um so unvermeidlicher erscheine, läßt seine Motivierung auch noch den Paris vor der Gruft töten. Alle Hoffnung sinkt: ─ Untergang! Das ist eine untadelige Motivierung! So zeigt Shakespeare den Unterschied zwischen epischer Darstellung und dramatischer Verbindung. Er zeigt aber auch, um die Worte des Aristoteles in § 20 zu gebrauchen, daß die Handlung das Erste und Wichtigste, die Charaktere erst das Zweite sind. § 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung. 1. Der Aktion des Helden im Drama (speziell in der Tragödie) stellt sich die Reaktion entgegen. 2. Mit Hinzurechnung einer Einführung hat daher das Drama an sich schon eine Dreiteilung. 3. Neben den Dramen, in welchen der Held dem Gegenkampf unterliegt, giebt es deren, in welchen er als Sieger hervorgeht. (Wir werden diese Gattung als Schauspiel weiter unten zu behandeln haben.) 1. Jn vielen Dramen schreitet die innere Bewegung der Hauptperson bis zu jenem Punkte vorwärts, wo sich sein ganzes Sein zur folgenschweren That entschließt, oder, wie im Wallenstein, zur entscheidenden That gedrängt wird. Von hier tritt die Umkehr der Handlung ein. Nun wirkt das Thun des Helden auf ihn zurück, es macht ihn verantwortlich und führt (in der Tragödie) seinen Untergang herbei. Der erste Teil des Drama ist also Aktion, der zweite Reaktion. So sind die Tragödien Shakespeares gebaut, (Othello und Lear ausgenommen), so Wallenstein. 2. Der Bau dieser Dramen zeigt den Kampf des Helden und den Gegenkampf oder die Bekämpfung desselben, das Aufsteigen des Konflikts bis zum Kulminationspunkt und das Herabsinken bis zur Lösung. Sie haben somit folgende drei Teile: 1. Einführung (Exposition), 2. Schürzung des Knotens ( δέσις ) und 3. Lösung ( λύσις ). Jn vielen Dramen treiben äußere Faktoren den Helden auf den Höhepunkt verhängnisvoller Befangenheit, von wo aus derselbe handelnd bis zur Katastrophe abwärts stürzt (z. B. Emilia Galotti; Kabale und Liebe). Bei der ersten Art von Dramen treiben die Hauptfiguren, bei der zweiten werden sie getrieben. Wenn Kühnheit als die höchste Gewalt eines Menschen bezeichnet werden darf, welcher sein eigenes Jnnere den feindlichen Gewalten gegenüberstellt, so verdienen die Konstruktionen jener Dramen, die im ersten Teil das Spiel, im zweiten Teil das besiegende Gegenspiel markieren, den Vorzug. Es sind die Tragödien. Doch kann derselbe Held siegreich aus dem Spiel hervorgehen. Und man erwartet dies, wenn ihn keine Schuld trifft, da wir kein Fatum kennen. 3. Seit Jffland unterscheiden wir Tragödien mit versöhnendem Schluß, oder Dramen, bei welchen der Held siegreich aus den Kämpfen ─ oder durch eine Art Kompromiß versöhnt ─ hervorgeht. Auch die Griechen hatten einzelne Stücke mit versöhnendem Schluß. Sie scheinen es überhaupt, wie unser Publikum, nicht ungern gesehen zu haben, daß der Held, wenn auch arg mitgenommen, mit heiler Haut und heiterem oder selbstbewußtem Blick davonkam. § 31. Teile des Drama und Umfang desselben. 1. Die Dreiteilung ist nicht immer für die Akteinteilung des Drama bestimmend. 2. Jn der Regel hat es 5 Teile, die man Akte nennt. 3. Mehr als 5 Teile sind nicht zu empfehlen. 1. Bei den alten Griechen war die Dreiteilung des Drama gebräuchlich (nämlich Vorakt, Episodion, Schlußakt). Bei den modernen Völkern ist die Dreiteilung nur selten. Seit Ausbildung der modernen Bühne bei Franzosen und Deutschen zählt es in der Regel 5 Hauptabschnitte, die man Akte nennt, von denen jeder ein für sich abgeschlossenes Teilganzes bildet. (Es sind: 1. Einleitung, 2. Steigerung, 3. Höhepunkt, 4. Umkehr, 5. Katastrophe.) Actus hieß bei den Römern jeder Abschnitt der Handlung; bei uns bedeutet das Wort soviel als Aufzug (vom Aufziehen des Vorhangs). Die Spanier, die den Akt jornada (Tag) nennen, haben auch Dramen bis zu 7 Akten, desgleichen die alten Jndier, bei denen einzelne Dramen sogar bis zu 10 Akten zählten. 2. Cicero (an Quintus fr. I . 1) will 3 Akte haben. Dagegen verlangt Horaz in seiner Epistel an die Pisonen 5 Akte von jedem Drama: Neve minor neu sit quinto productior actu Fabula, quae posci vult et spectata reponi . ( Ars poet . 189.) 3. Auf keinen Fall darf sich das Drama so lang ausspinnen, daß der Zuschauer mit normalen Nerven längst vor dem Schluß erschlafft und ermüdet. Ein sechsstündiges Drama ist entschieden zu kürzen, oder in zwei Stücke zu zerlegen; bei noch längeren Dramen sind 3 Stücke zu bilden, was z. B. in den Trilogien (Ödipus-Trilogie, ferner in Wallenstein, in dem Nibelungenring) geschehen ist. Die an drei einander folgenden Tagen aufzuführenden Trilogien (Dreihandlungen: mit dem Satyrspiel verbunden heißen sie Tetralogien == Vierhandlungen) gaben den Griechen Gelegenheit, Zeit, Ort, Personen &c. zu ändern und ausgedehntere Handlungen darzustellen, ohne der Aristotelischen Forderung untreu zu werden, ─ also das zu erreichen, was wir durch Akte und Scenenwechsel erstreben. § 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog. 1. Bei einem Drama von 5 Akten hat der I . Akt die Exposition, der II . Akt die Steigerung, der III . Akt den Höhepunkt, der IV . Akt die Peripetie, der V . Akt die Katastrophe. 2. Nur ausnahmsweise hat ein Drama auch noch Prolog oder Epilog. 3. Bei Dramen von geringerer Ausdehnung treten die einzelnen Teile enger zusammen. 1. Erster Akt. Das Drama bringt in seinem ersten Akt mit dem einleitenden Accorde die sog. Expositionsscene, d. h. mit der Vorbereitung und Begründung der Handlung das aufregende Moment und die erste Steigerung. Beispiel: Jn Emilia Galotti giebt die Scene des Prinzen am Arbeitstisch den stimmenden Accord, die Unterredung mit dem Maler die Exposition, die Scene mit Marinelli das aufregende Moment (welches die Meldung der bevorstehenden Vermählung liefert), der Entschluß, Emilia bei den Dominikanern zu treffen, die erste Steigerung. Der Dichter führt im ersten Akte die Personen vor, welche seine wichtige Angelegenheit beschäftigt, er bringt sie mit all den umgebenden Lebensverhältnissen unserem Jnteresse nahe, zeigt uns die Grundlage seines Baues und spannt nun unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Wie und Wodurch des darüber aufzuführenden Gebäudes. Er versetzt uns a priori ─ der Bestimmung des ersten Aktes gemäß ─ in die dramatische Stimmung, in die Situation des Drama, und gewährt so einen ahnenden Vorblick in die Zukunft derjenigen Personen, deren Geschick sich vor unsern Augen abspielt. So versammelt sich ─ um noch ein Beispiel zu geben ─ im Oedipus tyrannos von Sophokles die Jugend Thebens unter Führung der Priester vor dem Palast des Königs. Wir erfahren, daß als Strafe der Götter für den ungerächten Mord des vorigen Königs eine Pest wüte; das Volk kommt, um die Entdeckung des Mörders herbeizuführen. Dies ist die Exposition der Handlung. Als Muster solcher Expositionen ist z. B. noch der erste Akt von Schillers Tell zu nennen. (Einleitende Unterredung; Baumgartens Flucht und Rettung; Scene vor Stauffachers Haus; Unterredung vor dem Hut auf der Stange; Blendung Melchthals. Darauf die erste Steigerung: Beschluß, auf dem Rütli zu tagen.) Nicht durch Erzählung oder gar durch einen Prolog soll exponiert werden, sondern durch Handlung; jedoch gehört zur Exposition auch das „aufregende Moment“, d. i. das zu der Seele des Helden aufsteigende Gefühl und Wollen, welches die Haupthandlung veranlaßt und den Helden bestimmt. Die Exposition darf nie zu viel geben, um nicht den Verlauf der Handlung zu verraten; nur ahnen lassen, nur das Verständnis vorbereiten soll sie. Die Exposition ist die Frage, auf welche der Ausgang des Stückes (d. i. die Katastrophe) Antwort giebt. Zweiter Akt. Jm Fortschritt und Verlauf der Handlung, also im II . Akte (d. i. dem Akte der Steigerung), wird die eigentliche Verwickelung (Kollision) klarer eingeleitet. Hier werden die Personen des Gegenspiels eingeführt. Die Absichten und Pläne der Handelnden durchkreuzen sich: es beginnt die eigentliche Handlung. Situation erwächst aus Situation, Ringen und Kämpfen gegen feindliche Mächte wechseln ab. Beispiel: Jn Emilia Galotti führt der Dichter erst die Familie Galotti ein; dann folgt die exponierende Jntrigue Marinellis; dann Handlung: a . Emiliens Aufregung nach dem Kirchenbesuch, b . Marinellis Besuch und Auftritt mit Appiani &c. Dritter Akt. Jhren höchsten Punkt erreicht die Verwickelung im dritten Akt, den man deshalb als den Akt des Höhepunktes im Drama bezeichnet. Entschlüsse und Situationen der hervorragenden Personen wechseln. Der Kontrast, in welchem sich die Charaktere gegenüberstehen und in welchen sie zu ihren Situationen gebracht werden: dieses Kämpfen und Ringen gegen das Schicksal giebt der dramatischen Handlung Bedeutung und anziehende Kraft. Durch das Bestreben, die Verhältnisse ihrem Zwecke anzubilden, schlingt oder schürzt sich der sog. dramatische Knoten. Der Konflikt spitzt sich auf's äußerste zu, die höchste Spannung tritt ein. Beispiel: Jn Emilia Galotti nach kurzer Einleitung, welche den Überfall exponiert, Emilias Eintreten und darauf die Gipfelscene (5. Auftr. des 3. Aktes), worin der Fußfall Emilias und des Prinzen Erklärung die Höhepunkte sind. Durch die Erbitterung der Claudia gegen Marinelli wird die sinkende Handlung eingeleitet. Nach Aristoteles (Kap. 18. 9) zerfällt jede Tragödie in Schürzung und Lösung. Er versteht unter Schürzung alles vom Anfang an bis zu demjenigen Teil (der Begebenheiten) hin, welcher die Grenze bildet, von der ab der Wechsel des Schicksals ─ sei es nun in Unglück oder in Glück ─ einzutreten beginnt, ─ unter Lösung aber das, was von diesem Anfange des Glückwechsels bis zum Ende erfolgt. Vierter Akt. Die Krisis erfolgt im 4. Akte durch Eintritt der sog. Peripetie ( περιπέτεια , d. i. Umschwung nach Aristoteles), oder den Umschlag der Geschicke der handelnden Personen und des glücklichen in einen unglücklichen Zustand, oder umgekehrt, besonders des Helden. Peripetie ist bei Aristoteles auch als eine einzelne Scenenwirkung zu betrachten, ─ als das tragische Moment, das plötzlich einbrechend die Handlung in das Gegenteil verwandelt. Die Griechen hatten auch Tragödien ohne Peripetie. Aristoteles ( Poet . 11. 4) nennt als beliebte Form der Peripetie die in § 26 erwähnte Erkennung. ( ἀναγνώρισις . cf . auch Plat. Theaet. 193. c .) Ödipus erkennt, daß der von ihm Erschlagene sein Vater, und daß sein Weib seine Mutter ist. Alles will zusammenbrechen. ─ Jon erkennt in der Totfeindin die Mutter, Jphigenia den Bruder, den sie opfern soll, Elektra den betrauerten Bruder u. s. w. Die Erkennungsscenen wurden bei den Griechen häufig zu Peripetie-Momenten verwertet. Jm vierten Akte führen die Deutschen meist noch die neuen Charaktere für's Gegenspiel ein (z. B. Gutzkow den Ben-Akiba in Uriel Acosta). Beispiel: Jn Emilia Galotti erst Unterredung, dann Eingreifen der Orsina; Odoardos Eintritt und Orsinas Einfluß steigern die Handlung zum höchsten, die Lösung fordernden Punkte und leiten zum fünften Akt. Fünfter Akt. Der 5. Akt führt die Lösung des Knotens herbei, die Hinwegräumung der entgegenstehenden Hindernisse und Konflikte, die eigentliche Katastrophe ( καταστροφή == Sturz), das Ende des Drama. Wie die einzelnen Aktschlüsse die Antwort auf einzelne Fragen geben, so ist die Katastrophe die Kardinalantwort des Ganzen. Die Hauptperson hat nunmehr die Hindernisse entweder beseitigt, oder sie erliegt denselben. Beispiel: Jn Emilia Galotti: Einleitung. Unterredung zwischen dem Prinzen Odoardo und Marinelli; Weigerung, die Tochter zurückgeben zu wollen; Katastrophe: Ermordung der Tochter. 2. Nur ausnahmsweise geht dem Drama ─ z. B. bei festlichen Gelegenheiten ─ ein besonderer Prolog voraus, der meist nichts mit dem Drama zu thun hat, der nur ausnahmsweise die Handlung geschichtlich einleitet, oder den Zusammenhang des Stücks mit der festlichen Gelegenheit angiebt. (Vgl. § 34. 1.) Ebenso ausnahmsweise folgt dem Drama ein Epilog, der einem ähnlichen Zwecke nach Abschluß des Drama dient, wie der Prolog vor dem Beginn desselben. Es giebt auch 4=, 3=, 2= und 1aktige Dramen. Selbstredend treten bei denselben Exposition, Kollision, Peripetie und Katastrophe entsprechend enger aneinander. § 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart. Die im Nachstehenden gegebenen Schemata bezwecken, das im § 32 Gelehrte durch Bild und Beispiel zu veranschaulichen. Jn seiner o. a. Schrift (Seite 100) versinnbildlicht Gustav Freytag den pyramidalen Aufbau des Drama ( a . Einleitung, b . Steigerung, c . Höhepunkt, d . Fall oder Umkehr, e . Katastrophe) durch Figur I . Schillers Wallenstein (ohne die Piccolomini) versinnbildlicht er durch Fig. II (a. a. O. S. 177): Jn Fig. II wäre a b c == Teil bis zum Höhepunkt: die inneren Kämpfe. c . Höhepunkt: erste Aktion des Verrats, z. B. Verhandlungen mit Wrangel, c. d . Versuche zur Verführung des Heeres, d . Umkehr: das Gewissen der Soldaten empört sich, e . Katastrophe: Wallensteins Tod. (Jm Drama des Verfassers: „Römisches Schattenspiel“, ─ Leipzig, Theile. 2. Aufl. ─ würde das Schema, sofern man sich die Exposition als Bewegung a b denkt und dieselbe nicht, wie bei Freytag, auf den Punkt a konzentriert, das Bild der Fig. III ergeben. a─b Einleitung in die Handlung == Exposition, ruhiges Geschehenlassen und Geschehen, b─c Aufwärtsstreben der Handlung, c─d rasche Entfaltung zum höchsten Punkt, d─e Abwärtssinken mit dem Bestreben, das rasche Abfallen noch aufzuhalten, e─f Katastrophe, Schluß.) Beispiele für den Bau ganzer Dramen. a . Maria Stuart. (Schiller. ) Exposition. 1. Akt: Streit des Paulet und der Kennedy. Schürzung des Knotens. 2. Akt: Elisabeth will ihre Feindin in Schloß Fotheringhay sehen. Höhepunkt. 3. Akt: Begegnung und Streit der Königinnen im Park. Peripetie. 4. Akt: Leicesters Verrat und Marias Todesurteil. Katastrophe. 5. Akt: Maria Stuarts Tod. b . Othello. (Shakespeare. ) Exposition. 1. Akt: Mitteilung an Brabantio von Othellos und Desdemonas Flucht. Schürzung des Knotens. 2. Akt: Jagos Plan zum Verderben des Othello; Absetzung Cassios. Höhepunkt. 3. Akt: Erwachen der Eifersucht Othellos. Peripetie. 4. Akt: Othellos Vorsatz, sich an Desdemona zu rächen. Katastrophe. 5. Akt: Desdemonas Ermordung; Othellos Selbstmord. § 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama. Zwischen den 5 Teilen des Drama liegen 3 dramatische Momente: 1. das erregende Moment ─ vgl. Figur I § 33 ─ zwischen a (Einleitung) und b (Steigerung), 2. das tragische Moment, zwischen c (Höhepunkt) und d (Fall) und 3. das Moment der letzten Spannung kurz vor der Katastrophe e , um diese noch einmal zu steigern. Das erste Moment ist wesentlich, das zweite kann fehlen, das dritte ist Hilfsmittel. Sonach hat der Bau des Drama folgende 8 wesentliche Teile zu bieten: 1. Einleitung, 2. erregendes Moment, 3. die Steigerung, 4. den Höhepunkt, 5. das tragische Moment, 6. die fallende Handlung, 7. das Moment der letzten Spannung, 8. Katastrophe. Wir suchen sie nachstehend näher darzulegen. 1. Einleitung. Vor die Einleitung tritt zuweilen ein die Handlung bedingender Prolog. Bei Euripides ist er ein epischer Botenbericht; bei Shakespeare eine artige Aufforderung zum Aufmerken. Jn Kleists Käthchen von Heilbronn ist die Einleitung zum Situationsbild geworden, ebenso in Schillers Jungfrau von Orleans. Ein Vorspiel ist verwerflich, weil es wieder aus Teilen zu bestehen hat und als Teilganzes nur lockere Verbindung mit dem Drama hat. Der Prolog ist nur ausnahmsweise, wie in Kleists Käthchen von Heilbronn, Schillers Wallensteins Lager, und Jungfrau von Orleans, Goethes Faust &c. zu gestatten, wenn er ein die Handlung einführendes, ihr zur Unterlage dienendes Stimmungsbild entwirft; ganz kann er den Anforderungen an eine in dialogischer Form gegebene, handelnd fortdrängende Exposition nicht entsprechen. Die Einleitung (Jntroduktion) hat Ort, Zeit, Verhältnisse und Gesamtstimmung des Ganzen zu schildern, zu introducieren, gleichsam mit vollem Accord anzuschlagen, z. B. in Hamlet: Kommandoruf, Nacht, Aufziehen der Wache; in Romeo: Tag, offene Straße, Streit, Schwertergeklirr der feindlichen Parteien; in Macbeth: Sturm, Donner, unheimliche Hexen auf öder Heide. Darauf folgt die Exposition, die vom Anfang häufig durch scenischen Einschnitt getrennt ist, z. B. in Hamlet die Hofscene, in Macbeth Duncans Auftreten &c. Die Exposition soll lediglich vorbereiten, nicht aber zersplittern, zerstreuen. Daher wählt der Dichter meist eine etwas ausgebreitete Scene, z. B. in Julius Cäsar den Festzug und die Unterredung des Cassius und Brutus; in Maria Stuart den Streit, die Expositionsscene: Maria und Kennedy. 2. Das erregende Moment. Die Handlung gelangt in Bewegung, wenn im Helden der Entschluß zur That sich regt. Jn Julius Cäsar ist es der Beschluß, Cäsar zu töten, in Maria Stuart das Bekenntnis Mortimers, in Emilia Galotti die Nachricht von Emilias bevorstehender Vermählung; im Faust beginnt es mit Mephistos Eintritt, das Vorhergehende ist Exposition. Das erregende Moment muß kurz sein, da es eben nur Motiv ist. Nach seiner Einführung beginnt die ernste Arbeit des Dramatikers. 3. Steigerung. Sie ist die interessevolle Fortspinnung der in Fluß geratenen Handlung. Alle noch nicht vorgestellten Personen müssen jetzt erscheinen. Jn Julius Cäsar ist die Steigerung allein schon durch die Verschwörung ausgeführt. Jn Romeo und Julia durchläuft sie 4 Stadien in einer trefflichen Scenengruppe: a . Maskenball, bestehend aus 2 Vorscenen (Julia, Mutter, Amme) und einer Hauptscene: Ball. b . Gartenscene (Vorscene, in welcher Romeo gesucht wird, und Hauptscene, in welcher die Liebenden die Vermählung beschließen). c . Trauung (1. Scene: Lorenzo und Romeo, 2. Scene: Romeo, Genossen, Amme als Botenläuferin, 3. Scene: Julia und Amme, 4. Scene: Trauung). d . Tybalts Tod. 4. Höhepunkt. Er bezeichnet die Stelle, wo die Handlung durch eigenes Treiben des Helden oder durch die Resultate des Gegenspiels die höchste Macht entfaltet, z. B. die effektvolle Hüttenscene in Lear, oder die Scene, in welcher Jago die zum Untergang treibende Eifersucht Othellos anfacht. 5. Das tragische Moment. Es ist der Beginn der sinkenden Handlung. Es wird meist mit dem durch Aktschluß getrennten Höhepunkt durch eine erläuternde Scene verbunden. Jn Maria Stuart ist es der Zank mit Elisabeth. 6. Die fallende Handlung. Sie ist die Umkehr oder der Wechsel der Handlung vom Glück zum Unglück, oder umgekehrt. Die Behandlung der Umkehr ist schwierig, weil die scenischen Effekte gesteigert werden müssen, um das Jnteresse wach zu erhalten. Der Dichter beschränkt in der Regel die Zahl seiner Personen, um große, bedeutende Scenen zu gewinnen. Die Handlung drängt zur Entscheidung und verbietet weiteres Ausmalen, Begründen und episodisches Motivieren. Nur in großen Kontouren kann noch eine Zeichnung gestattet sein. Es handelt sich um Thaten, Erfolge, Wirkungen. Daher ist die fallende Handlung (Umkehr) auch kürzer, als die aufsteigende. Vgl. den Monolog der Julia in Romeo und Julia vor dem Schlaftrunk; das Nachtwandeln der Lady Macbeth &c. 7. Das Moment der letzten Spannung. Es ist eingefügt, um die Katastrophe so wirksam als möglich vorzubereiten, um sie auch nicht zu rasch eintreten zu lassen. Shakespeare läßt z. B. im Romeo ganz zuletzt auch noch den Paris vor dem Sarge der Julia töten, um den Gedanken an glückliche Lösung nicht mehr aufkommen zu lassen (vgl. § 28), oder er läßt die Ermordung Hamlets durch ein vergiftetes Rappier noch im Voraus besprechen u. s. w. Das Moment der letzten Spannung benützt zuweilen ein kleines Hindernis, um für einen Augenblick noch an die Möglichkeit einer andern Wendung glauben zu machen. Jn Laubes Essex ist es der die Rettung ermöglichende Ring; in Romeo der erwartete mögliche Eintritt Lorenzos in die Gruft; in Coriolan die Möglichkeit, freigesprochen zu werden; in Wallenstein der Gedanke an eine mögliche Rettung durch Gordon und die Schweden &c. 8. Die Katastrophe (== exodus der alten Bühne). Sie ist die Lösung, der Zusammenbruch, der Untergang des Helden. Sie muß die logische und moralische Konsequenz der Handlung und der Charaktere sein. Die Katastrophe muß jedes überflüssige Wort vermeiden; in ihr müssen sich alle Scenen, wie in einem Brennpunkt der auslaufenden Handlung vereinen, ergießen. Daher muß jede dunkle Stelle in der Jdee hier durch Wort und Handlung erhellt werden. § 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama. Da es besser ist, das regelnde Gesetz an einem Beispiel eingehend zu demonstrieren, als oberflächlich an vielen, so erläutern wir hier noch den Bau des Drama an Hamlet, wie ihn Freytag (a. a. O. S. 163) abstrahiert hat, und wie eine ähnliche Disposition jeder Dramatiker bei Beginn seiner dramatischen Arbeit sich bilden sollte. 1. Einleitung. a . Der stimmende Accord: auf der Terrasse erscheint der Geist; die Wachen und Horatio. b . Die Exposition selbst: Hamlet im Staatszimmer vor dem Eintritt des aufregenden Moments. c . Verbindungsscene zum Folgenden: Horatio und die Wachen unterrichten ihn vom Erscheinen des Geistes. 2. Eingeschobene Expositionsscene. Die Familie Polonius bei der Abreise des Laertes. 3. Das aufregende Moment. a . Einleitender Accord. b . Der Geist erscheint Hamlet. c . Hauptteil: Er offenbart ihm den Mord. d . Hamlet und die Vertrauten als Übergang zum Folgenden. Durch die beiden Geisterscenen, zwischen denen die Einführung der Hauptpersonen stattfindet, werden diese Scenen zu einer Gruppe zusammengeschlossen, deren Gipfelpunkt am Ende liegt. 4. Steigerung in 4 Stufen. Erste Stufe: Die Gegenspieler. Polonius macht geltend, daß Hamlet aus Liebe zu Ophelia wahnsinnig geworden; in 2 kleinen Scenen: Polonius in seinem Hause und vor dem König. Die letztere schließt sich eng an die folgende: Zweite Stufe: Hamlet beschließt, den König durch ein Schauspiel auf die Probe zu stellen in einer großen Scene mit episodischen Ausführungen: a . Hamlet und Polonius; b . Hamlet und die Hofleute; c . Hamlet und die Schauspieler als Hauptteil; d . Monolog Hamlets leitet zu dem Folgenden über. Dritte Stufe: Der Gegenspieler. a . Der König und die Jntriguanten. b . Hamlets berühmter Monolog. c . Hamlet warnt Ophelia. d . Schluß: Der König schöpft Verdacht. Diese drei Stufen sind untereinander zu einem größern Organismus verbunden, die erste wird zur Einleitung, die breite und behagliche Ausführung der zweiten bildet den steigernden Hauptteil, die dritte, durch die Fortsetzung des Monologs schön mit der zweiten verbunden, den Gipfelpunkt dieser Gruppe mit schnellem Abfall. Vierte Stufe, welche zum Höhepunkte hinüber leitet: das Schauspiel. a . Einleitung: Hamlet und die Schauspieler und Hofleute. b . Hauptteil: die Aufführung und der König. c . Übergang: Hamlet, Horatio und die Hofleute. Bestätigung des Verdachts. Hamlet soll zu seiner Mutter kommen. 5. Höhepunkt. Eine Scene mit Vorscene: Der König betend, Hamlet zaudernd. Eng daran schließt sich Das tragische Moment. Eine Scene: Hamlet ersticht in der Unterredung mit seiner Mutter den Polonius. Zwei kleine Scenen als Übergang zum Folgenden: Der König beschließt, Hamlet wegzusenden. Auch diese drei Scenengruppen sind zu einem Ganzen verbunden, in deren Mitte der Höhepunkt steht. Zu beiden Seiten in großer Ausführung die letzte Stufe der Steigerung und das tragische Moment. 6. Die Umkehr. Einleitende Zwischenscene. Fortinbras und Hamlet auf dem Wege. Erste Stufe: Eine Scene: Ophelias Wahnsinn und der Rache fordernde Laertes. Kleine Zwischenscene: Brief Hamlets an Horatio. Zweite Stufe: Eine Scene: Laertes und der König bereden den Tod Hamlets. Schluß und Übergang zum Folgenden bildet der Bericht der Königin über den Tod der Ophelia. Der Bau dieser Scenengruppe ist nicht so durchgebildet, als in den frühern Abteilungen; der Zusammenhang wird durch die Zwischenscene unterbrochen, welche korrespondierend mit der einleitenden Scene eine Erklärung der Reise Hamlets darstellt. Dritte Stufe: Begräbnis der Ophelia. Die episodische Einleitungsscene: Hamlet und die Totengräber; die Hauptscene, kurz gehalten: scheinbare Versöhnung des Hamlet mit Laertes. 7. Katastrophe. Einleitende Scene: Hamlet und Horatio, Haß gegen den König; als Übergang zum Folgenden: die Meldung Osricks. Dann Hauptscene: die Entscheidung. Darauf Schluß: Ankunft des Fortinbras. Auch die zweite Stufe der sinkenden Handlung hat keine regelmäßige Bildung, die episodische Einleitung füllt den größten Teil; die Arbeit des dramatischen Ausgangs ist von altertümlicher Kürze und Strenge. ─ Es giebt kein besseres Mittel, in die Technik des Drama einzudringen, als gute Dramen nach Maßgabe des vorstehenden Schemas zu schematisieren. § 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung. 1. Jedes Erscheinen einer neuen Person auf der Bühne wird als neuer „Auftritt“ bezeichnet, ebenso das Abtreten einer oder mehrerer Personen von der Bühne. Es giebt sehr verschiedenartige Scenen. Die Veränderung der Bühne wird als Veränderung der Scene bezeichnet. 2. Der Scenenwechsel auf der Bühne muß möglichst rasch erfolgen. 3. Die Scenen haben je nach ihrem Charakter verschiedene Bestimmung und Wirkung. 1. Das Wort Scene bedeutet ebenso den offenen Bühnenraum, als dasjenige Bruchstück der Handlung, welches die gleiche Dekoration hat. Für den Dichter ist Scene die Verbindung mehrerer dramatischen Momente, welche die gleichen Hauptpersonen haben. Die Scene kann einen ganzen Akt oder einen Teil desselben umschließen. Es giebt Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen, Liebesscenen, Ensemblescenen, Massenscenen &c. Der Scenenwechsel wird auf der Bühne meist durch den Niedergang eines Zwischenvorhangs angezeigt. Bei den gedruckten Dramen wird der Scenenwechsel durch das Wort „Verwandlung“ angezeigt. Die Scene des dramatischen Dichters und des Regisseurs fallen nicht immer zusammen, da ja bei dem Abgang selbst des Helden nicht immer die Dekoration zu wechseln braucht. Um ein Beispiel anzugeben, so bietet der 4. Akt von Maria Stuart in 12 Auftritten zwei kleinere und 1 größere dramatische Scene, und durch einen Koulissenwechsel wird der Akt in zwei Bühnenscenen geschieden. Die Verweisung des Grafen Aubespines und der Streit Leicesters mit Burleigh bilden in drei Auftritten die erste Scene; der Monolog Leicesters, seine Besprechung mit Mortimer, Mortimers Tod im 4. Auftritt bilden die 2. Scene. Hier tritt die zweite Bühnenscene ein, indem das Zimmer der Königin hergerichtet wird. Der 5. bis 12. Auftritt des 4. Aktes ergeben sodann nur noch eine große Scene: (Doppelscene.) Kampf um's Todesurteil. (5. Auftritt: Elisabeth und Burleigh gegen Leicester. 6. Auftritt: Leicesters Unterredung. 7., 8., 9., 10. mit ausklingendem und verbindendem 11. und 12. Auftritt: Unterschrift des Bluturteils.) 2. Der Niedergang des Vorhangs am Aktschluß gestattet Zeit, im Zwischenakt die Scene zu wechseln. Diese Zeit sollte stets nur ein paar Minuten betragen, besonders zwischen den beiden durch die Handlung so eng zusammenhängenden Schlußakten. Dekorationswechsel ist immer mißlich, weil er die Handlung hindert; doch ist er am besten noch in den ersten Akten anwendbar, wo die Richtung der im Verlauf immer mehr drängenden Handlung noch nicht so genau bestimmt hervortritt. Was den Bau der dramatischen Scenen betrifft, so sollte eine jede nach der Einleitung eine Steigerung durch Widerspruch, Widerstreben, Gegenrede, Gegenhandlung und schließlich ein Resultat zeigen oder ahnen lassen, das auch negativ sein kann. Es ist dramaturgisches Gesetz, die Scene nie leer stehen zu lassen, wenn dies nicht gewisse Handlungen verlangen, wie ein Mord, oder das Hinwegstürzen der Handelnden z. B. in den beiden Grachen &c. 3. Wir geben im Nachstehenden den Begriff der wesentlichsten sogenannten Scenen: a . Die Monologscenen geben Gelegenheit, das geheimste Empfinden und die dunklen Ziele dem Publikum zu entrollen, einen Blick in die Herzkammer des unbelauschten Handelnden thun zu lassen. (Hamlet reflektiert über die Wirkung des Schauspielers. Er bringt Thatlosigkeit in Vergleich; er faßt den Entschluß zu handeln und legt dadurch für den Zuschauer die Einwirkung klar, welche seine Unterhaltung mit den Schauspielern auf ihn und auf den Fortgang der Handlung übt.) Die Monologe sind meist lyrischer Natur. (Vgl. Tell, 4. Aufz. 3. Scene.) b . Die Dialogscenen bilden die Seele der Handlung, die durch sie zum Ausdruck gelangt. Hat man sich klar gemacht, daß das Wesen des Drama Handlung ist, so wird man auch einsehen, daß die Dialogscene im ernsten Drama anders sein muß, als z. B. im Lustspiel, im Salon- und Konversationsstück. Sie muß den Fortschritt der Handlung ausdrücken. (Z. B. die Dialogscene zwischen Orsini und Odoardo, 4. Akt, 7. Auftritt in Emilia Galotti: Odoardo: Weiß ich nicht schon genug? Orsina: Sie wissen nichts. Wenn es gar Jhre einzige Tochter ─ Jhr einziges Kind wäre! ─ Appiani ist tot. Jhre Tochter, schlimmer als tot. Odoardo: Sprach sie in der Messe? Der Prinz meine Tochter? ─ Nun, Mütterchen? haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen! ─ Wunder, daß ich aus Eilfertigkeit nicht auch die Hände zurückgelassen! Orsina: Nehmen Sie ihn! (ihm den Dolch aufdringend). Odoardo: Liebes Kind, wer wieder sagt, daß du eine Närrin bist, der hat es mit mir zu thun &c.) c . Die Botenscenen sind der Gegensatz, da ihre Berichte nur referieren. Sie werden bei längeren Dramen häufig beschnitten. Mit Unrecht, da sie über die Züge des Gegenspiels aufklären und zu neuem Fortgang drängen. Man vgl. z. B. den Botenbericht des Schweden in Wallenstein, der den Tod des Max meldet und Gelegenheit giebt, das ganze Seelenleben der Thekla zu entrollen. d . Die Liebesscenen bilden in der Tragödie einen wunderbaren Kontrast zu dem finsteren Geschick. Die großartigsten Liebesscenen finden sich in Romeo mit der unübertroffenen Balkonscene, und in Faust die Scene Gretchens im Garten. Sie heben sich da in der Gewalt der unmittelbaren Empfindung von denen Schillers ab, z. B. im Tell zwischen Rudenz und Bertha, im Wallenstein, wo die Anwesenheit der Terzki die Entfaltung hemmt. Der Eintritt eines Dritten in den Dialog kann hemmend oder treibend wirken, da er als Partei die Absicht des einen lähmt oder fördert, oder auch seinen Willen einem jeden der beiden entgegensetzt. e . Ensemblescenen. Sobald mehr als drei Personen an der Handlung sich beteiligen, entstehen die Ensemblescenen, die in der griechischen Tragödie fehlten, uns aber geradezu unentbehrlich sind. Sie sind zwar nicht der Ausdruck der größten Steigerung oder Spannung, aber sie liefern einen Beitrag, der Handlung Glanz, Bewegung, Farbe und Wirkung zu verleihen, die Triebfedern der Handlung ersehen zu lassen, oder dieselbe effektvoll abzuschließen. Diese Wirkung der Ensemblescenen ist nicht sowohl von der Anwesenheit vieler Personen auf der Bühne abhängig, als vielmehr von dem thätigen, charakteristisch=bewegten Eingreifen derselben. Der Dichter ist daher mit Recht als der Wirt bezeichnet worden, welcher jedem seiner Gäste die Unterhaltung in dieser Scene und das Eingreifen in dieselbe ermöglichen soll. Scenen von großer Personenzahl (Volksscenen &c.) müssen eine sehr verständnisvolle Gliederung haben, um ebenso die führenden Stimmen zu markieren, als das harmonische Zusammengreifen zu ermöglichen. Selbstredend ist hier ein weises Maßhalten geboten; auch der Held wird vieles unausgesprochen lassen müssen, da hier eine große Gruppe nicht zum Schweigen auf lange Zeit verurteilt werden kann. Eine gewaltige Ensemblescene ist die Rütliscene im Tell. Jhre Teile sind: Ankunft der Unterwalder, Melchthals und Stauffachers Unterredung, Begrüßung der Schwyzer. Der Dichter hat es vermieden, durch wiederholtes Betonen des Eintritts der 3 Kantone unsere Geduld auf die Probe zu stellen. Die Urner erscheinen und die Handlung beginnt, geleitet von 2 Hauptpersonen, ja, sie spinnt sich fort in kurzen Reden und lebhaftem Eingreifen der Nebenfiguren. Stauffacher schildert glänzend die Absicht und das Ziel des Bundes. Widerstreit der Ansichten über Stellung zum Kaiser; verständnisvolles Reden, Steigerung der Gegensätze über die Mittel, sich von den Vögten zu befreien. Abstimmung, Schwur. Stauffachers machtvoller Vortrag ist der Höhepunkt der Scene, die so mannigfach ist in Bewegung, Händeerheben, Waffengerassel, Steigerung, Ruhe, Umarmung! Dazu der schöne Ausklang der Scene, indem die Morgenröte der entblößten Gruppe Farbe verleiht und das Licht der aufgehenden Sonne die Eisberge übergießt. f . Bei Massenscenen, für welche man auf der Bühne ja doch nur einen geringen Teil an Personal hat, muß durch Versatzstücke, Verengerung des Platzes, Verkleinerung des Raumes eine so geschickte Aufstellung der Personen erfolgen, daß die Täuschung hervorgerufen wird, als habe man es mit einer unübersehbaren Menge zu thun. Die Behandlung der Shakespeareschen Volksscenen, wie auch deren Aufführung in neuerer Zeit durch das Meiningensche Mustertheater, ist vorbildlich. Die Wirkung ist aber auch eine wunderbare. Das Zusammensprechen zu üben, die Bewegung des einzelnen vom Massenkörper abzuschälen, künstlerisches Bewegen auch dem Statisten einzuhauchen, sollte nach Art der Meininger allenthalben erstrebt werden. Das Verdienst der feinen Ausführung Shakespearescher Massenscenen ist nicht so gering, als es von manchem Neidischen geschildert werden möchte. § 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen. Um die Handlung vor unsern Augen entstehen zu lassen, bedient sich der dramatische Dichter kurzer Monologe (Rede des einzelnen mit sich selbst) und treffender Dialoge (Zwiegespräch der Handelnden), was nicht selten zur antithetischen geflügelten Wechselrede (Stichomythie) wird, und eine erhabene Rhetorik der Leidenschaft als Resultat hat. Der Monolog hat die Aufgabe, einen Blick in den Gemütszustand des Handelnden zu ermöglichen. (S. 52. a .) Dagegen sucht der Dialog das Entgegensprechen der Handelnden zu ermöglichen, das Bestreben, sich gegenseitig zu überzeugen, manches anders darzustellen, Absichten und Gedanken hinter Worten zu verbergen, zu imponieren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen u. s. w. (S. 52. b .) Jn Wahrheit ruht die poetische Kraft der dramatischen Dichtung hauptsächlich und vorzugsweise in den Worten der Handelnden: aus ihnen erfahren wir Ursache und Absicht ihrer Handlungen. § 38. Sprache und Form des Drama. 1. Schon aus dem in § 37 angegebenen Grunde ist der Sprache besondere Rücksicht zuzuwenden, wobei das Bd. I S. 107 ff. Gesagte zu beachten ist. 2. Bezüglich der Form ist abzuwägen, ob gebundene Rede anzuwenden sei oder nicht. 1. Das gute Drama hat vor allem alles Schwülstige, Affektierte, Manierierte, Gekünstelte, Unwahrscheinliche in der Sprache zu vermeiden und der Handlung, für deren Mangel geflügelte Worte und glänzende Denksprüche nicht entschädigen können, die Form des würdigen Ausdrucks anzupassen. Harmonische Vereinigung der innern Wahrheit mit Schönheit des äußern Ausdrucks ist dabei Aufgabe der dichterischen Sprache. 2. Bezüglich der Sprachform haben Schiller (Räuber), Goethe (in seinen ersten Dramen Clavigo, Egmont, Götz von Berlichingen), Lessing, ferner auch der Franzose Diderot nach dem Vorbild englischer Dramen des 17. und 18. Jahrhunderts die Prosa empfohlen. Es schien ihnen unnatürlich, daß auf der Bühne eine andere Sprache gelten sollte, als im Parterre. Doch schrieb Lessing später seinen Nathan im jambischen Quinar, dessen sich sodann auch Goethe und Schiller bedienten. (Vgl. Bd. I S. 311.) Das sich bahnbrechende Künstlerbewußtsein gab diesen Dichtern den Vers und sie zeigten, daß der Dichter Veranlassung haben kann, auch die Sprache im Gebiet der Kunst zu beteiligen. Shakespeare ist insofern besonders beachtenswert, als er die Personen aus niedern Ständen Prosa sprechen läßt, den edleren Personen aber Verse giebt. Auf diese Weise malt er das Leben trefflich und zeigt ein die Einförmigkeit vermeidendes, sich der Situation anschließendes Stilgefühl. Für gewisse Dramen, für Komödien, Possen ist die Prosa am Platze; die Unwahrscheinlichkeit eines rhythmisch gegliederten Dialogs moderner Figuren empfiehlt bei diesen Gattungen von selbst die Prosa. Sie bequemt sich leicht einer jeden Stimmung an; sie gestattet größere Unruhe und schnelleren Wechsel. Sind aber die Helden des historischen Drama z. B. längst verstorbene Personen, die nie unser modernes Deutsch sprachen, oder gehören sie einer fremden Nationalität an, oder ist eine gehobene, edlere Stimmung des Herzens verlangt, so ist die rhythmische Form geboten. Diejenigen Völker, bei denen das Drama aus ihrem nationalen Kunststreben emporblühte, haben nur die Form der Rede gewählt, welche der unrhythmischen, prosaischen Form ziemlich nahe lag, z. B. die Griechen und Römer den jambischen Rhythmus. (Aristoteles sagt von ihm: „ μάλιστα γὰρ λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ ἰαμβεῖον ἐστιν “.) Den trochäischen Tetrameter bezeichnet Aristoteles als dithyrambisch: in der That findet er sich auch früher ─ bei Sophokles und Euripides ─ häufiger als später, wo die Abstammung des Chors aus dem Dithyrambus zeitlich ferner gerückt war. Die Komödie bediente sich auch noch des anapästischen Verses. Unser ältestes deutsches Drama ─ der Wartburgkrieg ─ (vgl. Bd. I S. 47) schloß sich in seiner Form der Lyrik an. Es hatte singbare Strophen. Später gebrauchte das Drama kurze Reimpaare, bis Lessing, wie erwähnt, dem jambischen Quinar die Bahn eröffnete. (Vgl. Bd. I S. 312, sowie 313 und 416, wo auch der Freiheiten im Gebrauch des jambischen Quinars gedacht ist.) Auch gereimte Trochäen hat man angewendet. Jn neuerer Zeit hat man aus Opposition gegen die Monotonie der sog. Jambentragödie häufig die metrische Form ganz aufgegeben, die doch von einzelnen, (z. B. von dem sprachgewandten Ungar Doczi im „Kuß“ 1877) mit großem Erfolg verwertet wird. Jn Frankreich wird immer noch der Alexandriner verwendet, in Spanien der assonierend trochäische Vers. § 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen. 1. Der dramatische Dichter muß die Technik des Drama kennen und sich in den Geist seiner Figuren zu versetzen wissen. 2. Er muß den Monolog wie den Dialog seinen Charakteren entsprechend zu bilden vermögen. 3. Er muß daher vor allem Phantasie und hohe Bildung besitzen. 4. Er muß das Charakterisieren lernen und seine Kraft auf Gestaltung guter Figuren wenden. 5. Er darf es nicht verschmähen, sich an guten Mustern zu bilden. 1. Die Anforderungen an den dramatischen Dichter in Bezug auf Disposition der Handlung, Methode der Charakterbildung, Darstellung der Leidenschaft und der Seelenvorgänge sind keine geringen. Er muß sich zunächst Stimmung, Stand, Stellung, Lage, Alter, Verhältnisse seiner handelnden Personen vergegenwärtigen, um seine Zeichnung objektiv zu gestalten, sowie die Wahrheit der Unterredung und die Jndividualität dieser handelnden Personen nicht zu beeinträchtigen, und auf diese Weise lediglich zum Ausdruck zu bringen, was dieselben empfinden, denken, wollen. Das wirklich Dramatische wirkt in ernster Handlung sicher tragisch, wenn der Dichter es richtig zu gestalten vermag. (Das Wort tragisch ist als specifische Folgenschweres, Trauriges bringende Art der dramatischen Wirkung zu betrachten. Vgl. Bd. I S. 100.) 2. Der Dramatiker muß es verstehen, den Dialog einfach, natürlich, nur aus der Handlung und den äußern wie innern Zuständen der Personen entspringend zu gestalten und im Monolog (anstatt historisch unterrichtend) dem innern Drang der Gefühle ein Organ zu sein. Nur solches Verständnis wird ihn befähigen, den Zuschauer gleichsam dem Handelnden eng an die Seite zu stellen, den ersteren in der Seele des Helden lesen zu lassen, wie es z. B. Schiller beweist in dem zur Entfaltung der Leidenschaft mitwirkenden dramatischen Monolog Tells vor der Ermordung Geßlers. (4. Akt 3. Scene.) Vom Dramatiker muß man große poetische Kraft, männlichen Mut und souveränen Sinn für die Schlußkatastrophe verlangen, um nicht vor dem Untergang des Helden zurückzuprallen. 3. Für den Aufbau braucht der Dramatiker neben Phantasie auch Kenntnis, poetischen Reichtum, dichterische Routine, um guten Stoff zu wählen und diesen nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten. Der Dramatiker muß sich die dramatische Bewegung vorstellen können, um nicht Hauptpersonen zu lang auf der Bühne unbeschäftigt zu lassen, oder dem Darsteller zu viel zuzumuten. Er muß die Leistungsfähigkeit des Sachdarstellers kennen, um nicht vom jugendlichen Liebhaber zu verlangen, was nur der alte Jntriguant leisten kann. Erzählende Partieen muß er zum Zweck der Andeutung der erregten Stimmung der Hörer durch kurze Zwischenreden unterbrechen, wie dies Schiller in Wallenstein durch den Bericht des schwedischen Hauptmanns erzielt. Geschehenes aber, oder schwer Darstellbares muß er hinter die Bühne verlegen, oder er muß durch die Reflexe wirken, z. B. Blitz, Geschützsalven, der dumpfe Fall des Hauptes (Graf Essex von Laube) &c. Dagegen läßt er Emilia Galotti auf der Bühne morden, weil der Mord durch Vaterhand hinter der Bühne die Wahrscheinlichkeit verliert. 4. Jnsbesondere verlangt man vom Dramatiker die Kunst zu charakterisieren, das Werden des Charakters zu malen, sein inneres Sein und Leben vorzustellen. Aus dem Handeln des Helden muß man Sitte, Denk- und Handlungsweise der Nation zu erkennen vermögen, welche der Held repräsentiert. Unsere Helden zeichnen sich nicht selten durch beschauliche Ausbreitung der Gefühlszustände aus, wiewohl einzelne nie der dramatischen Bewegung entbehren. Lessing ist hochbedeutend, was Charakterisieren anlangt. Freytag sagt mit Recht, daß der Reichtum an Detail, die Wirkung schlagender Lebensäußerungen, welche sowohl durch Schönheit als Wahrheit überraschen, bei Lessing in dem beschränkten Kreise seiner tragischen Figuren größer sei als bei Goethe, unmittelbarer als bei Schiller. Bei ihm wird durch leidenschaftliche dramatische Bewegung erreicht, was Goethe durch Darstellung der Gemütszustände, namentlich bei seinen Frauencharakteren erreicht. Seine Helden lassen sich zum Teil noch vorwärts schieben, aber doch fehlt es nicht an dramatischer Bewegung. Schillers Bedeutung zeigt sich darin, daß seine Charaktere trotz der Ruhepunkte in den bewegten Momenten in der höchsten Spannung verharren und in dieselbe versetzen; sie sind voll Kraft und innern Gehaltes und handeln unbeirrt um Konsequenzen ihrem Charakter gemäß. So kommen sie in Konflikt mit der Umgebung und schmieden sich selbst ihr Geschick. Es ist von Wert nachzuspüren, wie Schiller seine geschichtlichen Helden konstruiert. Das einzige Beispiel des Wallenstein möge das in großen Umrissen zeigen. Schiller zeigt nicht den Verräter Wallenstein, wie etwa Moli è re den Geizigen, sondern er zeigt, wie Wallenstein durch das Schicksal allmählich zum Verräter gemacht wird. Auf der Bühne sollen weder Thaten noch schöne Worte allein wirken, sondern die Darstellung der Gemütsprozesse, welche das Empfinden zum Wollen und zur That verdichten. Schiller hatte vor sich den geschichtlichen Wallenstein, den egoistischen Feldherrn mit seinen großen Plänen. Er sah ihn dem Wrangel gegenüber, er sah ihn auf dem Observatorium. Die Erwägung, daß das Mißlingen der Wallensteinschen Pläne den Helden in recht erbärmlichem Lichte erscheinen lassen mußte, veranlaßte den Dichter, den Glauben Wallensteins an Astrologie poetisch zu verwerten, um einen philosophisch denkenden, über die Erscheinungen des Lebens dahinschreitenden Mann darzustellen, der an eine Vorsehung glaubt, der sich durch seinen Glauben an sein Geschick auf Bahnen verlocken läßt, die von anderen richtiger beurteilt werden, als von dem großen Feldherrn. Der Dichter benützt das Moment, um Wallensteins Vertrauen zu denen zu rechtfertigen, die ihn verrieten. ─ Um den Oktavio Piccolomini nicht zum kalten Jntriguanten zu machen, knüpft er sein Schicksal durch den Max mit dem Wallensteins zusammen &c. ─ Wie viel läßt sich an solcher Behandlungsweise lernen! 5. Ein großer Teil der modernen Dichter historischer Dramen schreibt nur dialogisierte, verstümmelte Geschichte, giebt epischen Stoff in dramatischer Form. An Lessing, Schiller und besonders an Shakespeare sollte man sich ein Vorbild nehmen! Des Letzteren Dichtungen: Julius Cäsar, Romeo und Julia, Richard III ., Coriolan sind im eminenten Sinne dramatisch und zeigen jene wunderbare Kraft, die manchem berühmten Werke unserer großen Dichter fehlt. § 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung. Jedes Drama muß bühnengerecht sein, d. h. seine Bedeutung und Berechtigung muß bei der Aufführung vom Publikum mit Anerkennung gefühlt werden, und die Schauspieler müssen im Stande sein, durch die Mittel ihrer Kunst das Eigenartige, Menschliche auch in wirksamer Weise zur Darstellung zu bringen. Ein Grieche würde die selbstverständliche Betonung der Forderung der Aufführbarkeit mindestens überflüssig gefunden haben. Aber da unsere deutschmoderne Litteratur (welche künstliche Lieder bildet, die niemand singen und Dramen, die niemand inscenieren kann) nicht mehr in solcher Beziehung zum Volke steht, wie dies bei der griechischen der Fall war, so ist wohl ein prüfender Blick auf die Aufführungsmöglichkeit der Dramen am Platze. Ein für die Aufführung geschriebenes Stück darf vor allem nicht zu lang sein. (Cristofero Colombo von Rückert, welches einen Umfang von 618 Druckseiten hat, ist in dieser Richtung zu verwerfen). Weiter darf ein Drama der Darstellung keine gegen Sitte und Anstandsgefühl verstoßenden Scenen zumuten. (Wir werden uns gerne von einem Manne berichten lassen, der ein Dutzend Angreifer vernichtet, aber wir werden uns gegen solche Balgerei vor unsern Augen sträuben, um nicht mit der Wahrheit der Handlung in Konflikt zu geraten. Wir werden ferner gegen gemeines Schimpfen und Raufen, wie es sich z. B. bei Gryphius im Horribilikribrifax findet, auf unserer Bühne ein Veto einlegen &c. Nackte Menschen, wie sie Rückert in Cristofero Colombo vorführt, werden wir nicht auf der Bühne sehen wollen. Das Schwimmen werden wir vielleicht in einem Zauberstück, sowie in der Ausstattungsoper gestatten, nimmermehr aber in einer Tragödie u. s. w. Jn dieser Beziehung leistet R. Wagner das äußerste dadurch, daß er seine Rheintöchter nicht bloß schwimmen, sondern auch dazu singen läßt). Endlich darf das Stück für seine Jnscenirung keine Ungeheuerlichkeiten und Unmöglichkeiten fordern. Auch muß es nur eine solche Jnscenierung vorschreiben, welche in bezug auf Dekorationswechsel und Umkleidung innerhalb der Zwischenakte möglich ist, ohne diese zu sehr auszudehnen &c. Um praktische Begriffe von Aufführbarkeit zu erhalten, muß sich der Dichter gründliche Bühnenkenntnis verschaffen. § 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung. 1. Für die Wirkung der Handlung hat man im Drama der Gegenwart dem dekorativen Momente und der scenischen Ausstattung weit mehr Rücksicht zu widmen, als dies früher bei der Einfachheit der griechischen oder der Shakespeareschen Bühne der Fall war. 2. Das Kostüm ist der bestimmten Zeit seiner Träger anzupassen. 1. Es wurde viel darüber gestritten, ob der wahren Kunst durch die Beachtung dekorativer Nebenumstände gedient sei, und einige haben geglaubt, der Aristotelischen Ansicht (daß das Theatralische nicht Sache der Poesie sei, vielmehr die Tragödie ihre Kraft auch schon ohne Bühnendarstellung und Schauspieler erproben könne, vgl. Kap. 6 seiner Poetik am Schluß) auch im Hinblick auf unsere Zeit beipflichten zu sollen. Da das Drama aber nicht bloß für's Ohr, sondern auch für's Auge ist, so möchten wir die scenischen Apparate unseres modernen Theaters namentlich in bezug auf Unterstützung der nötigen Jllusion nicht verkümmert wissen. Es ist nur zu billigen, daß den Jntentionen des Dichters durch treue Nachbildung der äußeren Räume (z. B. des Meers, der Wartburg im Tannhäuser, des Hohentwiel im Ekkehard u. A.) Ausdruck verliehen wird. Selbst bei Shakespeareschen Stücken fing man mit recht an, die Dekorationsmalerei und die Maschinerie zur höchsten Bedeutung zu entfalten. Shakespeare hatte s. Z. kaum mehr als eine graue und eine grüne Decke, mit deren Hülfe er Gebäude oder die grüne Natur auf seiner in bestimmte Felder für Haus, Straße, offenes Land u. s. w. eingeteilten Bühne vorstellte. Karl Jmmermann (vgl. Theaterbriefe von G. zu Putlitz) wagte zuerst den Versuch, angemessene, scenische Einrichtungen für Shakespearesche (und Calderonsche) Stücke zu erfinden; L. Tieck begann sodann im Sommernachtstraum Shakespeare für die moderne Bühne auszustatten. Jhnen folgte mit einer feenhaften Scene Fr. Haase in Leipzig, ferner Dingelstedt in Wien, F. Wehl in Stuttgart u. a. Otto Devrient inscenierte den Faust nach Art der Mysterien; berühmt sind die Jnscenierungen des Herzogs von Sachsen-Meiningen. 2. Weiter fordern wir, daß bei Aufführung des Drama auch im Kostüm das Besondere des Charakters ausgedrückt werde. Antiquarische Raritäten kann man nicht verlangen; aber die Tracht des Jahrhunderts und des bestimmten Volkes kann der Zuschauer fordern. § 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung. 1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist leichter, als die des klassischen. Dafür muß das ernste Studium der Poetik seine spezielle Aufgabe sein. 2. Weiter muß sich der moderne Schauspieler die höchste Bildung erwerben, um seine Rolle durchgeistigen zu können. 3. Diese Bildung muß ihn befähigen, der alten, natürlichen Kunstrichtung zu huldigen und allem Virtuosentum entgegenzutreten, dessen Unnatürlichkeiten und Künsteleien die Anteilnahme des Publikums ausschließen, sofern die Charaktere den wirklichen Menschen unähnlich erscheinen. 1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist keine geringe, wenn sie auch weniger anstrengend ist, als die seines antiken Kollegen. Der erste Schauspieler bei Sophokles hatte in etwa 10stündiger Darstellung circa 1600 Verse in der durch die Flöte dazwischen angegebenen Tonlage zu sprechen. Dabei waren die Anforderungen an dramatische Sprachweise nicht unbedeutend. Ein falscher Accent, ein Hiatus, ein falscher Artikulationston konnte eine Aufregung herbeiführen, die ihm den Sieg entriß. Unsre größte Rolle, Richard III ., hat etwa 1128 Verse (oder in Wirklichkeit 900, da mehr als 200 gestrichen sind). Dabei sind unsre jambischen Quinare kürzer, als die antiken Verse. Wir haben leichtere freiere Bewegung in den Stimm-Mitteln, ebenso in der Körperhaltung. Wie sehr mußte die Maske vor dem Gesicht dem antiken Schauspieler lästig werden, ebenso der Kothurn unter den Füßen! Dafür hat aber der moderne Schauspieler für Beachtung der ungemein schwierigen Accentuation, Artikulation und Modulation der Stimme, die Gesetze des freien Rhythmus zu studieren und zu üben. Von ihm verlangt man, was man vom antiken Schauspieler nicht forderte, daß seine Kunst die jambischen Verse nicht nach dem Versaccent, sondern nach dem eigenartigen Sinnaccent deklamiere u. a. m. 2. Der Schauspieler muß so viel Bildung besitzen, um am rechten Ort durch den Blick des Hasses, der Verachtung, der Furcht, des Entsetzens u. s. w. den Dichter zu unterstützen. Er muß seine Rolle zu durchgeistigen vermögen, d. h. er muß sich so in dieselbe hineindenken können, daß er schließlich aus seiner Empfindung herausspielt. Je gebildeter der einzelne Schauspieler ist, desto größer wird sich die Wirkung des Stückes zeigen. 3. Die Aufgabe des Schauspielers wird um so schwieriger sein, je mehr er sich bemüht, der sogenannten alten oder natürlichen Kunstrichtung zu huldigen und seine Rolle schlicht und menschlich einfach, prätentionslos zu spielen, je mehr er sich bewußt ist, allein im Verein mit Genossen das Gesamtbild der dramatischen Handlung zu verkörpern. Die neue Kunstschule bevorzugt leider nicht immer die schlicht=menschliche Seite, welche ihren darzustellenden Charakter allen übrigen Menschen ähnlich macht, sie erstrebt vielmehr etwas Apartes, in der Darstellung Virtuoses. Sie zeichnet wunderbare, mit Pointen und mimisch dialektischen Kunststücken ausgestattete Charaktere, wodurch sie nicht selten eine Rolle zur Kuriosität, zur Kunstleistung, zur Monstrosität erhebt. Der Künstler der virtuosen Richtung spielt wie Paganini auf der Geige seine Partie möglichst solo und das „Orchestergesindel“ der Mitspielenden, die doch Genossen sind, ist leider häufig genug verurteilt, zu Gunsten des Virtuosen sich in den Schatten zu stellen. Der Schauspieler sollte nie vergessen, daß für Erweckung von Mitleid, Furcht, Lachlust die Anteilnahme des Publikums nötig ist. Er sollte nicht wünschen, Jongleur oder Löwenbändiger zu sein. Sein Streben sollte bleiben, Mensch zu sein, so daß sich das Publikum in seine Lage versetzen, sich mit ihm identificieren kann. Dann erst wird es mit ihm leiden, fürchten, lachen. Jst es nicht genug, wenn der Schauspieler die ihm vom Dichter geschaffenen Charaktere belebt, sie zur menschlichen Existenz erhebt, muß er auch noch durch virtuose Künsteleien und Unnatürlichkeiten glänzen und Überraschung und eine dem Seiltänzer gezollte Bewunderung suchen? Die neue Schule hascht nach Bewunderung und findet Bewunderung. Aber ein jeder sagt sich: „Dieser Mann auf den Brettern ist dem Menschen unähnlich; so wie er, bist du nicht.“ Vor lauter Bewunderung geht sodann die ethische Wirkung des Drama, die Würde der Poesie und der Schauspielkunst verloren. Das Haschen nach Bewunderung verleitet den Darsteller, nicht nach der Gediegenheit des aufzuführenden Dramas zu sehen, sondern darnach, ob seine Rolle viele auf Erregung von Bewunderung auslaufende Effekt-Scenen habe! Die Effekthascher unter den Schauspielern würdigen das Publikum zum „Janhagel einer Reiterbude“ herab, anstatt durch Erregung aller menschlichen Affekte sittlich zu reinigen und auf Verschönerung des Lebens hinzuwirken. So verleiten sie auch den Schriftsteller, nur noch Bravourscenen zu schreiben. So tragen sie zum Verfall der Bühne bei, und das Publikum rächt sich durch „grobsinnliche Unersättlichkeit seiner gesunkenen Bildung“. Jn neuester Zeit sind es in Deutschland in hervorragender Weise die Meininger-Schauspieler, welche ihre Aufgabe begreifen und lösen, welche in Wiedergabe der klassischen Dichtungen in ihrer Totalität künstlerische Thaten liefern, die ihresgleichen in Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Kunst nicht haben. Jm harmonischen Zusammenwirken aller Künste ist es ein Kultus, den sie feiern, ein Triumph des wahrhaft Schönen. Die harmonische Zusammenwirkung ist hinreißend, erschütternd, erhebend. Wir betrachten diese Thaten edler und wahrer Kunst als den Beginn einer neuen Ära deutscher Schauspielkunst. § 43. Erfolg der dramatischen Dichtung. 1. Jst ein Drama in Hinsicht auf Erfindung wie auf innere und äußere Technik gelungen, und wird es gut aufgeführt, dann ist seine Wirkung eine bedeutende. 2. Das gute Drama hat die Aufgabe, die Bildung des Jahrhunderts zu heben. 1. „Hier sieht,“ wie schon A. W. Schlegel (Sämtl. Werke V 37) sagt, „der Fürst, der Staatsmann und Heerführer die großen Weltbegebenheiten der Vorzeit, denen ähnlich, in welchen er selbst mitwirken konnte, nach ihren innern Triebfedern und Beziehungen entfaltet; der Denker findet Anlaß zu den tiefsten Betrachtungen über die Natur und Bestimmung des Menschen; der Künstler folgt mit lauschendem Blick den vorüberfliehenden Gruppen, die er seiner Phantasie als Keime künftiger Gemälde einprägt; die empfängliche Jugend öffnet ihr Herz jedem erhebenden Gefühl; das Alter verjüngt sich durch Erinnerung; die Kindheit selbst sitzt mit ahndungsvoller Erwartung vor dem bunten Vorhange, der rauschend aufrollen soll, um noch unbekannte Wunderdinge zu enthüllen; alle finden Erholung und Aufheiterung und werden auf eine Zeitlang der Sorgen und des täglichen Drucks ihrer Lebensweise enthoben.“ 2. Jede Wirkung hinterläßt einen Eindruck, eine bleibende Spur. Die Summe dieser Spuren bedingt und hebt die ästhetische und moralische Durchschnittsbildung des Jahrhunderts. Daraus erwächst die Forderung, nur solche dramatische Dichtungen vorzuführen, welche für das Edelste und Erhabenste Begeisterung schaffen. Nicht darf eine dramatische Dichtung durch sinnlichen Glanz blenden, nicht Verbrechen als Tugend stempeln, nicht Verführung in anziehendem Gewande erscheinen lassen, nicht niedrige und gewöhnliche Ausbrüche der Leidenschaft und Gemeinheit ihren Personen in den Mund legen, nicht anstand- und schamverletzend (wie es in vielen französischen Machwerken, sogar in dem neuerdings beliebt gewordenen bessern Stück „Dora“ von Sardou geschieht; vgl. Ende des I . Aktes), die Handlung fortspinnen; vielmehr muß das Jdeale, Erhabene, Edle, Wahre und Schöne das Ziel der guten dramatischen Dichtung sein, das sie durch Entfaltung aller Mittel, durch Sinnestäuschungen (Jllusionen), durch Mimik, Deklamation, Malerei erreicht. So wird die Dramatik auch durch die Bühne nachhaltiger wirken, als das Leben selbst; so wird sie sogar diejenigen gewinnen, denen sonst alles Jdeale unverständlich ist; so wird sie einen Beitrag liefern zur Geistes- und Herzensbildung der Nation. V . Übergänge der Gattungen der Poesie. § 44. Einteilung der Übergangsformen. Nicht immer beschränken sich die einzelnen Dichtungen einseitig auf das lyrische, didaktische, epische und dramatische Element. Häufig gehen in einem und demselben Gedichte verschiedene dichterische Elemente in einander über, so daß man das Gedicht für lyrisch, oder für episch &c. halten könnte. Jn solchem Falle wählt man folgende zusammengesetzte Bezeichnungen und Einteilungen: I . Vorwiegen des lyrischen Elements. a . lyrisch=episch, b . lyrisch=didaktisch, c . lyrisch=dramatisch. II . Vorwiegen des didaktischen Elements. a . didaktisch=lyrisch, b . didaktisch=episch, c . didaktisch=dramatisch. III . Vorwiegen des epischen Elements. a . episch=lyrisch, b . episch=didaktisch, c . episch=dramatisch. IV . Vorwiegen des dramatischen Elements. a . dramatisch=lyrisch, b . dramatisch=didaktisch, c . dramatischepisch. § 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen. a . Lyrisch-episch. Lyrisch=episch ist eine Dichtung, deren Gefühlsausdruck mit Erzählung oder Beschreibung verbunden ist. Die Bezeichnung lyrisch=epischer Dichtungsarten verdienen daher vorzugsweise Balladen und Romanzen, sowie einzelne Legenden. An Balladen und Romanzen nenne ich als Beispiele: Bürgers Der brave Mann; Goethes Sänger, Fischer, Erlkönig; Schillers Bürgschaft, Handschuh, Taucher, Kraniche des Jbykus; Chamissos Riesenspielzeug; Uhlands Des Sängers Fluch; Mosens Andreas Hofer; Platens Das Grab im Busento; Heines Grenadiere; Freiligraths Löwenritt; Georg Schultzes Präriebrand; H. Bessers Choral von Leuthen. Als Beispiele lyrisch=epischer Legenden nenne ich Goethes Legende vom Hufeisen; Bürgers Schatzgräber; Kosegartens Amen der Steine; Rückerts Chidher; Julius Sturms Luther beim Tode seines Lenchens; Herders Der gerettete Jüngling. Von anderen lyrisch=epischen Dichtungen sind erwähnenswert: Alfred Meißners Ziska; Moritz Horns Die Pilgerfahrt der Rose, Die Lilie vom See, Magdala; Adolf Böttgers Haba ñ a; Otto Roquettes Hans Haidekuckuk; Fontanes Gedicht von der schönen Rosamunde; Eduard Schulzes Die Himmel; Rückerts Windstille; Lenaus Faust, Savonarola, Die Albingenser; G. Morins Stern und Rose; Ad. Strodtmanns Rohana; C. Ferd. Meyers 2. Abteil. seiner Gedichte; Wilh. Jensens Lieder aus dem Jahre 1870; A. Beckers Jung-Friedel; Rob. Hamerlings Venus im Exil; sowie Geibels lyrisch=epische Meisterstücke, (z. B. Mythus vom Dampf, Babel, Der Bildhauer des Hadrian, Der Tod des Tiberius) &c. b . Lyrisch-didaktische Dichtungen. Lyrisch=didaktisch sind alle jene Dichtungen, deren Gefühlsausdruck belehrende Tendenz gewinnt. Als vorzügliche Proben sind zu nennen: Schillers Lied von der Glocke; Rückerts Die hohle Weide &c. Rhetorisch=didaktisch sind die freireligiösen Gedichte von Leberecht Uhlich (Gera 1872), didaktisch=lyrisch (== philosophisch=lyrisch) ist Arnold Schlönbachs Dichtung Die Weltseele &c. c . Lyrisch-dramatische Dichtungen. So bezeichnet man jene Dichtungen, bei welchen das Gefühl in Gesprächsform zum Ausdruck gelangt. Als Proben nenne ich das bekannte Bienengesumme von Rückert, sowie besonders M. Blanckarts' ergreifendes „Mutter und Kind“. d . Episch-lyrische Dichtungen. Sie verbinden die lyrische Entwickelung innerer Gefühlszustände mit einem epischen Motiv. Diese Form bildete den Übergang von der Epik zur Lyrik und ist daher in den ältesten Denkmälern unserer Litteratur nachweislich. Man vgl. z. B. in Tiecks Minnelieder (Werke Bd. XX S. 79) Nr. 33. Dieses Gedicht Dietmars von Aist beginnt mit der Erzählung: Es stunde eine Fraue alleine Und wartete über Heide, Und wartete ihres Liebes, So ersah sie Falken fliegen. Daran fügt Dietmar einen Monolog der Frau, welcher ihre Gefühlszustände durch Vergleichung mit dem Falken darlegt und schließt: O weh, wie lassen sie mir nicht mein Lieb, Wohl begehrte ich doch ihres keines Trautes niemals nie. Episch=lyrisch ist Reinmar der Alte. Episch=lyrisch, an vielen Stellen rhetorisch=lyrisch, könnte man ferner Klopstocks Messiade nennen. Episch=lyrisch sind J. G. Fischers Bilder vom Bodensee u. a. e . Episch-didaktische Dichtungen. Episch=didaktisch ist ein Gedicht, wenn die Lehre in Form einer Erzählung gegeben wird. Beispiel: Der Fürst und der Landmann von Fr. Rückert. Ferner: Theophania von Fr. Beck (Gotha 1855) &c. Didaktisch=episch ist das Gedicht Die Gesundbrunnen von Valerius Wilh. Neubeck. f . Episch-dramatische Dichtungen. Bei ihnen ist Erzählung mit Gespräch verbunden. Beispiele: Rückerts Gottesmauer. Ferner Die Vergeltung von Blanckarts &c. g . Dramatisch-didaktische Dichtungen. Es sind dies diejenigen Gedichte, bei welchen das Belehrende in Gesprächsform geboten ist. Beispiel: Fr. Rückerts Gespräch mit Uhland, sowie Sallets Fragment aus einer Tragödie im antiken Stil u. s. w. § 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten. (Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.) 1. Bevor wir die einzelnen Dichtungsarten vorführen, ist eine mehr philosophische Betrachtung des Zusammenhangs und der historischen Entwickelung der einzelnen Dichtungsarten im Anschluß an das in § 10 und § 18 des 1. Bandes gegebene Material geboten. Wir gehen dabei davon aus, daß die Quelle der epischen Poesie die ursprünglich älteste: die Erinnerung ist, indem wir fragen: 2. Wie verhält es sich mit dem Abblühen der Epik? 3. Wie lösten sich nachweislich die einzelnen Gattungen der Poesie ab? Endlich 4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung bis in die Gegenwart war maßgebend? 1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen, daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis der Musen Mutter genannt worden. Die Muse ( μόντια == μοῦσα ) hat vom Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I . S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen, Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung, als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden Sänger ( ἀοιδοί ), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken &c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung. 2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger, deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind. 3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische, äolische und dorische Lyrik zu denken. Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier, dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt. Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches die einmal erlangte Herrschaft behielt. 4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab; sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h. aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist) die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Proven ç alen nach, und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern, was sich unter der Pflege der bevorzugteren Geister hätte national entfalten können. Die Nachahmung zeigt sich in der Nachbildung der Formen und in der Übertreibung derselben. Auch fehlte der nachgeahmten Dichtung die Fülle der Gefühlsäußerung. Bei den Franzosen und Proven ç alen mit ihrer mehr südlichen Glut war die Minneverehrung begreiflich, bei uns nahm sich diese nachgeahmte Minne-Verherrlichung, welcher der französische Humor fehlte, manieriert aus; daher hatte die höfische Lyrik nur kurze Blüte, kurzen Bestand. Die romantische Lyrik hemmte, erschwerte unsere nationale Lyrik. Der Minnesang, der ausschließlich von den höheren Ständen in Burgen und Palästen gepflegt wurde (man unterschied von diesen die das Volk mit Sagen und Geschichten unterhaltenden, fahrenden Poeten), verstummte gar bald mit seinen nicht selten schwärmerisch religiösen, die heilige Maria erhebenden Weisen. Die Liebhaber des deutschen Meistergesangs, die wenig vom Wesen der Poesie verstanden, und nur die äußere Form jener Lieder des Minnesangs, das Regelwerk (Tabulatur), festhielten, bereicherten die Litteratur mit Liedern ohne Schwung und Gehalt. Jn der Reformationszeit begann man das klassische Altertum zu pflegen. (Agrikola von Eisleben, Reuchlin aus Pforzheim, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon aus Bretten.) Das Kirchenlied erhielt durch Luther Übergewicht. Der 30jährige Krieg brachte eine Verwilderung oder Ertötung in Deutschland hervor, die jeden Aufschwung der dichterischen Phantasie für lange Zeit unmöglich machte. Nachahmungen des Ausländischen, fremdländische Wörter und Wendungen überwucherten die Litteratur. Die erste schlesische Dichterschule unter Opitz' Führung suchte vergebens der Litteratur aufzuhelfen. Die zweite unter Hoffmannswaldaus und Lohensteins Leitung (Bd. I . S. 51) verschmähte das Verständige der ersten und erstrebte das Gefühlvolle, ließ sich aber im Nichtverständnis der Korrektheit der Form nicht selten zu Schwulst, Geschmacklosigkeit und Schlüpfrigkeit hinreißen, bis endlich im 18. Jahrhundert der Nationalsinn in herrlichen Flammen emporschlug und unsere Litteratur zur neuen Blüte brachte. Der Schweizer Bodmer (mit Breitinger) trat siegreich gegen Gottsched auf, der die Franzosen als Muster der Poesie empfiehlt, und frischte das Andenken der altdeutschen Poesie auf durch Herausgabe der Minnesinger und der Nibelungen. Drei Männer sind es besonders, welche die deutsche Litteratur zum zweitenmal aufblühen machten und zwar schöner, als in der Zeit des Minnesangs. Es waren der auf klassischem Boden stehende Klopstock, der im „Messias“ ein deutsches Nationalwerk lieferte; ferner Lessing, der mit seiner Kritik die fremden Beimischungen bekämpfte; endlich Wieland, der die Glätte der deutschen Sprache darthat. Jhre Werke muß jeder Freund der Poesie gelesen haben. Die Dichter des Hainbundes, die Stürmer und Dränger unterstützen diese Bahnbrecher und helfen die Litteraturblüte herbeiführen. Der gefühlvolle Barde Klopstock ( I . S. 54) vereinigte Darstellung und Verschmelzung des Deutschen (das deutsche Element zeigen seine Bardiete), mit dem Christlichen (Messias), und dem Altklassischen (Hexameter und andere Maße &c.). Schillers Genius verdunkelte ihn, aber seine Einwirkung auf die Litteratur war doch gewaltig. Größer war die des besonnenen, kühlen, kritischen Lessing, der durch seine Leistungen, wie durch seine Kritik der Dichter wurde, an den sich die Satiriker und Dramatiker der Folgezeit anreihten. Wieland brachte durch seine fließende Sprache eine heilsame Bewegung hervor und wurde Vorbild und Vorläufer der Romantiker, der Ritterdichter und vieler Romanschriftsteller. Der Hainbund, der 1772 unter Boie gegründet wurde, wandte sich gegen Wieland und nahm Klopstock als Vorbild. Nun traten die Kraftgenie's der „Stürmer und Dränger“ auf, welche den Dichterparnaß gleichsam zu erstürmen suchten, und zu denen auch Herder, Goethe und Schiller in der Jugend gehörten; im reiferen Alter erreichten letztere das höchste Ziel: litterarische Allseitigkeit und Gefühlsinnigkeit. Obgleich Schiller und Goethe nunmehr die Poesie zur höchsten Stufe der Entfaltung brachten, so waren doch die nun auftretenden sog. Romantiker nicht zufrieden. Sie betrachteten die herrschende Poesie als eine Gelehrtenpoesie und sie verlangten größere Gefühlsinnigkeit, Volkstümlichkeit der Poesie. Sie nahmen ihren Stoff nicht aus dem klassischen Altertum, wohl aber aus dem romantischen Mittelalter, und lehnten sich an die ihnen näher verwandten englischen, italienischen und spanischen Dichter an (an Shakespeare, Tasso, Petrarka, Camo ë ns, Dante, Calderon &c.), zum Teil auch deren Formen nachahmend. So wurden sie die Vorläufer der modernen Poesie, und ihr Einfluß auf das gesamte litterarische und künstlerische Leben Deutschlands war nicht zu verkennen. An der Grenze der modernen Lyrik, welche reine Form mit nationalem Jnhalt anstrebt, steht die schwäbische Dichterschule: ein Uhland, Schwab, Kerner, Pfizer, Mörike. Der Schreck, welcher durch die Juli-Revolution die konservative Aristokratie aufrüttelte, wirkte auflösend, zurückdrängend auf die romantische Poesie, die mit ihrer Begeisterung für den Zauber des Mittelalters, mit ihrer nicht selten salbungsvollen religiösen Schwärmerei, an diese Aristokratie sich anlehnte. Das sogenannte junge Deutschland (junge Schriftsteller, die ein freies Litteratenleben zum Beruf wählten) segelte auf den hochgehenden Wellen des Zeitgeistes siegreich dahin, die Emancipation des Geistes auf das Banner schreibend. Jmmer mehr rang die Poesie nach Selbständigkeit. Schon in Chamissos und Eichendorffs Poesieen vernehmen wir die Totenklage der abscheidenden Romantik. Man begann im ganzen sich frei zu machen von den veralteten antiken Formen, und schloß sich der deutschen Anschauung und dem deutschen Zeitbedürfnisse an. Dies wurde die Signatur der neuesten Litteratur. Die modernen Dichter stehen zum Teil hinter den Klassikern zurück, aber sie haben unstreitig den richtigen Weg betreten, indem sie aus dem Volksgeist schöpfend dem wechselnden Leben der Zeit sich hingaben. Ein Hebbel, Strachwitz, Feuchtersleben, deren Wirksamkeit zum Teil noch vor 1848 fiel, ein Rückert, Freiligrath, Gutzkow, sie haben die Poesie aus der engen, idyllischen Dichterstube auf den lebendigen Markt der bewegten Welt verpflanzt. Ein Heine, Jordan, Scheffel, Hamerling, ja, ein Richard Wagner durchbrachen die hergebrachte Schulmetrik und drängten ─ nur den deutschen Rhythmus und Accent berücksichtigend ─ zum Deutschtum, aus dessen Gesundbrunnen auch die Nachromantiker (Dreves, Görres, Victor v. Strauß), die Vertreter der modernen Wald- und Blumenpoesie (Gustav zu Putlitz, Adolf Böttger, Moriz Horn, Corrodi, Karl Lehmann), die frommen und beschaulichen Lyriker (Knapp, Spitta, Julius Sturm, Gerok, J. Hammer, Schults, Alb. Träger, Heffemer), die Realisten in der Poesie (G. Freytag, Ludwig, Edm. Höfer, Scherenberg, Fontane, Sigismund, Anton Niendorf), unsere neuesten Dramatiker und Epiker (Otto Banck, Bodenstedt, Hamerling, Grosse, Heyse, Hans Hopfen, Gottfried Keller, H. Lingg, Albert Lindner, Scheffel, Roquette, Schneegans, Spielhagen, Ad. Stern, Theodor Storm, Max Waldau, Ad. Wilbrandt, Robert Prölß), und besonders auch unsere modernen Anakreontiker trinken (ein Geibel, Redwitz, Gottschall, Kinkel, W. Jensen, Grosse, Rittershaus, Claire von Glümer, Ludwig Bauer, P. Cornelius, Richard Pohl, Gotthelf Häbler, J. G. Fischer, Alb. Möser, Emil Kuh, Zeise, Al. Kaufmann, Amara George u. A.). So gewinnen wir eine nationale Litteratur und steuern zweifelsohne einer dritten Blüteperiode zu, die in Vereinigung alles geistigen Kapitals mit Genialität und Originalität den Ausdruck deutschen Empfindens, Denkens und Wollens sicher erreichen wird. § 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen. Die in den nachfolgenden Hauptstücken ausgeführte Einteilung und Darstellung entrollt die sämtlichen Dichtungsgattungen unserer Poesie. ─ Wir stellen denselben der Übersicht und Orientierung wegen eine schematische Übersichtstafel voraus, um sodann den einzelnen Formen in erschöpfender Weise nahe zu treten. I . Lyrische Poesie. I . Formen ruhiger Empfindung. Das Lied. Volkslied. Kunstlied und seine Formen. A . Weltliches Lied. 1. Vaterlandslied. 2. Naturlied. 3. Liebeslied. 4. Komisches Lied. 5. Geselliges Lied. 6. Elegisches Lied. 7. Jdyllisches Lied. B . Geistliches Lied. 1. Religiöses Lied. 2. Kirchenlied. a . Bußlied. b . Danklied. c . Trostlied. d . Gebetlied. e . Loblied. f . Glaubens= od. Bekenntnislied. C . Fremde Formen des Kunstliedes. ( NB . Abgehandelt Bd. I . § 164 ff.) 1. Sonett 2. Ritornelle 3. Sestine 4. Stanze 5. Sicilian 6. Kanzone 7. Vierzeile Proven ç alisch= italienische lyrische Formen. 8. Decime 9. Glosse 10. Tenzone 11. Kancion 12. Seguidilla Spanisch und Portugiesisch. 13. Madrigal 14. Akrostichon 15. Triolett 16. Rondeau Französisch. 17. Alexandrinerstrophen. Fz.=Dtsch. 18. Persische Vierzeile 19. Ghasel Orientalisch. II . Formen begeisterter Empfindung. 1. Ode. 2. Lyrische Rhapsodie. 3. Hymne. 4. Dithyrambe 5. Elegie. II . Didaktische Poesie. I . Symbolische Didaktik. 1. Fabel. 2. Parabel. Paramythie. 3. Sinnbild. 4. Allegorie. a . Allegorie. b . Rätsel. II . Didaktik mil besonderem Charakter. 1. Satire. 2. Travestie und Parodie. 3. Humoristische Dichtungen. III . Eigentliche Didaktik. 1. Jdeale Gedankenlyrik. 2. Kulturhistorisches Gedicht. 3. Epigramm. a . Sinngedicht. b . Gnome, Spruch. 4. Poetische Epistel. Heroide. 5. Kurze lyrisch=didaktische Formen. 6. Wirkliches Lehrgedicht. III . Epische Poesie. I . Aus dem Leben der Wirklichkeit. 1. Poetische Erzählung und Rhapsodie. 2. Makame. (Abgehandelt I . S. 589.) 3. Jdylle. 4. Beschreibendes Gedicht. II . Aus der Sagenwelt. 1. Sage. 2. Mythus. 3. Märchen. 4. Legende. 5. Romanze. 6. Ballade. 7. Epos. a . Volksepos. b . Kunstepos. III . Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildet. Prosaische Gattungen. a . Roman. b . Novelle. IV . Dramatische Poesie. I . Gedichte mit nur dramatische Form. 1. Monolog. 2. Dialog. 3. Dramatisierte Begebenheit. II . Eigentliche Dramen. 1. Dramatisches Gedicht. 2. Tragödie. 3. Schauspiel. 4. Komödie. a . Lustspiel. b . Posse. III . Musikalisch dramatische Formen. 1. Weltliche Formen. a . Große Oper (Oper. Singspiel). b . Komische Oper. c . Vaudeville. d . Jntermezzo. e . Melodrama. 2. Kirchliche Formen. a . Motette. b . Choral. c . Kantate. d . Passion. e . Messe. f . Oratorium. Zweites Hauptstück. Die lyrischen Dichtungen. ────── § 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen. Am leichtesten wird sich das Gebiet der Lyrik übersehen und rubricieren lassen, wenn wir den Jnhalt der Gedichte und die in denselben zu Tage tretende größere oder geringere Erregtheit des Gefühls zum Einteilungsgrund nehmen. Die lyrischen Gedichte drücken entweder religiöse oder klagende Gefühle aus oder Gefühle irgend eines poetischen Moments des Lebens. Sie äußern sich in Teilnahme, in Freude und Lust; sie tragen heiteren oder traurigen Charakter. Je nachdem die Gefühle in ruhiger Klärung oder in erregter, schwärmerischer Bewegung oder Begeisterung sich äußern, wird auch das lyrische Gedicht einen andern Charakter und in Folge davon einen andern Namen zu erhalten haben. Es läßt sich je nach dem Jnhalt des Gedichts und der Jntensität der Gefühlserregtheit folgendes Schema bilden: I . Der Jnhalt des lyrischen Gedichts, der äußere Anstoß, das Objekt stammt: 1. Aus dem Gefühlsleben: 2. Aus dem Leben der Geselligkeit: 3. Aus dem reflektierenden Gefühl (Reflexion): 4. Aus der Religion: II . Der Grad des Jmpulses auf das Gefühl ergiebt: I . Dichtungsarten ruhiger Empfindung. Gruppe des ruhigen Lieds. Volkslied. Kunstlied mit seinen Formen (s. § 61 d. B.), wozu die in den §§ 164 bis 185 des I . Bandes abgehandelten Formen ( II . S. 68) wie die nachstehenden Gattungen zu rechnen sind. Geselliges Lied. Elegisches Lied. Jdyllisches Lied. Geistliches Lied. (S. § 61 d. Bds.) II . Dichtungsarten höherer Erregtheit. Gruppe des begeistert erregten Lieds. a . Ode und b . Lyrische Rhapsodie. c . Kantate. (Abgehandelt im letzten Hauptstück d. Bds.) d . Dithyrambe. e . Elegie. Nänie. f . Hymnus. I . Formen ruhiger Empfindung. Das Lied und seine Formen. § 49. Begriff und Einteilung. 1. Jedes lyrische, ein sanftes Gefühl darstellende Gedicht, dessen eigentliche und ursprüngliche Bestimmung ist, gesungen zu werden, und das man als den lebendigen poetischen Ausdruck einer individuellen Stimmung des Gemüts betrachten kann, nennt man ein Lied. 2. Die erste Form des Liedes war das seit Herder sog. Volkslied. Wir teilen daher die Lieder ein: in Volkslieder und Kunstlieder . 1. Das Lied ist die wesentliche Form und die Blüte aller Lyrik; in ihm ist die Jndividualität und Subjektivität des Dichters am unvermitteltsten ausgeprägt. „ Daz liet “ war in seiner ursprünglichsten Form eine einzelne Gesangsstrophe. Zur Bezeichnung mehrerer Gesangsstrophen bediente man sich des Plurals „diu liet“ (nicht zu verwechseln mit lit == Glied). Vor allen andern Völkern haben die Deutschen den größten Reichtum an herrlichen Liedern aufzuweisen. Dies hat seinen Grund teilweise darin, daß der Deutsche die Weisen und Arten vieler fremder Völker abgelauscht hat. Die Franzosen kennen das eigentliche Lied nicht und haben dafür auch kein Wort, weshalb sie jetzt für diese Gattung das deutsche Wort „Lied“ aufgenommen haben. 2. Dem Volkslied stellt sich das Kunstlied gegenüber. Dieses nahm ursprünglich die Gestalt des Minneliedes an. Darauf folgte das Meistersängerlied. Luther pflegte das geistliche Lied, und Opitz gab uns das Lied mit gelehrtem Anstrich: das Sprachlied im Gegensatz zum Singlied. Durch Klopstock erhielt das Lied klassischen Charakter. Goethe war es, welcher das Lied auf die höchste Höhe hob. Die strophische Einteilung des Liedes hat bewirkt, daß man auch erzählende Gedichte (z. B. das Nibelungenlied und Hildebrandlied &c.) fälschlich als Lieder bezeichnet, was vielleicht noch dadurch veranlaßt wurde, daß diese Gedichte gesangsweise vorgetragen wurden, also die rhythmische Form des Liedes hatten. Auch Schillers Lied von der Glocke ist ein didaktisches Gedicht und kein Lied im eigentlichen Sinn u. s. w. Nach dem ruhigeren oder gesteigerten oder reflektierenden Gemütsausdruck ließe sich diese Einteilung auch in folgendes Schema fassen: A . Lyrik ruhiger Empfindung == Lied, geselliges Lied, geistliches Lied, und fremde Formen. B . Lyrik begeisterter Empfindung == Ode, lyrische Rhapsodie, Dithyrambe, Hymne. C . Lyrik der Reflexion == Elegisches Lied, Elegie. Die Einteilung der lyrischen Poesie ist bei den verschiedenen Litterarhistorikern je nach den Ausgangspunkten verschieden. Der Ästhetiker Vischer macht die Art und Weise, wie das Gemüt das dichterische Objekt in sein inneres Leben umsetzt, zum Einteilungsgrund und unterscheidet a . die Lyrik des Aufschwungs (das Hymnische, Dithyramb, Ode), b . die reine lyrische Mitte (das Liedartige), c . die Lyrik der Betrachtung (Elegie, orientalische Lyrik, romanische Formen, Sonett, Epigramm u. s. w.). Carri è re unterscheidet Lyrik der Empfindung und der Anschauung (auch des Verstandes). Rudolf Gottschall teilt in Lyrik der Empfindung, der Begeisterung und der Reflexion. W. Wackernagel geht vom historischen Verhältnis der Lyrik zur Epik aus und unterscheidet: a . lyrische Lyrik == Lyrik des Gefühls; b . epische Lyrik == Lyrik der Einbildungskraft; c . didaktische Lyrik == Lyrik des Verstandes. Wir wählen auch aus äußeren Gründen bei Vorführung der lyrischen Dichtungsarten die obige Einteilung in der Weise, daß wir zuerst die sämtlichen weltlichen und geistlichen Liedformen abhandeln, um sodann die Formen höherer Erregtheit zu bieten. Charakteristisch für unsere Unterscheidung ist, daß das Lied prädestiniert ist, gesungen zu werden, während Ode, Dithyrambus, Hymnus, Elegie mehr für die Recitation geschaffen zu sein scheinen. Letztere Gattungen sowie die in Band I § 164 ff. abgehandelten Formen sind Kriterien des künstlerisch gebildeten Lyrikers: sie sind die Lyrik gesteigerter dichterischer Bildung und Befähigung. Da die Kunstdichtung sich erst aus der Volksdichtung entwickelte, so lassen wir den Volksliedern die Kunstlieder folgen. Die verschiedenen Formen des Kunstliedes sind im § 61 aufgezählt. § 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen. Die Haupterfordernisse des zum Gesang bestimmten Liedes sind: 1. Einfachheit und Schönheit, 2. gesetzmäßige rhythmische Anordnung, 3. Sangbarkeit. 1. Die Einfachheit und Schönheit fordert Natürlichkeit und Wahrheit der Jdee sowie Wärme und Jnnigkeit der Gefühlsäußerung. Sie verlangt ferner ─ gleichviel ob das Lied heiteren oder ernsten Jnhalts ist ─ eine klare, leicht dahinfließende Sprache. Die schöne Jdee darf nur Mittel dazu sein, die gemäßigte Empfindung zum gemütbestrickenden sprachlichen Ausdruck zu bringen. Man soll es der ungezierten, ungekünstelten Sprache anmerken, daß sie unmittelbar vom Herzen komme, „wie der Quell aus verborgenen Tiefen“ u. s. w. 2. Da das Lied für den Gesang bestimmt ist, so unterscheidet man in seiner äußerlichen Form eine geregelte Einteilung in Verse und Strophen, die sich selbstverständlich in metrischer Hinsicht möglichst entsprechen müssen. Lieder der Freude sind nicht selten in jambischen oder trochäischen, wie auch in jambisch=anapästischen und trochäisch=daktylischen Maßen geschrieben, während traurige, sentimentale, Schwermut atmende Lieder meist im drei- und fünftaktigen Trochäus gedichtet sind. Außerordentlich viele Lieder sind in vierzeiligen Strophen geschrieben. Überachtzeilige Strophen sind seltener. Doch wirken auch mehrzeilige Lieder, wenn sie sangbar sind. (Vgl. Geibels Spielmannslied mit seinen 12zeiligen Strophen.) 3. Sangbar ist ein Gedicht, welches von den Wellen des Gefühls getragen, eine, der dichterischen Empfindung verwandte Stimmung hervorruft und in Sprache, Accent und Modulation so natürlich volkstümlich klingt, daß wir beim Vorlesen ohne weiteres eine eigenartige Melodie heraushören. Es tönt wie Gesang, es zwingt uns zum Gesang, sein Wesen ist Gesang. Das sangbar melodiöse Element des Lieds zeigt den bedeutenden Liederdichter. Von diesem Gesichtspunkt aus sollte jeder Dichter auch der Komponist seiner Lieder sein. Jn der Regel sind leider unsere Dichter unfähig, ihre Lieder in Musik zu setzen, wie ja auch die meisten Musiker keine Dichter sind. Mindestens sollte sich jeder Komponist in den Geist des Gedichtes versetzen, um dessen ernsten, freudigen oder wehmütigen Charakter zum Ausdruck bringen zu können. Leider singt man oft eine ganze Reihe Lieder ohne gleiche Grundstimmung nach ein und derselben Melodie. Tüchtige Komponisten, die in den einzelnen Strophen eine Steigerung des Gefühls oder Abweichungen vom Grundgefühle wahrnehmen, komponieren das Lied „durch“, d. h. sie komponieren sämtliche Strophen bis zum Ende nach Maßgabe des Jnhalts. Volkslied. „Es muß etwas in diesen simplen Liedern stecken, das ihnen Stärke giebt, dem Zahn der Zeit zu trotzen.“ Elwert. § 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes. 1. Volkslieder nennt man im allgemeinen jene in der Zahl beschränkten, einfachen, gang- und sangbaren lyrischen oder lyrisch epischen, der Naturpoesie entstammten Dichtungen in schlichter Form und in kindlich naivem Ton, die ursprünglich das gemeinsame Eigentum des gesamten Volkes in seiner Durchschnittsbildung und in seinem einfachen Naturzustande waren. 2. Es giebt edle und gewöhnliche Volkslieder. Die edlen Volkslieder sind der Ausdruck wahrer Schönheit und ächter Poesie. 3. Die Volkslieder galten als gemeinsame Schöpfung des Volks insofern, als das ganze Volk sie sang, sie veränderte, ergänzte, redigierte. Der Einzelne sang sie nur als Glied des Volks zum unmittelbaren Ausdruck dessen, was das ganze Volk bewegte. Sie erhielten sich durch Jahrhunderte im Volk, ohne daß man ihre Verfasser kannte. 4. Einzelne Volkslieder veränderten sich im Lauf der Jahrhunderte durch Zufall oder Absicht. 1. Man könnte die Volkslieder musikalische Gelegenheitsgedichte von naiver Einfachheit und Natürlichkeit zur Bezeichnung der durchschnittlichen Volksempfindung nennen, Lieder, welche die musikalischen Mittel der Sprache (Reim, Lautmalerei &c.) zur Anwendung bringen, deren Melodieen daher einfach und ohne künstlerischen Schmuck sind. Schon der Dithmarsche Chronist Neokorus (Ausg. von Dahlmann) rühmte die Einfachheit und Wirkung ihrer Komposition. („Und iß to verwundern, dat so ein Volk, so in Scholen nicht ertagen, so vele schone leffliche Melodien jedem Gesange nah Erforderinge der Wort und Geschichte geven konnen, up dat ein jedes sine rechte Art und ehme gebörende Wise, entwederst mit ernster Graviteteschheit oder frohdiger Lustigkeit hedde.“ Besonders die Naturwahrheit der Volkslieder ergreift das Herz eines jeden. Sie sind in ihrer unvermittelte Übergänge liebenden Ausführung gewissermaßen Produkte eines sogenannten „kecken Wurfs“ ihrer Dichter. Herder (Ausgew. Werke 1844, S. 305) sagt: „Nichts in der Welt hat mehr Sprünge und kühne Würfe als Lieder des Volks, und eben diejenigen Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht, ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung und Feuer singen und zu singen nicht ablassen können.“ Grimms Ausspruch: „Die Volksdichtung ist unbekümmert um den Zusammenhang abgebrochen und fällt doch nie heraus“, ist eben so erwähnenswert. Als kecken Wurf könnte man bezeichnen, was als das Charakteristische an jedem Volksliede aller Nationen anzusehen ist. „Alles darin ist voll Lücken und Sprünge, alles knapp und wie zum Nachhelfen und zum Ausfüllen auffordernd, eine Reihe von Eindrücken für die Einbildungskraft, die der Nachhilfe des Verstandes nicht bedürfen, der schönste innere Zusammenhang ohne genaue logische Verknüpfung.“ (Gervinus, Gesch. der poet. Nat.=Lit. Bd. II . 5. Aufl. 1871, S. 492.) Das Volkslied ist der ungekünstelte Ausdruck des ächten Naturgefühls, und dieses ist bei allen Menschen das gleiche. Für Niemand ist das Volkslied gedichtet und wird doch von allen gesungen; niemand soll es hören, und doch paßt es für alle, doch ergreift es alle. Es ist allüberall heimisch. Vom Wanderburschen, wie von der Stallmagd, in der Spinnstube, wie auf der Alm, auf der Straße, wie in der Schenke wird es gesungen. Es wird niemals alt oder alltäglich; für alle Jahrhunderte wahrt es sich fortdauernde Schönheit und jugendliche Frische, eine an den erquickenden Erdgeruch des Waldes erinnernde Naturanziehung, einen unwiderstehlichen, das Herz umstrickenden Zauber. Was es besingt, das besingt es aus dem Charakter der Zeit heraus. Sein Jnhalt, der durch Stoffe des allgemeinen Volksinteresses und der Volksempfindung dargestellt wird, z. B. eine bedeutende Schlacht (Prinz Eugen) oder eine unerhörte Handlung (Bernauerin) oder ein besonderes Geschick (Pfarrerstochter von Taubenheim) war einmal allbekannt. Der Jnhalt ist eben das wirklich Erlebte und Erfahrene mit den daraus resultierenden Gefühlen und Stimmungen. Jm Volksliede sind „alle Farben des Lebens ausgeteilt: Scherz, Lust, Mut, Üppigkeit, treue Liebe, Trauer und höchstes Leiden, und in der Tiefe ruhen die Geheimnisse eines schönen Glaubens, der die ganze Natur belebt und erhöht.“ (W. C. Grimm.) Treffend sagt der Prospekt zu Scherers Volksliedern: „Jm deutschen Volksliede sprudelt ein unversiegbarer Quell echtester Poesie. „Dergleichen Gedichte,“ sagt Goethe, „sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend für's Alter hat.“ Es ist die Schönheit der Unschuld, die „nicht sich selbst und ihren heil'gen Wert erkennt“. Waldfrische ist der Charakter dieser Lieder, sie erquicken und erfreuen uns wie ein duftiger Strauß von Wald- und Feldblumen: es ist der Duft der Jnnigkeit, des lauteren, braven, ehrlichen, grundguten Herzens, der uns entgegenkommt. Es zittert, es schwebt um die Klänge dieser Lieder ich weiß nicht welche besondere Art von Rührung, es ist so etwas darin, daß man sagen möchte: arme gute Seele! Doch daneben scherzt und jauchzt auch wieder Lustigkeit, Mutwillen, frohes derbes Lebensgefühl; in dunkeln, schrecklichen Balladen zückt Haß und Zorn das Messer, dann hebt sich die geängstete, schuldige, reuige Seele auf sanftem Flügel der Andacht zum Himmel. Diese Kraftwelt, das Stramme, Sichere, was bei der rührenden Güte nicht fehlt, der hohe Ernst stimmt uns wieder frei und zuversichtlich. ─ Das Volkslied ist eine ergiebige Fundgrube für die Kulturgeschichte unseres Volkes; zugleich aber ist es durch die Frische seiner Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für die Kunst einer ausgetrockneten Bildung. ─ „Kein Moment der Einwirkung des Volksliedes auf die Kunstdichtung war so bedeutend, als der, da Percy's Sammlung in England, stärker und früher noch entscheidend in Deutschland zündete, die Göttinger Schule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde, Bürger die erste wahre Ballade dichtete, Herder die „Stimmen der Völker“ sammelte und Goethes Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu trinken. Und wo wären Uhland, Wilhelm Müller, Eichendorff und die ganze Gruppe der Lyriker, in welchen die romantische Schule ihre gesundesten Sprossen trieb, wo wäre Heine geblieben, wenn sie nicht alle aus diesem frischen Felsquell getrunken hätten?“ ─ Das Volkslied ist selbst der Jungbrunnen, von dem es singt: „Und wer des Brünnleins trinket, Der jungt und wird nit alt.“ 2. Das edle Volkslied ist von edler, idealer Gesinnung getragen und sinkt nie zum Gassenhauer- oder Drehorgellied herab, welch letzteres nur der Ausdruck der Stimmung des Pöbels ist, also eine Art niederen, rohen, gemeinen Volksliedes, dessen Jnhalt gemeine Stoffe, Schauerscenen, Räuber- und Mordthaten bilden. Das edle Volkslied lehrt ohne Absicht und Gelehrsamkeit; es kennt keine philosophischen Systeme, keine Formen und Regeln. Aber trotz seiner Nachlässigkeit im Strophenbau und im Reim &c. ist es der unmittelbare Ausdruck des lebendigen Sprachgeistes und der poetischen Kraft der Nation, und es ist daher schön und allmächtig in seiner Wirkung, ohne es zu beabsichtigen, ohne es zu wissen. Jm edlen Volkslied hat bereits das Gemüt seinen harmonischen Gleichmut erlangt und Jrrtum und Schmerz besiegt. Es basiert auf einer Anschauung und Grundstimmung, an der auch die Hochgebildeten Anteil nehmen können, in welcher reich und arm, alt und jung, hoch und nieder Gütergemeinschaft zu machen im stande sind. Dies ist selbst da der Fall, wo der Stoff in seiner gesunden Urwüchsigkeit den Quell des Volkshumors zum Übersprudeln bringt durch Geißelung der Unzuträglichkeiten und Einseitigkeiten des Lebens, oder wo Schuster, Schneider, Handwerker, Bauern, oder Schwaben, Bayern, Pinzgauer &c. sich necken und höhnen. Das edle Volkslied ist der Ausdruck des treuen, treuherzigen, ehrlichen, offenen deutschen Gemüts, für das die fremden Sprachen ebensowenig ein Wort haben, wie für das Wort „Lied“. Durch seinen lyrischen, liedartigen Grundcharakter ist es, wie unsere Romanzen und Balladen, zum Gesang prädestiniert. Es zeichnet sich durch Naturfrische und Freudigkeit aus, die sich besonders in den Jägerliedern und Jägerballaden offenbart, und die selbst trotz ihrer Derbheit und Sinnlichkeit kerngesund ist und trotz ihres naturwüchsigen Realismus den idealen Keim nicht verleugnet. Es ist selbst, wo es die Form des höfischen Minnelieds trägt, nie weichlich, oder süßlich, oder sentimental. „Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen? Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte! Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Notdrang an's Herz, schwere Accente oder schwere Pfeile für die offne, wahrheittrunkene Seele.“ (Herder Ausg. 1844, S. 311.) 3. Oft haben die Volkslieder nicht einen Verfasser, sondern mehrere: Und der uns diesen Reihen sang, So wohl gesungen hat, Das haben gethan zwei Hauer Zu Freiburg in der Stadt. (Jungbrunnen. Simrock 262.) „Wer hat denn dies Lied erdacht? Drei Goldschmiedejungen, Die haben's gesungen Zur guten Nacht.“ Man vgl. auch das im dreißigjährigen Krieg vielgesungene „Schloß in Österreich“, das im Schwedischen fast gleichlautet und so schließt: Wer ist, der uns dies Liedlein sang? So frei ist es gesungen; Das haben gethan drei Jungfräulein Zu Wien in Österreiche. (Vilmar Handbüchlein &c. 1868. S. 101.) Jn munterer harmloser Gesellschaft unter der Dorflinde fing einer an, einen Vers zu sagen, der andere machte einen neuen, der dritte reimte hinzu, und auch der vierte half nach. Man sang die Strophe nach einer bekannten Melodie, oder die lauschenden Mädchen und Bursche machten auch wohl eine neue, wie es paßte. Auf der Straße wurde die Strophe wiederholt u. s. w. Gefiel das Lied, so blieb es im Gedächtnisse und wurde Volkslied. Selten erfährt man mehr vom Verfasser, als daß er Landsknecht, Reitersmann, Jäger, fahrender Schüler, freier Knab, Jungfrau, oder gut Geselle ist z. B. a . „Der uns diesen Reihen sang, Ein freier Landsknecht ist er genannt.“ (Die Türken vor Wien.) b . Das Liedlein ist in Eil gemacht, Einem jungen Landsknecht wohlgeacht Zu freundlichem Gefallen; Von Einem, der wünscht Glück und Heil Den frommen Landsknechten allen.“ („Es geht ein Butzemann &c.“ Kriegslied gegen Karl V .) c . Der uns dies Liedlein neu gesang, So wohl gesungen hat, Das hat gethan ein gut Gesell An einem Abend spat. (Uhlands Volkslieder Nr. 49. Vgl. noch Nr. 60. 61. 144. 198. 288 &c.) Es giebt mehrere Volkslieder, welche Ort und Zeit ihres Entstehens, sowie auch den Namen ihrer Dichter auf der Stirne tragen. So ist z. B. von den späteren gesungenen volkstümlichen Liedern ausnahmsweise der Dichter des einen oder des anderen bekannt geworden. Jch erwähne beispielshalber: „Ännchen von Tharau“ (Simon Dach † 1659), „Sohn, da hast du meinen Speer“ (Stolberg), „Wenn jemand eine Reise thut“ und „War einst ein Riese Goliath“ (Claudius), „Heute scheid ich, heute wandr' ich“ (Maler Müller), „Gott erhalte Franz den Kaiser“ (Seidl, geb. 1804 zu Wien), „Es ist bestimmt in Gottes Rat“ (v. Feuchtersleben † 1849), „Jch komme vom Gebirge her“ (Schmidt von Lübeck † 1849), „Nun ruhen alle Wälder“ (Paul Gerhardt † 1676), „Schier dreißig Jahre bist du alt“ (Carl E. v. Holtei † 1880), „Ach, wenn du wärst mein eigen“ (Hahn-Hahn), „Steh ich in finstrer Mitternacht“ (Wilh. Hauff † 1827), „Heil Dir im Siegerkranz“ (eine durch Schumacher 1793 vorgenommene Umbildung des Harriesschen „Lied für den dänischen Unterthan,“ das am 27. Januar 1790 zuerst im Flensburger Wochenblatt erschien) u. s. w. Einige Volkslieder weisen schon in ihrer Ausdrucksweise und geschlossenen Bildung auf den Urheber hin; bei dem aus dem Gemeingefühl des Volkes entsprossenen Volkslied hat freilich die Zeit wie die Gemeinsamkeit ein Anrecht auf dasselbe. Die Verbreitung und fast traditionelle Fortpflanzung schliff sodann das Eigentümliche, Jndividuelle nach der allgemeinen Volkssinnesart zu. „Gewöhnlich“, so sagt Heinrich Heine anmutend, „sind die Verfasser des Volksliedes wanderndes Volk, Vagabunden, Soldaten, fahrende Schüler oder Handwerksburschen, und letztere ganz besonders. Gar oft auf meinen Fußreisen verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen angeregt von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die auf den Baumzweigen saßen. Und kam nachher ein anderer Bursch mit Ränzel und Wanderstab vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein in's Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig. Die Worte fallen solchen Burschen vom Himmel herab auf die Lippen, und er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer, als all die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln.“ K. Bormann meint in gebundener Rede: Einst war in deutschen Landen das Volk so reich an Sang, Daß dir auf Weg und Stegen sein Lied entgegenklang. Jm Liede hat's gebetet, im Liede hat's geweint, Beim Mahle, wie bei Gräbern zum Sange sich vereint. Der Bauer hinterm Pfluge, der Hirt im Wiesenthal, Die Mägde bei dem Rocken, sie sangen allzumal; Und wo die Kinder spielten, da lenkt' ein Lied die Lust, Und wo die Bursche zogen, da klang's aus voller Brust. Wer sie erfand die Weisen, ward keinem je bekannt, Sie wuchsen wie die Blumen und gingen von Hand zu Hand. 4. Manches noch lebende Volkslied kann durch eine Reihe von Textrezensionen und =redaktionen mehr als drei Jahrhunderte zurückverfolgt werden (vgl. z. B. Vilmars Handbüchlein &c. 1868. S. 116), wodurch der Nachweis ermöglicht wird, wie der Text mit der Zeit sich leise und allmählich verändert hat. Durch Absicht, durch Vergessen einzelner Strophen, durch mangelhafte Überlieferung &c. erhielten so manche Volkslieder ihre Veränderungen oder Entstellungen. Anders wurde das gleiche Lied an der See gesungen, als im Gebirg, anders in der Stadt, als im Wald, anders im 18. Jahrhundert, als im 16ten. Und doch war es im Grunde genommen das nemliche. Manche Liedersammlungen gaben nur die ersten Gesätze, so daß die übrigen oder einzelne derselben vergessen wurden, wodurch sich die Annahme begründete, daß das Abgerissene, Lückenhafte, naiv Unsinnige ein Kriterium des echten Volksliedes sei. Jn mancher Gegend hat daher ein Volkslied fünfzehn Strophen, während es in der andern durch obigen Umstand und das redigierende Volk nur drei oder fünf behielt u. s. w. (Als Beispiel kühner Redaktion des Volkes selbst in der Gegenwart vgl. das Beisp. von Scheffel § 65 d. Bds.) § 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage und poetisch-schöpferischer Volkskraft. Wenn auch bei allen Völkern Spuren von volksmäßigen Dichtungen sich finden, so sprudelt doch bei keiner Nation ein so reicher Quell von Volkspoesie, so gewähren die Volkslieder nirgends einen so tiefen Einblick in's Geistes- und Gemütsleben, als bei uns Deutschen. Man könnte daher urteilen: Die Fülle und Tiefe unseres deutschen Volksliedes beweist die dichterische Beanlagung und Begabung unseres Volkes, den Gehalt seines Gemüts- und Gefühlslebens. Dies zeige ein historischer Überblick. Das deutsche Volkslied wurde vom Volke gesungen neben und vor den Kunstliedern, welche in der Mitte des 12. bis Anfang des 14. Jahrhunderts dem Ritterstand entsprossen sind und an den Höfen wie auf den Ritterburgen geübt wurden. Die jugendliche Frische und der poetische Glanz der ersten Minnelieder, die unmittelbar aus der Volksweise hervorgingen, lassen ahnen, wie das kräftige Volkslied doch wohl schon vor dem 12. Jahrhundert geblüht haben muß. Man kann das deutsche geschichtliche Volkslied zweifelsohne als die letzte Umgestaltung des epischen Nationalgesangs betrachten, als die letzte Zuckung der alten Epen. Die Verbreitung des Volksliedes zeigt, daß es eben so bedeutend in seiner Wirkung auf die großen Kreise des ungebildeten Volkes war, als der höfische Kunst- und Minnegesang, ja, daß es durch Vermittlung oder Benutzung der Heldenstoffe und Heldengedichte, sowie der vaterländischen und örtlich=heimischen Sagen noch viel populärer gewesen sein muß. Die gelehrte und gelehrt thuende Kunstpoesie trat im 12. Jahrhundert mit der volksmäßigen Poesie in schroffen Gegensatz, noch mehr die spätere handwerksmeisterliche Formen-Dichtung. Die ächte Volkspoesie flüchtete sich daher in die Kreise des gemeinen Volks, der fahrenden Schüler und Gesellen, der Jäger, Landsknechte und Hirten. Auf diese Weise blieb ihr Jnhalt einfach und natürlich=schlicht. Als die das Volkslied verdrängende, gelehrt=kunstmäßige Dichtungsweise im Meistersang zu erstarren begann, grünte und blühte ─ gleich dem immer mehr erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstandes ─ das mit ihm verwachsene Volkslied im 14. Jahrhundert in erneuter Pracht, um im 15. Jahrhundert zur Herrschaft zu gelangen. Die deutschen Heldensagen, deren Grundlage ja Volkslieder waren, lebten in volksmäßiger Form neu auf. Die bürgerlichen Volkslieder der Spielleute und fahrenden Sänger, welche noch nicht in schulgemäßem Zunft-Zwang abgeschlossen waren, und sich jener leichteren freien Form bedienten, welche nur den Sinnton (die Hebungen mit beliebigen Senkungen) respektiert, sangen noch hervorragende, volksbewegende Begebenheiten, oder Ereignisse, so daß sie gewissermaßen das Volksgewissen repräsentierten. Die Märchenstimmung, die im Volke heimisch war, kam ihnen entgegen und die Wanderburschen, die fahrenden Schüler und Landsknechte leisteten durch Weiterverbreitung in alle Teile der Windrose wichtige Dienste. Die Landsknechte hatten ihre Landsknechtslieder, der Landmann sang Graslieder, der Jäger Jägerlieder, der Bergknappe Bergliedlein; Abends zogen Jünglinge und Jungfrauen in den Dörfern vereint „gassatim“ d. h. durch die Gassen und sangen Gassellieder oder „Gassenhawer“. Bei frohen Gelegenheiten sang man Gesellschaftslieder. Meist waren es episch=lyrische (historische) Volkslieder, die im 14., 15. und 16. Jahrhundert dem Volke entsprossen und vom Volk gesungen wurden. Die höfische Poesie der gesangliebenden Hohenstaufen besang keine Heldenthaten, sondern sang von Minne; der große Sieg Karl's V . über Franz I . von Frankreich bei Pavia (25. Febr. 1525) konnte anstatt eines politischen Volksliedes nur ein Trutzlied gegen den Kaiser hervorrufen. Der große Sieg Österreichs über den Erbfeind bei Belgrad, war etwas Gemeinsames, weshalb das Volkslied: „Prinz Eugen, der edle Ritter“ eine nie erlebte Verbreitung fand. Wie das nationale Epos, behandelt dieses Lied Ereignisse, welche das ganze Volk bewegten und ergriffen. Dies war überhaupt beim historischen Volkslied der Fall, das immer von einem Dichter ausging, „der dabei war“ und es miterlebte und dann mit dichterischer Fähigkeit es verstand, seinen Stoff zu gestalten, poetisch zu verklären, ihn zu idealisieren, und ihm den Charakter des mythischen Sagenstoffes zu verleihen. Das historische Volkslied „von der schönen Bernauerin“ trägt ganz das Gepräge einer historischen Ballade an sich. Das zeitlich und räumlich Auseinanderliegende ist hier wie in der Ballade eng zusammengerückt. (Man beachte z. B. daß die Ertränkung der Bernauerin sich 1435 ereignete, Herzog Ernst aber erst 1438 starb, trotzdem aber das Lied singt: Es stand kaum an den dritten Tag, Dem Herzog kam eine traurige Klag: Sein Herr Vater ist gestorben. Also 3 Jahre wurden zu 3 Tagen zusammengedrängt. Ähnlich ist es auch bei den übrigen historischen Volksliedern.) Jmmer gewaltiger verbreitete sich das Volkslied seit Erfindung der Buchdruckerkunst und wurde ein nicht zu unterschätzender Kulturfaktor. Liederbücher, denen meist die Melodieen beigedruckt waren, wurden allenthalben verbreitet. Diese Verbreitung währte sodann bis in's 17. Jahrhundert. Der dreißigjährige Krieg, der alle Spuren nationalen Lebens vernichtete, schädigte auch den Volksgesang empfindlich. Dazu kamen die Bestrebungen der schlesischen Dichterschule (Opitz, Weckherlin), welche durch gelehrte Buchdichtungen mit antiker Skansion dem Volkslied den größten Eintrag thaten, ohne es indes ─ Dank dem poetischen Sinn und unverbildeten Geschmack unseres Volkes ─ ganz erdrücken und verdrängen zu können. Namentlich in abgeschlossenen Gegenden hat sich das echte Volkslied erhalten. Bereits im 15. und 16. Jahrhundert begann man, die Volkslieder aufzuzeichnen auf Blätter und Bogen, auch in Liederbüchlein, ─ zu Straßburg, Basel, Augsburg, Nürnberg gedruckt. Aus solchen Drucken und Handschriften ging Uhlands Sammlung hervor. Als man anfing, fabrikmäßig Zimmermanns=, Maurer=, Schmiede=, Schneider=, Gerber- und Leineweberlieder zu dichten, trat ein nüchternes, reflexives Moment in die Volkspoesie, das gar sehr der Prosa Vorschub leistete, wenn es auch die Volkspoesie nicht ertöten konnte. So ging es bis in die Neuzeit, in welcher das dramatisch hastende, gelderwerbende Fabrikleben und die ruhelosen Lokomotiven und Dampfmaschinen die ruhige Beschaulichkeit des Gemütslebens und die idyllische, volkspoetische Stimmung illusorisch machen und das volksliedverbreitende Wanderleben mit den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen möchten. „Nur das Einmaleins soll gelten, Hebel, Walze, Rad und Hammer! Alles andre, öder Plunder, Flackre in der Feuerkammer.“ (Weber, Dreizehnlinden.) Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl: „welches tritt an Thränen Stelle, Und reifen wird im Blut die Welt,“ ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche verlacht wird: „denn Armut ist ja Sklaverei“. (Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier. Übersetzt von Strodtmann.) Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─ § 53. Das Volkslied als Naturpoesie. 1. Das Volkslied ist Naturpoesie, das volkstümliche Lied Kunstpoesie. 2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter läßt sich zum Volk herab. 1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie. Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden ─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen ─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium, ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─ wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in ihrer Weise benutzt. Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben, bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit, die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie entzückend, wie die freien Berge mit ihren Felsen, Rissen, Schluchten, Wäldern und Seen. Diese urwüchsige Schönheit ─, sowie auch ihr Ursprung ─ ist ein wesentliches Unterscheidungs-Moment des Volksliedes von dem regelvollen Kunstliede. Das Volkslied wächst aus dem gesamten Volksgewissen und Volksgemüt heraus. Der Dichter, welcher es gesungen hat, war nur das Organ dieses Volksgeistes, der Ausdruck der die Nation bewegenden Volksstimmung; er wollte sich nie in seiner Vorzugsstellung präsentieren; er wollte nur das ausdrücken, was sein Volk bewegte. Daher ist das Volkslied arm geblieben in sprachlichen Formen und Wendungen und Metaphern, daher kam es ihm auch nicht auf Originalität an. Werkgr. Volkslied 2. Der Volksdichter setzt keine besondere Bildung bei seinem Publikum voraus. Er ist daher auch dem Ungebildeten verständlich. Der Kunstdichter muß sich herabstimmen, er muß sich der Bildung des Volks accommodieren. Dies vermag nicht jeder. Daher haben es nur wenige Kunstdichter verstanden, den Volkston zu treffen; doch haben mehrere derselben Kunstlieder geschaffen, die mit einfachedlem kräftigem Ausdruck und poetischem Gedanken nicht einer besonderen Kulturstufe, wohl aber dem ganzen Volksleben entsprechen, die nicht Standespoesie, sondern volkstümliche Poesie sind, die den Geist des Volks und seine Bedürfnisse ausdrücken und die unsere Nation durchwogende Stimmung wiederspiegeln, die also, wenn sie auch keine Volkslieder waren, doch (wie es zuerst Hoffmann von Fallersleben that) volkstümlich genannt zu werden verdienen. § 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds. 1. Das Volkslied meidet die Abstraktion. Es verlangt anschauliche naive Ausdrucksweise. 2. Alle Volkslieder sehen sich ähnlich. Die geheimnisvolle Eigenart ihres Baues besteht im Gebrauch gleicher Phrasen, Anklänge, Wendungen, Vorschläge, Elisionen. Eigenartig ist: A . Die Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen im gleichen Volksliede. B . Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen in verschiedenen Volksliedern. C . Umbildungen und Nachbildungen beliebt gewordener Volkslieder. D . Anklang des gleichen Gedankens in veränderter Form. E . Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c. 1. Das Charakteristische des Volksliedes erkennt man erst, wenn man sich in dasselbe hineingelebt hat. Jst dies der Fall, so wird man sich hüten, alles, was ein Teil des Volkes singt, ohne weiteres als Volkslied zu bezeichnen. So ist ─ um nur eines zu erwähnen ─ das Lied „Freut Euch des Lebens“ von Usteri trotz seines so volksmäßigen Refrains, trotz seines so herzlichen, einfachen Tones, wegen der Absichtlichkeit seiner moralischen Beziehungen kein Volkslied im eigentlichsten Sinn. Das Volk liebt keine Abstraktionen, in welchen ─ wie hier ─ von einer Genügsamkeit gesprochen wird, die bald zum Bäumchen aufschießt, das goldene Früchte trägt u. s. w. 2. Eine Eigenart des geheimnisvollen Baues und der rätselhaften Beliebtheit des Volksliedes sind seine Anklänge an lieb gewordene Phrasen, seine Ausdrücke und Wendungen, seine Wiederholungen, Umbildungen, Anklänge, Vorschläge, Elisionen &c. Wir beweisen dies durch Beispiele aus allen Volksliedern: A . Volksmäßige Wiederholungen einzelner Satzteile und Formen in ein und demselben Volksliede. 1. Wiederholung einzelner Wörter. a . Es ging ein Knab' spazieren , spazieren wohl in den Wald. b . O du Deutschland, ich muß marschieren, O du Deutschland, ich muß fort. (Zum Ausmarsch.) c . Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag. (Erlkönigs Tochter.) 2. Wiederholung der Frage in der Antwort oder ganzer Strophenteile. a . Weinst du um deines Vaters Gut, oder bin ich dir nicht gut genug? Jch wein' nicht um meines Vaters Gut. (Ulrich u. Annchen.) b . Meine Mutter heißt Frau Ute, eine gewalt'ge Herzogin, Und Hildebrand der Alte, der liebste Vater mein. Heißt deine Mutter Frau Ute, ein' gewalt'ge Herzogin, Bin ich Hildebrand der Alte, der liebste Vater dein. (Volkslied vom Hildebrand.) B . Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Satzteile und Satzformen in verschiedenen Volksliedern verschiedener Dichter oder Zeiten. 1. Die Frageform wiederholt sich: a . Was fand sie in dem Grabe stan? Einen Engel wolgetan. (Magdalenenlied.) b . Was zog er aus seiner Tasche? Ein Messer, so scharf und so spitz. (Heimkehr.) c . Was zog er ab vom Finger? Ein rotes Goldringelein. (Falsche Liebe.) d . Was begegnet dir auf der Heiden? Ein stolzer Degen jung. Was begegnet dir in der Marke? Der junge Hildebrand. (Hildebrandlied.) e . Was zog sie aus ihrem Schürzelein? Ein Hemd, so weiß wie Schnee. (Treue.) f . Was zog er von dem Finger sein? Ein'n Ring von rotem Golde sein. (Die Linde im Thale.) g . Eine Anzahl von Volksliedern beginnt: Was wollen wir aber heben an; Was wollen wir singen und heben an; Was wollen wir aber singen &c. (Vgl. Uhlands Volksl. S. 283. 287. 356. 361. 376. 412. 431. 549. 557. 645 &c.) 2. Eine bestimmte Form wiederholt sich, ähnlich dem stereotypen Märchen-Anfang: „ Es war einmal. “ a . Es ist ein Schnitter, heißt der Tod. (Schnitterlied.) b . Es blies ein Jäger wohl in sein Horn. (Die schwarzbraune Hexe.) c . Es ist ein Ros' entsprungen. (Winterrose.) d . Es steht eine Lind' in jenem Thal. (Nachtigall.) e . Es sangen drei Engel einen süßen Gesang. (Die arme Seele.) f . Es sah ein Knab' ein Röslein stehn &c. (Röschen auf der Heide.) g . Es war einmal ein feiner Knab'. (Der treue Knab.) h . Es war einmal eine Müllerin. (Die stolze Müllerin.) 3. Die Anredeform wiederholt sich: a . O Mutter, liebe Mutter mein, o Tochter, liebe Tochter mein. b . O Reitknecht, lieber Reitknecht mein ─. c . Ach Mutter, liebe Mutter, ach Tochter, liebe Tochter. d . Ach Mutter, sagte sie, Mutter, ach Tochter, sagte sie, Tochter. (Ähnlich Der Goldschmied. Simrock 60.) e . Ach Mutter, liebste Mutter mein. (Macht der Thränen. Ähnlich Der freche Knab. Simrock 113. Ebenso in Der Erbgraf. Simrock 33.) f . Ach Sünder, ach Sünder, was hast du für Not. (Die untreue Braut.) g . Ach Fischer, lieber Fischer &c. h . Ach Mutter, ach Mutter, es hungert mich! &c. (Volkslied aus Sachsen.) i . Ach Eslein, liebstes Eslein mein. (Uhlands Volksl. Nr. 46 u. 45.) k . Frau Luddelei, Frau Luddelei! und warum spinnt Jhr nicht? (Ebd. Nr. 293.) 4. Ganze Teile beliebter Volkslieder werden wiederholt oder nachgebildet: a . Es reiten drei Reiter zu München hinaus, Sie reiten wohl vor der Bernauerin Haus: Bernauerin bist du drinnen? (Lied von der Bernauerin.) b . Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, Sie ritten dem Muschelbecken vor sein eigen Haus: Muschelbeck, bist du drinnen? (Lied vom Muschelbeck.) c . Frau Malerin, sind sie drinnen? (Lied vom Reiter, der die Liebste aufgiebt.) d . Es ritten drei Reiter wohl über den Rhein, Bei einer Frau Wirtin, da kehrten sie ein! Frau Wirtin, hat sie so viel Gewalt, Daß sie drei Reiter über Nacht behalt? (Der Wirtin Töchterlein.) e . Kuchlebu, Schifflebu fuhren über den Rhein, Bei einem Markgrafen da kehrten sie ein. (Der grobe Bruder. Simrock 43.) f . Es wohnt ein Markgraf über Rhein, Der hatte drei stolze Töchterlein. (Des Markgrafen Töchterlein. Simrock 48.) g . Es waren drei Soldatensöhn, Sie haben Lust in Krieg zu gehn, Wohl in's Soldatenleben. Frau Wirtin sprang entgegen: Frau Wirtin hat sie die Gewalt, Ein'n Reiter über Nacht uns zu behalten, Dazu und auch gastieren? (Die Mordwirtin.) h . Es flohen drei Sterne wohl über den Rhein, Es hatt' eine Wittwe drei Töchterlein. (Zucht bringt Frucht.) i . Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, Ade! Fein's Liebchen schaute zum Fenster hinaus, Ade! (Drei Reiter am Thor.) k . Nun wollen wir aber heben an von dem Tannhäuser &c. (Tannhäuser.) l . Nun wollen wir's aber heben an von einem Schreiber &c. (Der Schreiber im Korb.) m . Aber so woll'n wir's heben an. (Ein Thüringer Lied aus Spangenbergs Mansfeldscher Chronik. Vgl. hierzu Uhlands V.=L. S. 155. 538. 761.) C . Umbildungen, Nachbildungen der Form, Veränderungen, Varianten, welche von späteren Sängern herrühren, von der Gebirgsgegend, oder der Ebene, in der das Volkslied gesungen wurde &c. Das Lied: „Wenn ich ein Vöglein wär, Und auch zwei Flüglein hätt', Flög' ich zu dir. (Vgl. Herder, Stimmen der Völker &c.) tönt im thüringischen Volkslied wieder: Blau ist ein Blümelein, Heißet Vergißnichtmein. (Vgl. Simrock 234.) indem dessen dritte Strophe beginnt: Wär' ich ein Vögelein, Wollt' ich bald bei dir sein. Ein Wiederklang dieses Liedes ist das Volkslied: Wenn ich ein Waldvögelein wär', Wollt' ich fliegen über Meer, Schönster Tausendschatz, zu dir &c. (Mitgeteilt von Meinert.) welches ähnlich schließt, wie das vorige beginnt, nämlich: Unten in dem Gärtelein Wächst ein schönes Blümelein, Blümelein Vergißnichtmein &c. Das Wiegenlied: „Schlaf, Kindlein schlaf, Dein Vater hüt't die Schaf.“ ist imitiert aus Des Knaben Wunderhorn ( III . 36:) Spinn, Mägdlein spinn, So wachsen dir die Sinn u. s. w. D . Gleichheit des Gedankens mit veränderter Ausdrucksform. a . Wenn gleich der Himmel papier'n wär, Und jedes Sternlein ein Schreiberl wär, Und schriebe ein jedes mit sieben Händ', So schrieben sie meiner Liebe kein End. (Lied aus dem Kuhländchen.) b . Wenn all' das Weltmeer Dinte wär', Der Himmel all' Papier, Wollt' ich beschreiben meinen Schmerz, Nicht Genüge thät' es mir. (Reise nach Albanien von Holhouse.) c . All' der Himmel, wenn's ein Blatt Papier wär, All' der Wald, wenn's Rohrfedern wär'n, All' das Meer, wenn's schwarze Dinte wäre, Und wenn ich daran drei Jahre schriebe, Nicht aufschreiben könnt' ich meine Schmerzen. (Serbisches Volkslied.) Die deutsche Volksballade „Königskinder“, welche der griechischen Sage „Hero und Leander“ verwandt ist, findet sich in Varianten in der Schweiz, in Schweden, Dänemark und Holland. Sie beginnt z. B.: Jm Deutschen: Es waren zwei Edel Königskinder, Die hatten einander so lieb. Jm Schwedischen: Zwei edle Königskinder fein, Die schwuren sich Lieb' und Treu'. Jm Verlauf der Ballade heißt es u. A.: Jm Deutschen: „Ach Liebster, kannst du schwimmen, So schwimm doch herüber zu mir! Drei Kerzen will ich anzünden, Die sollen auch leuchten dir!“ Das hört ein loses Nönnchen, Das thät als wenn es schlief, Es thät die Kerzen ausblasen, Der Jüngling ertrank so tief. Ach Tochter, herzliebste Tochter, Allein sollst du nicht gehn. Jm Schwedischen: Es rauschen wilde Fluten ─ Zwischen uns beiden allfort! Jch zünd ein Licht in der Leuchte, Jn jener Lilie dort. Arglistiger du, Schmach über dich, Seist du in Ewigkeit verdammt! Der das Licht auslöscht in der Leuchte, Das in der Lilie brannt. „Jch sah ein edles Königskind, Versinken in blauen Wellen.“ Der Schluß lautet: Deutsch: Da hörte man Glöcklein läuten, Da hörte man Jammer und Not. Hier liegen zwei Königskinder, Die sind alle beide tot. Schwedisch: „Und grüßt mir Vater und Mutter, Sie sollen verwinden ihren Harm. Jch sink hinab ins Wellengrab Und hab' meinen Liebsten im Arm.“ Eine ähnliche, inhaltliche Verwandtschaft zeigt z. B. die Ballade „Lenore“ von Bürger mit der schottischen Ballade „Wilhelms Geist“, sowie auch mit einer holländischen, durch Gebr. Grimm in Haus- und Kindermärchen mitgeteilten Sage. (Teil III . S. 75.) Das Lied, welches Bürger (nach Althofs „Leben Bürgers“, Göttingen 1798, S. 37) ursprünglich im Mondenschein von einem Bauernmädchen singen hört, und das auch im norwegischen, sowie im englischen Volkslied wiederklingt (vgl. Mohnike, Volkslieder der Schweden S. 160), findet sich ganz mitgeteilt in „des Knaben Wunderhorn“. Vgl. Schillers Kindesmörderin mit dem herrlichen Volkslied aus dem 17. Jahrh. „Joseph, lieber Joseph, was hast du gemacht“ u. a. E . Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c. Charakteristisch und von großer Wirkung ist noch der bei Volksliedern sich wiederholende Vorschlag, sowie die fast regelmäßig angewandte Elision. Herder, welcher Vorschlag wie Elision auch in englischen Stücken fand und zuerst darauf aufmerksam machte, wie viel die Minstrels darauf gehalten, sagt (Ausg. 1844, S. 306): Der (Vorschlag) ist nun noch im Deutschen, wie im Englischen in den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de Knabe), 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a , und was man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort bekömmt auf solche Weise weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit. ‘Knabe sprach, ‘Röslein sprach, u. s. w. (Vgl. Goethes Heidenröslein u. s. w.) § 55. Einteilungsversuch der Volkslieder. 1. Die Wissenschaft verteilt diese Volkslieder je nach den Lebenskreisen, Stoffen, nach Jnhalt und Stimmung &c. in viele Gruppen und Unterabteilungen. 2. Einfacher ist die auf S. 91 von uns vorgeschlagene und beibehaltene Einteilung in ernste, in heitere und in historische Volkslieder. 1. Als wissenschaftlich und sachlich erschöpfende Einteilung der Volkslieder, wie jener durch ihre Volksmelodie zu Volksliedern gewordenen volkstümlichen Kunstlieder könnte vorgeschlagen werden: A . Hymnenartige Volkslieder, Heimwehlieder, Vaterlandslieder und Heldenlieder. a . Hymnen. Beispiele: Herr Gott, dich loben wir. (Der Ambros. Lobgesang. Deutsch von Luther.) Ein feste Burg ist unser Gott. (Luther.) b . Heimwehlieder. Beispiele: Herz, mein Herz, warum so traurig. (Des Schweizers Heimweh.) Wohlauf! noch getrunken. (Justinus Kerner.) c . Vaterlandslieder. Beispiele: Was ist des Deutschen Vaterland. (Arndt.) Schleswig-Holstein, meerumschlungen. (H. Straß.) d . Königslieder. Beispiele: Gott erhalte Franz, den Kaiser. (Österr. Volkslied.) Heil Dir im Siegerkranz. (Heinr. Harries.) e . Freiheitslieder. Beispiele: Der Gott, der Eisen wachsen ließ. (Arndt.) Freiheit, die ich meine. (Schenkendorf.) f . Völkerklagen. Beispiele: Was zieht ihr die Stirne finster und kraus? (Körner.) An rost'ger Kette liegt das Boot. (Freiligraths Jrland.) g . Nationale Heldenlieder. Beispiele: Prinz Eugenius. (Histor. Volksl. v. Soltau, Nr. 85, desgl. Simrock 494.) Was blasen die Trompeten? Soldaten heraus! (Arndts Blücherlied.) h . Manneswert. Beispiele: Der Mensch hat nichts so eigen. (Dachs Mannestreue.) Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. (Körner.) i . Soldaten- und Kriegslieder. Beispiele: O Straßburg, o Straßburg! du wunderschöne Stadt. (Simrock 477.) Gott grüß' Euch, Alter! ─ schmeckt das Pfeifchen? (Pfeffel.) k . Reiterlieder. Beispiele: Wohl auf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd! (Schiller.) Morgenrot! Morgenrot! leuchtest mir zu frühem Tod. (Kretzschmers Volksl. I . Nr. 196 S. 346.) l . Jägerlieder. Beispiele: Es blies ein Jäger wohl in sein Horn. (Uhlands Volksl. Nr. 103.) Mit dem Pfeil, dem Bogen. (Schiller.) B . Liebeslieder. a . Sehnsuchtslieder. Beispiele: Du, du liegst mir im Herzen. (Reinhold, Liederbuch S. 260.) Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt. (S. Dach.) b . Liebesgrüße. Beispiele: Guter Mond, du gehst so stille. (Walter, Volksl. Nr. 18.) Chimmt a Vogerl geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß. (Liederbuch für deutsche Künstler S. 250.) c . Ständchen. Beispiele: O gieb, vom weichen Pfühle. (Goethe.) O stille dies Verlangen. (Geibel.) d . Liebesglück. Beispiele: Mein Schatz ist a Reiter, a Reiter muß' sein. (Liederbuch für deutsche Künstler S. 246.) Uf'm Bergli bin i gesässe. (Goethe, Schweizerlied.) e . Liebesringen. Beispiele: Es sah ein Knab' ein Röslein stehn. (Herders Stimmen der Völker.) Und die Würzburger Glöckli hab'n schönes Geläut. (Liederbuch für deutsche Künstler S. 249.) f . Abschiedslieder. Beispiele: Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, ade! (Wunderhorn I . 253.) Wenn zwei von 'ander scheiden. (Österr. Volksl.; mitgeteilt von Tschischka und Schottky.) g . Liebeskummer. Beispiele: Geh ich zum Brünnelein, trink aber nicht. (Wunderhorn I . 190.) O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter. (Altdeutsches Lied, bei Zarnack II . 51.) C . Balladen und Romanzen. a . Heldenlieder. Beispiele: Der alte Barbarossa. (Rückert.) Als Kaiser Rotbart lobesam. (Uhland.) b . Legenden. Beispiele: Der Sultan hatt' ein Töchterlein. (Wunderhorn I . 15.) Vom Toggenburg Graf Heinrich kam. (Usteri.) c . Elfensagen. Beispiele: Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser &c. (Uhlands Volksl. Nr. 297.) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? (Goethe.) d . Geistersagen. Beispiele: Lenore fuhr um's Morgenrot. (Bürger.) Zu Hannchens Thür da kam ein Geist. (Aus Ursinis schottischen Balladen S. 95.) e . Liebessagen. Beispiele: Es sollt' eine Jungfrau früh aufstehn. (Wolffs altholländ. Volksl. S. 28.) Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein. (Uhland.) f . Schwänke und Spottlieder. Beispiele: Jch bin der Doktor Eisenbart. (Menzel, Ges. d. V. S. 577.) Es waren einmal die Schneider. (Wunderhorn II . 376.) D . Freuden- und Trauerlieder. a . Jahreszeitenlieder. Beispiele: Herzlich thut mich erfreuen die fröhlich Sommerzeit. (Uhlands Volksl. Nr. 57.) Wie schön blüht uns der Maie. (Ebenda Nr. 58.) b . Haus- und Arbeitslieder. Beispiele: Schlaf, Kindlein, schlaf! der Vater hüt't die Schaf. (Aus des Knaben Wunderhorn.) Spinn, Mägdlein, spinn! so wachsen dir die Sinn. (Ebenda III . 36 u. 40.) c . Trinklieder. Beispiele: In dulci jubilo . (Altes deutsches Studentenlied.) Ça Ça geschmauset. (Studentenlied.) d . Gesellige Lieder. Beispiele: Der Landesvater. (Alles schweige! Jeder neige.) Es kann ja nicht immer so bleiben. (Kotzebue.) e . Totenlieder. Beispiele: Jn die Schlacht da zog der Sohn. (Volkslieder der Polen 1833. S. 46.) Auf dem großen Teich schwimmen weiße Schwäne. (Ebenda S. 51.) 2. Wir empfehlen für die vorstehende, komplizierte Einteilung die nachfolgende, einfachere Rubrizierung: a . rein ernste Volkslieder, die von Liebe, Trennung, Wiedersehen, vom Wandern und der Natur handeln, b . heitere, von Wein, Geselligkeit und Spott übersprudelnde, c . historische. Beispiele des Volksliedes. a . Ernste Volkslieder. Die Macht der Thränen. Es kam von einer Neustadt her, Eine Witwe sehr betrübet; Es war gestorben ihr liebes Kind, Das sie von Herzen geliebet. Sie ging einmal in's Feld hinaus, Jhre Traurigkeit zu lindern; Da kam das liebe Jesulein Mit so viel weißen Kindern. Mit weißen Kleidern angetan, Mit Himmelsglanz verkläret, Mit einer schönen Ehrenkron War'n diese Kinder gezieret. Und als die Mutter ihr Kind erblickt, Schnell thät sie zu ihm laufen. „Was machst du hier, mein liebes Kind, Daß du nicht bist beim Haufen?“ „Ach Mutter, liebste Mutter mein, Der Freud' muß ich entbehren; Hier hab' ich einen großen Krug, Muß sammeln Eure Zähren.“ „Habt Jhr zu weinen aufgehört, Vergessen Eure Schmerzen, So find' ich Ruh' in dieser Erd', Das freute mich von Herzen.“ Ein schlichtes, schmuckloses, im Rhythmus ungekünsteltes Volkslied ohne Reim, bei dem die ergreifenden Worte: „verdorben, gestorben“ gewissermaßen die unausgesprochene Moral des Ganzen sind, ist das folgende: Weder Glück noch Stern. (Simrock 94.) Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, Wohl über die schönen Blaublümelein, Sie sind verwelket, verdörret. Es hatt' ein Knab' ein Mädchen lieb, Sie liefen heimlich von Hause fort, Es wußt's nicht Vater noch Mutter. Sie liefen weit in's fremde Land, Sie hatten weder Glück noch Stern, Sie sind verdorben, gestorben &c. Das in der beliebten, volksmäßigen Dialogform gehaltene Volkslied vom Mädchen und der Hasel s. § 2 S. 3 d. Bds. Lyrisch=episch ist „Erlkönigs Tochter“ aus Herders „Stimmen der Völker in Liedern“, das irrtümlich meistens in sechszeiligen Strophen mitgeteilt wird. Erlkönigs Tochter. Herr Oluf reitet spät und weit, Zu bieten auf seine Hochzeitleut'; Da tanzen die Elfen auf grünem Land, Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand. „Willkommen, Herr Oluf, was eilst von hier? Tritt hier in den Reihen und tanz' mit mir.“ Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag. „Hör' an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, Zwei güldne Sporen schenk' ich dir. „Ein Hemd von Seide so weiß und fein, Meine Mutter bleicht's mit Mondenschein.“ Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag. „Hör' an! Herr Oluf, tritt tanzen mit mir; Einen Haufen Goldes schenk' ich dir.“ Einen Haufen Goldes nähm' ich wohl; Doch tanzen ich nicht darf noch soll. „Und willt, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir: Soll Seuch' und Krankheit folgen dir.“ Sie thät einen Schlag ihm auf sein Herz, Noch nimmer fühlt' er solchen Schmerz. Sie hob ihn bleichend auf sein Pferd, „Reit' heim nun zu dein'm Fräulein wert.“ Und als er kam vor Hauses Thür, Seine Mutter zitternd stand dafür. „Hör' an, mein Sohn, sag' an mir gleich, Wie ist dein' Farbe blaß und bleich?“ Und sollt' sie nicht sein blaß und bleich, Jch traf in Erlenkönigs Reich. „Hör an, mein Sohn, so lieb und traut, Was soll ich nun sagen deiner Braut?“ Sagt ihr, ich sei im Wald zur Stund, Zu proben da mein Pferd und Hund. Frühmorgen und als es Tag kaum war, Da kam die Braut mit der Hochzeitschar. Sie schenkten Meth, sie schenkten Wein, „Wo ist Herr Oluf, der Bräut'gam mein?“ „Herr Oluf, er ritt in Wald zur Stund, Er probt allda sein Pferd und Hund.“ Die Braut hob auf den Scharlach rot, Da lag Herr Oluf, und er war tot! Die drei Soldaten. Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt Zu Straßburg wohl über den Rhein. Sie wurden wohl alle geführet, Keine Trommel ward dabei gerühret Bis in Straßburg hinein. Was begegnet ihnen auf der Brücke? Ein schwarzbraun Mädelein; Schwarzbraun Mädelein, jung von Jahren, Willst du unser junges Leben sparen, So thu eine Bitte für uns. Das Mädchen wandte sich um und um, Mit Weinen ging sie davon, Sie ging wohl seufzend und weinend Zu Straßburg wohl über die Steine Bis zu des Kommedanten Haus. Kommedant, herzliebster Kommedante mein! Gott grüß Sie tausendmal! Woll'n Sie meiner Ehr' gedenken, Den drei'n Soldaten das Leben schenken, So geb'n Sie mir den jüngsten zu der Trau. Ach nein, ach nein, das kann ja nicht sein, Das kann und darf ja nicht sein, Die Soldaten, die müssen sterben, Den Himmel müssen sie ererben, Dazu die ew'ge Seligkeit. Das Mädelein wandte sich um und um, Mit Weinen ging sie davon, Sie ging wohl seufzend und weinend Zu Straßburg über die Steine, Bis vor des Vaters Haus. Was zog sie aus ihrem Kasten? Ein schneeweiß Hemdelein. Sieh da! Du Hübscher, du Feiner, Du herzallerliebster Meiner, Hierinnen leid'st du deinen Tod. Was zog er von seinem Finger? Ein goldnes Ringelein. Sieh da! Du Hübsche, du Feine, Du herzallerliebste Meine, Hier hast du die Treue von mir. Was soll ich mit dem Ringelein thun? Jch bin ein junges Blut. ─ Den leg' in deinen Kasten, Laß ihn liegen, laß ihn ruhen, laß ihn rasten Bis an den jüngsten Tag. Und wenn ich dann vor Kisten und Kasten komm Und schau das Ringelein an, Das Herze möchte mir ja brechen, Jn's Herze möcht' ich mich ja stechen, O weh! mein Schatz ist tot! (Vgl. Schenkel II . 577.) b . Heitere Volkslieder. Als Probe für das heitere Volkslied erinnern wir an das vielgesungene Pinzgauerlied, ferner an die Studentenlieder: In dulci jubilo , und Ça ça geschmauset; endlich an das allbekannte: 's ist mir Alles Eins, 's ist mir Alles Eins, Ob ich Geld hab' oder keins.“ Hieher sind auch zu rechnen die zu Volksliedern gewordenen bekannten Gedichte: Vanitas von Goethe, und Das Fläschlein von Langbein (Jch und mein Fläschlein sind immer beisammen), Die Bitte Noahs von Kopisch (Als Noah aus dem Kasten war), und Ein lustiger Musikante von Geibel. c . Historische Volkslieder. Als Probe für diese Gattung erinnere ich an die Volkslieder: Prinz Eugenius, der edle Ritter (Hist. Volksl. v. Soltau Nr. 85). Friederikus Rex, unser König und Herr (Wilibald Alexis). Bertrands Abschied (Leb wohl, du teures Land, das mich geboren). Die nächtliche Heerschau (Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein Grab, von Zedlitz). Andreas Hofer (Schenkendorf). Das Blücherlied (Was blasen die Trompeten? &c. von Arndt. Vgl. I . S. 604). § 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des Volkslieds. Um einen Überblick über den zwar eigenartigen, aber dennoch einheitlichen Ton des Volksliedes zu gewinnen, dürfte es sich empfehlen, einzelne Volkslieder der verschiedensten Bezirke mit einander zu vergleichen. Wir können selbstverständlich an dieser Stelle nur eine Anregung hierzu geben, indem wir lediglich einige für die Vergleichung geeignete, leicht zugängliche oder allbekannte Volkslieder auswählen: 1. Es reiten drei Reiter zu München hinaus (Von der schönen Bernauerin. Simrock 492. Schenkel II . 568). 2. Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser. (S. 90 d. Bds.) 3. Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt zu Straßburg. (S. 93 d. Bds.) 4. Jnnsbruck, ich muß dich lassen (Abschiedsklage. Simrock 264). 5. Es steht ein Baum in Österreich (Die hohe Blume. Simrock 39). 6. Die Kindesmörderin (Simrock 85. Vgl. dasselbe argäuisch ebenda 87). 7. Schwabenstreiche (Simrock 116), sowie Schwäbische Tafelrunde (ebenda 536). 8. Zu Frankfurt an der Brücke (Simrock 135). 9. Ein Jäger aus Kurpfalz (Simrock 402). 10. O Straßburg, o Straßburg (Simrock 477). 11. Zu Koblenz auf der Brücken (Wassersnot. Schenkel II . 649). 12. Es steht ein Baum im Odenwald (Schenkel II . 645) u. s. w. § 57. Das geistliche Volkslied. 1. Das geistliche Volkslied entstand erst lange nach dem weltlichen. Die Reformation schuf es. 2. Seine Wirkung war eine gewaltige. 3. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß man mehrfach die Form beliebter weltlicher Volkslieder benützte, um geistlichen Jnhalt in dieselbe zu gießen. 1. Durch Luthers Vorgang erhielt der Volksgesang bald seine ideale Spitze im geistlichen Volks- oder Kirchenlied. Gewaltig wirkte auf die Massen das protestantische Trutzlied „Ein' feste Burg ist unser Gott“, oder: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ u. s. w. Die christliche Begeisterung schuf aus dem Volke heraus christliche Volkslieder, die alt und jung, gelehrt und ungelehrt sang, wie das weltliche Volkslied. (Wir begegnen diesen zum Volkslied gewordenen Liedern wieder beim Kirchenlied.) 2. Mächtig war die Einwirkung dieser christlichen Volkslieder auf den deutschen, gewohnten Volksgesang. Zur Körperlichkeit und Fülle desselben kam die Verinnerlichung des christlichen Gefühls, die ergreifend wirkte. Thränen vergoß Luther, als ein Bettler das Lied des Paul Speratus sang: „Es ist das Heil uns kommen her“ und Luther erfuhr, daß dasselbe von der Ostsee bis Wittenberg gesungen wurde. 3. Man suchte Kapital aus dem Volkslied dadurch zu schlagen, daß man dasselbe zum Kirchenlied verwendete; einzelne beliebte Volkslieder (wie: In dulci jubilo ) formte man ganz um; andere veränderte man parodistisch z. B. „Jnnsbruck, ich muß dich lassen,“ (Simrock 264.) in: „O Welt, ich muß dich lassen.“ Oder: „Herzlich thut mich erfreuen die fröhlich Sommerzeit“ in: „Herzlich thut mich verlangen &c.“ Oder: Den liebsten Buhlen, den ich han, der ist mit Reifen bunden &c. (vgl. Wunderhorn II . 425. Simrock 507. Uhlands Volksl. Nr. 214 A und B ) im 15. Jahrhundert in: Den liebsten Herren, den ich han, der ist mit Lieb gebunden &c. (Vgl. Wackernagels Kirchenlied Bd. II Nr. 835 sowie ebenda Nr. 836, endlich die Umdichtung in eine fünfzeilige Strophe Nr. 837 u. s. w.) § 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes. Schöpfung, Verfall, Wiedererwachen, neue Blüte des Volksliedes hielt stets mit unseren nationalen Schicksalen gleichen Schritt. Die Mehrzahl der heute noch bevorzugten Volkslieder verdanken wir dem aufgeweckten, mutigen, lebensfrischen Geiste unseres Volkes a . im Zeitalter der Reformation, dann später b . dem Wiedererwachen des deutschen Nationalgeistes unter Friedrich dem Großen von Preußen, wie c . in den Befreiungskriegen. Wie schon bei Beginn des Minnesangs, so wurde das Volkslied später immer mehr die Wurzel, aus welcher das Kunstgedicht heraussproß. Während die Gebildeten seit Opitz die Weisen der alten und neueren Volkslieder nicht mehr beachten zu sollen meinten, sie für unschön und roh hielten (so daß sich diese nur noch auf der Straße, in der Schenke, im Wald im Mund des gemeinen Volkes erhielten, dem sie ja auch entsprossen waren), hat zuerst Herder, und sodann Goethe das Volkslied wieder zu Ehren gebracht und auf die Bedeutung desselben hingewiesen. Herder hat bereits 1778 Volkslieder aus allen Zeiten gesammelt und unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ herausgegeben, wodurch er als der erste zur Ausbildung des Volksliedes anregte und Neubearbeitungen einzelner Volkslieder veranlaßte; z. B. von Goethe: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, ferner „Wenn ich ein Vöglein wär“, „So viel Stern am Himmel stehen“, „Guter Mond, du gehst so stille!“ u. s. w. Herders Stimmen der Völker enthalten Lieder 1. aus dem hohen Norden (grönländische, lappländische, esthnische, lettische, litthauische, tartarische, wendische &c.), 2. aus dem Süden (griechische, italienische, spanische, französische), 3. nordwestliche (aus Ossian, schottische, englische), 4. nordische (skaldische, dänische &c.), 5. deutsche, 6. Lieder der Wilden (aus Madagaskar und Peru). Die Bestrebungen Herders machten zuerst klar, wie Deutschland nach Lage und Geschichte befähigt sei, der Herd einer Weltlyrik zu werden, um sich im Geben und Nehmen mit allen Ländern in Beziehung zu setzen. Dem Vorgang Herders folgten 1806 und 1808 Clemens Brentano und A. v. Arnim mit: „Des Knaben Wunderhorn“, neu und in guten gereinigten Texten herausgegeben von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius 1874 ff. ─ Goethe urteilt von des Knaben Wunderhorn in der Jen. Allg. Lit. Ztg. 1806. No. 18. 19: „Von rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Haus, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblicke der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände &c.“ Es schlossen sich an: die Sammlungen von Volksliedern, welche von der Hagen und Büsching herausgaben, sowie Uhlands Deutsche Volkslieder (1844. 1882). Karl Simrocks Deutsche Volkslieder (1859), H. Pröhles Weltliche und geistliche Lieder (1855), O. L. B. Wolffs Hausschatz der Volkspoesie (4. Aufl. 1853), Meiers Schwäbische Volkslieder, Kleinpauls Volkslieder, Erks Liederhort, Kretzschmers, Soltaus, Körners und besonders v. Liliencrons historische Volkslieder. Einen treuen Pfleger hat das Volkslied in unserer Zeit neben Böhme, Birlinger, Crecelius, Hoffmann von Fallersleben, v. Ditfurt, Süß, Mittler, Schlossar, auch an Georg Scherer, dem Dichter zarter und sinniger Lieder, gefunden. Aus den verschiedensten Heimstätten deutschen Lebens trug er einen Volksliederschatz zusammen, und mit diesem in der Hand förderte er die seit Herder bei uns angehäufte Litteratur der Volkspoesie. Die erste Ausgabe seiner illustrierten Pracht-Ausgabe des deutschen Volksliedes trug den Titel: Die schönsten, deutschen Volkslieder mit ihren eigenen Singweisen. Die Litteratur des Volksgesanges hat in der Neuzeit übrigens auch bei anderen Nationen reiche Vermehrungen erfahren. Was außer den im Text Genannten noch Elwart, Eschenburg &c. für den deutschen, ─ Percy, Pinkerton, Walter Scott, Jameson für den englischen und schottischen Volksgesang thaten, leistete Fauriel für den neugriechischen. Geijer und Afzelius haben 1814─1816 die Volkslieder der Schweden in 3 Bänden mit 3 Heften Musikbeilagen herausgegeben und das letzte Glied des germanischen Volksgesangs ergänzt, zu welch letzterem wir außer dem eigentlich deutschen, den so reichhaltigen skandinavischen, englischen und schottischen zählen. England, Schottland, Deutschland und Skandinavien bilden hinsichtlich der Sprache bekanntlich einen eigenen Stamm, der sich von den romanischen Sprachen unterscheidet. Diese Länder haben aber auch in ihrer älteren Volks-Poesie so viel Verwandtschaft, daß man sie als ein eigenes großes Ganze betrachten kann. So viel auch die Sammlungen dänischer Volksgesänge von Sofranson Wedel, Peter Syw und besonders von Ryerup in Verbindung mit Abrahamson, Rahbeck und Rasmussen in bezug auf schwedische Volkslieder ergaben, so verdienstlich ist die obige Sammlung Geijers und Afzelius' in deren Volksliedern der jambisch=anapästische Rhythmus vorherrschend ist, und die eine große Mannigfaltigkeit in der Zeilenlänge, in der Folge der Silben, in der Strophik, ähnlich wie in der Neuzeit die Gedichte des Königs Oscar II . von Schweden-Norwegen, aufweisen. Arndt und Kosegarten (Blumen) haben das schwedische Volkslied zuerst nach Deutschland verpflanzt; Herder hat nur dänische, aber keine schwedischen Volkslieder seiner Sammlung beigegeben. Eine neue Sammlung schwedischer Volkslieder hat Arwidssohn in Stockholm 1834 herausgegeben, die Mohnike 1836 (Stuttgart) in's Deutsche übertrug. Leider wird trotz aller Bemühungen ─ auch der verwandten Kulturländer ─ der größte Teil des versunkenen Schatzes mittelalterlichen Volksgesanges ungehoben bleiben. Doch hat Uhland wenigstens die Volkslieder des 16ten Jahrhunderts in ziemlicher Reichhaltigkeit nach Handschriften und alten Drucken zu vereinen gewußt. Er behauptet von den deutschen Volksliedern (in „Alte, hoch- und nieder=deutsche Volkslieder“ S. 10), daß ihnen der einheitliche Geist, der gleiche Schnitt, der durchgehende, volkspoetische Charakter fehle, fand dafür aber die lebensvolle Erscheinung interessant, wie der deutsche Volksgesang vom 13ten Jahrhundert an mehr und mehr der wichtigsten Ereignisse und Zeitfragen sich bemächtigte und so allgemein und wirksam wurde, daß Luther selbst die Psalmen zu Volksliedern stimmte u. s. w. § 59. Das Volkslied der letzten Decennien. Jnteressant ist die Wahrnehmung, wie das moderne Volkslied der letzten Decennien genau so wie das früheste Volkslied je nach dem Volksbedürfnisse auftaucht, erst leise und schüchtern, dann lauter und sicherer, bis es endlich überall Eingang in Herz und Haus gefunden hat; wie ferner trotz unserer Presse auch bei uns erst niemand den Dichter des Volksliedes kannte, wie der eine es vom andern hörte, dieser vom dritten und vierten, bis es zuletzt die Kinder in allen Orten und Straßen sangen, bis es durch die Zeitstimmung, durch große politische oder soziale Ereignisse geweckt mit einem Schlag zur Geltung kam. Wir liefern den geschichtlichen Nachweis: Es war Ende der vierziger Jahre, da ertönte aus allen Winkeln Deutschlands: Schleswigholstein meerumschlungen (Gedicht von H. Straß, comp. von Chemnitz). Es kam 1848 die Revolution. Wir kümmerten uns wenig darum und jubelten in geschlossenen Reihen: Sang, Lieb und Freude Führen uns heute; Unsre lustge Kompagnie Wandert so, spät und früh, Durch die weite Welt, Wohin es ihr gefällt. Daneben machte sich das sog. Thüringer Volkslied Platz, das alle deutschen Volksschichten ergriff und durchklang. Das Jahr 1859 kam und brachte den französisch=ital. Krieg. Deutschland machte zwar mobil, aber der deutsche Michel dehnte sich höchst gleichgültig. Überall erscholl das Lied: Ach, ich bin so müde, Ach, ich bin so matt, Möchte gerne schlafen gehn, Morgen nicht zu früh aufstehn. Es erklang kein allgemeines Volkslied mehr, bis 1863 Schleswig-Holstein neu erwachte und in Deutschland aufging. Da schallte es 1867: „Jch bin ein Preuße“ aus aller Soldaten und Preußen Munde. Jm übrigen Deutschland sang man von der „schönen blauen Donau“ bis zum Wiener Krach. Der Patriotismus erwachte und mit ihm das neue Volkslied. Es kam die Wacht am Rhein. Schon 1840 war sie entstanden, als Frankreich zur Unterstützung Mehemed Alis von Ägypten gegenüber der Allianz der Großmächte einen Krieg in Aussicht stellte, der zugleich Frankreich die Rheingrenze wiedergeben sollte. Man sang dazumal Beckers an Lamartine gerichtetes Rheinlied: „Sie sollen ihn nicht haben.“ Man kannte die „Wacht am Rhein“ noch nicht, die 1854 erst vom Komponisten Wilhelm in Musik gesetzt wurde und langsam wuchernd fortlebte, bis sie durch den französischen Krieg 1870/71 eine an die dämonische Gewalt der Marseillaise von Rouget de Lisle erinnernde Macht erhielt und ihren begeisternden, tyrtäischen Triumphzug durch ganz Deutschland hielt, ohne daß man anfänglich den Dichter kannte. (Vgl. hierher S. 114 d. Bands.) Kunstlied. § 60. Mission des Kunstliedes. 1. Jn unserer dem Volksliede feindlichen Zeit und angesichts der wachsenden Kultur und Bildung unseres Jahrhunderts muß das Kunstlied die Aufgabe übernehmen, das Volkslied teilweise zu ersetzen. 2. Es muß volkstümlich sangbar werden im Sinne der volkstümlichen Kunstlieder Goethes, Heines, Uhlands u. a. Unsere Eisenbahnen und Telegraphen als rastlos fortdrängende Kulturfaktoren, ferner unser poesiefeindliches Cliquenwesen und unser Materialismus drohen den letzten Schimmer eines gesund naturwüchsigen beschaulichen Lebens und Seins zu erdrücken, in welchem das edle Volkslied fortlebte. Für die Folge werden es nur wenige Fleckchen im gemeinsamen Vaterlande sein, wo einzelne, naturfrische, urkräftige Menschen unberührt vom Parteigetriebe und der prosaischen, modernen Kultur leben, bei welchen noch Gedanke und Gefühl mit der Natur verschwistert bleiben, denen in Zeiten des Bedürfnisses ein Gott die Zunge löst, damit sie aus Geist und Gemüt ihrer Nation heraus noch dichten und singen, wie es dem Volksgewissen, dem deutschen Volksgefühl und dem unverkünstelten Volkscharakter entspricht. Jm Hinblick auf diese Thatsache, und angesichts der hohen Bedeutung, welche das Volkslied für Poesie und Kultur, wie für Pflege des ästhetischen Sinns, der Herzens- und Willensstimmung der Nation hat, muß das volkstümliche Kunstlied an seine Stelle treten. Bereits haben die ersten Dichter der Nation im Hinblick auf die große Wirkung der Volkslieder wie im Verein mit dem Aufschwung germanischer Studien sich veranlaßt gesehen, volksliedartige, volkstümliche Lieder zu dichten, den Ton des Volksliedes anzustreben, Gegenstände des Volksinteresses im Volkston zu besingen, und zuweilen sogar durch den Dialekt eine engere Verbindung mit dem Volke zu erzielen. Diese vom Hauch der Volkspoesie belebten Dichter sahen ein, daß ─ wenn sie Poesieen im Geist und Sinn der alten Volkslieder schaffen wollten ─ sie das poetisch gestimmte Volksleben in ihren Liedern entfalten mußten. So drangen sie mit einzelnen volkstümlichen Gesängen in den gesunden Kern des Volkes ein, fanden Anerkennung, und ihre Lieder wurden wie ehemals die Volkslieder allüberall gesungen. (Man vgl. beispielshalber „Sah' ein Knab' ein Röslein stehn“ von Goethe, „Frisch auf, Kameraden auf's Pferd, auf's Pferd!“ von Schiller, Der alte Barbarossa von Rückert u. s. w.) 2. Nach dem Vorgang Goethes, Uhlands, Heines &c. muß sich unser Kunstlied immer mehr von allem Geschraubten, Gekünstelten frei machen. Es muß vor allem aus dem Jungbrunnen des edlen Volksliedes schöpfen. Die schöne Linie, an welcher sich Kunstgedicht und Volkslied berühren, muß sein: volkstümliche Empfindung und volksmäßige Sangbarkeit. Somit wird für die Zukunft Ausgangspunkt und Ziel jedes echten Kunstliedes werden müssen: Volkstümliche, echte, ungezierte Empfindung, die sich in Anschauung umsetzt und wiederum Empfindung machtvoll zeugt! § 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes. 1. Schon im Mittelalter unterschied man das weltliche und das geistliche Lied mit ihren vielen Unterarten. Für das Kunstlied der Gegenwart ist der Einteilungsmodus ein sehr verschiedenartiger. 2. Wir behalten die im § 48 aufgestellte Einteilungsweise bei. 1. Man teilt die Lieder in bezug auf ihren Stoff und Endzweck in geistliche und weltliche Lieder ein. Die weltlichen Lieder zerfallen nach den Jahreszeiten in: Frühlingslieder, Herbstlieder, Mailieder &c., nach den Tageszeiten: in Morgen- und Abendlieder. Ferner spricht man von Nationalliedern, welche Vaterlandsliebe und Nationalsinn zum Ausdruck bringen, oder bemerkenswerte Ereignisse aus der Geschichte des Vaterlandes behandeln; von Kriegsliedern, die zur Beharrlichkeit und Tapferkeit im Kampfe ermutigen; von moralischen, welche Rechtschaffenheit und Tugend feiern; von Trink- und Gesellschaftsliedern, die den freundschaftlichen Verkehr würzen; von Minneliedern, die besonders die sanften Empfindungen der Freundschaft und Liebe zum Ausdruck bringen; von Klageliedern, die traurige Erlebnisse schildern und beklagen u. s. w. Jedem Volk, jedem Stande und jeder Altersstufe sind außerdem noch besondere Lieder eigen, in denen sich ihr Lebensgefühl klar darlegt. Nach den Ständen teilt man die Lieder ein in: Studentenlieder, Jäger=, Soldaten=, Hirten=, Winzer=, Fischer- und Reiterlieder; nach Beschäftigung und besonderen Verhältnissen in: Erntelieder, Schlachtenlieder, Wanderlieder, Sehnsuchtslieder, Schlummerlieder &c. Endlich teilt man ein: in ernste und komische Lieder. Nach den ihnen zu Grunde liegenden Veranlassungen und Stimmungen könnte man die Lieder Ermutigungslieder, Hoffnungslieder u. s. w. heißen. Häufig teilt man die Lieder in Hinsicht auf ihren Jnhalt ein: a . in subjektiv=individuelle, welche durch besondere eigene Lebensverhältnisse des Dichters hervorgerufen wurden, b . in objektiv=individuelle, welche durch die Verhältnisse einer zweiten Person entstanden sind. Eine andere Einteilung rubriziert die Lieder nach ihrer Wirkung oder nach dem Gegenstand. Gegenstand des Liedes kann jedes Gefühl sein; deshalb giebt es so viele Arten von Liedern, als es Lebensverhältnisse, Stimmungen, Gefühle, Stände &c. giebt. Das Kunstlied im Mittelalter war: 1. dem Frauendienste, dem Herrendienste, der Natur, und 2. der Gottesminne gewidmet. Die alten Kunstdichter sangen (wie Uhland im „Märchen“ bemerkt): „von Gottesminne, Von kühner Helden Mut, Von lindem Liebessinne, Von süßer Maienblut. Jhre Lieder hatten also entweder geistlichen oder weltlichen Jnhalt. 2. Diese Einteilung können wir in unserer Poetik beibehalten. Wir werden somit im nachstehenden folgende Gruppen abzuhandeln haben: A . Weltliches Lied. 1. Vaterlandslied. 2. Naturlied. 3. Liebeslied. 4. Komisches Lied. 5. Geselliges Lied. 6. Elegisches Lied. 7. Jdyllisches Lied. B . Geistliches Lied. 1. Religiöses Lied. 2. Kirchenlied. a . Bußlied. b . Danklied. c . Trostlied. d . Gebetlied. e . Loblied. f . Glaubenslied. Formen des Kunstliedes. Weltliches Lied. § 62. Das Vaterlandslied und das Bardi ë t. 1. Die Vaterlandslieder sind der Begeisterung und der Liebe für's Vaterland entsprungen und preisen die Freiheit und die Selbständig= keit eines Volkes, oder feiern die Männer, die zum Gedeihen des Ganzen beigetragen haben. 2. Viele derselben wecken Kampfesmut und Siegesfreude. Man teilt sie ein in: a . Vaterlandslieder im engern Sinn, mit den Unterarten: Freiheitslieder, nationale Heldenlieder und Schlachtenlieder; sowie b . Bardi ë te. 1. Die besseren Vaterlandslieder sind stets in Zeiten der Gefahr entstanden und wurden nicht selten durch Stimmung und Bedürfnis zu Volksliedern erhoben. Jm Befreiungskrieg zu Anfang des 19. Jahrhunderts rühmten Freiheitssänger (patriotische Romantiker) zum Teil noch in der traditionellen alt=klassischen Form das hohe Gut der Freiheit, für welche Deutschlands Jugend mit Begeisterung eintrat. Die politischen Lyriker der dreißiger und vierziger Jahre (Prutz, Herwegh, Kinkel, Strachwitz), die echt patriotische Gesänge schufen, erhoben sich auch gegen die bestehende Ordnung, wurden Schildträger der Partei, Sänger oder Vorläufer der Revolution von 1848. Machtvoll entfaltete sich das Vaterlandslied 1870─71, als französischer Übermut uns den Krieg erklärte. Den gesamten deutschen Dichterwald beseelte nur ein Ziel: Befreiung vom Erbfeind; alle Gesänge sind durchglüht von Vaterlandsliebe. 2. Als Beispiele bekannter guter Vaterlandslieder aus den erwähnten drei großen Perioden des Wachstums und der Fruchtbarkeit derselben, sowie aus früherer Zeit, erwähnen wir die folgenden, die als patriotische Volkslieder in Aller Munde leben und in die Kommersbücher übergegangen sind: a ) Vaterlandslieder im engern Sinn. Was ist des Deutschen Vaterland? (Arndt.) Sie sollen ihn nicht haben &c. (Becker.) Schleswig-Holstein meerumschlungen. (H. Straß.) Dir möcht ich diese Lieder weihen. (Uhland.) Wo Mut und Kraft in deutschen Seelen flammen. (C. Hinkel.) Deutschland, Deutschland über Alles. (Hoffmann von Fallersleben.) Wie könnt' ich Dein vergessen. (Derselbe.) Wo solch ein Feuer noch gedeiht. (Herwegh.) Es braust ein Ruf wie Donnerhall. (Schneckenburger.) Freiheitslieder. Zu Warschau schwuren tausend auf den Knieen &c. (Julius Mosen.) Frisch auf, mein Volk! die Flammenzeichen rauchen. (Körner.) Der Gott, der Eisen wachsen ließ. (Arndt.) Freiheit, die ich meine. (Schenkendorf.) Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. (Körner.) Der Landsturm, der Landsturm. (Rückert.) Nationale Heldenlieder. Viktoria! mit uns ist Gott. (Gleim.) Fridericus Rex. (Wilibald Alexis.) Nachts um die zwölfte Stunde. (Zedlitz.) Was blasen die Trompeten? Husaren heraus! (Arndt.) Bedeckt mit Moos und Schorfe. (Rückert.) Der alte Barbarossa. (Derselbe.) Schlachtenlieder und Soldatenlieder. Der Ritter muß zum blut'gen Kampf hinaus. (Körner.) Jch hatt' einen Kameraden. (Uhland.) Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? (Körner.) Vater, ich rufe Dich! (Körner.) Du Schwert an meiner Linken. (Körner.) Wohlauf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd. (Schiller.) Nun weg mit Feder und Papier. (Emil Rittershaus.) b ) Bardiet (sprich: Bar=di=et). Durch Klopstock, der eine gewaltige Vorstellung von der alten Bardendichtung hatte, wurde unsere Litteratur mit dem Bardiet bereichert. Man versteht unter Bardiet (auch Bardit ─ anklingend an den Namen Barden, den die Dichter der keltischen oder gallischen Völker als besonderer Stand trugen) Kriegs-Gesänge, deren Jnhalt aus der Bardenzeit ist, oder die wenigstens so gedichtet sind, daß man sie für Bardengesänge halten könnte (vgl. Bd. I . S. 25). Nach Klopstocks Vorgang bildete man im 18. Jahrhundert viele Bardiete, also Lieder, welche den fingierten Charakter der alten Bardenlieder tragen sollten, z. B. eines Ossian, des Repräsentanten des schottischen Bardentums, den man den Kaledonischen Barden nannte. Wenn dieselben auch nur von vorübergehender Bedeutung waren, so können sie doch ihre Stellung und Einregistrierung in die Poetik verlangen. Sie dienten zur Erweckung der Vaterlandsliebe, eines wesentlichen Elements deutscher Lyrik, und sie trugen dazu bei, Sinn für nationale Gesänge zu schaffen. V. Gerstenbergs († 1823) Bardiet „Lied eines Skalden“ ist ebenso ergreifend, als die Bardiete Klopstocks (Hermannsschlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns Tod) oder die Bardiete Kretschmanns († 1809), den man „Rhingulf der Barde“ nannte. Klopstock hat dramatische Dichtungen geschaffen mit eingefügten lyrischen Liedern (Bardiete im engeren Sinn), welche Vaterländisches aus der Zeit und im Geist der Barden darstellen. Diesen Dichtungen gab er ebenfalls den umfassenden Namen Bardiete. Da das Dramatische in denselben nur den Rahmen und die Einleitung in die lyrischen Partieen bildet, so sind sie ─ wie die übrigen Bardiete ─ an dieser Stelle zu erwähnen. Neuere Kriegssänger sind im Unrecht, ihre gewöhnlichen Soldatenlieder als Bardiete einzuführen. Da dies auch früher geschah, so bildete sich mit Recht eine Opposition gegen die Bardengesänge überhaupt, und bekannt ist die komische Manier, in welcher Lichtenberg, Kästner &c. gegen das überhandnehmende „Barden-Gebrüll“ loszogen. Die Nachahmer des Klopstockschen Bardensanges (Kretschmann [† 1809], Denis [† 1800, Wiens Befreiung], Mastalier in Wien [† 1795]) bezeichnet man vorzugsweise als die deutschen Barden. Sie bemühten sich, im Sinn und Geist der alten Barden zu dichten, sie teilten ihre patriotischen Gefühle in antiken Formen mit und wählten meist deutsche Helden und Fürsten zum Gegenstand ihrer Gesänge. Beispiel des Bardiets: Laudon, von Mastalier. Wen, Harfe, zitterst du zu verkündigen? Was reizet deine Saiten zum Schlachtenton? Jetzt, da des Friedens sanfte Gottheit Städte bevölkert und Länder bauet? Braust eines Helden etwa verschwiegner Ruhm Vom Feld des Kampfs her? Horche, dort kommt ein Laut, Zwar halb vom Tannenwald verschlungen, Der auf der Quaden Gebirge türmet, Doch Barden kennbar. Ha, wie der jungen Braut Gefühlvoll Herz dem Jüngling entgegenschlägt, Den ihr, durch Blut und Ruhm verschönert, Jetzo der Fried' in die Arme führet. So rauschet großen Thaten, den glänzenden Gefährten hoher Lieder, so rauschet dir Und deinen Siegen, großer Laudon, Jetzo die bebende Harf' entgegen. Auf denn, mein schüchtern Saitenspiel, säume nicht, Die hellsten Thaten, die in der einzigen Theresia Geschichte glänzen, Kleinern Jahrhunderten vorzusingen. Denn, wird der Zeiten fruchtbarer Schoß dereinst Zu schwach, theresenähnliche Fürstinnen Hervorzubringen (tönt nicht ihrer Siege Geräusch bis zur jüngsten Nachwelt Jn ewgen Liedern aufbewahrt?) o, so staunt Ein blöder Enkel einst bei gemeiner That; Denn er vermisset unsrer Tage Wunder, und wähnt nichts von Laudons Thaten. Zwar könnt' er anders? Wähnt es der Brenne denn, Welch' heißer Kriegesdonner in Laudon ihm Entgegenfuhr! Auch dann, als Böhmens Blutig Gefild schon von Schlachten rauchte? Und staunten nicht selbst unsre vom großen Sieg Noch stolze Mauern, als sie das erste Mal Dem unerhörten Siegesboten Laudons sich feierlich aufgeschlossen? Der erst, ein kleiner Name, verdecket von Gerühmtern Helden, plötzlich dem Dunkel sich Entrissen und durch drei, vier Thaten Bis zur Unsterblichkeit aufgeschwungen. O klaget, Feinde, klagt, daß Theresiens Scharfsichtig Auge mitten in Tausenden Den raschen Sieger nicht verfehlet, Der sich auf Feindes Gebiet die ersten, Die schönsten Lorbeern brechen wird! Klaget, daß Sie aus der Mitte feuriger Kämpfer ihn An ihrer Heere Spitze führet; Klaget! Denn, blitzte nicht in der Rechten Des Helden ihrer Rache tiefschneidend Schwert, Und schwäng' er's nicht so treffend, so schmelzten nicht Vor seinem Anzug eure Haufen, Wie vor dem Hauche des Süds der Winter. So schlummert' jetzt noch Schweidnitz in sichrer Ruh, So hießen deine dreifachen Schlösser, Glatz, Unübersteiglich; so beschützte Landshut den trotzigen, kühnen Führer, Der stolz auf sieben steiler Gebirge Schanz' Den Sieg mit müdem, halb schon gefangnem Arm Noch aufhielt, und dem stärkern Sieger, Nicht ohne Wunden und Scheelsucht nachgab; So säh vielleicht die Oder ihr eigen Heer, Die Brust voll offner Wunden, tief eingeschrumpft, (Ach, sie zu waschen war nicht Zeit mehr!) Hinter Küstrin sich nicht keuchend retten; So kehrten tapfre Feinde nicht trauernd oft Zurück von Laudon; denn sie erwartete Daheim kein rauschendes Triumphlied. Aber der Wiederhall seiner Thaten Tönt schon an beiden Ufern des Oceans; Betroffen suchen kriegrische Völker dort Jn ihren schmeichelndsten Geschichten Thaten der Ahnen, die seinen gleichen. Wie schwer wirds ihnen! aber noch schwerer ist's, Den Mann zu finden, der, durch sich selber groß, Groß durch des größten Feindes Zeugnis Und die entscheidende Gnade Josephs, Sich selbst verkennet, der mit dem Glücke gern Die Ehre seiner glänzenden Siege teilt, Und mit den tapfern Kriegsgefährten, Die er die Pfade des Ruhms geführet; Der, ob sein Name gleich bei den Sternen schallt, Hier Feinde noch im modernden Grabe schreckt, Der Sittsamkeit sanftroten Schleier Über sein Siegen wirft. Welche Größe! Nimm dir geschwind die Flügel des brausenden, Des unermüdeten Nordwinds, mein festlich Lied, Und hefte dieses Helden Namen Fest an der äußersten Zukunft Thore. Dort steht ein größrer noch nicht geborner Bard', Und singt ihn einst, wenn finstre Vergessenheit Die grauen Thaten mancher Helden Aus der Geschichte Bahn weggerücket. (Vgl. Laudon, von Janko. Wien, Braumüller 1881. S. 24.) Litteratur des Vaterlandsliedes. Die verbreitetsten, zum Teil durch ihre Melodien zu Volksliedern gewordenen, patriotischen Gesänge schufen bei uns: Arndt (Was ist des Deutschen Vaterland? Was blasen die Trompeten? Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Sind wir vereint zur guten Stunde. Deutsches Herz, verzage nicht. Aus Feuer ward der Geist geschaffen. Durch Deutschland flog ein heller Klang), Körner (Leier und Schwert. Viele Lieder daraus sind von Himmel, K. M. v. Weber u. a. in Musik gesetzt worden und werden noch heut zum Teil nach Volksweisen gesungen, z. B. Vater, ich rufe Dich. Du Schwert an meiner Linken. Das Volk steht auf. Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hör uns, Allmächtiger!), Schenkendorf (Frühlingsgruß an das Vaterland. Landsturm. Schill. Soldaten-Morgenlied. Die deutschen Städte. Freiheit die ich meine), Rückert (vgl. die Sammlung: Kranz der Zeit), Stägemann (Siegeslied ist oft erklungen), Adolf Follen (Vaterlandssöhne, traute Genossen!), Karl Follen (Brause, du Freiheitssang), A. Binzer (Wir hatten gebauet), Karl Göttling (Stehe fest, o Vaterland!), Uhland (Wenn heut' ein Geist herniederstiege). Die politischen Lyriker der 30er und 40er Jahre: Herwegh (Jch bin ein freier Mann und singe; Reiterlied &c.), Hoffmann von Fallersleben (Mein Vaterland), Robert Prutz (Die Mutter des Kosaken; Noch ist Freiheit nicht verloren), Dingelstedt (Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters), Freiligrath (Neue politische und sociale Gedichte), Strachwitz (Die patriotische Hymne: Germania), Julius Rodenberg (Geharnischte Sonette), Heinr. Zeise (Kampf- und Schwertlieder), Strodtmann (Schleswig-Holstein), Zedlitz (Totenkränze, vgl. Bd. I . S. 560. Sein Soldatenbüchlein enthält patriotische, der italienischen Armee gewidmete Gedichte), Anastasius Grün (Spaziergänge eines Wiener Poeten, österreichische Zustände tadelnd), Alexander, Graf von Württemberg (gen. Sander: Lieder eines Soldaten im Frieden), Karl Beck (Gepanzerte Lieder, politische Zeitfragen behandelnd), Geibel (Patriotische Sonette, z. B. „Für Schleswig-Holstein“), v. Gaudy (Kaiserlieder), Kugler (Vaterländisches Trinklied), A. Knapp (Spielburg; Barbarossa und Saladin), Grüneisen (patriotische Lieder und Romanzen z. B. Eberhard mit dem Barte), K. J. Simrock (Drei Tage und drei Farben), Moritz Hartmann aus Böhmen (Kelch und Schwert), Th. Fontane (Männer und Helden, eine Sammlung von Preußenliedern), G. v. Meyern (Welfenlied &c.). Aus der neuesten Zeit durch den letzten Krieg hervorgerufene politisch=patriotische Lyriken schrieben: Oskar v. Redwitz (Lied vom neuen deutschen Reich. Nicht alle Sonette dieses Cyklus sind rein lyrisch. Bei vielen ist die lyrische Sonettenform zur epischen Darstellung verwandt), G. v. Vincke, W. Schröder, A. Pichler, Eug. Labes, E. Kauffer, K. Gutzkow, Herm. Grieben, E. Förster, K. Elze, C. Beyer, G. Heusinger, Edm. Höfer, F. Hofmann, W. Jensen, O. Marbach, M. Matzerath, Alfr. Meißner, M. Remy, O. Roquette, E. Scherenberg, A. Stern, Fr. Storck (Alldeutschland hoch!), Adolf Stolterfoth, A. Träger, Heinr. Viehoff, R. Waldmüller, F. Wehl, W. Winckler, Müller von Königswinter, Müller v. d. Werra, Pläschke, v. Gottschall, Julius Grosse, Karl Hackenschmidt, Georg Hesekiel, Marie Jhering, H. Lingg, Emil Rittershaus, Julius Sturm, Rod. Benedix (Soldatenlieder), Moritz Blankarts (Kriegs= und Siegeslieder), Fr. Bodenstedt, M. Carriere, Joh. Fastenrath, K. Gerok, Kl. Groth, R. Hamerling u. A. Als Sammlungen der politisch=patriotischen Lieder der Neuzeit sind zu nennen: a . Alldeutschland von Müller v. d. Werra, b . Kriegspoesie aus den Jahren 1870─71 (Mannheim bei Schneider), c . die bei Lipperheide in Berlin erschienene Sammlung mit Autographen der Dichter &c. § 63. Das Naturlied. Die Naturlieder sind aus dem Gefühl für das Ländliche, für das Jdyllische und für die Natur hervorgegangen. Jn ihnen fällt das Leben des Dichters mit dem Leben in der Natur zusammen. Alle Regungen, welche die Natur durchziehen, durchzucken auch ihn. Man hört bei den Naturliedern gleichsam die Dorfglocken ertönen, die den Gruß der Liebe und des Friedens vermitteln, man sieht die Sommervögel flattern, hört die summenden Jmmchen schwirren. Man nimmt das Erwachen der Natur im Frühling, ihr Ersterben im Winter wahr. Goethe und Rückert haben die Natur in unvergleichlicher Weise besungen. Einer der hervorragendsten Naturdichter neben diesen hellstrahlenden Genien ist der weniger bekannte Hölderlin (1770─1843). Er ist Naturdichter nicht sowohl deshalb, weil die Natur der vorwiegende Stoff seiner Gedichte ist, weil er die Erde, das Meer, den Äther, die Flüsse und die Bäume besingt, sondern deshalb, weil die Versöhnung und Vermählung der Natur mit dem Geiste sein künstlerisches Grundproblem bildet, auf dessen Lösung er vom ersten Erwachen seines Genius bis zum Versinken desselben in die Nacht des Wahnsinns hinarbeitete. Er faßte dieses Problem nicht etwa nur ästhetisch, sondern nahm dafür von vornherein in echt antikem Geiste den ganzen Menschen in Anspruch. So finden wir bereits unter den Erstlingen seiner Muse vor einer Hymne an die Schönheit (1791) das bedeutsame Wort Kants: „Die Natur in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffrenschrift ist uns im moralischen Gefühl verliehen.“ Von diesem Gefühl ist zu verstehen, was er in dem tiefsinnigen prosaischen Fragment „Grund zum Empedokles“ sagt: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch entgegengesetzt. Der organischere, künstlichere Mensch ist die Blüte der Natur, die selbstlose Natur, wenn sie rein gefühlt wird von rein organisierten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“ Hölderlin feiert die Natur als die „allduldende“, denn sie duldet nicht allein das in ihr selbst vorhandene Übel, sondern auch den an ihr und sich irrgewordenen Geist, von dem sie gleichwohl ihre Erlösung allein zu hoffen hat. Eigentümlich gefühlsinnig, mit Vorliebe für das Wunderbare sind noch die Naturlieder des heiteren, seelenvollen, volkstümlichen und melodiereichen schwäbischen Sängers Eduard Mörike. Wertvolle Naturlieder haben sonst noch die unten in den Beispielen zu nennenden Dichter geliefert. Beispiele der Naturlieder: a . An die Natur. Süße, heilige Natur, Laß mich gehn auf deiner Spur, Leite mich an deiner Hand, Wie ein Kind am Gängelband! Wenn ich dann ermüdet bin, Sink' ich dir am Busen hin, Atme reine Himmelsluft Hangend an der Mutterbrust. Ach! wie wohl ist mir bei dir! Will dich lieben für und für; Laß mich gehn auf deiner Spur, Süße, heilige Natur! (Friedr. Leop. Graf zu Stolberg, † 1819.) b . Jm April. Du feuchter Frühlingsabend, Wie hab' ich dich so gern ─ Der Himmel wolkenverhangen, Nur hie und da ein Stern. Wie leiser Liebesodem Hauchet so lau die Luft, Es steigt aus allen Thalen Ein warmer Veilchenduft. Jch möcht' ein Lied ersinnen, Das diesem Abend gleich; Und kann den Klang nicht finden, So dunkel, mild und weich. (Geibel.) c . Frühling. Frühling läßt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte, Süße, wohlbekannte Düfte Streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, Wollen balde kommen. Horch, von fern ein leiser Harfenton! Frühling, ja, du bist's! Dich hab' ich vernommen. (Mörike.) Weitere Beispiele bilden die Naturlieder von: Lenau: Schilflieder. Der Eichwald. Frühlings Tod. Herbst. Rückert: Der Winter auf dem Lande. Abendlied. Frühlingslied, und besonders sein dithyrambisches Lüfteleben. Goethe: An den Mond. Moritz Hartmann: Erster Schnee. J. Mosen: Der träumende See. Eichendorff: Winterlied. Tieck: Herbst. Heine: Fichtenbaum und Palme. Hoffmann v. Fallersleben: Abendlied. Uhland: Maientau. Die sanften Tage. Karl Beck: Frühling. Heimweh. Julius Sturm: Frühlingsgespenster. Herbstlieder. Auf dem Wasser. Robert Reinick: Sommernacht. Jul. Rodenberg: Schönheit. Dämmerung. Kinkel: Abendstille. Abendmahl der Schöpfung. Rittershaus: Der Abendfalter. Nach dem Sturme. Cäsar von Lengerke: Der frühe Mond. Herm. Lingg: Mondaufgang. Waldnacht. Alfr. Meißner: Jn der Gebirgswüste. Gottschall: Am Strande. Die letzte Rose. Otto Roquette: Wandergruß. Fr. Storck: Wach auf! u. a. m. § 64. Minne- oder Liebeslieder. 1. Man nennt das Minne- oder Liebeslied auch erotisches Lied (von Eros == Amor). Seinen Jnhalt bildet die Liebe. Das Liebeslied erschließt das Herz des Lyrikers in seinen geheimsten Tiefen; es enthüllt die leisesten Ahnungen und die zartesten Regungen des beseligenden Liebesgefühls. Daher sind seine Töne die zartesten und innigsten, die anmutigsten und heitersten und zugleich die erwärmendsten. Das Liebeslied ist der Spiegel der keuschen Liebes-Einfalt in ihrer sonnigen Klarheit. Rückerts Liebesfrühling ist das Musterbuch der Liebeslieder, das Evangelium der Liebe. Er hat für die gesamte Lyrik eine erlösende, bahnbrechende und vorbildliche Mission erreicht. 2. Die Bedeutung des Liebesliedes soll man nicht unterschätzen. 1. Zur Zeit des historischen Minnesangs, welcher eine fortschwingende Welle jener durch die Troubadours angeregten Lyrik war, galt die Verehrung der Frauen als eine besondere Tugend, welche im Kultus der heiligen Jungfrau ihren Gipfelpunkt und ihre höchste Veredlung erreichte. Es gehörte zu den Eigenschaften eines echten Ritters, im Herzen eine Dame zu tragen, für die er in inniger Verehrung (Minne) erglühte, die er schützte und die er im Minneliede verherrlichte. Daher fiel mit der Blüte des Rittertums die Blüte des Minnelieds zusammen. Es giebt seit dem Minnesang kaum einen Lyriker, der nicht Liebeslieder geschaffen hätte, da die Liebe das treibende Agens für unser ganzes Leben ist. Jean Paul spricht: Jeder Jüngling, sogar der prosaische, grenzt an den Dichter ─ wie die Jungfrau eine kurzblühende Dichterin ist, beide wenigstens in der Liebeszeit; oder vielmehr, die reine Liebe ist eine kurze Dichtkunst, wie die Dichtkunst eine lange Liebe. H. Heine sagt bezüglich des Gegenstandes des Liebesliedes: Die Engel nennen's Himmelsfreud', die Teufel nennen's Höllenleid, die Menschen nennen es Liebe. Und Rückert, der nach Walther von der Vogelweide die zartesten und innigsten Minnelieder sang, und der neben Chamisso in Frauenliebe und Leben die der weiblichen Seele eigene Fülle an zarten Gefühlen am schönsten und reichsten zum Ausdruck brachte, ruft aus: Die Liebe ist der Dichtung Stern, Die Liebe ist des Lebens Kern, Und wer die Lieb' hat ausgesungen, Der hat die Ewigkeit errungen. 2. Trotz der hohen Stellung des Liebeslieds findet man nicht selten geringschätzige Urteile über dasselbe. Eine energische Verteidigung der Liebeslyrik hat Th. Winkler der Redaktion der „Neuen Dichterhalle“ gewidmet, als diese dem Liebesliede die Aufnahme in ihr Dichterjournal erschwerte. Warum, so ruft Winkler in hochgradiger Entrüstung aus, soll die Liebeslyrik ausgeschlossen sein? Jst diese Gattung der Poesie plötzlich in Bann und Acht gethan? Oder ist das Gebiet etwa so abgegrast und ausgebeutet, daß kein neuer, frischer Halm mehr darauf zu sprossen vermag? Bildet man sich wirklich ein, daß mit Heine, Lenau, Rückert, Geibel &c. alles gesagt und poetisch ausgestaltet worden sei, was je eine Menschenbrust im Gefühlssturm der Liebe bewegen könne? Ein unbefangener Blick auf die neuere Produktion in der Lyrik ergiebt, daß gerade das Kapitel des Liebesliedes die duftigsten, farbenprächtigsten Blüten getrieben hat, Blüten, die trotz aller lyrischen Großmächte ihr volles Recht haben, im Garten der Dichtkunst zu stehen und daselbst Freunde und Verehrer zu finden. Eine Dichterhalle ist daher keinesfalls befugt, hier eine Grenzsperre einzuführen. Nur sichten und sondern soll ihre Redaktion unter den Einläufen. Jn der erotischen Lyrik ist die äußerste Strenge geboten, weil sie der frequentierteste Tummelplatz des Dilettantismus ist. Es gehört in manchen Kreisen zur Mode, ja, manche Menschen geben sich damit den Anschein einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer Nennung des Wortes „Lyrik“ mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf: Liebeslieder mag Niemand mehr! ─ So lange es noch liebende Herzen und empfindungsfähige Gemüter auf Erden giebt, so lange es dem Schachergeiste unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu zwingen, so lange wird ein wahrhaft poetisches, ein wahrhaft empfundenes und künstlerisch ausgestattetes Liebeslied noch immer einen Wiederhall finden, wenn auch nicht unter der feilschenden Menge des Marktes. Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour, welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte: Gar wenig taugt mir ein Gesang, Wo nicht der Klang vom Herzen dringt. Und nicht vom Herzen dringt der Klang, Wenn das nicht reine Liebe hegt. ─ sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel, dessen Zartheit und Milde ihm die Anerkennung und den Ruhm eines unserer größten Lyriker sichern: Du Land des hohen, ernsteren Genius! Du Land der Liebe! bin ich der Deine schon, Oft zürnt' ich weinend, daß du immer Blöde die eigene Seele läugnest. Wie herrliche Blüten die erotische Lyrik auch noch in unserer Zeit zu treiben vermag, beweisen unter vielen Liebesliedern hervorragender Dichter der Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann, die er in „Unter den Reben“ (Berlin. Lipperheide. S. 46─96) seiner Amara George gesungen hat. Diese tiefempfundenen, formenschönen Gedichte erscheinen wie eine Fortsetzung des Liebesfrühlings von Fr. Rückert, an den so mancher süße Ton erinnert, ja, den man zu hören glaubt in den ergreifenden Ghaselen: „Es führt das Schicksal Dich in weite Ferne, o bleib getreu!“, sowie in „Jch liebe Dich nach Gottes ew'gem Schlusse ─ verlaß mich nicht!“ Beispiele des Liebesliedes: Du meine Seele, du mein Herz, Du meine Wonn', o du mein Schmerz, Du meine Welt, in der ich lebe, Mein Himmel du, darein ich schwebe, O du mein Grab, in das hinab Jch ewig meinen Kummer gab! Du bist die Ruh, du bist der Frieden, Du bist der Himmel mir beschieden. Daß du mich liebst, macht mich mir wert, Dein Blick hat mich vor mir verklärt, Du hebst mich liebend über mich, Mein guter Geist, mein beßres Jch! (Rückert) „ Mein Leben “ nenn' ich Dich; ─ doch nein, mein Leben Jst stürmisch oft, von Wolkennacht umgeben: Mit Dir an Lieb und Huld so Überreichen Darf ich mein armes Leben nicht vergleichen. Ein schön'res Bild, wo find' ich's? „ Meine Seele? “ Doch wie mein Leben, ist auch sie voll Fehle, Verstimmt und schwach, wie oft auf falschen Gleisen; ─ Als meine Seele darf ich Dich nicht preisen! Sei „ meine Blume “, die ich liebend hege, Bei Tag und Nacht mit gleicher Sorge pflege, Sei meine Rose, blüh' empor, gedeihe, Sei Königin in Deiner Schwestern Reihe. ─ Der Gärtner, der Dich pflegte, tritt zufrieden Zurück in's Dunkel, wenn Dir Glanz beschieden. (Alexander Kaufmann.) Jn Liebesarmen ruht ihr trunken, Des Lebens Früchte winken euch; Ein Blick nur ist auf mich gesunken, Doch bin ich vor euch allen reich. Das Glück der Erde miss' ich gerne Und blick, ein Märtyrer, hinan, Denn über mir in goldner Ferne Hat sich der Himmel aufgethan. (Uhland, Hohe Liebe.) Weitere Proben bekannter Liebeslieder sind: Rückerts Liedercyklus: Der Liebesfrühling. Chamisso: Frauenliebe und Leben. Redwitz: Einzelne Lieder des Epos Amaranth z. B. Zieht hin, ihr lieben, stillen Lieder zu meiner süßen Amaranth! &c. (§ 121. V . d. Bds.) Goethe: Freudvoll und Leidvoll (Liebesglück). Salis: Wann, o Schicksal, wann wird endlich. Schiller: An der Quelle saß der Knabe. Tieck: Geliebte, wo zaudert dein irrender Fuß? Geibel: O stille dies Verlangen. ─ Rühret nicht daran. &c. Uhland: Was wecket aus dem Schlummer mich. Nachts. &c. Bodenstedt: Lieder des Mirza-Schaffy z. B. Jch fühle Deinen Odem &c. Mörike: Liebesvorzeichen. Hochzeitslied und neben anderen erotischen Gedichten insbesondere das tief ergreifende Lied Agnes (Rosenzeit! wie schnell vorbei, schnell vorbei, bist du doch gegangen! &c.). E. Ferrand: Jugendliebe. Am Fenster. Dingelstedt: Erste Liebe. Wiedersehen. v. Gottschall: Liebes-Reminiscenzen. G. Schwab: An die Geliebte. Herm. Rollet: An die Geliebte. Hoffmann v. Fallersleben: Liebe und Klagen. Clemens Brentano: Nach Sevilla. Abendständchen. Platen: Sonette. R. Prutz: Reue. Vergessen. Die tote Braut. Alfr. Meißner: An meine Rose. Karl Beck: Weltgeist. Zur Nacht. Lenau: Dein Bild. An die Entfernte. Das tote Glück. Frage. Das Mondlicht. Cäsar von Lengerke: Liebesleid. Betty Paoli: Gabe. Jn einer Abendstunde. Gelöbnis. Bewältigung. Heine: Der Stern der Liebe. Fr. Storck: Von Liebe. Das Lied der süßen Liebe. Karl v. Holtei: Frühlings-Atem weht entgegen. Amara George: Das süße Wort. Was Liebe kann. Die Augen, die geweint. &c. § 65. Das komische Lied. 1. Das komische Lied nimmt irgend einen erheiternden, ergötzlichen Gegenstand zum Stoff. Der Dichter fühlt sich in der gehobensten Laune und singt aus ihr heraus. 2. Das komische Lied darf nie die zarte Linie des Schicklichen, d. i. des ästhetisch Zulässigen überschreiten. 1. Der heiteren Seelenstimmung unserer Dichter sind eine Menge komischer Lieder entsprungen, die schon durch ihren Titel Stoffgebiet und Tendenz verraten und allbekannt geworden sind. Jch erinnere aus der großen Zahl derselben nur an die folgenden komischen Lieder: Ein lust'ger Musikante marschierte einst am Nil, o tempora o mores ! (E. Geibel). Als Noah aus dem Kasten war (Kopisch). Jch hab' mein Sach' auf nichts gestellt (Goethe). Der Ostwind kam an's Schenkenthor; Mönch! die Predigt schenk ich dir; Manch Jahr ist's her, seit mein letztes Buch versetzt; Die Liebe fiel in's Grübchen am Kinn; Es ist der Kopf ein Luftgezelt (Rückert). Die Hussiten zogen vor Naumburg (Seiffert). Das Essen, nicht das Trinken bracht uns um's Paradies (Wilh. Müller). Grad aus dem Wirthshaus nun komm ich heraus (Mühler). Ach! das Exmatrikulieren ist ein böses Ding, ja ja! (W. Gabriel). Fürst Bismarck dem deutschen Manne (J. Meyer). Tragische Geschichte (Chamisso). Krapulinski und Waschlapski, Polen aus der Polakei; Krambambuli, das ist der Titel; Jch bin der Fürst von Thoren; Ça, ça geschmauset! laßt uns nicht rappelköpfisch sein; viele Lieder der soeben erschienenen Sammlung Wechselnde Lichter von Schmidt-Cabanis; Vom Hund, der das Sprechen gelernt hat (A. Kaufmann) u. a. 2. Bei aller Munterkeit, ja Ausgelassenheit, die ja das Horazische est modus in rebus nicht immer zu beachten braucht, müssen sich komische Lieder, welche nicht in's Bereich der Bänkelsängerlieder gehören wollen, innerhalb der elastischen Grenzen feinen Taktes zu halten suchen. Der Hortus deliciarum von Eichrodt enthält neben ergötzlichen Liedern (die ─ als Ausdruck des Hochkomischen, Burlesken, Zwerchfellerschütternden, ja, auch des Niedrigkomischen im Bänkelsängerton ─ das Tollste bieten, was je dem Humor entquollen ist) zum Glück nur einzelne Parodieen (wie z. B. auf das Goethesche „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“: Nur wer die Milzsucht kennt, weiß was ich leide), die selbst den zum Jokus aufgelegten Mann wie ein Unrecht an der lieb gewordenen Form und wie ein Hohn auf das berechtigte, innige Empfinden des Dichters berühren. Beispiel des komischen Liedes. Als solches wählen wir ein Lied V. v. Scheffels, welches rasch zum beliebten Volksliede wurde und nach der Melodie „Die Hussiten zogen vor Naumburg“ allüberall gesungen wird. Der Dichter schreibt uns mit Bezug auf dasselbe: „Das Lied von der Teutoburger Schlacht, ursprünglich ein lustig Studentenlied aus der Zeit, da weder die Vollendung des Denkmals noch die der deutschen Einheit sehr wahrscheinlich erschien, wurde 1875 zur Einweihung des Hermannstandbildes am 16. August neu ausstaffiert, umredigiert und mit einer volkstümlichen Melodie versehen. Es wurde auch ─ eigentlich wider die eigentliche Stimmung bei seiner Abfassung ─ das Festlied jenes Tages und als fliegendes Blatt mit Jllustrationen und Noten vielfach verbreitet .... Daß viele Textänderungen vorgenommen wurden, entspricht der veränderten Sachlage; von wem dieselben herrühren, ist mir nicht erinnerlich“ .... Demnach illustriert dieses Lied, wie kein zweites Volkslied, die Wahrheit des am Schluß des § 51 d. Bds. vom Volksliede Gesagten. Mit großer Kühnheit brachte das Volk unbekümmert um den Dichter seine Änderungen an, ja, es dichtete sogar neue Strophen hinzu. Und in dieser neuen Volks-Redaktion hat das Gedicht seit 1875 seinen Weg in die Volksliederbücher gefunden. Wir halten es für ersprießlich, beide Formen zu vermitteln: Originaldruck aus V. v. Scheffels Gaudeamus. 32. unveränderte Aufl. 1878. S. 44. Die Teutoburger Schlacht. Als die Römer frech geworden, Zogen sie nach Deutschlands Norden, Vorne beim Trompetenschall Ritt der Generalfeldmarschall, Herr Quinctilius Varus. Doch im Teutoburger Walde Huh, wie pfiff der Wind so kalte; Raben flogen durch die Luft Und es war ein Moderduft Wie von Blut und Leichen. Plötzlich aus des Waldes Duster Brachen krampfhaft die Cherusker; Mit Gott für Fürst und Vaterland Stürmten sie von Wut entbrannt Gegen die Legionen. Weh! das ward ein großes Morden. Sie erschlugen die Kohorten; Nur die römische Reiterei Rettete sich noch in's Frei', Denn sie war zu Pferde. Druck aus dem Allg. Reichs-Commersbuch von Müller v. d. Werra. Leipz. Breitkopf u. Härtel. S. 289. Quinctilius Varus. Als die Römer frech geworden, Zogen sie nach Deutschlands Norden, Vorne mit Trompetenschall Zog der Gen'ral=Feldmarschall Herr Quinctilius Varus. Jn dem Teutoburger Walde, Huh! wie pfiff der Wind so kalte! Raben flogen durch die Luft Und es war ein Moderduft, Wie von Blut und Leichen. Plötzlich aus des Waldes Duster Brachen krampfhaft die Cherusker. Mit Gott für Fürst und Vaterland Stürmten sie, von Wut entbrannt, Gegen die Legionen. Weh, das war ein großes Morden, Sie erschlugen die Kohorten. Nur die röm'sche Reiterei Rettete sich in das Frei', Denn sie war zu Pferde. O Quinctili! armer Feldherr! Dachtest du, daß so die Welt wär'? Er geriet in einen Sumpf, Verlor zwei Stiefel und einen Strumpf Und blieb elend stecken. Da sprach er voll Ärgernussen Zum Centurio Titiussen: „Kamerade, zeuch dein Schwert hervor Und von hinten mich durchbohr, Da doch alles futsch ist.“ Jn dem armen römischen Heere Diente auch als Volontaire Scävola, ein Rechtskandidat, Den man schnöd gefangen hat, Wie die Andern Alle. Diesem ist es schlimm ergangen; Eh, daß man ihn aufgehangen, Stach man ihn durch Zung' und Herz, Nagelte ihn hinterwärts Auf sein Corpus Juris. Als die Waldschlacht war zu Ende, Rieb Fürst Hermann sich die Hände Und um seinen Sieg zu weih'n Lud er die Cherusker ein Zu 'nem großen Frühstück. Nur in Rom war man nicht heiter, Sondern kaufte Trauerkleider. Grade als beim Mittagmahl Augustus saß im Kaisersaal, Kam die Trauerbotschaft. Erst blieb ihm vor jähem Schrecken Ein Stück Pfau im Halse stecken, Dann geriet er außer sich Und schrie: „Varus, Fluch auf Dich! Redde Legiones!“ Sein deutscher Sclave, Schmidt geheißen, Dacht': „Jhn soll das Mäusle beißen, Wenn er sie je wieder kriegt, Denn wer einmal tot da liegt, Wird nicht mehr lebendig.“ O Quinctili, armer Feldherr! Dachtest du, daß so die Welt wär'?! Er geriet in einen Sumpf, Verlor zwei Stiefel und einen Strumpf Und blieb elend stecken. Da sprach er voll Ärgernussen Zu Herrn Centurio Titiussen : „Kamerade, zeuch dein Schwert hervor Und von hinten mich durchbohr, Weil doch Alles futsch ist.“ Jn dem armen röm'schen Heere Diente auch als Volontaire, Scaevola , ein Rechtskandidat, Den man schnöd' gefangen hat, Wie die andern alle. Diesem ist es schlecht ergangen, Ehe, daß man ihn aufgehangen, Stach man ihm durch Zung' und Herz, Nagelte in hinterwärts Auf sein Corpus Juris . Als das Morden war zu Ende, Rieb Fürst Hermann sich die Hände, Und um sich noch mehr zu freu'n, Lud er die Cherusker ein, Zu dem großen Frühstück. Hui, da gab's westphäl'sche Schinken, Bier soviel sie wollten trinken. Selbst im Zechen blieb er Held; Doch auch seine Frau Thusneld Trank als wie ein Hausknecht. Nur in Rom war man nicht heiter, Sondern kaufte Trauerkleider, Grade, als beim Mittagmahl Augustus saß im Kaisersaal, Kam die Trauerbotschaft. Erst blieb ihm vor jähem Schrecken Ein Stück Pfau im Halse stecken, Dann geriet er außer sich Und schrie! Varus , Fluch auf dich! Redde legiones ! Sein deutscher Sclave, „ Schmidt “ gegeheißen, Dacht': „Jhn soll das Mäusle beißen, Wenn er je sie wieder kriegt! Denn wer einmal tot da liegt, Wird nicht mehr lebendig.“ Und zu Ehren der Geschichten That ein Denkmal man errichten, Deutschlands Kraft und Einigkeit, Verkündet es jetzt weit und breit: „Mögen sie nur kommen!“ Und zu Ehren der Geschichten Will ein Denkmal man errichten. Schon steht das Piedestal, Doch wer die Statüe bezahl', Weiß nur Gott im Himmel. Wem ist dieses Lied gelungen? Ein Studente hat's gesungen. Jn Westphalen trank er viel, Drum aus Nationalgefühl Hat er's angefertigt. § 66. Das gesellige Lied. Man unterscheidet drei Arten von geselligen Liedern: 1. Gesellschaftliches Lied, 2. Anakreontisches Lied, 3. Skolion. 1. Gesellschaftliches Lied . Diejenigen Gedichte, welche der Freundschaft, der Freude und den Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens gewidmet sind, die Gelegenheitsgedichte, wie Geburgstags=, Tauf- und Hochzeitslieder, Weinlieder, Trinklieder, Wanderlieder u. s. w. nennt man gesellige Lieder oder Gesellschaftslieder. Die geselligen Lieder sind meist Gelegenheitsgedichte. Das ist kein Vorwurf, denn die schönsten Dichtungen der deutschen Lyrik im Mittelalter, der Proven ç alen, der Jtaliener und Franzosen sind Gelegenheitsgedichte. (Vgl. § 7 d. Bds.) Die Minnesinger wußten durch ihre Subjektivität den Gelegenheitsmotiven eine poetische Seite abzugewinnen; weniger die schlesische Dichterschule, die jede Taufe und Hochzeit besang, und deren Dichter ganze Bände dieser Sorte von Gelegenheitsgedichten drucken ließen. (Vgl. Bd. I S. 34.) Goethes Gelegenheitsgedichte waren die Vereinigung seiner Empfindung mit dem wirklichen Leben. Nachdem Goethe den Namen und den Begriff des Gelegenheitsgedichtes erklärt und gehoben hatte, ist Rückert geradezu als Virtuos desselben bezeichnet worden, d. h. als ein Dichter, der, was ihm im Leben und Studium in weitesten, engern und engsten Sphären aufstieß, in ein Gedicht verwandelte. Aus der großen Zahl von Gesellschaftsliedern, in denen eigentlich jeder Dichter etwas geleistet hat, und von denen manche zu Volksliedern wurden, erwähnen wir nur: Fischart (Der liebste Buhle, den ich han. Uhlands Volksl. 214 A und B ); Goethe ( I . Bd. Ausg. 1840. S. 87 bis 124, z. B. Mich ergreift, ich weiß nicht wie“; Mit Mädchen sich vertragen; Ergo bibamus ; das dem Volkston nachgebildete Stiftungslied: Was gehst du, schöne Nachbarin, im Garten so allein?); Rückert (Einladung auf's Land; Entschuldigung und Einladung; Verwahrung); Wilh. Müller (Die Arche Noah; Doppeltes Vaterland &c.); Kugler (Gesellige Lieder); Justinus Kerner (Wohlauf! noch getrunken); Daumer (Liederblüten des Hafis); Usteri (Freut euch des Lebens); Kotzebue (Es kann ja nicht immer so bleiben); Miller (Was frag ich viel nach Geld und Gut); Hölty (Wer wollte sich mit Grillen plagen). Hoffmann v. Fallersleben hat unter dem Titel: „Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts“ eine Sammlung solcher Lieder herausgegeben &c. Desgleichen im G. J. Göschenschen Verlag F. W. Freih. v. Ditfurth 100 Volks- und Gesellschaftslieder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit und ohne Singweisen, sowie 100 unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihren zweistimmigen Singweisen. Beispiel des geselligen Liedes. Trinklied von Hoffmann v. Fallersleben. Den Stöpsel weg! und schenket ein! Schenkt ein, daß unser Herz erglühe Und wie die Blum' am Sonnenschein, So an der Glut des Weins erblühe! Den Stöpsel weg! dann wird es klar: Was sich in einem Nu gefunden, Das ist sogleich für jedes Jahr, Ja für die Ewigkeit verbunden. So recht! jetzt werft den Stöpsel fort! Ei, der verfluchte Kerkermeister, Der wollt' uns zwinghern Wein und Wort, Und trennen alle guten Geister! Der Stöpsel war Philisterei, Die uns nichts Gutes wollte gönnen ─ Die Flasch' und unser Herz ist frei, Und wir, wir zeigen, was wir können. Drum trinken wir, von Fr. Storck. Wir trinken, weil wir durstig sind, Und weils uns eben schmeckt; Weil Leib und Geist an Kraft gewinnt, Zu Licht und Mut uns weckt. Weil Sorg und Leid beim vollen Glas Jn Lust sich wandelt schier, Und weil uns Gott geschenkt das Naß: Drum, Brüder, trinken wir. 2. Das Anakreontische Lied . Das Anakreontische Lied besingt meist Liebe, Wein und Lebensgenuß. Es hat anmutigen, leichten, lyrischen, sangbaren Charakter und liebt Maßhalten im feineren Takte. Es ist einfach, leicht, naiv. Seinen Namen hat es von dem griechischen Dichter Anakreon (geb. 550 v. Chr), dessen 67 uns erhaltenen Liedern es nachgebildet ist. Seit Gleim leichte Gedichte als „Lieder nach dem Anakreon“ (1766) erscheinen ließ, sind eine Menge sog. anakreontischer Gesellschaftslieder erschienen. Viele Anakreontika sind läppisch, matt und haben oft kaum den Stoff gemein mit denen Anakreons, der es verstand, in frischen Farben leicht tändelnd seine dichterischen Gedanken in anmutige Form zu kleiden. Die ursprüngliche Anakreontische Versart bestand aus 2 steigenden Jonikern. Bei uns ist folgende, der ersten Hälfte des neuen Nibelungenverses entsprechende Form am häufigsten: ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑, wobei die 2. Verszeile (zuweilen auch die 1.) verkürzt sein kann. Wilh. Buchholz bedient sich in seinem „Anakreontischen Liedchen“ (vgl. deutsche Lyriker von Kneschke und Moltke. Leipzig, Theile 1873. S. 86) des viertaktigen Trochäus. Beispiel des anakreontischen Liedes: Lied von Gleim. Rings um mich her ist Freude, Schön ist's, wohin ich seh; Jm Feld und auf der Weide, Jm Thal und in der Höh! Für mich schuf deine Güte, O Gott, die Welt so schön! Für mich ist Frucht und Blüte Jn Thälern und auf Höhn. Für mich ist Freud' und Wonne Hier, wo dein Ruhm erschallt! Für mich bestrahlt die Sonne Die Felder und den Wald! Für mich spielt das Getümmel Der Herden auf der Au! Für mich wölbt sich der Himmel So heiter und so blau! Für mich sind jene Gründe So lieblich anzusehn! Für mich wehn kühle Winde! Für mich ist alles schön. Du Schöpfer dieser Wonne Wie gütig mußt du sein! Mit jeder Morgensonne Will ich mich Deiner freun! (Vgl. noch Gleims Anakreontika Der Vorsatz, und Die schöne Gegend, welch letzteres Lied mehrere Zeilen des obigen Liedes wiederholt, indem es beginnt: Für mich bestrahlt die Sonne Die Wälder und die Aun u. s. w.) 3. Skolion . Man versteht unter Skolien kurze Trinklieder, improvisierte Gedichte bei Gastmählern und dergleichen. Bei den Griechen waren Skolien lediglich Tischlieder oder Rundgesänge. Bloß einzelne Tischgenossen sangen sie, wie sie ihnen Laune oder Talent eingaben. Man nannte sie auch Schlangenlieder, oder auch Zickzacklieder. Der Skoliensänger mußte einen Lorbeer- oder Myrtenzweig in die Hand nehmen, der sodann dem folgenden Sänger überreicht wurde. Sie folgten den ersten, dem Lobe der Götter geweihten Gesängen und waren meist scherzhaft, satirisch, launig. Jhr Gegenstand war Liebe und Wein. Zuerst wurden sie von Terpander aus Antissa (650 v. Chr.) gesungen. Es giebt Skolien, deren Versmaß ein besonderes und strenges ist. Meist waren sie nur einstrophig, wie ja überhaupt die älteste Lyrik in Griechenland oft mit einer Strophe sich begnügte. Als Skoliendichter bei den Griechen sind zu nennen: Alkäos, Pindar, Simonides. Die Skolien des Pindar waren länger als die übrigen und der Chor tanzte zu ihnen einen Reigen. Beispiel des deutschen Skolion: Über meinen eignen Kopf Bin ich nicht im Reinen, Hab' ich wie ein andrer Tropf, Einen oder keinen? Jn der Schenke, wann der Wein Mir zu Kopfe steiget, Fühl ich erst, der Kopf ist mein, Und der Zweifel schweiget. (Rückert.) Wenn einst der alte Knochenhauer Mit unserm Freunde Punktum macht, So werde ihm statt aller Trauer Ein Gläschen Wein auf's Grab gebracht. Dies nehm' er als Viaticum Hinüber in's Elysium. (Trinkspruch.) Man vgl. noch die vielen meist einstrophigen Rundgesänge und Trinksprüche unserer Kommersbücher; ferner Matthissons Skolie (Gedichte S. 75) &c. § 67. Elegisches Lied. Man versteht unter elegischem Lied das Lied, welches sanfte, leidenschaftslose Empfindungen erklingen läßt, z. B. ruhige Klagen über entschwundenes Glück, zarte Wehmut, süße Sehnsucht. Sein Charakter ist somit Ruhe und sanftes Gefühl. Elegisch sind alle Lieder, welche der Sehnsucht und der Bangigkeit, dem Trennungsschmerz und der Trauer klagenden Ausdruck verleihen, welche das Verwelken, das Vergehen alles Schönen, Erhabenen, Edlen betrauern, welche zu trösten versuchen, deren Grundton (man vgl. viele Liebeslieder, Heldenlieder, Vaterlandslieder, Freiheitsgesänge &c.) Trauer um ein verlorenes oder wenigstens um ein bedrohtes Jdeales ist. Von der im heroischen Aufschwung einherschreitenden Elegie (§ 75) unterscheidet sich das sanfte, gemütsinnige, elegische Lied dadurch, daß es der unmittelbare Erguß voller subjektiver Empfindung, also reiner Lyrik ist, während die sinnig verweilende Elegie reflektierende Überlegung und Betrachtung zuläßt und somit an der Grenze zwischen Lyrik und Didaktik steht. Der große überflutende Schmerz kann sich in der Elegie, und auch in der Ode ergießen, nimmermehr aber im zarten, in Wehmut und einer harmonischen Herzensstimmung gipfelnden, ruhig dahinfließenden, den Schmerz in stiller Klage erklingen lassenden elegischen Lied. Die Wehmut an sich gehört nicht unbedingt zum Wesen des elegischen Lieds, obwohl dieses eine wehmütige Art der Auffassung sehr begünstigt Beispiele des elegischen Liedes. a . Die Schiffersfrau von Herm. Lingg. Wir sahn dem Schiff am Ufer nach, Bis Wind die Segel fingen, Bis über die See das Dunkel brach, Und die Augen übergingen, Dann kehrten wir heim, allein und zerstreut, Wir Frauen und Töchter der Schifferleut'. Seitdem ist's nun im zweiten Jahr, Daß Dich die Wogen treiben, Du irrst durch ferne Todesgefahr, Und ich muß Witwe bleiben. Jch schaukle zu Haus in der Wiege Dein Kind, Und Dich, Dich schaukelt der wilde Wind. Oft fallen mir alle die Namen bei Von Männern, die untergegangen, Von denen wir oft am Abend zu zwei Die traurigen Lieder sangen. Vergessene Menschen in fremder Tracht Besuchen mich oft im Traume der Nacht. Sie schütteln ihr lang' durchnäßtes Haar, Und grüßen, wie fremde Boten, Sie reichen einen Ring mir dar Und Grüße von dem Toten, Von Dir, von Dir ─ Jch erwach' und wein' Und schlafe die Nacht nicht wieder ein. Es lechzt vielleicht Dein heißer Mund, Und ich kann Dich nicht laben, Du liegst vielleicht im Meeresgrund Sarglos und unbegraben! Ach, daß ich selbst den Trost verlier', Jm Frieden einst zu ruhn bei Dir. b . Das Bächlein, von Rückert. Das Bächlein zieht von dannen, Läßt grün den Rand zurück, Wie Freuden, die verrannen. Doch fühl' ich noch das Glück. Das Bächlein fließt danieder, Beständig neu und voll; Mir aber kehrt nie wieder, Was einst im Herzen schwoll. (Vgl. die elegischen Herbstlieder Rückerts Ges.=Ausg. II 576.) Nach Jahren, von Alex. Kaufmann. O, es war eine schöne, schöne Zeit ─ Der Rhein floß stolz, der Rhein floß grün, Und wir fuhren in Jugendseligkeit, Die Herzen so voll, der Mut so kühn! O, es war eine fröhliche, fröhliche Zeit ─ Die Mädchen blühten so jung, so schön; Es war, als flöss' in Ewigkeit Der rote Morgen um alle Höh'n; Als gingen nimmer die Lieder aus, Als welkte nimmer der kecke Mut; ─ Verklungen ist längst der tolle Braus, Ringsum ward's still, stumm zieht die Flut. Die Jugend schwindet, die Freude flieht, Manch' Leben verrauschte, manch' Leben verrann; ─ Ein einsamer Vogel schweift mein Lied Um den einsam rauschenden wilden Tann. Weitere Beispiele des elegischen Liedes sind: Uhland: Die Kapelle. Der Wirtin Töchterlein. H. Heine: Das gelbe Laub. Ferner: „Jch hab' im Traum geweinet“ u. a. Melchior Meyr: Frühlingstrauer. Mörike: Verborgenheit. J. Mosen: Sehnsucht. Eichendorff: Das zerbrochene Ringlein. Goethe: Rastlose Liebe. Feuchtersleben: Es ist bestimmt in Gottes Rat. Jul. Sturm: Jm Frühling. Hoffmann v. Fallersleben: Die Leidtragenden. Lenau: Blick in den Strom. v. Leitner: Der Auswanderer. Rückert: Bleibet im Lande. Das ruft so laut. Bürger: Feldjägerlied. Amara George: Verlassen und allein. Fr. Storck: Ade, mein Lieb, ade! (Aus dem tief empfundenen Cyklus: Scheiden und Meiden! Vgl. noch dessen Daheimlieder und Auf dem Friedhof in „Lyrik“ 1876. S. 23 ff.) Herwegh: Reiterlied. Karl Siebel: Deine Sterne. Begrabe deine Toten. Faust Pachler: Vor der Reise. Angekommen. (Jm lyrischen Cyklus: Rohitscher Brunnenkur.) (Es ist instruktiv, aus den früher gegebenen Beispielen die elegischen Gedichte auszuwählen.) § 68. Jdyllisches Lied. Das idyllische Lied ist der Gegensatz des elegischen. Sein Charakter ist heitere, frohe, hoffnungsreiche Stimmung. Schiller sagt: „Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Jdeal der Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten überwiegt und das Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn elegisch.“ Er fügt dann hinzu: „Entweder ist die Natur und das Jdeal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden.“ Somit unterscheidet Schiller je nach dem Unterschied in der Empfindungsweise zwischen elegischem und idyllischem Liede. Jn der That ist das idyllische Lied der Gegensatz des elegischen, insofern das subjektive Empfinden die Freude an der Natur mit so schönen Farben malt, daß das Gefühl eines Gegensatzes zwischen Natur und Jdeal in uns gar nicht Platz greifen kann. Das idyllische Lied gestattet keinen Blick auf den Unbestand des Seienden, sondern lediglich den Blick auf jene freudigen Gefilde, welche der schönen Zukunft entblühen. Jhm ist z. B. der Winter die Voraussetzung des Frühlings, der Tod bringt ihm das Wiedersehen, der Schmerz die Freude. Beispiele des idyllischen Liedes. Frühlingsahnung, von Uhland. O sanfter, süßer Hauch! Schon weckest du wieder Mir Frühlingslieder. Bald blühen die Veilchen auch. Morgenlied, von P. A. Wolf. Die Sonn' erwacht! Mit ihrer Pracht Erfüllt sie die Berge, das Thal; O Morgenluft! O Waldesduft! O goldener Sonnenstrahl! Mit Sing und Klang' Die Welt entlang! Wir fragen woher nicht, wohin. Es treibt uns fort Von Ort' zu Ort' Mit freiem, mit fröhlichem Sinn' &c. Er ist's! von E. Mörike. Frühling läßt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte, Süße, wohlbekannte Düfte Streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, Wollen balde kommen. ─ Horch! von fern ein leiser Harfenton! Frühling, ja, du bist's! Dich hab' ich vernommen! Weitere Beispiele idyllischer Lieder. S. Dach: Der Mensch hat nichts so eigen. H. Heine: Leise zieht durch mein Gemüt. W. Müller: Frühlingseinzug. Das Wandern ist des Müllers Lust. Jch hört' ein Bächlein rauschen. Halt! Kinderlust. Geibel: Der Mai ist gekommen. Die Liebe saß als Nachtigall. Goethe: Bundeslied. Tischlied. Vanitas &c. Claudius: Weihelied. (Stimmt an mit hellem, hohem Klang.) Hoffmann v. Fallersleben: Winters Flucht. Eichendorff: Frühlingsgruß. Schenkendorf: Unsere Muttersprache. Uhland: Frühlingsruhe. Die Lerchen. Arndt: Scherz. Reinick: Heraus. Tieck: Vogelgesang. Aug. Stöber: Die Mutter. Fontane: Guter Rat. Pfarrius: Wie es den Sorgen erging. Fr. Kugler: Wanderlied. Faust Pachler: Kurmusik (a. a. O. S. 25, vgl. § 67) u. s. w. (Die Bemerkung am Schluß des § 67 gilt auch für das idyllische Lied.) Geistliches Lied. § 69. Geistliches oder andächtiges Lied. Erblüht das Lied aus einer andächtigen Stimmung, oder stammt sein Jnhalt aus der Religion, so kann man es ein andächtiges oder geistliches Lied nennen. Seine zwei Formen sind: 1. das religiöse Lied, 2. das Kirchenlied. 1. Das religiöse Lied . Das religiöse Lied besingt in würdevollem Tone einen religiösen Gegenstand, oder beschäftigt sich mit den Gefühlen der Andacht, der Reue, der Liebe zu Gott und dem Nächsten, ─ das Verhältnis zu Gott in rein menschlicher Weise auffassend. Erhebung des gläubigen Gemüts, zuversichtliches Hoffen und gläubiges Vertrauen auf Gott ist der Jnhalt des religiösen Lieds. Es äußert sein religiöses, gottergebenes Gefühl im Hause wie in der Natur. Es will sagen, was des Menschen Brust bewegt, wenn er des allliebenden Vaters gedenkt, der ihn mit täglichen Wohlthaten überhäuft. Aus jeder Verszeile ersieht man das Abhängigkeitsgefühl des Dichters von einem allliebenden Wesen und den Glauben an eine Vorsehung. Beispiele des religiösen Liedes. Leben wir, von Rückert. (Sein letztes 1861 gedichtetes religiöses Lied.) Leben wir, so leben wir dem Herren, Sterben wir, so sterben wir dem Herrn, Wer kann uns zu ihm den Zugang sperren? Er ist überall, uns nirgends fern. Dessen Hand durch's Leben uns geleitet, Auch im Tode bleibt uns ihr Geleit; Wer die Zeit mit Gottvertrau'n durchschreitet, Geht mit Gottvertrau'n zur Ewigkeit. Deine Hand wird schützend mich bedecken, Wo des Grabes Dunkelheit mich deckt; Aus dem Grabe wird dein Hauch mich wecken, Der den Lenz im Winter auferweckt. Die Nähe des Herrn, von Novalis. Wenn in bangen trüben Stunden Unser Herz beinah verzagt, Wenn, von Krankheit überwunden, Angst an unserm Jnnern nagt, Wir der Treugeliebten denken, Wie sie Gram und Kummer drückt, Wolken unsern Blick beschränken, Die kein Hoffnungsstrahl durchblickt; O, dann neigt sich Gott herüber, Seine Liebe kommt uns nah, Sehnen wir uns dann hinüber, Steht sein Engel vor uns da, Bringt den Kelch des frischen Lebens, Lispelt Mut und Trost uns zu, Und wir beten nicht vergebens Auch für der Geliebten Ruh. (Vgl. Wenn ich nur ihn habe, von Novalis.) Gott grüße dich, von Julius Sturm. Gott grüße dich! kein andrer Gruß Gleicht dem an Jnnigkeit. Gott grüße dich! kein andrer Gruß Paßt so zu aller Zeit. Gott grüße dich! wenn dieser Gruß So recht vom Herzen geht, Gilt bei dem lieben Gott der Gruß Soviel, wie ein Gebet. Weitere Beispiele des religiösen Liedes. J. A. Cramer: Der menschliche Geist. R. Reinick: Weihnachtsfest. (Der Winter ist gekommen.) W. Wackernagel: Der Christbaum. K. Mayer: Glockenlaute. Arndt: Himmelfahrt. Grüneisen: Hinauf. Fr. v. Schlegel: Der Ewige. Herder: Das Saitenspiel. Eichendorff: Wer hat dich, du schöner Wald. G. Jakobi: Gott in der Natur. Geibel: Morgenwanderung. Gute Nacht. Wilh. Müller: Das Frühlingsmahl. Ad. Stöber: Wachtelschlag. A. Knapp: Der Morgenstern. Spitta: Kehre wieder, kehre wieder. K. Gerok: Kindergottesdienst. Fr. Eggers: Trost, u. a. 2. Das Kirchenlied . 1. Zum Kirchenlied wird das geistliche Lied, wenn es in Sprache und Gedanken bestimmte Beziehungen auf die kirchlichen Dogmen und den Kultus der bestimmten Konfession nimmt, wenn es, von epischen Motiven ausgehend, von Jesu Leben und Leiden erzählt &c. Das Kirchenlied unterscheidet sich vom geistlichen Lied, wie sich das Volkslied vom Lied der Kunstpoesie unterscheidet. Es kann sich Niemand hinsetzen, ein Volkslied oder Kirchenlied zu dichten; er muß warten, ob sein Lied je zum Volks- oder Kirchenliede wird. Kirchenlied == geistliches Volkslied, auch da, wo es einen bekannten Verfasser hat. Weil es Anklang fand, ist es in die Volksgesangbücher gekommen, und es fand Anklang, weil es das christliche Gesamtbewußtsein, das christliche Gesamtbekenntnis aussprach. 2. Von großem Einfluß auf die Entwickelung des Kirchenlieds war die hebräische Lyrik. 3. Luther wurde der Begründer des evangelischen Kirchenlieds. 4. Eine Epoche in der Geschichte des Kirchenlieds bildet Paul Gerhardt. Die wertvollste Sammlung von Kirchenliedern hat Ph. Wackernagel herausgegeben. 1. Das Kirchenlied hatte ursprünglich den Zweck, dem liturgischen Kirchengebrauche zu dienen. Seine Bezugnahmen auf den kirchlichen Lehrbegriff befähigten es, das Evangelium zu verbreiten und den neuen Glauben zu beleben. Oft knüpfte der Dichter des Kirchenlieds an die Erzählung vom Leben Jesu die Entwickelung jener inneren Zustände, welche die Betrachtung derselben weckt. Jnsofern ist das Kirchenlied episch=lyrisch. Geht der Dichter weiter und durchdringt er seine epische Grundlage mit einem subjektiven, persönlichen Motiv, mit einem Seelenvorgang, der nur ihm gehört, dann ist sein Lied subjektives geistliches Lied, nicht aber Kirchenlied der Gemeinde. Dies ist der Grund, weshalb die katholische Kirche, bei welcher zur christlichen Geschichte ─ so zu sagen ─ noch ein Stück christlicher Mythologie in der Legende hinzu kommt, mehr episch=lyrische Kirchenlieder, und die protestantische mit ihrer Verinnerlichung des Gefühls mehr echt lyrische geistliche Lieder hat. Da, wo in der protestantischen Kirche durch das geistliche Lied dogmatische und moralische Tendenzen verfolgt werden, wird das geistliche Lied meist lyrisch=didaktisch. Dies findet man besonders bei den geistlichen Liedern des 17. u. 18. Jahrhunderts, wo dogmatische und moralische Bestrebungen die Signatur der ecclesia militans bildeten. Nur wenige Dichter, wie z. B. Paul Gerhardt, Benjamin Schmolcke, Gellert, Spee, oder bei den Herrnhutern Baptista von Albertini († 1831), Garve († 1841) &c. blieben rein lyrisch und haben sich daher für alle Zeiten den Namen geistlicher Lyriker gesichert. 2. Was die geschichtliche Seite des Kirchenliedes anlangt, so wurzelt dasselbe in den lateinischen Gesängen der christlichen Kirche und der altchristlichen Hymnen. Als Erbteil aus dem Schoße der Religion des alten Bundes hat die junge christliche Kirche die Sitte des Psalmengesangs erhalten. Wie Jesus bei der Stiftung des Abendmahls die bei der Passafeier gebräuchlichen Psalmen, das große Halleluja, anstimmte, so folgten auch die Christen seinem Beispiel. Der Gesang von Psalmen wurde fester Bestandteil ihres Gottesdienstes. Der neue Jnhalt des gläubigen Gemüts suchte jedoch ein neues Lied und fand einen begeisterten neuen Ausdruck in der Dichtung neuer Hymnen, die sich schon früh neben dem alttestamentlichen Hymnus einbürgerten. Die altchristliche Hymnik nahm von dem Geiste des klassischen Altertums neue Formen, Ausdrücke und Bilder an. Die christliche Hymnendichtung wurde zum Kunstgesang, der in vollendeter Form die Heilsthat Christi pries. Diesen Charakter behielt sie bis zur Reformation. Weder Gregor der Große, der mit Vorliebe die klassischen Versmaße gebrauchte, noch der Mönch Notker von St. Gallen, der die Sequenzen einführte, hat der christlichen Hymnendichtung neue Bahnen gezeichnet. Auch die Leiche (vgl. Bd. I . S. 620 ff.), welche als Grundlage des deutschen Kirchenlieds zu betrachten sind und dem Volke Ersatz für die altheidnischen Volkslieder bieten sollten, hatten nur die nüchternen, christlichen Wahrheiten zum Gegenstande und blieben, unbeeinflußt von dem Geiste der hebräischen Lyrik, meist matt und ohne Schwung. Die deutsche Gemütsinnigkeit sehnte sich nach einem geistlichen Volkslied in der Muttersprache, und diese Sehnsucht war auf's höchste gestiegen, als man sah, wie das Volk in Böhmen Lieder in seiner Muttersprache sang. (Auch Ephraim Syrus hatte nach dem Vorgang des Gnostikers Bardesanos syrische Kirchenlieder verfaßt, wie ja auch die griechische und die armenische Kirche solche in eigener Sprache hatten.) 3. Da kam Luther, die wittenbergische Nachtigall, und setzte an Stelle des lateinischen Hymnus das deutsche Kirchenlied, an dem sich die Gemeinde beteiligen durfte. Er wurde der Begründer des Kirchenlieds (wenn auch nicht der Begründer des Kirchenlieds in der Vulgärsprache, denn schon im 9. und 13. Jahrhundert finden sich Spuren deutscher Kirchenlieder. H. Hofmann teilt in seiner Geschichte des deutschen Kirchenlieds, Breslau 1832, mit, daß man 1323 in Bayern lateinisch sang. Jm 14. Jahrhundert erst begann man die lateinischen Kirchengesänge in's Deutsche zu übersetzen. Einer der ersten Übersetzer war der Benediktinermönch Hermann in Salzburg. Früher war das Singen kirchlicher Lieder, wie das Bibellesen, von der Kirche verboten). Erst durch Luther wurde das deutsche volkstümliche Kirchenlied auf die höchste Stufe seiner Vollendung gebracht. So etwas Tiefreligiöses, Herrliches kann kein Volk aufweisen, als die deutschen kirchlichen Lieder der Reformation. Sie boten gemeinsam Erlebtes, Volksmäßiges in volksmäßigen Formen, oft in bekannten Volksliedermelodieen. „Der Handwerksgesell sang sie bei seiner Arbeit, die Dienstmagd beim Schüsselwaschen, der Ackersmann auf dem Acker und die Mutter sang sie dem weinenden Kinde vor.“ (Kath. Zellin in der Vorrede zu einem Gesangbuche.) Das war der Grund weshalb die Gegner Luthers dieses kirchliche Volkslied so sehr anfeindeten. Von Luthers 38 kräftigen Kirchenliedern wurden besonders die folgenden zu religiösen Volksliedern: „Ein' feste Burg ist unser Gott,“ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir,“ „Nun bitten wir den heil'gen Geist,“ „Wir glauben all' an einen Gott,“ „Es woll' uns Gott genädig sein.“ Ein großer Teil der Lieder Luthers geht auf eine Umarbeitung der lateinischen Hymnen und geistlichen Volkslieder zurück. Aber Luther begnügte sich nicht mit Nachbildungen. Er hat auch einzelne Psalmen für den gottesdienstlichen Gesang umgedichtet. „Ein' feste Burg ist unser Gott“, ist als freie Schöpfung aus dem 46. Psalm hervorgegangen. Nicht verwendet hat er hierbei die kraftvollen Bilder und poetischen Vergleichungen der Psalmen: diese mußten erst durch die Bibelübersetzung dem Volke näher gebracht werden, bevor man sie für das Kirchenlied benützen konnte. Beim geistlichen Lied, welches nicht für den Kirchengesang bestimmt war, bediente sich Luther der Bilder und der Ausdrucksweisen der alttestamentlichen Lyrik. Er hat das Verdienst, die Forderung aufgestellt zu haben, daß das Kirchenlied subjektiv=lyrisch sein müsse und daß es sich an die alttestamentliche Lyrik anzuschließen habe. Bei ihm findet sich nichts Gezwungenes, nichts Eingebildetes oder Verdorbenes. Durch seine Bibelübersetzung hat er die Förderung schriftgemäßer Poesie ermöglicht: das deutsche Kirchenlied erhielt fortan das Element seiner geistigen und sprachlichen Ausbildung von seiner Bibelübersetzung. Angesichts dieser Bedeutung Luthers für das evangelische Kirchenlied ist die Frage aufzuwerfen, wie die einzelnen Dichter den Forderungen Luthers entsprochen haben. Der hohe Aufschwung, den das Kirchenlied durch Luther genommen, war von kurzer Dauer. Jn den religiösen Streitigkeiten der Folgezeit verlieren die Kirchenlieder ihren geistigen Schwung. Die folgende Periode von Ringwaldt bis Heermann war Übergangszeit. Die Lieder sind teils noch befangen in der trockenen, dogmatischen Weise der vorigen Periode, teils zeigen sich die Anfänge subjektiver Poesie. Die Zeit des dreißigjährigen Krieges ist eine Blütezeit des evangelischen Kirchenliedes. Es ist die Poesie der geängsteten und betrübten Seelen, die sich auf's engste anschließt an die Psalmen, denen sie an subjektiver Gefühlswahrheit an die Seite gestellt werden kann. Äußerlich wurde durch Martin Opitz eine Umwandlung insofern hervorgerufen, als derselbe an Stelle der Silbenzählung Silbenmessung treten ließ. Bedeutsam ist, daß auch er die Psalmen seiner Lyrik zu Grunde legte. Jhm folgten Paul Flemming, Simon Dach und andere, die jedoch mehr den kernhaften Jnhalt, als die Bilder der alttestamentlichen Lyrik zum Ausdrucke brachten. Dieser Blütezeit reihte sich eine Zeit des Verfalls an: die Kraft der Nation war durch den ungünstigen westfälischen Frieden erschüttert. Es lag die Gefahr nahe, daß das Kirchenlied seine seitherige Glaubensinnigkeit und Frische einbüßen und die innere Kraft mit einer äußerlichen Form vertauschen würde. 4. Da trat ein Mann auf, der dem Kirchenlied die geschwundene Frische wieder zurückgab: Paul Gerhardt. Mit ihm beginnt eine neue Blüte des Kirchenliedes. Seine sinnlich lebendige Darstellungsweise, seine würdige Sprache verdankte er seinem Studium der alttestamentlichen Poesie. Die andere Seite der Bedeutung Paul Gerhardts liegt darin, daß er der Urheber jener Richtung wurde, welche im Kirchenlied neben dem Gemeindebewußtsein auch das persönliche Gefühlsleben geltend machte. Die individuelle Lebendigkeit entfaltete sich immer mehr, besonders durch Gellert, dessen bewußtes Zurückgehen auf die hebräische Lyrik das Kirchenlied abermals in eine neue Periode lenkte. Er stellte die Forderung Luthers auf, daß in den geistlichen Liedern die Sprache der Schrift herrschen müsse. Klopstock nahm die Mittel seiner schwungvollen rhetorischen Ausdrucksweise nicht aus der Schrift. Mit der Zeit der Aufklärung beginnt eine trübe Zeit für das evangelische Kirchenlied: durch eine vermeintliche Verbesserung und Umdichtung der alten Kirchenlieder werden dieselben stark entstellt. Erst Ernst Moritz Arndt trat für die Befreiung des Kirchenliedes von diesen unnatürlichen Fesseln ein. Als er ein neues geistliches Lied sang und die romantische Schule wiederum das Element kindlicher Frömmigkeit hineintrug in das verwässerte, mattgewordene Kirchenlied, da griff man wieder zurück auf die Sprache der alttestamentlichen Lyrik. Wir dürfen behaupten, daß das Kirchenlied überall da, wo es sich an die ewig schöne Lyrik des alten Testamentes anschloß, an Kraft der Sprache, an poetischem Schwung und gläubiger Jnnigkeit gewann, und daß es alsdann, frisch und warm gesungen, auch um so tiefer zum Herzen des Volkes dringen konnte. Durch Luther erhielten seine Anhänger (1524) das erste Gesangbuch. Erst spät wurde es verdrängt: 1696 durch ein holsteinisches, 1703 durch ein hallesches, 1711 durch ein berliner, 1735 durch ein nordhäusisches. Zollikofer verbesserte das Gesangbuch (1766); ihm folgten die Gemeinden in Bremen und Lüneburg (1767), in der Pfalz (1773), Braunschweig (1776), Kopenhagen (1782) u. s. w. Wir können die Kirchenlieder einteilen in Bußlieder, Danklieder, Trostlieder, Gebetlieder, Loblieder, Glaubens- oder Bekenntnislieder &c. Eine ähnliche Einteilung zeigen alle evangelischen kirchlichen Gesangbücher, auf die wir hiermit verweisen. Beispiele des Kirchenlieds. a . Bußlied. 1. Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen! Dein gnädig Ohren kehr zu mir Und meiner Bitt sie öffne! Denn so du willt das sehen an, Was Sünd und Unrecht ist gethan, ─ Wer kann, Herr, vor dir bleiben? 2. Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, Die Sünde zu vergeben; Es ist doch unser Thun umsonst Auch in dem besten Leben. Vor dir niemand sich rühmen kann; Des muß dich fürchten jedermann Und deiner Gnade leben. 3. Darum auf Gott will hoffen ich, Auf mein Verdienst nicht bauen; Auf ihn mein Herz soll lassen sich Und seiner Güte trauen, Die mir zusagt sein wertes Wort; Das ist mein Trost und treuer Hort, Des will ich allzeit harren. 4. Und ob es währt bis in die Nacht Und wieder an den Morgen, Soll doch mein Herz an Gottes Macht Verzweifeln nicht noch sorgen. So thut Jsrael rechter Art, Der aus dem Geist erzeuget ward Und seines Gotts erharret. 5. Ob bei uns ist der Sünden viel, Bei Gott ist viel mehr Gnaden; Sein Hand zu helfen hat kein Ziel, Wie groß auch sei der Schaden. Er ist allein der gute Hirt, Der Jsrael erlösen wird Aus seinen Sünden allen. (Nr. 290 des Württ. Gesangbuchs.) b . Danklied. Nun danket alle Gott , von Rinckart. (Württ. Ges.=Buch Nr. 2.) c . Trostlieder. Was Gott thut, das ist wohlgethan , von Rodigast. (Ebenda Nr. 461.) Warum sollt ich mich denn grämen , von P. Gerhardt. (Ebenda Nr. 462.) d . Gebetlied. Ach bleib mit deiner Gnade , von Steegmann, † 1632. (Ebenda Nr. 7.) e . Loblied. Herr Gott, dich loben wir , von Luther. (Ebenda Nr. 1.) f . Glaubenslied. Jch weiß, an wen ich glaube , von Arndt. (Ebenda Nr. 324.) Litteratur des geistlichen Liedes. Dichter bekannter geistlicher Lieder sind außer Luther: Ringwaldt; Hans Sachs; Lazarus Spengler von Nürnberg (Wer hofft auf Gott); Johann Graumann gen. Poliander († 1541: Nun lob, mein Seel, den Herren); Johannes Heermann († 1647, der 400 Lieder schrieb, darunter „O Gott, du frommer Gott“); Hasse von Hassenstein (O Welt, ich muß dich lassen); Justus Jonas von Eisfeld (Wo Gott der Herr nicht bei uns hält); Wolfgang Musculus von Bern (verfaßte 560 geistliche Lieder); Johann Matthesius aus Rochlitz (Aus meines Herzens Grunde); Michael Weiß († 1540); Paul Eber von Wittenberg (Wenn wir in höchsten Nöten sein); Nic. Decius von Stettin (Allein Gott in der Höh' sei Ehr); Ludw. Helmbold von Mühlhausen (Von Gott will ich nicht lassen); Nic. Selnecker († 1592: Laß mich dein sein und bleiben); S. Dach (O wie selig); Kaspar Bienemann von Nürnberg (Jch weiß, daß mein Erlöser lebt); von Birken (Lasset uns mit Jesu ziehen); Flemming († 1640); Nic. Hermann von Joachimsthal (Lobt Gott, ihr Christen allzugleich); Mart. Schalling († 1608 zu Nürnberg: Herzlich lieb); Phil. Nicolai († 1608 zu Hamburg: Wie schön leucht't uns der Morgenstern. Wachet auf, ruft uns die Stimme) u. s. w. Auch fürstliche Personen pflegten im 16. Jahrhundert das Kirchenlied, z. B. Johann Friedrich von Sachsen (Wie's Gott gefällt); Wilhelm II ., Herzog von S.=Weimar (Herr Jesu Christ, dich zu uns wend); Albrecht von Brandenburg-Kulmbach (Was mein Gott will); Karls V . Schwester, Marie von Ungarn (Mag ich Unglück); Luise Henriette, Churfürstin von Brandenburg († 1667: Jesus meine Zuversicht); Emilie Juliane, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt († 1706: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende) u. s. w. Außerdem nennen wir den Jesuiten Spee von Lengenfeld († 1635, gab heraus: „Trutznachtigall“, eine Sammlung religiöser Lieder, „die trotz einer Nachtigall“ so schön klangen, „daß sie sich auch wol bei sehr guten lateinischen und anderen Poeten dörfft hören lassen,“ und deren Gegenstand der Seelenbräutigam Jesus ist). Paul Gerhardt, (einer der bedeutendsten Kirchenliederdichter, † 1676, dichtete 120 Kirchenlieder, z. B. Befiehl du deine Wege. O Haupt voll Blut und Wunden. Nun ruhen alle Wälder. Wach' auf, mein Herz und singe); Burmeister († 1688: Es ist genug); Georg Neumark († 1681: Wer nur den lieben Gott läßt walten); v. Bogatzky (schrieb über 400 geistliche Lieder); Joh. Scheffler (Angelus Silesius, wie Spee ein katholischer Dichter, † 1677, z. B. Mir nach, spricht Christus unser Held; ferner „Cherubinischer Wandersmann“ == geistliche Epigramme und Gnomen &c.); Tersteegen († 1769); Martin Rinckart aus Eulenburg (Nun danket alle Gott); Albinus († 1679 zu Naumburg: Alle Menschen müssen sterben); Samuel Rodigast († 1703: Was Gott thut, das ist wohlgethan); Joh. Frank aus Guben (Jesus, meine Freude); Gellert (Auf Gott, und nicht auf meinen Rat. Wie groß ist des Allmächt'gen Güte. Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. Gott, deine Güte reicht so weit. Mein erst Gefühl sei Preis und Dank. Nach einer Prüfung kurzer Tage. Wenn Christus seine Kirche schützt); Chr. Fr. Richter († 1711); Rambach († 1735); Benjamin Schmolcke († 1737; schrieb über 1000 geistliche Lieder in den Sammlungen: Geistlicher Pestweihrauch, Freudenöl in Traurigkeit &c.); Neumeister († 1756; schrieb über 700 geistliche Lieder); Lavater (Gott der Tage &c.); Hippel († 1796: Dir hab' ich mich ergeben); Arndt; von Schenkendorf; Gleim (Vater Unser); Uz (Der Erlöser); Cramer; Freylinghausen († 1730: Wer ist wohl wie du); Hiller († 1769); Olearius († 1711); Klopstock (Auferstehn, ja auferstehn wirst du. Selig sind des Himmels Erben); v. Zinzendorf († 1760: Jesu, geh voran &c.); Joh. Adolph Schlegel († 1793); Jacobi, Herder, Hölty, Fr. L. Stolberg, Diterich († 1797, dichtete viele Kirchenlieder); Voß, v. Moser († 1798: Es ist noch eine Ruh vorhanden); Novalis (Wenn ich ihn nur habe. Wenn alle untreu werden); Mahlmann, Woltersdorf († 1761); Christ. Sturm († 1786); Münter; Krummacher; Clemens Brentano; Eschenburg († 1820, dichtete viele Kirchenlieder); Funk († 1814); Schubart († 1791); Schöner († 1818); Albert Knapp (einer der bedeutendsten Neubegründer des gegen die Aufklärung protestierenden Kirchenliedes); Meister († 1814: Laß mir die Feier deiner Leiden); Eichendorff, G. Görres, V. v. Strauß (Lieder aus der Gemeinde für das christliche Kirchenjahr); Philipp Spitta (Psalter und Harfe); Oskar von Redwitz, Geibel, Jul. Sturm (Nimm Christum); K. Gerok (Sammlungen: Palmblätter, Pfingstrosen &c.); Agnes Franz, K. A. Döring, J. Fr. v. Meyer, J. P. Lange, Heinr. Möwes, W. Hey, G. Jahn, Franz Engstfeld, Albert Zeller, v. Albertini († 1831); Niemeyer († 1828); Garve († 1841: Preis dir, du aller Himmel); Ludw. Knack (Simon Johanna, hast du mich lieb? eine Liedersammlung); Sachse; Hugo Hagenbach; Rochlitz († 1842); Adolf Schults († 1858); Karl Rubel († 1868); Droste Hülshoff (katholische Gedichte auf alle Sonn- und Festtage); Louise Hensel (katholische tiefinnige Lieder, z. B. Müde bin ich, geh' zur Ruh'); Rückert (Saat von Gott gesäet, zu reifen. Jn unsern Tagen ist zu erwähnen der Elsäßer Friedr. Weyermüller, der treffliche geistliche Lieder im kirchlichen Volkston schrieb, sowie Ernst Lehmann-Schkölen; Fr. Storck (Vertraue!); Angelika von Michalowska (Sammlung: „Nach Gottes Rat“ 1861) &c. Die reichhaltigste Sammlung geistlicher Lieder ist: Das deutsche Kirchenlied &c. von Ph. Wackernagel. Lpz. 1864. 1. Bd. vom 4. bis 16. Jahrhundert (enthält Hymnen und Sequenzen); 2. Bd. von Otfried bis zur Reformation (enth. Lieder und Leiche); 3. Bd. bis Luthers Tod; 4. Bd. von 1554─84 (von Eber bis Ringwaldt); 5. Bd. bis Anfang des 17. Jahrh. Dieser letzte Band enthält auch die Lieder der Wiedertäufer und die der römisch=katholischen Kirche. ─ Erwähnenswert ist vor vielen Sammlungen noch A. Knapps Evang. Liederschatz (3. Aufl. 1865). II . Lyrik der Begeisterung. § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame derselben. Die Lyrik der Begeisterung hat folgende Formen: a . Ode, b . Lyrische Rhapsodie, c . Hymnus, d . Dithyrambus, e . Elegie. Da sämtliche hierhergehörige Formen durch die Römer und Griechen zu uns gelangten, so unterscheiden sie sich nach Stoff, Sprache und Schwung des Ausdrucks von unserem sangbaren Liede. Dieses repräsentiert die Lyrik für jeden Stand und jeden Bildungsgrad. Die obigen Formen dagegen wenden sich an die höchst gebildeten Kreise. Sie sind die Lyrik der Gebildeten. Man kann sagen: Das Lied in seinem höchsten Schwung wird zur Ode und zum Dithyrambus, das geistliche zur Hymne oder zur lyrischen Rhapsodie, das elegische Lied zur Elegie. Die Abstammung der obigen Formen bedingt einen auf das Erhabene, Majestätische, Feierliche, Große gerichteten, durch Phantasie und gedankliche Thätigkeit geschaffenen ernsten Gegenstand, der durch die Subjektivität des Dichters lyrische Umhüllung annimmt. Man erhält den Eindruck, als sei das Vorbild der Griechen die Veranlassung zu einer den Dichter erfassenden Berauschung und Begeisterung, zu einer Herbeiziehung der gewagtesten Bilder und des höchsten Schwungs der Darstellung. Das Lied geht mit seinem leichten, auf den Wellen des Gefühls geschaukelten Stoff den direkten Weg vom Herzen zum Herzen: die Lyrik des Aufschwungs wählt den Weg durch den Kopf zum Herzen. Die Folge ist ein gegensätzliches Verhalten zum Lied. Während das Lied einfache Darstellungsform, leichte fließende Sprache und allgemein verständliche Bilder und Ausdrucksformen wählt, gefällt sich die Lyrik des Aufschwungs in den kühnsten, nicht so leicht verständlichen Metaphern, in den verschlungensten Jnversionen und im wohlberechneten künstlerisch gewundenen Bau der Rede. Werkgr.: Lyrik des Aufschwungs Nicht selten verschmäht die Lyrik des Aufschwungs unsere deutschen Kunstmittel, deutschen Rhythmus und Reim, wohl aber entlehnt sie ihrer Abstammung gemäß häufig die antiken Metren und den antiken Rhythmus. Sanfte Gefühle, anmutende, allgemein verständliche Ausdrucksweise, weniger feierliche Stoffe, Harmlosigkeit, naive Munterkeit sind der Charakter des Liedes; die Formen des Aufschwungs verlangen die edelste, erhabenste Sprache: die Göttersprache. Nicht allmählich ─ wie im Lied ─ erhebt sich hier das Gefühl, sondern plötzlich, voll ungestümen Feuers. Man vgl. zum Beleg des Unterschieds zwischen dem Lied und den Formen der Begeisterung die erste Strophe eines Frühlingslieds von Uz mit dem Anfang einer Hymne von Klopstock: Gott im Frühlinge, von Uz. Jn seinem schimmernden Gewand Hast du den Frühling uns gesandt, Und Rosen um sein Haupt gewunden. Holdlächelnd kommt er schon! Es führen ihn die Stunden, O Gott, auf seinen Blumenthron u. s. w. Die Frühlingsfeier, von Klopstock. Nicht in den Ocean der Welten alle Will ich mich stürzen! schweben nicht, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts, Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben und anbeten! Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch! u. s. w. Einfach und sinnig ist die anmutige Art, wie Uz im obigen Lied den Frühling personifiziert. Der Dichter hält sich ─ etwa die letzte Zeile ausgenommen ─ frei von Überschwenglichkeit des Gefühls. Dagegen ist Klopstock in seinem obigen Hymnus trunken von den Gefühlen des Dankes und der schwärmerischen Bewunderung gegen den Schöpfer, der alle Schönheiten hervorgerufen. Seiner Ekstase entspricht der Jdeengang und der Rhythmus des ganzen Hymnus bei einfacher Sprache. Hier ist nichts von Gleichheit in der Versart zu bemerken, nichts von einem feststehenden Ton- oder Silbenmaß. Es herrscht je nach dem Verhältnis der Naturscenen die bunteste Abwechslung. Auch das Kunstmittel des Reims wird als überflüssige Zier und als Hemmnis weggelassen. Der Dichter wollte ein Loblied singen; aber im Anschauen der Weisheit und Größe Gottes sehen wir ihn von der Fülle und Menge seiner Gefühle überwältigt; es wird ein Hymnus anstatt eines Liedes. Wie er sich im kühnen Bild vom Ocean der Welten zum Tropfen am Eimer, zur Erde, herunterläßt (denn wie der Tropfen zum Ocean, so verhält sich die Erde zum Weltall), so erwähnt er im weiteren Verlauf vom Kleinen nur wieder das Kleinste, und einige Frühlingswürmchen und sanft wehende Lüftchen reichen hin, seine Seele in die Glut heißester Andacht zu tauchen. Wenn dann die Lüfte in Winde sich wandeln und dunkle Wolken am Himmel daherrauschen und der brausende Sturm den Wald neigen macht, da wird seine religiöse Begeisterung zur Vision. Betend wirft er sich vor dem ihm sichtbar werdenden Gott nieder. Gott erscheint ihm im fruchtbaren Regen, im Säuseln der Lüste, indem er den Friedensbogen über die Erde ausbreitet u. s. w. Ähnliche Vergleichungen, wie das Lied Uzens mit Klopstocks Hymnus ermöglichen z. B. das Rheinweinlied von Claudius und Klopstocks Ode Der Rheinwein; ferner Schenkendorfs Lied Die Muttersprache mit Klopstocks Ode: Unsere Sprache; Goethe's Winter mit Klopstocks Eislauf u. s. w. § 71. Die Ode. 1. Ode ( ὠδή Gesang von ἀείδω singen) in der allgemeinen Wortbedeutung bezeichnet eigentlich, ähnlich wie unser Wort Lied, jedes sangbare Gedicht. Jm engeren, jetzt gebräuchlichen Sinn nennt man jedoch Ode als Blüte der Lyrik nur das lyrische Gedicht, welches die höchsten Jdeale in begeisterter Erregung dichterischer Empfindung besingt und dem in die Sphäre des Jdealen erhobenen Gefühl einen Ausdruck verleiht. Jhr Charakter ist a . das Erhabene (z. B. das Naturerhabene beim Anblick des Sternenhimmels in Schillers Ode: die Größe der Welt), b . das erregte Gefühl, c . die schwungvolle Sprache und der Bilderreichtum, d . der kunstvolle Strophenbau (die sogenannten Odenmaße). 2. Jn der Geschichte der Ode bildet Klopstock für uns die erste Epoche: Sein Studium ist für den Odendichter unerläßlich. 1. Der Jnhalt der Ode ist wie der des weltlichen Liedes Liebe, Vaterland, Sieg, Ruhm, Freiheit, Freundschaft, Tugend. Schon der Schluß des vorigen § 70 beweist, daß Ode und Lied den gleichen Gegenstand besingen können. Nicht durch den Stoff unterscheidet sich also eigentlich die Ode vom Liede, sondern durch den höhern Schwung, durch das Pathos (d. i. durch die leidenschaftlichere Erregung des Gefühls), durch erhobenere Empfindung, durch glanzvolleren, sprachlichen Ausdruck, durch Kühnheit der Wortbildung (Neologismen), durch künstlicheren Periodenbau (Anakoluthieen, Jnversionen), durch prächtigere, schwungvollere Bilder, durch kunstreiche, nach antiker oder moderner Form gebaute Strophen, endlich durch eine, der größeren Begeisterung entsprechende, rhythmische Form, welcher die ausgedehnteste Freiheit gestattet ist. Unsere Ode richtet sich hauptsächlich auf Begebenheiten von nationalem, ja, allgemein menschlichem Jnteresse; sie reiht ihre Gefühlszustände an eine Persönlichkeit von unbestrittener, nationaler Achtung und Wertschätzung, um die Stimmung und Stimme Aller zu vertreten; sie erstrebt das Jdeale und idealisiert, um die Person oder Begebenheit über die gemeine Wirklichkeit emporzuheben. Sie redet den von ihr besungenen Gegenstand oft an oder ermuntert und ermutigt andere zu gleicher Begeisterung für diesen Gegenstand. Doch läßt sie sich nicht in planloser Schwärmerei sorglos gehen, sondern ergreift die aufgestiegene Empfindung, d. i. den bestimmten Zustand des Gefühls-Vermögens und giebt ihm einheitliche, vollendete ästhetische Form. Die höchste Höhe ist der Ode doch nicht zu hoch, das Erhabenste ist ihr nicht zu erhaben. Jhr Gegenstand kann sein Gott und Natur; auch Fürsten, Helden, Denker und Dichter in ihrer Bedeutung für die Menschheit kann sie besingen. Die Erhabenheit des Jnhalts macht es unmöglich, daß der Dichter den Jnhalt in sich hineinziehe und in sein eigenes Gefühlsleben umsetze, vielmehr singt der in seinem Jnnersten tiefbewegte Lyriker aus sich heraus, zu seinem erhabenen Gegenstande empor. Die Lyrik der Ode ist eben keine kontemplativ beschauliche ruhige Empfindung, sondern begeisterte Bewunderung. So umschlingen sich in der Ode Subjektivität und Objektivität. Dies ist freilich auch in der Hymne der Fall, aber man schränkt füglich den Begriff Ode ein, indem man unter Ode nur diejenigen Gedichte versteht, welche mit höherer Begeisterung Menschen und Personifikationen feiern; da wo ihr Gegenstand das Allerhöchste ─ selbst die Gottheit ─ ist, nennt man die Ode Hymne (§ 73). Gervinus sagt, was Minckwitz bestreitet: „Die Ode widersetzt sich und widerstrebt allen logischen verständigen Grenzen und jeder Regel, die eine bestimmte Ordnung da vorschreiben will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein soll, der vor jedem Gegenstand anders thätig ist, wo sich eine Empfindung, ein Gefühl aus sich selbst und nach seinem eigenen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos erscheinenden Tonstück formen will.“ Und doch muß ─ bei allen Ausschreitungen der Phantasie ─ in der Ode eine bestimmte Jdee regelvoll hervortreten, welche versöhnt, und die im Metaphernschmuck prangende Ode zur Blüte der Lyrik erhebt. Werkgruppe: Ode Bei der Konzeption der Ode übt die Phantasie eine hervorragende Thätigkeit, sie versetzt ─ nach Wackernagel ─ die Anschauung in's Gebiet des Erhabenen, wo der Verstand nicht mehr der Phantasie nachmißt und nachrechnet. Gefährlich ist die willkürliche Jdealisierung irdischer Wirklichkeit; hier wird die Überwirklichung der gemeinen Wahrheit nur zu leicht eine Übertreibung und eine Lüge, die Schöpfungen der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz und ungeschickt vorkommen, daß er sich nicht gefangen giebt, sondern im Widerspruche verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf welche der Dichter ausging, die bloße Lächerlichkeit (nach Minckwitz' Mittheilung an den Verfasser auch Humor) tritt, wo also nach dem bekannten Worte Napoleons vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Darum stehen die hebräischen Psalmisten und steht Klopstock soviel höher als irgend ein andrer Odendichter, weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge sind (bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge); darum gerät auf der anderen Seite Ramler so oft in's Lächerliche (Prosaische), weil er auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst schon groß und erhaben genug wäre (z. B. wo er Friedrich II . besingt), dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden ist, sondern immer noch höher und drüber hinaus möchte. Darum befremdet Ramlers und vieler Andrer Muster: Horaz durch Humoristik und jene gesuchten Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur wie ein Schraubenwerk erscheinen, um den Gegenstand über sich selbst zu erheben. 2. Klopstock gab der deutschen Ode ihren eigentlichen Charakter durch Erhabenheit der Bilder, schwungvolle feierliche Sprache, eigenartige Strophik u. a. Nach Klopstocks Vorgang hat man sich zur Ode meist antiker Maße bedient, die unserem deutschen Ohre oft wenig zusagen. Jndem man die Griechen nachahmte, verließ man den Reim und hielt sich streng an die klassische Form. Den Reim überhaupt zu verwerfen, hat man aber kein Bedürfnis, da er eine berechtigte, liebgewordene Eigentümlichkeit der deutschen Poesie geworden ist. (Vgl. Bd. I . S. 530.) Aus der ängstlichen Nachahmung wie auch der schlechten Beherrschung der antiken Ode entstanden mehrfach erkünstelte Gedichte, bei denen die antike Form die Hauptsache war, während doch die Ode der von Wort zu Wort dahin wogende Erguß des erregten und erhaben gesinnten Herzens sein soll. Die versuchte Einteilung in philosophische und heroische Oden ist unwichtig, unwesentlich, ja falsch. (Vgl. übrigens § 73.) Während auf der einen Seite das antike Maß für eine Ode nicht nötig ist, erweiterte doch die Benutzung desselben das Gebiet der Oden. Es wird nämlich auch ein Gedicht mit Liedesinhalt (und sanfterer Empfindung) Ode genannt, sobald es in antikes Versmaß gefaßt ist. Dies wäre die liedartige Ode. Beispiele der Oden. Die Grotte der Nacht, von Uz. Wohin wird mein Gesang verschlagen? Der Ozean ist voller Glut; Denn Titan kommt; sein strahlenreicher Wagen Schwebt feurig über blauer Flut; Jndessen auf betauten Schwingen Die braune Nacht entlassen flieht, Und Nymphen sie zu ihrer Grotte bringen, Die kein unheilig Auge sieht. Wird meinem Blick im tiefsten Meere Dort ihre Herrschaft aufgethan? Es trennen sich erschrockner Schatten Heere: Sie machen mir entfliehend Bahn. O Ruh! o welch ein heilig Schweigen Beherrscht ihr schattiges Revier! Kein Vogel schwätzt auf düstrer Ulmen Zweigen; Der muntre West entschlummert hier. Ein zitternd Schimmern bleicher Kerzen Erleuchtet ihren dunklen Sitz, Wo rings umher die leichten Träume scherzen, Geflügelt wie der schnelle Blitz. Von welchem schlau betrognen Kinde Kommt hier der schöne Morgentraum? Seht! Phantasus hüllt sich in rauhe Rinde, Und grünt, beblättert, als ein Baum. Nun da in junger Nymphen Händen Gedämpfter Saiten Scherz erklingt, Ertönt ein Lied von muschelreichen Wänden, Das eine der Najaden singt. (Ein etwas seltsames Bild.) (Phantasus, ein Sohn des Schlafs, stellt in Träumen nur leblose Dinge dar, während Morpheus, Gott der Träume, nur menschliche Gestalten anzunehmen vermochte.) Geneuß die Ruhe, die du zeugest, O Göttin! singt sie, holde Nacht! Der Lärm entschläft, wenn du zum Himmel steigest Und nur der Prokne Schwester wacht. (Philomele, die Nachtigall, wie Prokne, die Schwalbe, beide verwandelte Töchter des attischen Königs Pandion.) Man beachte in dieser herrlichen gereimten Ode, wie der Dichter die vor der Sonne fliehende Nacht einer geheimnisvollen Meeresgrotte zueilen läßt, die dem Dichter offen liegt und die er wonnevoll im Odenschwung mit schlagenden Beiwörtern schildert, die Schatten personificierend, indem er sie zu „erschrockenen“ Schatten macht u. s. w. Jn der nachstehenden kraftvollen „Ode an die preußische Armee“ fordert Kleist das preußische Heer auf, mit erhöhtem Mute die zahllosen Feinde zu bekämpfen; er verspricht der Nachwelt Ruhm, welcher das Heer über die Römer, sowie Friedrich über Cäsar setzen werde. Jn gewaltigen Weisen mit wahrhaft dramatischem Schwung schildert der Dichter, wie das Winken Friedrichs die Feinde vernichte. Ja, mit Farben, wie sie das ruhige Lied nimmermehr vertragen würde, malt er, in seiner Empfindung sich an Friedrich wendend, die weitgehendsten Gegensätze. Er schließt mit einer der Ode eigenen Kühnheit, indem er die Erwartung ausspricht, der stolze Feind werde noch vor kleinen Haufen fliehn, und er, der Dichter, werde „im rasenden Getümmel Ehr' oder Tod finden“. Ode an die preußische Armee, von E. Ch. v. Kleist. (Sämmtl. Werke, 2. Aufl. 1790. S. 79.) Unüberwundnes Heer, mit dem Tod und Verderben Jn Legionen Feinde dringt, Um das der frohe Sieg die goldnen Flügel schwingt, O Heer, bereit zum Siegen oder Sterben! Sieh! Feinde, deren Last die Hügel fast versinken, Den Erdkreis beben macht, Ziehn gegen dich, und drohn mit Qual und ew'ger Nacht; Das Wasser fehlt, wo ihre Rosse trinken. Verdopple deinen Mut! der Feinde wilde Fluten Hemmt Friedrich, und dein starker Arm; Und die Gerechtigkeit verjagt den tollen Schwarm; Sie blitzt durch dich auf ihn, und seine Rücken bluten. Die Nachwelt wird auf dich, als auf ein Muster sehen, Die künft'gen Helden ehren dich, Ziehn dich den Römern vor, dem Cäsar Friederich; Und Böhmens Felsen sind dir ewige Trophäen. Nur schone, wie bisher im Lauf von großen Thaten, Den Landmann, der dein Feind nicht ist! Hilf seiner Not, wenn du von Not entfernet bist! Das Rauben überlaß den Feigen und Kroaten. (Ähnlich die weggelassene folgende Strophe.) Jch seh', ich sehe schon, ─ o freut euch, Preußens Freunde! ─ Die Tage deines Ruhms sich nahn. Jn Ungewittern ziehn die Wilden stolz heran; Doch Friedrich winket dir! Wo sind sie nun, die Feinde? Du eilest ihnen nach, und drückst mit schweren Eisen Den Tod tief ihren Schädeln ein, Und kehrst voll Ruhm zurück, die Deinen zu erfreun, Die jauchzend dich empfahn, und ihre Retter preisen. Auch ich, ich werde noch, ─ vergönn' es mir, o Himmel! ─ Einher vor wenig Helden ziehn. Jch seh' dich, stolzer Feind! den kleinen Haufen fliehn, Und find' Ehr' oder Tod im rasenden Getümmel. Als Beispiel einer liedartigen Ode diene noch die von Dankbarkeit und vorurteilsfreier Anerkennung zeugende Ode Rudolf Niggelers an Johannes Minckwitz, dem bedeutendsten Odendichter der Gegenwart, der über 200 gehaltvolle Oden dichtete und viele antike übersetzte: Segen dir Minckwitz, zu dem Tage Segen, Wo du wardst, aus stiller bescheidner Hütte Hinzuwall'n auf felsigem Pfad zum hohen Tempel der Musen! Segen dir, Vorkämpfer der goldnen Wahrheit, Der du mutvoll kämpftest mit jenen Buben, Welche Schmach aufhäuften der fern gebrochnen Harfe von Platen! Der du kühn eindrangst, wie Achill, und deines Freundes Leichnam feindlicher Wut entrissest, Und mit Purpur schmücktest und immergrünen Kronen von Lorbeer. Was die Zeit mir reifet an holden Früchten, Darf ich dir als Opfer zu Füßen legen, Darf des Lied's Alprosen zu deines Busens Zierde dir pflücken! Segen dir, tonreichste der Nachtigallen, Welche Hellas' sonnige Kunstgefilde Je besucht, und wiedergekehrt zu Deutschlands Rauschendem Eichwald Jener Lenzflur Düfte verströmt im Sange! Segen dir, hellwirbelnde Himmelslerche, Deren Festlied hoch vom azurnen Bogen Würdig zu Klopstocks Voll Begeist'rung schwellendem Sang herabklingt Und zur maßvoll tönenden Weise Platens! ─ Doch das Volk hört lieber das regellose Zwitschern des Sperlings! Litteratur der Ode. Der bedeutendste Odendichter war der Grieche Pindar († 441 v. Chr.). Darauf folgten eine Reihe Odendichter und Odendichterinnen der melischen und chorischen Lyrik. Am würdigsten schließt sich an Pindar der Römer Horatius an († 8 v. Chr.), der nach griechischen Mustern dichtete. Spätere Odendichter sind der Jtaliener Petrarka (übersetzt von Förster), die Franzosen Racine, Lamartine, der Engländer Pope &c. Die ältesten Oden findet man wohl in den Büchern des alten Testaments. Die älteste deutsche Ode ─ obgleich man damals den Namen nicht dafür hatte ─ ist das Annolied aus dem Jahre 1185, das dem Frankenbekehrer, dem Erzbischof Hanno von Köln, gewidmet war ( I . 86). Zum erstenmal wurde in der deutschen Litteratur der Name Ode von Weckherlin gebraucht, welcher 1618 eine „Sammlung von Oden und Gesängen“ herausgab. Als spätere deutsche Odendichter sind zu nennen: Gryphius (Kirchhofsgedanken und geistliche Oden). Paul Flemming (Erstes Buch der Oden). Günther (Ode auf den Prinzen Eugen). Klopstock (dessen Oden seine vorzüglichsten Leistungen sind, vgl. z. B. An Fanny; Der Eislauf; Der Zürchersee; Mein Vaterland; Die frühen Gräber; Hermann und Thusnelda &c.). Uz (Ode auf die Sonne). Cramer (David). Denis (Die Zeit. Josephs 1. 2. 3. 4. Reise). Schubart (Auf Friedrich II ). Jacobi (Die Tempel). Herder (Klopstocks lyrische Poesie). Hölty (An die Ruhe). Stolberg, der Ausbilder klassischer Maße (Die Natur, Der Harz, Leipzigs Schlacht, Deutschlands Beruf, Mein Vaterland, Die Begeisterung). Voß (Anbetung, An Klopstock, An Brückner, Der Winterschmaus). Kosegarten (Der Morgen, Die Unsterblichkeit). Goethe (Mohamed, Meine Göttin). Schiller (Das Jdeal und das Leben, Die Macht des Gesanges). A. Bercht (Preußens Helden). Ramler (Friedrich der Große). Matthisson (Sehnsucht nach Rom, Genuß der Gegenwart). Heidenreich (Die Freiheit des Menschen, Die Wollust). Hölderlin (Der Tod für's Vaterland, Das Schicksal, Rückkehr in die Heimat). Platen (er hat die strenge, namentlich von den Romantikern verdrängte Odenform besonders gepflegt. Vgl. Der Vesuv, An Franz II .). Johannes Minckwitz. (Seiner besten Oden eine ist die Nr. 221: An Samuel Brassai, 1881 gedichtet). Rückert (1. Übergang vom Liede zur Ode: Die Berge. An unsere Sprache. Abschied. 2. Oden in freiem Versmaß: Brünstige Nachtigall. Die preußische Viktoria. 3. Oden in Ghaselenform: Du Duft, der meine Seele speiset. Sei mir gegrüßt &c.). Kinkel. Pfizer. J. G. Fischer. R. Gottschall. Melch. Meyr. O. Banck. Hamerling. Geibel. Hertz. Max Moltke. Jul. Sturm. v. Lepel. Scherer. Fr. Storck (Das freie Wort) u. a. § 72. Die lyrische Rhapsodie. Man versteht unter lyrischen Rhapsodien odenartige Gedichte, die dem Jnhalte nach nur als Bruchstücke erscheinen, im übrigen nicht durchaus den Charakter der Ode oder den der Hymne tragen. Die lyrische Rhapsodie sucht in einer freieren Form ihren Gegenstand von der sub= jektiv fühlenden schönen Seite oft mit dithyrambischen Zügen darzustellen. Lange vor Christi Geburt trugen wandernde Sänger bei den Griechen, gelegentlich einzelner Feste Gesänge vor, wobei sie einen Lorbeerzweig oder einen Stab ( ῥάβδος d. i. Rhabdos) in der Hand hielten. Von diesem Rhabdos hießen diese Sänger die Rhapsoden, bei den Deutschen varnde liute == fahrende Leute, singaere == Sänger, ihre Gesänge aber nannte man Rhapsodien. (Das Wort Rhapsode leiten einige von ῥάπτειν ᾠδήν her, nicht aber von ῥάβδος Stabsänger. Hesiod spricht im Fragm. 34 von ῥάψαντες ἀοιδήν . Bei Pindar ist ῥαπτῶν ἐπέων ἀοιδοί Umschreibung für ῥαψῳδοί .) Rhapsodiendichter sind: Schiller, Ramler, Kotzebue, Fr. Müller, Püttmann, Kosegarten, Hölderlin, A. Moser, H. Heine (Nordseebilder), Goethe (Ganymed, Das Göttliche, Grenzen der Menschheit), E. Chr. v. Kleist (Lob der Gottheit, Sehnsucht nach Ruhe, An Doris &c.) u. a. Beispiel der lyrischen Rhapsodie. (Jn griechischen Rhythmen.) An die untergehende Sonne, von Kosegarten. Sonne, du sinkst! Sonne, du sinkst! Sink' in Frieden, o Sonne! Still und ruhig ist deines Scheidens Gang, Rührend und feierlich deines Scheidens Schweigen. Wehmut lächelt dein freundliches Auge; Thränen entträufeln den goldenen Wimpern; Segnungen strömst du der duftenden Erde. Jmmer tiefer, Jmmer leiser, Jmmer ernster und feierlicher Sinkst du den Azur hinab. Sonne, du sinkst! Sonne, du sinkst! Sink' in Frieden, o Sonne! Es segnen die Völker, Es säuseln die Lüfte, Es räuchern die dampfenden Wiesen dir nach. Winde durchrieseln dein lockiges Haar; Wellen kühlen die brennende Wange, Weit auf thut sich dein Wasserbett. Ruh' in Frieden, Schlumm're in Wonne! Die Nachtigall flötet dir Schlummergesang. Sonne, du sinkst! Sonne, du sinkst! Sink' in Frieden, o Sonne! Schön sinkt sich's nach den Schweißen des Tages, Schön in die Arme der Ruhe Nach wohlbestandenem Tagwerk. Du hast dein Tagwerk bestanden, Du hast es glorreich vollendet, Hast Welten erleuchtet und Welten erwärmt, Den Schoß der Erde befruchtet, Die schwellenden Knospen gerötet, Der Blumen Kelche geöffnet, Die grünen Saaten gezeitigt, Hast Welten gesäugt und Welten erquickt ─ Geliebt und Liebe geerntet, Gesegnet und rings mit Segnungen Dein rollendes Haar bekränzt. Schlummre sanft Nach den Schweißen des Tags! Erwache freudig Nach verjüngendem Schlummer! Erwach', ein junger freudiger Held! Erwach' zu neuen Thaten! Dein harrt die lechzende Schöpfung; Dein harren die Au' und Wiesen; Dein harren Vögel und Herden; Dein harrt der Wandrer im Dunkeln; Dein harrt der Schiffer in Stürmen; Dein harrt der Kranke im Siechbett; Dein harret der Wonnen seligste: Die Wonne liebend geliebt zu sein! Der Seligkeiten unausredbarste: Selber beseligt zu sein, derweil du andre beseligst. Sink' in Frieden! Schlummr' in Ruhe! Erwach' in Entzückungen, Sonne! § 73. Hymnus (Hymne). Ein, in der höchsten Begeisterung gesungenes, religiöses Lied, eine religiöse, dem Preise der Gottheit gewidmete Ode, welche zum Lob= und Preis-Gesang auf Gott, auf Christus, auf die Wohlthaten der Naturmächte, auch auf irdische, wie Götter gefeierte Personen sich gestaltet und in welchem Andacht und Bewunderung sich vereinigen, wird Hymne ( ὕμνος Lobgesang, Preis einer Gottheit, von ὑμνεῖν == preisen, besingen) oder Hymnus genannt. Sie stimmt in Behandlung des Stoffes, in Sprache und Rhythmus ganz mit der Ode überein und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß ihre Gegenstände meist dem religiösen Gebiet angehören. Zum geistlichen Liede verhält sie sich, wie die Ode zum weltlichen. Wollte man die Oden in philosophische, heroische und religiöse teilen, so wäre die Hymne eben die religiöse Ode. Nicht die Gefühle der Demut, Wehmut, Reue, auch nicht Betrachtungen über Tod und Unsterblichkeit veranlassen sie, sondern die Bewunderung Gottes oder einer heidnischen Gottheit, auch eines erhabenen wie eine Gottheit angestaunten Menschen oder irgend einer wunderbaren Naturerscheinung, weshalb man auch von weltlichen Hymnen sprechen kann, die freilich besser den Namen Oden (Festlieder) tragen. (Als Beispiele solcher Hymnen nenne ich: Frühlingsfeier von Klopstock; Hymne an die Sonne von Knebel; ebenso die Volkshymnen, Kriegshymnen, Kaiserhymnen, Vaterlands-Hymnen, z. B. God save the King ; „Gott erhalte Franz den Kaiser“ von Seidl; an Österreich von Anastasius Grün; an Bismarck von Minckwitz, eine gewaltige Ode, welche an Umfang fast der 4. Pythischen Ode des Pindar gleichkommt, 300 Zeilen in Strophe, Antistrophe und Epode umfaßt und rhythmisch malt z. B. den Wachtelton: Vaterland, Vaterland, Vaterland, u. s. w.) Auf den religiösen Charakter der Hymne, besonders in der hebräischen Hymnenpoesie, hat zuerst Herder (Geist der hebräischen Poesie) hingewiesen. Die Psalmen, besonders der 29te und 33te, sind in der That treffliche Hymnen. Bei den Griechen wurde Andacht und Bewunderung teils durch feierlich stetigen Gesang des epischen Versmaßes (Homer, Kallimachos), teils durch den feierlichen und zugleich bewegten, lyrischen Gesang ausgedrückt. (Pindar.) Der Hymnus wurde bei festlichen Veranlassungen mit Musikbegleitung vorgetragen. Vom Gesang für die Gottheit löste sich das allgemeine Lied ab ─ als Ode auf seinen Ursprung weisend ─, wovon freilich die leichten Lebe= und Liebeslieder (die sog. Anakreontischen) ausgenommen sind. Die dem Bacchus gewidmete Hymne wurde zum begeisterten Gesang gleichsam des Rausches und hieß Dithyrambus (vgl. § 74), während der Sang zu Ehren Apolls: Päan hieß. ( Päan ist zunächst Fremdwort. Es soll nämlich Pa-iâon [Mann für Krankheiten] ägyptisch sein. Bei Homer erscheint Παιήων als Götterarzt und Stammvater der ägyptischen Ärzte ( Il. F 401 od. J 232), daher schon dort Il. A 473 παιήονα auch als Lobgesang oder Dankgesang für Erlösung von der Pest. Dann ebenso im Triumphgesang, mit Tutti oder Refrain Il. X 391─94. So wurde durch die Dorer besonders im Kulte des delphischen Apollon der Paian Lob=, Dank- und Gebetslied [in der Not] an Apollo und Artemis, an alle Schutzgötter. Eine kürzere Form ist der am Schluß des Gastmahls vor dem Symposium gesungene. Durch kretischen Einfluß wurde der Päan auch Angriffslied in der Schlacht; daher z. B. die Griechen bei Kunaxa unter Absingen eines Päan den Angriff einleiteten. &c.) Die äußere Form der deutschen Hymne ist entweder liedartig oder antik oder auch ganz frei. Beispiele der Hymne. a . An den Sturmwind, von Fr. Rückert. Mächtiger, der du die Wipfel dir beugst, Brausend von Krone zu Krone entsteigst, Wandle, du stürmender, wandle nur fort, Reiß mir den stürmenden Busen mit fort. Wie das Gewölke, das donnernd entfliegt, Dir auf der brausenden Schwinge sich wiegt, Führe den Geist aus dem irdischen Haus Jn die Unendlichkeit stürmend hinaus. Trage mich hin, wo die bebende Welt Rings in Verwüstung und Trümmer zerschellt! Über den Trümmern mit grausender Lust Fühl' ich den Gott in der pochenden Brust. b . Das große Hallelujah, von Klopstock. Ehre sei dem Hocherhabnen, dem ersten, dem Vater der Schöpfung! Dem unsre Psalme stammeln, Obgleich der wunderbare Er Unaussprechlich, und undenkbar ist. Eine Flamme von dem Altar an dem Thron Jst in unsere Seele geströmt! Wir freuen uns Himmelsfreuden, Daß wir sind, und über Jhn erstaunen können! Ehre sei ihm auch von uns an den Gräbern hier, Obwohl an seines Thrones letzten Stufen Des Erzengels niedergeworfne Krone Und seines Preisgesangs Wonne tönt. Ehre sei, und Dank, und Preis dem Hocherhabnen, dem ersten, Der nicht begann, und nicht aufhören wird! Der sogar des Staubes Bewohnern gab, Nicht aufzuhören. Ehre dem Wunderbaren, Der unzählbare Welten in den Ozean der Unendlichkeit aussäte! Und sie füllete mit Heerschaaren Unsterblicher, Daß Jhn sie liebten, und selig wären durch Jhn! Ehre dir! Ehre dir! Ehre dir! Hocherhabner! Erster! Vater der Schöpfung! Unaussprechlicher! Undenkbarer! Zur Litteratur der Hymne. Jm Geiste der hebräischen Poesie und durch dieselbe angeregt sind die Hymnen der ersten christlichen Kirche entstanden. Wir erwähnen hier von den christlichen Hymnologen zunächst die besten lateinischen Hymnendichter: Ambrosius (Bischof von Mailand, † 398 n. Chr., dichtete den Ambrosianischen Lobgesang „ Te Deum laudamus “. Nach einer Sage sollen bei der Taufe des Augustinus durch Ambrosius in der Osternacht 367 beide fromme Männer diesen Hymnus wie aus göttlicher Eingebung gedichtet und abwechselnd strophenweise vor der versammelten Gemeinde gesungen haben, bis endlich Augustinus mit den Worten geschlossen habe: In te domine speravi , deutsch: Auf dich habe ich gehofft, Herr! Die fromme Monika, Mutter des Augustinus, soll entzückt über diesen Gesang ausgerufen haben: Malo te Christianum Augustinum, quam Augustum imperatorem , d. h. Es ist mir lieber, daß du nun Augustinus der Christ bist, als wenn du Augustus der Kaiser wärest.) ─ Papst Gregor der Große, der einen erhebenden Morgengesang gedichtet hat, schuf auch kirchliche Hymnen. ─ Robert (König von Frankreich 997─1031, dichtete Veni sancte Spiritus , welches am Pfingstfeste und am Anfang eines neuen Schuljahres an katholischen Lehr-Anstalten immer noch gesungen wird. (Vgl. Wackernagel, K. L. I , 105.) Hermann der Lahme (Benediktinermönch im Kloster Reichenau am Bodensee, dichtete Salve Regina , Gegrüßet seist du, Königin). Bernhard von Clairvaux († 1153, wurde durch „ Salve Regina “ bei seinem Einzug in den Dom zu Speyer so ergriffen, daß er den nunmehrigen Schluß zudichtete: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria . Von ihm der schöne Kirchengesang: Jesu dulcis memoria ). Thomas von Celano (vom Minoritenorden, Mitte des 13. Jahrhunderts, dichtete das ergreifende Dies irae == Tag des Zorns, welches meist bei Totenmessen gesungen wird. Eine wirkungsvolle Musik zu diesem, das Weltgericht in erschütternder Weise schildernden Hymnus, danken wir Mozart). Thomas von Aquino († 1274, Verfasser der meisten Kirchengesänge für den Gottesdienst beim Fronleichnamsfeste, dichtete Lauda Sion und Pange lingua == Preis o Zunge, die als die erhabensten Festgesänge der katholischen Kirche berühmt sind). Jakopomus (Minorit, † 1306, dichtete Stabat mater == Es stand die Mutter, welches den Schmerz Mariä beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes ausdrückt, und am Fest der 7 Schmerzen in den katholischen Kirchen gesungen wird. Palestrina, Haydn, Rossini u. a. haben es komponiert). Hymnen in deutscher Sprache dichteten: Kleist (Die Größe Gottes). Uz (Preis des Höchsten). Klopstock (Die Frühlingsfeier; Dem Erlöser; Der Erbarmer; Die Glückseligkeit Aller). Denis (An Gott). Stolberg (Der Himmel; Schwanengesang). Novalis (Hymne an die Nacht). Ernst Schulze (Hymnus an die heilige Cäcila). Gellert. Goethe (Prometheus). Hölderlin (Hymne an den Äther). K. Gerok. A. Knapp. Knebel (An die Sonne). v. Haller (An die Ewigkeit). Schubart (Erstickter Preisgesang). Schiller (Das eleusische Fest). Platen brachte in der Hymne die lyrische Kunst auf den Gipfel. Sein Nachfolger Johannes Minckwitz, welcher vier der größten Pindarschen Hymnen übersetzte und über 20 frei dichtete, ist weiter vorgeschritten als Platen a . in der Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen Strophen als Dreigliederung anreihte, b . im freieren, flüssigeren deutschen Stil. Wilh. Müller (Pfingsten). Rückert (bei welchem manche Hymnen die ausländische Form des persischen Ghasels annahmen, was auch bei Oden der Fall ist. Z. B. Flammt empor in euren Höhn, Morgensonnen, lobt den Herrn. An das Meer. Von seinen Hymnen in Strophen nenne ich: An die Göttin Morgenröte. Die Allgegenwärtige. Gesang der heiligen drei Könige ist im freiesten Versmaß gedichtet). Anastasius Grün, Geibel, Hamerling, Spitta, Otto Banck, J. Neumann u. a. § 74. Dithyrambus. Wie das gewöhnliche Lied in der Ode und das geistliche Lied in der Hymne eine höhere Form besitzen, so das gesellige Lied in der Dithyrambe (vom griechischen διθύραμβος == Beiname des Bacchos). Jeder Erguß auflodernder Gefühle voll stürmisch=trunkener Begeisterung heißt Dithyrambus. Das gesellige Lied heißt Dithyrambe, wenn Empfindung und Ausdruck (in bezug auf gesellige Freude, Wein und Liebe &c.) höheren Schwung, eine gleichsam trunken=schwärmerische, poetische Erregung annehmen. Die Dithyrambe atmet stürmische Begeisterung, überströmendes Wonnegefühl und liebt auch in der Form eine an Ungebundenheit grenzende Freiheit. Zuweilen wird statt Wein der Gott des Weines Bacchus (oder Dionysos, dem überhaupt die ersten Dithyramben galten und von dem ─ dem zweimal gebornen ─ sie ihren Namen haben) besungen, so daß die Dithyrambe eigentlich eine dem Bacchus gewidmete Hymne wäre. Die Dithyrambe ist noch feuriger, als die Hymne, wie wiederum diese mehr Schwung hat als die Ode. Jm Gegensatz zur Hymne ist es eben die irdische Wonne, welche in der Dithyrambe den Dichter begeistert, ja fast trunken macht, obwohl ihr Stoff nicht ausschließlich das Zechen, Trinken und irdischen Genuß zu preisen braucht. Die bekannteste Dithyrambe ist Schillers „Lied an die Freude“ (Freude, schöner Götterfunken &c.), sowie J. H. Voß' Dithyrambus (Wenn des Kapweins Glut im Krystall mir flammt). Außer einigen Liedern, welche den Übergang vom Lied zum Dithyrambus bilden, sind bei Rückert eigentliche Dithyramben in den östlichen Rosen zu finden. Dithyrambisch ist z. B. sein „Lebensgnüge“. Dithyrambisch, jedoch mit mehr odenmäßigem Jnhalt, sind ferner von ihm: Zum Empfang der rückkehrenden Preußen, Adler und Lerche &c. Dithyramben liefert Schmidt-Cabanis in „Wechselnde Lichter“, z. B. Ein lustig Totentänzlein S. 106 &c. Beispiele der Dithyrambe. Am ersten Maimorgen, von M. Claudius. Heute will ich fröhlich fröhlich sein, Keine Weis' und keine Sitte hören; Will mich wälzen, und vor Freude schrein, Und der König soll mir das nicht wehren. Denn er kommt mit seiner Freuden Schar Heute aus der Morgenröte Hallen, Einen Blumenkranz um Brust und Haar Und auf seiner Schulter Nachtigallen. Und sein Antlitz ist ihm rot und weiß, Und er träuft von Tau und Duft und Segen ─ Ha, mein Thyrsus sei ein Knospenreis, Und so tauml' ich meinem Freund entgegen. Dithyrambe, von Schiller. Nimmer, das glaubt mir, erscheinen die Götter, Nimmer allein. Kaum daß ich Bacchus, den lustigen, habe, Kommt auch schon Amor, der lächelnde Knabe, Phöbus, der herrliche, findet sich ein. Sie nahen, sie kommen, die Himmlischen alle, Mit Göttern erfüllt sich die irdische Halle. Sagt, wie bewirt' ich, der Erdegeborne, Himmlischen Chor? Schenket mir euer unsterbliches Leben, Götter! Was kann euch der Sterbliche geben? Hebet zu eurem Olymp mich empor! Die Freude, sie wohnt nur in Jupiters Saale; O füllet mit Nektar, o reicht mir die Schale! Reich' ihm die Schale! Schenke dem Dichter, Hebe, nur ein! Netz' ihm die Augen mit himmlischem Taue, Daß er den Styx, den verhaßten, nicht schaue, Einer der Unsern sich dünke zu sein. Sie rauschet, sie perlet, die himmlische Quelle; Der Busen wird ruhig, das Auge wird helle. Litteratur der Dithyrambe. Besonders reich an Dithyramben waren die Griechen. Die beiden horazischen Oden II . 19 und III . 25 werden zwar als Nachbildungen griechischer Dithyramben angesehen; aber sie haben weder die Ungebundenheit des Versmaßes derselben, noch deren begeisterten Schwung. Außer den Fragmenten bei Bergk Poetae lyrici graeci P. III ist besonders Eurip. Bacch . 64─165 als eine annähernde Dithyrambe zu vergleichen. Horaz bezeichnet Od. 4. 2 die Pindarschen Dithyramben durch folgende 3 Züge: per audaces nova Dithyrambos verba devolvit numerisque fertur Lege solutis . Bei uns nannte zuerst Willamov seine 1763 erschienenen lyrischen Gedichte wegen der in ihnen herrschenden Begeisterung Dithyramben. ─ Klopstock wählte für sein Odengebäude Wingolf den dithyrambischen Ton, den er jedoch in der Umarbeitung alterierte. Dithyramben finden wir bei den Stürmern und Drängern, z. B. Maler Müller; ferner bei Schiller, Goethe (Wanderers Sturmlied), Voß, Kopisch, Kretschmann, Schubart, Tieck, sowie bei Rückert, Scheffel, Hertz, H. Heine, Bodenstedt, Müller v. d. Werra u. a. § 75. Elegie. 1. Die Elegie ist eine Art höchstbegeisterten elegischen Liedes (§ 67), ein Gedicht, welches in gehobeneren Gefühlen und im höheren Geistesfluge als das elegische Lied einherschreitet, dabei auch dem sinnenden Verweilen, dem betrachtenden, reflektierenden Beschauen Raum gestattet. 2. Bei den Griechen war der Elegos eine besondere Art ihrer sog. Threnoi ( θρῆνος ). Aus dem griechischen Elegos (== Klagelied, Trauerlied) wurde die Elegie und das Elegeion, d. i. jedes in Distichen verfaßte Gedicht. 3. Das Versmaß der Elegie war das Distichon. ─ Bei unserer Elegie ist es nicht absolutes Erfordernis. 1. Die deutsche Elegie charakterisiert neben sinnendem Verweilen hochflutendes Schmerz- oder Wehmutsgefühl, süße, tiefe, ungestillte Sehnsucht, schwärmerischer Tiefsinn der Liebe, schmelzende Klage. Jede Elegie verlangt ein episches, der äußeren Wirklichkeit entlehntes Objekt, das der begeisterte Dichter mit seiner subjektiven Empfindung durchdringt. Jm allegorischen Sinne ist die Elegie eine Genie oder Nymphe genannt worden (F. H. Jakobi), welche, das Gesicht in die Hand gelegt, voll Rührung und sanfter Wehmut, nachdenkend, in Erinnerung verloren ruhig dasitzt. Ein halb zerrissener Kranz in ihren Locken und ein welker Blumenstrauß auf ihrem Schoße erinnern an entflohene Freudentage, an herben Verlust. Jn der Ferne ist ein Grabmal zu sehen, von dem nur die obere Hälfte aus einem Cypressenwalde hervorragt. Hinter diesem liegt ein Hügel voll Rosenknospen und Morgenrot. Der Ton der Elegie ist so verschieden, als auch der Anlaß und die Art der Trauer verschiedene sind; anders klagt die Jungfrau, die ihren Weltschmerz nicht entdecken will, anders der Freund, der den früh geschiedenen Genossen seiner Jugend betrauert u. s. w. 2. Eine naive Etymologie leitet das Wort Elegie von ἔ ἔ λέγειν == weh weh rufen ab. Das ist jedoch nicht stichhaltig; eher wäre an eine Verwandtschaft mit ὀλολύζω == klagen, wimmern, namentlich zu den Göttern empor, und ἀλαλάζω == ein Kriegsgeschrei erheben, zu denken. Beachtenswert ist, daß in Vorderasien, wo Flötenspiel zu Hause war, elegn das Rohr, (vgl. Plin . 16. 36. 66) die Flöte, geheißen haben soll. Diese war nämlich das begleitende Jnstrument der alten griechischen Elegie, wie ja auch der verwandten, späteren römischen Nänien. Die charakteristische Versart der Elegie war nach Wilh. Wackernagel der Pentameter, vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt, vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung von Elegos ( ἔλεγος ) ist Elegeion ( ἐλεγεῖον ), das vielleicht ursprünglich nur der Name des Pentameters war, dann aber jedenfalls der aus Hexameter und Pentameter zusammengesetzten Strophe, also des späteren sogenannten Distichons. Die neue Dichtungsart, die Elegie (d. i. das im Elegeion abgefaßte Gedicht), teilte mit dem alten Elegos die Anlehnung an die epische Wirklichkeit; sie sprach auch nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem Elegos den Gebrauch des Distichons samt der mit dem Gesange verbundenen Flötenbegleitung. Alles dies war Anlaß, jene von Elegos gebildete Ableitung Elegeion ( ἐλεγεῖον ) nun in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es ward nun eben jedes episch=lyrische Gedicht in der Form des Distichons Elegie, Elegeia ( ἐλεγεία ) genannt (entweder als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als sing. fem. ἡ ἐλεγεία ). Beispielsweise nannte man die Kriegslieder des Tyrtäos Elegieen. Auch Philetas und Kallimachos nannten ihre nicht klagenden Gedichte in Distichen Elegieen. Somit finden wir auch in den Benennungen eine Rückbeziehung auf die Epik: in der älteren, ἔπη , auf die reine eigentliche, in der späteren Elegie ( ἐλεγεία ) auf die lyrisch gefärbte, den Elegos ( ἔλεγος ). 3. Es ist wohl nicht zufällig, daß die Griechen, von deren eigentlichen Elegieen wir nur noch Fragmente besitzen, zu denselben sich des Distichons bedienten. Auf dem rollenden Rücken des Daktylus strebte der mehr epische Hexameter in's Unendliche, während ihm der wehmütige, stockende, mehr lyrische Pentameter seinen Halt gab, ihn zur Einkehr in sich selbst veranlassend. Der meist epische Vordersatz des Hexameters fand seine Ruhe im meist lyrischen Nachsatz des Pentameters. Die metrische Distichen-Form des Elegos ist auch auf die deutsche Elegie übergegangen. Jn unserer Zeit ist sie jedoch kein wesentliches, strenges Erfordernis mehr, ja, sie ist infolge des häufig angewandten zierdevollen Reims nicht einmal wünschenswert. Wir wählen jede Strophenform, z. B. die Kanzone (Schlegel in Totenopfer; Zedlitz, Totenkränze; Max Waldau &c.). Wackernagel empfiehlt die Terzine, die man bekanntlich bei erzählenden Gedichten beliebte. Opitz wandte den Alexandriner an, ebenso Flemming u. a.; auch Geibel (Welt und Einsamkeit). Rückert bediente sich häufig des Sonetts (vgl. Agnes' Totenfeier; Rosen auf das Grab einer edlen Frau), ebenso Platen &c. Beispiele und Litteratur der Elegie. Die elegischen Gesänge eines Tyrtäos, Solon, Theognis &c. preisen den Tod für's Vaterland und können als politisch=patriotische Elegieen bezeichnet werden. Mimnermos, der Stifter der zärtlichen, sanftklingenden Elegie, trauert in erotischen Weisen um seine geliebte Nanno. Von Simonides an, der das Distichon zu Grabschriften und Totenepigrammen benutzte, hat man die ganze Gattung des Silbenmaßes Elegie genannt. Die erotische Elegie haben bei den Römern Catull, Tibull, Properz und Ovid gepflegt. Jhre Elegien haben bereits den Charakter der antiken Elegie abgestreift und sind nur Klagelieder. Goethe in seinen römischen, nach griechisch=römischen Mustern gebauten Elegien setzte in den Geist des Properz und des Tibull ein. Goethes Elegien haben etwas veränderten Jnhalt, insofern sich in ihnen nicht selten heiterer Lebens- und Kunstgenuß auf dem Hintergrunde einer untergegangenen gewaltigen Welt ausspricht. Er näherte sich dadurch der antiken Elegie, die ja auch das beunruhigte Gemüt zu erheitern strebte. (Vgl. Goethes Elegie Euphrosyne; ferner die anders gestalteten römischen Elegieen, der neue Pausias, Amyntas, und Alexis und Dora.) Aus Kleists Elegie „Sehnsucht nach Ruhe“ spricht seine Schwermut, die ihn von dem Punkt an befiel, als er gezwungenermaßen in's Militär eintrat. ─ Klopstocks Elegie „An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen, der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe aus in der reizenden Elegie, die er also schließt: Leidender, ewiger Geist Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde, Das nur rufe zurück! O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen! Warum liegt ihr zerstreut? Warum lieget ihr nicht in blühenden Thalen beisammen? Oder in Hainen vereint? Leitet den sterbenden Greis! Jch will mit wankendem Fuße Gehn, auf jegliches Grab Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume Für die Enkel erziehn, Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung Meiner Unsterblichen sehn, Zitternd gen Himmel erheben mein Haupt, und weinen, und sterben! Senket den Toten dann ein Bei dem Grabe, bei dem er starb! Nimm dann, o Verwesung! Meine Thränen, und mich! ... Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern! Wie die Ewigkeit ernst, Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele Faßt dich, Gedanke, nicht mehr! Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.) Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie: Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest, Wert, in dieser Beschattung nicht zu wachsen, Wert, schnell wegzublühen, der Blumen Edens Beßre Gespielin! (Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.) Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen, Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste. Doch ein Sturmwind wird (o er kömmt! entflieh du, Eh' er daher rauscht), Grausam, indem du nun am hellsten glänzest, Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet, Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern, Aber durch Thränen! Reizend noch stets, noch immer liebenswürdig, Lag Clarissa, da sie uns weggeblüht war, Und noch stille Röte die hingesunkne Wange bedeckte. Freudiger war entronnen ihre Seele, War zu Seelen gekommen, welch' ihr glichen, Schönen, ihr verwandten, geliebten Seelen, Die sie empfingen, Daß in dem Himmel sanft die liedervollen, Frohen Hügel umher zugleich ertönten: Ruhe dir, und Kronen des Siegs, o Seele, Weil du so schön warst! So triumphierten, die es würdig waren. Komm, und laß wie ein Fest die Stund' uns, Cidli, Da sie fliehend uns ihr erhabnes Bild ließ, Einsamer feiren! Sammle Cypressen, daß des Trauerlaubes Kränz' ich winde, du dann auf diese Kränze Mitgeweinte Thränen zur ernsten Feier Schwesterlich weinest! Jn der Elegie „An den Frieden“ drückt Ramler mit kräftigem, ungekünsteltem Ausdruck den Wunsch nach Frieden aus. Wir hören die vom Kriege geängstete Menschheit in Not und Elend rufen: Mit unsern Rossen fährt er Donnerwagen, Mit unsern Sicheln mäht er Menschen ab; Den Vater hat er jüngst, er hat den Mann erschlagen, Nun fordert er den Knaben ab. Erbarme dich des langen Jammers! rette Von deinem Volk den armen Überrest! Bind' an der Hölle Thor mit siebenfacher Kette Auf ewig den Verderber fest. Aus der Elegie „Bei dem Begräbnis eines Kindes“ von Claudius spricht christliche Resignation, die den Schmerz zu verklären vermag. Sie schließt: Schlaf wohl denn, bis die Stimme ruft! Wir gönnen dir dein Glück, Und gehen heim von deiner Gruft Und lassen dich zurück. Jn engem Rahmen sind in Höltys „Elegie auf ein Landmädchen“ viele treffende Bilder vereint und der Gegensatz städtischer Eitelkeit und ländlicher Einfalt herrlich hervorgehoben. Die 3. Strophe lautet: Wie ein Engel stand im Schäferkleide Sie vor ihrer kleinen Hüttenthür; Wiesenblumen waren ihr Geschmeide, Und ein Veilchen ihres Busens Zier. Jhre Fächer waren Zephyrs Flügel, Und der Morgenhain ihr Putzgemach; Diese Silberquellen ihre Spiegel, Jhre Schminke dieser Bach. Matthisson, der ähnliche Elegien schrieb (vgl. Elegie in den Ruinen geschrieben), lehnt sich an eine landschaftliche Wirklichkeit an, in die er den Leser nicht einzuführen vermag; er hat ungesunde Affektation und Sentimentalität, die man bei dem naturwahren innigen Hölty nicht findet. A. W. Schlegel beginnt in seiner Elegie „Rom“ mit Gründung der Stadt, um nach lyrisch epischer Ausführung der Elegie einen an Frau v. Sta ë l gerichteten rein lyrischen Abschluß zu geben. Ergreifend wirkt die Übersetzung Gotters einer auf einem Kirchhofe geschriebenen Elegie des britischen Pindars Thomas Gray († 1771). Eine der besten Elegien ist Schillers Spaziergang, der ursprünglich auch Elegie benannt war. Eine Landschaft ist's, die der Dichter durchwandert und der er historischen Charakter in den einzelnen Bildern verleiht. Die Beschreibung der Gegend wird von lyrischen Betrachtungen durchzogen; der Wechsel der Naturscenen erscheint nur als Abbild der sich immer mehr von der Natur entfremdenden Menschheitsgeschichte, sie gipfelt in der Überzeugung, daß die Menschheit nur in der Rückkehr zur unveränderlichen Natur ihr Heil finden könne. Die lyrische Betrachtung allein hätte für eine Elegie genügt; um so gedrungener und vollendeter ist sie durch den auf Natur und Geschichte gebauten Parallelismus, um so mehr bietet sie dem im Präsens sprechenden Dichter Gelegenheit zur Entfaltung einer durch und durch gemütentsprossenen Lyrik. (Auch Schillers Siegesfest, Kassandra, Die Götter Griechenlands, Sänger der Vorwelt, Pompeji und Herkulanum, sowie Das eleusische Fest sind wohl zu beachten.) Erwähnenswert sind von den deutschen Elegiendichtern außer den genannten noch: Opitz. Haller (Auf den Tod seiner Gattin). Zachariä (Die Nacht). Denis (Abschied von der sichtbaren Welt). Pfeffel (Auf Sunims Grab). Jakobi (Die Linde auf dem Kirchhofe). Salis (Mitleid). Herder (Des Einsamen Klage). Bürger (Bei dem Grabe meines guten Großvaters Jacob Philipp Bauers). Stolberg (Der Abend). Voß (Besorgnis). Tiedge (Elegie auf dem Schlachtfelde von Kunersdorf). Kosegarten (Nachtgesang). Novalis (Sehnsucht nach dem Tod). Körner (Die Eichen). Mahlmann (Lied des Trostes). Sonnenberg (Die Grabesblumen auf Jdas Hügel). Uhland (An den Tod). Chamisso (Schloß Boncourt). Hebel (Auf einem Grabe). Miller (Klagelied eines Bauern). Tieck (Lied von der Einsamkeit). Ernst Schulze. Hölderlin (Der Wanderer). Mörike (Die schöne Buche). Nic. Lenau (Natur und Geschichte werden von ihm in originellen, ergreifenden, bilderreichen, durch Zartheit und Jnnigkeit der Empfindung, wie durch düstere Wehmut und Melancholie ausgezeichneten Elegien besungen). Seidl (König Erichs Glaube). Foglar (Zypressen, Strahlen und Schatten). Emil Rittershaus. Zelle. Freiligrath (Die Bilderbibel). Kinkel. Alfred Meißner. Scherer. V. v. Strauß. Karl Beck. Th. Storm (Abseits). Dingelstedt (Am Grab Chamissos). H. Lingg. Minckwitz (Elegie an Carus 1844). Betty Paoli. Anastasius Grüns Schutt (Eine Sammlung bilderreicher Elegien, mit dem Grundgedanken, es werde aus Europas Zerstörung eine bessere Welt erblühen. Die vier Teile des Gedichtes sind: Der Thurm am Strande, eine Fensterscheibe, Cincinnatus, fünf Ostern). Karl Lehmann u. a. § 76. Nänie. 1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt), heißt Nänie. 2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener, sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien. 1. Die Nänien ( Neniae, Naeniae ) entsprachen in der römischen Litteratur den Threnoi ( θρῆνοι ) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang wurde von ihnen Nänie genannt. 2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen. Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.) Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora nach dem Siege über Sissera). Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B. das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien) und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der griechischen und lateinischen Übersetzung Threnos ( θρῆνος ) genannt werden, sind für diese Bezeichnung nicht episch genug. Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie. Beispiel der Nänie: Nenie von Schiller. Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget! Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk. Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde, Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt. Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, Wenn er, am skäischen Thor fallend, sein Schicksal erfüllt. Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. § 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen. Sobald die epische Poesie eines Volks eine gewisse Höhe erreicht hat, zeigt sich bei jedem Volke die Lyrik. Jst diese Lyrik Volkspoesie, so ist sie zugleich ein Bild des Volkscharakters, der Gefühls- und Anschauungskreise eines bestimmten Volkes. Jst sie Kunstlyrik, so ist sie ein Bild des bestimmten Dichters. Es ist jedenfalls lohnend, einen Blick auf die lyrischen Leistungen der fremden Litteraturen zu werfen und einzelne Repräsentanten herauszuheben. a . Die Griechen. Die Griechen mit ihrem schönen Himmel und ihrer herrlichen Natur zeichneten sich frühzeitig durch ihren Sinn für's Schöne und durch ihre lebhafte Phantasie aus. Jn der Epik leisteten sie das Höchste. Aber auch in der Lyrik wurden sie Vorbilder. Von den Hymnen des Orpheus (angeblich um 1250? wahrscheinlich eine späte Personifikation) behauptete man hyperbolisch, daß die Bäume die Wipfel neigten, und die wilden Tiere des Waldes lauschten, wenn sie gesungen wurden. Die weltliche Lyrik blühte besonders, als die Monarchien allmählich in Republiken sich verwandelten. Freundschaft, Vaterland boten den Stoff für die Lyrik. Die hervorragendsten Dichter dieser Zeit sind: Arion, welcher 624 v. Chr. der Schöpfer des Dithyrambus war und auf der Jnsel Lesbos lebte. Alkäus (ebenfalls von Lesbos, wo die lyrische Poesie blühte), etwas jünger als der vorige, wurde der Begründer der sog. alkäischen Strophe in seinen kräftigen Oden und Hymnen. Sappho, wegen ihrer Gesänge die lesbische Nachtigall und die zehnte Muse genannt, ist eine Zeitgenossin des Alkäos. Erinna, Zeitgenossin und Landsmännin der vorigen, dichtete die herrliche, uns erhaltene Hymne: „An die Stärke.“ Tyrtäos (Tyrtaios) aus Milet in Kleinasien, lebte in Athen während des messenischen Krieges. Durch seine Kriegsgesänge (Elegien genannt, von denen drei erhalten sind) feuerte er die Spartaner zu Kampfesmut an. Die 2te Blüteperiode der griechischen Lyrik war von Solons Gesetzgebung bis zur Thronbesteigung Alexanders des Großen (594─336 v. Chr.). Besonders zu erwähnen sind: Jbykos (durch Schillers „Kraniche des Jbykus“ bei uns populär geworden. Er hielt sich meist in Samos am Hof des Polykrates auf; von seinen Gedichten sind nur wenige Fragmente erhalten). Anakreon (530 v. Chr., hielt sich abwechselnd bei Polykrates und bei Hipparch in Athen auf. Seine Hymnen und Elegien sind verloren gegangen). Simonides aus Keos (559─469 v. Chr. dichtete Siegeslieder, Dithyramben &c.). Pindar (521─438 v. Chr., aus Theben, der bedeutendste griechische Lyriker. Seine 45 Siegesgesänge zur Verherrlichung der Sieger in den griechischen Nationalspielen gaben ihm größte Berühmtheit). b . Die Römer. Jhre Begeisterung für griechische Kunst und Wissenschaft trieb sie zu eigenem Schaffen an. Wenn ihre Pflege der Lyrik auch hinter den griechischen Leistungen zurückstand, so waren die lyrischen Dichter immerhin bedeutend genug. Horaz (von Ramler, Binder, Kayser u. a. übersetzt) schrieb seine Lyriken meist in der strengen Odenform. Sein Zeitgenosse Tibull schrieb vier Bücher Elegien, die von J. H. Voß übersetzt sind. Propertius, 9 Jahre jünger als der vorhergehende, dichtete ebenfalls Elegien. Catull (gest. 54 v. Chr.) schrieb 2 große Hochzeitslieder u. a. Publius Ovidius Naso, gewöhnlich Ovid genannt (geb. 43 v. Chr.), starb 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomi (jetzt Anadol=köi bei Küstendsche am schwarzen Meer). Seine „Klagelieder“ atmen tiefen Schmerz über die Verbannung. Er schrieb zuerst „Heroiden“ (21 an der Zahl) u. s. w. c . Die Hebräer. Die Religiosität ist das Grundgefühl der Lyrik dieses theokratischen, unter spezieller Leitung Jehovahs stehenden Volkes. Den ältesten Siegesgesang stimmte Moses an nach dem Durchgang durchs rote Meer. Samuel errichtete Prophetenschulen, in denen die Lyrik gepflegt wurde. David (1055 bis 1015 v. Chr.) zeigte sich in seinen Psalmen als bedeutender Lyriker. Salomo (1015─975) hinterließ in dem zur Vermählung seiner Tochter mit dem ägyptischen Könige Hophra gedichteten „Hohen Liede“ eines der wertvollsten lyrischen Gedichte. Auch bei den Propheten findet sich viel Lyrisches z. B. Jeremias (Klagelieder), Jesaias (Babels Fall), Ezechiel (Fall des Königs von Tyrus), Habakuk (Klaggesang) u. s. w. Vgl. auch das Buch Hiob u. a. d . Die Jtaliener. Den weichen Charakter der vokalreichen volltönenden Sprache der Jtaliener trägt auch ihre gefühlswarme, für den Gesang prädestinierte Lyrik. Der bedeutendste Lyriker der Jtaliener war: Petrarka (geb. 1304 n. Chr.). Seiner lateinischen Gedichte wegen wurde er zu Rom als Dichter gekrönt. Seine Kanzonen und Sonette, die er seiner Laura widmete, sind mustergültig. (Er wurde von K. Forster in's Deutsche übersetzt, auch von Joh. Gotthard von Reinhold.) Noch sind zu nennen Pietro Bembo († 1547), Alamanni († 1556), Giovanni della Casa († 1556), Torquato Tasso († 1595), Filicaja († 1707), Carlo Gozzi († 1806), Giuseppi Giusti († 1880), der italienische Beranger, Goffredo Manelli, der Theodor Körner Jtaliens während des Krieges 1859, und besonders Giac. Leopardi († 1837) und Alessandro Manzoni († 1873), welch' beide man als die Vorbilder der beiden Hauptrichtungen bezeichnen kann, die sich in jüngster Zeit in Jtalien geltend gemacht haben. e . Die Spanier und Portugiesen. Der Jahrhunderte währende Kampf des Christentums in Spanien mit dem Jslam entfaltete die religiöse Lyrik, die sich durch Prachtliebe und Jnnigkeit des Gefühls auszeichnet. Lope de Vega († 1635 n. Chr. mit dem Beinamen „das Wunder der Natur“), dichtete wunderbar innige geistliche Lieder. Einige sind von Diepenbrock im „geistlichen Blumenstrauße“ deutsch übersetzt. Von Lyrikern unseres Jahrhunderts sind zu nennen: Lista y Aragon, Jos é Joaquin de Mora, Martinez de la Rosa, der sich die klassische Schule der Franzosen zum Vorbilde nahm, Ventura de la Vega u. a. Jm benachbarten Portugal erwarb sich Luiz de Camo ë ns (1524─79) für alle Zeiten den Ruhm des größten Lyrikers seines Landes. f . Die Franzosen. Der Franzose mit seinem leichten, espritvollen Konversationstone kennt die Tiefe unseres Gefühles nicht. Daher ist seine Lyrik mehr leicht und geistreich, als tief und innig. Bei den Proven ç alen bildete sich allerdings im Mittelalter eine Poesie aus, die Religion und Liebe, sowie Abenteuer zum Gegenstande hatte: die sogenannte proven ç alische, deren Dichter Troubadours genannt wurden (von trobar oder trouver , ital. trovare , erfinden, ersinnen, erdichten). Die Zahl der Troubadours war so groß, als die unserer Minnesinger, welche durch sie manche Anregung erhielten. Von den späteren hervorragenden Dichtern sind zu nennen: Voltaire († 1778) und der größte klassische Dichter des 18. Jahrhunderts Rousseau († 1741), sowie aus unserem Jahrhundert: Lamartine († 1869), der 1848 eine Zeit lang Präsident der Republik war. Er begründete seit 1820 durch seine Méditations poétiques eine neue Zeit der höheren Lyrik, ebenso durch seine Harmonies poétiques et réligieuses . (Seine Werke sind von Gust. Schwab, Demmler und Herwegh deutsch übersetzt.) Jhm folgte die Periode des Romanticismus mit Viktor Hugo und Alfred de Vigny. Später war beliebt: Beranger (geb. 1780), ein Volksdichter, der bedeutendste Chansonnier, in dessen Chansons sich so recht der Charakter der Franzosen ausspricht, was schon deren Einteilung in „liederliche, politische und rein menschliche“ ersehen läßt. Jhm schlossen sich an Debraux, Auguste Vacquerie, Barbier, Quinet, A. de Musset, die schwärmerische, dabei zarte Frau Desbordes-Vallmore u. a. Als Elegiker haben sich bei den Franzosen neben Lamartine ausgezeichnet: Deshouli è res, La Lure, Victor Hugo u. a. g . Die Briten. Die Lyrik der Briten ist der deutschen verwandt. Sie ist tief, ernst, wenn auch die Form weniger klangvoll und anziehend ist, als bei den romanischen Völkern. Jn früherer Zeit waren die Minstrels die Repräsentanten der Lyrik. Sie trugen mit Harfenbegleitung die englischen Nationallieder vor und wahrten den Charakter der altenglischen Volkspoesie gegen das eindringende Franzosentum (z. B. unter Wilhelm dem Eroberer, der bekanntlich 1066 durch die Schlacht von Hastings den südlichen Teil Englands unterwarf). Die Schöpfer der englischen Lyrik sind: Graf von Surrey (1547), sowie Thomas Wyatt († 1542), Shakespeare (Dichter herrlicher Sonette, † 1616). Von den neueren Lyrikern sind zu nennen: Robert Burns († 1796), ein schottischer Landmann, dessen Lieder erfrischend wirken, wie Bergluft. Walter Scott (1771─1832). Lord Byron (1788─1824), wohl der bedeutendste Lyriker Englands. Thomas Campbell (1777─1834). Thomas Moore († 1852, ein gottbegnadeter Liederdichter. Seine „ Irish melodies “ sind von Freiligrath und Plönnies deutsch übersetzt). Zwei der jüngsten bedeutenden Lyriker sind Algeron Charles Swinburne und Alfred Tennyson. Die bedeutendsten Elegiker der Briten sind: Gray, Lord Byron, Shelly, Hammond, Beattie, Jermingham &c. h . Die Czechen. Der Charakter der czechischen Lyrik ist Weichheit in sanften Weisen, Sentimentalität, weshalb alle Lyriken in Moll-Weisen komponiert sind. Reich an Volksliedern sind besonders die Slaven und Böhmen, deren älteste Lyrik religiös war. Jhr ältestes, geistliches Lied (deutsch: „Herr, erbarme dich unser“) wird heute noch in czechischen Kirchen Böhmens gesungen. Auch weltliche Volkslieder haben sich aus früher Zeit erhalten, z. B. das von Goethe übersetzte „Sträußchen“ ( Kytice ), das viel Ähnlichkeit mit Goethe's Romanze hat. Wenzel I . trat als deutscher Minnesinger auf. Später erhielten sich die hussitischen Kirchen- und Kriegslieder, deren Melodien zum Teil von Luther benutzt sein sollen. Mit der Thronerhebung der Habsburger, besonders unter Rudolf II ., feierte die böhmische Litteratur ihr goldenes Zeitalter. Zu erwähnen sind als Dichter: Der Bischof der Brüder Joh. Augusta († 1575. Seine religiösen Poesien enthalten 20 000 Verse). Lomnicky von Budeck (geb. 1560, von Rudolf II . gekrönt und in den Adelstand erhoben). Von den Neueren: Celakovsky († 1852 als Professor in Prag; in's Deutsche übertragen von Wenzig). Johann Rolar († 1852. Neben slovakischen Volksliedern besitzt die Litteratur von ihm als Hauptwerk: Slary dceva == Tochter des Ruhmes: fünf Gesänge aus etwa 600 Sonetten bestehend. Analyse: Der Dichter lernt an der Saale die Tochter der Slava [Ruhm] kennen und liebt sie. Von ihr getrennt, erzählt er in Ungarn die Nachricht vom Tode der Jungfrau. Auch aus dem Jenseits geben die Sonette Mitteilung, schildern die Freude der Verklärten, die Qualen der Verdammten u. s. w.). i . Die Serben. Die Volkslieder der Serben sind durch Herder, Goethe, Grimm und besonders durch die Talvj (Pseud. von Ther. Albertine Luise Robinson) deutsch übersetzt worden. Einer der hervorragendsten Kunstdichter der Serben war der Vladika von Montenegro, Peter P. Nejkosch. Die ersten Lyriker der Neuzeit sind: Jovanowitsch. Sundetschitsch, Nenadowitsch, Raditschewitsch u. a. k . Die Ungarn. Als hervorragende ungarische Lyriker sind zu nennen: Johann Rimay († 1631), Graf Stefan Kohary († 1730), Nikolaus Zrinyi, Benedikt Viray († 1830) und Michael Vörösmarty († 1835). Der bedeutendste ungarische Lyriker der Gegenwart ist Petöfi (1823─49). Seine von Kertbeny in's Deutsche übersetzten Schlachtenlieder begeisterten 1848─49 die ungarische Jugend. l . Die Russen. Jn der lyrischen Poesie zeichneten sich in Rußland u. a. aus: Karamsin, Kapnist, Schukowski (Dichter der Nationalhymne „Gott beschütze den Kaiser“), Basil. und Alex. Puschkin, Dolgoruki, Rosenheim, Ogarew, die Gräfin Rostoptschin, Elis. Kulmann (welche deutsch, ital. und russ. dichtete) u. a. m . Die Neugriechen. Neben Alex. Ypsilanti und den Brüdern Sutsos, die durch ihre Freiheitslieder bekannt wurden, sind besonders gefeiert Athanasios Christopulos, Georgios Zalakostas († 1858) und Alexandros Zo ï ros. n . Nordische Völker. Die Poesie der nordischen Völker trägt den germanischen Charakter des Ernsten, Großartigen, Überwältigenden. Die Dichter Baggesen († 1826; er schrieb auch 2 Bände deutscher Gedichte), Steffens († 1845, ein Norweger), Munch, Bierregaard (Norweger), Öhlenschläger († 1850, Däne) und die Schweden Atterbom, Dahlgren, Nicander, Tegner († 1847) u. a. haben in ihren Litteraturen Unvergängliches geschaffen. o . Jnder. Lyrische Dichtungen der alten Jnder finden sich in den Vedas. Bedeutende Lyriker sind: Tschaura, Ghatakarpara, Bhartrihari, Amaru, Kalidasa, sowie Jayadevas, der Verfasser des herrlichen Liebesidylls Gita= Gowinda. Jn unserem Jahrhundert werden als hervorragende indische Lyriker gerühmt: Mumin aus Delhi († 1852), Na ç ir († 1843), Atasch († 1847), Mul-Chand, der Übersetzer des Schah-Nameh; endlich Mamnun, der beliebteste indische Lyriker der Gegenwart u. a. m. p . Perser. Zu den berühmtesten Lyrikern des 12. Jahrhunderts gehören: der Odendichter Chakani, und Saadi. Dann begann mit Hafis die Blüte der persischen Lyrik. (Man vgl. die deutschen Ausgaben: Daumers Hafis, 2. Ausg. Hamburg 1846. Ferner: Duftkörner aus persischen Dichtern, gesammelt von Hammer-Purgstall; endlich Rückerts Östliche Rosen &c.) Erwähnenswert sind: Enweri, Nisami, Dschelaleddin-Rumi, Dschami u. a. q . China. Als Denkmal der chinesischen Lyrik ist vor allem das von Rückert in metrischem Deutsch nachgebildete Liederbuch Schi-King zu erwähnen. r . Araber. Bei den Arabern ist besonders Abu Temmam (der Sammler der von Fr. Rückert in's Deutsche übertragenen Hamasa) neben vielen andern Lyrikern zu nennen, die der Leser zum Teil aus der erwähnten Rückertschen Hamasa kennen lernen kann u. s. w. Vgl. auch von Rückert: Amrilkais &c., sowie Hariri &c. s . Türken. Die beiden größten Lyriker der Türken waren Tedschati († 1508) und der unsterblich gepriesene Baki († 1600) u. s. w. Anthologien und Hilfsmittel. a . Für andere bedeutende Lyriker fremder Litteraturen, die hier begreiflicherweise nicht genannt werden konnten, sowie für ausgewählte Proben verweisen wir 1. auf Jolowiczs Polyglotte der orientalischen Poesie (Leipzig 1856), sowie 2. auf Scherrs Bildersaal der Weltlitteratur (Stuttg. 1848 und 1869). Erstere Anthologie umfaßt Chinesen, Jnder, Hebräer, Araber, Perser, Syrer, Türken, Tscherkessen, Afghanen, Armenier, Mongolen, Kalmücken, Turkomanen Kurden, Yesiden, Javanesen, Malayen, Bugis, Makassaren und Madagassen Scherr behandelt Jndien, China, Hebräer, Arabien, Persien, Türkei, Hellas, Rom, die Troubadours, Jtalien, Spanien und Portugal, Frankreich, England, Schottland, Jrland, Nordamerika, Deutschland, Niederland, Skandinavien, sowie die Slavenländer: Böhmen, Serbien, Polen, Rußland nebst Ungarn und Neugriechenland &c. Für Proben aus deutschen Lyrikern, die wir zum Teil nicht einmal erwähnen konnten, machen wir auf folgende Auswahlen aufmerksam: W. Menzel, Die Gesänge der Völker (Leipzig 1851). J. Schenkel, Deutsche Dichterhalle (Mainz. 2 Aufl. 1856). Rud. Gottschall, Blütenkranz neuer deutscher Dichtung (Breslau, 9. Aufl. 1878). E. Kneschke und M. Moltke, deutsche Lyriker seit 1850 (Leipzi. 3. Aufl. 1873). Maxim. Bern, deutsche Lyrik seit Goethes Tode (Leipzig). Gödeke, a . Elf Bücher deutscher Dichtung von Sebast. Brant bis auf die Gegenwart (2 Bände. Leipzig 1849); b . Edelsteine aus den neuesten Dichtern (Hannover 1851); c . Deutsche Dichtung im Mittelalter (Hannover 1852. Neue Ausg. 1871) u. s. w. Für ein beschauliches Betrachten einzelner hervorragender Lyriker dürfte sich neben andern in dieser Poetik bereits genannten Hilfsmitteln besonders auch die durch freundliche Detaillirung &c. sich auszeichnende, bereits in 5. Aufl. erschienene Deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts von Rud. v. Gottschall empfehlen, die auch wir hie und da (z. B. Bd. I . § 18) zu Rate ziehen konnten. Drittes Hauptstück. Die didaktischen Dichtungen . ────── § 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen. Wir unterscheiden 1. symbolische Didaktik, 2. Didaktik mit besonderer Tendenz, 3. eigentliche Didaktik. Das belehrende (instruktive), zugleich aber auch das erhebende, erbauende, belebende Element der didaktischen Dichtungen kann vom Dichter auf eine dreifache Weise eingeführt werden: 1. Er kann einen Gedanken, eine Jdee in einem Bilde versinnlichen. Diese Art einer Jnstruktion im höheren Sinne dieses Wortes, in welchem wir es nicht mit bloßem „Unterrichten“ verwechseln dürfen, kann man füglich als symbolische Didaktik bezeichnen. 2. Jn einer anderen Art wirkt der didaktische Dichter dadurch, daß er der Verkehrtheit oder Einfalt gegenüber Jronie, Spott, Satire, Humor u. s. w. anwendet, indem er je nach seiner Gemütsart nicht offen bessern oder belehren, vielmehr durch Feinheit des Witzes und Humors auf die rechte Bahn leiten will. Dieses charakteristische Verfahren bedingt das Lehrgedicht mit besonderer Tendenz. 3. Jn einem dritten Fall spricht der Dichter seine Gedanken, Jdeen, Belehrungen als solche unverblümt aus, die, weil er Dichter ist, immerhin poetisch=künstlerisch sein werden. Es entstehen auf diese Weise die eigentlichen didaktischen Gedichte. Somit haben wir drei Arten Lehrgedichte, welche (je nachdem sie einen einzelnen Gedanken oder eine Reihe von belehrenden Jdeen aussprechen) entweder kurze Sinngedichte, oder einfache didaktische Gedichte, oder große Lehrgedichte sein können. Nach diesen Gesichtspunkten ergiebt sich die folgende Einteilung: I . Symbolische Didaktik. 1. Fabel. 2. Parabel, Paramythie. 3. Sinnbild. 4. Allegorie. a . Allegorie. b . Rätsel. II . Didaktik mit besonderer Tendenz. 1. Satire. 2. Travestie und Parodie. 3. Humoristische Dichtungen. III . Eigentliche Didaktik. 1. Jdeale Gedankenlyrik. 2. Kulturhistorisches Gedicht. 3. Epigramm. a . Sinngedicht. b . Gnome, Spruch. 4. Poetische Epistel, Heroide. 5. Kurze lyrisch=didaktische Formen. 6. Wirkliches Lehrgedicht. I . Symbolische Didaktik. § 79. Fabel. 1. Eine kurze, einfache, erdichtete Erzählung, welche der Sprache unfähige Geschöpfe, oder auch leblose Gegenstände sprechend und handelnd einführt, um in belehrender Absicht dem Menschen sein eigenes Bild vorzuhalten, oder einen Erfahrungssatz aus dem Gebiet der Sittlichkeit zu versinnlichen, heißt Fabel (griech. αἶνος == Spruch ─ verwandt mit aio ? ─; lat. fabula von fari == sagen). Jhre Lehre ( didaxis ) bezieht sich lediglich auf einfache moralische Wahrheiten, auf Verhaltungs=, Klugheits- und praktische Lebensregeln, weniger auf tiefe Wahrheiten. 2. Die Fabel verlangt Einfachheit, Kürze, Kindlichkeit, und Beachtung des Charakters ihres Objekts. 3. Sie ist gleich der Mythe eine der ältesten Gattungen der Poesie. Der Vater der Fabel ist Äsop. 4. Jm Mittelalter hieß bei uns die Fabel auch Bîspël , von bî bei und spël Rede, Erzählung (gleichsam παραμυθία ). 5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche. 6. Fröhlich brachte ein lyrisches Motiv in die Fabel. 7. Das deutsche Sprichwort ist teilweise das übriggebliebene Epimythium (Lehre, Nutzanwendung) untergegangener Fabeln. 8. Die metrische Form ist vorzuziehen. 9. Das Einteilungsprinzip ist ein mannigfaches. Gewöhnlich unterscheidet man ernste und humoristische Fabeln. 1. Lessing definiert den Begriff der Fabel folgendermaßen: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Vischer sagt: „Die Fabel ist im besten Sinn ein Stück Bauernpoesie. Die Bauernklugheit entnimmt aber praktische Sätze, Regeln des Lebensverstandes aus dem verwandten Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der Sinnlichkeit, der List der Tiere.“ Obwohl ihrer Form und ihrer Natur nach zu den epischen Dichtungen gehörig, vereint die Fabel wie keine Dichtungsgattung die Zwecke und Teile der didaktischen Poesie. Unter der symbolischen Hülle des tierischen Jnstinkts stellt sie ihre Lehren als Handlungen der Tiere dar. Diese didaktische Tierfabel ist aus der epischen Tiersage entstanden. Die epische Tiersage beschränkt sich aber lediglich auf Tiere, welche ihre Orte wechseln können und durch ihre Art von Sprache und verständigem Urteil zur Übertragung menschlicher Geschichten auf die Tierwelt anreizen. Später gestattete man der Phantasie größeren Spielraum und führte neben Tieren auch Pflanzen und leblose Gegenstände redend ein. Auf dem Standpunkt heutiger Bildung dürfen anorganische und andere beliebige Gegenstände der Natur die Stelle der Tierwelt vertreten. Es kann z. B. das Schilfrohr zur Bezeichnung der Charakterlosigkeit dienen, die Eiche als Symbol der Kraft, der Selbständigkeit u. s. w. Menschen machen in der Fabel die geringste Wirkung, weil sich so leicht die menschlichen Leidenschaften mit in's Spiel mischen und die naive Anschauung wie die Überzeugung von der Wahrheit verhindern. Man würde auch immer erst eine Charakteristik vorausschicken müssen, was bei Tieren mit ihrem bekannten typischen Charakter und bestimmten Jnstinkt überflüssig ist, bei dem sogar die Handlung den Schein einer Notwendigkeit trägt. Die Erzählung in der Fabel ist nicht eigentliche Absicht, vielmehr ist die Erzählung nur für Vermittlung einer Moral gegeben. Das was die Fabel lehrt, heißt ihre Moral. Diese aus der Fabel zu schöpfende Moral (Lehre oder Nutzanwendung) ist oft ihrer Erzählung angehängt. Jn diesem Fall heißt sie Epimythium ( ἐπιμύθιον == Nachwort), das im Latein regelmäßig eingeleitet wird mit haec fabula docet . Jst die Lehre am Anfang ausgesprochen, so heißt sie Promythium. 2. Anforderung. Die Fabel muß einfach, naturgemäß, kurz, anschaulich, verständlich in Bildern und Sprache, kindlich im Tone sein, damit das niedere Volk und die Kinderwelt, für welche diese didaktische Volksdichtung geschrieben zu sein scheint, ihre Moral leicht zu erkennen vermögen. Das redende oder handelnde Tier muß so gewählt und gezeichnet sein, daß der Mensch in ihm seine eigenen guten und bösen Eigenschaften erkennt. Die Bestimmtheit der Charaktere (z. B. die List des Fuchses, die Treue des Hundes, die Trägheit des Esels u. s. f.) darf von dem Dichter nicht verändert werden. Nur dadurch, daß z. B. der Esel ein Esel bleibt (also nicht etwa den Mut des Löwen zeigt), bleibt die Fabel naiv, wirklich. Die Fabel will nicht als Allegorie, sondern als Wirklichkeit aufgefaßt sein. Es sind deshalb nur Regeln und Wahrheiten für das gewöhnliche Leben, welche in der Fabel ihren Ausdruck finden, weil ja höhere Wahrheiten und tiefe erhabene Regungen des Menschenherzens nicht auf die Tiere zu übertragen sind. Die Poesie der Fabel besteht nach Götzinger darin, daß der Dichter in eine Sache, die an und für sich nur dem Verstande einleuchten soll, poetisches Leben bringt; daß seine Figuren also nicht bloß als personifizierte Abstrakta auftreten, sondern eine lebendige, bestimmte Gestaltung gewonnen haben; daß er unser Jnteresse nicht nur für den Sinn der Fabel erregt, sondern für die Form derselben; daß also die Fabel uns nicht mehr als bloße Einkleidung erscheint, sondern als selbständiges Werk, welches uns erfreut, auch wenn wir gar nicht auf Sinn und Zweck desselben sehen. 3. Die Fabel (wie ja auch ihre für sittliche Lehren von höherer Bedeutung geeignete Seitenart: die Parabel) entwickelte sich am frühesten bei den Orientalen: den Jndern und den Juden, welche letztere die ältesten Fabeln und Parabeln besaßen. (Z. B. Richter 9. 8─15, und 2. Sam. 12. 1─4.) Die Griechen hatten nach dem Tierepos Batrachomyomachie (das fälschlich dem Homer zugeschrieben wird) die kurze, präcise, die Absichtlichkeit auf der Stirn tragende Fabel von Äsop um 600 v. Chr. (bearbeitet von Babrios im 2. Jahrhundert v. Chr.) mit ihrer Nutzanwendung. Man nennt diese äsopische Fabel die epigrammatische. Die Lateiner, welche dem Äsop als dem Vater der Fabel nachdichteten, besonders Phädrus, liebten ebenfalls den moralischen Anhang. Dies war auch bei unsern Fabeln des Mittelalters der Fall, die den Lateinern nachgedichtet sind. Unsere Fabel wurde bald redseliger, als bei den Lateinern und den Griechen, und erhielt nach dem Latein eine angefügte Moral. Wir hatten bereits einen um den Fuchs Reinecke gesammelten Tiersagenkreis, ließen uns aber gern die äsopische Fabel gefallen. Man behandelte und verdarb teilweise einheimische Tiersagen; d. h. man äsopisierte sie ebenso, wie man äsopische Fabeln nationalisierte. So verschwand die epische Tiersage aus der Poesie der Gebildeten und das dem Altertum entlehnte Fremde, die didaktische äsopische Tierfabel, siegte. (Jm Fuchs Reinhart, wie später in Rollenhagens Froschmäusler (1505), welch letzterer auf der Batrachomyomachie aufgebaut war, wiederholte sich der Versuch, eine ganze Epopöe didaktisch auszuführen, wobei trotzdem der symbolische Charakter (d. i. die Lehrabsicht) fehlt. Reinecke Fuchs, der bis nach Altindien hinüber reicht, und den Goethe in's Hochdeutsche übertrug, war anfangs auch bloß eine harmlose Schilderung des Tierlebens, und der Erzählung wegen da. Erst später wurde er absichtlich zum Sinnbilde des Menschenlebens gemacht, das ja dem Tierleben in so vielen Beziehungen so ähnlich ist, wurde er episch=didaktisch.) 4. Die didaktisch gemeinten Fabeln und Erzählungen bezeichnete man im Mittelalter durch den gemeinschaftlichen mittelhochdeutschen Namen „Bispel“, woraus unser Wort Beispiel wurde. (Nicht verwandt mit spel ist das Spiel, wohl aber in Kirchspiel. Grundwort lat. (s)pellare , z. B. ap ─ anreden, com ─ bereden; frz. épeler , engl. spell , wovon go(d)spel == Gotteswort, Evangelium, demnach bîspël == Nebenerzählung : Parallele.) 5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche. Er war es, der gegen die allmählich sich einbürgernde Breite und Geschwätzigkeit der deutschen Fabel reformatorisch vorging und die äsopische Fabel als Muster hinstellte. Nach seinem Vorgang beschränkte man sich bei uns in den Fabeln auf ein Ereignis und befleißigte sich der äsopischen Kürze. Jn seinen eigenen Fabeln vom Jahre 1759 sucht er irgend einen moralischen Kern aus der Tierwelt zur Anschauung zu bringen ohne besondere Nutzanwendung: ohne Epimythium. Seine Nachfolger, die ihm zum Teil in Anwendung der Prosa folgten, haben ebenfalls dem Leser die moralische Nutzanwendung überlassen. 6. Fröhlich († 1865) gab der Fabel eine neue Wendung, indem er sie aus dem Gebiet der Epik dem der Lyrik näherte, die Wirklichkeit weniger verstandesmäßig als gemütlich auffaßte und seinen Fabeln, bei denen er die sittliche Bedeutung in die Handlung legte, poetische Form ohne Epimythium verlieh. 7. Von vielen alten Fabeln blieb nur ein kurzer Rest übrig, den man Sprichwort nennt. Somit ist das Sprichwort einer paläontologischen Betrachtung fähig und wert. Es ist eine Art versteinertes Knochengerüste früherer, in Vergessenheit geratener Fabeln. 8. Bezüglich der Form der Fabel ist metrische Gestaltung der Prosa vorzuziehen. Lessing hat nach seinem eigenen Geständnisse nur deshalb Prosa gewählt, weil er befürchtete, Reim und Silbenmaß werden hie und da dem naiven Ausdruck entgegen treten oder ihn ─ den Meister ─ meistern. 9. Man kann die Fabel einteilen in a . theoretische (Verstand bildende), b . sittliche (Willen bestimmende), welche beide Arten ein Ereignis in der Natur als Gesetz darstellen für die allgemeine Weltordnung, der auch der Mensch gehorchen muß; die Geschichte der Fabel zeigt hier, wie es in der Welt geht; c . Schicksalsfabeln, welche das Walten einer höheren Macht im Erdenleben als Nemesis zeigen; die Lehre der Fabel heißt sodann: so mußte es kommen; das sind die Folgen. Sonst teilt man die Fabeln noch ein: in ernste und in humoristische Fabeln; ferner in Fabeln mit angehängtem Epimythium und ohne ein solches; endlich in Tierfabeln und solche, welche leblose Gegenstände redend einführen. Beispiele der Fabel. A . Tierfabel . a . Mit Epimythium. Das Schäfchen und der Dornstrauch, von Hagedorn. Ein Schäfchen kroch in dicke Hecken, Dem rauhen Regen zu entgehn. Hier konnt' es freilich trocken stehn; Allein die Wolle blieb ihm stecken. Beglückt ist, den dies Schaf belehrt. Bethörte Hadrer, laßt euch raten: Vertraut die Wolle nicht den scharfen Advokaten, Oft ist, was ihr gewinnt, nicht halb der Kosten wert. b . Tierfabel, die das Epimythium dem Leser überläßt. Das Johanniswürmchen, von Pfeffel. Ein Johanniswürmchen saß, Seines Demantscheins Unbewußt, im weichen Gras Eines Bardenhains. Leise schlich aus faulem Moos Sich ein Ungetüm, Eine Kröte, her und schoß All ihr Gift nach ihm. Ach! was hab' ich dir gethan? Rief der Wurm ihr zu. Ei, fuhr ihn das Untier an, Warum glänzest du? B . Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt . a . Mit Epimythium. Der Eppich und der Thymian, von Pfeffel. An einer Eiche Wurzel stand Ein Stäudchen Thymian. Ein Eppich, der den Baum umwand, Sah es voll Mitleid an. Du armes Ding, man sieht dich kaum, Sprach er zu ihm, und ich Erhebe mit Chronions Baum Bis an die Wolken mich. Jch trage, rief das Kraut ihm zu, Mich selbst, so klein ich bin; Doch ohne Stütze kröchest du Ja gar am Boden hin. Wer sich auf fremden Schultern hebt, Jst Sklave, wer er sei, Nur wer für sich im Dunkeln lebt, Kann sagen: Jch bin frei! b . Ohne Epimythium. Niederes Loos, von Abr. Em. Fröhlich. Zu der niedern Trauerweide, Grünend an dem klaren Bach', Sagt' die Pappel: „Wachs' mir nach Zu der Höhe stolzer Freude!“ Und die Weide sprach dawider: „Pappel, neige dich hernieder Zu des Baches frischen Wellen, Wo mir solche Freuden quellen, Die du droben nicht genossen! Schau, wie hier die Blumen sprossen, Und die Sterne sich erhellen!“ Litteratur der Fabel. Als Fabeldichter sind zu nennen: Bei den Griechen Äsop (geb. in Phrygien um 550 v. Chr.). Er war ursprünglich Sklave und lebte dann am Hofe des Krösus. Seine nur durch Erzählung fortgepflanzten Fabeln wurden 300 v. Chr. gesammelt und erst im 2. Jahrh. v. Chr. von dem griechischen Dichter Babrios in choliambische Verse gebracht. Jhm dichtete der Römer Phädrus nach (kurz v. Chr. Geburt). Er schrieb im jambischen Trimeter Fabulae Aesopiae in 5 Büchern; 60 Fabeln hievon scheinen eigener Erfindung. 32 wurden erst 1727 aufgefunden. Von Phädrus haben teilweise die Stoffe entlehnt: Stricker, als der älteste deutsche Fabeldichter (Mitte des 13. Jahrh.). Boner (1340. Edelstein; es sind dies 2100 Fabeln in einfacher Sprache, die lange ein Lieblingsbuch waren). Gerhard von Minden, Burkhard Waldis (letzterer der bedeutendste Fabeldichter des 16. Jahrhunderts, der als solcher über Luther, Hans Sachs und Alberus von Neubrandenburg im Mecklenburgischen steht, welch letzterer durch seine Sammlung von 49 satirischen Fabeln bekannt ist. Waldis schrieb den „Neuen Esop“, eine Sammlung von 400 teils selbst erfundenen, teils nachgebildeten Fabeln). Dann seit 1740 die Mehrzahl der Fabeldichter von Hagedorn und Gellert bis Fröhlich. Von den Arabern ist zu nennen Lokman. Er lebte lange vor Muhamed. Seine Fabeln sind den Äsopischen ähnlich, weshalb man vermutete, daß teils aus dem Sanskrit, teils aus dem Griechischen verschiedene Fabeln in's Arabische übertragen und Lokman zugeschrieben wurden. Von den Jndiern sind erwähnenswert die Sammelwerke 1. Hitopadesa. (Die Dichter der Fabeln der Hitopadesa sind unbekannt. Die Hitopadesa wurde teilweise von Rückert übertragen oder benutzt. 1844 übersetzte sie auch Max Müller.) 2. Die Fabelsammlung Pantschatantra, die der Brahmine Wischnu Sarma vereint haben soll und deren Fabeln sich als Fabeln des Bidpai erhalten haben. (Der persische König Chosru Nuscherwan ─ 6. Jahrh. v. Chr. ─ ließ diese vom Weisen Bidpai erhaltenen Fabeln aus Jndien holen. Nach der Eroberung Persiens durch die Araber wurde die Sammlung des Bidpai in's Arabische übertragen; so ist sie uns erhalten worden.) Der Rosengarten des Saadi (persisch == Gulistan) und Der Fruchtgarten desselben Dichters († 1291 zu Schiras) sind bei den Persern berühmte Fabelsammlungen. Bei den Engländern sind Gay und Mandeville zu nennen. (Mandevilles Bienenfabel ist eine in gereimten Knüttelversen geschriebene Erzählung, die um 1714 das größte Aufsehen erregte, indem die große Jury das Buch als eines der unsittlichsten denuncierte, während es doch nur nachweisen wollte, wie aus dem Schlimmen oft Gutes erwächst. Jn seinem Bienenstocke sorgt alles nur für sich, die Juristen, die Ärzte, die Geistlichen, die Minister &c.; doch prahlte alles mit Ehrlichkeit. Jeder betrog und jeder rief: fort mit den Betrügern! Merkur lachte. Aber Zeus erlöste den Staat vom Betrug. Da sanken die Lebensmittelpreise &c. Keine Biene machte mehr Schulden, man imponierte nicht mehr nach außen. Man brauchte keine Künstler, keine Gewerbtreibenden mehr; ein Kleid genügte, die Genügsamkeit sammelte keine Schätze: der Staat wurde volklos. Die Moral lautet: Also lasset die Klagen. Die Reize der Welt, im Kriege Ruhm, und zugleich im Leben Luxus verlangen ohne große Laster, ist ein eitles, utopisches Hirngespinst. Durch die Gerechtigkeit gebändigt, hat auch das Laster sein Gutes; ja, sogar, wo das Volk groß dastehen will, ist es dem Staat ebenso notwendig, wie der Hunger notwendig ist, um zum Essen zu treiben u. s. w. Die Tendenz dieser Fabel ist nach dem Erwähnten ebensowenig eine Empfehlung des Lasters, als es eine Empfehlung des Zwanges wäre, wenn man sagt: „Hoffahrt muß Zwang leiden“ u. s. w.). Von den zu uns verpflanzten Franzosen sind besonders zu nennen La Motte und La Fontaine, dessen humoristische Fabeln dem Tiere den gesellschaftlichen Unterhaltungston verleihen. (Vergl. Edition corrigée Paris Libr. classique d'Eugene Belin .) Jn Deutschland sind außer den oben Genannten zu erwähnen: Hagedorn (z. B. der Hahn und der Fuchs; der Bauer und die Schlange). Kleist (der gelähmte Kranich); Gellert (er war wie Lichtwer und Gleim meist satirisch oder epigrammatisch; seine Sprache ist rein und seine Versifikation leicht, so daß er das Vorbild der meisten Fabeldichter der Folgezeit wurde). Eine gute Sammlung von Fabeln (Fabellese) gab Ramler heraus. Michaelis († 1772, z. B. Die Stadtmaus und die Feldmaus). Lichtwer schrieb vier Bücher Äsopischer Fabeln (z. B. Die Katzen und der Hausherr; Der Affe und die Uhr). Gleim (z. B. Der Greis und der Tod; Der Hirsch der sich im Wasser sieht). Müchler (Der Affe). Langbein (Das Pferd und der Stier). Tiedge (Das Privilegium). Pfeffel (schrieb sentimental=satirische Fabeln, z. B. Der Wolf, der Schöps und das Reh; Ochs und Esel zankten sich &c.). Gottl. Meißner († 1807. Fabelsammlung). Bertuch, der verdienstvolle Herausgeber des Bilderbuchs für Kinder in 237 Heften, schrieb wertvolle Fabeln von denen mehrere in Fabelsammlungen für Schüler übergingen (z. B. das Lämmchen; das milchweiße Mäuschen). Der Reformator der Fabel, der sie in seinen „Abhandlungen über die Fabel“ wissenschaftlich begrenzte, war Lessing. Er hat häufig den Stoff anderer Fabeln benutzt, um neue zu bilden. So läßt er z. B. das Stück Fleisch, welches bei Äsop dem Raben aus dem Schnabel fällt, vergiftet sein und erhält nun die Fabel: Der Rabe und der Fuchs. Oder er gestaltet die Moral edler (in Fab. Aes . 112). Oder unter Benützung des hauptsächlichsten Moments einer Fabel macht er eine neue Fabel, (z. B. wie dem Wolf der Knochen im Halse stecken blieb) u. s. w. Um die Reform der poetischen Fabel hat sich nach Lessing besonders der Schweizer Abr. Em. Fröhlich verdient gemacht. (Vgl. Ellengröße; die Sanften; Wiederfinden &c.) Ebenso that auch Rückert manches für die Fabel. Nach seinem Vorgang wurde die Fabel für Kinderlitteratur gepflegt durch Güll, Hey, Franz Hoffmann, Holzmüller &c. Von Rückerts Fabeln erwähnen wir: a . Nicht der Tierwelt angehörige, z. B. Messerchen und Gäbelchen; b . Aus der Tierwelt, z. B. Sperling und Kater; Die Beichte der Tiere; Des Hahn Gockels Leichenbegängnis. Goethe schrieb: Der Adler und die Taube. Jn neuerer Zeit sind nennenswert K. A. Mayers heitere Fabel Spatz und Spätzin, sowie die Fabeln von J. Sturm. Die unter dem Titel: „Vom Frühling zum Winter. Zwölf Mährlein von B. Paul“, in Leipzig erschienenen sogenannten „Märchen“ sind ein neues Genre dieses Verfassers, der dasselbe bereits durch seine vor einigen Jahren erschienenen „Abendmärlein für mein Mütterlein“ in die Litteratur eingeführt hat. Märchen im Schulsinn sind sie nicht; vielmehr könnte man mehrere derselben Pflanzen- und Tierfabeln nennen, erdichtete Erzählungen, welche die der Sprache unfähigen Geschöpfe oder Gegenstände sprechend und handelnd einführen, um das Bild der Menschen zu versinnlichen, Wahrheiten zu verkörpern oder die Elemente naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu verbreiten &c. § 80. Parabel. 1. Parabel (griech. παραβολή == Nebeneinanderstellung oder Vergleichung) ist jene didaktische Dichtungsform, welche durch eine Erzählung die indirekte Antwort auf eine bedeutungsvolle Frage des geistigen oder sittlichen Lebens bietet (wie z. B. Lessing auf die Frage nach der wahren Religion durch die Erzählung von den 3 Ringen antwortet ─ vgl. Nathan III 3). 2. Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches, vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie für eine Wahrheit. 1. Nachdem die Tiersage didaktisch geworden war, zog man auch die menschliche Geschichte, ja selbst die der Götter in das Gebiet des Didaktischen, und man wählte oft nur fingierte Ereignisse, um den Vorwand einer Lehre zu erhalten. So war man zur Parabel d. i. zur Gleichniserzählung gelangt, unter welcher man nunmehr diejenige poetische Dichtung versteht, welche im Gegensatz zur Fabel höhere Wahrheiten vorzuführen sucht. Sie knüpft ihre Lehre nicht an Tiere oder redend eingeführte Gegenstände, wie die Fabel, sondern bei der höheren Bedeutung ihrer sittlichen und religiösen Wahrheiten gegenüber den einfachen, volksmäßigen Wahrheiten der Fabel an rein menschliche Verhältnisse (vgl. das Gleichnis vom Säemann. Matth. 13. 3 ff.), oder an geschichtliche Begebenheiten, die immer wieder vorkommen können. Die Parabel enthält ein Gleichnis, und stellt einen einzelnen Seelenzustand, eine bestimmte Handlungsweise oder irgend ein Verhältnis des Menschen dar, nicht als ein einzelnes bestimmtes Ereignis, sondern als etwas Allgemeines. Sie dient als Sinnbild einer andern Handlung, der ein moralischer Satz als Bestimmungsgrund des Handelns untergelegt ist. Sie vergegenwärtigt einen Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend, als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte Belehrung. 2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn des § 116 (Bd. I .) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel a .) Bei der Lehre, welche die Fabel giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit: die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch, daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem höheren Geistesleben angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind. Nur ausnahmsweise werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung. Beispiele der Parabel. a . Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von Amara George. (Aus Mythoterpe. 1858. S. 406.) Es wollten einst die Bäume Sich einen König wählen. Sie sprachen zu dem Ölbaum: „Sei König über uns! Wir wollen unter Deinem Schirme leben.“ Der Ölbaum aber sprach: „Soll ich lassen von meiner Fettigkeit, Die mir so großen Ruhm verleiht, Um über Euch im Luftrevier zu schweben?“ Da sprachen sie, die Bäume, Zum Feigenbaum: „Wohlan, So sollst Du uns befehlen!“ Es sprach jedoch der Feigenbaum: „Soll ich lassen von meiner Süße, Von meiner Früchte Köstlichkeit, Die alle loben weit und breit, Solch einen luftigen Herrscher abzugeben?“ Da sprachen sie, die Bäume, zu dem Weinstock: „So sei Du unser Herr und Hort!“ Der Weinstock aber sprach: „Soll ich lassen von dem Safte meiner Reben, An dem sich alle Welt erfreut, Der Menschen und Göttern Wonne beut, Um über Euch Mich thronend in die Lüfte zu erheben?“ Da sprachen sie, die Bäume, Am Ende zu dem Dornbusch: „So woll'n wir uns in Deine Hut begeben; Sei du der König über uns!“ Und er darauf, der Dornbusch: „Ja, König sein, das ist mein Amt; Dazu geschaffen ganz und gar Bin ich offenbar; Vertrauet Euch dem Schatten, Den meine Gedörne geben! Wo nicht, so soll von ihnen Ausgehen ein Feuer, ein fressendes, Ein Grausen, ein nicht zu messendes; Es sollen vor ihm Die Cedern auf dem Libanon erbeben!“ b . Der thörichte Mann, von Fr. Rückert. Es ging ein Mann im Syrerland, Führt' ein Kamel am Halfterband. Das Tier mit grimmigen Geberden Urplötzlich anfing scheu zu werden, Und that so ganz entsetzlich schnaufen, Der Führer vor ihm mußt' entlaufen. Er lief und einen Brunnen sah Von ungefähr am Wege da. Das Tier hört' er im Rücken schnauben, Das mußt' ihm die Besinnung rauben. Er in den Schacht des Brunnens kroch, Er stürzte nicht, er schwebte noch. Gewachsen war ein Brombeerstrauch Aus des geborstnen Brunnens Bauch; Daran der Mann sich fest that klammern, Und seinen Zustand drauf bejammern. Er blickte in die Höh', und sah Dort das Kamelhaupt furchtbar nah, Das ihn wollt' oben fassen wieder. Dann blickt' er in den Brunnen nieder; Da sah am Grund er einen Drachen Aufgähnen mit entsperrtem Rachen, Der drunten ihn verschlingen wollte, Wenn er hinunter fallen sollte. So schwebend in der beiden Mitte Da sah der Arme noch das Dritte. Wo in die Mauerspalte ging Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing, Da sah er still ein Mäusepaar, Schwarz eine, weiß die andere war. Er sah die schwarze mit der weißen Abwechselnd an der Wurzel beißen, Sie nagten, zausten, gruben, wühlten, Die Erd' ab von der Wurzel spülten; Und wie sie rieselnd niederrann, Der Drach im Grund aufblickte dann, Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde Der Strauch entwurzelt fallen würde. Der Mann in Angst und Furcht und Not, Umstellt, umlagert und umdroht, Jm Stand des jammerhaften Schwebens, Sah sich nach Rettung um vergebens. Und da er also um sich blickte, Sah er ein Zweiglein, welches nickte Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren; Da konnt' er doch der Lust nicht wehren. Er sah nicht des Kameles Wut, Und nicht den Drachen in der Flut, Und nicht der Mäuse Tückespiel, Als ihm die Beer' in's Auge fiel. Er ließ das Tier von oben rauschen, Und unter sich den Drachen lauschen, Und neben sich die Mäuse nagen, Griff nach den Beerlein mit Behagen, Sie däuchten ihm zu essen gut, Aß Beer auf Beerlein wohlgemut, Und durch die Süßigkeit im Essen War alle seine Furcht vergessen. Du fragst: Wer ist der thöricht Mann, Der so die Furcht vergessen kann? So wiß, o Freund, der Mann bist du; Vernimm die Deutung auch dazu. Es ist der Drach' im Brunnengrund Des Todes aufgesperrter Schlund; Und das Kamel, das oben droht, Es ist des Lebens Angst und Not. Du bist's, der zwischen Tod und Leben Am grünen Strauch der Welt mußt schweben. Die beiden, so die Wurzel nagen, Dich samt den Zweigen, die dich tragen, Zu liefern in des Todes Macht, Die Mäuse heißen Tag und Nacht. Es nagt die schwarze wohl verborgen Vom Abend heimlich bis zum Morgen, Es nagt vom Morgen bis zum Abend Die weiße, wurzeluntergrabend. Und zwischen diesem Graus und Wust Lockt dich die Beere Sinnenlust, Daß du Kamel die Lebensnot, Daß du im Grund den Drachen Tod, Daß du die Mäuse Tag und Nacht Vergissest, und auf nichts hast Acht, Als daß du recht viel Beerlein haschest, Aus Grabes Brunnenritzen naschest. (Der Vergleichung wegen machen wir auf die Bearbeitung dieser Parabel durch Rudolf von Hohen-Ems in „Barlaam und Josaphat“ aufmerksam, welche anstatt des Kamels ein Einhorn nennt; ferner auf die Bearbeitung, wie sie sich im „Buch von den sieben Weisen“ findet. Vgl. unsere Studie in Nachgel. Ged. Rückerts. Wien, Braumüller. 1878. Von den übrigen Parabeln Rückerts sind: „Jm Feld der König Salomo“, und „Es ritt ein Herr, das war sein Recht“ und „Die vier Thüren“, welche an Lessings Erzählung von den 3 Ringen erinnern, in die besseren Schullesebücher und Mustersammlungen übergegangen. Desgleichen die allbekannte „Des fremden Kindes heiliger Christ“, eine legendenartige Parabel. Man vergleiche auch die vielen Gleichnisse in Rückerts „Leben Jesu“, denen des neuen Testaments nachgebildet, wie z. B. Der Weinstock und die Rebe; Der Säemann.) c . Parabel von Herder. (Ausgew. Werke. 1844. S. 104.) Ein Bleicher hatt' ein weites großes Haus. „Was soll das leer denn steh'n? Hier mach' ich Geld mir draus; Mein Vetter Köhler soll hier wohnen.“ Der Vetter Köhler thät' ihn lohnen. Der Bleicher machte weiß; der Köhler macht's voll Graus Mit seinem Kohlendampf! Der Köhler mußt' hinaus. Christus und Belial, Was sollen sie in diesem großen Saal? Freund, deine Kohlendampfphilosophie Hier am Altar ─ o Freund, was soll sie hie? Zur Litteratur der Parabel. Die ältesten Parabeln finden wir in der Bibel, namentlich in den Gleichnissen Jesu. Durch Herder und später durch Rückert wurde die Parabel aus dem Orient zu uns gebracht. Seitdem hat man auf ethischen, religiösen und ästhetischen Gebieten durch sie gewirkt. Die meisten Parabeln sind in Prosa geschrieben, z. B. die von Krummacher (1768─1845), der seine Berühmtheit nur seinen kindlich frommen Parabeln zu danken hat. Hervorragende Parabeldichter sind ferner: Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius), Herder (Wozu es wird), Voß, Richter, Niemeyer, Bürger, Schiller (Das verschleierte Bild zu Sais), Chamisso (Die Kreuzschau), Agnes Franz, Amara George u. a. § 81. Paramythie. 1. Paramythie (griech. παραμυθία == Ermunterung oder Ermahnung, Erholung, Trostrede) ist eine Art Parabel, in welcher mythische Wesen, also Götter aus der Mythologie, Engel, überhaupt höhere übermenschliche Wesen u. s. w. auftreten. 2. Den Namen erhielt diese Dichtungsart durch Herder. 1. Die Paramythie hat mit der Parabel gleiche Absicht, indem sie sittliche und religiöse Wahrheiten zur Anschauung bringt. 2. Folgende Stelle von Herder (Ausgewählte Werke, 1844. S. 272) möge die Benennung dieser Dichtungsart zeigen: Theano. Paramythien? Was bedeutet das Wort? Demodor. Paramythion heißt eine Erholung; und wie Guys erzählt, nennen noch die heutigen Griechinnen die Erzählungen und Dichtungen, womit sie sich die Zeit kürzen, Paramythien. Jch konnte den meinen noch aus einem dritten Grunde den Namen geben, weil sie auf die alte griechische Fabel, die Mythos heißt, gebauet sind und in den Gang dieser nur einen neuen Sinn legen. Theano. Ein schöner Name zu einer schönen Sache: denn Demodor, ich wünschte, daß ich alle abgetragene, zu oft gebrauchte Märchen der Mythologie wenigstens in einer neuen Absicht wiederkommen sähe. Ja, mir wäre es lieb, wenn ich jeden schönen Gegenstand um mich her mit einer Dichtung aus alten Zeiten gleichsam verwandeln und neu zu beleben wüßte. Demodor. Versuchen Sie es, Theano, und Sie werden unvergleichbar schönere hervorbringen, als hier versucht sind. Wissen Sie, wie diese entstanden? Durch das Spiel eines Wettstreites auf einigen Spaziergängen. Zwei Einsiedler gaben sich auf einigen ihrer Spaziergänge Gegenstände auf, darüber eine Fabel, eine Dichtung oder was ihnen sonst einfiele, zu sagen. Jch war einer derselben, setzte auf, was gesagt wurde, und so sind diese Erzählungen worden. Jn einigen werden Sie noch Spuren des Wettstreites finden. Theano. Ein Spiel, das nicht jedem glücken wird. Demodor. Jhnen gewiß, und ich sehe schon schöneren Paramythien über einige Jhnen geliebte Gegenstände entgegen. Niemals dichtet die Seele angenehmer, als in solchen Spielen, und ich wollte, wie schon Lessing bei der Äsopischen Fabel gesagt hat, daß man auch Kinder darin übte. Die alte Mythologie würde ihnen durch diese Verwandlung lieb werden, ihre Erfindungskraft wird geschärft, und ich habe Proben, wie naive Gedanken zuweilen aus der Seele eines Schoßkindes der Natur, das alle Gegenstände noch mit neuer, frischer Liebe ansieht, lieblichen Knöspchen gleich, hervorkeimen. Da Sie diese kindliche Einfalt lieben, Theano, will ich Jhnen zu einer andern Zeit einige derselben mitteilen. Theano. Und ich will versuchen, ob ich auch noch Kind sein kann, und mir einige Gegenstände jugendlich malen. Wenn nicht so blumenreich ─ Demodor. Das Blumenreiche gehörte hier zu den Gegenständen; sonst wäre es ein Fehler. Je schöner Jhre Dichtung sein wird, desto weniger hat sie des Schmucks nötig. Sie kennen das griechische Epigramm: „Schön bist du, Aglaja, die ringsum alles verschönet, Schön im Schmucke; doch nackt bist du die Schönheit selbst.“ Beispiele der Paramythie. Die gefallenen Engel, von Rückert. Harut und Marut, die Engel, gingen, Himmlische Grüße der Welt zu bringen; Hofften sich, wann sie beschaut die Erde, Wieder zum Himmel empor zu schwingen; Denn sie verwahrten das Wort des Lebens, Welches sie scheidend vom Herrn empfingen. Wo auf der Erde die beiden zogen, Saß Anahid und begann zu singen. Sich vom Gesange die Engel ließen Fangen in irdischer Liebe Schlingen; Und um der Liebe Gewährung wollten Mit Anahid sie, der schönen, ringen. Doch Anahidis, die schön' und kluge, Wollte von ihnen sich eins bedingen: Daß sie ihr sagten das Wort, durch welches Man sich zum Himmel vermag zu schwingen. Wie sie sprachen das Wort, entsanken Jhnen die tragenden Himmelsschwingen. Doch Anahid mit dem Wort des Lebens Schwang sich, zum Himmel empor zu dringen; Und die gefallenen Engel hören Jhren Gesang aus den Sternen klingen. ( Sinn: Sprecht nicht Geheimnisse denen gegenüber aus, die niedriger stehen, als ihr; sonst fallt ihr, während sich jene über euch erheben.) (Vgl. noch von Rückert die Paramythie „Wischnu auf der Schlange“, deren Sinn ist: Nichts ist ganz unabhängig von Gott, ohne Geist wächst kein Stoff.) Die Nektartropfen, von Goethe. Als Minerva jenen Liebling, Den Prometheus, zu begünst'gen, Eine volle Nektarschale Von dem Himmel niederbrachte, Seine Menschen zu beglücken, Und den Trieb zu holden Künsten Jhrem Busen einzuflößen; Eilte sie mit schnellen Füßen, Daß sie Jupiter nicht sähe: Und die goldne Schale schwankte, Und es fielen wenig Tropfen Auf den grünen Boden nieder. Emsig waren drauf die Bienen Hinterher, und saugten fleißig; Kam der Schmetterling geschäftig, Auch ein Tröpfchen zu erhaschen; Selbst die ungestalte Spinne Kroch herbei und sog gewaltig. Glücklich haben sie gekostet, Sie und andre zarte Tierchen! Denn sie teilen mit den Menschen Nun das schönste Glück, die Kunst. Zur Litteratur der Paramythie sind neben Herder (das Kind der Sorge), Rückert und Goethe zu nennen: Krummacher, Agnes Franz, Richter, Schiller, Daumer, Al. Kaufmann u. a. § 82. Sinnbild. 1. Sinnbilder sind symbolische Gedichte, welche keinen religiösen Charakter haben, auch nicht die Sprache der biblischen Gleichnisse nachahmen, sondern im Bilde eine allgemeine Wahrheit darstellen, ohne Lob oder Tadel (vgl. § 91 das Sinngedicht). Sie sind der Ausdruck einer übersinnlichen Wahrheit durch etwas Sichtbares, durch die Sinne Wahrnehmbares. 2. Sie unterscheiden sich von der Allegorie und vom Gleichnis. (S. Bd. I . § 35. und § 39.) 1. Jmmer sind es menschliche Gefühle, Jdeen und Zustände, welche im Sinnbilde gezeichnet werden. Das Sinnbild bedeutet wie die Allegorie etwas anderes, als es äußerlich darstellt. 2. Doch unterscheidet es sich von der Allegorie dadurch, daß es immer nur ein Symbol für einen sinnlichen Gegenstand giebt, während die Allegorie eine Reihe Symbole zu einem Ganzen vereint, zu einem Sinnbild für eine Jdee. (Vgl. § 83.) Die einzelnen Jdeen des Ganzen entsprechen den einzelnen Eigenschaften des sinnlichen Gegenstandes. Vom Vergleich unterscheidet sich das Sinnbild dadurch, daß jener die Sache nicht statt der andern nennt, sondern nur neben ihr. Rückert definiert den Begriff des Sinnbilds folgendermaßen: Was ist ein Sinnbild? Was der schöne Name meint: Ein Sinn mit einem Bild auf's innigste vereint. Ein tiefer Sinn, der in ein schönes Bild sich senkt, Ein schönes Bild, bei dem ein tiefer Sinn sich denkt. Schön sei das Bild und klar, tief sei der Sinn und wahr, Und mit einander eins untrennbar sei das Paar. (Ges. Ausg. VIII . 43.) Beispiele des Sinnbildes. Den Gärtnern, von Rückert. Jch zog eine Wind' am Zaune; Und was sich nicht wollte winden Von Ranken nach meiner Laune, Begann ich denn anzubinden, Und dachte, für meine Mühen Sollt' es nun fröhlich blühen. Doch bald hab' ich gefunden, Daß ich umsonst mich mühte; Nicht, was ich angebunden, War was am schönsten blühte, Sondern was ich ließ ranken Nach seinen eignen Gedanken. ( Sinn: Die Erziehung darf natürliche Triebe und Anlagen nicht hemmen.) Zwischen dem Elend und dem Glücke Gähnt eine breite Kluft; Die Hoffnung schlägt darüber die Brücke, Aber sie hängt in der Luft. (Heinrich Leuthold, Gedichte. 1880. S. 193.) Weitere Beispiele des Sinnbilds s. bei Rückert: Die Cypresse, sowie in dessen 7. Buch der Weisheit des Brahm. Seidl: Gärtner Tod. Herder: Der Regenbogen. Wünsche. Logau: Heutige Weltkunst. Die deutsche Sprache. Pfeffel: Die Wiege. Lessing: Auf einen Lügner. Schiller: Übereinstimmung &c. § 83. Allegorie. 1. Als Tropus nennt man bekanntlich schon Allegorie (vgl. Bd. I . § 39. S. 173) eine gedanklich zusammenhängende Reihe von Metaphern. Als Dichtungsgattung versteht man unter Allegorie die durch Verbindung mit Sinnbildern zum abgeschlossenen dichterischen Ganzen erweiterte Allegorie, die ein bestimmtes Bild ausführt. (Vgl. Bd. I . S. 176.) 2. Die Allegorie hat (wie das Gleichnis, das Sinnbild und die allegorisierende Fabel) die Absicht, einen bestimmten, lehregebenden Zustand zu veranschaulichen. 3. Das Element der Allegorie ist das konkrete Symbol (oder auch das Emblem). 4. Dieses ist von jeher in allen Künsten ein treibendes Agens der Darstellung gewesen. 1. Als Dichtungsgattung bezeichnet Allegorie ein Gedicht, welches einen übersinnlichen Gegenstand durch Anwendung von Bildern versinnlicht (z. B. Jdeen und personifizierte Kräfte als Gottheiten), so daß die einzelnen Momente des sinnlichen Gegenstandes den Momenten des zu vergleichenden Jdealen entsprechen. Die Dichtungsgattung Allegorie nennt den Gegenstand ebensowenig, als der Tropus Allegorie, aber sie stellt ihn in einem vollkommen durchgeführten Bilde dar. Sonach kann man sagen: Die Allegorie ist ein Gedicht, welches einen Gedanken unter einem, diesem verwandten Bilde anschaulich darstellt und mit dem Bilde vollständig durchführt (z. B. Das Mädchen aus der Fremde, von Schiller ). 2. Als didaktisches Gedicht verfolgt die Allegorie (wie das Sinnbild und das Gleichnis) den Zweck, einen Zustand durch Bilder in ein klares Licht zu setzen, während die moralisierende Parabel eine Wahrheit im Bilde veranschaulicht und die allegorisierende Fabel das Treiben der Menschen unter der Tiermaske enthüllt. 3. Ein einzelnes Symbol zur Veranschaulichung der Poesie ist z. B. die Lyra. Eine Summe von Symbolen (z. B. im „Mädchen aus der Fremde“ von Schiller) veranschaulicht ebenfalls die Poesie. Diese Veranschaulichung ist zur Dichtungsgattung Allegorie geworden. Für die Stärke dient das Symbol „Eiche“ oder „Löwe“. Dasselbe Konkretum kann dienen zur Allegorie eines Gattungsbegriffes (z. B. die einzelnen Eigenschaften der Eiche für einen Charakter). Nicht aber ist etwa jedes einzelne, welches aus dem Zusammenhang der Allegorie genommen würde, ein Symbol zu nennen. Oft hat es nur in der ganzen Reihe symbolische Geltung. 4. Eine schöne Vereinigung der Symbole zu einer sinnlichen Allegorie war zu allen Zeiten eine der edelsten Freuden gefühlvoller Naturen. Nur wenige Sätze mögen ausführen, wie alle Vereinigungen ihre allegorischen Symbole haben. Jm Mittelalter begann unter dem Einflusse der religiösen Vorstellungen das Bedürfnis des Symbolisierens auf die Baukunst einzuwirken, weshalb die gothische Bauart meistens den Charakter des Symbolischen trägt, bis die Renaissance auf die Antike zurückgriff und ihre Formen zu freier Verzierung verwandte. Die spätere Entwickelung zeigt, (abgesehen von naturwidrigen Gestalten, wie im sogenannten Jesuiten=, Zopf=, Rokoko- und Barockstil), das Gepräge eines dem sich reinigenden Zeitgeschmack entsprechenden Eklektizismus, in welchem das Symbolische nur im gefälligen Schmucke als plastisches Beiwerk (z. B. in Bekrönung des Gesimses, oder Treppendekoration &c.) seine Verwendung findet. Jhrer Natur nach ist die Plastik hauptsächlich zur Symbolik: zur allegorischen Personifikation geeignet. (Vgl. Bd. I , S. 176.) Die alten Griechen gestalteten ihre Götter und Helden anschaulich, wozu die rein plastische Form das entsprechendste Mittel gewährte, indem sie von der wirklichen Erscheinungswelt durch ihre Farblosigkeit abzog. Darum aber ist die Malerei für das Gebiet des Symbolischen unangemessener; und es mag als eine Verirrung des ästhetischen Geschmacks angesehen werden, wenn Mythen, antike Vorstellungen, oder sogar Parabeln, Allegorien &c. in koloristischer Weise zur malerischen Darstellung gebracht werden. ─ Die Poesie, ihrem formalen Wesen nach metaphorisch, bietet ein weites Feld für das Symbolisieren; aber darin gerade werden in der bildenden Kunst viele Fehler begangen, weil viele von dem Jrrtum ausgehen, auch das in jenem künstlerischen Gebiete Mögliche in dem ihrigen darstellen zu können. Die vielfach verunglückten Gemälde nach Dichterstellen beweisen dies. Die darstellenden Maler vergessen, daß die Hauptbedingung des von der Poesie ausgehenden ästhetischen Eindruckes, die Bewegung der poetischen Jdee, der Fluß der Handlung, der Malerei abgeht. Jn der Musik zeigt sich das Symbolische darin, daß der Ton (ohne begriffliches Beiwerk) als Ausdruck einer seelischen Empfindung wirkt. Daher beweist sich der symbolische Charakter in der wortlosen Musik (in der Symphonie) am reinsten. Wenn man endlich die Tanzkunst ihrem Ursprunge nach als bewegte Plastik der menschlichen Gestalt, als Ausdruck der Bewegung seelischer Empfindungen auffaßt, ist sie durchaus symbolisch, was sich deutlich genug in allen Nationaltänzen zeigt; die Liebe besonders gelangt in ihren mannigfachen Äußerungsformen zum lebendigen, symbolischen Ausdruck. Wenn freilich, wie in unseren modernen Tänzen, das Bewußtsein vom symbolischen, der Tanzkunst zu Grunde liegenden Charakter verschwunden ist, verflacht sie zu einer mechanischen, nur sinnlich aufregenden Bewegung. Proben der Allegorie. a . Der treue Gefährte, von Anastasius Grün. Jch hatt' einst einen Genossen treu, Wo ich war, war er auch dabei; Blieb ich daheim, ging er auch nicht aus, Und ging ich fort, blieb er nicht zu Haus. Er trank aus einem Glas mit mir, Er schlief in einem Bett mit mir, Wir trugen die Kleider nach einem Schnitt, Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit. Und als mich's jüngst zu den Bergen zog, Und Stab und Bündel im Arm ich wog, Da sprach der treue Geselle gleich: „Mit Gunsten, Freund, ich geh' mit euch!“ Wir wallen still hinaus zum Thor, Die Bäume streben frisch empor, Die Lüfte bringen uns warmen Gruß, Da schüttelt der Freund den Kopf mit Verdruß. Jm Äther jauchzt ein Lerchenchor, Da hält er zugepreßt sein Ohr; Süß duftet dort das Rosengesträuch, Da wird er schwindlig und totenbleich. Und als wir stiegen den Berg hinan, Verlor den Atem der arme Mann; Jch wallt' empor mit leuchtendem Blick, Doch er blieb keuchend unten zurück. Jch aber stand jauchzend ganz allein Am Bergesgipfel im Sonnenschein! Rings grüne Triften und Blumenduft! Rings wirbelnde Lerchen und Bergesluft! Und als ich wieder zu Thal gewallt, Da stieß ich auf eine Leiche bald: O weh, er ist's! Tot liegt er hier, Der einst der treuste Gefährte mir! Da ließ ich graben ein tiefes Grab Und senkte die Leiche still hinab, Drauf setzt' ich einen Leichenstein Und grub die Wort' als Jnschrift drein: „Hier ruht mein treuster Genoß im Land, Herr Hypochonder zubenannt; Er starb an frischer Bergesluft, An Lerchenschlag und Rosenduft! Sonst wünsch' ich ihm alles Glück und Heil, Die ewige Ruh' werd' ihm zu teil, Nur wahr' mich Gott vor'm Wiederseh'n Und seinem fröhlichen Aufersteh'n!“ b . Der beste Berg, von G. Herwegh. Es ist ein Berg auf Erden, Der Gutenberg genannt, Der soll besungen werden Wohl auf und ab im Land. Er heget keine Veste, Er pfleget keinen Wein, Und wird doch stets der beste Von allen Bergen sein. Es ist ein Berg auf Erden, Der steht zu Mainz am Rhein, Mit trutzigen Geberden Schaut er in's Land hinein. Da schaut er, was wir treiben, Vom Rheine bis an's Meer, Da liest er, was wir schreiben Jm weiten Land umher. Zu lang war dem Kyffhäuser Des Rotbarts Todesnacht, Da ist für seinen Kaiser Der gute Berg erwacht. Zu Schanden heißt er werden Der Raben schwarzes Werk, Der beste Berg auf Erden, Das ist der Gutenberg. Litteratur der Allegorie. Allegorien finden wir bei den Römern besonders von Claudianus, bei den Jtalienern von Petrarka und Mestastasio, bei den Franzosen von J. J. Rousseau, bei den Engländern von Pope. Bei den Deutschen liebte besonders die romantische Poesie die Allegorie, indem ihre Personen entweder die Personifikationen der Tugend oder des Lasters waren, oder die Charaktere wirkliche Personen in anderem Gewande darstellten. (Jch erinnere für Letzteres an den 1517 erschienenen Teuerdank von Melchior Pfinzing, der das Treiben am Hof des Kaisers Maximilian I . allegorisch schildert. Vgl. Bd. I . S. 48.) Deutsche Dichter der Allegorie sind außer Pfinzing noch Joh. Valentin Andreä († 1654; „Christenburg“, allegorisch=epische Dichtung vom Kampf und Sieg der lutherischen Kirche vor dem dreißigjährigen Kriege); Pfeffel (Das Schachbrett; Das Schiff); Krummacher, Herder (z. B. Tag und Nacht; Der sterbende Schwan u. s. w.); Tieck, Schiller (Teilung der Erde); Uhland (Bei einem Wirte wundermild; Man höret oft im fernen Wald); Lessing, Rückert (Die Blumenengel; Der Apotheker; Die hohle Weide u. a.); Goethe (Gefunden; Zueignung); Novalis (Allegorie auf den Wein); Chamisso (Tragische Geschichte) &c. Große episch=didaktische Gedichte mit allegorischer Darstellung sind z. B. Ernst Schulzes Bezauberte Rose und seine Dichtung Psyche, sowie besonders Julius Mosens Ritter Wahn und dessen Ahasver. (Jm ersteren Gedicht wird der Tod, die Erde und das irdische Geschick verherrlicht und die Vergänglichkeit gerechtfertigt; im zweiten (1838) wird ebenfalls die Jdee einer Rechtfertigung irdischer Vergänglichkeit zum Ausdruck gebracht. Ahasver ist Repräsentant des Weltschmerzes und der ganzen Menschheit; er kann nicht sterben, weil er dem kreuzbeladenen Jesu die Ruhe vor seinem Hause verwehrte &c.) § 84. Rätsel. 1. Man versteht in der Poetik unter Rätsel allegorische Gedichte, welche den zu erratenden Gegenstand andeutend, umschreibend bezeichnen. Viele stehen an der Grenzscheide der Poesie. 2. Arten des Rätsels sind: Worträtsel, Charade, Logogriph, Anagramm, Palindrom, Homonyme. 1. Jns Gebiet der Dichtkunst gehören die Rätsel nur dann, wenn sie weniger kaltes Nachdenken, als Phantasie und Gemüt anregen. Das gute Rätsel kann man daher das Rätsel der Phantasie oder das poetische Rätsel nennen. Dasselbe muß sowohl durch seinen Jnhalt als auch durch die Schönheit seiner poetischen Form Jnteresse für den Gegenstand des Gedichts erwecken und befriedigen, wie wir dies bei den Schillerschen poetischen Rätseln finden. Man könnte das Rätsel (was auch Wackernagel thut) zu den Epigrammen zählen. Dasselbe giebt nämlich ─ ähnlich der Priamel ─ eine größere oder geringere Summe sinnlicher Einzelheiten, die oft gar nicht zusammen zu gehören scheinen, deren Klausel ein einzelner, alle Merkmale vereinigender Begriff ─ das Subjekt aller Prädikate ─ ist, das der Leser erraten soll. Nach dem griechischen Bacchusfeste Agrionia, zu dessen Schlusse Rätsel aufgegeben wurden, heißen sie auch Agrionien ( Ἀγριώνια ). Arten des Rätsels. a . Das Worträtsel. Das Worträtsel giebt die wesentlichen Merkmale seines von ihm nicht genannten Objekts an. Es schildert Wesen und Bedeutung des Ganzen, des zu erratenden Wortes. Beispiele des Worträtsels. α . Jch wohn' in einem steinernen Haus, Da lieg' ich verborgen und schlafe; Doch ich trete hervor, ich eile heraus, Gefordert mit eiserner Waffe. Erst bin ich unscheinbar und schwach und klein, Mich kann dein Atem bezwingen, Ein Regentropfen schon saugt mich ein; Doch mir wachsen im Siege die Schwingen, Wenn die mächtige Schwester sich zu mir gesellt, Erwachs' ich zum furchtbarn Gebieter der Welt. (Lösung: Feuer, Luft.) (Schiller.) β . Von Perlen baut sich eine Brücke Hoch über einen grauen See; Sie baut sich auf im Augenblicke, Und schwindelnd steigt sie in die Höh'. Der höchsten Schiffe höchste Masten Ziehn unter ihrem Bogen hin, Sie selber trug noch keine Lasten Und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn. Sie wird erst mit dem Strom und schwindet, So wie des Wassers Flut versiegt. So sprich, wo sich die Brücke findet, Und wer sie künstlich hat gefügt? (Lösung: Regenbogen.) (Schiller.) Bei diesen Worträtseln Schillers schimmert die Lehre als Hintergrund durch: Man lernt Gott aus seinen Werken kennen. Sie sind Muster des poetischen Worträtsels. Goethe rügte an ihnen den „schönen Fehler“, daß sie zu entzückte Anschauungen des Gegenstandes seien, mit andern Worten, daß sie durch zu anschauliche poetische Ausführung und Ausmalung den Gegenstand zu leicht erraten lassen. Bei dem rätselreichen Rückert finden sich Worträtsel in den Makamen des Hariri (Makame 35, S. 248─253 und im XII . Band seiner Ges. Ausg. S. 279 unter dem Titel: „Der Rätselmann. Abfälle von Hariris Rätselmakamen“). Poetischen Wert haben neben den Schillerschen und Rückertschen Worträtseln die von Mises (Fechner), Apel, Winkler, Tiedge, Kind, Moser, Houwald, Matthisson, Hebel, Haug, Körner, Ch. Niemeyer, A. P. Däves, v. Kyaw, Arthur v. Nordstern (Ernst von Nostitz), Alexander Kaufmann (Rätsel mit einer poetischen Antwort in Unter den Reben, S. 160) u. a. b . Charade oder Silbenrätsel. Die Charade oder das Silbenrätsel giebt erst die Bedeutung der Silben der Reihe nach, um sodann das ganze Wort erraten zu lassen. Sie behandelt jede Silbe einzeln, zuletzt das Ganze und besteht somit aus mehreren zusammenhängenden Rätseln. Charaden, wie diese von Castelli über Roßbach: Das Erste aus dem Zweiten säuft, Beim Ganzen gab es viel zu morden, Das Erste läuft, das Zweite läuft, Beim Ganzen ist gelaufen worden. sind gereimte Spielereien, die nicht in das Gebiet der Poesie gehören. Beispiele der Charade. α . Die ersten lenken die rüstige Fahrt, Die letzte schmückt sich mit stattlichem Bart; Und geht's in die Brandung des Lebens hinein, So mag die Liebe das Ganze sein. (Lösung: Steuermann.) (Körner.) β . Auf finsterem Fittig komm' ich geflogen, Berausche die Sinne mit trüglichem Traum, Und von des Gesetzes Urkraft gezogen, Schweb' ich schnell durch der Welten Raum. Es treibt mich, das ewige Licht zu erjagen, Und wer ich bin, wird die erste sagen. Jm dunkeln Laube ward ich geboren, Die strahlende Sonne hat mich gezeugt, Und schnell ist der Traum des Daseins verloren, Wenn mich der Blick der Mutter erreicht. Jm Dunkeln nur kann ich fest mich begründen; Mich werden die letzten der Silben verkünden. Bewegt von des Abends schmeichelnden Lüften Steh' ich im Garten, die Blüte gesenkt. Jch küsse die Nacht mit balsamischen Düften, Die mich mit stiller Liebe umfängt; Doch glänz' ich nimmer im farbigen Kranze. Kennst du mein still bescheid'nes Ganze? (Lösung: Nachtschatten.) (Th. Körner.) Weitere Beispiele der Charade finden sich bei Körner (Werke, Bd. I . Rätselspiele), bei Hebel (Zeitlose), Kind (Bachstelze), Matthisson (Rheinfall), Houwald (Wegweiser), Hauff (Preßfreiheit), K. G. Th. Winkler (Goldpapier, Lichtscheere) u. a. c . Logogriph. Logogriph (von λόγος == Wort und γρῖφος == Rätsel, fälschlich Logogryph, wie Körner, vgl. Ausg. von 1839, und A. schreiben) ist unser sogenanntes Buchstabenrätsel. Jhm liegt ein Hauptwort zu Grunde, das durch Weglassung oder Zusetzung oder auch (wie bei Hebel und Körner) durch Ve rtauschung eines oder mehrerer Buchstaben stets einen verschiedenen Sinn erhält, woraus man sodann dieses Hauptwort selbst mit Sicherheit zu erraten befähigt wird, (z. B. Tasche ─ Asche, Ziegel ─ Jgel, Hammel ─ Hummel ─ Himmel &c. Beispiele des Logogriph. α . Jch starb, weil ich's gewagt, das Strahlendste zu lieben. Doch werd' ich, ohne M in meiner Brust, geschrieben, So leb' ich, ein erhabnes Wort, Ein Strahl der Gottheit, ewig fort. (Semele ─ Seele.) (K. G. Th. Winkler, Pseud. für Th. Hell.) β . Ein Trauerbild am schwarzen Sarkophage, Feind jedes Lebens, Tod der süßen Lust, Erschein' ich dir, mein Kind ist bittre Klage, Die Eltern Reu' und trauernder Verlust; Doch wäge nicht mit ungerechter Wage, Auch Götter führ' ich oft in deine Brust: Der Mutter Natterngift, des Vaters Wermut Bring' ich der Welt, doch Wonnen auch der Schwermut. (Schmerz.) Hinweg der Natter zischendes Getön! Der Bräut'gam naht, laut hallen Feierglocken Durch Trift und Wald; schon kränzen Thal und Höh'n Der frohen Braut zum Liebesfest die Locken. Sein Herold kommt, gleich Himmelskindern schön, Mit Blütenschnee verjagt er Winterflocken, Er schmückt die Bahn dem frühlingsschönen Heros, Dem ros'umkränzten Götterjüngling Eros. (Merz.) Der Biene Summen schweigt. Aus kalter Gruft Steigt ein Tyrann in blendend stolzem Glanze. Machtvoll durchhallt sein Donnerton die Luft, Wo blut'ger Krieg aufschwingt die Todeslanze. Doch wo sanft schmeichelnd seine Stimme ruft, Erzittert selbst die sturmgeprüfte Schlange. Erzürnt flieh't heil'ge Treu, der bange Bürger Sieht schaudervoll im Oberhaupt den Würger. (Erz.) O komm zurück, du früh versunkner Schatten, Du sanfter Hauch; das Schreckbild ist entflohn, Willst küssend du mit dem Phantom dich gatten; Jn jeder Brust erbau'st du dir den Thron. Du siegst im Schlachtfeld, auf beblümten Matten Empfängst und giebst du süßer Liebe Lohn, Du kannst im Kampf mit drohenden Gefahren Allein des Menschen Geist machtvoll bewahren. (Herz.) Kommt auch zurück, ihr, die zuvor versunken, Jhr muntern Gaukler, mit dem frohen Spiel', Mit eurem Lispeln weckt des Witzes Funken, Doch ehrt der Sitte leicht umgangnes Ziel; Nicht allzu ernst und nicht bacchantisch trunken, Spielt nicht zu wenig, tobt nicht allzu viel, Und selbst im Rätselspiel weicht von der Straße Zu weit nicht ab; schwärmt, wenn ihr schwärmt mit Maße. (Scherz.) (Apel.) Weitere Beispiele des Logogriph. Körner (Werke I . unter: Rätselspiele). Tiedge (Greis. Reis. Eis). Hauff (Treue. Reue). Krummacher (Schmerz. Merz. Erz. Herz). F. P. Jakobs (Mohren. Ohren.) u. s. w. d . Anagramm. Anagramm (von ἀναγραμματισμός == Buchstabenversetzung). Es bedeutet die Versetzung eines oder mehrerer Buchstaben eines oder mehrerer Wörter, so daß ein anderes Wort oder ein anderer Satz daraus wird. So entsteht aus Lampe == Ampel, aus Leib == Blei, aus Revolution française == un Corse la finira , aus Carl Heun == Clauren, aus Lange == Nagel ─ Angel ─ Algen ─ Galen (Schriftsteller), aus Faulpelz == Paul Felz. Eine Reihe Schriften sind dieser dem Orient entstammenden müßigen Spielerei gewidmet (z. B. Wheatty, On Anagrams etc. London 1862). Beispiele des Anagramms. α . Wenn Frühlingswonne, neu geboren, Des Herzens tiefsten Sinn entzückt, Steh' ich vom Wechseltanz der Horen Als Blumenkönigin geschmückt. Und schöne Mädchen winden mich zu Kränzen, Als Schmuck auf ihrer Locken Gold zu glänzen. (Rose.) Wird vorgesetzt das letzte Zeichen, Als Götterknaben schaust du mich; Zeus muß sich meinem Willen beugen, Jch quäle, ich beglücke dich; Aus meinen Händen fallen dir die Lose, Doch ohne Dornen reich' ich keine Rose. (Eros.) (Th. Körner.) β . Nehmt immer mir den Kopf, und setzt ihn an den Schwanz, Jch bleib' wie der Polyp, dasselbe Ding, und ganz. Jhr kennt mich wohl; in stiller Nacht, Wenn nur der treue Wächter wacht, Umstrahlt mich milder Glanz. (Lösung: Ampel == Lampe.) (Hebel.) e . Palindrom (Doppelrätsel). Palindrom (Rückwärtslesung von παλίνδρομος rückläufig == versus cancrinus ) war ursprünglich ein Vers, welcher von vorn oder rückwärts gelesen gleich lautete (z. B. Otto tenet mappam, madidam, mappam tenet Otto ). Als Rätselform bezeichnet Palindrom ein Wort, welches rückwärts gelesen ebenfalls ein Rätselwort ergiebt (z. B. Regen ─ Neger). Es ist somit ein Doppelrätsel. Beispiele des Palindroms. α . Still empfangen im zarten Keime Tritt es hervor in des Himmels Räume, Und es formt sich zur blühenden schönen Gestalt, Und die Gottheit segnet's mit heiliger Weihe, Daß es im Drange der Zeiten gedeihe, Und es reift mit des Wesens dunkler Gewalt. Zwar muß es endlich vergeh'n und erkalten, Und sinken muß es zur gräulichen Nacht; Doch strahlt es verjüngt durch des Grabes Spalten Jm neuen Frühling mit seliger Pracht. Liest du es rückwärts, ein Kind der Erde Umarmt es die Mutter mit trüber Geberde, Still widerstrebend dem frühen Strahl; Und wie des Mädchens rosige Wangen Ein Schleier umflattert mit zartem Verlangen, So webt es sich innig um Berg und Thal. Doch glühender wächst die Flamme der Sonnen, Und es fliegt zerstreut durch das bläuliche Haus; So ist das Rätsel zur Klarheit zerronnen, Sprichst du der Deutung Zauberwort aus. (Lösung: Leben, Nebel.) (Körner.) β . Noch sitzt auf halb verfallnem Throne, Noch hält die längst bestrittne Krone Die alte Königin der Welt. Ob sie wohl je vom Throne fällt? Vielleicht! ─ doch liest du sie von hinten, So wirst du einen König finden, Der herrscht, seitdem die Welt besteht, Des Reich nur mit der Welt vergeht; Sie schießt nicht ewge Donnerkeile, Doch ewig treffen seine Pfeile. (Lösung: Roma, Amor.) (Hauff.) Weitere Beispiele des Palindrom. Körner (Werke I . unter Rätselspiele). K. G. Th. Winkler (Bast ─ Stab). Roos (Sarg ─ Gras). Hebel (Werke Bd. I . Nr. 66, S. 226) u. a. f . Die Homonyme. Die Homonyme (auch das Homonym, nach a. sogar der Homonym von ὁμώνυμος == gleichnamig) ist eine Rätselgattung, bei welcher dasselbe Wort einen Doppelsinn (also verschiedene Bedeutung) hat; z. B. die Hut ─ der Hut. (Homonym heißt das, was mehrfache Bedeutung, aber nur einerlei Namen hat, ist also das Gegenteil von Synonym.) Beispiele der Homonyme: α . Sieh', welch ein Dreister Und Weitgereister! Mit Vögeln fliegt er, Mit Schiffen kreist er; Sodann beschreibend Die Welt dir weist er, Wenn auf den Blättern Jhn lenkt ein Meister. Den Westen kennt er, Den Osten preist er; Mit Süd umglüht er, Mit Nord umeist er, Bald rührt und schmelzt er, Bald scherzt und beißt er; Mit Wundern spielt er, Mit Rätseln speist er, Er schafft Gestalten Und wecket Geister, Wenn eure wach sind, So sagt, wie heißt er? (Kiel.) (Rückert.) β . Jch trage dich hoch durch stürmische Lüfte, Weit über der Erde Thäler und Grüfte, Weit über der Alpen Gipfel empor, Durch Sonnenschimmer und Nebelflor. Doch was erblick ich? Krieger im Streite! Bebend erzittert das fürchtende Land. Aber du fassest den Feind in die Seite ─ Entzieh' ihm den Lorbeer, entreiß ihm die Beute! Erkämpft ist der Sieg mit tapferer Hand; Von allen Lippen erschallet dein Ruhm, Gerettet sind Bürger und Eigentum. Aber wenn in stillen Harmonieen, Sanft von schöner Hand berührt, Süße Töne dir entfliehen, Wird das Herz von Lust entführt; Ja, du wandelst um und um Unser Leben zum Elysium. (Lösung: Flügel.) (E. A. W. v. Kyaw.) Weitere Beispiele der Homonyme: Hauff (Römer). Castelli (Acht). Haug (Modern). A. G. Eberhardt (Stern). Körner (Werke I . unter Rätselspiele). Rückert (in der 35. Makame, sowie Ges. Ausg. Bd. XII . S. 281 ff.) u. a. II . Lehrgedichte mit besonderer Tendenz. § 85. Satire. 1. Die Satire ist altrömischen Ursprungs. 2. Wir verstehen heutzutage unter Satire diejenige Dichtungsgattung, welche auf launige, witzige, sarkastische, persiflierende Weise Schwächen, Verkehrtheiten, Thorheiten, Fehler und Laster der Menschen lächerlich zu machen sucht, um dadurch zu warnen, zu tadeln, zu bessern, und den Sinn für Höheres, Jdealeres zu pflegen. 3. Sie ist somit eine Art lehrhaftes Spottgedicht mit ethischem Ziele. 4. Der Satiriker muß über Witz, Laune, Jronie &c. verfügen und mit liebenswürdiger Urbanität ausgerüstet sein. 5. Man teilt die Satiren in ernste und lachende ein. 1. Das Wort Satire kommt von satura her, was die Schreibweise desselben bedingt (== satira , ähnlich wie optumus, maxumus zu optimus, maximus &c. wurden). Die altrömische Satire als älteste Gattung bezeichnete dem Wortlaut nach ( satura sc. lanx == Fruchtschale, tutti frutti ) ein Allerlei, Quodlibet, Potpourri. Sachlich war sie eine lustige dramatische Aufführung der ländlichen Jugend bei Erntefesten, wobei neckische Lieder, komische Erzählungen, bei mimischem Tanz unter Flötenspiel abwechselnd vorgetragen wurden. Seitdem es in Rom ein stehendes Theater gab ( a . 364 v. Chr.), wanderten solche auch auf die Bühne, bis sie zu Nachspielen ( exodia ) herabsanken. ─ Jn anderem Sinne als Gemengsel (nämlich von Gedichten in verschiedenen Maßen) schrieb Ennius ( a. 239─169) saturae mit lehrhaftem Jnhalt, auch mit Fabeln untermischt. Schon früher hatte der Grieche Menippos (ca. 270 v. Chr.) Philosopheme verspottet, und ihn ahmte der gelehrte Varro in Rom (116─28 n. Chr.) nach in seinen saturae Menippeae , in welchen er teils in Prosa teils in Versen die mannigfachsten philosophischen, historischen, litterarischen Stoffe geistvoll behandelte. Dieselbe Mischung von Prosa und Versen hat noch im I . Jahrhundert n. Chr. Seneca und Petronius Arbiter, im 5. Jahrhundert n. Chr. Martianus Capella, und im VI . Boethius. Anderer Art ist die Satura des Lucilius (180─103 v. Chr.), welcher saturae in 30 Büchern, teils in jambisch=trochäischen, teils in daktylischen Maßen und Hexametern schrieb und zwar mit ethischer Tendenz den Luxus und die Sittenverderbnis seiner Zeit schonungslos geißelte ( secuit Lucilius urbem ), andererseits auch Gegenstände der Litteratur und Geschichte behandelte; eine Reisebeschreibung und grammatische Stoffe befanden sich darunter, sowie Zurechtweisung der gräcisierenden Dichter. Volkstümlicher Witz, Scherz und Bitterkeit mischend, zeichnete ihn aus. Jhn ahmte eingestandenermaßen der uns noch erhaltene Horaz (65─8 v. Chr.) nach, welcher jedoch mehr die Thorheiten verlacht, als mit finsterem Ernste geißelt, der seinem Wesen überhaupt fremd ist. Auch der junge, reichgebildete Persius (34─62 n. Chr.) dichtete erst eine Reisebeschreibung, dann eine Verherrlichung seiner Verwandten Arria ( Paete, non dolet !), und als Schüler des Stoikers Cornutus schrieb er sechs nicht vollends ausgearbeitete Satiren in moralischer, milder, ruhiger Darstellung, aber freilich ohne die nötige Lebenserfahrung, und ohne sein Vorbild Horaz in der Darstellung auch nur entfernt zu erreichen. Endlich Decim. Jun. Juvenalis (47 bis nach 130 n. Chr.) wurde aus Zorn und Schmerz über die greuliche Verderbnis seiner Zeit ( facit indignatio versum ) dazu getrieben, in 16 Büchern Satiren die Verderbnisse im Privatleben unter Kaiser Domitian naturgetreu und schonungslos zu schildern; er ist der ernste Sittenrichter, der mit Sehnsucht nach der Größe des alten Rom und mit Entrüstung über die allgemeine Korruption zu Gericht sitzt. So ist die Satire, wie Quintilian schon hervorhob, eine echt römische Litteraturgattung, mit welcher bei den Griechen nur zum teil die uns nicht genug bekannten σιλλοί vergleichbar wären; der Grundzug bei der Mehrzahl der römischen Satiriker ist die Sittenmalerei, welcher sich bald ernster, bald heiterer die Sittenkritik beimengt. 2. Die deutsche Satire in der heutigen Form ist didaktischer Natur. Lehrend wendet sie sich gegen die bestehende Erbärmlichkeit und Nichtigkeit, und zwar thut sie dies oft dadurch, daß sie (mit Jronie) das lobt, was sie tadeln möchte. Jhre Absicht ist, zu beschämen, um dadurch den Entschluß zur Besserung hervorzurufen. Durch juvenalische Geißelung des Lasters wirkt sie nicht selten empfindlicher, als der ernsteste Tadel eines Lehrers oder Predigers. Sie bekämpft und trifft diejenigen, welche durch ihre Stellung oder Lehre Verderben säen, ohne daß man ihnen sonst beikommen kann, oder ohne daß diese von jemand sonst die Wahrheit zu hören bekommen. Jn unserer Zeit sind der Kladderadatsch und die Wespen Organe der Satire. 3. Die Satire, welche auch im Lustspiele, sowie in den Dichtungsgattungen Fabel, Epistel &c. auftreten kann, fällt mit den Bestrebungen der Moralphilosophie zusammen, indem sie durch die Art ihrer Darstellung die Beseitigung der gerügten Mängel bezweckt. Auch die alten deutschen Satiren, welche unter dem Namen Lichter bekannt waren, hatten ethische Tendenz. Sie wurden des Nachts bei Licht zur Belohnung der Guten und zur Bestrafung der Schlechten vor den Häusern abgesungen, woher der Name Lichter kam. 4. Der Satiriker muß mit feiner Menschen- und Sittenkenntnis einen ausgezeichneten Scharfblick im Erspähen menschlicher Schwächen verbinden (was Horaz an Lucilius rühmt: emunctae naris ), um im Tone Horazischer Sermone ─ fern von Schadenfreude und niederer Absichtlichkeit ─ ein objektives Bild menschlicher Narrheiten voll Witz, Laune, Humor &c. zu liefern. Er muß sich des freien Witzes bedienen. (Vgl. z. B. Börnes epigrammatische Satire Bd. I , S. 103.) Sein Humor muß sich als schalkhafte Laune entfalten (vgl. z. B. Lessings naive Äußerung über die Galathee: Die gute Galathee! Man sagt, sie schwärz' ihr Haar; Da doch ihr Haar schon schwarz, als sie es kaufte, war.) Seine feine Jronie muß den Schein des Ernstes und den Ernst des Scheines treffen (vgl. Bd. I , S. 105). Durch diese feine Jronie muß er den zu Geißelnden sogar als einfältig hinzustellen vermögen, sofern dieser das Jronische gar nicht merken soll. Ein Beispiel solcher Jronie ist es, wenn Gurdafrid (Rückerts Ges. Ausg. XII , 159) dem Suhrab, den sie entfliehend betrog, von der Zinne zuruft: „Nun warte, Freund, bis ich die Schlüssel bringe!“ Oder wenn Horaz mit Selbstironie, ja mit großer Naivetät an seiner eigenen Person zeigt, was er an anderen lächerlich gefunden. Der Satiriker muß stets bei der Sache bleiben und die Person nur als Trägerin der Sache treffen. Hervortretende Absichtlichkeit gegen die Person an sich würde die Wirkung der Satire von vorne herein vereiteln. Nur die Fehler dieser Person darf der Satiriker mit grellem Lichte überstrahlen; nur die Mißbräuche, Übelstände, Thorheiten &c. in der Gesellschaft darf er von ihrer lächerlichen Seite darstellen und geißeln, um die Entfernung von der Natur oder den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale zu strafen. Durch diese Objektivität allein wird sich der Satiriker davor bewahren, die Grenzen der Wahrheit zu überschreiten und in das Bereich der karikierenden Verleumdung, der verletzenden Bitterkeit und der Pöbelhaftigkeit zu geraten, die sein Gedicht zum Pasquill erniedrigen oder ihn so tief herabsteigen lassen würde, wie z. B. Rabener, von welchem Schlosser in Gesch. des 18. Jahrh. behauptet, daß der Jnhalt seiner Satiren gar nicht der Öffentlichkeit angehöre, vielmehr den Kaffeegesellschaften, Schenken und Kasinos seiner Zeit &c. 5. Die Satiren scheiden sich in a . ernste (strenge, bittere, affektvolle, direkte) und b . in lachende (scherzhafte, heitere) Satiren. Beispiele der Satire. α . Die Sterne, von Hoffmann von Fallersleben. Warum hat Gott der Herr geschmücket Wit Sternen ohne Maß und Zahl Den schönen weiten Himmelssaal? Das wissen wir, wir Menschen nicht. Warum hat Gott der Herr geschmücket Mit Blumensternen Wies' und Feld, Die ganze liebe weite Welt? Das wissen wir, wir Menschen nicht. Warum hat mancher Fürst geschmücket Seit Jahr und Tag mit Stern und Band So manche Brust in Stadt und Land? Das weiß selbst Gott im Himmel nicht. β . Unterhaltung im Freien, von Saphir. Da sitzen die Herren und rauchen Und gucken in die Höh', Da sitzen die Damen und tauchen Den Kuchen in den Kaffee. Da scharrt ein Herrchen die Füße Und macht sein Kompliment, Die Damen erwidern die Grüße, Dann ist die Sache zu End'. Da nehmen die Herren die Stöckchen Und klopfen sich die Schuh', Die Damen verschieben die Löckchen, Und zeigen die Händchen dazu. Da rufen die Herren dem Hündchen Und rufen: „Marsch! apport!“ Die Damen verziehen das Mündchen Und stricken gähnend fort. Da kriegt ein Herrchen Kourage Und wird gar amüsant, Die Damen befürchten Blamage Und gucken in den Sand. Das Herrchen sagt süßlich und herbe: „Das Wetter ist so schön!“ Die Damen erwidern: „Süperbe, Man kann's nicht schöner seh'n!“ Das Herrchen ist nun fertig Und setzt den Hut sich schräg; Die Damen sitzen gewärtig Auf's Ende vom Gespräch'. Das Herrchen schweigt aber verlegen Und schaut zum Dach hinauf; Die Damen, sie nehmen hingegen Die Nadeln wieder auf. Dann geht das Herrchen nach Hause, Ganz von sich selbst charmiert; Sagt sich selbst beim fröhlichen Schmause: „Die hab' ich amüsiert!“ γ . Anfang der „ Philosophie des Bewußten “ von Joh. Scherr. Willst du mit aller Welt in Frieden leben, So hüte dich, auch nur um einen Zoll Über die Menge dich emporzuheben! Und willst du, daß man nehme dich für voll, Mußt du verstehn, dich möglichst leer zu geben, Die Losung der Gesellschaft ist: „Es soll Nur Mittelmäßiges sich machen breit da! Jch selber bin die Mittelmäßigkeit ja.“ Zieh' an des Ordinären Uniform; Gemeinplatz mit Gemeinplatz zu bezahlen, Das sei dir allezeit Gesetz und Norm. Mahle nur Korn, das and're schon gemahlen, Backe dein Brot in „meist gefragter“ Form, Will sagen: in der gangbar liberalen! Ein bißchen Liberalismus ─ nicht zu viel! ─ Ziert ja den Mann von Bildung und Gefühl. Nur niemals schwimmen gegen Strom und Mode, Nein, mit dem Strom und mit der neusten Mode stets, Banaler Weg führt dich zu Amt und Brote! Jch meine, beim Horaz in einer Ode steht's: Die gold'ne Mittelstraße bis zum Tode Einhalten ist die richtigste Methode stets; Und sterbend noch befiehl du deinem Sohne Den innigsten Respekt vor der Schablone. Litteratur der Satire. Als besondere Dichtungsgattung kannte man die Satire bei den Griechen nicht, wenn auch die griechischen Lustspiele viel Satirisches enthielten. Wohl aber erzählt man von den satirischen Jamben des Archilochos, daß die durch sie Gegeißelten aus Verzweiflung sich erhängt hätten. Es waren Spottgedichte voll von Persönlichem. Die Satiriker bei den Römern haben wir unter 1 dieses Paragraphen S. 185, 186 aufgezählt. Von den Jtalienern sind als Satiriker zu erwähnen: Salvator Rosa, und Ariosto; von den Spaniern die beiden Argensola; von den Engländern Pope, Young, Jonathan Swift († 1744. Seine besten satirischen Werke, die Märchen von der Tonne und die Bücherschlacht, hat Kottenkamp in's Deutsche übertragen). Von den Franzosen sind zu nennen: Boileau, Regnier, und als der beste Rabelais. Bei den Deutschen bezeichnete man die erste satirische Poesie als Narrenpoesie, weil sie die Narrheiten verschiedener Klassen der Gesellschaft geißelte. Brant, Murner, Fischart entsprechen dem römischen Trio Horaz, Juvenal, Persius. Sebastian Brant, Stadtsyndikus von Straßburg (1494; Bd. I . 49), geißelte in den 113 Kapiteln seines satirischen Narrenschiffs die Laster und Gebrechen aller Stände. Durch Schilderung der verschiedenen Gattungen von Narren seiner Zeit, die in einem großen Transport auf einem Schiffe in ihr Vaterland Narragonien zurückgebracht werden, entwirft er ein Bild der damaligen Zustände und erregte dadurch so gewaltiges Aufsehen, daß z. B. der berühmte Theologe Geiler von Kaisersberg in Straßburg Predigten über sein Buch hielt. Aus Brants Narrenschiff: Wer nit gern hört von Weisheit sagen, Der wird dest dicker von mir klagen, Dem hört man an sin Worten an, Was er sei für ein Gouckelmann. Thomas Murner (vgl. Bd. I . S. 49). Der zügelloseste und größte Satiriker Deutschlands war Joh. Fischart († 1590), dessen schonungslose Schriften sich schon durch ihre drolligen Titel auszeichneten. (Vgl. z. B. Bd. I . S. 592.) Rollenhagen (witzig, anschaulich, fein, schlagend hält sich im Gegensatz zu Murner von Straßburg innerhalb der Schranken der Sittlichkeit). Vgl. noch die Bd. I . S. 50 erwähnten Satiren. Schöpfer der eigentlichen poetischen Satire in Deutschland ist Joachim Rachel († 1669 als Schulrektor zu Schleswig. Er schrieb zehn Satiren, in welchen er in gutmütig tadelnder Weise die Schwächen seiner Zeit geißelt, z. B. Das poetische Frauenzimmer oder die böse Sieben. Vgl. die Probe, Bd. I . S. 33). Als deutsche Satiriker haben sich ferner einen Namen erworben: Laurenberg († 1659 als Professor der Dichtkunst; schrieb vier nachlässige frivole Scherzgedichte in plattdeutscher Mundart. Das Gedicht von der Kinderzucht ist Nachbildung der 14. Satire Juvenals). Moscherosch (schrieb: „Wunderliche und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald, d. i. Strafschriften, in welcher aller Welt Wesen, aller Menschen Händel mit ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalt, Heuchelei, Thorheit bekleidet, öffentlich auf die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellt und gesehen werden.“ Während Grimmelshausens Simplicissimus besonders das Soldatenleben behandelt, nimmt diese Nachbildung der Suennos y discursos des Spaniers Franzisko de Quevedo die deutschen Thorheiten und Laster aller Stände zur Zielscheibe und sucht z. B. Hofleute, Quacksalber, Advokaten, Tabakraucher, renommierende Soldaten, Modenarren, Sprachverdreher &c. lächerlich zu machen, welch letztere er durch deutsches, lateinisches, griechisches, französisches &c. Durcheinanderreden höhnt). Abraham a Santa Clara (Bd. I . 52). Philander von der Linde (pseudonym Burkhard Monke, † 1732) teilt in einem Anhange seiner 1710 in Leipzig erschienenen Gedichte ein satirisches Gedicht mit: „Cartell des Bramarbas an Don Quixote.“ Joh. Christ. Günther (Bd. I . 51) schrieb mehrere Satiren, z. B. Auf einen Büchersaal. Rabeners spießbürgerliche Satiren geißeln alte Jungfern, Landjunker, Advokaten, Richter &c. Haller (z. B. Die verdorbenen Sitten). Pyra, Rost, Lange (vgl. Bd. I . S. 54). Liskow (Bd. I . 54) kam 1760 wegen seiner Satiren in's Gefängnis, woselbst er starb; man nannte ihn den Swift der Deutschen. („Von der Vortrefflichkeit und Notwendigkeit elender Skribenten“ ist seine beste satirische Arbeit.) v. Canitz (Tod eines ungerechten Geizhalses). Hagedorn (nahm sich Horaz zum Muster). Wieland (giebt in den Abderiten eine heitere, zutreffende Satire auf das Leben und Treiben der Kleinstädter). Stolberg (Der Frohn an Lichtwehr; Über die Persiflage; Der zweite Rat). Falk († 1826. Rezept zu einer modernen Elegie; Leben des Johannes von der Ostsee). Jean Paul (der bedeutendste Satiriker in Prosa). Haug, Lichtenberg (Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond; Bittschrift der Narren). Börne, Platen, Schlegel (Die satirische Ehrenpforte Kotzebues). Heine (Deutschland, ein Wintermärchen, satirische Geißelung deutscher Zustände am Faden seiner Reise von Paris nach Hamburg &c.). Bogumil Goltz, Ad. Glaßbrenner (z. B. Neue lustige Komödien). Goethe (z. B. Musen und Grazien in der Mark). Schiller (Shakespeares Schatten; Die Weltweisen; Die Philosophen). Uhland (Frühlingslied des Recensenten; Wanderung). Rückert (Auf die Schlacht an der Katzbach; Die 99 Schneider &c.). Saphir (Unterhaltung im Freien, fliegendes Album für Ernst, Scherz, Humor). Alfred Meißner (Sohn des Atta Troll). Hartmann (Reimchronik des Pfaffen Mauritius, satirische Gedichte auf die politischen Zustände Ungarns, Deutschlands, auf die Glieder des Frankfurter Parlaments &c.). H. Döring (Der leere Titel). Bauernfeld (Die dramatische Satire „Reichsversammlung der Tiere“). Gruppe (Abendentzückungen). Herloßsohn († 1849. Mephistopheles). Rellstab (Henriette). Schmidt-Cabanis u. a. § 86. Travestie. Travestie (Vermummung) ist die Ummodelung, Umgestaltung eines ernsthaften, oft erhabenen Gedichts zu einem scherzhaften, Lachen erregenden. Oder: Travestie ist ein Gedicht, welches den ernsten würdigen Stoff (== Jnhalt) eines allbekannten Gedichts beibehält und nur die Form (Versmaß &c.) verändert, um durch Verwebung mit heiteren Beziehungen, lächerlichen Zufälligkeiten, Gebräuchen, Sitten, Thorheiten, modernen Anschauungen und durch trivial=komische in's Lächerliche ziehende satirische Behandlung u. a. dem ernsten Stoff eine komische, meist karikierende Wendung zu geben. Jndem der Dichter den nämlichen Gegenstand eines Gedichts im entgegengesetzten Sinn und Geist behandelt, erinnert er durch ähnliche Ausdrücke, oder auch durch dieselben Worte, zuweilen sogar durch Beibehaltung der Strophenart u. s. w. an das Original, dessen Ernst und Würde er karikiert und lächerlich macht. Daher heißt travestieren soviel als ein erhabenes Gedicht in's Lächerliche ziehen, es scherzhaft umformen, umkleiden. Da der Gegenstand häufig in niedrige, gewöhnliche Sphären herabgezogen, ja nicht selten herabgewürdigt wird, so wirkt der Kontrast mit dem erhabenen Vorbild um so greller. Daher haben nur wenige Travestien poetischen Wert. Die meisten sind lediglich als Ausdruck von Witz und Laune bemerkenswert und werden nur so lange ertragen, als sie nicht in's Frivole und Gemeine übergehen. Zu den vornehmsten Arten des Lächerlichen gehört der Kontrast zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Zweck und Mittel, ferner die Entdeckung einer unerwarteten Ähnlichkeit zwischen unähnlichen Gegenständen, endlich der Kontrast zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem, Großem und Kleinem nebst kurzen witzigen Einfällen (Bonmots). Darauf gründet sich ebenso der heroisch=komische, wie der niedrigkomische oder burleske Stil in der Travestie (wie auch in der Parodie; § 87 d. Bds.). Der heroisch=komische Stil stellt Unwichtiges als wichtig in erhabener feierlicher Ausdrucksweise dar. Der burleske Stil dagegen zieht Erhabenes in's Niedrige. Das Launige und Humoristische stellt Ernstes lächerlich dar und umgekehrt. Didaktisch wirkt die Travestie dann, wenn sie satirisch ist und ihr also ein höheres Jnteresse als bloße Belustigung zu Grunde liegt. Jn diesem Falle macht sie eine falsche, überschwengliche Richtung des Gefühls lächerlich und vertritt somit die Sache der Wahrheit und der Vernunft. Jm Französischen hat Scarron die gelungensten Travestien geliefert; im Deutschen Blumauer (Äneis). Gesammelte Travestien finden sich z. B. im Buche deutscher Parodien und Travestien von Z. Funk. 1840. Beispiel der Travestie. Äneas' Flucht aus Troja. Originalgedicht Schillers nach Virgil. Strophe 119. Und lauter, immer lauter hört man schon Des Brandes nahe Feuerflammen krachen. Auf, Vater, ruf' ich, auf! Jch trage dich, den Schwachen; Leicht drückt des Vaters teure Last den Sohn. Was nun auch kommen mag, wir teilen Tod und Leben, Die Hand will ich dem Kleinen geben, Jn ein'ger Ferne folgt Kreusa still. Jhr Knechte, merkt, was ich verkünden will. 120. Gleich vor der Stadt steht ihr an einem Felsenhange, Den ein verlassner Cerestempel schmückt, Daneben ein Cypressenbaum, seit lange Travestie. (Aus: Blumauers travestierte Äneis. ) Jch trat ins Zimmer. Welch' ein Bild! Wie ward ich da betroffen! Mein Vater hinter einem Schild, Mein Söhnchen hinterm Ofen. Mein Weib, das hoch die Hände rang, Schrie heulend: Schütze mich vor Zwang, Du heil'ge Mutter Anna! Kourage, rief ich, faßt euch! Wißt, Frau Venus hat mir eben Ein Land, wo Milch und Honig fließt, Statt diesem Nest gegeben. Kommt mit in dies Schlaraffenland, Da sind die Felsen von Tragant, Die Wälder voll Zibeben. Da will ich naschen, rief Askan, Und hing an meiner Seite; Mit Andacht von den Vätern angeblickt. Dort treffen wir uns in verschiednen Scharen! Du, Vater, wirst die Heiligtümer wahren! Wie dürfte sie, noch nicht genetzt von frischer Flut, Berühren diese Hand voll Blut! 121. Sogleich wird ein Gewand den Schultern umgehangen, Vom Rücken wallt noch eine Löwenhaut; Jch neige mich, die Last des Vaters zu empfangen, Der Rechten wird mein Julus anvertraut, Der neben mir mit kürzern Schritten eilet, Und hinter unserm Rücken weilet, Zu hintergehn den lauernden Verdacht, Kreusens Schritt ─ so fliehn wir durch die Nacht. 122. Wie oft auch sonst im wildesten Gemenge Der Schlacht mein Busen unerschüttert blieb, Wie wenig mir der Feinde furchtbarstes Gedränge Die Röte von den Wangen trieb, Jetzt machte jeder Laut mich beben, Mir schauerte vor jedes Lüftchens Zug, Besorgt für des Begleiters Leben, Bang für die Bürde, die ich trug. u. s. f. Mein Weib that Pelz und Handschuh' an, Und ich rief meine Leute, Und sprach: ─ schickt euch zur Reise an! Jm Bierhaus vor der Stadt beim Schwan, Da kommen wir zusammen. Drauf nahm ich meine Wildschur um, Daß sie die Rüstung deckte, Jndessen brannt' es um und um, Und sieh, das Feuer reckte Zum Fenster schon die Zung' herein: Da fingen alle an zu schrei'n: Sankt Florian, errett' uns! Nur Weiber zittern in Gefahr; Jch, ohne umzublicken, Nahm meinen Vater, wie er war, Und packt' ihn auf den Rücken. Nun, rief ich: Vater, reitet zu, Gieb her die Hand, Askan, und du, Kreusa, geh' zur Seite! Jch, der ich sonst dem Teufel steh', Erbebte nun vor Lanzen Und Schildgeklirr', und zitterte Für meinen teuern Ranzen. Jndessen trug ich meinen Sack Ganz unverletzet huckepack Durch Nacht und Graus und Flammen. u. s. f. § 87. Parodie. 1. Die Parodie (Nebengesang) ist die möglichst treue Nachahmung irgend eines bekannten Gedichts durch fremdartigen Stoff. 2. Man unterscheidet ernste und komische Parodien. 1. Jm Gegensatz zur Travestie (welche, wie in § 86 erwähnt, den gleichen Gegenstand in neuer Form meist karikierend erzählt) ist der Gegenstand der Parodie vom Gegenstande des Originalgedichts durchaus verschieden; er ist meist niedriger, gemeiner. Zum Wesen der Parodie gehört es nur, daß Form (Metrum), Gedankenfolge, Ausdrucksweise (Wortlaut) thunlichst mit dem Originalgedicht übereinstimmen und an dasselbe erinnern. Das älteste parodistische Gedicht ist die im ernsten Ton der Jlias die Kämpfe der Mäuse und Frösche erzählende Batrachomyomachie. Unsere Litteratur ist nicht arm an Parodien. Überwiegend sind jene schlechten Parodien, welche das Erhabene in den Staub ziehen und das Heilige, Weihevolle, Würdige &c. sträflich verletzen. Jm 16. Jahrhundert schon dichtete man in ernster Absicht beliebte, weitgesungene weltliche Lieder in geistliche um, indem man die weltliche Form beibehielt und nur für den weltlichen Gegenstand einen geistlichen wählte. Beispiele haben wir in § 57 d. Bds. genügend aufgezählt. Weitere Proben finden sich in Wackernagels Kirchenliede. 2. Der Geist der ernsten Parodien ist dem Geiste des Urbilds verwandt, wie dies unsere erste Probe von Bretschneider beweist und wie dies viele bekannte Parodien zu Schillers „Hektors Abschied“ und „Worte des Glaubens“ darthun. Vgl. auch die Beispiele in § 57 d. Bds. Die komische Parodie verkehrt den Geist des Urbilds in's Komische. Sie wird durch den Kontrast zu einer Art Travestie. Vgl. jenes allbekannte Kaffeegedicht, durch welches Schillers Lied von der Glocke parodiert ist, sowie die gelungene Rüpelkomödie in Shakespeares Sommernachtstraum, die mit ihrem Pathos den tragischen Ton damaliger Poeten verhöhnt. Berechtigt erscheint die Parodie nur dann, wenn sie eine schiefe Richtung des Geistes lächerlich macht, also satirisch ist und didaktische Tendenz hat. Beispiele der Parodie. Originalgedicht: Mignon von Goethe. Kennst du das Land? wo die Citronen blühn, Jm dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? ─ ─ Dahin! Dahin Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn. Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, gethan? Kennst du es wohl? ─ ─ Dahin! Dahin Möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg; Jn Höhlen wohnt der Drachen alte Brut; Es stürzt der Fels und über ihn die Flut. Kennst du ihn wohl? ─ ─ Dahin! Dahin Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn! Ernste Parodie von Bretschneider. Siehst du das Licht, das jenseits unbegrenzt Aus tausend Welten auf uns niederglänzt? Jn das der Nächte Finsternis nicht dringt, Das rein und frei sich durch den Äther schwingt? Siehst du das Licht? ─ ─ Dahin, dahin Laß aus des Lebens banger Nacht uns fliehn! Siehst du das Blau, das jeden Stern umschließt, Den Äther, der durch alle Welten fließt, Der, nie getrübt, von keinem Sturm bewegt, Den Strahl des reinsten Lichtes trinkt und trägt? Siehst du das Blau? ─ ─ Dahin, dahin Laß aus des Lebens Nebelluft uns fliehn! Siehst du den Stern, der dort so hell uns glänzt, Wo keine Nacht des Lebens Traum begrenzt? Wo keines Truges Gaukellicht uns scheint, Kein Donner rollt, kein liebend Auge weint? Siehst du den Stern? ─ ─ Dahin, dahin Laß aus des Lebens Thränenthal uns fliehn! ( NB . Eine gelungene Parodie auf Goethes Mignon ist noch das Vaterland von Cl. Harms: „Kennt ihr das Land, auf Erden liegt es nicht“ ─ u. s. w.) Originalgedicht: Das Mädchen aus der Fremde von Schiller. Jn einem Thal bei armen Hirten Erschien mit jedem jungen Jahr, Sobald die ersten Lerchen schwirrten, Ein Mädchen schön und wunderbar. Sie war nicht in dem Thal geboren, Man wußte nicht, woher sie kam; Doch schnell war ihre Spur verloren, Sobald das Mädchen Abschied nahm. Beseligend war ihre Nähe, Und alle Herzen wurden weit; Doch eine Würde, eine Höhe Entfernte die Vertraulichkeit. Sie brachte Blumen mit und Früchte, Gereift auf einer andern Flur, Jn einem andern Sonnenlichte, Jn einer glücklichern Natur; Komische Parodie: Die Erscheinung im Kaffeesaale von Röller. Jn einer Stadt bei jungen Frauen Erscheint ─ nach jedem Mittagsmahl, So wie der Kaffee sich läßt schauen, Ein geistig Wesen in dem Saal. Es ist nicht in dem Saal geboren Man fragt es nicht, woher es kam; Doch schnell ist seine Spur verloren, Sobald man wieder Abschied nahm. Vereinigend ist seine Nähe, Und alle Lippen thun sich auf, Und keine Würde, keine Höhe, Hemmt ihres Wörterstromes Lauf. Es bringet Fehler mit und Namen, Gemerkt in einem andern Haus, Bei eingebildeteren Damen, Auf einem andern Kaffeeschmaus; Und teilte jedem eine Gabe, Dem Früchte, jenem Blumen aus; Der Jüngling und der Greis am Stabe, Ein jeder ging beschenkt nach Haus. Willkommen waren alle Gäste; Doch nahte sich ein liebend Paar, Dem reichte sie der Gaben beste, Der Blumen allerschönste dar. Und schenkte jeder eine Gabe, Der Witz und jener scharfen Blick; Der Jüngling, wie der Greis am Stabe, Ein jeder kommt beklatscht zurück. Zum Tadel dienen alle Gäste; Doch birgt sich wo ein liebend Paar, Das giebt der Kaffeereden beste, An dem läßt man kein gutes Haar. ( NB . Eine Parodie auf Schillers Mädchen aus der Fremde ist auch Saphirs „Die deutsche Litteratur“: Jn Leipzig auf der Büchermesse erscheint mit jedem halbem Jahr u. s. w.) Aus Matthissons Adelaide. Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten, Mild vom lieblichen Zauberlicht umflossen, Das durch wankende Blütenzweige zittert, Adelaide! u. s. w. Aus Wießmanns Parodie: Der Witwer. Einsam wandl' ich Witwer in Bosens Garten, Matt vom dürftigen Lampenlicht umflossen, Das durch öde Kastaniengänge flimmert, Alte Kathrine! u. s. w. Weitere Beispiele von Parodien haben geliefert: Fischart, Murner, Brant. Von Späteren: Mahlmann (Herodes vor Bethlehem, oder der triumphierende Viertelsmeister, ─ eine höchst gelungene satirische Parodie auf Kotzebues Thränenstück Die Hussiten vor Naumburg); Castelli (der Schicksalsstrumpf, Parodie auf Müllners Schuld); Kosegarten (Klagelied eines Mißvergnügten, Parodie auf Höltys Aufmunterung zur Freude); Blumauer, Rabener, Falk, Roller, Schütz, Hagedorn, Lichtenberg, Wieland, Goethe (Musen und Grazien in der Mark ─ gegen Schmidt von Werneuchen gerichtet); Hauff (Mann im Monde ─ Clauren persiflierend); Voß, Uhland, Heine, Börne, Brunner, Sommer (Gedichte in Rudolstädter Mundart); Rückert (Marschall Mai ─, Parodie auf dessen Marschall Ney); Johr (Der Reimjäger, Parodie auf Schillers Alpenjäger); Louis Wallo (Die Bürgschaft, Parodie auf Schillers Bürgschaft); Eichrodt (im Hortus deliciarum , vgl. § 65) u. a. (Die Parodie in der klassischen Litteratur hat H. Blümner-Zürich in der Decembernummer 1881 des „Süd und Nord“ von P. Lindau behandelt.) § 88. Humoristische Dichtungen. 1. Humoristische Dichtungen sind solche Dichtungen, welche durch Anwendung von Gegensätzen (Kontrasten) das Komische ernst und das Ernste komisch behandeln und dadurch eine komische oder erheiternde Wirkung erreichen. Die humoristischen Gedichte verletzen niemanden: ihr Grundgefühl ist das der menschlichen Ohnmacht und Nachsichtsbedürftigkeit. (Von den komischen Liedern ─ § 63 ─ unterscheiden sie sich durch ihre didaktische Tendenz.) Mit dem in ihnen waltenden Humor darf die von den Romantikern so genannte Jronie des Schicksals nicht verwechselt werden. 2. Der Humorist muß durch Bildung und Feinsinnigkeit über seinem Gegenstande stehen und die Höhen des menschlichen Lebens zu überschauen vermögen. 1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse ( κρᾶσις , temperamentum ) von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente. Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt. Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend; in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare, Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben. Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. „Dann schwingt sich das Gemüt ─ um mit Wackernagel zu sprechen ─ empor und schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns, halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit, kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“ Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat. Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden. Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen sich beständig, ja, sind unzertrennlich von einander. Wir beklagen und belächeln uns zugleich, unsre Lust ist unser Schmerz. Ätzende Jronie, die im Gegensatz zum Humor das Kleine groß macht, ja, der Spott sind dem Humor fern, denn der Humor wird nie frivol. Der Humor zeugt von geistiger Überlegenheit; Spott und Frivolität dagegen meist von Beschränktheit und niedriger Gesinnung. Trotzdem scheint mancher Mensch geistig überlegen, der es nicht ist. Er produziert Lächerliches und fade Albernheiten, die nur wie Humor aussehen; und Goethe hat mit bezug auf diese ganz recht, wenn er sagt, es gebe keinen Unsinn, der nicht, fratzenhaft ausgedrückt, wie Humor aussehe. Etwas anderes als Humor ist jene verzweifelte Lustigkeit, jener Hohn des Schicksals, den die neuere Zeit oft statt leichter Heiterkeit und jovialen Spasses in dramatischen Dichtungen zur Schau trägt. Diese sogenannte Jronie des Schicksals, die selbstredend nicht im antikisierenden Sinn, wohl aber in dem unserer romantischen Dichterschule zu verstehen ist (vgl. Bd. I , S. 106), kommt nur aus einem zerrissenen unversöhnten Gemüte; unabsichtlich leuchtet durch erzwungenen Scherz der Ernst oder Schmerz des Lebens hindurch. 2. Der Humorist als Schöpfer humoristischer Dichtungen kann durch mancherlei Situationen zu seinen Dichtungen veranlaßt werden, z. B. wenn der lehrende Verstand im feinen Witz Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Gegenstände treffend und sinnreich vergleichend darstellt und eine gesunde frische Phantasie ihm zu Hilfe kommt. Der Gegenstand des Humors kann auch ein Gefühl sein. Um dem Schmerze Worte zu leihen und ihn mit Geist und Lebenskraft doch zu verbergen, stellt sich der echte Humorist über das Gefühl und macht sich Luft durch kontrastierende schalkhafte Lustigkeit. Goethe meint daher mit Recht im Faust: Von allen Geistern, die verneinen, Jst mir der Schalk am wenigsten verhaßt. Um die Ansichten, Meinungen, Sitten der Menschen humoristisch behandeln zu können, bedarf es hoher Bildung und Feinsinnigkeit. Die menschlichen Angelegenheiten erscheinen dann entweder alle groß, oder alle klein. Der Humorist wird sich über dieselben nur auf eine erfindungsreiche, witzige Weise äußern, weil seine Lebens- und Weltanschauung originell und zugleich mit dem Kopfe auch das Herz voll ist. Jmmer wird sein Humor, wenn er sich besonders mit dem im Leben und Staate Sittlichen befaßt, den Ernst einer höheren Wahrheit durchblicken lassen. Ein wahrer Humorist steht, wie über seinem Gegenstand, so über dem gewöhnlichen Leben. Jhm werden die Mängel des Erdenlebens klein und er tröstet sich in der drückenden Wirklichkeit mit erhabenen Jdeen und lacht im Besitze derselben. Freilich giebt es unverschuldete Leiden, über welche nur ein Roher lachen könnte. Bei dem echten Humoristen sieht der Ernst des Lebens auch bei dieser humoristischen Weltanschauung hindurch. Wahre Größe durchdringt jede Form des echten Humors. Beispiele der humoristischen Dichtungen. a . De Krone der Schepfung, von Edwin Bormann. (Aus den Dagebuche eines alten Leibzigers.) So manches Wunder beit das Erdenlewen, Was mächtig eine Dichterseele riehrt; Allein schon Sophokles hat zugegewen, Daß dir, o Mensch, der erste Preis gebiehrt. Die Krone aber ─ setz' ich gleich danewen ─ Das is der Mensch, den Leibzig produziert! Un' dieses Kleinod unsrer Muddererde Besing' ich jetzt von hohen Fliegelferde. Fer's erste is der Leibz'ger hellisch helle, Un' sein Gemieth is edel, groß un' weit. Denn wenn Kollege Schiller sagt in Telle: „De braune Liesel kenn' ich an Geleit'“ ─ Das Leibz'ger Kind erkennst de uff der Stelle An seiner Hellig= un' Gemiethlichkeit. Dies Erbstick zeigt von Seigling bis zum Greise Ä jeder Leibz'ger in frabbanter Weise. Wenn irgend meglich, weeß er „zu genießen Mit Wehmut dieses Lewens Unverstand.“ Durch Musen läßt fei' Dasein er versießen, Sie sinn (wie Geedhe spricht) ihn „wahlverwandt“; Andächtig ruht er zu der Weisheit Fießen, Js aufgeklärt, human un' dolerant; Engherz'ges Handeln stimmt ihn miß un' triewe, Denn seine Forsche is de Menschenliewe. Un' eine seiner vordheilhaftsten Seiden ─ King Lear bemerkt ganz richtig: „ last, not least “ Das is der Fortschritt, dem zu allen Zeiden Er Haus un' Herz un' Dhor un' Brust erschließt. Es is fier ihn ä Urquell reenster Freiden, Wenn wo was „Neies aus Ruinen sprießt“, Den jungen Keimen wird er Hort un' Hieder; Nischt is ihm mehr als alter Zopp zewieder. Kurzum: ä Menschenschlag grassiert in Leibzig, Wie ihn kein kiehnster Traum vollkommner treimt. ─ Die Mähne meines Begasusses streibt sich, Stolz weht sei' Schweif, un' seine Zunge scheimt: Er ahnt, womit sei' Herr de Zeit vertreibt sich, Er ahnt, was ich gesungen, was gereimt! Mich selwer awer backt ä wonnig Schauern: Auch meine Wiege stand in Leibzigs Mauern! b . Wenn Einer deiht (thut), wat hei deiht, denn kann hei nich mihr dauhn (thun), as hei deiht. Aus Läuschen un Rimels, von Reuter. (Sämmtl. Werke II . 54.) „Na, Corl, wo (wie) is Di dat denn gahn?“ ─ (gegangen.) „„Jh, Herr, dat gung jo doch noch so'''' ─ „Na, hest Di düchtig 'rümmer slahn!“ ─ „„Ja, Herr, tauletzt bi Waterlo.'''' ─ „Dor hest Di denn woll eklich fecht't?“ ─ „„Ja, ümmer druf! as Blüchert seggt.'''' ─ „Wo was dat denn? Vertell (erzähle) doch blos!“ „„Je Herr, ick güng' e stiw up los, (ich ging da steif drauf los) Un as ick irst so recht in Grimm, Dunn haut' ick rechtsch un linksch herüm, Un, Herr, den Einen haut' ick ─ den Einen! Den'n haut' ick beide Beinen af.'''' „De Beinen? ─ Wo? Woso, de Beinen? Worüm haut'st em den Kopp nich 'raf?“ ─ „„Je, Herr, de Kopp, de was all af.'''' (der war schon ab.) Litteratur des Humors. Beispiele des Humors finden sich am anschaulichsten in jenen größeren Dichtungsgattungen, in welchen sich der menschliche Charakter am freiesten entwickeln kann, also in Romanen, Schauspielen, Novellen. (Jch verweise beispielshalber auf die humoristischen Romane I 58, 69, sowie 4. Hptst. d. Bds; ferner auf H. Heines Romancero; endlich auf einzelne Dramen Shakespeares, den Aug. Siebenlist den unübertroffenen Meister des Humors nennt, über den sich J. L. Klein in seiner epochebildenden Gesch. des Drama XII . 556, sowie der Fabeldichter Jos. R. Ehrlich in seiner kleinen, 1878 erschienenen Schrift: Der Humor Shakespeares verbreitet. Vgl. des Näheren das vortreffliche Werk: Schopenhauers Philosophie der Tragödie von Aug. Siebenlist. 1880. S. 405 ff., wo der geistvolle Jnterpret des Philosophen des Pessimismus erschöpfend ausführt, wie der subjektive Humor ─ den Schopenhauer den hinter dem Scherz versteckten Ernst nennt ─ als spezifische Errungenschaft der auf dem Christentum beruhenden neuzeitlichen Tragödie ein gleichfalls ästhetisches, unendlich höher stehendes Kompositionsmoment sei, als die objektive Jronie u. s. w.). Doch giebt es genug kleinere didaktische Dichtungen, welche die freie Entfaltung des Humors begünstigen. Es sind in der Regel dieselben Dichter, welche neben größeren Dichtungen auch kleinere humoristisch zu halten verstanden, wodurch sie sich als Humoristen erwiesen. Wir nennen von den deutschen: Claudius, Lichtenberg, Jean Paul, Tieck, Musäus, Mises, Heine, Aug. Kopisch, Eichrodt, Alex. Kaufmann (Der Student von Oxford), Gottfr. Keller, Scheffel, besonders aber Eckstein, Schmidt-Cabanis und Fritz Reuter, welchen der wahre freie Humor eigen ist, jene innige Mischung von Witz, Laune und Gemütlichkeit, die ebenso im Kopf wie im Herzen des Dichters ihren Ursprung hat und daher auch Geist und Gemüt des Lesers wirkungsvoll entzückt. Den Humor suchten in Deutschland vor allem die Münchener fliegenden Blätter aufrecht zu erhalten, in neuerer Zeit auch der Schalk unter Redaktion des Humoristen Ernst Eckstein, u. s. w. III . Eigentlich didaktische Gedichte . § 89. Die ideale Gedankenlyrik. Viele Gedichte, die in der Mitte stehen zwischen dem lyrischen und dem didaktischen Gedicht, müssen doch ihrer lehrhaften Absicht und Bestimmung wegen zu den didaktischen Gedichten gezählt werden. Diese im Glanz einer schönen Sprache prangenden Gedichte entquellen gewissermaßen dem denkenden Gefühle des Dichters, besingen einen bestimmten instruktiven Gegenstand, entfalten Phantasie und Gemüt und bilden so die Gattungen, welche wir unter „idealer Gedankenlyrik“ vereinen wollen. Obwohl ihr didaktischer Zweck nicht eben in den Vordergrund tritt, so haben die Dichtungen der idealen Gedankenlyrik doch die Absicht, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Lehre zur Anschauung zu bringen. Jch erinnere nur an viele Gedichte Schillers, die man als „Jdealgedichte“ zu einer besonderen „ideellen Poesie“ zu vereinigen suchte, weil man sie sonst nicht zu rubrizieren vermochte. Es tritt uns in ihnen der Dichter entgegen, von großartigen Jdeen durchdrungen, „jedoch weder dithyrambisch fortgerissen, noch im Begeisterungsdrange mit der Größe seines Gegenstandes kämpfend, sondern desselben vollkommen Meister, indem er ihn mit eigener poetischer Reflexion in ebenso schwungreicher Empfindung, als umfassender Weite der Betrachtung in den prächtigsten volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen, aber schlagenden Rhythmen und Reimen, nach allen Seiten hin vollständig darlegt.“ Als solche Gedichte der idealen Gedankenlyrik bezeichne ich bei Schiller: Das Jdeal und das Leben, An die Freude, Das Glück, Der Genius, Würde der Frauen, Die Jdeale, Die Götter Griechenlands. Ferner bei Rückert: Edelstein und Perle, und besonders Die sterbende Blume &c. Um an letzterem Gedichte das Wesen der idealen Gedankenlyrik näher zu zeigen, so tritt hier das lehrhafte Motiv so zu Tage: Wenn die Betrachtungen über die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit alles Jrdischen zur Wehmut stimmen und schmerzliche Gefühle des Leides mit der Trauer hervorrufen, so liegt dies in dem Umstand begründet, daß die Vergänglichkeit den Fortbestand alteriert, also in siegreichen Kampf mit der Existenz tritt und somit von dieser gefürchtet werden muß. Die Furcht vor dem Aufhören ist bei dem ungebildeten Menschen nicht so intensiv, weil sein Gefühlsleben auf der unteren Stufe steht. Er wird sich der obigen Betrachtung kaum flüchtig hingeben können. Die Fähigkeit für diese Betrachtung erlangt der Mensch aber in eben dem Grade, in welchem er seine Gemütsbildung pflegt. Rückert mit seinem sehr gebildeten Gemütsleben konnte in der That in seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der idealen Gedankenlyrik hebt. „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte; der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen; das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch fühlenden Dichters würdig. Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern, die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten. Beispiel der idealen Gedankenlyrik. Die sterbende Blume, von Rückert. Hoffe! du erlebst es noch, Daß der Frühling wiederkehrt. Hoffen alle Bäume doch, Die des Herbstes Wind verheert, Hoffen mit der stillen Kraft Jhrer Knospen winterlang, Bis sich wieder regt der Saft, Und ein neues Grün entsprang. ─ „Ach, ich bin kein starker Baum, Der ein Sommertausend lebt, Nach verträumtem Wintertraum Neue Lenzgedichte webt. Ach, ich bin die Blume nur, Die des Maies Kuß geweckt, Und von der nicht bleibt die Spur Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─ Wenn du denn die Blume bist, O bescheidenes Gemüt, Tröste dich, beschieden ist Samen allem, was da blüht. Laß den Sturm des Todes doch Deinen Lebensstaub verstreu'n, Aus dem Staube wirst du noch Hundertmal dich selbst erneu'n. ─ „Ja, es werden nach mir blüh'n Andre, die mir ähnlich sind; Ewig ist das ganze Grün, Nur das Einzle welkt geschwind. Aber, sind sie, was ich war, Bin ich selber es nicht mehr; Jetzt nur bin ich ganz und gar, Nicht zuvor und nicht nachher. „Wenn einst sie der Sonne Blick Wärmt, der jetzt noch mich durchflammt, Lindert das nicht mein Geschick, Das mich nun zur Nacht verdammt. Sonne, ja du äugelst schon Jhnen in die Fernen zu; Warum noch mit frost'gem Hohn Mir aus Wolken lächelst du? „Weh' mir, daß ich dir vertraut, Als mich wach geküßt dein Strahl; Daß in's Aug' ich dir geschaut, Bis es mir das Leben stahl! Dieses Lebens armen Rest Deinem Mitleid zu entzieh'n, Schließen will ich krankhaft fest Mich in mich, und dir entflieh'n. „Doch du schmelzest meines Grimms Starres Eis in Thränen auf; Nimm mein fliehend Leben, nimm's, Ewige, zu dir hinauf! Ja du sonnest noch den Gram Aus der Seele mir zuletzt; Alles, was von dir mir kam, Sterbend dank' ich dir es jetzt: „Aller Lüfte Morgenzug, Dem ich sommerlang gebebt, Aller Schmetterlinge Flug, Die um mich im Tanz geschwebt; Augen, die mein Glanz erfrischt, Herzen, die mein Duft erfreut; Wie aus Duft und Glanz gemischt Du mich schufst, dir dank' ich's heut. „Eine Zierde deiner Welt, Wenn auch eine kleine nur, Ließest du mich blüh'n im Feld, Wie die Stern' auf höh'rer Flur. Einen Odem hauch' ich noch, Und er soll kein Seufzer sein; Einen Blick zum Himmel hoch, Und zur schönen Welt hinein. „Ew'ges Flammenherz der Welt, Laß verglimmen mich an dir! Himmel, spann' dein blaues Zelt, Mein vergrüntes sinket hier. Heil, o Frühling, deinem Schein! Morgenluft, Heil deinem Weh'n! Ohne Kummer schlaf' ich ein, Ohne Hoffnung aufzusteh'n. § 90. Kulturhistorisches Gedicht. Ein Gedicht, welches die Schicksale der Menschen und deren Entwickelungsgang poetisch auffaßt und darstellt, so daß die wichtigsten Momente auf Ausbildung des menschlichen Geistes und der gesellschaftlichen Verhältnisse entweder einzeln oder im Zusammenhang berechnet sind, kann als kulturhistorisches Gedicht bezeichnet werden. Schiller ist der Vater dieser didaktischen Dichtungsform. Zu nennen sind von ihm Die Künstler (ein Gedicht, das den Wert des Schönen versinnlicht), Der Spaziergang (welcher lehrt, daß der Überbildung am besten durch die Natur entgegen zu wirken sei), Das eleusische Fest (welches die Segnungen des Ackerbaues preist, und die im Spaziergang nur angedeutete Kulturentwickelung in mythologischen Bildern weiter ausführt); namentlich aber Das Lied von der Glocke (welches das menschliche Leben in seinen wichtigsten Momenten darstellt, wobei es auch alle menschlichen Empfindungen lehrend berührt und damit viel Subjektives, viel echt Lyrisches verbindet). Bei Rückert finden wir das kulturhistorische Gedicht: Der Bau der Welt u. a. Als Beispiel des kulturhistorischen Gedichts möge Schillers Lied von der Glocke aufgestellt sein, dessen Form den Gegenstand eines Paragraphen (Bd. I . S. 515) bildet. (Auf den Abdruck dieser umfangreichen Dichtung können wir um so lieber verzichten, als sich dieselbe zweifellos in Aller Händen befindet.) § 91. Sinngedicht oder Epigramm. 1. Ein humoristischer Einfall oder Gedanke, eine Ansicht oder ein Urteil über ein Ereignis oder eine Person, möglichst kurz und gedrängt in poetischer, schöner Form ausgedrückt, oder mit andern Worten: ein kurzes, treffendes, hauptsächlich witziges Gedicht, das die Bestimmung hat, ein allgemein bekanntes Objekt zu loben oder zu tadeln, oder eine Anschauung auszusprechen, heißt Sinngedicht oder Epigramm. Die letzten Worte desselben enthalten die sogenannte Pointe oder den Treffpunkt. 2. Besondere Arten sind das Empfindungsepigramm und das didaktische Epigramm. 3. Jn den Ausgangspunkten ist das Epigramm mit der Elegie verwandt. 4. Die Teile des Epigramms sind Vordersatz und Nachsatz; oder Exposition und Klausel. 5. Das ursprüngliche Metrum des Epigramms war das Distichon. Jm Deutschen bedient man sich neben demselben noch anderer Formen. 1. Man rechnet das Epigramm wegen seines witzig und kurz ausgedrückten, lehrhaften, poetischen Gedankens in die Reihe der didaktischen Dichtungen. Es kann bald mit einer kleinen knospenden, aus Dorngebüschen Wohlgerüche hauchenden Rose verglichen werden, bald und in der Regel mit einem Stachel, der verwundet. (§ 82.) Klopstock spricht dies so aus: Bald ist das Epigramm ein Pfeil, trifft mit der Spitze; Jst bald ein Schwert, trifft mit der Schärfe; Jst manchmal auch: ─ die Griechen liebten's so ─ Ein klein Gemäld', ein Strahl, gesandt Zum Brennen nicht, nur zum Erleuchten. Das Witzige, Tadelnde, Überraschende wird meist bewirkt, indem der Gedanke gegen den Schluß noch eine unerwartete Wendung nimmt. Dies ist die sogenannte Pointe oder der Treffpunkt. 2. Ursprünglich verstand man unter Epigramm (dem Wortsinn des griechischen ἐπίγραμμα entsprechend) eine Aufschrift auf einem Weihgeschenk, Denkmal, Grabmal, Theater, Tempel, Odeon &c. Die Gewohnheit, diese Denkmäler mit einer Jnschrift zu versehen, gab neben dem Namen des zu Feiernden eine oder die andere Notiz, wohl auch eine Andeutung der Empfindung, die der Anblick des Denkmals dem Schreiber hervorrief. Bei Gräbern war der Ausdruck dieser Empfindung mehr elegischer Art, bei Kunstwerken nicht selten witziger, oder hyperbolischer Natur. Viele Epigramme, ja, vielleicht die meisten, waren indes nicht wirklich angebrachte Aufschriften, sondern sie bedeuteten nur, daß diese Unterschrift wohl für das Denkmal sich eignen dürfte. So entstanden neben den eigentlichen Epigrammen die Empfindungsepigramme, Epigramme ohne jeglichen Bezug zum Kunstwerk, die sich lediglich auf historische Personen, auf Ereignisse, auf Naturgegenstände bezogen; so wurde das Epigramm lyrisch=didaktisch. Empfindungsepigramme, die den größten Teil der sogenannten griechischen Anthologie bilden, kommen bei den Römern kaum vor. Doch hatten diese gewöhnliche oder rein didaktische Epigramme schon ziemlich frühe; die alten ─ aus der Zeit der Republik ─ sind meist verloren; dagegen haben wir noch 15 Bücher von Martialis (42─102 n. Chr.), freilich sehr verschieden nach Stoff und Wert. Einiges von Ausonius (310─390) und noch aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. von Luxorius. (Alles dies gesammelt in der Anthologia latina von H. Mayer. Leipz. 1835 und neu bearbeitet von A. Riese.) Bei den Deutschen findet man Empfindungsepigramme seit Herder (der 1785 eine Auswahl in deutscher Übersetzung und 1791 eigene Epigramme erscheinen ließ), und seit Goethe (der 1790 „venetianische Epigramme“ dichtete). Man denke an die Empfindungsepigramme Goethes: „Über allen Wipfeln“ oder an Uhlands Ruhethal: „Wenn im letzten Abendstrahl“, u. s. w. Jn den meisten Fällen drängt sich bei Römern und Deutschen der Verstand so sehr in Exposition und Klausel ein, daß er mit dem epischen Moment eine wirkliche Lehre oder eine Vorschrift verbindet, oder sie aus demselben abstrahiert, oder daß er indirekt lehrend das Motiv bekämpft, verhöhnt, bewitzelt. Dadurch wird der lyrische Charakter der Klausel verändert, sie wird didaktisch und es entsteht somit das rein didaktische Epigramm, das Epigramm des Spottes, der Lehre, das besonders von den Römern gepflegt worden ist (z. B. bei Martial). Es ist wertvoll, wenn es der tiefsten Fülle der Erfahrungen entquillt. 3. Was die Verwandtschaft des Epigramms mit der Elegie betrifft, so ging das griechische Epigramm, wie die Elegie von einem historisch gegebenen Objekt, von einer epischen Wirklichkeit aus und diente zugleich auch der Empfindung zum Ausdruck, welche aus der Betrachtung jener Wirklichkeit resultierte. Während aber die Elegie des weitesten Spielraums und der größten Ausdehnung fähig war, und sich über die weitesten Gebiete ausbreitete, beschränkt sich das Epigramm nur auf einzelne Bilder, nur auf eine Person, nur auf ein Kunstwerk &c. Ja, selbst die eine auf das einzige Objekt gerichtete Empfindung durfte nur leise angedeutet werden, weshalb das Epigramm möglichst kurz war. 4. Die Elegie verschmolz das Epische mit dem lyrischen Moment, das Epigramm hielt beide auseinander, weshalb man beim Epigramm von Vordersatz ( expositio oder auch narratio, indicatio ) und Nachsatz ( clausula oder conclusio ) spricht. Die beiden Teile des Epigramms können noch bezeichnet werden als Erwartung und Aufschluß (nach Lessing), oder Exposition und Anwendung (nach Herder) oder auch als Thesis und Antithesis. Der Umfang des poetischen Epigramms ist nach Maßgabe dieser beiden Teile engbegrenzt. 5. Das gewöhnliche Metrum des Epigramms war bei den Griechen und Römern das elegische Distichon. Der epische Hexameter bezeichnete die Erwartung und der lyrische Pentameter gab den Aufschluß. Oder: der Hexameter exponierte, während die Klausel ausdeutete. Die Deutschen bedienen sich neben diesem griechischen Maß auch noch anderer Maße und namentlich auch des Reims. Eine präzise Form für das Epigramm ist das Sonett, das in den ersten acht Versen breiteren Raum für die Exposition zum epischen Vordersatz hat, während die sechs folgenden Zeilen den lyrischen Nachsatz, die Klausel, bilden können. (Vgl. Nr. 9─20 der A. Möserschen Sonette in „Schauen und Schaffen“ 1881. S. 84 ff.) Heinr. Leuthold hat sich neben Rückert auch der Ritornellform bedient u. s. w. Beispiele des Epigramms. Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? ─ Nein! Wir wollen weniger erhoben Und fleißiger gelesen sein. (G. E. Lessing.) Über das Verbot des Bettelns in Deutschland. Wie grausam ist's von dir, Germania, Das Betteln deinem Volke zu verwehren; So raubst du deinen besten Köpfen ja Das letzte Mittel sich zu nähren. (Weißer.) Hallers Lehrgedicht vom Ursprung des Übels. Des Übels Ursprung las ich jüngst in Hallers Werken, Und nahm mir vor, mit einem Strich Die besten Stellen zu bemerken. Jch las, strich an, las fort, strich an, und freute mich, Und da ich fertig war, sieh, da war Alles Strich. (Gellert.) Alle die Stunden, Alle verwunden; Eine, die letzte, Tötet und heilt. (Amara George.) Auf jagende Studenten. Klatscht, Bursche, klatscht! Laßt schwere Peitschen schallen! Laßt Hieb auf Hieb auf müde Pferde fallen! Der Fremdling sieht's mit Staunen an, Und denkt, daß jeder noch ein Schweinhirt werden kann. (Kästner.) Epigramm in Distichen-Form . Auf die Thermopylenkämpfer. Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. (Schiller nach Simonides.) Wissenschaft. Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt. (Schiller.) Die Schwaben. Eigene Köpfe sind's, gleich sieht man's, denn wo sie geraten, Ragen sie meist um den Kopf über die andern hinaus. (Heinr. Leuthold. Gedichte S. 190.) Epigramm in Vierzeilen-Form . Trinke bei des Lebens Feste Ein paarmal, und geh hinaus. Das sind unbescheidne Gäste, Die hier fordern ew'gen Schmaus. (Rückert.) Epigramm in Ritornellenform . Unglück. Jch werf' ein Halm in's Meer, es geht zu Grunde; Blei wirft ein andrer drein und es schwimmt oben: Jch bin geboren zu 'ner Unglücksstunde. (Rückert.) Gustav Freytag! Dein körniger Gehalt folgt unsrer Lyrik, Wie reicher Junisegen einem Maitag. (Heinr. Leuthold. Gedichte S. 203.) Litteratur des Epigramms. Durch die Priamel aus dem 14. Jahrhundert (s. § 92) war bei uns der Boden für das satirische Epigramm vorbereitet. Da sodann der sittliche und politische Jammer des 17. Jahrhunderts Stoff genug bot, so adoptierte man mit Vergnügen das römisch=satirische Epigramm, das Epigramm des Spotts. Der bedeutendste deutsche Epigrammatiker, Frd. von Logau (welcher unter dem Namen Salomon von Golau 3553 gute, treffende, von Simrock 1874 ausgewählte und erneuerte Sinngedichte dichtete), bietet nach den vererbten deutschen Sprüchen und Priameln satirische, geißelnde, indirekt belehrende Epigramme, bis Herder und Goethe auch das Empfindungsepigramm schufen. Beide bildeten auch insofern eine Epoche für das Epigramm, als sie dem bis dahin in Reimen gegebenen didaktischen Epigramm die Form des elegischen Distichons gaben. Noch sind als deutsche Epigrammatiker zu erwähnen: Opitz, Tscherning, Kästner, Bürger, Herder, Weißer, Göckingk (Kritik über ein Drama); Götz (Das Kind); Gleim (Aufschluß); Wernicke (der ein Buch über Epigrammatik schrieb: Erfahrung ohne Klugheit &c.); Hagedorn (Auf gewisse Ausleger der Alten); Kretschmann (Die Dichterin); Klopstock (Sitt' und Weise); Lessing (der über das Epigramm schrieb und das Verdienst hat, zuerst den vergessen gewesenen Fr. v. Logau wieder bekannt gemacht zu haben: Das böse Weib, Der Schuster Franz, Die Verleumdung &c.); Küttner (Der Deutsche); Menk (Der Renommist); Pfeffel (Der Selbstmord); Langbein (Der leere Topf); Schiller (Mein Glaube, Buchhändler-Anzeige &c.); Blumauer (Der Geizhals); Kleist (An die geschminkte Vetulla); Voß (Mein Barbier); Kuh (Der Mann von Geblüt); Müchler (Frau Garulla); Kerner (Auf einen Epigrammatisten); Platen; Friedrich Haug (Weiberzungen, Pilgers Grabschrift); Rückert; und besonders Oskar Blumenthal, der unter dem Titel „Aus heiterm Himmel“ 1880 seine gesammelten Epigramme erscheinen ließ, in denen Theater und Litteratur eine Hauptrolle spielen und mancher Schriftsteller arg mitgenommen wird. Von den Franzosen dichteten besonders Scarron, Rousseau und Marot treffliche Epigramme. Von den Engländern sind zu erwähnen: Pope und Swift. Das englische Epigramm wurde bei uns durch Weckherlin († 1651) eingeführt. § 92. Die Priamel oder der Schnepper. Die ursprüngliche Form des deutschen Epigramms ist die seit dem 14. Jahrhundert beliebt gewesene Priamel (von praeambulum == Vordersatz, Vorspiel, Vorlauf). Sie besteht aus einer Reihe kurzer, gar nicht zusammengehörig erscheinender Vordersätze, von denen man erst gar nicht einsieht, was sie wollen, deren Aufzählung präambuliert, bis sie endlich durch einen abstrakten Allgemeinbegriff (oder Urteil) verbunden werden, durch einen sie alle umfassenden, meist eine unerwartete Gedankenwendung nehmenden kurzen „abschneppenden“ Nachsatz. Der Nachsatz in den Priameln, deren Verfasser häufig unbekannt blieben, enthielt meist eine aus den Vordersätzen abgeleitete Lehre oder ein Urteil über die in den Vordersätzen aufgestellten Behauptungen, weshalb die Priamel gewissermaßen den Übergang von der Gnome (Spruch) zum Epigramm bildete. Jn einer Gerichtsordnung aus dem Jahre 1482 heißt es: „Des ersten macht ein Harfner ein Priamel oder Vorlauf, daz er die luit (Leute) im uff zu merken bewog.“ Die Priamel war in der That sehr geeignet, zum Aufmerken anzuregen und zwar wegen des hinausgeschobenen, aufgesparten, auf die ganze Reihe von Vordersätzen passenden, oft überraschenden Schlußsatzes. Schnepper nannte man die Priameln insofern, als die Reihe der Vordersätze durch den präzisen Schlußsatz in ihrem Fluß gehemmt oder „abgeschneppt“ wurde. Die häufig satirisch abschließende Priamel ist eine Art Epigramm oder Rätsel, bei welchem der Leser die Klausel nicht erst zu suchen braucht, da sie im Schlußsatz gegeben ist. Eine originelle Priamelform findet sich in der als Manuscript gedruckten Gedichtsammlung des Herzogs Ernst II . z. S., S. 53, bei welcher auf eine Reihe von Negationen eine die Rätsel lösende abschließende Doppelverszeile folgt. Als Wiederbelebung der bereits in Vergessenheit geratenen Priamel dürfte diese Form bedeutungsvoll genug erscheinen, um mitgeteilt zu werden. Beispiele der Priamel. a . Wer einen Raben will baden weiß Und darauf legt seinen ganzen Fleiß, Und an der Sonne Schnee will dörren, Und allen Wind in einen Kasten sperren, Und Unglück will tragen feil, Und Narren binden an ein Seil, Und einen Kahlen will beschern, Der thut auch unnütz Arbeit gern. b . Ain junge Maid ohn Lieb, und ain großer Jarmarkt ohn Dieb, und ain alter Jud' ohn gut, und ain junger Mann ohn mut, und ain alte Scheur ohn meuß, und ain alter Pelz ohn leuß, und ain alter Bock ohn bart: Das ist alles widernatürlich art. c . Wer weiß, woraus das Brünnlein quillt, daraus wir trinken werden? Wer weiß, wo noch das Schäflein geht, das für uns Wolle träget? Wer weiß, woraus das Körnlein wächst, das uns zur Nahrung dienet? Wer weiß, wer uns den Tisch noch deckt, der uns den Körper weidet? Wer weiß, wer uns den Weg noch zeigt, darauf wir wandern müssen? Wer weiß, wo wohl das Bettlein steht, darein mich Gott einleget? Wer weiß, wannehr der Tod wohl kommt, der uns zum Richter führet? Ach treuer Vater, das weißt du, dir ist ja nichts verborgen. (Friedr. Spee.) Des Mannes Thräne. d . Die Perle nicht, Die hell Fortuna's Haupt berührt; Der Demant nicht, Der rein der Schönen Locke ziert; Die Sonne nicht, Die goldnen Glanzes aufgezogen, Und auch kein Stern Am nächtlich heitern Himmelsbogen So schön erscheint Als jene Thräne, die der Mann geweint. (Herzog Ernst II . z. S.) § 93. Xenien. Xenien sind Epigramme, die am Ende eine scharfe, satirische, überraschende, ja unerwartete Wendung nehmen. Sie sind ihrer Pointe wegen gedichtet und heißen mit Rücksicht auf dieselben auch „spitzige Epigramme“. Dem Wortsinn nach bedeuten Xenien (vom griechischen ξένιον ) Gastgeschenke oder Andenken. Der römische Epigrammatiker Martial nannte das 13. Buch seiner Sinngedichte Xenien, und von ihm nahmen Schiller und Goethe den Namen für ihre spitzigen Epigramme, die in ihrem Musenalmanach (Tübingen 1797) erschienen, welche zunächst die Dichter Claudius und Stolberg scharf angriffen, dann überhaupt das Philistertum, die Modethorheiten in der Litteratur, sowie die Mittelmäßigkeit der Kunstleistungen mit Witz und Spott überschütteten. Eine ausführliche Schrift über „Die Schiller-Goetheschen Xenien“ ist von Saupe (Leipzig 1852) erschienen; vgl. auch Boas, Schiller und Goethe im Xenienkampf. 2 Bde. Stuttg. 1851. Xenien aus der Neuzeit, die denen von Schiller und Goethe in bezug auf treffende und stimmungsvolle Satire an die Seite gestellt werden können, sind die von K. J. Schröer zum Berliner Kongreß (Neue illustr. Zeitg. Wien u. Leipz. 7. Juli 1878 S. 646). Beispiele der Xenien. Jm Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter. (Goethe. Zahme Xenien.) Es mag sich Feindliches ereignen, Du bleibe ruhig, bleibe stumm; Und wenn sie dir die Bewegung leugnen, Geh' ihnen vor der Nas' herum. (Goethe. Zahme Xenien.) Klein-Griechenland, von Karl Julius Schröer. Weiß nicht, was ihr Völker wollet, Griechenland sei gar zu klein, Darum läßt man's zur Beratung des Kongresses nicht herein; Nichts bedeutend sei Klein-Hellas, wendet überall man ein: Ei, ihr lieben Völker alle, ei so laßt es ─ größer sein! ─ Was den Türken zu raten? von K. J. Schröer. Türken, die als wilde Horden eingebrochen in Byzanz, Unter Greuel, unter Morden ihm geraubt den letzten Glanz; Euch hat rechtlos überfallen and'rer Horden wilde Schar, Und ihr fragt: was wollt ihr Völker, fragt: was will der Russen Zar? Hört, was von euch die Geschichte sagt, die Menschheit klagt, das hört: Anders lachten Stambuls Fluren einst, bevor ihr sie zerstört: Laßt sie wieder neu erblühen, reicht wie Brüdern uns die Hand, Reicht den Franken sie, den Deutschen, laßt gedeihen Volk und Land! Könnt ihr das nicht, legt die Herrschaft dann getrost in bess're Hand, Was nicht leben kann, muß sterben; leben kann noch Griechenland! § 94. Gnome. Gnome (Denkspruch, von γνώμη , sententia , Urteil, Spruch), das kürzeste didaktische Gedicht, ist ein kurz ausgesprochener Gedanke, ein Weisheitsspruch, ein Sinnspruch, eine Klugheitsregel, ein Stammbuchvers, eine nichts satirisches enthaltende Sentenz. Ein einfacher Denkspruch ist ebenso wenig ein Epigramm, als eine Anekdote eine Novelle ist. Während sich das Epigramm wie eine Aufschrift zu einem Gegenstand ausnimmt und nicht direkt zu belehren braucht, will die Gnome, die des epischen Vordersatzes des Epigramms entbehrt, direkt belehren. Das Epigramm drückt Jdeen aus, die Gnome Wahrheiten. Das Epigramm ist immer in streng poetischer Form, der Spruch häufig im Volkston. Gnomen, welche in kalter Abstraktion abgefaßt sind, an deren Entstehen die produzierende Einbildungskraft keinen Teil hat, fallen aus dem Bereich der Poesie heraus. Die metrische Form, die nur das Einprägen in's Gedächtnis erleichtert, erhebt sie nicht in's Bereich der Poesie. Rückert hat sich zu seinen Gnomen häufig der Vierzeile bedient. Bei solch zwanglosen Reimversen kann die Gnome auch Reimspruch genannt werden. Die poetischen Sprichwörter mit Reim (oder auch mit Allitteration) gehören zur Gnome, wenn sie sich auch zur eigentlichen poetischen Gnome wie Naturpoesie zur Kunstpoesie verhalten. Die Vereinigung mehrerer demselben Anschauungskreise zugehöriger Sinnsprüche zu einem Ganzen nach Art des Freidank oder der Rückertschen Gnomen in Angereihte Perlen oder vieler Gedichte in der Weisheit des Brahmanen bildet das Spruchgedicht (Gnomologie). Beispiele der Gnome. a . Spruch. Der Mensch ist eine Frucht aus seiner eignen Saat. (Tiedge.) b . Poetische Gnomen. Willst du dich selber erkennen, so sieh', wie die andern es treiben; Willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz! (Schiller.) Nur halb ist der Verlust des schönsten Glücks, Wenn wir auf den Besitz nicht sicher zählten. (Goethe.) Wo mehr Füchs' als Trauben sind, Ernte, was du kannst, geschwind. (Rückert.) Männer von Geist nur steigen mit Würd' auch Stufen herunter; Kleinliche Menschen der Welt kriechen verächtlich hinauf. (K. G. v. Brinckmann.) c . Beispiel eines Spruchgedichts (Gnomologie ). Die Jugend, wenn du alterst, zu beneiden, Verjüngt dich nicht und mehrt des Alters Leiden. Wer jung noch scheinen will in weißem Haare, Verdächtigt seine eignen Jugendjahre. Wer alt noch täuschen will durch Jugendweise, War niemals jung und ist nicht reif zum Greise. Ehrwürdig ist der Greis, von dem man sagt: Er ist ein Mann, auch noch so hoch betagt. (Julius Hammer.) Litteratur der Gnome. Die ersten griechischen Gnomen ─ wie überhaupt die erste didaktische Poesie ─ findet man in Hesiods „Tage und Werke“; die gnomische Dichtung beginnt mit der Zeit der sieben Weisen Griechenlands. Gnomen finden wir auch von Solon, von Theognis &c. (Die goldenen „Sprüche des Pythagoras“ sind wahrscheinlich nicht von ihm.) Seit Hesiod blieb bei den Griechen der Hexameter die metrische Form der Gnomen. Andere wählten die zweizeilige aus Hexameter und Pentameter gebildete Strophe, wieder andere den Trimeter. (Bd. I . S. 321.) Die Gnomen Salomons und des Jesus Sirach bei den Hebräern beschränken sich auf den einfachsten Parallelismus der Worte und Satzglieder. Arabische Sprüche gab 1879 Socin (Tübingen) heraus, osmanische die k. k. orientalische Akademie zu Wien (1877. Constantinopel). Die griechischen gab Gaisford (Oxf. 1830) heraus. Lateinische sammelte Wüstemann (1864. Nordhausen) u. a. Auch neuere Völker besitzen einen reichen Schatz von Sprüchen. Ende des 14. Jahrhunderts war besonders die böhmische Litteratur an gnomischen Dichtungen reich. Emil von Pardubitz († 1403) hat zur Zeit des Königs Wenzel I . eine Sammlung der ältesten böhmischen Sprüche und Epigramme veranstaltet, die von Joh. Wenzig in's Deutsche übersetzt wurden. Von einem unserer Vorfahren hat die sämundische Edda treffliche Gnomen aufbewahrt. Jn Deutschland gab es Spruchdichter schon im 12. Jahrhundert, z. B. Spervogel. Manche Sprüche derselben leben heute noch als Sprichwörter im Munde des Volkes fort. Reinmar von Zweter, einer der ersten Gnomendichter in Deutschland, dichtete statt Lieder nur Sprüche, ─ das Wort im alten Sinn gebraucht, in welchem der Spruch eine Strophe, wenn auch oft von größerem Umfang umfaßt. Reinmar von Zweter lehrt selbst da, wo er die Liebe behandelt. (Bei ihm begegnen wir zum erstenmal der gnomischen Poesie der Griechen, die er auf deutschen Boden verpflanzte.) Die bedeutendste Spruchsammlung ist die zum Teil auf einem Kreuzzug etwa um 1229 verfaßte, welche nach W. Grimm und Wackernagel von Walther von der Vogelweide, dem Frydank (== Freidenkenden), nach andern vom Fahrenden Bernh. Freidank herrühren soll, und unter dem Namen Bescheidenheit (d. i. Bescheid wissen == Verständigkeit) des Freidank auf uns gekommen ist. Es kommen darin reine Sprüche, reine Sprichwörter und Verbindung beider zu sprichwörtlichen Sprüchen vor, welch letztere man als didaktische Epigramme auffassen könnte. Seine nach ihrer Verwandtschaft zu mehreren Hauptabschnitten verbundenen Gnomen bilden einen Weltspiegel, in welchem alle Stände vom Kaiser und Papst bis zum niedrigsten Manne, sowie öffentliche und private Verhältnisse, ferner Glaube, Tugend, Laster u. s. w. in größter Abwechslung behandelt sind. Nennenswert sind von älteren Spruchdichtern die Bd. I . S. 47, 48 und 52 erwähnten. Besonders aber Zincgref, der 1624 wie schon Agrikola (1528) und Sebast. Franck (Spruchweisheit, 1541) eine Sammlung der deutschen Sprichwörter (Apophthegmata) veranstaltete. Ferner Angelus Silesius (Joh. Scheffler Bd. I . S. 52), der zu vielen Spruchgedichten der Weisheit des Brahmanen Fr. Rückerts den Stoff liefern mußte. (Vgl. den Nachweis in „Fr. Rückert, ein biographisches Denkmal“ vom Verf. S. 158.) Außerdem haben uns Gnomen hinterlassen: Gleim, Kästner, Herder, Bürger, Schiller, Lessing, Tiedge, Goethe (Gnomen 1─17), Leopold Schefer, Haug, Rückert (in Weisheit d. Brahmanen, in Lieder und Sprüche u. s. w.) u. a. Jnteressant sind die vielen Sprichwörtersammlungen, von denen wir nur aus der Neuzeit diejenigen von Körte (1837 und 1861), Eiselin (1838), Simrock (1846 und 1863), Wander (deutsches Sprichwörter-Lexikon, Leipzig 1863─78) und Binder (Stuttgart 1874) erwähnen. § 95. Epistel. Poetische Epistel nennt man einen Brief in Gedichtform mit didaktischer Tendenz. Ähnlich unseren Prosabriefen richtet sich die poetische Epistel an eine bestimmte Person und teilt Gefühle und Gedanken in poetischer Form und in lehrhafter Weise mit, so daß sie von der ganzen Menschheit mit Jnteresse gelesen werden kann, und somit nicht nur für den Einzelnen Wert hat. Die Griechen kannten diese Art von Epistel in der klassischen Zeit fast gar nicht, denn die Briefe des Plato, Demosthenes u. a. sind wohl großenteils unecht. Der römische Dichter Horaz, der seine Episteln, wie seine Satiren in Hexametern verfaßte, ist der Begründer der poetischen Epistel insofern, als er zuerst systematisch solche dichtete, wie vor ihm sporadisch Sp. Mummius vor Korinth 146 v. Chr., der Bruder des Siegers L. Mummius. Die Episteln des Horaz zeigen Humor, aber weniger Spott als seine Satiren. Seine Lehre steht immer in subjektiver Beziehung zu seiner Persönlichkeit. Er spricht frei und offen, wie an einen Freund, und einige Briefe sind wirklich durch besonderen Anlaß hervorgerufen. Dieselben stammen sämtlich aus seinen letzten Jahren, wo er ernst gestimmt war und Neigung zum Philosophieren bei ihm vorherrscht. Bei einem Brief nimmt jeder Mensch seine Gedanken mehr zusammen, als bei einer Tischunterhaltung. Daher haben die Episteln einen geregelteren Gang und verschmähen das Nachlässige, das in der Satire herrscht. Die bedeutendste Epistel des Horaz ist die an die Pisonen, die den individuellen Charakter ganz verleugnet und deshalb gewöhnlich aus der Briefsammlung als ein besonderes Gedicht unter dem Titel de arte poetica ausgeschieden wird. Es ist eine die Regeln der Dichtkunst in poetischer nicht eben systematischer, sondern aphoristischer Weise darlegende Poetik in Versen, die für Schulen sehr oft gedruckt und kommentiert wurde. (Vgl. Bd. I S. 3.) Jn der neuesten deutschen Litteratur kommen die Episteln nur höchst vereinzelt vor, während sie nach Günthers, Uz' ─ ihrer Begründer ─ Vorgang Ende des vorigen und anfangs unseres Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Die neueren deutschen Episteldichter wenden meist kein episches Maß an, wie Horaz es that, da wir eben ein allgemein anerkanntes nationales episches Maß nicht mehr haben; aber sie wenden auch keine lyrischen Strophen an, bedienen sich vielmehr meist langer unstrophischer Reihen reimender Zeilen u. s. w. Beispiel der poetischen Epistel. Epistel an Stockmar, von Fr. Rückert. Höre, mein Arzt, womit mir zu helfen ist, hilf mir nur diesmal; Lang schon forschend und lauernd, wie meiner Bitteren wäre (nämlich seiner Geliebten Amaryllis ) Beizukommen mit einem Geschenkelchen, hab' ich zu guter Stunde nun endlich erlauscht, sie werd' am künftigen Festtag Gehn mit andern zugleich zum Markt des benachbarten Städtchens, Einzukaufen daselbst ein Spiegelchen, um des zerbrochnen Stell' an der Wand der Kammer, darin sie schläft, zu ersetzen. Denn obgleich an dem Haus ihr zunächst ein ziemlicher Bach fließt, (die Baunach) Mit recht spiegelnden Wellen, solang's nicht regnet wie heute, Jst sie doch leider nicht ländlich genug, am Spiegel des Wassers Sich genügen zu lassen, und den von Glas zu entbehren. Höre nun, was du errätst! wie ich sogleich mich besonnen, Jhr zu verderben die Freude des Markts, und selbst ihr den Spiegel Einzumarkten durch dich. Was lächelst du? Seltsames Handwerk Lehrt oft Amor uns treiben; was aber könnt' er uns lehren Passenderes, als Spiegel, zerbrechliche Gläser, zu kaufen? Drum, du darfst dich nicht sträuben, geschwind und kaufe den Spiegel! Denn in euerer Stadt ist alles zusammengestapelt, Was man schönes begehrt (das lebende Schöne verbleib' euch Unbestritten für jetzt!) und auch zum Markte des Städtchens, Wo mein Kind sich zu holen gedenkt ihr kleines Bedürfnis, Kommen die Schnitzel allein, die euere Krämer uns bringen, Dessen, was ihr nicht mögt. Wie könnt' ich es besser denn machen, Als dazu dich zu brauchen (zu wenigem bist du zu brauchen, Sei's zu diesem mir nur!), durch dich dort gleich aus des Schönen Sammelverein zu bezieh'n das Gewählteste, ohne zu warten, Was auf dem Karren des Krämers der Gaul erst bringe des Zufalls. Wähle mit sinniger Hand, und denke, für wen und für welche! Wert sei's meiner Liebe für sie, wert deiner für mich auch. Aber das wär' unendlich, und hier gilt's Grenzen zu setzen. Also, wie breit und wie lang? So lang und so breit als genug ist, Nicht für ein Prunkgemach, ein fürstliches, sondern ein stilles Örtchen, wo er soll hangen, um keinerlei Ort zu beneiden. Also nur eben so lang, daß, wenn das Mädchen hineinschaut, Unter dem zierlichen Köpfchen der Hals auch noch und des Busens Oberste Ränder sich zeigen, die schwellenden, ohne daß drüber Über den Spiegel hinaus entrücket werde das Häubchen, Und desgleichen so breit nur wenigstens, daß ich zu höchster Not, wenn ich enge genug an die Schläf' ihr mich schmieg', in dem Glase Jhrem Gesicht zur Seite mein eigenes kann mit den dunkeln Locken sehn, wie die Wolke die schattende neben der Sonne. Suche nur recht was tüchtiges aus, und laß dich vom blöden Aug' einmal nicht berücken, du kannst ein andermal blind sein; Daß dir nicht etwa ein Flecken entgeh', und sei es ein kleiner, Der, nicht zufrieden im Glase zu stehn, auch auf das Gesicht sich Prägen will ihr, an der ich im Bild auch Flecken nicht dulde; Oder daß gar er mir sei von den tückischen einer, der Spiegel, Welche die gradesten Züge zu widriger Schiefe verzerren. Auch ein solcher nicht sei's, der, lebende Farben beneidend, Dämpft die Röte der Wangen zu totenähnlichem Bleigrau. Lieber auf feuchtem Grund, um die Wahl ein wenig zu dunkel, Mag er mein bräunliches Mädchen noch etwas bräuner mir malen. Wie nun von außen der Kern zu verzieren sei, oben und unten, Und an den Seiten umher, das steht, um deinen Geschmack auch Zeigen zu können, bei dir; nur wähle mir nichts zu modestes, Oder zu einfachedles, eh'r helle gefällige Farben. Götter der Lieb' auf dem Rahmen sind überflüssig; die Liebe, Die mir hinein soll schaun, sie kennt sie nicht, und sie bedarf's nicht. Eins nur bitt' ich zuletzt, du Lässiger, daß du mir diesmal Deine Gewohnheit änderst, und eilest, damit ich zur rechten Stunde das Liebesgeschenk aus deinen Händen empfange. Wenn ich den Boten dir send', und du sendest ihn leer mir zurücke, Und verderbst mir die Lust, die ich so schön mir geordnet! Denn schon hab' ich mich heimlich einmal zur Kammer geschlichen, Und in der Wand den Nagel befestiget, wo die Bescherung Hangen soll; am Vorabend des Markttags aber noch einmal Schleich' ich des Wegs, und bringe den heimlichen Markt in die Kammer. Ordnend alles geschickt und geschwind. Ei, daß du mir schöne Bänder nur auch nicht vergessest, daran der Spiegel soll hangen! Wenn sie dann kommt zur Ruhe zu gehn, und weiter nicht acht hat ─ Daß sie zum Schlafengehn mit keinem anderen Licht sich Leuchtet, als ihren Augen, ist eben zu meinem Betrug recht ─ Wenn sie dann morgens erwacht, und gleich mit dem ersten der Blicke Trifft auf das neue Gerät, ich wette, sie wähnet, sie träume. Wenn sie dann aber die Augen sich reibt, daß der Spiegel verschwinde, Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre. Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun. Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute! Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist? Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen, Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen. Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken! Litteratur der poetischen Epistel. Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: Francesco Algarotti; von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Racine, Rousseau, Voltaire u. a. Von den Deutschen haben zuerst Günther und Uz Episteln gedichtet. Dann Gleim (An Jakobi); Jakobi (Antwort); Göckingk (An meinen Bedienten, An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); Wieland, Manso, Ernst Schulze (An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte); Pfeffel (An Zoe &c.); Gotter (Der Trost); Tiedge (An Schmidt); Thümmel, Goethe, Platen, Rückert u. a. § 96. Heroide. 1. Heroiden (lat. heroides von ἡρωίς == Heldin) sind lyrischdidaktische, in erhabenem oder elegischem Ton gehaltene Episteln, in welchen der Dichter nicht in seinem Namen spricht, vielmehr eine historische, mythische oder fingierte Person reden läßt. Ovid dichtete die ersten Heroiden und ist somit ihr Begründer. 2. Die deutschen Heroiden weichen von den Ovidschen ab. 1. Ovids Heroiden sind Briefe, welche von berühmten Liebhaberinnen an ihre entfernteren Geliebten gerichtet wurden (z. B. De ï anira an Herkules. Vgl. auch die vorbildliche Heroide bei Properz [49─15 v. Chr.] V . 3, welche eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen eine Art Elegie. 2. Seit Chr. Hoffmann v. Hoffmannswaldau (Bd. I 51) hat man die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den Namen falsch auf, indem man unter Heroides nicht Heldinnen, Heroinen, d. h. episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, Herois verhalte sich zu Heros wie Aeneis zu Aeneas und sei also ein Gedicht, das von Helden handle. Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine Gedanken in den Mund, die sie von jenseits des Grabes ihren Freunden mitteilte. Doch ließ man die Heroide auch von einer noch lebend gedachten, berühmten Person (auch wohl von fingierten Personen) ausgehen. Ende des vor. Jahrhunderts erreichte die 1716 von Pope geschriebene Heroide Heloise an Abälard, welche Bürger und Tiedge deutsch übersetzten, bei uns verdiente Berühmtheit. Beispiele der Heroide. α . Choröbus der Kassandra, von Platen. Nicht von Munde zu Mund und nicht von Auge zu Auge Darf die Liebe den Drang ihrer Gefühle gesteh'n: Strenge verschließest du dich in heilige, keusche Gemächer, Giebst zerstörendem Schmerz, sinnender Trauer dich hin, Wechselst allein mit dem pythischen Gotte verlorene Worte, Der undankbar dafür Jammer und Sorge verheißt. Zürne, Kassandra, mir nicht, und nicht dem verwegenen Griffel, Der mir Blicke des Augs, Töne der Lippen ersetzt. Siehe, mein Land verließ ich, die blühenden Freunde, den Vater, Der, von Jahren gebeugt, kindlicher Stütze bedarf. Dich zu gewinnen mir, zog ich hierher: mit bebenden Händen Gab mir den Segen der Greis, als ich die Schwelle verließ: Lange, so sprach er, und könnt' ich der mahnenden Worte vergessen? Lange berühmt und geliebt blüht mein erhaben Geschlecht. Viele bewohnten bereits, die nun du verlässest, die Wohnung, Selbst Unsterbliche schon lebten und gasteten hier. Also erschien auch einst mit Hermes Phöbus Apollon, Und prophetischen Geists sagte der Deliergott: Ewig besteh' dies Haus, wenn nie ein Gebieter des Hauses Jm unrechtlichen Krieg waffnet die zürnende Brust. Nie begegnete dies, noch soll dies jemals begegnen, Und so hofft' ich zu sehn Enkel auf Enkel dereinst. Aber ziehe nun hin zu Phrygiens Königin, Troja, Eine von Priams Stamm wähle zur Gattin dir aus. Denn ihn haben die Götter begabt mit Knaben und Jungfraun, Während sie dich mir geschenkt, einziger Sprosse des Stamms. Also sagte der Greis, und legte die bräutlichen Gaben Selbst im Wagen zurecht, der mich nach Troja geführt. Damals wohnte noch Helena nicht im Phrygerpalaste, Duftiger Rauch umschlang friedlich noch jeden Altar. Und ich sah dich im Priestergewande, du schmücktest das Opfer Blumiger Äste Gewind zierte das wallende Haar: Kypria schienst du zu sein, mit großen schmachtenden Augen, Aber der Thräne Gewicht hing an der Wimper bereits: Flieh, Unseliger flieh! So riefst du, wehe dem Epheu, Der mit Liebe sich schlingt um den entwurzelten Baum! Doch ich blieb; da kam mit dem Raube der Held Alexandros, Aber die Fremdlingin wich dir an Reiz und Gestalt. Bald erfüllten das Meer die schwärzlichen Schiffe von Hellas, Und vor den Thoren der Stadt rief es zum wilden Gefecht. Doch umsonst nur sandte der Vater mir Boten um Boten, Ach, wo Liebe gebeut, fruchtet ein ander Gebot? Was betrauerst du wohl? Was fürchtet die schöne Kassandra? Glaube mir, Jlion fällt nie durch Pelasgergewalt; Denn es verzehren die Feinde sich selbst in verderblicher Zwietracht, Mit dem atreischen Paar hadert noch grimmig Achill. Ewiger Klage geweiht durchlebst du den Tag im Palaste, Aber was fesselt dich dort ewiger Klage geweiht? Deine Geschwister vielleicht? sie fliehen dich, schöne Prophetin! Oder des Phöbus Altar, den du mit Schauder bedienst? Oder die Stadt, die, wie du verkündiget, bald in den Staub sinkt? Oder die heimische Flur, nun in der Feinde Gewalt? Ziehe, Kassandra, mit mir zu den freundlichen Wohnungen Mygdons, Und mit bräutlichem Schmuck tausche das Priestergewand. Statt der verhaßten Befehle des Gott's und der Totenorakel, Labe mit traulichem Ton Kindergelispel dein Ohr. Das bedenke du wohl, und verjage den wolkigen Wahnsinn, Der dir des heiteren Geists lieblichen Äther umhüllt. Sieh mich an und dich selbst, sieh unsere glänzende Jugend, So vergessen wir leicht künftiger Tage Geschick; Aber wir ahnen es kaum, es bewahren die Götter ihr Vorrecht, Gönnen dem Sterblichen nicht ihren unsterblichen Teil. β . Aus: Clemens an seinen Sohn Theodorus, von Schiebeler. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Als dich, ein weinend Kind, des Segensboten Hand Von Sünden rein gemacht, mit deinem Gott verband, Hub dich mein Arm empor. Jch sprach mit tausend Zähren: „Laß ihn, Allgütiger! laß ihn dich treu verehren, Den Sohn, den du mir gabst! Herr, meine ganze Brust Erfüllet dein Geschenk mit nie empfundner Lust. Doch sollt' er je die Würd', ein Christ zu sein, verkennen, Und nicht für deinen Ruhm sein Blut zu opfern brennen, O, so entreiß' ihn jetzt, Herr, jetzt entreiß' ihn mir, Und preisen will ich dich, und danken will ich dir.“ Du blühtest auf, es war, des zarten Geistes Kräfte Zu bilden, meine Lust, mein süßestes Geschäfte. Jch lehrte dich dein Heil und sah vergnügungsvoll Der Wahrheit Frucht an dir, die täglich dir erscholl. Wie oftmals hört' ich dich der Väter Mut in Leiden, Jm tausendfachen Tod, bewundern und beneiden! Und nun erzitterst du, da dir ein Engel schon Die Palm' entgegenhält, der Überwinder Lohn? Glühst du nur fern von Streit, von edlen Heldentrieben? Und ist dies Leben wert, daß wir so sehr es lieben? Von deinen Feinden lern', Kleinmüt'ger, deine Pflicht. Was litt nicht Regulus! Wie froh starb Cato nicht, Dem Vaterland zum Wohl, sich Nachruhm zu erwerben! Dir winkt ein schönrer Ruhm, und du, du bebst zu sterben? Für den, der dir zum Heil der Himmel Thron verließ Der Erde Bürger ward, die er entstehen hieß; Verspottet und verfolgt vom Frevler, der ihn haßte, Jn Martern ohne Zahl für dich am Kreuz erblaßte. Jch weiß es nur zu wohl, was deinem schwachen Geist Den Tod so furchtbar macht, zum Staub ihn niederreißt; Jrene sah mit dir die längst gewünschte Stunde, Die frohe Stunde nahn, bestimmt zu eurem Bunde, Da stürzte der Tyrann, der unsrer Qualen lacht, Dich, deine Braut und mich in tiefe Kerkernacht. Die süßen Hoffnungen, die eure Brust erfreuten, Bedeckt ein Augenblick mit großen Dunkelheiten, Und statt des heil'gen Bands, das euch nun bald umgab, So will es unser Gott, vereinigt euch das Grab. Verehre sein Geheiß und dank' ihm mit Entzücken, Daß er dein Blut begehrt, da deinen frohen Blicken Am liebenswürdigsten des Lebens Aussicht schien. Der Opfer größestes, ist es zu groß für ihn? Schnell, wie ein Hauch, verfliegt das größte Glück hienieden. Wir wünschen uns ein Gut, empfahn es und ermüden Jn dem Besitz von ihm. Der Durst, der uns erfüllt, Der heiße Durst nach Ruh' wird nur in Gott gestillt. u. s. w. Litteratur der Heroide. Heroiden schrieb von den Römern Ovid, Properz; von den Jtalienern: Bruni und Crasso; von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Dorat; von den Deutschen Schiebeler, Eschenburg, A. W. Schlegel (Neoptolemus an Diokles); Hofmannswaldau (Eginhard an Emma); Kosegarten (Agathon an Thelxione); Kuffner (Thusnelda an Arminius); Therese v. Artner (Sappho an Phaon); W. Smets (Ernst, Graf Gleichen an sein deutsches Eheweib); Platen (Choröbus der Kassandra); Tiedge; Bürger; Kind (Einsiedler an der Twerza); Wieland (Briefe Verstorbener an ihre noch lebenden Freunde); Dusch; Trautzschen; Ernst Eckstein (Mutter und Kind. Jn Ecksteins Sammlung: „Jn Moll und Dur.“) u. a. Heroiden der Deutschen hat Raßmann (1824) herausgegeben. § 97. Kurze lyrisch-didaktische Formen. Wie schon manche Episteln recht gut als Heroiden, oder Elegien, oder Satiren, oder poetische Erzählungen aufgefaßt werden können, wie ferner manche Satiren in Form von Briefen oder Fabeln &c. auftreten, so findet man eine Anzahl kleinerer Dichtungen, welche sich in keine der früher vorgeführten lyrischen Arten einordnen lassen. Entweder ist ihr Jnhalt nicht vom Gefühl diktiert, oder es fehlen ihnen die Anforderungen an das religiöse, elegische, gesellige, epigrammatische Gedicht, oder endlich es geht ihnen eine, den bisher vorgeführten Gattungen eigentümliche, charakteristische Form ab. Es steht eben dem Dichter frei, sich von der Schablone je nach Bedürfnis zu trennen, und die einzelnen Gattungen je nach Belieben und Bedürfnis zu vermengen oder durch neue zu vermehren. Wir verweisen die unbestimmten lyrischen Formen mit didaktischer Tendenz in die besondere Rubrik der kurzen lyrisch=didaktischen Formen. Diese kurzen lyrisch=didaktischen Formen zählen selbstredend zur didaktischen Gelegenheitspoesie, die ähnlich der Pindarschen Gelegenheitspoesie oder den in didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirvent ê sen (== Dienstgedichten) der Proven ç alen, dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt. Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur eine Strophe, zuweilen von größerer Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt. Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen. Reaktion, von Fr. Rückert. Vor zwanzig Jahren Dachten wir hoch zu fahren, Auf eigner Bahn, Jn Saus und Braus, All vornen hinan, All oben hinaus. Jetzt sind die Schwingen gebrochen, Wir sind zum Kreuze gekrochen, Bitten demütig, Flehmütig, wehmütig: Laßt uns im Haufen Nur auch mitlaufen! Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern, besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B. S. 87. 101. 102 &c.) Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime ( Bouts-rimés ). Vgl. Rückerts: Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois Schreibers: Das neue Jahrhundert u. s. w. § 98. Wirkliches Lehrgedicht. 1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie. 2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation. 1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur Parodie ist. 2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind: a . Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition kaum die Form gemein hat, indem sie Begriffe zur Erklärung häuft, während jene nur die Kennzeichen des Begriffs einzeln vorführt. Beispiel: Vater ist, der alle Kinder, Keines mehr und keines minder, Liebt und jedes mehr als sich; Solche Lieb ist väterlich. Vater ist, der einen Bissen Misset eh'r, als lässet missen, Der den Kindern teilt sein Brot Und für sich behält die Not. Vater ist, der seine Rute Jhnen führt, nicht sich zu Gute, Und den Streich sich selber giebt, Den er dem giebt, was er liebt. Vater ist, der alle kennet, Mit dem Namen alle nennet, Und in seinem kleinen Reich Alle hält in Liebe gleich. (Rückert.) b . Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt. Beispiel: Viel rühmen dich, Warum? aus Überzeugung? Nein! Man lehrt durch Höflichkeit dich wieder höflich sein. Warum hat dich Krispin so vielfach schon erhoben? Er wird dein Lob, um sich der Welt selbst einzuloben. Der Redner rühmet dich, nicht, weil du's würdig bist, Nein, um uns darzuthun, daß er ein Redner ist. Hier spricht ein Tisch von dir. Wie? schätzen dich die Blöden? O nein, sie wollten jetzt nicht mehr vom Wetter reden. Sarkast lobt heute dich; warum? dächtst du es wohl? Damit sein künft'ger Spott mehr Eindruck machen soll. (Aus Gellerts Reichtum und Ehre.) c . Die poetische Analogie, welche die Ähnlichkeit des Gegenstandes in Beziehung mit anderen setzt. (Vgl. als Probe „Dem Liebesänger“ unter I . der Beispiele.) d . Die poetische Jndividualisation, welche statt eines abstrakten Begriffes die untergeordneten Jndividuen nimmt. (Vgl. als Beispiel die gute Lehre des Bettlers unter II .) Beispiel des wirklichen Lehrgedichts. I . Lyrisch-didaktisch. Dem Liebesänger, von Rückert. Wenn du willst in Menschenherzen Alle Saiten rühren an, Stimme du den Ton der Schmerzen, Nicht den Klang der Freuden an. Mancher ist wohl, der erfahren Hat auf Erden keine Lust, Keiner, der nicht still bewahren Wird ein Weh in seiner Brust. Als weiteres lyrisch=didaktisches Beispiel vgl. „Sei ein Mensch“, von Leop. Schefer. II . Episch-didaktisch. Die gute Lehre des Bettlers, von Fr. Rückert. Ein frommer Bettler stand an Krämerladenwand, Hätt' einer Gabe not, doch streckte nicht die Hand. Der geiz'ge Krämer denkt, sein Schweigen sei ein Heischen; Jn seinem Kram gestört, begann er aufzukreischen. Er hatt' in manchem Sack zu wühlen und zu kramen, Und sprach zum Bettler barsch: Geh' hin in Gottes Namen! Der Bettler sprach: Jch geh' in Gottes Namen leicht, Da mir zum Hindernis kein schwerer Pack gereicht. Du aber, der du hast so manchen Sack zu zu tragen, Wie gehst du, wenn man wird des Aufbruchs Trommel schlagen? Von diesem Worte ward des Krämers Herz getroffen, Dem Bettler ging er nach, und ließ den Laden offen. Er nahm den Bettelstab und wanderte durch's Leben. So gute Lehren kann ein Bettler Krämern geben. Wohl jenem Weisen gleich, der, als vor Feindesdrohn Die Bürger, um Verlust der Habe klagend, flohn, Jm schwerbepackten Zug ging leicht an seinem Stabe, Und sagte, daß er all das Seine bei sich habe. III . Dramatisch-didaktisch. Gegenstück zu Uhlands „ Gespräch “, von Fr. Rückert. „Jch bin des Alten treuer Knecht, Weil es ein Gutes ist.“ Das Gute bessern, ist ein Recht, Das nur ein Knecht vergißt. „Vom Guten hab' ich sich're Spur, Vom Bessern leider nicht.“ Du schließest deine Augen nur, Sonst zeigt' ich dir das Licht. „Jch schwör' auf keinen einz'len Mann, Denn einer bin auch ich.“ Wo dich das Jch nicht halten kann, Sprich, woran hältst du dich? „Jch halt' es mit dem schlichten Sinn, Der aus dem Volke spricht.“ Schlicht sinn'ges Sprechen ist Gewinn, Verworr'nes Schreien nicht. „Jch lobe mir den stillen Geist, Der mählich wirkt und schafft.“ Doch fordert jedes Werk zumeist Auch Schöpferarmes Kraft. „Was nicht von innen keimt hervor, Jst in der Wurzel schwach.“ Doch einmal muß man sä'n zuvor, Was wurzeln soll hernach. „Du meinst es löblich, doch du hast Für unser Volk kein Herz.“ Für es trag' ich samt and'rer Last Auch dieser Kränkung Schmerz. Weitere Beispiele vgl. Sallets Fragment aus einer Tragödie im antiken Stil (Sallets Ges. Ged. S. 171), sowie die am Schluß des folgenden Paragraphen (99) gegebenen Proben aus Rückerts Weisheit des Brahmanen. Litteratur des wirklichen Lehrgedichts. Das wirkliche Lehrgedicht haben besonders Gellert, Herder, Tiedge, Schefer, Sallet, Rückert &c. gepflegt. Die Weisheit des Brahmanen von Rückert ist eine Sammlung kleiner wirklicher Lehrgedichte, die durch gleiche Empfindung verbunden als großes Lehrgedicht aufgefaßt werden und im nächsten Paragraph (99, ebenso wie Sallets Laienevangelium und Schefers Laienbrevier) noch einmal erwähnt werden müssen. Die einzelnen Gedichte sind als wirkliche Lehrgedichte zu rubrizieren, während die Vereinigung dieser sämtlichen Dichtungen je als großes Lehrgedicht gelten kann. § 99. Großes Lehrgedicht. Giebt ein Dichtwerk nicht nur eine einzelne gute Lehre, sondern eine ganze Anzahl von Gedanken aus einem Gebiet oder auch aus verschiedenen Gebieten, so daß eine große didaktische Dichtung aus kleinen Einheiten sich ausbreitet, wodurch schließlich das Thema erschöpfend behandelt wird, so nennen wir dies ein großes Lehrgedicht . Das große Lehrgedicht macht in seiner Ausdehnung und in seinem Verlauf die allermannigfaltigsten Verhältnisse (z. B. Gott, Sittlichkeit, Freiheit, Tugend, Unsterblichkeit und Glückseligkeit) zum Gegenstande seiner Betrachtung, welche es vom Standpunkte einer höheren Weltanschauung beurteilt. Je mehr dabei der reflektierende Verstand sich mit Phantasie und Gefühl vereinigt, desto vorzüglicher wird das große Lehrgedicht sein. Gefühl und Phantasie werden in ihm übrigens durch die Verstandesthätigkeit in Bewegung gesetzt. (Vgl. S. 18. 2. d. Bds.) Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters), wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit einer hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe. Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten Aßmannschen Weltgeschichte noch Tscharners Regeln von der Wässerung der Äcker, Trillers Pocken-Jnokulation, Schröers Drei Bücher von der Vormünder und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden, so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist. Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei den philosophischen Systemen selbst der Fall ist. Beispiele des großen Lehrgedichts. Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge. Klagen des Zweiflers. Mir auch war ein Leben aufgegangen, Welches reich bekränzte Tage bot; An der Hoffnung jugendlichen Wangen Blühte noch das erste, zarte Rot; Auf der Gegenwart umrauschten Wogen Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut; Hohe Traumgestalten zogen Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut; Leichte Stunden rannen schnell und schneller An dem halberwachten Träumer hin, Und die Gegend lag schon hell und heller, Nur auch wüster, da vor meinem Sinn. Forschend blickt' ich in die weiten Räume; Aber bei dem zweifelhaften Licht Sah ich jetzt nur meine Träume! Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht! O der Helle, die dem guten Schwärmer Nichts zu zeigen hat, als seine Nacht! O des Lichtes, das den Glauben ärmer, Und die Weisheit doch nicht reicher macht! Stolze Weisheit! durftest du mir's rauben, Das erhabne, stille Seelenglück? Nimm, was du mir gabst; nur meinen Glauben, Meine Hoffnung nur gieb mir zurück, Daß mein Haupt auf ihren Schoß sich neige, Und dies Herz, das schwere Seufzer trug, Jhr die Narben von den Wunden zeige, Welche mir das harte Leben schlug! Wie geschreckt von einem grausen Fluche, Der aus einem Himmel mich verstieß, Fahr' ich zitternd auf, und suche Mein verlornes Paradies. Friede war um mich. Durch Blumenstellen Wandelte mein unbefangner Schritt, Wie ein Lenztag, der aus seinem hellen, Sonnenroten Morgenhimmel tritt. Hin, dahin ist diese holde Jugend u. s. w. (Jn ähnlicher Weise und in diesem Metrum breitet sich die Dichtung aus. Der Zweifler klagt die skeptische Philosophie an und fordert von ihr seine Ruhe zurück. Er zweifelt an Gottes Dasein; das irdische Leben erscheint ihm als ein Rätsel. Furchtbar schreckt ihn der Tod. Er betrachtet sich als ein vom despotischen Schicksal hin- und hergeworfenes Wesen. Dennoch fordert eine innere Stimme die Tugend; er soll, was er nicht kann: Hoffnungslos schmachtet er nach Zuversicht, nach Trost. ─ ─ ─ Dies ist der hauptsächliche Jnhalt des 1. Gesangs dieses großen, aus 6 Gesängen bestehenden Lehrgedichtes über die Unsterblichkeit. Der aufmerksame Leser findet, wie die Didaxis bald aus dem Gefühl, bald aus dem Verstand quillt, weshalb ihn das Gedicht bald ergreift, bald kalt läßt, ohne viel mehr zu bewirken, als die ruhelose Stimmung von Punkt zu Punkt weiter zu drängen. Jm 6. Gesang kommt der Dichter zur Ansicht, daß eine zweifache Natur im Menschen waltet; in jener entwickelt er sich als Naturwesen; in dieser reift er durch sittliche Freiheit zur sittlichen Freiheit, von deren Höhe aller Prunk der Zufälligkeiten des Lebens klein und nichtig erscheint &c.) Bruchstück aus dem Laienevangelium, von Fr. von Sallet. O Morgenland! wie ein Erinnern schallend ─ Wie Heimweh zieht's nach deinen Märchenfernen. Hier lag die Menschheit in der Wiege lallend, Und langte spielend nach des Himmels Sternen. ─ Jm Taumel rasend und im Stumpfsinn brütend, Wich dein Geschlecht aus schöner Menschheit Gleise, Doch sann, der Kindheit Tiefsinn still behütend, Jm Schatten deiner Palmen mancher Weise. Was vor uns steht im Taglicht der Erkenntnis, Fühltest du leis durch deine Träume wallen; Was unser Geist erkämpfte dem Verständnis, Jst dir als Spielzeug in den Schoß gefallen. Jn dir auch wachte mächtig auf ein Ahnen Vom Gott, der in der Brust des Menschen wohne, Und deine Weisen folgten froh den Bahnen Des Sterns, zum neugebornen Menschensohne. Sie boten fromm ihm Weihrauch, Gold und Myrrhen Und beugten ihre Knie' dem Lichtgedanken, Bis sie, heimkehrend auf des Weges Jrren, Vergessend in ihr altes Träumen sanken. ─ Doch was dich einst durchzuckt mit Blitzesschnelle, Das wird auf's neue deine Völker wecken, Und Gottbewußtsein, heiter, frei und helle, Durchwandelt siegend deine Länderstrecken. Dann werden deine goldnen Traumesschätze Des Westens Geiste dargebracht als Gabe, Daß Mannesgeist an Blütenhauch sich letze, Und Kindessinn an reifer Frucht sich labe. (Das Laienevangelium ist aus 131 solcher wirklichen Lehrgedichte zusammengesetzt. Ein Prolog leitet es ein. Darauf folgen die Lehrgedichte: Jm Anfang war das Wort. Die Geschlechtsregister. Maria Verkündigung. Simeon. Die Weisen aus dem Morgenland und sodann alle jene Abschnitte aus Jesu Leben, welche uns das Evangelium bietet bis zur Himmelfahrt. Ein Epilog schließt das große Lehrgedicht. Das Ganze erstrebt eine Art Wiedergeburt des Christentums im modernen Sinn.) Litteratur des großen Lehrgedichts. Von den Alten lieferten didaktische Gedichte: Empedokles (über die Natur); Hesiod (Werke und Tage, vgl. S. 21 d. Bds.); Virgil (der bedeutendste Didaktiker: „vom Landbaue“; es besteht aus vier Büchern: 1. Ackerbau, 2. Baumzucht, 3. Viehzucht und 4. Bienenzucht, ist überhaupt das beste, was das Altertum bietet); Ovid ( ars amandi , übersetzt von Pernice und F. Katsch, Leipz. 1881, vgl. § 86 d. Bds.); Lucretius ( de rerum natura ); Horaz. Ferner die Neulateiner: Vida (Seidenzucht); Milio (Gartenbau); die Jtaliener: Vavasone (über die Jagd); Duchi (über Schachspiel); die Franzosen: Louis Racine (über die Religion); Castel (über die Pflanzen); Boileau (die Kunst zu dichten); die Engländer: Buckingham (über Dichtkunst); Pope (über den Menschen); Young (über die Kraft der Religion, sowie die ergreifenden, Tod und Unsterblichkeit behandelnden „Nachtgedanken“ dieses Dichters, übersetzt von Benzel-Sternau). Von Deutschen sind zu nennen: Ringwald (geb. 1531: Christliche Warnung des treuen Eckarts, oder die lautere Wahrheit, die sagt, wie ein weltlicher und geistlicher Krieger sich zu verhalten haben); Opitz (Zlatna oder von der Ruhe des Gemüts, ferner Trost in Widerwärtigkeit des Kriegers); Cronegk (die Einsamkeiten); Schefer (1784─1862, Laienbrevier); Kästner (die Kometen); Lichtwer (das Recht der Vernunft); Schiebeler (Poetik des Herzens); Schreiber (Harmonie); W. Jordan (Demiurgos, hat Ähnlichkeit mit Goethes Faust, bewegt sich in allen Kreisen der menschlichen Gesellschaft und führt den Gedanken aus: Der Mensch soll unbekümmert um den Weltlauf sein eigenes Ziel erstreben); v. Gottschall (die Göttin, hohes Lied vom Weibe); Schlönbach (Weltseele, ist in mancher Beziehung mit Hallers Alpen zu vergleichen. Einzelne Bilder daraus z. B. „Vor dem Sturm“ sind äußerst wirkungsvoll). Endlich sind vorzugsweise die auf S. 21 und 22 d. Bds. genannten großen Lehrgedichte hier zu verzeichnen, sowie zum Schluß das epochebildende, aus 2800 kleineren Lehrgedichten bestehende große Lehrgedicht Rückerts: Weisheit des Brahmanen, welches durch die Einheit des Sinns, der Form und der Empfindung zu einem großen Ganzen verbunden ist, alle Verhältnisse des Menschen nach Alter, Stand, Geschlecht, Staat, Religion, Gesellschaft umfaßt, Resultate von Studien auf philosophischen, psychologischen, sprachlichen, naturwissenschaftlichen und pädagogischen Gebieten darbietet, alle Saiten des Menschenherzens erklingen läßt, zur Tugend mahnt, Mut im Unglück lehrt und selbst den religiösen Fragen über Gott, Unsterblichkeit, Glauben, Offenbarung &c. nicht aus dem Wege geht. Von welchem Gesichtspunkte aus der Dichter selber seine Weisheit des Brahmanen angesehen wissen will, mögen die nachfolgenden Bruchstücke darthun: Jch gebe dir, mein Sohn, das mögest du mir danken, Gedanken selber nicht, nur Keime von Gedanken. Nicht mehr zu denken sind Gedanken, schon gedacht; Von Blüten wird hervor kein Blütenbaum gebracht. Doch ein Gedankenkeim, wohl im Gemüt behalten, Wird sich zu eigener Gedankenblüt' entfalten. (Weish. d. Brahm. II . 31. 1. Ausg. II . 43.) Ein anspruchvolles Buch will im Zusammenhang Gelesen sein, und macht euch schwer den langen Gang. Dies anspruchlose macht die kurzen Gäng' euch leicht; Denn wo ihr stillstehn wollt, habt ihr ein Ziel erreicht. (Ebenda V . 5.) Wie wenig oder viel des Schönen mir gelang, Erscheint mir doch am Ziel naturgemäß mein Gang. Jch sehe, daß ich bin vom Schauen ausgegangen, Um durch's Empfinden hin zum Denken zu gelangen. (Ebd. XX . 61. 1. Ausg. XX . 106.) Wenn ihr vielleicht vermißt in diesem Buch die Einheit, Statt großes Ganzen seht der Einzelheiten Kleinheit; Doch eine Einheit ist, und doppelte, darin: Die Einheit in der Form, die Einheit auch im Sinn. Auf wieviel Stoff nun angewandt die Einheit sei, Das lenkt der Zufall, und ist wirklich einerlei. (Ebd. XX . 64. 1. Ausg. XX . 111.) Viertes Hauptstück. Die epischen Dichtungen. ────── § 100. Einteilung der epischen Poesie. Wir ordnen die Gattungen der Epik nach ihrem Jnhalt an und unterscheiden demnach epische Gedichte, welche ihren Stoff 1. aus dem Leben der Wirklichkeit, dem Erlebnisse nehmen; 2. aus der Sagenwelt schöpfen; 3. dem prosaischen Leben der Wirklichkeit in Prosa nachbilden, also erfinden. Demzufolge erhalten wir die nachstehende für unsere Anordnung maßgebende Einteilung: I . Aus dem Leben der Wirklichkeit. Erlebtes. 1. Poetische Erzählung u. epische Rhapsodie. 2. Jdylle. 3. Beschreibendes Gedicht. II . Aus der Sagenwelt. Überliefertes. 1. Sage. 2. Mythus. 3. Legende. 4. Märchen. 5. Romanze. 6. Ballade. 7. Epos. A . Volksepos. B . Kunstepos. III . Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildet. Erfundenes. Prosaische Gattungen. a . Roman. b . Novelle. Einige Litterarhistoriker beachten keinerlei Einteilungsprinzip und ordnen die obigen Gattungen der Epik willkürlich an. Andere bereichern die epischen Gattungen durch die von uns in den §§ 79─81 dieses Bandes abgehandelten symbolischen Gattungen der Didaxis: Fabel, Parabel und Paramythie. Heinrich Wittstock (im 3. Programm des Gymnasiums zu Bistritz) faßt die Gattungen der Epik unter folgende allgemeine Gesichtspunkte zusammen: A . Rein episch: Epos, Jdylle. B . Lyrisch=episch: Ballade, Romanze, Rhapsodie. C . Poetische Erzählung, Schwank, Legende, Sage, Märchen, Mythe. D . Didaktisch=episch: Fabel, Parabel, Paramythie. Wir würden dieser Einteilung gegenüber vorschlagen die Scheidung a . in Epik der Einbildungskraft (epische Epik), b . Epik des Gefühls (lyrische Epik), c . Epik des Verstandes (didaktische Epik). Doch geben wir unserer oben dargelegten Rubrizierung nach der Stoffquelle (Jnhalt) der epischen Gedichte den Vorzug. I . Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende epische Gattungen. § 101. Poetische Erzählung. 1. Eine poetische Erzählung (metrische Erzählung, erzählendes Gedicht, Erzählung in Reimen oder Versen) ist im Grunde genommen eine jede Erzählung in rhythmischer Form, sofern sie durch Jdealisierung ein höheres Jnteresse zu erwecken vermag. Sie schildert mit dichterischem Schwung eine einzelne Begebenheit, ein einzelnes Vorkommnis aus dem Leben einer oder mehrerer Personen, oder sie veranschaulicht eine ästhetische Jdee in der Form einer Begebenheit. Jhr Jnhalt muß somit dem wirklichen Leben entsprechend sein. Alles Sagenhafte und Wunderbare ist bei ihr ausgeschlossen. 2. Aus diesen Anforderungen ergiebt sich ihr Verhalten zur Romanze und Ballade, zur Novelle, zur Epopöe, zur Parabel und Fabel &c. 1. Durch die rhythmische Form unterscheidet sich die poetische Erzählung äußerlich von der gewöhnlichen Prosa-Erzählung, die ja ebenfalls in's Bereich der Poesie gezogen werden kann, sofern sie die inneren Gemütszustände enthüllt und bei ihrer Darstellung die Phantasie thätig sein läßt. Der Umfang ist unwesentlich. Die metrische Erzählung Jsabella von Kastilien vom Wupperthaler Dichter K. Stelter umfaßt 354 vierzeilige Strophen; Bodenstedts Ada, die Lesghierin, 72 Gesänge in 4= und 5taktigen Trochäen. Eine kurze Erzählung in Prosa (Anekdote) kann durch die rhythmische Form ebenso zur poetischen Erzählung werden, als eine lang fortgesponnene. Betreffs der Form steht dem Dichter jedes Versmaß und jeder Reim frei. Trochäen, Jamben, der Nibelungenvers, Alexandriner, Oktaven &c. sind mit Erfolg angewandt worden. Für die Entstehung der poetischen Erzählung ist zu betonen, daß man im Streben nach höherer Kunstentfaltung, übersättigt von der Fabeldichtung, epische Stoffe zu bearbeiten begann, wobei anfänglich allerdings wie in der Fabel die didaktische Tendenz überwog, so daß die poetische Erzählung sich von der Fabel ursprünglich nur dadurch unterschied, daß statt der Tiere Menschen ihre handelnden Gestalten waren. Dies ist noch bei vielen, satirisch gehaltenen sogenannten poetischen Erzählungen von Gellert, Lichtwer, Gleim &c. der Fall, die deshalb in's Gebiet der didaktischen Poesie gehören. Nach und nach erst trat die epische Gestaltung in den Vordergrund, und allmählich bildete sich auch eine poetische Erzählung aus, die man Schwank nannte, wenn sie komisch oder humoristisch gehalten war. 2. Von der Parabel unterscheidet sich die poetische Erzählung dadurch, daß sie nicht belehren will; von der Ballade und Romanze dadurch, daß sie nicht direkt auf das Gemüt zu wirken sucht, und daß ihr die lyrische, subjektiv erregte Färbung fehlt; von der Novelle und Novellette durch ihre metrische Form; von der Epopöe durch kleineren Umfang, durch ihren dem wirklichen Leben oder der Phantasie (nicht der Sage) entlehnten Stoff. Man kann die poetischen Erzählungen einteilen: 1. in humoristische poetische Erzählungen; 2. in ernste poetische Erzählungen. Beispiele der poetischen Erzählung. 1. Humoristische poetische Erzählung. Der Milchtopf, von Michaelis. Wohl aufgeschürzt, mit starken, weiten Schritten, Den Milchtopf auf dem Kopf, ging Marthe nach der Stadt, Um ihre Sahne feilzubieten. Weil doch nun beim Verkauf ein jeder Sorgen hat, So überdachte sie, was, wenn's das Glück ihr gönnte, Sie wohl damit gewinnen könnte. Sechs Groschen, dachte sie, giebt mir doch jedermann ─ Denn in der Stadt ist alles teuer. ─ Die streich' ich also ein, und lege mir sie an, Und kaufe mir, so weit sie reichen, Eier, Die bring' ich wieder in die Stadt. Das Glück hat oft sein Spiel! für das, was ich gewänne, Kauft' ich mir lauter Hühner ein. Dann legt mir eine jede Henne; Jch zieh' auch dreimal Brut. Wie wird sich Marthe freun, Wenn so viel Hühner um sie flattern! Die soll gewiß kein Fuchs ergattern! ─ Dann, sind sie groß genug, so kauf' ich mir ein Schwein. Aus Kälbern, sagt man, werden Kühe. Das Ferklein wird ja groß; ich spar' auch keine Mühe, Die Kleie hab' ich schon dazu. Wenn ich das Schwein verkauft, kauf' ich mir eine Kuh: Die wirft ein Kalb, ein Ding voll Mut, voll Feuer! He! wie es springt! hopf, Anne Marthe, hopf! Hier springt sie. ─ Gute Nacht, Kalb, Kuh, Schwein, Hühner, Eier! Da lag der Topf. (Dieselbe poetische Erzählung findet sich unter der Überschrift: Die Milchfrau in anderer Form mit einer Lehre am Schluß bei Gleim, wodurch diese Form didaktisch wird und den Beweis liefert, daß die poetische Erzählung an der Grenze der didaktischen und epischen Poesie steht. Beide Erzählungen, welche übrigens aus der Hitopadesa stammen, sind offenbar Nachahmungen der Fabel von Lafontaine „ La laitière et le pot au lait.“ Livre VII fable 10.) 2. Ernste poetische Erzählung. Als allbekannte Beispiele nenne ich: 1. Schwäbische Kunde, von Uhland. 2. Johannes Kant, von Gust. Schwab. Litteratur der poetischen Erzählung. Von den frühesten poetischen Erzählungen aus der Zeit der Minnesinger erwähnen wir den „Armen Heinrich“ von Hartmann von der Aue (vgl. Bd. I . S. 46), ferner den „Guten Gerhard“ von Rudolf von Ems, welcher die Bescheidenheit, sowie auch die das geschaffene Gute vernichtende Selbstgefälligkeit schildert. Aus späterer Zeit: Hans Sachs, der Vater des Schwanks, der auch später seine Vertreter fand (z. B. Der Kaiser und der Abt, von Bürger). Dann im 18. Jahrhundert Hagedorn, der die Franzosen und Engländer nachahmte (z. B. den Lafontaine). Verbreitete und allbekannte poetische Erzählungen von Wert haben außer den Obigen geschrieben: Claudius (David und Goliath); Gellert (Der Jnformator, Der Hut, Der sterbende Vater &c.); Kleist (Die Freundschaft); Lichtwer (Die blinde Kuh); Lessing (Das Kruzifix &c.); Fouqu é (Sängerlohn); Pfeffel (Der Bauer und der Fluß, Der Geizhals und sein Sohn); Wieland (Die drei Lehren &c.); Nikolai (Die Traube); Gotter (Der Genuß); Herder (Das Kind der Sorge); Falk (Der Esel); Seume (Der Wilde); Göckingk (Predigt am Magdalenentage, humoristisch); Tiedge (Die Orakelglocke); Thümmel; Kind; Schulze (Psyche); Schiller; Simrock; Justinus Kerner (Der reichste Fürst); Bürde (Karl V . im Kloster); Chamisso (Giftmischerin, schaurig ernst); ferner Rückert (Die Erfrorenen); Freiligrath; Fr. Storck; Körner; Lenau; A. Grün; Frankl; Castelli; Paul Heyse; Feod. Löwe; Rittershaus; Heinr. v. Collin (Max auf der Martinswand); Ludwig Lesser (Schach Jbrahim und der Derwisch &c.); von Gaudy (Die Pestjungfrau, Der Mönch Peter Forschegrund &c.); Alexander Kaufmann (Die Bettlerin &c.); Amara George (Der kleine Napoleon); J. Sturm (Martin Luther am Sterbebette seines Lenchens); Bechstein (Haimonskinder); v. Heyden (Königsbraut &c.); Waldmüller; George Morin (Stern und Rose); Al. Aar (Alarich auf der Akropolis); Waiblinger; Karl Stelter; Karl Zettel &c. Außerdem haben die meisten deutschen Dichter der Gegenwart poetische Erzählungen geliefert. Als erzählender Dichter der Engländer ist besonders Lord Byron († 1824) zu nennen. Nachahmer von ihm waren der Pole Mikiewicz und der Russe Puschkin u. s. w. § 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie). Die poetische Erzählung mit höherem Schwung und größerer Begeisterung heißt epische oder erzählende Rhapsodie oder Märe. Auch wird jede Romanze oder Ballade so genannt, sofern sie einen für sich allein bestehenden Abschnitt einer größeren Heldensage enthält. Somit verhält sich die epische Rhapsodie zur poetischen Erzählung, wie die Ode zum Liede. Sie will die Thaten und den Charakter des Helden vor unsern Augen entwickeln, und auf diese Weise auf unser Gefühl wirken, nicht aber durch Betrachtungen und Gefühlserregungen. Bei den alten Griechen hießen einzelne Gesänge eines Epos Rhapsodien. Heutzutage darf man auch ein episches Gedicht Rhapsodie nennen, wenn sein Gegenstand so großartig ist, daß es nur wie ein Bruchstück eines größern Ganzen zu betrachten ist. Namentlich Goethe, Schiller und Uhland sind Meister in der epischen Rhapsodie. Viele Balladen und Romanzen sind zugleich auch epische Rhapsodien. Jch erwähne vor allem: Schillers Ballade Graf von Habsburg. Diese Dichtung stellt eine große Scene vor, das festliche Mahl im Aachener Schloß nach der Krönung. Um es möglich zu machen, alles zu konzentrieren, That und späte Erfüllung der geweissagten Segnung in einer Scene beizubringen, wird hier der inzwischen ergraute Priester zum Sänger, aber dieses Wort in so veredelter Bedeutung genommen, als nur irgend möglich. Der Kaiser sucht bei der Tafel einen Sänger, der ihm die Brust bewege mit göttlich erhabenen Lehren. Dieser knüpft die Vergangenheit an die Gegenwart, und vollendet auf diese Weise die Harmonie des Ganzen. (Calderon, dessen Bearbeitung Schiller höchst wahrscheinlich kannte, hat denselben Stoff zuerst in dem Auto sacramental [Apontes III. p. II. a ] und in dem Vorspiele zum Auto sacramental [El Arca de Dios captiva VI . 39] mit großer Ähnlichkeit behandelt.) Schillers Ballade erscheint wie ein großes Bruchstück, verdient also den Namen epische Rhapsodie. Beispiele der epischen Rhapsodie. Neben dem soeben genannten allbekannten Beispiel erwähne ich nur noch a . Pegasus im Joche, von Schiller. b . Der letzte Ritter, von Anastasius Grün (eine Verherrlichung des letzten deutschen Ritters Kaiser Maximilian). c . Prinz Eugenius. d . Andreas Hofer. e. Cserhalom , von Vörösmarty , übersetzt von Faust Pachler (Wien 1878), und f . den 1881 erschienenen Rhapsodiencyklus Barbablanca von Jul. Ernst von Günthert. Weitere Beispiele können leicht aus der unter Romanze und Ballade gegebenen Litteratur ausgewählt werden. § 103. Die Jdylle. 1. Die Jdylle (oder auch das Jdyll, εἰδύλλιον == Bildchen, von εἶδος == Form, Bild, Gestalt) ist eine poetische Erzählung, welche den glücklichen, ruhigen, von Schuld freien Zustand des ländlichen Lebens schildert, das einfache, schlichte, glückliche Treiben von Menschen, die mit der Natur anmutig verkehren. 2. Sie ist der Elegie verwandt. 3. Sie hat kein feststehendes Versmaß. 1. Nicht das Bestreben, vor Störendem bewahrt zu sein, und nicht die träumerische Behaglichkeit am Abgeschlossenen und Abgegrenzten ist Merkmal des Jdylls, wohl aber die Liebe zum Ländlichen, die Sehnsucht nach der Einfachheit und Natürlichkeit ländlicher, ungekünstelter Zustände und Verhältnisse. Vischer sagt: „Aus der unbefangenen Einheit der Natur und Kultur geht die arkadische Beseligung hervor.“ Bilder aus dem einfachen Hirten=, Fischer=, Jäger=, Winzer- und Schäferleben sind der Jdylle am liebsten. Jn neuerer Zeit hat man auch in die Jdylle Personen hereingebracht, die (wie Landgeistliche, Beamte und Lehrer) erfolgreich in das Naturleben ihres Ortes eingreifen. Dadurch wurde sie erweitert, ohne zum Epos geworden zu sein, bei welchem ein der Jdylle fremdes, großartiges Gepräge nicht fehlen darf. Nur harmlose Kinder der Natur voll sanfter Gefühle treten in der Jdylle auf; verwickelte und fremde Verhältnisse, gewaltige Ereignisse, eine zu große Anzahl handelnder Personen &c. verstoßen gegen ihr Wesen, weil die Seele des Lesers zu sehr auf den weiteren historischen Verlauf der Thatsachen hingelenkt und dadurch verhindert würde, einen verweilenden Blick auf die Bäume und Blumen &c. zu werfen, die schmückend die Scene beleben. Daher hat Gervinus Recht, wenn er meint, die Jdylle sei da zu Haus, wo Mangel an bewegter Geschichte ist. Ziererei und höhere Lebensverfeinerung kennt die Jdylle nicht, ihr Stil ist einfach, naiv, wohl zuweilen warm und lebhaft, nie aber leidenschaftlich. Jhr Charakter ist der des Anmutigen, Lieblichen. Jm Jdyll muß sich jeder zu Hause fühlen, alles muß bekannt, verständlich sein, das niedere Leben, die gemächliche Alltäglichkeit in Stadt und Land (d. h. eine Welt, in der nichts Großes geschieht, deren Geschichte ohne Geräusch langsam dahinfließt), muß die Scene bilden. Daher schrieben Opitz, Geßner, Maler Müller ihre Jdyllen in Prosa. Wo es dem göttlichen Knaben Hermes im bekannten Homerischen Hymnus wohl wird in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht nur von ihrer Liebe, sondern auch von ihrem Hausrate, von ihren Kesseln und Dreifüßen. Das Jdyllische findet man zuweilen auch in andern Dichtungsgattungen, z. B. im sog. idyllischen Epos (Goethes Hermann und Dorothea), oder in den sogenannten idyllischen Schäferspielen, einer besonderen Art von Dramen des 17. Jahrhunderts, oder in den Dorfgeschichten (z. B. Auerbachs und Schaumbergers, welche einzelne reizende idyllische Bildchen in Prosa liefern). Die Bibel enthält Manches, was den Charakter der Jdylle an sich trägt, z. B. das Buch Ruth. Der Jliade fehlen (Hektors Abschied und eine Scene auf Achills Schild abgerechnet) die idyllischen Züge, ebenso unserem Nibelungenepos, während man sie in der Odyssee (z. B. Schilderung des Naturparks der Kalypso Od. E . 55 ff.) findet. Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab, losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen. 2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich ruhende Äußerlichkeiten. 3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter. Beispiele der Jdylle. a . Minna, von Tiedge. Der Frühling war gekommen. Schön Wie dünner Rosenflor umfloß, Jm frischen Morgenrot gefärbt, Ein Nebel sanft das Birkenthal; Da saß am blühenden Gebüsch Die fromme Minna, sah die Zweig' Jm schönen Morgennebel sich So lieblich neigen und von fern Stieg aus betauter Roggensaat Die Lerche jubilierend auf; Und leise, leise lispelte Das Wasser durch die Wiesen hin, Zu tränken den erstorbnen Klee. Das süße Lied der Nachtigall Floß ihr in sanftem, kühlen Weh'n Nur selten, aber himmlisch süß, Vom weißen Schlehenbusch herab. Die Wiesenblumen nickten ihr Den stillen guten Morgen zu. Die Wonne drang mit süßer Macht Jn Minnas Engelseel' und goß Sich jetzt in frommen Seufzern aus. Sie faltete mit: „Gott, o Gott!“ Die kleinen weißen Händ', und ach! Jhr Blick, voll schöner Andacht, stieg Zum rotbestreiften Himmel auf. „Ja, es ist wahr,“ rief sie, „was oft Mein guter Vater mir gesagt; Es ist ein Gott, der alles hier Um mich herum so reizend schuf.“ Und hell und immer heller blüht' Jn ihrem rosigen Gesicht Die stille Seelenandacht auf. Und schön und immer schöner schwamm Die fromme Thrän' um ihren Blick, Wie Tau auf Morgenveilchen bebt. „Wenn Gott schon diese Welt“, so fuhr Der kleine, sanfte Engel fort, „So wunderbarlich ausgeschmückt, Wie unbeschreiblich schön muß es Bei diesem Gott im Himmel sein! O gieb, du guter Gott, daß ich Zu einem Engel reif' und einst Aus dieser schönen Frühlingswelt Jn jene schönre komme, wo Mein Mütterchen schon lange wohnt, Die, ach! in diesem Augenblick Vielleicht an ihre Minna denkt.“ Jetzt trat ihr Vater, welcher sie Still hinter einem Schlehenbusch Belauscht, hervor, und hielt in ihr Sein ganzes Vaterglück im Arm. Umschlungen hielt er sie so dicht, Wie sich die Reb' um's Gitter schlingt, Und eine Thräne zitterte Von seiner grauen Wimper still Auf Minnas rote Wang' herab. Und sie verbarg ihr schön Gesicht Errötend in sein Silberhaar. „Kind!“ sprach er, „frömmer hast du nie Zu Gott gebetet, und dein Gott Erhöret dein Gebet gewiß. Wenn du als Engel wirst dereinst Um deine Mutter schweben, dann, Dann segne diesen Tag noch, Kind!“ b . Schluß des 20. Jdylls Theokrits (die Spindel), übersetzt von Fr. Rückert. ⏓ ⏓ – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ – Zweimal müßten die Schafmütter im Wiesthale das weiche Vließ Scheeren lassen im Jahr, daß es genug wäre der Theugenis, Die so emsiglich arbeitet, und thut wie die verständigen. Denn ich möchte dich ja nicht in ein unthätig verschwenderisch Haus einführen, o Landsmännin von mir, heimisch in jener Stadt, Die vor Zeiten der Held Archias aus Ephyra gründete, Vom dreizackigen Eilande dem Kern, achtbarer Männer Burg. Aber wohnend im Haus jetzo des Manns, welcher so vieles kennt, Was von traurigen Krankheiten befrein leidende Menschen mag, Wirst du weilen im luftvollen Milet unter den Joniern, Daß schön spindelversehn Theugenis sich zeig' in der Frauen Kreis, Und du stets sie des Gastfreundes und Liedsängers erinnrest. Ja dich sehend, erhebt mancher das Wort: wahrlich die Gunst ist groß Für ein kleines Geschenk; alles ist wert, was uns von Freunden kommt. c . Anfang und Schluß der Wald-Jdylle von E. Mörike. Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt; Alle die Märchen erzählt's, von der Gänsemagd und vom Machandel= Baum und des Fischers Frau; wahrlich, man wird sie nicht satt. Grünlicher Maienschein warf mir die geringelten Lichter Auf das beschattete Buch, neckische Bilder zum Text. Schläge der Holzaxt hört' ich von fern, ich hörte den Kuckuck, Und das Gelispel des Bachs wenige Schritte vor mir. Märchenhaft fühlt' ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen, Sah' ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kuckuck, wie fremd! Plötzlich da rauscht es im Laub, ─ wird doch Sneewitchen nicht kommen, Oder, bezaubert, ein Reh? Nicht doch, kein Wunder geschieht. Siehe, mein Nachbarskind aus dem Dorf, mein artiges Schätzchen! Müßig lief es in Wald, weil es den Vater dort weiß. Ehrbar setzet es sich an meine Seite, vertraulich Plaudern wir dieses und das, und ich erzähle sofort Gar ausführlich die Leiden des unvergleichlichen Mädchens, Welchem der Tod dreimal, ach, durch die Mutter gedroht. Denn die eitle, die Königin, haßte sie, weil sie so schön war, Grimmig, da mußte sie fliehn, wohnte bei Zwergen sich ein. (Der Erzählende teilt nun Schneewittchens Geschichte mit. Als er geendet kommt Margarete und bringt dem Vater das Essen. Er ißt mit und hat diesen Wunsch:) Wär' ich ein Jäger, ein Hirt', wär' ich ein Bauer geboren, Trüg' ich Knüttel und Beil, wärst, Margarete, mein Weib! Nie da beklagt' ich die Hitze des Tags, ich wollte mich herzlich Auch der rauheren Kost, wenn du sie brächtest, erfreu'n. O wie herrlich begegnete jeglichen Morgen die Sonne Mir, und das Abendrot über dem reifenden Feld! Balsam würde mein Blut im frischen Kusse des Weibes, Kraftvoll blühte mein Haus, doppelt, in Kindern empor. Aber im Winter, zu Nacht, wenn es schneit und stöbert, am Ofen Rief' ich, o Muse, dich auch, märchenerfindende, an! Litteratur der Jdylle. Als erster Jdyllendichter in Griechenland wird Theokrit (270 v. Chr.) genannt, der die Gattung der bukolischen Poesie oder das Hirtengedicht aus Sicilien nach Alexandrien brachte. Seine Jdyllen sind mimische Gedichte. Nach ihm glänzten Moschus und Bion. Bei den Römern dichtete Virgil berühmte Jdyllen, ohne sein Vorbild Theokrit erreicht zu haben. Er hat 10 Eclogen oder Hirtengedichte zurückgelassen. Opitz' „Daphne“ rief in Deutschland ähnliche Gedichte hervor, besonders bei den Pegnitzschäfern ( I . 51). Geßner (1730─1787) war der Schöpfer einer idealischen Hirtenwelt, deren Vorbild ihm in der arkadischen Schweiz nahe genug lag. Seine Jdyllen bieten in glatter zierlichen Prosa freundliche Scenen aus einem ersonnenen Schäferleben. Die bis in's kleinste ausgeführten, oft unnatürlich süßlichen, oder sentimentalen Schilderungen verraten den feinblickenden Landschafter. Sein bester Schüler Franz Xaver Bronner († 1850 in Aarau) schrieb lebenswahre, leider zu sentimentale Fischer-Jdyllen (z. B. der Getröstete). Unter den deutschen Jdyllendichtern sind sonst noch bekannt: Chr. v. Kleist (Jrin, in jambischen Viertaktern); Langbein (Abenteuer des Pfarrers Schmolke &c. in jambischen Viertaktern); Hölty (Das Feuer im Walde; Der arme Wilhelm; Christel und Hannchen); Voß (Der 70te Geburtstag. Diese Jdylle hat neben Breitem und Spießbürgerlichem viele wahrhaft poetische Partien. Das Glückliche, Schöne, Schuldlose und Einfache des Landlebens ist darin bis in's kleinste mit anschaulichsten Farben gemalt. Vgl. auch I . 55); Kosegarten; Goethe (Der Wanderer, das Sesenheimer Jdyll); Hebel (Habermuß); Neuffer († 1839, Ein Tag auf dem Lande); Amalie von Helwig (das dramatische Jdyll Corcyra); Platen (Die Fischer auf Capri; Amalfi; das Fischermädchen in Burano); Wyß (Das Gemslein); Matzerath (Erntemahl, eine niederländische Jdylle); Müller von Königswinter (Maikönigin, ein Gemälde des rheinischen Volkslebens); Robert Giseke (Pfarr-Röschen); Robert Hamerling (Morgen= Jdyll); Karoline Pichler (Der Sommerabend, und biblische Jdyllen); Günther (die Landschaft); Rückert (Das Bienengesumme); Albert Möser hat Jdyllen in Dialogform geschrieben, ähnlich wie Hebels Die Feldhüter oder wie Goethes Der neue Pausias &c. Sein „Er“ beginnt mit einem Distichon, worauf seine „Sie“ mit einem solchen fortfährt; dann spricht „Er“ wieder ein Distichon, dann „Sie“ u. s. f. durch seine 4 Jdyllen. (Vgl. Mösers Schauen und Schaffen S. 139 ff.); Anna Löhn (Der Schulmeister); J. G. Fischer (Der glückliche Knecht, 9 Gesänge in trochäischen Viertaktern) u. a. Jul. Rodenberg schrieb dramatische Jdyllen &c. § 104. Beschreibendes Gedicht. Gedichte, bei welchen der Dichter bloß die Eigenschaften, Merkmale, Zustände seines der Natur entlehnten Gegenstandes angiebt, ohne seine eigenen Empfindungen mitzuteilen, bei denen ferner die poetische Beschreibung meist zur erzählenden Schilderung wird, bei welchen endlich das sinnende Verweilen der Elegie ausgeschlossen ist, nennt man beschreibende Gedichte. Sobald die poetische Beschreibung aufhört zu erzählen, weist sie die Einbildungskraft von sich, welche allein im stande ist, die Einzelheiten der Beschreibung, denen ja der organische Zusammenhang fehlt, durch die historische Entfaltung zu verbinden. Bloße Aufzählung des in sinnlicher Erscheinung Entgegentretenden, Reimereien, die dem Abgerissenen nicht den Eindruck der augenblicklichen Stimmung zu verleihen vermögen, fallen somit aus dem Gebiete der Poesie heraus, selbst wenn glänzende Rhetorik das Ohr besticht. Beim guten beschreibenden Gedicht muß Erzählung und Gefühls-Ausdruck vereinigt sein. Um poetisch zu sein, muß vor allem der Gegenstand des Gedichts von so interessanter Beschaffenheit, von solcher Schönheit, Großartigkeit oder Seltenheit sein, daß eine bloße Angabe der Merkmale schon hinreichen würde, den Leser poetisch anzuregen (z. B. bei Naturerscheinungen, die durch Großartigkeit, Schönheit, Seltenheit einen tiefen Eindruck machen). Der Gegenstand des beschreibenden Gedichts kann ebenso aus dem Reiche der sichtbaren, wie aus dem der unsichtbaren Welt des Geistes und Gemütes entnommen sein; er kann erfunden sein. Sodann sind Anschaulichkeit und Jdealität zwei Hauptforderungen an ein beschreibendes Gedicht. Unschönes, Störendes aus der prosaischen Wirklichkeit ist wegzulassen, das Schöne, sofern es keinen Widerspruch hervorruft, ist hinzuzusetzen. Das beschreibende Gedicht läßt oft Episoden zu, um die ästhetische Kraft des Ganzen zu fördern. Ohne diese Episoden ermüdet es und wird zur Malerei mit Worten. Daher fließen wie von selbst Betrachtungen und lyrische Ausbrüche der Empfindungen ein. Häufig kommen poetische Beschreibungen als Teile größerer Gedichte vor. Torquato Tasso beschreibt z. B. im befreiten Jerusalem eine Dürre, unter der das Kreuzheer zu leiden hat. Homer beschreibt den Schild des Achill in der Jlias. Die unter den didaktischen Gedichten erwähnten „Jahreszeiten“ ( the seasons , vom Engländer James Thomson † 1748), ─ von Schneittheiner, L. Schubart u. a. deutsch übersetzt ─ wurden die Veranlassung zu den beschreibenden Nachdichtungen „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Brockes; Kleists „Frühling“; Zachariäs „Die Tageszeiten“ und zu Haydns gleichnamigem Oratorium. Muster von beschreibenden Gedichten lieferte Schiller. Wir erinnern nur an Laura am Klavier. Der Dichter hat hier eine Phantasie Lauras, die sie ihm vorspielte, durch berechneten Rhythmuswechsel darzustellen gewußt. Die Einleitung von V. 15─22 ist gewissermaßen ein Allegro Brillante , welches in ruhiges Spiel übergehend durch geschmackvollen Ausdruck mit zartem Piano (23 und 24) und kühnem Forte (25 und 26) sich auszeichnet, endlich (V. 27 und 28) wieder zum rauschend bewegten Tanze der Töne wird, darauf im schmeichlerischen, tändelnden, ruhigeren Spiel (29─32) dahinschwebt, (33─36) um in ein melancholisches düsteres Adagio herabzusinken und erwartungsvoll, Neues erhoffend, zu endigen. Beispiele des beschreibenden Gedichts. a . Aus Kleists Frühling. (S. Bd. I S. 171.) b . Die Fahrt um den Posilip, von Fr. Rückert. Jch fuhr dahin am blühenden Rand Den Posilipo zur rechten Hand; Zur Linken fernhin schloß den Golf Die Jnsel Capri, wo der Wolf Tiberius, versteckt im schroffen Geklipp, in scheußlichen Lüsten ersoffen. Jch aber wandte rechts den Blick, Wo um ein liebliches Verstrick Von Blüten, das den Strand berankte, Mein Kahn auf glatten Wogen schwankte. Vorsprünge von Felsen vielgestaltig, Abhänge von Hügeln mannigfaltig, Mit Reben hier und dort mit Halmen, Mit Pinien hier und dort mit Palmen, Die Häuser zwischendurch gestreut, Neu=altertümlich und alt=erneut. Dann Trümmer aus dem Meere ragend, Von untergegangener Prunkwelt sagend, Als hier der Römer gebaut am Strand, Dem zu eng war das feste Land, Und der zu belasten das Meer gewußt Mit den Gebäuden seiner Lust. Jch fragte jetzt nicht viel nach denen, Mich zogen an die stillern Scenen, Die Gärten, die in's Meer her hingen, Wo oben die Gärtner, die Winzer gingen; Die Treppensteige, die schmal sich wanden Herab, wo die Kähne, die Fischer standen. Ein Fischer atmend stieg hinauf, Er trug die Fische zum Verkauf, Oder er tauschte vom Gärtner wohl Um den Fisch die Frucht und den Kohl. Zwei Alte saßen im Geschwätze, Und besserten zerrissne Netze. Seitab am Strand das Fischermädchen Spann an der Spindel ein feineres Fädchen; Jhr dürfte, wenn sie wollte angeln, Gewiß der beste Fang nicht mangeln. Doch Knaben wateten im Wasser, Sie suchten Austern für städtische Prasser, Oder Muscheln für sich zum Spiel, Bis ihnen mein Kahn in's Auge fiel. Den Fremdling mit den langen Haaren Sahen sie stumm vorüber fahren, Anstaunend mit Augen starr und fix, Als sei es ein meerentstiegener Nix. Und als ich bog um die Felsenwand, Glaubten sie, daß ich in's Meer verschwand. Vom Land her wehte Sommerluft Mit lauem Hauch und Blütenduft, Dazwischen gastliche Gerüche Von einer nah versteckten Küche. Die Augen waren nun zu Gaste, Nicht gut ist, daß auch der Magen faste; Jch legte meinen Nachen bei, Und ging zu sehn, wo die Küche sei. c . Abendlandschaft, von Matthisson. Goldner Schein Deckt den Hain, Mild beleuchtet Zauberschimmer Der umbüschten Waldburg Trümmer. Still und hehr Strahlt das Meer; Heimwärts gleiten, sanft wie Schwäne, Fern am Eiland Fischerkähne. Silbersand Blinkt am Strand; Röter schweben hier, dort blässer, Wolkenbilder im Gewässer. Rauschend kränzt Goldbeglänzt Wankend Ried des Vorlands Hügel, Wild umschwärmt vom Seegeflügel. Malerisch Jm Gebüsch Winkt, mit Gärtchen, Laub und Quelle, Die bemooste Klausnerzelle. Pappeln wehn Auf den Höhn, Eichen glühn, zum Schattendome Dicht verschränkt, am Felsenstrome. Nebelgrau Webt im Tau Elfenreigen, dort wo Rüstern Am Druidenaltar flüstern. Auf der Flut Stirbt die Glut; Schon verblaßt der Abendschimmer An der hohen Waldburg Trümmer. Vollmondschein Deckt den Hain. Geisterlispel wehn im Thale Um versunkne Heldenmale. (Nicht bloß der glückliche Versbau ist es, sagt Schiller [Über Matthissons Gedichte], was diesem Liede eine so musikalische Wirkung giebt. Der metrische Wohllaut unterstützt und erhöht zwar allerdings diese Wirkung, aber er macht sie nicht allein aus. Es ist die glückliche Zusammenstellung der Bilder, die liebliche Stetigkeit in ihrer Succession; es ist die Modulation und die schöne Haltung des Ganzen, wodurch es Ausdruck einer bestimmten Empfindungsweise, also Seelengemälde wird.) d . Jn die Herrlichkeit des Himmels, von Ed. Tempeltey. Sommerabend; überm Walde Lag der Himmel rein und blau, An den Gräsern, in dem Moose Hing schon hie und da der Tau. Lichter ward es jetzt; der Boden Hob sich steil zum Waldesrand, Daß dem Auge alle Ferne, Die dahinter lag, verschwand. Rüstig ging ich; durch die Tannen Brach ein heller Grün hervor, Zarte Birken auf der Höhe Neigten sich zum Waldesthor. Und wo an den Saum der Heide Sich der Saum des Himmels schloß, Lag die Sonne, die im Scheiden Jn ein Strahlenmeer zerfloß. Tausendfache Glut der Flammen, Goldner Abendsonnenschein, ─ Jn die Herrlichkeit des Himmels Schritt ich graden Wegs hinein. Und nun dehnte mir zu Füßen Lachend sich die Ebne aus: Feld und Wiese, Flur und Garten Und ein weinumranktes Haus. Vor mir lag das Ziel des Wanderns, Aber sie war nicht zu seh'n, ─ O nicht länger mocht' ich zögernd Auf der lichten Höhe steh'n. Auf die Fenster fiel vergoldend Noch ein matter letzter Schein, ─ ─ Jn die Herrlichkeit des Himmels Schritt ich graden Wegs hinein! Litteratur des beschreibenden Gedichts. Das erste größere beschreibende Gedicht unserer Litteratur ist von Opitz (Der Vesuv, 1633 in Alexandrinern geschrieben). Später schrieben: Zachariä (z. B. Die Tageszeiten in 4 Gesängen, in elegisch sentimentalem Ton; sein berühmt gewordenes Hauptwerk); Kleist (Der Frühling); Stolberg (Hellebek); Tiedge (Der Abend); Kosegarten (Der Gewitterabend); Matthisson (Der Genfersee &c.); Lavater (Der Rheinfall); Neuffer (Die Herbstfeier); Salis (Das Abendrot); Platen (Bilder aus Neapel); Freiligrath (Wüstenbilder); Heine (Nordseebilder); Schiller (Elysium, Herkulanum und Pompeji &c.); Rückert (Naturbilder in antikem Versmaß); Lenau (Mischka, Die Heideschenke, Die Werbung); Geibel (Jtalien, Zigeunerleben, Das Negerweib); Dieffenbach (Das Kirschbäumchen); A. Möser (Auf der Nordsee); Adolf Grimminger (Auf dem Königssee); Paul Hagemann (Die Feuersbrunst) u. a. II . Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen. § 105. Die Sage. 1. Sage (von sagen) ist die poetische Erzählung einer Begebenheit, welche ihrem Stoffe nach von der im Volksmunde fortlebenden und gefärbten Überlieferung herrührt und keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erhebt. Sie knüpft sich an mündlich überlieferte, durch das Gedächtnis aufbewahrte, gefärbte Geschichte, oder an bestimmte historische Personen, an einzelne, dem Volke interessante Orte (z. B. Ruinen, Berge, Felsen). 2. Die Sage unterscheidet sich von der Mythe d. i. der religiösen Sage. 3. Mehrere verwandte Sagen bilden einen Sagenkreis. 4. Besonders beliebte und verbreitete Sagen werden zu Volkssagen. 5. Es giebt ernste und humoristische Sagen. 1. Polybius hat zuerst (1. 2. 8. ὁ τῆς πραγματικῆς ἱστορίας τρόπος ) den Namen pragmatische Geschichtsforschung aufgebracht und versteht darunter die wirkliche Geschichte, die sich im Gegensatz zur Sage wie zum Mythus befindet. Saga ( plur . Sögur) ist in der norddeutschen Mythologie eine dem Odin als Gemahlin oder Tochter beigesellte Asin. Sie wohnt in der vierten Himmelsburg Sökkwabeck, über welche kühle Wogen rauschen. Sie gilt als Personifikation der Geschichte. Täglich trinkt sie mit Odin aus goldenen Schalen Weisheit und Kunde. (Vgl. Edda 7.) Das der Dichtungsgattung Sage zu Grunde liegende Geschichtliche ist durch die Phantasie so entstellt, vergrößert oder verkleinert worden, daß das geschichtliche Moment nur in den seltensten Fällen herauszufinden ist. Ursache und Wirkung wird nicht mehr recht begriffen; es entstehen falsche Beziehungen; das Wunderbare erscheint natürlich; der Volksgeist in seiner Eigentümlichkeit kommt zum Ausdruck. Die Sage, welche sich aus Sagen aus- und umbildet, bis sie mundgerecht wird, hat das Volk und die Zeit zum Dichter. Sie ist somit Volkspoesie und muß daher einfach, ansprechend, fesselnd sein. Chamisso urteilt über die Sage: „Es ward von unsern Vätern mit Treuen uns vermacht Die Sage, wie die Väter sie ihnen überbracht; Wir werden unsern Kindern vererben sie auf's neu; Es wechseln die Geschlechter, die Sage bleibt sich treu.“ Das Charakteristische der Sage ist also die Überlieferung, die Tradition. Der Dichter der Sage darf daher seinen unverbürgten Gegenstand nie der Gegenwart entnehmen, sondern einer früheren Zeit. Nach Görres (Heldenbuch von Jran II . 356) ist Sage der feurige Wein, in dem die vom Lebensgeiste des Volkes durchwärmte Geschichte aufgegohren. Die Sage im Wesen historisch gemeint, ist älter als die geschriebene Geschichte. Sie ruht auf uralter, wirklicher, ungeschriebener, entstellter Geschichte. Der Dichter darf sich daher Einschaltungen, Ergänzungen, Änderungen gestatten. 2. Man gebraucht das Wort Sage meist für eigentlich weltliche Sagen, wie auch für Volkssagen, also für Stamm=, Geschlechts- und Heroensagen, nicht aber für religiöse Sagen oder Mythen (§ 107), deren Personen gottähnliche Wesen oder Götter sind. Neben den Sagen von geringem Umfang (z. B. Rückerts und Chamissos Riesenspielzeug) giebt es solche von großer Ausdehnung (z. B. die Sagen von Till Eulenspiegel, vom Doktor Faust, vom ewigen Juden aus dem 16. Jahrhundert u. s. w. 3. Mehrere Sagen, die sich auf den nämlichen Helden und auf andere mit dessen Erlebnissen verknüpfte hervorragende Personen beziehen, bilden einen Sagenkreis. Für einen Überblick der vielen deutschen Sagen besonders der mittelhochdeutschen Poesie kann man dieselben in folgende nach den Volksstämmen angeordnete Sagenkreise einteilen: a . Der niederrheinische Sagenkreis: Hauptort desselben war die Burg Xanten (oder Santen ) am Niederrhein. Siegfried (altn. Sigurd) ist ihr erster Held, der sich im Blute des erlegten Drachen badete und hörnern (hürnen) wurde; Kriemhild ist seine Gemahlin. ( I 44.) b . Der burgundische Sagenkreis: Hauptort Worms. Der Held ist Gunther. Neben ihm stehen Gernot, der junge Giselher, Gunthers Mutter (Frau Ute) und ihre Tochter Kriemhild; Gunthers Gemahlin Brunhild (Brynhild der Edda). c . Der ostgotische Sagenkreis: Hauptheld: Dietrich von Bern (Theodorich von Verona 423─526). Sein Waffenmeister Hildebrand, dessen Sohn Hadubrand, ferner Wolfhard, Wolfbrand, Wolfwin, Sigestab, Helferich &c. gehören zu diesem Sagenkreis. d . Der ostdeutsche Sagenkreis: Hauptort: Etzelsburg (Ofen). Es gehören dazu: Etzel (Attila), seine Gemahlin Helche; Rüdiger von Bechlarn, Hawart, Jring und Jrnfried. e . Der norddeutsche Sagenkreis: Schauplatz: Friesland. König Hettel, dessen Tochter Gudrun, Horant, Wate und Frute, sowie Morung von Nifland und Jrolt von Ortland &c. f . Der lombardische Sagenkreis: Hauptort: Garden am See (Gardasee). König Rother; Ortnit, Hugdietrich; Wolfdietrich. ( I 45.) g . Der fränkische Sagenkreis oder die Karlssage: Karl der Große und Roland als Gotteskämpfer. ( I 45.) h . Der bretonisch=keltische Sagenkreis oder die Artussage: Artus und seine Tafelrunde; ein britischer König, durch seine Verteidigung gegen die Sachsen bekannt. Um ihn sind versammelt: Parcival, Lohengrin, Jwein, Tristan, Gawein, Erec, Lanzelot, Wigalois u. a. ( I 45.) i . Der mit dem vorigen verwandte Gralsagen-Kreis: ( le saint Graal oder Gréal mißverstanden als Sang Réal , königliches Blut Jesu; richtiger: heiliger Kelch, vom mittellat. gradale == crater ) Titurel hat den Tempel Montsalwäsche erbaut, in welchem der h. Gral ist. Artus sucht nach dem Gral, um durch dessen Wunderkraft dem Tode zu trotzen. 4. Außer den vielverbreiteten Sagen dieser Sagenkreise leben in unserem Volke viele sogenannte Volkssagen, die vereinzelt dastehen, keinem der vorstehenden Sagenkreise unterzuordnen sind, oder wieder eigene Sagenkreise bilden. W. v. Tettau-Erfurt verbreitet sich z. B. in einer Publikation unbekannter Erfurter Drucke über folgende Volkssagen: α . Die Königin von Frankreich, die vom Marschall verleumdet wird. Es ist dies die bei den Franken verbreitet gewesene Volkssage von einer fälschlich des Treubruchs angeklagten, von ihrem Gemahl für schuldig gehaltenen Fürstin, bei welcher der Ankläger im Gottesgericht (durch einen Zweikampf mit dem entdeckenden Tiere) überführt wird. (Vgl. Die Tierkomödie im letzten Hauptstück dieses Bands.) Jhre Ausbildung erhielt dieselbe in Nordfrankreich, um die Wanderung zu den Proven ç alen, Spaniern, Jtalienern, Deutschen, Engländern, Skandinaviern zu machen. Lachmann hat ein Fragment bekannt gemacht, das der Hauptsache nach in die große Kompilation Karl Meinet überging. W. von Tettau hat den ganzen bezüglichen Sagenkreis verglichen (nämlich a . die Königin Sibille, b . Sagen von Berta mit dem großen Fuß und Hildegard, c . Macaire, d . Karl Meinet, e la gran conquista de ultramar, f . die Oliva Sagen, g. Sir Triamour ). β . Der König im Bad des Stricker. Ein Engel tritt an des Königs Stelle, als letzterer im Bade war, weil er in der Vesper die Vorlesung der Worte im Magnificat deposuit potentes de sede verboten hatte. Der Badediener verlachte nunmehr den König und erzeigte dem Engel als dem wirklichen Könige die Ehre. Erst nachdem der König gelobt hatte, zu glauben, was die Priester verkünden, wurde er wieder in seine Macht eingesetzt. (Jn vielen Handschriften überliefert.) γ . Ritter Morgeners Wallfahrt, eine der anmutigsten deutschen Volkssagen des späteren Mittelalters, in welcher der totgeglaubte Ehegemahl zurückkehrt, als seine zum zweitenmal vermählte Frau sich eben mit dem neu Angetrauten in's Brautgemach zurückziehen will. Sie hatte die Treue nie verletzt. Der Morgener gab dem zweiten Gemahl seine Tochter zur Gattin. Zum Sagenkreis dieser Sage gehören die verwandten außerdeutschen und deutschen Sagen: Gerhard von Holenbach; Hans von Bodman; der Graf von Stadion; Reinfried von Braunschweig; Herzog Heinrich der Löwe; Karls des Großen Rückkehr von Ungarn; Herzog Richard von der Normandie u. a. m. δ . Die Historie vom Grafen von Savoyen, der, um nicht ewig verdammt zu sein, zehn Jahre langes Ungemach und selbst die Trennung von seinem trefflichen Weibe erträgt. Die Sage kann als eine Apotheose der Frauentreue angesehen werden, ebenso wie die folgenden verwandten Sagen: Die gute Frau; Der Busant; Sir Jsumbras; Magelone; Märchen vom Prinzen Kameralsaman. Weitere Volkssagen s. unter Litteratur der Sage. Beispiele der Sagen: a . Ernste Sagen. Die Riesen und die Zwerge, von Fr. Rückert. Es ging die Riesentochter zu haben einen Spaß, Herab vom hohen Schlosse, wo Vater Riese saß. Da fand sie in dem Thale die Ochsen und den Pflug, Dahinter auch den Bauern, der schien ihr klein genug. Die Riesen und die Zwerge! Pflug, Ochsen und den Bauern, es war ihr nicht zu groß, Sie faßt's in ihre Schürze, und trug's auf's Riesenschloß. Da fragte Vater Riese: Was hast du, Kind, gemacht? Sie sprach: Ein schönes Spielzeug hab' ich mir hergebracht. Die Riesen und die Zwerge! Der Vater sah's, und sagte: Das ist nicht gut, mein Kind! Thu es zusammen wieder an seinen Ort geschwind. Wenn nicht das Volk der Zwerge schafft mit dem Pflug im Thal, So darben auf dem Berge die Riesen bei dem Mahl. Die Riesen und die Zwerge! (Gedanke: Die Mächtigen sollen die niedern Stände ihrer Brauchbarkeit und Nützlichkeit wegen achten und schätzen; sodann mythisch ein Nachhall der alten Riesen- und Kultursagen. NB . Das Material des erst 1831 entstandenen Gedichtes „Des Riesen Spielzeug“ von Chamisso ist dem vorstehenden schon 1817 geschriebenen Gedichte entlehnt.) Vgl. noch Rückerts ernste Volkssagen: Die Begrüßung auf dem Kynast. Bestrafte Ungenügsamkeit. Ottilie. Kind Horn in Rückerts Ges. Ausg. Band III . 56, und XII . 305 ff. b . Humoristische Sagen. Die Weiber von Winsperg, von Ad. v. Chamisso. Der erste Hohenstaufen, der König Konrad, lag Mit Heeresmacht vor Winsperg seit manchem langen Tag; Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest, Die unverzagten Städter, die hielten es noch fest. Der Hunger kam, der Hunger! das ist ein scharfer Dorn; Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn. Jhr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert, Und öffnet ihr die Thore, so trifft euch doch das Schwert. Da sind die Weiber kommen: und muß es also sein, Gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein. Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt, Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt. Die Weiber mögen abzieh'n, und jede habe frei, Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei; Laßt zieh'n mit ihrer Bürde sie ungehindert fort! Das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort. Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut, Da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut; Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Thor, Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor. Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht, Sie tragen ihre Eh'herr'n, das ist ihr liebstes Gut. Halt an die argen Weiber! ruft drohend mancher Wicht; ─ Der Kanzler spricht bedeutsam: das war die Meinung nicht. Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr gelacht: Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht, Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht, Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht. So war das Gold der Krone wohl rein und unentweiht. Die Sage schallt herüber aus halb vergeßner Zeit. Jm Jahr elfhundertvierzig, wie ich's verzeichnet fand, Galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland. Litteratur der Sagen. Bekannte poetische Sagen haben außer den oben Genannten noch gedichtet: Uhland (Klein Roland); Kinkel (Dietrich von Bern); Seb. Longard (Rolands Tod); Oer (Das weiße Sachsenroß); Otto Weber (Der schlummernde Friedrich); A. Kopisch (Willegis); Wolfg. Müller (Die versunkene Stadt); K. Simrock (Der bönnsche Wind; Wieland der Schmied, Neudichtung des Amelungenlieds); E. Ebert (Frau Hitt); Müller von Königswinter (Loreley, neu gedichtete Rheinsagen); Bechstein (Haimonskinder); Dräxler-Manfred (Sagenbuch vom Sonnenberg); Fr. Dingelstedt (Der Scharfenstein, althessische Sage); Max Waldau (Graubündener Sage „Cordula“); Karl Stelter (in Aus Geschichte und Sage. 2. Aufl. 1882, z. B. „Schonakisga“ &c.) u. s. w. Die bekanntesten Sagen (Sammlungen) ─ meist in Prosa ─ wurden herausgegeben: Altfranzösische von Ad. v. Keller, Althochdeutsche von Simrock; Aus dem klassischen Altertum von Gust. Schwab (1838 ff. 1877); Aus der Altmark von Temme (1839); Aus den Alpen von Vernaleken (1858), desgleichen von Alpenburg (1861) und von Zöllner (1861); Aus Baden von Baader (1851); Badisches Sagenbuch von Schnezler (1846); Bayerische von Panzer (1848), desgleichen von Maßmann (1851), von Schöppner (1852) und von Leoprechting (1855); Aus Böhmen von Grohmann (1863); Aus Brandenburg von Kühn (1843); Die Deutschen Kaisersagen von Falkenstein (1847); Deutsche Pflanzensagen von Gebhard (1862), desgleichen von Perger (1864); Deutsche Sagen von J. W. Wolf (1845), desgleichen von Rod. Benedix (1851), und von J. und W. Grimm (1865); Geschichtlich de utsche Sagen von Simrock (1850); Deutsche Volkssage von Henne Am= Rhyn (1874); Deutsche (1842) und thüringische (1837) von Adolf Bube; Aus der Eifel von Schmitz (1856); Aus dem Elsaß von Aug. Stöber (1852); Aus Franken von Janssen (1852); Fränkische von Bechstein (1842); Aus Hamburg von Beneke (1854); Aus der Vorzeit des Harzes von Pröhle (1856); Harzsagen von Blumenhagen (1837 und 1850); Hessische von Wolf (1853), desgleichen von Lynken (1854), und Bindewald (1873); Aus Jndien und Jran von C. Beyer (1871); Aus Jsland von Maurer (1860); Lithauische und preußische von Tettau und Temme (1837), von Becker, Roose und Thiele (1847); Lübische von Deecke (1842); Aus Luxemburg von Steffen (1853); Mainsagen von Alex. Kaufmann (1853), desgleichen von Janssen (1852); Aus Mansfeld von Giebelhausen (1850); Märkische von Kuhn (1843); Aus dem Neckarthale, der Bergstraße und dem Odenwalde von Baader (1843); Niederländische von J. W. Wolf (1843); Aus Niedersachsen von Harrys (1840), desgleichen von Schambach und Müller (1856); Norddeutsche von Kuhn und Schwarz (1848); Aus der Oberlausitz von Willkomm (1843); Aus der Oberpfalz von Schönwerth (1857); Oberrheinisches Sagenbuch von Aug. Stöber (1842); Aus Oldenburg und Mecklenburg von Studemund (1851), desgleichen von Niederhöffer (1857); Aus dem Orlagau von Börner (1838); Österreichische von Bechstein (1846); Aus der Pfalz von Baader und Moris (1842); Aus Pommern und Rügen (1840); Aus dem preußischen Samland von Reusch (1838); Sagenbuch des preußischen Staates von Grässe (1871); Rheinsagen von Simrock (1837); Sagen des Rheinlands von Geib (für Göppinger. 1850); Rheinischer Sagenkreis von Ad. v. Stolterfoth (1835); Aus dem Riesengebirge von Kräuterklauber (1843); Aus Rumänien von Schuller (1857); Aus Sachsen von Ziehnert (1838), desgleichen von Grässe (1874); Aus Sachsen und Thüringen von Sommer (1846); Aus Schleswig-Holstein und Lauenburg von Müllenhoff (1843), desgleichen von Strackerjan (1868); Aus Schwaben von Meier (1852), desgleichen von Birlinger (1862. 1874. 1878); Aus der Schweiz von Rochholz (1856), desgleichen von Lütolf (1862); Aus Siebenbürgen von Müller (1857); Aus dem Spessart von Herrlein (1851); Thüringische von Bechstein (1838); Aus Tirol von Zingerle (1859), desgleichen von Mayer (1856); von Schneller (1867); Ungarische aus der Erdelyischen Sammlung übersetzt von Stier (1850); Aus Vorarlberg von Vonbun (1858. 1862); Aus Westfalen von Vincke (1856), desgleichen von Kuhn (1859) &c. Beachtenswert sind F. W. Genthes Deutsche Dichtungen des Mittelalters in vollständigen Auszügen und Bearbeitungen. (Eisleben 1841─46.) Dieselben enthalten in 3 Bänden 97 historische, legendenartige und erzählende Gedichte des Mittelalters, welche meist sagenhaften Charakters sind, und sich zu Sagen= Bearbeitungen sehr empfehlen dürften. Es sind zum Teil die von uns Bd. I S. 44, 45, 46 aufgezählten Gedichte der nationalen Heldensagen, sowie Legenden und Sagen aus den verschiedensten Sagenkreisen, Tiersagen u. a. Für die Litteratur der Sage ist noch zu erwähnen: Brauns Naturgeschichte der Sage (1865) und Uhlands Schriften zur Geschichte der Sage (1868). § 106. Mythus. Mythus ist diejenige poetische Erzählung, welche die Thaten und Erlebnisse der im Volksglauben einer vorgeschichtlichen Zeit vorhandenen Götterwelt, ja, der Gottheit selbst darstellt, oder welche eine religiöse Anschauung oder Jdee symbolisch veranschaulicht. Jhre Quelle ist häufig der wörtlich genommene Tropus. (Vgl. die Ausführung I . 150.) Jhre Domaine ist das unendliche, weite Geisterreich mit seinen vielgestaltigen und vielgestalteten Figuren. Das Wort Mythe heißt griechisch μῦθος == Rede. Der Stamm ist mu == tönen. (G. Curtius sagt nur vermutungsweise: μύθος werde zu dieser Wurzel gehören; wenn man aber an das englische mouth , deutsch mund denkt, wird dies um so wahrscheinlicher.) Jm allgemeinen versteht man unter Mythe jede Erzählung, Überlieferung des in der Vorzeit von Göttern und Helden Geglaubten und Erzählten; der Mythus, den man füglich als Göttersage bezeichnen kann, befaßt sich also mit Gottheiten und auf die Gottheit Bezüglichem. Dadurch unterscheidet er sich von der Sage, welche ihren Stoff aus der im Gedächtnis aufbewahrten nationalen Geschichte entlehnt. Der Mythus ist bei seinem Hineingreifen in die Geschichte der Gottheit auf die Phantasie angewiesen, die sich nun meist des Anthropomorphismus und des Anthropopathismus bedient, indem sie die Menschengeschichte auf die Gottheit überträgt. Selbstredend mußte dieses Streben zur Vielgötterei führen. Jn Folge der vielen, meist aus dem Mißverständnis der Tropen entstandenen Mythen, z. B. der Griechen, der Jnder &c., bildete sich deren Polytheismus aus. Diese Mythen waren also die Ursache desselben, nicht die Folge. Bei den an Mythen armen Juden erhielt sich der Monotheismus in seiner Reinheit. Mit Recht ist behauptet worden, daß die christliche Mythologie des Mittelalters zum Polytheismus hindrängte, den die Reformation durch Beseitigung aller Legenden wieder über den Haufen warf. (Der germanische Name „Gott“ für ein ewiges Wesen ist alt. Dafür spricht schon das form- und sinngleiche persische chodâ und der Umstand, daß das Wort in den germanischen Hauptdialekten überall vertreten ist: goth. guth, gudaláus == gottlos, gudhûs == Gotteshaus &c. Weigand W. B. I . 608 ff. Der Nachweis einer Verwandtschaft der Bezeichnung anderer Völker z. B. mit dem sanskr. Devas (vgl. des Verf. Arja S. 484.) hat seine Schwierigkeiten. Das lat. deus (samt divus, Diana, dies, diu &c.) stammt von der Wurzel div == leuchten ( δῖος, Διός, εὐδία ) und ist ganz zu trennen vom griechischen θεός . Soviel wird man G. Curtius in Grundzüge der griechischen Etymologie 5. p . 513 ff. zugeben müssen, wenn auch eine stichhaltige Ableitung für θεός noch nicht gefunden ist. Prof. Birlinger glaubt indes aus derselben Wurzel djut, jut das alte guth (durch Übergang des j in g ) entstanden, welche auch in der einfachen Form dju in Tŷr, Ziu enthalten sei. Die nur angenommene gotische Form Tius wird nur als Eigenname eines Gottes zu betrachten sein. Der altnordische Kriegs- und Siegesgott heißt Tŷr , aber dies ist auch kein Appellativum.) Zur Bildung von Mythen kam der sinnliche, rohe Naturmensch, wie erwähnt, einesteils durch die wörtliche Auffassung der Tropen (vgl. I . 150), dann, indem er schon früh die ihn erhaltende Fruchtbarkeit der Erde, die lichtspendende, erwärmende Sonne, das Gewitter und den Sturm nicht als etwas Zufälliges betrachtete, sondern als etwas von übersinnlichen, gewaltigen Wesen Entsprungenes. Er personifizierte die Naturkräfte, und weil er in seiner sinnlichen Anschauung sich diese Gewalten nicht geistig denken konnte, so schuf er sie in Gestalten seiner Gattung um. Nur vollkommener und von feinerem Stoff dachte er sich dieselben, die er wie Götter oder als solche verehrte. Menschliche aber gewaltige Thaten wurden diesen Göttern angedichtet, menschliche Verhältnisse ihnen untergelegt, menschliches Lieben von ihnen erzählt. So entstand eben die sich auf Götter und Halbgötter beziehende Sage, also eine Göttersage. (Vgl. I . § 38. S. 169.) Die Bezeichnung Göttersage für Mythus ist vollständig erschöpfend für die Mythe polytheistischer Völker. Für die Mythe monotheistischer Nationen ist jedoch hinzuzufügen: Mythe ist auch diejenige Sage, welche einer religiösen Anschauung oder Jdee symbolischen Ausdruck verleiht. Die Wissenschaft von den Mythen der altheidnischen Völker, namentlich der Griechen, bildet die Mythologie. Später wurde der griechische Mythen-Kreis erweitert durch den religiösen Einfluß des Auslandes, des fabulierenden Priestertums, so daß man nunmehr ägyptische, nordische, germanische &c. Mythen hat. Die grübelnde Philosophie hat die Götter sodann wieder in Jdeen von Natur und Welt aufgelöst und vergeistigt; auch die Künstler und Dramatiker trugen viel zu Abänderungen der mythischen Gestalten bei, so daß nicht selten die Mythen zu Sagen herabsanken. Schon zur Zeit der Alexandriner gewann durch Krates aus Mallos, den pergamenischen Grammatiker († 145 v. Chr.), die allegorische Deutung und erklärende Umgestaltung der Mythen im Gegensatz zum strengeren, methodisch nüchternen Aristarch die Oberhand. Krates behauptete nämlich in seinem Kommentar zu Homer, daß alle Kenntnis und Weisheit der Späteren von dem Dichter rätselhaft, allegorisch angedeutet sei. Jn neuerer Zeit teilt sich die Behandlung der Mythen in die psychische, religiöse und historische (Aristarchs Meinung). Heyne verlangt Auflösung und Erklärung der Mythen, um zur ursprünglichen Erkenntnis und Vorstellung zu gelangen. Ebenso Kreuzer, welcher diese symbolische Ausdrucksweise systematisch begründet und eine Urreligion annimmt, aus der alle Religionen stammen. J. H. Voß trat in seinen mythologischen Briefen (1794 u. 95), besonders aber in seiner Antisymbolik (Stuttg. 1826) gegen beide auf. Mythus und Sage berühren sich zuweilen und gehen öfters in einander über. Bei Homer ist z. B. Göttersage und Heldensage nicht scharf zu trennen. Bei fortgehendem Anthropomorphismus sinken Götter zu Helden herab, erheben sich Helden zu Göttern, so daß nicht selten Sagen zu Mythen und Mythen zu Sagen werden. So ist Siegfried in den Nibelungen durch seine Verbindung mit historischen Personen (Theodorich, Attila &c.) zu einer Art geschichtlicher, sagenhafter Figur geworden, obwohl er (nach Lachmanns Ausführungen) als Gott, den die nordische Mythologie Balder nennt, dem Mythus angehört und nur durch die Nationalsage vermenschlicht wurde. Bestimmte Poesien können ebenso als Sagen wie als Mythen aufgefaßt werden: als Mythen, wenn in ihnen ein mit göttlicher Macht bekleidetes mythisches Wesen auftritt; als Sagen, wenn sie geschichtlich erscheinen, an einem bestimmten Ort spielen u. s. w. Beispiele der Mythe. Hugin und Munin, von Fr. Bodenstedt. Dem Gott des Nordens, Odin, stand Ein Rabenpaar zur Seite, Der eine Hugin zubenannt, Und Munin hieß der zweite; Es trug sie ihrer Flügel Schwung Durch alle Zeit und Schranke. ─ Munin war die Erinnerung, Und Hugin der Gedanke. Treu wurde durch sein Rabenpaar Dem Gott alltäglich Kunde, Was in der Welt geschehen war ─ Daß er auf festem Grunde Sein Reich gebaut, und alt und jung Jn Treue niemals wanke, Des freut ihn die Erinnerung, Ergötzt ihn der Gedanke. Und Odin herrschte lange Zeit Jn ungetrübtem Glücke. Das weckt des bösen Loke Neid; Durch arge List und Tücke Lähmt er der Raben Flügelschwung, Bannt sie in enge Schranke; Da trübt sich die Erinnerung, Empört sich der Gedanke! Und sieh, es fühlt im eig'nen Blut Odin das Gift des Bösen, Er will in seinem grimmen Mut Die Raben nicht erlösen, Daß sie, wie einst, ihr Flügelschwung Trage durch Zeit und Schranke ─ Da quält ihn die Erinnerung, Zernagt ihn der Gedanke! Jn seinem Zorne will der Gott Die Raben ganz zerstören, Daß sie nicht länger, wie zum Spott, Sich gegen ihn empören. Doch, trotz gewalt'gem Keulenschwung, Lebendig in der Schranke Bleibt Munin, die Erinnerung, Und Hugin, der Gedanke. Ob auch auf kurze Zeit gezähmt, Sie waren nicht zu zwingen; Ob auch ihr Flügelpaar gelähmt, Es wuchsen neue Schwingen, Und mit gewalt'gem Flügelschwung Aus Odins Dienst und Schranke Floh Munin, die Erinnerung, Und Hugin, der Gedanke. Als sich das Rabenpaar entschwang, War Schrecken in Walhalle, Die Flucht ward Odins Untergang, Tot sind die Götter alle. Unsterblich aber, stark und jung Durch alle Zeit und Schranke Fliegt Munin, die Erinnerung, Und Hugin, der Gedanke. Weitere allbekannte Beispiele erwähnen wir nachstehend unter Litteratur der Mythe. Litteratur der Mythe. Gute Mythen haben u. a. geliefert: Goethe (Prometheus); Smets (die Söhne); Hall (Biton und Kleobis, welchen Stoff auch von Feuchtersleben benutzte); Tieck, Schlegel (beide bearbeiteten „Arion“); Streckfuß (Des Narcissus Verwandlung); A. Grün (Elfenkönig); G. Schwab (Der Bau des Reißensteines); Schiller (Klage der Ceres); Chamisso; Oehlenschläger; Bechstein; J. A. Apel; A. Kopisch (Die Heinzelmännchen); Daxenberger (die erste griechische Mythe); Wetzel (nordische); Geibel (gab Mythen in den Juniusliedern); Rückert (schrieb Minerva und Vulkan, Griechische Tageszeiten, und morgenländische Mythen) u. a. Die Mythendichter schöpften lange Zeit besonders aus Homers Jlias und Odyssee, aus Hesiods Theogonie, und aus den Tragikern Äschylos, Sophokles, Euripides. Bei den Römern schöpften sie aus Ovids Metamorphosen, welche in 15 Büchern Mythen behandeln, die mit Verwandlung der Menschen in Steine, Pflanzen und Tiere endigen. (Voß hat sie übersetzt.) Die Göttersagen der alten germanischen Völkerschaften blieben am reinsten bei den Jsländern erhalten. Der gelehrte Priester Sämund Sigfusson (um 1100) hat die im Volksmund lebenden Göttersagen und Gesänge gesammelt und unter dem Namen Edda (== Ältermutter, Weisheit) uns aufbewahrt. Sie ist in gebundener Rede gegeben, enthält 2 Teile und zeichnet sich durch ernsten, großartigen, überwältigenden Charakter aus. Snorri Sturluson (13. Jahrhundert) hat eine ähnliche Sammlung verfaßt, die im Gegensatz zur Sämund= Edda die Snorri= Edda genannt wird. Simrock und Plönnies haben beide aus dem Jsländischen in's Neuhochdeutsche übertragen. Amara George, Alexander Kaufmann und Georg Friedrich Daumer haben den Versuch gemacht, in einer Sammlung eigner Gedichte (Mythoterpe. Ein Mythen=, Sagen- und Legendenbuch) das weite, auf dem ganzen Erdkreis in den mannigfachsten Gestaltungen verbreitete Reich der Mythe und Sage von ihrer Entstehung an bis zu den noch heute im Volksmunde lebenden Nachklängen, zu ergründen, die Beziehungen daraus auf Religion, Sitte und Sprache zu folgern und so nicht nur dem eigenen Volke, sondern der gesamten Menschheit einen durch die Zeit und ihre Umwälzungen halb verschütteten Schatz wieder an das Licht des Tages zu fördern. Wissenschaftliche Untersuchungen über Mythus haben außerdem geliefert: Lobeck (im Aglaophamus ); G. Hermann (in De mythologia Graecorum ); Buttmann (der den Mythus nicht wesentlich von der Geschichte verschieden findet, im Mythologus ); Welcker (die griechische Götterlehre); O. Müller (in Prolegomena ), Preller, Hartung u. a. § 107. Legende. Legende (von legere ─ legenda == das dem Volke beim Gottesdienst Vorzulesende) nennt man diejenige poetische Erzählung, welche Heiligen- und Märtyrer-Geschichten aus den ersten Zeiten des Christentums oder kirchliche Überlieferungen und wunderbare, dem frommen Sagengebiete entstammende Begebenheiten poetisch darstellt. Sie ist also die poetische Erzählung einer von der Kirche überlieferten frommen Handlung von wunderbarem Erfolg, eine religiöse Sage, deren Helden Christus und die Heiligen sind, ja, in der (wie auch in der Sage und in der Mythe) selbst der Teufel auftreten kann. Der Name Legende leitet sich her von Legenda , d. i. jenem Buche der alten katholischen Kirche, welches unverbürgte, ungeschichtliche, fromme Sagen von Heiligen und Märtyrern enthielt, die den Christen empfohlen wurden als Legenda , d. i. etwas, das gelesen werden soll. Der Charakter der Legende ist Einfachheit und Kindlichkeit des Stils. Sie ist geeignet, Rührung und Erhebung hervorzurufen. Nie darf sie zum historischen Denkmal werden, sondern sie muß immer den zarten Schimmer des Wunders und des frommen Glaubens als Schmuck behalten. Hie und da nähert sie sich in diesem Zuge der Frömmigkeit oder der Schwärmerei der Romanze. Die katholische Kirche, die in den Legenden eine Art christlicher Mythologie besitzt, hat den meisten Stoff zur Legendenbildung geliefert. Jn Spanien, wo jeder Christ als Kämpfer für die Gottessache erschien, findet man die älteste Bearbeitung der Legende. Es giebt auch indische, jüdische Legenden &c. Herder hat die Legende als poetische Gattung in unsere Litteratur eingeführt. Er sagt von ihr: „Nebst den Ritterbüchern war die Legende die höchste Blüte und Blume menschlicher Ausbildung.“ Ferner: „Eine kleine Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat und Trost enthalten, als vielleicht ein ganzes System kalter Sittenlehren.“ Er stellt sich dadurch in Widerspruch mit Vischer, welcher der Legende (dieser „Spezialität des Mittelalters“, wie er sie nennt,) bleibenden poetischen Wert abspricht. Man teilt die Legenden in ernste und komische. Erstere stellen in würdiger Weise eine wunderbare, ernste Begebenheit dar, letztere dagegen führen entweder heitere humoristische Geschichten aus dem Leben eines Heiligen vor, oder suchen das Abergläubische, Unhaltbare einer erzählten Handlung, den Mißbrauch des Wunderglaubens zu Betrügereien nachzuweisen. Diese können zwar schalkhaft, humoristisch heiter sein, nie aber dürfen sie den frommen Glauben verhöhnen. Man nennt die komischen Legenden (wie auch die komischen poetischen Erzählungen) wohl auch Schwänke. Hauptsächlich in den letzteren spielt nicht selten der Teufel eine hervorragende Rolle. Er kann in jeder Erscheinung auftreten, als betrogener, als dummer und als armer Teufel, wodurch er sein Schreckliches, Furchtbares verliert und zu einer erheiternden, komischen Figur wird. Beispiele der Legende. α . Ernste Legende. Elisabeths Rosen, von Bechstein. Sie stieg herab wie ein Engelbild, Die heil'ge Elisabeth, fromm und mild, Die Gaben spendende, hohe Frau Vom Wartburg-Schloß auf die grüne Au. Sie trägt ein Körbchen, es ist verhüllt, Mit milden Gaben ist's vollgefüllt. Schon harren die Armen am Bergesfuß Auf der Herrin freundlichen Liebesgruß. So geht sie ruhig ─ doch Argwohn stahl Durch Verräters Mund sich zu dem Gemahl, Und plötzlich tritt Ludwig ihr zürnend nah Und fragt die Erschrock'ne: „Was trägst du da?“ „Herr, Blumen!“ bebt's von den Lippen ihr, „Jch will sie sehen! Zeige sie mir!“ ─ Wie des Grafen Hand das Körbchen enthüllt, Mit duftenden Rosen ist's erfüllt. Da wird das zürnende Wort gelähmt, Vor der edlen Herrin steht er beschämt, Vergebung erfleht von ihr sein Blick, Vergebung lächelt sie sanft zurück. Er geht und es fliegt ihres Auges Strahl Fromm dankbar empor zu dem Himmelssaal. Dann hat sie zum Thal sich herabgewandt, Und die Armen gespeiset mit milder Hand. β . Komische Legende. Der betrogene Teufel, von Rückert. Die Araber hatten ihr Feld bestellt, Da kam der Teufel herbei in Eil; Er sprach: Mir gehört die halbe Welt, Jch will auch von euerer Ernte mein Teil. Die Araber aber sind Füchse von Haus, Sie sprachen: die untere Hälfte sei dein. Der Teufel will allzeit oben hinaus; Nein, sprach er, es soll die obere sein. Da bauten sie Rüben in Einem Strich; Und als es nun an die Teilung ging, Die Araber nahmen die Wurzel für sich, Der Teufel die gelben Blätter empfing. Und als es wiederum ging in's Jahr, Da sprach der Teufel im hellen Zorn: Nun will ich die untere Hälfte fürwahr. Da bauten die Araber Weiz und Korn. Und als es wieder zur Teilung kam, Die Araber nahmen den Ährenschnitt, Der Teufel die leeren Stoppeln nahm, Und heizte der Hölle Ofen damit. Litteratur der Legende. Die Geschichte der Legende unterscheidet drei Perioden: 1. Legenden, welche der religiösen Verherrlichung und der Stärkung des Glaubens dienten bis zur Reformation; 2. Legenden, welche das Papsttum verspotten; 3. Poetische Legenden als Dichtungsgattung seit Herder. Die Deutschen pflegten die Legende schon im Mittelalter, welches mehrere Sammlungen aufweist. Berühmt war die Legenda Sanctorum oder Historia Lombardica , auch Aurea Legenda von Jac. de Voragine († 1298 als Erzbischof zu Genua). Die vollständigste Sammlung aller Heiligensagen enthalten die Acta sanctorum, quotquot toto orbe coluntur (von Bollandus u. a. Antwerpen 1643─1794 in 53 Foliobänden herausgegeben). Altberühmte Legenden unserer Litteratur sind die Bd. I S. 46 aufgeführten. Unter denselben besonders: 1. Gregor auf dem Steine (von Hartmann von der Aue. Jnhalt: Gregor hat sich wegen unfreiwillig begagener Sünde an einen Felsen anschmieden lassen. Nach 17 Jahren bei der Papstwahl wird derjenige für würdig erklärt, der 17 Jahre auf einem Steine sitze. So wird er Papst.). 2. Legende Konrads von Würzburg vom heiligen Alexius, der ─ weil er ein Kreuz zwischen sich und seiner Braut sieht ─ Pilger wird und sodann unerkannt im Palaste seiner Braut lebt. Außerdem waren bekannt: Die Legende Reimbots von Durne († 1250) vom h. Georg, der 5 Jahre gegen die Heiden in Palästina kämpft und schließlich die Märtyrerkrone sich erwirbt. Ferner die Legendensammlung: Buch von der Heiligen Leben von Herm. v. Fritzlar. Sehr beliebt und verbreitet war im Mittelalter die Legende vom ewigen Juden. (Jnhalt: Auf dem Wege zur Richtstätte verweigerte der Jude Ahasver unserm Heilande, vor seiner Thüre auszuruhen. Daher darf Ahasver nicht sterben und bis zur Wiederkehr Christi keine Ruhe finden.) Dieser Stoff wurde von neueren Dichtern häufig benützt, z. B. von Rob. Hamerling in seinem Epos: Ahasver in Rom, wo Ahasver mit Nero in Beziehung gebracht wird. Hier ist freilich Ahasver weniger der ewige Jude, als der ewige Mensch, der mit dem ersten Menschenkinde identifiziert wird: mit dem ersten Geborenen Kain, welchen der Tod verschont zur Strafe dafür, daß er den Tod in die Welt gebracht. Die Sehnsucht Ahasvers nach dem Tode ist als Mythe bei Hamerling nichts anders, als die Ruhesehnsucht der Menschheit, die ewig qualvoll ringt und strebt, während das Jndividuum sein Ruheziel im Tode findet. Vor Hamerling schon wurde der Stoff vielfach bearbeitet z. B. von Schubart, von Lenau &c. Nach Herders Vorgang (welcher folgende bekannter gewordene Legenden schrieb: Das Bild der Andacht, Der gerettete Jüngling, Die Geschwister, Die wiedergefundenen Söhne, Rosen, Der Schiffbruch u. a.) haben die Legende in glücklicher Weise noch bearbeitet: Goethe (Petrus und das Hufeisen: diese komische Legende ist zugleich Beispiel der Parabel und der Paramythie); A. W. Schlegel (Der heilige Lukas); G. Schwab (Legende von den heiligen drei Königen); Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius, Der Ermel des heiligen Martinus, Das Brot des heiligen Jodokus &c.); Fouqu é ; Tieck; Kind; Kleist (Das Grab des Herrn); v. Boguslawsky († 1817, Diocles); Pfeffel; Langbein; Helmine v. Chezy; Amalie v. Helwig; Uhland (Die verlorene Kirche); Leop. Schefer (Der Gast); Silbert; Simrock; Görres; Christ. v. Schmid; Vogl; Wetzel (Das Muttergottesbild im Teiche); Kinkel (St. Peter aus dem Himmelsthor); Kugler (Kloster Corwei, Bild des Heilands &c.); Fr. Rückert (Maria Siegreich, Die gefallenen Engel, Der Wert der Jahre &c.); Justinus Kerner (Die heilige Regiswind von Laufen); Jul. Mosen (Der Kreuzschnabel); Anast. Grün (Sanct Hilarion); Theod. Bornowsky (San-Bovo); Jul. Sturm; Krais; Rollett; Pichler; Gottfried Keller; Amara George &c. Als komische Legenden nennen wir: 1. Hans Sachs' Sanct Peter mit den Landsknechten, 2. Die von Geibel bearbeitete, von Rückert übersetzte persische Erzählung (abgedruckt in Neue Mitteilungen zu Rückerts Leben vom Verf. I . 304), 3. Langbeins Der Substitut des heiligen Georg, u. a. § 108. Das Märchen. 1. Unter Märchen versteht man eine erdichtete, von Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinns durchhauchte, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung erfassende Erzählung, welche im bunten Gemisch das Natürliche mit dem Wunderbaren, das Wahre mit dem Unwahrscheinlichen vereint. Die Phantasie treibt im Märchen ihr regel= loses Spiel, indem sie sich über die gemeine Wirklichkeit und deren ursächlichen Zusammenhang hinwegsetzt. Neben den Personen und Gegenständen der wirklichen Welt treiben Zauberer, Riesen, Hexen, Zwerge, Kobolde, Gnomen, Feen und Elfen im Märchen ihr traumhaftes Spiel. Auch den Tieren und selbst leblosen Dingen verleiht es die Sprache. Es macht das Unmögliche möglich. 2. Es hat eine ganz bestimmte Anordnung (Disposition). 3. Die Märchen sind ihrem Ursprung nach Reste der Mythologie. Der Jnhalt der späteren Märchen ist erdichtet. 4. Sie unterscheiden sich von der Sage wie von der Geschichte und von der Mythe durch ihren erdichteten Stoff. 5. Man teilt sie ein in Feenmärchen, Volksmärchen, Kindermärchen, Hausmärchen. 6. Von besonderer Bedeutung für die Bildung unserer Jugend sind die Kindermärchen. 7. Die äußere Form des Märchens ist meist die ungebundene Rede, zuweilen auch der Vers. 1. Das Wort Märchen stammt aus dem Altdeutschen her; es ist das Diminutivum vom mittelhochdeutschen maere , althochdeutsch mâri , gotisch meritha Gerücht, merjan verkündigen. (Appenzell. heute noch maeren == öffentlich beschließen.) Die Verkleinerungsform „Märchen“ war ursprünglich die verächtliche Bezeichnung einer erdichteten, kindischen, albernen, unglaublichen Märe. Der Grundzug des Märchens ist das Phantastische, Wunderbare, das Übernatürliche, die Verzauberung, Verwünschung, Verwandlung, Seelenwanderung (Metamorphose). Die mythisch ausgesponnene Sage wird zusammengedrängt, verkleinert, um sich jenen Volksschichten (Kindern und diesen ähnlichen Gemütern) anzupassen, bei denen sie schließlich noch Raum finden kann, weil bei ihnen die Phantasie am mächtigsten ist. Nach Herder ist das Märchen ein zauberischer Traum der Wahrheit, aus dem wir nur ungern erwachen, nachdem wir uns durch denselben in's Reich der Geister versetzt fanden. Des Märchens Heimat sind am liebsten waldige Gegenden, in denen Zauberer, Kobolde, Riesen, Feen und andere wunderbare Wesen hausen. Wenn Tiere im Märchen auftreten, so geschieht dies nicht allegorisch, sondern in der wirklichen Absicht der Mitteilung, fern aller Belehrung. Somit hat das Märchen mit der didaktischen Tierfabel nichts gemein. 2. Die Teile des Märchens sind: a . „Es war einmal“, d. h. ein kindlicher, unschuldsvoller Zustand des Glücks z. B. Schneewittchen. b . Eintritt einer feindlichen Macht, um den glücklichen Zustand zu ändern: Zauberer; Hexen; Verwünschung. c . Sieg des Guten: Entzauberung; Eintritt unermeßlichen Glücks. ─ Die Entwickelung des Knotens wird herbeigeführt mittels ungewöhnlicher Kräfte, sowie durch die Lösung eines die höheren Wesen des Märchens bindenden Schicksalschlusses, durch menschliche Unschuld und Beharrlichkeit. 3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und Bohne.) Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten in anderer Form wieder aufgetaucht wären: ─ zunächst in der Sage als Helden, sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt, welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt. Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die Phantasie; dann in der Sage ─ die durch die Phantasie ergänzte oder alterierte Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung. (Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge hat Görres in der Einleitung zum „Heldenbuch von Jran“ [ I. p. III. IV .] anschaulich nachgewiesen.) Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie ─ wie erwähnt ─ in die Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden. Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen fort. 4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen Sage, welche durchaus auf einer ─ wenn auch veränderten ─ Geschichte (auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition) beruht: a . Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und Ort, wenn auch falsch oder entstellt. Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollen doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von Riesen und Helden sein. Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen Hintergrund und Schein, und es hat somit mit der Nationalgeschichte gar nichts zu thun. Seine Personen und seine Orte tragen meist gar keinen Namen, oder einen phantastischen, unwahrscheinlichen, nicht glaubwürdigen, oder endlich einen internationalen, an dem alle Nationen gleiches Anrecht haben. Es beruht heutzutage auf der vollständigen Erdichtung des Stoffes. b . Die Sage verdankt unter allen Umständen ─ auch wenn die Phantasie Anteil an ihrer der Geschichte entstammenden Stoffbildung hat ─ ihre Entstehung dem Gedächtnisse, während das Märchen seinen Ursprung aus der Phantasie niemals verleugnet. Deshalb glaubt niemand das Märchen, während man die Sage ganz oder einem Teile nach für wahr halten möchte. Bezüglich des Wesens der Sage und des Märchens sagt die Vorrede zu den deutschen Sagen der Gebr. Grimm (S. V ): „Es wird dem Menschen von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlands überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten, welche nebeneinander stehen und uns nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen eigenen Kreis. Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes besteht beinahe nur in sich selber fest, in seiner angeborenen Blüte und Vollendung; die Sage, von einer geringeren Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, an einem Ort oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall zu Hause sein könne, sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommen vorhanden sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in Deutschland finden, wo es nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen bloß dünn und sparsam gesät zu sein pflegen.... Die Märchen sind also teils durch ihre äußere Verbreitung, teils durch ihr inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen die Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere Farbe tragen und mehr Ernst und Nachdenken fordern. Über den Vorzug beider zu streiten wäre ungeschickt; auch soll durch diese Darlegung ihrer Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen und Wendungen ineinander greifen und sich mehr oder weniger ähnlich werden.“ c . Der Geschichte stellen sich Märchen und Sage gegenüber, insofern sie das Sinnlich-Natürliche und Begreifliche stets mit dem Unbegreiflichen mischen, welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen scheint, auch in der Darstellung nicht mehr verträgt. d . Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen, Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind. Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen. Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B., wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i. die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind. ─ Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda, daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichen Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner in seinem Siegfried benutzt hat. „Die 2 Brüder“ (Nr. 60 bei Grimm) lehnen sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung einer Jungfrau u. s. w. Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation. 5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden, Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: „Keine Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz, als eine Zauberwelt ganz unser.“ Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen, romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. („Die Kindlichkeit,“ sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I . 110, „welche das Wesen des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen Geist fremd.“) 6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken. Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit mit sittlichem Wesen sich vereint. Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist, paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt, sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die beabsichtigte Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt; sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen, naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse des Kindes erwecken und auch die Moral dem kindlichen Gedächtnis auf's tiefste einprägen. 7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein, z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde Eckbert und der getreue Eckart.) Zu dramatischer Form hat es sich öfters aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouqu é schen Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines Gemütes öffnet &c. Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. III . 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen, O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in metrischer Form, oder wie Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt sein. Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen Kunstpoesie. Beispiele des Märchens. Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt. (Schwedisches Volksmärchen.) Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine. Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne, Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne. Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde, Worüber er höchlich wunderte sich ─ es war um die Mitternachtstunde. „Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen, Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen.“ „Deine Federn von Gold', die kleiden mich nicht, die ich für dich sollte tragen, Jn der Welt ein wildfremdes Vögelein, wovon kein Mensch weiß zu sagen.“ „Bist du ein wildfremdes Vögelein und unbekannt allen Leuten, Dich zwingt wohl Hunger, Frost und Schnee, der fällt auf den Weg, den breiten.“ „Mich zwingt nicht Hunger, mich zwingt nicht Schnee, der fällt auf den Weg, den breiten, Mich zwingt weit mehr geheime Pein, die machte mir Angst und Leiden. Wohl zwischen Bergen und tiefem Thal', da rinnen die brausenden Wasser, Und welcher einen Treuliebsten hat, kann ihn aus dem Herzen nicht lassen. Jch hatt' einen Liebsten kühn und fromm, einen Ritter von herrischen Gaben, Meine Stiefmutter warf es geschwinde um, sie wollte die Liebe nicht haben. Sie schuf mich zu einer Nachtigall, hieß mich in der Welt umfliegen, Meinen Bruder zu einem Wolfe so grimm, mußte sich zu den Wölfen fügen. Gleich lief er in den Wald, sie sprach: „Jn Wolfsgestalt soll er gehen, Bis daß er getrunken mein Herzensblut.“ Sieben Jahre drauf ist es geschehen. Einen Tag sie ging so wonniglich im Rosenhain' spazieren, Mein Bruder sah es und zorniglich ihr leise nach thät spüren. Er griff sie an ihrem linken Fuß' mit reißigem Wolfesmunde, Riß aus ihr Herz und trank ihr Blut und ward gesund zur Stunde. Noch bin ich ein kleines Vögelein, das fliegt in wilden Heiden, So jammervoll muß ich leben meine Zeit, doch meist in Winterzeiten. Doch Preis dem, der mir geholfen hat, daß ich die Zunge kann rühren, Da ich nicht gesprochen in fünfzehn Jahr', wie mit euch ich Rede kann führen. Aber gesungen hab' ich immerdar mit lieblichen Nachtigallkehlen, Und in dem allergrünsten Hain' thät ich meinen Zweig mir wählen.“ „Und horch, du kleine Nachtigall, was dich wohl kann vergnügen, Kannst sitzen im Winter im Hause mein, im Sommer wieder ausfliegen.“ „Hab' Dank, schöner Ritter, der Frommheit dein, ich darf es doch nicht wagen, Denn das verbot die Stiefmutter mein, so lang' ich Federn muß tragen.“ Die Nachtigall in Gedanken stand: ich thu' nicht des Ritters Willen; Da griff er sie bei den Füßen klein, das Schicksal sollt' er erfüllen. Er ging mit ihr wohl in sein Haus, verschloß die Fenster und Thüren, Sie ward zu manchem Wunderthier', wie man soll hören und spüren. Erst wandelt' sie sich in Bären und Leu'n, ist dann zur Schlange worden, Zuletzt zu einem Lindwurm' groß, der wollte den Ritter morden. Er schnitt sie mit einem Messerlein, daß Blut heraus thät' fließen, Stracks stand, wie eine Blume klar, eine Jungfrau ihm zu Füßen. „Nun hab' ich erlöst dich von deiner Not und von deinen heimlichen Leiden, So sage mir denn deine Abkunft gut von Vaters und Mutters Seiten.“ „Ägyptenland's König mein Vater war, sein Gemahl meine Mutter in Ehren, Meinen Bruder verschuf man zu einem Wolf', durch die wilden Wälder zu stören.“ „Jst Ägypten's König lieb Vater dein, sein Gemahl deine Mutter in Ehren, Fürwahr, bist Schwestertochter mir, die sonst sich als Nachtigall ließ hören.“ Da ward große Freud' in dem ganzen Hof', ja rings in dem ganzen Lande, Daß der Ritter gefangen die Nachtigall, die gewohnt in der Linde so lange. Die Lilien im Mummelsee, von Aug. Schnezler. Jm Mummelsee, im dunkeln See, Da blüh'n der Lilien viele; Sie wiegen sich, sie biegen sich, Dem losen Wind zum Spiele. Doch wenn die Nacht herniedersinkt, Der volle Mond am Himmel blinkt, Entsteigen sie dem Bade Als Jungfern an's Gestade. Es braust der Wind, es saust das Rohr Die Melodie zum Tanze; Die Lilienmädchen schlingen sich Als wie zu einem Kranze, Und schweben leis' umher im Kreis, Gesichter weiß, Gewänder weiß, Bis ihre bleichen Wangen Mit zarter Röte prangen. Es braust der Sturm, es saust das Rohr, Es pfeift im Tannenwalde; Die Wolken zieh'n am Monde hin, Die Schatten auf der Halde; Und auf und ab durch's nasse Gras, Dreht sich der Reigen ohne Maß, Und immer lauter schwellen An's Ufer an die Wellen. Da hebt ein Arm sich aus der Flut, Die Riesenfaust geballet, Ein triefend Haupt dann, schilfbekränzt, Von langem Bart umwallet, Und eine Donnerstimme schallt, Daß im Gebirg' es wiederhallt: „Zurück in eure Wogen, Jhr Lilien ungezogen!“ Da stockt der Tanz ─ die Mädchen schrei'n Und werden immer blässer: „Der Vater ruft! puh! Morgenluft! Zurück in das Gewässer!“ ─ Die Nebel steigen aus dem Thal, Es dämmert schon der Morgenstrahl, Und Lilien schwanken wieder Jm Wasser auf und nieder. Vgl. Mörikes Die Geister am Mummelsee. Für ein Beispiel eines Märchens in Prosa verweisen wir auf die allbekannten Kinder- und Hausmärchen der Gebr. Grimm. Litteratur des Märchens. Des Märchens Heimat ist der Orient, vor allem Jndien, Persien, Arabien. Nach Europa kam es wahrscheinlich aus Arabien, als sich um 711 n. Chr. die Mauren in Spanien niederließen. Durch die Troubadours nach Frankreich verpflanzt, ging es endlich nach Deutschland über. Vor 200 Jahren schwärmte man bei uns geradezu für die zum Modeartikel gewordenen Märchen. Längere Zeit hielt diese Geschmacksrichtung an, und wir verdanken ihr die Verbreitung der Sammlungen novellistisch verarbeiteter Märchen von Perrault aus Frankreich ( Contes de ma mère l'Oye ) und der Gräfin d'Aulnoy , sowie der bald nachher erschienenen, wichtigen Sammlung orientalischer Märchen „Tausend und eine Nacht“, die eine Berühmtheit erlangte, wie einst Homers Gesänge. Diese Sammlung erschien zuerst 1704 durch den Franzosen Galland in 12 Bänden ( Les milles et une nuits ) und veranlaßte spätere Dichtungen, wie Chamissos Abdallah, Platens Abassiden &c. Jhre Märchen befreunden mit den Wundern einer Geisterwelt, wie nur die kühne, morgenländische Phantasie sie schaffen konnte. Allegorien, Gleichnisse, Parabeln &c. sind als Staffage eingewebt, erzählende Menschen wechseln mit plaudernden Tieren, oder mit Wahrnehmungen aus der Pflanzenwelt und dem unorganischen Naturreiche, ferner mit Denksprüchen, Erfahrungssätzen, Lebensregeln, Rätseln. Die schönsten Märchen dieser Sammlung stammen wahrscheinlich aus der uralten Märchenheimat Jndien; in der Schilderung sinniger Liebe erkennt man den persischen Dichter, in der Schlichtheit naturkräftiger Bilder den Araber. Alles aber ist dem Leben des Arabers angepaßt. Die neuere Forschung läßt sie aus Ägypten stammen, wo man die zahlreichsten Handschriften auffand. Den Namen gab dieser Dichtung der im 9. Jahrh. alle Märchen sammelnde Dshehest â vi (zur Bezeichnung ihrer Menge: tausend == sehr viele und darüber noch eines), nicht aber, wie häufig behauptet, Scheherazade, von der selbst ein Märchen erzählt, daß sie jede Nacht ein neues Märchen in Aussicht gestellt und dadurch ihren Gemahl ─ den Kalifen ─ veranlaßt habe, ihren Tod von Tag zu Tag hinauszuschieben. Jn Deutschland sah es mit der eigenen, echt kindlichen, nationalen Märchenproduktion bis anfangs unseres Jahrhunderts sehr dürftig aus. Man griff von einer französischen Übersetzung zur anderen, legte diese aber wegen ihrer die Sittlichkeit verletzenden Anspielungen wieder zur Seite, um eigene Erfindungen an deren Stelle zu setzen. Aber diese ersten sog. Märchen sprachen durch ihre Beimischung von geschichtlichen und andern Beziehungen weit weniger an, als die französischen. Manche wimmelten von politischen und litterarischen Anspielungen, oder sie waren hauptsächlich durch ihren gemischten Stoff und dessen Ausbreitung abgeschmackt, häßlich, langweilig. Da trat besonders durch Musäus ( I . 55, der durch seine, Soldaten und Klatschfrauen abgehorchten, in origineller Weise weitererzählten Volksmärchen einen deutschen Litteraturzweig einleitete und veranlaßte), sowie durch die Gebrüder Grimm eine Wendung ein. Letztere haben das Verdienst, daß sie die im Munde des Volkes erhaltenen Märchen sammelten und uns sodann in ihren „Kinder- und Hausmärchen“ als Kleinod hinterließen, das uns zeigt, wie die Phantasie unseres Volkes ursprünglich produzierte. Diese Märchen sind wie Fouques Undine und Chamissos Schlemihl in Prosa geschrieben. Die besten Märchendichter unserer Litteratur sind: Tieck (der auch eine große Anzahl Märchen übersetzte oder bearbeitete, z. B. Blaubart, die Haimonskinder, der getreue Eckart, Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, die Elfen, Däumchen, von denen viele in seinem Phantasus gesammelt sind); Cl. Brentano († 1842; Gockel, Hinkel und Gackeleia, ein satirisches Märchen gegen die Thorheiten seiner Zeit, Wickrams Goldfaden, eine alte Geschichte &c.); W. Hauff (Märchenalmanach, Kalif Storch, Gespensterschiff, Der falsche Prinz &c.); Arnim; Kletke; Müllenhof (Märchen aus Schleswig-Holstein &c.); Kühn (Nordd. Märchen 1848, Westfälische 1859); Wolf (Deutsche Hausmärchen 1852); Sommer (Märchen aus Sachsen und Thüringen 1846); Haltreich (Volksmärchen aus Siebenbürgen 1856 und 1877); Zingerle (Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland 1855; Märchen aus Tyrol 1858); Bechstein (Deutsches Märchenbuch in mehr als 70,000 Exemplaren verbreitet); Simrock (Deutsche Märchen 1864); Eichendorff; Wieland; Wolfg. Müller; Schwab; Uhland; Zedlitz (Das Waldfräulein, ein Märchen in 18 Abenteuern); Müller von Königswinter (Das satirische Märchen „Germania“, sowie das humoristisch gehaltene „Prinz Minnewin“); Böttger (Frühlingsmärchen, humoristisch sinnig); Otto Roquettes reizendes Wein=, Rhein- und Wandermärchen: Waldmeisters Brautfahrt, worin der heitere Lebensgenuß am Rhein geschildert ist); Grabbe (dramatisiertes Märchen Aschenbrödel); Gustav zu Putlitz („Was sich der Wald erzählt,“ und das zartsinnige Luana); Pröhle (Kinder- und Volksmärchen 1853); Bube; Hans Herrig (Märchen und Geschichten 1878); Lang; Plönnies; Stolterfoth; Julius Rodenberg; Kopisch; v. Sallet (Schön-Jrla); Kinkel (Ein Traum im Spessart); Elise Polko (die singenden Blumen, Weihnachten im Walde &c.); Mörikes Märchen vom sichern Mann, sowie „Schiffer- und Nixenmärchen“) &c. Als groß angelegte und ausgeführte Märchen könnten Rückerts Hidimba, Sawitri, Nal und Damajanti &c. aufgefaßt werden. Von den Märchen fremder Nationen nennen wir aus Jndien das alte Erzählungswerk Pantschatantra (übers. v. Benfey 1859) mit vielen Märchen buddhistischen Ursprungs; die Märchensammlung des Somadeva (Sanskrit, deutsch v. Brockhaus), aus Persien und Arabien: die bereits erwähnten Märchen der 1001 Nacht (übers. v. Hagen, Schall, Habicht, G. Weil), Nechschebis Touti Nameh (das Papageienbuch, übers. v. Jken, 1822); aus Wales und Jrland: Mabinogion (übers. v. Lady Guest ); San Marte, die Arthur-Sage; Jrische Elfen-Märchen (übers. v. J. Grimm 1826); aus Serbien: Volksmärchen von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Kalmückisch sind die Märchen des Siddhi Kür, von Jülg, 1866. Weitberühmt sind die Märchen der Dänen Öhlenschläger und Andersen, (letztere mustergültig übersetzt durch Emil J. Jonas) u. a. § 109. Romanze und Ballade. Wir behandeln in diesem Paragraphen das für die Begriffsbestimmung charakteristische Allgemeine beider Formen. Sodann führen wir 2. das Besondere der Romanze und 3. das Eigenartige der Ballade vor. 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung von Romanze und Ballade. Romanze ist eine dem Süden entsprossene poetische Erzählung im Sinn und Geist des romantischen ritterlichen Heldenlebens des Mittelalters, weshalb sie südlich heiteren romantischen, oft pittoresken Charakter und Jnhalt hat. (Beispiele: Schillers Taucher; Handschuh; Kraniche des Jbykus.) Ballade ist eine dem nordischen Sagenkreis entreifte poetische Erzählung, eine Art nordischen, episch=lyrischen Volksliedes, weshalb sie nördlich ernsten, oft dämonisch=mysteriösen, tragischen, düsteren, plastischen Charakter trägt. Sie ist wie das nordische Volkslied für den Gesang bestimmt. (Beispiele: Bürgers Lenore; Goethes Erlkönig.) Romanze und Ballade sind kleinere erzählende Gedichte volkstümlicher Natur und lyrischer Färbung. Man könnte sie erzählende, lyrisch=epische, oder auch episch=lyrische Lieder nennen. Jhr Zweck ist Mitteilung eines epischen Stoffs, einer Begebenheit, einer Sage ohne subjektive Äußerung des Gefühls des Dichters, weshalb beide trotz ihres meist liedartigen strophischen Baues zu den epischen Dichtungsgattungen gehören. Sie werden oft mit einander verwechselt; sogar bedeutende Denker haben Romanze und Ballade nur für verschiedene Namen gehalten, welche verschiedene Völker für eine und dieselbe Dichtungsgattung gebraucht hätten. Diese Ansicht teilt selbst der sonst scharf sezierende Wackernagel. Ja, einzelne Dichter haben solche Gedichte, die den Namen Romanze verdienen, Balladen genannt und umgekehrt. Goethe nannte beispielsweise seine lyrisch=epischen Dichtungen nur Balladen, manche seiner Balladen und Romanzen jedoch Lieder. Auch Schiller nennt seine lyrisch=epischen Dichtungen Balladen, während er doch den Kampf mit dem Drachen und die Bürgschaft mit Recht als Romanzen bezeichnet. Uhland löst den Zweifel nicht, sondern wählt die gemeinschaftliche Überschrift: Balladen und Romanzen. Beiden Gattungen ist gemeinsam, daß die eine wie die andere erzählendes Volkslied sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen aber (und dies soll hier nachdrücklich betont werden, um der Verschwommenheit der Erklärungen entgegenzutreten) liegt in der Natur ihres Ursprungs und dem damit verknüpften Unterschied des Stoffes, zum Teil auch im Versmaße, indem die Romanzen meist in spanischen assonierenden, viertaktigen Trochäen abgefaßt waren, die Balladen hingegen in vierzeiligen Reimstrophen. Hiezu kommt die Charakterisierung der auftretenden Personen und des Tones, der aus ihnen spricht. Die Romanze ist der südlichen Natur entsprossen, die Ballade der nordischen, und der Unterschied dieser Naturen, vorzüglich der früheren alten Zeit, die an Mythus und Sage anstreift, giebt ein Hauptmerkmal des Unterschieds bei diesen Dichtungs-Gattungen. Durch unsere vorstehende bestimmte Auffassung werden beide Gattungen im voraus streng begrenzt, und wenn es vorkommt, daß mancher Dichter einen Balladenstoff romanzenhaft behandelt, oder einen Romanzenstoff balladenhaft, so ist eben ein Mangel des Dichterwerks vorhanden, welches bei aller übrigen Schönheit mindestens nicht den gegebenen Namen verdient. Aus dem Vorgeführten geht hervor, daß Uhlands Des Sängers Fluch eine Romanze ist, wenn auch eine sangbare; in gleicher Weise sind Balladen Heines Grenadiere und mehrere fälschlich sog. Romanzen seines Romancero. Ferner ist Ritter Toggenburg von Schiller eine Ballade. Desgleichen Goethes herrlicher Erlkönig, den der Dichter von „Elfenhöh“, der dänischen Ballade von Oluf, genommen. (Erlkönig ist falsche Übersetzung des Wortes Ellerkonge == Elfenkönig.) 2. Die Romanze. Romaneska. Romancero. 1. Romanze ( romance , spanisch romanza ) war ursprünglich ein in der lingua romana (oder lingua romanza == Volkssprache; Tochtersprache, im Gegensatz zur Muttersprache == lingua latina ) geschriebenes, erzählendes Lied, weshalb sie bei uns heutzutage mehr eine Art Erzählung südlichen, romantischen Charakters bildet, während die Ballade ein episch=lyrisches, zum Singen bestimmtes mehr nordisches Lied ist. 2. Jene Romanze, welche zu religiösen Stoffen greift, wird zur Legende. 3. Durch ihre lyrischen Zuthaten entfernt sich die Romanze wesentlich von der poetischen Erzählung. 4. Man unterscheidet rein epische und lyrisch epische Romanzen. 5. Eine kleine Romanze heißt Romaneska. Eine Romanzensammlung heißt Romancero. Unter Romanzencyklus versteht man eine Sammlung zusammengehöriger Romanzen. 1. Nach Ebers' Wörterbuch der englischen Sprache ist Romanze eine Art Dichtung in kurzen Versen, welche irgend eine alte Geschichte erzählt ( a Spanish Ballad, a sort of Poesy in short Verses, containing some ancient story ). Oder anderwärts ist nach ihm romance 1. eine erdichtete Liebes= oder Heldengeschichte, eine kriegerische Begebenheit aus den mittleren Zeiten, 2. eine Erdichtung (daher to romance == erdichten, lügen. Jn der Encyklopädie heißt es: Romance, vieille historiette écrite en vers simples, faciles et naturels. La naiveté est le caractère principal de la romance. Ce poëme se chante et la musique française, lourde et niaise, est très propre à la romance; la romance est divisée par stances etc .). Nach Pla y Torres Diccionario de la l. castell. (Paris 1826) ist Romance 1. Nuestro idioma ó lengua vulgar. 2. Cierta composicion de poesia española . Nach Booch-Arkossys Nuevo Diccionario (1868) ist Romance 1. span. Sprache, das Spanische 2. Romanze, heróico, ó real aus Elfsilblern bestehend, llano aus achtsilbigen Versen bestehend. Die Grundbedeutung ist in den romanischen Sprachen ein lyrisch=episches romanisches Gedicht, zunächst aber das volkstümlich spanische. So wird schon 1678 Romantze == Heldengedicht gebraucht. (Vgl. Weigand Deutsch. W. B. II . 487). Es bleibt sonach die romanische Sprache und der lyrisch=epische Ton und Gehalt das Wesentliche. Es sind die Momente des südlichen Lebens aus dem Mittelalter, welche sich in unserer Romanze abspiegeln. Während der Norden etwas Dunkles, Nebelhaftes, Ahnungsvolles hat in seinen schroffen Felsengebirgen, seinen Meerestiefen und Strandgebirgen, seinen brausenden Sturmeswehen und seinen aus diesen Natur-Elementen hervorgegangenen wunderbaren Gebilden von Göttern, Walküren, Elfen und Nixen, trägt das südliche erzählende Volkslied ein leichtes, helles, romantisches Gewand ─ dem blauen lichten südlichen Himmel, den klingenden Spielen und Kämpfen der romanischen Völker mit all ihrem Apparat des mittelalterlichen Rittertums, seiner Tapferkeit, Frömmigkeit und Liebe entnommen. Durch die Vermischung der Sprachen germanischer Völker mit der römischen Sprache war besonders nach der Völkerwanderung die lingua romanza ─ die Volkssprache ─ entstanden, und ein Lied in diesem Volksdialekt hieß anfänglich Romanze. Jndem die Dichter späterer Zeit vorzüglich das Mittelalter in seinem eigentümlichen Wesen von Andacht, Religion, Kunst (oft mit seinem Aberglauben) wieder heraufbeschworen und doch in gleich schwärmerischer Stimmung auch heidnische Kunstsagen, Kunstwerke und Natur behandelten, bezeichnete man sie mit dem Namen Romantiker. (Vgl. I. 88. II . S. 6.) Diese entlehnten besonders gern von den Spaniern und verpflanzten den Namen der Romanze zugleich mit der ursprünglichen Form des assonierenden, trochäischen Viertakters nach Deutschland. 2. Das Gebiet der Romanze wurde insoferne erweitert, als auch sagenhafter Stoff aus dem griechischen Altertume, sowie besonders religiöse, legendenartige Stoffe zu den Stoffen des Rittertums und seiner Feinde (der ungläubigen Saracenen in Spanien) hinzukamen u. s. w. 3. Von der poetischen Erzählung unterscheidet sich die Romanze durch den ihr eigentümlichen Geist romantischer Hingebung, christlichen Glaubenseifers, glühender Vaterlandsliebe, ritterlichen Mutes, unbefleckter Ehre und treuer Liebe, sowie dadurch, daß das eigentliche Jnteresse bei ihr nicht auf der Handlung selbst beruht, sondern mehr auf den Beweggründen, aus welchen diese entstanden ist. Der Dichter begnügt sich nicht damit, eine Begebenheit nur zu erzählen, sondern er stellt in derselben ein Beispiel von der Macht des sittlichen Prinzips auf, welches zum Sieg oder zur Vergeltung führt u. s. w. 4. Es giebt zwei Arten von Romanzen: a . rein epische Lieder in der ältesten Weise, zuweilen mit einem, die Thatsachen begleitenden, sie repräsentierenden Dialog (vgl. unten die Beispiele aus dem Cid); b . lyrisch=epische, ähnlich unsern Gedichten aus dem 12. Jahrhundert, mit einer abgerissenen epischen Situation beginnend, worauf lyrische Zustände dem Objekt der Dichtung an- und eingereiht werden. Beispiel: Uhlands Sängers Fluch. 5. Größere Sammlungen von Romanzen (Romanceros), wurden bei uns seit Ende des 16. Jahrhunderts veranstaltet. (Für unser Jahrhundert vgl. man z. B. Romancero von Elisabeth Glück, Heinr. Heines Romancero u. a.) Ein Romanzencyklus (auch Romanzenkranz) entsteht durch Aneinanderreihung von Romanzen, welche die Thaten und Schicksale eines bestimmten Helden behandeln. (Als Beispiel vgl. man Uhlands Romanzenkranz: Graf Eberhard der Rauschebart, welcher enthält: 1. Überfall im Wildbad, 2. Die 3 Könige zu Heimsen, 3. Die Schlacht bei Reutlingen, 4. Die Döffinger Schlacht.) Ein weiteres Beispiel ist der Romanzencyklus „Cid“ von Herder, eine bald mehr, bald weniger treue metrische Bearbeitung einer französischen Prosaübersetzung der spanischen, aus dem 13. bis 15. Jahrhundert herstammenden Cidromanzen mit manchem Originalen (z. B. das Zwiegespräch zwischen Cid und Ximene in der 14. Romanze u. a.). Die Vereinigung dieser Cidromanzen bildet eine Art romantisches Epos, welches die Geschichte des Cid erzählt, wie auch dessen große Siege über die Mauren. Beispiele der Romanze: No. 1 und 14 aus dem Romanzencyklus „ Der Cid “, von Herder. 1. (Herders Werke 14. Bd. S. 197.) Traurendtief saß Don Diego, Wohl war keiner je so traurig; Gramvoll dacht' er Tag' und Nächte Nur an seines Hauses Schmach, An die Schmach des edlen alten Tapfern Hauses der von Lainez, Das die Jnigos an Ruhme, Die Abarcos übertraf. Tief gekränket, schwach vor Alter, Fühlt' er nahe sich dem Grabe, Da indes sein Feind Don Gormaz Ohne Gegner triumphiert. Sonder Schlaf und sonder Speise, Schläget er die Augen nieder, Tritt nicht über seine Schwelle, Spricht mit seinen Freunden nicht, Höret nicht der Freunde Zuspruch, Wenn sie kommen ihn zu trösten; Denn der Atem des Entehrten, Glaubt' er, schände seinen Freund. Endlich schüttelt er die Bürde Los, des grausam=stummen Grames, Lässet kommen seine Söhne, Aber spricht zu ihnen nicht; Bindet ihrer aller Hände Ernst und fest mit starken Banden; Alle, Thränen in den Augen, Flehen um Barmherzigkeit. Fast schon ist er ohne Hoffnung, Als der jüngste seiner Söhne, Don Rodrigo, seinem Mute Freud' und Hoffnung wiedergab. Mit entflammten Tigeraugen Tritt er von dem Vater rückwärts: „Vater“, spricht er, „Jhr vergesset, Wer Jhr seid und wer ich bin.“ „Hätt' ich nicht aus Euern Händen Meine Waffenwehr empfangen, Ahndet' ich mit einem Dolche Die mit jetzt gebot'ne Schmach.“ Strömend flossen Freudenthränen Auf die väterlichen Wangen, „Du“, sprach er den Sohn umarmend, „Du, Rodrigo, bist mein Sohn.“ „Ruhe giebt dein Zorn mir wieder; Meine Schmerzen heilt dein Unmut! Gegen mich nicht, deinen Vater, Gegen unsres Hauses Feind „Hebe sich dein Arm!“ ─ „Wo ist er?“ Rief Rodrigo, „wer entehret Unser Haus?“ Er ließ dem Vater Kaum, es zu erzählen, Zeit. 14. (Herders Werke 14. Bd. S. 221.) Jn der stillen Mitternacht, Wo nur Schmerz und Liebe wacht, Nah' ich mich hier, Weinende Ximene, (Trockne deine Thräne!) Zu dir. Jn der dunkeln Mitternacht, Wo mein tiefster Schmerz erwacht, Wer nahet mir? Vielleicht belauscht uns hier Ein uns feindselig Ohr; Eröffne mir ─ Dem Ungenannten, Dem Unbekannten Eröffnet sich zu Mitternacht Kein Thor. Enthülle dich; Wer bist du, sprich! Verwaisete Ximene, Du kennest mich. Rodrigo, ja ich kenne dich. Du Stifter meiner Thränen, Der meinem Stamm sein edles Haupt, Der meinen Vater mir geraubt ─ Die Ehre that's, nicht ich, die Liebe will's versöhnen. Entferne Dich! unheilbar ist mein Schmerz. So schenk', o schenke mir dein Herz; Jch will es heilen. Wie? zwischen dir und meinem Vater, ihm! Mein Herz zu teilen? Unendlich ist der Liebe Macht. Rodrigo, gute Nacht. Als allbekannte Beispiele seien ferner genannt: Goethes Braut von Korinth, Der Sänger; Schillers Kraniche des Jbykus &c. Litteratur der Romanze. Gute Romanzen finden sich außer den oben genannten bei: Stolberg (Jn der Väter Hallen ruhte); Gotter (Röschen und Lukas); A. W. Schlegel (Arion); Just. Kerner (Das treue Roß); Körner (Harras, der kühne Springer); Graf v. Strachwitz (Das Herz von Douglas); Felix Dahn (Ralph Douglas); H. v. Mühler (Die Schlacht bei Morgarten); Meinhold (Karl XII . und der pommersche Bauer Müseback); Minding (Fehrbellin); Rückert (Johanna Stegen); Goethe (Der König in Thule); Schiller (Der Gang nach dem Eisenhammer, sowie die mustergültige Bürgschaft, welch letztere stofflich aus den Fabeln des Hyginus entlehnt ist; vgl. auch Porphyrius Leben des Pythagoras 59. und Ciceros Tusculanae 5. 22, sowie de finibus 2. 24, 79.); Uhland (Graf Eberhard der Rauschebart, Sankt Georgs Ritter, Bertram de Born, Der blinde König); L. Lesser (Die Schlacht bei Xerez, Julia, Die Liebesboten); Fontane (Archibald Duglas); J. Mosen (Andreas Hofer, Der Trompeter an der Katzbach); A. Möser; K. Stelter; K. Zettel und viele andere. Die Heldenthaten des Cid (mit dem Beinamen Campeador, d. i. Kampfesheld, † 1099 in Valencia) haben uns Herder, Duttenhofer, Regis u. a. in's Deutsche übertragen. Andre spanische Romanzen vermittelte uns Geibel in: Volkslieder und Romanzen der Spanier Berl., 1843; Johannes Fastenrath in: Ein spanischer Romanzenstrauß. 1866; sowie die Wunder Sevillas. 1867. &c. 3. Die Ballade. 1. Der Name Ballade stammt ─ wie S. 269 unter 1 nachgewiesen ─ aus dem Keltischen und bedeutet ursprünglich Volkslied. 2. Zur Ergänzung des Begriffs Ballade (1 und 2 dieses §) läßt sich aus der Geschichte der Ballade hinzufügen: 1. Die Ballade wird gesungen: in der Vorzeit in Königspalästen und Schlössern, in den neueren Zeiten in Häusern und auf der Gasse; 2. Sie erzählt irgend eine alte oder neuere Geschichte und ist somit der Bericht einer geschichtlichen Begebenheit, entsprechend jenem Ton, wie er im nordischen ernsten Volkslied herrscht. 3. Der dem Norden entnommene Stoff verleiht der Ballade im Gegensatz zur südlichen Romanze ihren ernsteren Charakter. 4. Die Ballade liebt den Ton des Volkslieds. 5. Wie die Volkslieder, so haben auch die Volksballaden viel gemeinsame Grundzüge, so entspringen sie wenigen einfachen Grundthematen. 6. Die Ballade liebt Reimverse und kurze volksmäßige Strophen. 1. Man hat mehrfach (vgl. Diez Etym. W. B. 3. p . 49) den Namen Ballade vom italienischen ballata (ballare ) hergeleitet, welches soviel als Tanzlied bedeutet und entweder von balla == Ballspiel stammt, oder vielleicht mit diesem vom griechischen βάλλω == werfen (Ballspiel), was beides in die Bedeutung Tanzen überging. Aus diesem Grunde wurde der Begriff Ballade allgemein als Lied entwickelt, welches so beschaffen sein müsse, daß man im Absingen nach dem Rhythmus desselben tanzen könne. Nun ist aber diese Ableitung, welche in bezug auf Entstehung keinen Unterschied zwischen Ballade und Romanze zulassen würde, eine irrige. Vielmehr stammt das Wort nachweislich von dem altbritischen, keltischen gwaelawd (sprich wallad ) und bedeutet Volkslied: also nordisches Volkslied, Gassenlied. Dieser Ableitung begegnen wir auch bei Ebers, welcher Ballad als Gassenlied übersetzt. To balled heißt nach ihm Lieder machen, Lieder singen und » balled singer « ist ihm jemand, der Gassenlieder (Lieder auf der Straße) singt. Der Vollständigkeit halber fügen wir noch einige andere Definitionen bei. Der alte Mozin ─ Biber 1826 meint: ballade: espèce d'ancienne poésie française [ungenau], qui était composé de 3 couplets par les mêmes rimes et terminés par le même vers, avec un envoi . Nach Abb é Gattel ( Nouveau dictionnaire espagnol et français etc .) ist Ballade eine französische Versart bestehend aus Couplets mit einem Refrain ( composition de poesia francesa, que se dividia en coplas con un mismo estribillo ). Auch andere erklären Ballade für eine Art altfranzösischer Verse etwa von 3 Strophen, jede von 8 oder 10 Versen, deren letzter Vers allzeit einerlei sei (also Refrain) und wobei immer einerlei Reimsilben von 2, 3 oder 4 Reimen bleiben u. s. w. 2. Alle Balladen, die bei uns populär wurden, erzählen nur alte Geschichten. Dies war aber nicht immer so. Die heidnische Vorwelt des Nordens hatte ─ wie das christliche Mittelalter ─ ihre Barden und Sänger, welche auch die Thaten ihrer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit in Liedern feierten. Ganz ist diese Form der Ballade bei uns nicht ausgestorben; dies beweisen die Proben aus dem Befreiungskriege und namentlich aus dem letzten Kriege 1870─71 (vgl. die S. 107 d. Bds. erwähnte Sammlung von Lipperheide). Da Deutschland zwischen Süden und Norden in der Mitte liegt, so kann es nicht fehlen, daß auch seine Volkslieder halb der Ballade halb der Romanze angehören, obwohl sie sich mehr der Ballade zuneigen, besonders die aus dem letzten Kriege, die recht gut den Stoff zu einem großen Nationalepos abgeben könnten. Manche Ballade könnte als ein kleines Epos angesehen werden, wenigstens als Keim eines solchen. 3. Der Stoff unserer volkstümlichen Ballade ist jener nordischen Mythenzeit entnommen, die im Halbdunkel und Zwielicht Götter und Menschen und Naturkräfte beseelt, symbolisiert oder verwechselt: die Luft mit dem wilden Heere, die Seen mit Elfen und das Meer mit boshaften Geistern belebt, welch letztere das Schiff im Schaum der Brandung an den Klippen zerschellen lassen oder keuchend im Sturm durch die Wogen jagen. Daher ist zum Unterschied von der bloßen Sage und der Romanze in der Ballade immer etwas Schauerliches, Nebelhaftes, Tragisches, Mysteriöses, dämonisch Unheimliches vorherrschend, wozu sich ursprünglich noch ein düsterer, melancholischer, oft rauher Charakter gesellt. Jn der Ballade spiegeln sich eben die Eindrücke der Natur, des Glaubens und der Beschäftigung des nordischen Bewohners auf sein Gemüt ab. Meist bezeichnet sie daher etwas Tragisches, Rätselhaftes, Ahnungsvolles. Dieses Charakterisierende, das ihr die Abstammung aus den Elementen der nordischen Natur und Anschauungsweise aufprägt, bedingt es, daß die Ballade in ihrem musikalischen Wesen mehr als die Romanze Volkslied ist, freilich ein episches Volkslied, bei welchem der Dichter viel Subjektives zum Gegenstand giebt, im Gegensatz zur Romanze, die ihrem Zweck nach romantische Erzählung ist. Das Sangbare der Ballade geht auch aus der Form des Liedes mit gleichmäßigen der nordgermanischen Poesie eigentümlichen Strophen und Reimen hervor, während bei der Romanze gerade die Freiheit in der Kunstform (man vgl. die Proben aus dem Cid &c.) ein Charakteristikum bildet. 4. Die Anlage der Erzählung und die Sprache ist einfach, oft nicht klar und fließend, sondern den weitern Zusammenhang nur erraten lassend. Dadurch behält sie den volkstümlichen, volksliedartigen Charakter und geht leicht in's Volk über. Bei der Tiefe und Bedeutsamkeit des Erzählten erhält die ungekünstelte Darstellung erst den rechten Ausdruck durch den Gesang. Das Wort deutet an, die Musik führt aus. Deswegen hat die Ballade so viel Lyrisches, wie keine andre epische Dichtungsart, und bildet so recht das Verbindungsglied zwischen Epik und Lyrik. 5. Die Volksballaden des nordischen Volkes zeigen viel Verwandtes. Alle Volkspoesie ist sich nahe verwandt, sowohl die des einen Volks, wie auch die aller germanischen Stämme. Wenige Grundzüge treten hervor. Wir finden oft 2, 3, 4 Balladen, jede von besonderer Schönheit und hohem Jnteresse ─ und doch sind sie nur Variationen des Grundthemas. Ein Dichter hörte z. B. des anderen Ballade von der Bezauberung des Knaben durch Elfenreize singen. Jn seiner Erinnerung blieb das Wesentliche ─ und er sang dasselbe Lied nach, nur mit veränderten Worten, vielleicht auch mit Hervorhebung anderer Bilder, welche ihn besonders ergriffen hatten, oder welche ihm bedeutungsvoller erschienen sind. Jn vielen Balladen treten immer die gleichen Grundthemata hervor: Der Braut stirbt der Bräutigam; treue Liebende gehen unter durch die Macht des Schicksals; ein vermeintes Unglück löst sich auf in Lust und Freude u. s. w. Was anders ist die poetische Erfindung unserer Halbdichter und Romanmacher, als Variation in der Komposition? Die Farben ─ ja auch die Formen ─ sind wie im Kaleidoskop schon vorhanden. Einst können freilich auch die Variationen erschöpft werden, aber diese Erörterung liegt außerhalb menschlicher Berechnung. Jemehr der Dichter darauf ausgeht, absonderliche Situationen zu erfinden, umsomehr entfernt er sich von der Natur der ursprünglichen Volkspoesie; pikante Situationen haben nur das Jnteresse der Neuheit. Die Volksballaden, welche über die Zeit den Sieg davon getragen haben, beruhen auf den allereinfachsten Verhältnissen. 6. Selbstverständlich muß der Balladendichter der deutschen Gegenwart sangbare Verse und Strophen bilden, wodurch ein Versmaß wie das des Hexameters von selbst ausgeschlossen ist. Am häufigsten findet man Jamben, mit eingemischten, die Bewegung erleichternden Anapästen, ferner meist männliche Endreime, wie Binnenreime neben Alitteration und Annomination. Außerdem Tonmalerei zur Hervorbringung der großen Wirkung, was indes (vgl. die Bürgschaft v. Schiller) auch für die Romanze gilt, welche nicht selten trochäische Verse mit weiblichen Reimen hat. Jn der leichten dem Volksliede abgelauschten Anwendung metrischer, sprachlicher Kunstmittel der Ballade liegt das Geheimnis ihrer gewaltigen Wirkung (Beispiel: Lenore, von Bürger). Beispiele der Ballade: Der Wassermann (Herders Werke 16. Bd. S. 363). „O Mutter, guten Rat mir leiht, Wie soll ich bekommen das schöne Maid?“ Sie baut ihm ein Pferd von Wasser klar, Und Zaum und Sattel von Sande gar. Sie kleidet ihn an zum Ritter fein, So ritt er Marienkirchhof hinein. Er band sein Pferd an die Kirchenthür. Er ging um die Kirch' dreimal und vier. Der Wassermann in die Kirch' ging ein, Sie kamen um ihn, groß und klein. Der Priester eben stand vorm Altar; „Was kommt für ein blanker Ritter dar?“ Das schöne Mädchen lacht in sich: „O wär der blanke Ritter für mich!“ Er trat über einen Stuhl und zwei: „O Mädchen, gieb mir Wort und Treu.“ Er trat über Stühle drei und vier: „O schönes Mädchen, zieh' mit mir.“ Das schöne Mädchen die Hand ihm reicht': „Hier hast meine Treu', ich folg' dir leicht.“ Sie gingen hinaus mit Hochzeitschar, Sie tanzten freudig und ohn' Gefahr, Sie tanzten nieder bis an den Strand, Sie waren allein jetzt Hand in Hand. „Halt', schönes Mädchen, das Roß mir hier! Das niedlichste Schiffchen bring' ich dir.“ Und als sie kamen auf'n weißen Sand, Da kehrten sich alle Schiffe zu Land! Und als sie kamen auf den Sund, Das schöne Mädchen sank zu Grund. Noch lange hörten am Lande sie, Wie das schöne Mädchen im Wasser schrie. Jch rat' euch, Jungfern, was ich kann: Geht nicht in Tanz mit dem Wassermann. Weitere bekannte Beispiele der Ballade sind: Goethes Erlkönig, Bürgers Lenore &c. Litteratur der Ballade. Volkstümlich war die Ballade schon im 11ten und 12ten Jahrhundert in Nord-England, wo sie der Erzählung ritterlicher Abenteuer in einfacher Sprache diente, welche von den sogenannten Minstrels mit Harfenbegleitung vorgetragen wurden. Den Namen Ballade erhielt sie in Vorder-England und Schottland im 14. Jahrhundert. Auf deutschen Boden wurde sie durch Herder mit glänzendem Erfolg verpflanzt, so daß sie eine Zierde unserer Litteratur bildete. Er übersetzte teilweise die durch Percy gesammelten schottischen Volkslieder: Reliques of ancient english poetry 1765, in welcher Form sie dem ersten Balladendichter Deutschlands, Bürger, vorlagen, dem auch das Volkstümliche und eigenartig Geheimnisvolle, oft Schauerhafte jener Natur= Poesien durch Übersetzung oder freie Nachbildung wiederzugeben gelungen ist. Derselbe und die folgenden Kunstdichter haben häufig geeignete Stoffe in der beschriebenen volkstümlichen Art behandelt. Sie haben aber auch oft in ihre Darstellung eine tiefere Jdee gebracht. Dadurch ist die Ballade von ihnen zur Kunstpoesie erhoben worden, den Gebildeten verständlich in ihrer Tiefe und in ihrer andeutenden Sprache, den Ungebildeten wenigstens ahnen lassend, was darin liegt, ohne ausgesprochen zu sein. Weiße, Löwen († 1773), Gleim, Schiebeler haben schon vor Herder und Bürger einzelne Nachahmungen fremder Balladen geliefert. Goethe drückte auch einigen parabelartig gebildeten Balladen den Stempel des Echtdeutschen auf. Jm Erlkönig hat er die deutsche Normal-Ballade geschaffen. Er zeigt weniger, wie die deutsche Ballade ist, als wohin sie streben soll, indem sein Erlkönig alle germanischen Elemente in der höchsten Kunst-Vollendung dieser Volksdichtung umfaßt. Trefflich sind auch seine Balladen: Der untreue Knabe, Der Totentanz, Die wandelnde Glocke, Der Fischer, Der Schatzgräber &c. Schiller verarbeitete meist fremde Stoffe. Sein Ring des Polykrates, der sich der Romanze nähert, Der Taucher &c. sind nicht eigentliche Balladen. Diese Gedichte könnten als eine besondere Erzählungsart mit subjektiver Behandlung aufgefaßt werden, als eine Gattung, welche im Präsens erzählt. Sein Ritter Toggenburg ist eine deutsche Ballade. Krug von Nidda ist neben Schiller und Goethe Meister in der Form der Ballade. Leider sind die von ihm gewählten Stoffe nicht sehr bedeutend. Schwabs Dichtungen dieser Art nähern sich den Romanzen, wenn sie auch die deutsche Vorzeit besingen; auszunehmen ist Der Reiter und der Bodensee. Uhland hat das Leben der englischen, altdeutschen, dänischen und spanischen Völker durchstudiert und in seine Balladen aufgenommen. Doch ist sein Feld mehr die spanische Romanze, in welcher er Treffliches geleistet hat (z. B. Don Massias, der Verliebte). Mustergültig sind von ihm: König Karls Meerfahrt, Das Glück von Edenhall, Junker Rechberger, Klein Roland, Der gute Kamerad, Das Schloß am Meer. Des Sängers Fluch ist, wie erwähnt, nicht Ballade, sondern Romanze. Chamisso (Die Löwenbraut); Zedlitz (Die nächtliche Heerschau); A. Grün (Deserteur); Lenau (Die 3 Zigeuner); Hölty (Adelstan und Röschen u. a.); Platen (Das Grab im Busento); Heine (Die Loreley); Kerner (Zwei Särge); Mörike (Die Geister am Mummelsee, ist auch als Märchen zu bezeichnen); Gust. Pfizer (Ezzelin, Tartarenschlacht, Der stolze Feldherr, Das Bild aus Rom); Vogl († 1866, den man nicht mit Unrecht den Vater der österreichischen Ballade nannte); Alexis Aar; Geibel; Frantz; Freiligrath; Karl Ebert (Der Sänger im Palast, Frau Hitt); Luise von Plönnies (Herr Olof, Die Wette, Die Nonne); Bube; Simrock; Hoffmann von Fallersleben; Brentano; Eichendorff; Theod. Fontane; Collin; Tiedge; Herrig; Hertz; Lepel; Lingg; Ad. Grimminger (Des Meeres Geheimnis); Alexander Kaufmann (Die Hexe von Staffelstein &c.); Amara George (Klein Christel &c.); A. Meißner; Mosen; W. Müller; R. Prutz; E. Rittershaus; Seidl; Jul. Sturm; M. Blanckarts; Alb. Träger; Lesser (Der Meermann &c.) u. a. A. Mösers Balladen verdienen fast alle den Namen poetische Erzählungen. Rückerts Balladen sind mehr durch moralische als epische Objektivität eigentümlich. Nur wenige, mehr im Sinne und Geiste des Volksliedes, sind ihm vollkommen gelungen, (z. B. die Sage vom Barbarossa, Die drei Gesellen, Des Mohrenkönigs Günstling; in diesen hat er fast überall den rechten Ton angeschlagen und stört nicht durch epische Breite und überlästige Malerei. Sein Alpenjäger ist rednerisch bedeutend, und seiner Goldenen Hochzeit, welche den von Hebel, Trinius, Pfizer u. a. gefeierten Bergknappen von Falun besingt, ist nächst Hebels Dichtung unter den übrigen der Preis einzuräumen.) Über Balladenpoesie vgl. Will. Alexis in Hermes 1824. ─ Eine größere Sammlung von Romanzen und Balladen wurde von Jgnatz Hub mit kurzen Biographien der einzelnen Dichter herausgegeben. Die Sammlung streift jedoch das Gebiet alles dessen, was nur annähernd sich der Romanze und Ballade nähert, (wie Sage, poetische Erzählung, Mythe, Episoden aus größeren epischen Dichtungen &c.) und macht auch in der Vorführung keinen äußerlichen Unterschied zwischen diesen Dichtungsarten. Noch erwähnen wir als freundliche Sammlung mit Jllustrationen: Balladenkranz aus deutschen Dichtern gesammelt von Dr . G. Wendt, Berlin 1866 &c. § 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied. 1. Man versteht unter Epos eine umfangreiche, großartige, auf breitester Grundlage ausgeführte, erzählende Dichtung in metrischer Form, die ein bedeutsames, umfassendes Ereignis, ein der Vergangenheit angehöriges, möglichst vollständiges Zeit- oder Weltbild entrollt. Oder man nennt Epos eine Reihe kunstvoll und einheitlich in einander verarbeiteter Sagen, Mythen, Begebenheiten. Nicht um eine einzelne Begebenheit, wie in den oben abgehandelten kleineren epischen Dichtungsarten handelt es sich im Epos, sondern um mehrere derselben, um ein ausgeführtes Schicksalsbild eines bedeutenden Menschen. Da das Epos nicht im Werden begriffene Thaten (wie das Drama) vorführt, sondern bereits geschehene Fakta erzählt, so sind hier (im Gegensatz zum Drama) die Ereignisse die Hauptsache und die Helden sind nur die Träger derselben. Epos als Heldengedicht heißt auch Epopöe. Diese Bezeichnung wenden Manche einseitig für Volksepos im Gegensatz zum Kunstepos an. 2. Den Mittelpunkt des Epos bildet ein Held. Er ist Träger und Lenker der Handlung. Von ihm erhielt das Epos den deutschen Namen Heldengedicht. Dem Helden untergeordnet sind die Nebenpersonen des Epos: die sog. epischen Charaktere, die zum Teil als Nebenhelden erscheinen. 3. Alles was sich mit der Person des Helden ereignet, bildet die Haupthandlung. Diese liebt verweilenden Gang: die sogenannte epische Breite. 4. Dadurch begünstigt sie Nebenhandlungen, Schilderungen, Episoden, welche die Vereinigung verschiedener Sagen und die Herbeiziehung des Wunderbaren gestatten. 5. Der Stil des Epos verlangt Ruhe und Würde. 6. Die äußere Form des Epos ist dem Belieben des Dichters anheimgegeben. 7. Die Übersichtlichkeit bedingt Abschnitte. 8. Schmückende, mehr zufällige Bestandteile oder Eigentümlichkeiten des Epos sind: Proposition, Jnvokation, Gleichnis. 1. Das Epos bringt durch umständliche Darlegung der bedeutungsvollen Schicksale des Helden und der Charaktere für ein ganzes Volk oder für die ganze Menschheit das Gefühl des Erhabenen zur lebendigen Anschauung und zwar in der Form der höchsten, durch Sprache darzustellenden Schönheit. 2. Der Held kämpft gegen das feindliche Schicksal an, wobei er sich selbstverständlich durch äußere Würde und Stärke des Charakters auszeichnen muß, um eben als Hauptperson zu erscheinen. Andere ihm untergeordnete, ihn unterstützende oder bekämpfende Personen (Nebenhelden) heißen auch die epischen Charaktere. Es ist zulässig, daß zwei oder mehrere Hauptpersonen in demselben Epos auftreten; aber dann müssen sie in enger Beziehung zur Schlußhandlung (Katastrophe) stehen, diese hindernd oder fördernd. Auch darf durch sie nie die Einheit (d. i. die Beziehung der Einzelbegebenheiten, Einzelhandlungen zur Hauptperson) verletzt werden. Das Kunstepos hat meist nur eine Hauptperson, das Volksepos mehrere. Schon in Homers Jlias finden wir neben Achill mehrere Helden. Und in der Nibelungen Not fällt zwar die größte Bedeutung auf Siegfried und Kriemhilde; aber auch die übrigen Personen (Dietrich, Hagen, Rüdiger) sind nicht bloße, unwesentliche Nebenfiguren. Haupthelden kann man hier eigentlich keine Charaktere nennen. Siegfried fällt, bevor das Epos zur Hälfte vollendet ist. Dietrich tritt erst nach der Mitte desselben auf, seine volle Bedeutung erst am Schluß erreichend; von den übrigen imponierenden Heldengestalten (Kriemhilde, Hagen, Rüdiger) weiß keine einzige unsere Teilnahme ausschließlich in Anspruch zu nehmen, keine vermag die übrigen Personen zu bloßen Nebenfiguren herabzudrücken, oder sie in den Hintergrund zu schieben. Vielmehr hat jede Figur ihren eigenartigen, berechtigten Platz, das Jnteresse erstreckt sich auf alle gleichmäßig. Jn den Charakteren des epischen Dichters muß sich der Charakter ganzer Menschenklassen abspiegeln. Die Charaktere können daher nicht immer sittliche Jdeale sein. Da von dem Charakter des Helden (oder der Helden) die Begebenheit in ihrem Ursprung und in ihren Folgen abhängt, so muß dieser Charakter wahr sein und in seiner Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß sich der Dichter nicht direkter und indirekter Jdealisierung bedienen könnte, um den Total-Eindruck zu mehren, das Jnteresse zu heben, die Anschaulichkeit zu beleben, und die Wirkung zu steigern. (§ 27 d. Bds.) Nicht eine Charakteristik darf der Epiker liefern, aber fertige Charaktere muß er bieten, darstellen. Die alten Epiker haben zur Erreichung dieser Forderung die fortschreitenden Ereignisse mit fortschreitender Rede ihrer Personen begleitet und neben den Thatsachen den mit diesen verwobenen Dialog einhergehen lassen, also eine Art dramatisches Element mit ihrem epischen Stoff zu vereinen gewußt, wodurch sie (z. B. in den Schlachtenschilderungen der Jlias, oder in der Nibelungen Not, in Hildebrand und Hadubrand &c.) den Charakter außerordentlich plastisch wirksam erscheinen ließen. 3. Den leitenden Faden bildet im Epos ein Hauptmoment aus der Lebensgeschichte des Helden: die Haupthandlung. Die Wichtigkeit dieser Haupthandlung, welche Einfluß auf das Wohl und Wehe einer Welt haben kann (z. B. in Stoffen wie Sündenfall, Sindflut, Kreuzzüge &c.), berechtigt den Dichter bei allem mit ihr in Beziehung Stehenden zu verweilen, um die einzelnen Ereignisse, Situationen und lokalen Verhältnisse, den Ort der Handlung, den Charakter, Zeit, Sitten und Gebräuche des Volks, Einrichtungen des Staats, Familienbeziehungen, religiöse und sociale Anschauungen, Bekleidung, Wohnung, Lebensweise &c. möglichst anschaulich und bis in's Detail zu malen und einem Grundzug des Epos: der Breite der Anlage ─ gerecht zu werden. Alles hat für die ruhige Schilderung des Gesamtbildes poetisches Jnteresse. Gruber hat richtig bemerkt, daß die Gangart des Epos keine Reise sei, wo man ein vorgesetztes Ziel mit unruhiger Ungeduld zu erreichen bemüht ist, sondern daß das Epos mehr einer zur Lust am schönen Tage auf dem ruhigen See unternommenen Fahrt gleiche, wo man sich in behaglicher Gemütlichkeit den Gegenständen hingiebt, und gern bei jedem verweilt, ohne ungeduldiges Weiterstreben, wofern nur die Gegenstände nicht an sich unangenehmer Natur sind, oder des Jnteresses ermangeln. Mit Vorliebe verweilt der Epiker bei jedem Schritte seiner Bahn; er befleißigt sich einer gewissen Umständlichkeit durch Einflechtung vieler retartierender Motive, welche seinen Gang aufhalten, seinen Weg verlängern. Eile verträgt das Epos nicht, sie widerstrebt seinem Wesen. Der sogenannte rasche Gang gebührt dem Drama mit seiner werdenden, allezeit gegenwärtigen Handlung, nicht aber dem Epos mit seiner vergangenen. Nur dann schleicht die Handlung (nach Jean Paul), wenn sie sich wiederholt, und sie stockt nur dann, wenn eine fremde statt ihrer geht; aber nicht dann, wenn die in der Ferne große in immer kleinere in der Nähe, gleichsam der Tag in Stunden auseinander rückt. Die Umständlichkeit darf keine tote und keine pittoreske sein, sondern alles muß entspringend und fortschreitend vorgestellt werden, wie es uns z. B. Homer zeigt. Die ausführliche Schilderung, wie sie dieser Dichter bei der Bekanntgabe einer Lanze, eines Schildes &c. giebt, ist jedoch wenigstens im modernen Epos nicht nötig, ja, sie würde hier ermüden. Der moderne Dichter hat ein verständigeres Publikum als Homer, der im Zeitalter der beginnenden Kultur nur wenig voraussetzen durfte. Jmmerhin ist auch für uns die bereits Bd. I S. 14 skizzirte malende Methode bei Homer beachtenswert, besonders für die Veranschaulichung weniger nahe liegender Gegenstände. Hier darf auch das moderne Epos im Homerischen Stil ausgeführte Schilderungen, eine gewisse Behaglichkeit im Ausmalen &c., d. h. die sogenannte epische Breite in der Darstellung anwenden und außerdem noch etwa durch die Einfachheit und Natürlichkeit der im Epos vertretenen Personen motivieren. (S. 41 d. Bds.) Hindernisse in der Laufbahn des Helden herbeischaffen, heißt (sinnbildlich) den Knoten schürzen, sie beseitigen heißt ihn lösen. Der Ausgang der Haupthandlung des Epos ist wie im Drama die Katastrophe. Diese muß unsere sittliche Anschauung befriedigen. Wenn auch der Tugendhafte unterliegt, so muß unser Gefühl und unsere Vernunft ihm doch einen gewissen Triumph nicht versagen dürfen. Auch in seinem Untergang muß er größer erscheinen, als der äußerlich siegende Bösewicht &c. 4. Die von dem Dichter zur Beförderung des Jnteresses und zur nähern Jllustration des Helden eingeschalteten Episoden (Zwischen- oder Nebenhandlungen), wenn auch an und für sich nicht unbedeutend, müssen allezeit der Haupthandlung untergeordnet sein. Sie dürfen nicht außerhalb des Kreises liegen, den die Jdee beherrscht. Die Episoden im Epos sind wenig empfehlenswert am Ende, wo der Fluß nicht mehr gehemmt werden sollte. Es ist gestattet, in den Episoden Sagen aus verschiedenen Zeiträumen zu vereinen und daher Personen verschiedener Zeiten zusammenzustellen (z. B. im Nibelungenepos den Bischof von Passau mit den Nibelungen), wenn sie nur in kausalem Zusammenhang stehen; ferner darf sogar Wunderbares, oft menschliche Verhältnisse Übersteigendes herbeigezogen werden, um den oder die Helden groß und erhaben darzustellen. Freilich muß der Dichter in der Wahl und Anwendung solcher Mittel behutsam verfahren. Er darf sich wohl auf dem Gebiet einer neuen und ungewohnten Darstellung bewegen, aber die Mittel, die er zur Vollendung des Ganzen selbst zu erfinden oder wegen ihrer inneren Erheblichkeit anzuwenden berechtigt ist, müssen natürlich gehandhabt werden. 5. Da die Darstellungsweise des Epos in Handlung und Gestalt eine plastische zu sein hat, so muß sein Stil epische Ruhe und Würde beweisen. (Homer hat diese unter Vermeidung der Jnterpunktion in den letzten Takten des Hexameters dadurch erzielt, daß er das praesens historicum vermied und die Reden mittelst stehender Wendungen abschloß und durch ausführliche Gleichnisse und wiederkehrende Epitheta, wie endlich durch versus iterati ausstattete.) Der Ton im Epos kann übrigens sehr verschieden sein (vgl. z. B. Jlias I. 528. 599. XV . 15 ff. VI . 429 f. 476. ─ I . 325 und X . 15.), sowie Laune und Spott in der Rede des Thersites. (B. II . 211─244.) 6. Die Wahl der Form im Epos steht dem Dichter frei, und es handelt sich nur darum, daß diese Form im Einklang mit dem Jnhalt und den Forderungen an die mündliche Mitteilbarkeit stehe. Das Metrum muß sich zum poetischen Stoff verhalten, wie Einheit zur Mannigfaltigkeit. Es darf nicht zu kunstlos sein, wenn es nicht den idealen Gehalt der Anschauung in zu große Nähe zur prosaischen Wirklichkeit bringen will; andernteils sollte es nie zu prätentiös künstlich sein, um nicht die Aufmerksamkeit des Hörers oder Sängers von dem Wesen der Dichtung abzulenken. Die alten Jnder bedienten sich für ihr Epos des Sloka (Bd. I . 596); das antike Versmaß der Griechen war der Hexameter. Die Römer wandten erst den sogenannten saturnischen Vers an, einen ursprünglich durch eine Cäsur geteilten aus 6 Arsen bestehenden Vers, dessen erstes Hemistichium 3 ½ Jamben, das zweite 3 Trochäen hatte, z. B. Dabúnt malúm Metélli ‖ Nǽvió poétae ; sie vertauschten diesen Vers später gegen das Nationalmetrum der Griechen, als an Stelle ihrer nationalen Poesie die gräcisierende trat. Die ruhige Würde des klassischen Epos gestattete keinen Wechsel des Verses, weshalb die Komposition eine monostichische ist, indem sich immer derselbe Vers wiederholt, dem freilich durch Cäsuren, Diäresen und den Wechsel von Daktylen, Spondeen &c. die Gleichförmigkeit und Monotonie genommen ist. Die Germanen hatten erst allitterierende Reimpaare, oder eine vierzeilige Reimstrophe, worauf die Nibelungenstrophe folgte: also durchweg Accentverse mit beliebigen Thesen. Wieland wandte im Oberon die von ihm frei bearbeitete Oktave an. (Bd. I 552.) Auch Schiller empfahl die Oktave für ein modernes Epos. (Bd. I S. 551.) Neuere Dichter wählen den Alexandriner oder auch (Kastropp im Kain) den jambischen Fünftakter. W. Jordan hat herrliche deutsche Accentverse mit 4 Hebungen angewandt (Bd. I S. 380) u. s. w. Das Nationalmetrum der Serben ist der trochäische Fünftakter mit fester Cäsur hinter dem 2. Trochäus. Die romanischen Völker bedienten sich des Dekasyllabus und des Alexandriners. Tasso und Ariosto wandten die mehr lyrisch verwertete Oktave ( ottave rime ) an. 7. Die extensive Ausdehnung des Epos macht Abschnitte nötig, welche bei verschiedenen Dichtern verschieden benannt sind, z. B. bei den alten Griechen Rhapsodien, im Mittelhochdeutschen Aventiuren, in der Neuzeit Gesänge. Als Bestandteile, zugleich als Schmuck, sind in den Epen ersichtlich: a . Das Proömium ( προοίμιον == der Eingang), oder der Hinweis auf Bedeutung und Charakter der Handlung gleich am Anfange. Als Beispiel vgl. Homer (Jlias, übersetzt von W. Jordan): Singe vom heillosen Zorn des Achill, des Peleiden, o Göttin, Der unermeßliches Leid den Achäern stiftete, Scharen Mutiger Seelen der Helden als Beute dem Hades dahinwarf; Hunden hingegen zum Fraß und jeglichem Vogel der Lüfte Preis ihre Leichname gab. So geschah, was beschlossen bei Zeus war, Seit nun einmal die zwei, Agamemnon der Männergebieter Und der erhabne Achill, sich verfeindet hatten in Zwietracht. Oder Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, übersetzt von Gries): Den Feldherrn sing' ich und die frommen Waffen, So des Erlösers hohes Grab befreit. Viel führt' er aus, was Geist und Arm geschaffen, Viel duldet' er im glorreich kühnen Streit. Und fruchtlos droht die Hölle, fruchtlos raffen Sich Asien auf und Libyen, kampfbereit; Denn Gottes Huld führt zu den heil'gen Fahnen Jhm die Gefährten heim von irren Bahnen. Oder Klopstock (Messias): „Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung.“ b . Die Jnvokation, oder die Anrufung eines höheren Wesens oder der Musen, die dem Dichter bei seinem schwierigen Beginnen helfen mögen; z. B. Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, I . Ges. 2. Strophe): O Muse, die mit welken Lorbeerkronen Nie auf dem Helikon die Stirn umflicht, Doch die im Himmel, wo die Sel'gen wohnen, Strahlt mit des Sternenkranzes ew'gem Licht: Hauch' in die Brust mir Glut aus Himmelszonen! Erleuchte du mein Lied und zürne nicht, Füg' ich zur Wahrheit Zier, schmück' ich bisweilen Mit andrem, als nur deinem Reiz die Zeilen. Oder Kastropp (Heinr. v. Ofterdingen): Frau Aventiure, dich ruf' ich an, Jch verlange zu schauen Durch deines Zaubers gewaltigen Bann, Vergangene Pracht, Minnige Frauen Und Helden voll Macht! u. s. w. c . Gleichnisse. Als Beispiele vgl. Jlias II. 455─483; Odyssee V. 102─109; Vergilius Aeneis II . 341─346; Nibelungenlied Stro. 280 (in d. Ausg. von Bartsch Stro. 281), sowie die Bd. I . S. 156 verzeichneten Proben. § 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches. 1. Man unterscheidet im Hinblick auf geschichtliche Entstehung, wie auf den Stoff: a . Volksepos (§ 112 d. Bds.) und b . Kunstepos (§ 116 d. Bds.) mit ihren verschiedenen Unterarten und Namen. Das Volksepos als das ursprüngliche, verhält sich historisch zum Kunstepos, wie das Volkslied zum Kunstlied. 2. Unsere Gegenwart scheint wenig dazu angethan zu sein, ein Volksepos erstehen zu lassen. 1. Als das Volk bei den Griechen sich nicht mehr mit den kurzen, epischen, mit Saitenspiel begleiteten Liedern der Aöden begnügte, traten die Rhapsoden auf. Diese ließen ziemlich spät auch die Musikbegleitung wegfallen und versuchten nun anstatt des Gesanges die Recitation, wie es in neuerer Zeit der Rhapsode Wilh. Jordan mit seinem Nibelunge in unzähligen Städten so erfolgreich that. Die Rhapsoden der Griechen konnten selten ganz neue Dichtungen bieten; sie verwebten aber meist mehrere Lieder über verschiedene Sagen (oder auch über die gleiche Sage), wobei sie als Dichter mitdichtend bald kürzten, bald ergänzten und nach Gutdünken änderten (woher ja auch ihr Name, vgl. S. 140 d. Bds). Die Rhapsoden scheinen bei den Griechen eine bestimmte Zunft gebildet zu haben, z. B. auf der Jnsel Chios die Homeriden, nach welchen auch die Rhapsoden anderer Staaten als Homeriden bezeichnet wurden. Durch die Wirksamkeit der Rhapsoden wuchs das stoffartige Jnteresse; einzelne Begebenheiten und Personen gewannen hohe Bedeutung, weil sie mit der Anschauungsweise und dem Charakter des Volks in enger Beziehung standen. So wurde z. B. der trojanische Krieg Hauptgegenstand der griechischen Sage, in welcher Achilleus und Odysseus als die Typen des griechischen Volkscharakters und der griechischen Thatkraft allen Heroen dieses Krieges voranstanden. So wurden ferner Karl (mit dem die französische Geschichte beginnt) und König Artus (mit dem die britannische schließt), die Mittelpunkte aller französischen und britannischen Sagen. So wurde der durch seine Kämpfe mit den Mauren berühmte Cid (Herr) der Typus der Treue und des Trotzes des spanischen Vasallentums. So wurde der arglos gemütliche, heldenmütige, dem deutschen Charakter entsprechende Siegfried der Liebling der Deutschen u. s. w. An die Rhapsoden trat in späterer Zeit die Aufgabe heran, alle die soeben erwähnten, zu den gleichen beliebten Sagenkreisen gehörigen Lieder oder Rhapsodien zu größeren, umfassenden Epopöen zu vereinen, alles aufzuschreiben und zu recitieren, was von einem Lieblingshelden überhaupt und allerorten mitgeteilt werden konnte. Auf diese Weise entstanden in Griechenland die Jlias und die Odyssee, in Spanien der Cid, in Frankreich die Roncevalschlacht, bei uns die Nibelungen und Gudrun u. s. w. (Vgl. §. 114 d. Bds.) Es gehörte schon ein bedeutender Dichter dazu, um all das, was in vielen Sagen, Mythen, Gedichten über einen Helden gesungen wurde, zu einem in Form, Anschauung, Jdee und Darstellung einheitlichen abgerundeten Epos zu vereinigen. Daher wäre es z. B. gewagt, einen einzigen Dichter, den man Homer nennt, als Verfasser von Jlias und Odyssee zwischen die Aöden und Rhapsoden zu stellen, Homer war eben nur Umdichter. (Vgl. über ihn: » Prolegomena de operum homericorum prisca et genuina forma « von Fr. Aug. Wolf, welcher der Ansicht jener alten, zwei Verfasser annehmenden Chorizonten (d. i. Trennenden) beitrat und behauptete, daß Jlias und Odyssee mehrere Menschenalter hindurch von Rhapsoden fortgepflanzt und erst unter Peisistratos zu einem kunstreichen Ganzen komponiert wurden.) Des Umdichters Kunst war nicht gering. Er durfte die vorhandenen und entstehenden epischen Lieder nicht ohne weiteres vereinen; er mußte vielmehr ausgleichen, weglassen, zusetzen und namentlich durch „epische Breite“ eine anschauliche Betrachtung ermöglichen, durch Einfügung von Episoden die unzusammenhängenden Sagen in einen Guß, in Fluß und Verbindung bringen. Dies ist dem Umdichter der Odyssee weit besser gelungen, als dem der mehr planlosen Jlias, deren Held Achilleus zwar das Epos beginnt nnd schließt, aber doch nicht gerade den sog. roten Faden des Ganzen bildet. Noch mehr hat der Umdichter der Nibelungen (Kürenberger, nach Bartsch und Pfeiffer; oder wie Spaun und der im Schluß von Frau Aventiure zweifelnd gewordene Scheffel will: Heinrich v. Ofterdingen) sein Ziel erreicht. Dieses Epos, dessen Handlungen sich über zwei Menschenalter erstrecken, während Jlias und Odyssee nur einen ganz kleinen Zeitraum umspannen, überragt beide klassische Epen durch die Kühnheit seines Plans. Alles ist hineingearbeitet: der Mythus von Siegfried, die Sagen von den burgundischen Königen, von Theodorich, von Attila, ─ und überall zieht sich durch die um Kriemhilde gruppierte einheitliche Darstellung der Gedanke, daß der Welt Freuden mit bitterem Schmerz enden: „Mit Leide war beendet des Königs Lustbarkeit, Wie die Freude Leiden stets am letzten Ende leiht.“ Für Entstehung des Nibelungenliedes vgl. „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelungen-Not“ von Karl Lachmann, sowie dessen Untersuchungen „Zu den Nibelungen und zur Klage“. 1836. Die Arbeit des Kürenberger (oder der Zusammensteller), durch welchen (oder durch welche) die alte, allitterierend behandelte Sage künstlerisch in der neu hinzugekommenen Nibelungenstrophe zusammengedichtet wurde, war nicht gering, und man darf solche Umdichter nicht zu gewöhnlichen Redakteuren herabwürdigen, vielmehr haben wir alle Ursache, diese Bearbeiter für ganz gewaltige Dichter zu halten. Die Kunsthöhe dieser deutschen Dichter, die doch zweifelsohne wie die der Erbauer großer Dome nur durch unendliche Übung und fortgesetzte Kunst zu erreichen war, läßt unbedingt um jene Zeit das Vorhandensein einer durch Jahrhunderte fortbestandenen Dichterschule vermuten. Auch ein Homer ─ falls man einen einzigen dieses Namens für Zusammendichtung der homerischen Epen annehmen will ─ hatte sicher viele Dichter vor sich, die, sofern sie sich das Singen zum Beruf machten, bald eine Anzahl begieriger Hörer und Schüler um sich zu vereinigen wußten. Das Zeitalter des Volksepos mit seinen phantasie=geschaffenen Göttern ist das Jugendalter eines Volks, also die Zeit, in welcher das Volksleben noch natürlich einfach war; wo der einzelne die äußeren Eindrücke noch kindlich unbefangen aufnahm, ohne durch Hervortreten seiner Subjektivität sich von der Nation, deren kindlichen Glauben er teilt, loszuschälen. Nach der Zeit des Volksepos bildete sich mehr und mehr das Kunstepos aus (§ 116 d. Bds.). 2. Jn der dramatisch hastenden Zeit der Gegenwart zählen gute Kunst= Epen im Vergleich zum Roman zu den poetischen Raritäten. Zu einem Volksepos scheint niemand den Versuch zu wagen. Dieses wird so lange auf Wiederbelebung warten müssen, als der Begriff Volk schwankend ist. Unsere heutigen Kunstepen sind nur für die Gebildeten vorhanden; und selbst unter diesen sind der Abstufungen so viele, daß die untersten Klassen in der Regel nicht verstehen, was für die Hochgebildeten gedichtet ist. Das heutige Volk und die Gelehrten stehen in ihrer Bildung zu weit auseinander, als daß es ein Dichter beiden Teilen recht machen könnte. Zudem beeinträchtigt das materielle Ringen unserer Tage fast jedes Jnteresse an den historischen Erlebnissen. Wo aber der Sinn für poetische Überlieferungen der Geschichte bei den Einzelklassen eines Volkes schwindet, wo die große Menge in stumpfer, dumpfer Gleichgültigkeit zusieht, wie die Geschichte von gelehrten Händen einregistriert wird, da kann kein Volksepos mehr erblühen. Jn solchen Zeiten des Jndifferentismus und der Vernachlässigung der im Volksepos sprechenden Naturpoesie dichtet der Kunstdichter aus sich und aus den schriftlichen Aufzeichnungen heraus; er bringt Kunstepen zusammen, aus denen der Historiker nichts lernt, und die dem Volke völlig fremd bleiben. So bleibt das Kunstepos der Neuzeit wohl für den Gebildeten von Jnteresse, nie aber wird es jene berauschende Wirkung auf das Volk äußern, welche dereinst Homers Gesänge auf die Hellenen ausübten, die in denselben die Geschichte ihres Vaterlandes, die höchste Poesie und zugleich sich selbst verehrten, da ja aus ihren Volksmythen und Sagen diese Gesänge hervorgegangen waren, und jeder sie daher als sein Eigentum betrachten konnte. Es ist gewiß wünschenswert, daß bei unserer neugeschaffenen Nationalität eine neue Volkspoesie, ein neues gewaltiges Volksepos erstehe. Man erwartete bereits ein solches, nachdem der große Befreiungskrieg den Begriff Volk wieder erweckt hatte, nachdem so ziemlich ein Geist und eine Ansicht im Entstehen war und ein gleiches gemeinsames nationales Jnteresse Gebildete und Ungebildete durchzogen und in einem erfreulichen Aufblühen der patriotischen Lyrik bewegt hatte. Schon hörte man Volkslieder von den Großthaten des Marschall Vorwärts, von den Fluchten der Franzosen, Spottlieder auf Napoleon und seine Generale &c. auf den Straßen und in den Schenken singen, und mit dem lyrischen Ton vermischte sich das epische Element. Aber es blieb bei den Elementen zu einem Volksepos. Jn noch höherem Maße waltete die phantasievolle Thätigkeit des Volksgeistes im rasch aufblühenden Volksgesang nach den Großthaten unserer Nation von 1870─71. Aber leider ist der Begriff des Volkes unter andern Spaltungen, als denen zwischen Gebildeten und Ungebildeten verschwunden und die Sänger sind mit ihren Liedern unter der Wucht materieller Strömungen von den Straßen verschwunden. Dazu kommt, daß durch die Bühne und die Schaulust des Volkes, welches in raschem Drängen nach Neuem bloß sehen will, unsere Dichter wohl zu lohnenderen dramatischen Dichtungen aufgefordert, aber von der Vereinigung nationalen Stoffes zu einem Volksepos ─ wie überhaupt von Dichtung eines Epos ─ zurückgescheucht werden. Möge die Zukunft lohnendere Anregung bieten! Wir haben nunmehr große Geschichte durch eigene deutsche Kraft zu Stande gebracht; wir haben Erfolge errungen, wie sie keine Nation der Welt in ihren Annalen zu verzeichnen hat. Wir besitzen herrliche volkstümliche Lieder aus dem letzten Kriege, welche die Grundlage zu einem Volksepos bilden könnten! Auf, ihr Kunstdichter, vereinigt im stolzen Gefühl deutscher Kraft die epischen Volksgesänge und die Sagen von unseren älteren Lieblingen: vom Prinzen Eugen dem edlen Ritter, vom alten Dessauer, vom alten Fritz, von Blücher ─ oder, wenn ihr's vermögt, vom geschichtlich gewordenen Wilhelm dem Siegreichen mit dem jungen Fritz und den großen Gestalten Moltke und Bismarck! § 112. Die Volksepen. 1. Das Volksepos (Nationalepos == Volksepopöe) ist jenes Epos, welches das vom ganzen Volke gekannte, durch Tradition liebgewordene Nationale aus des Volkes ältester sagenhafter Urgeschichte zum Gegenstand nimmt und große, national wichtige Jnteressen und Ziele erstrebt. 2. Charakteristisch für dasselbe ist die Verwendung des Wunderbaren. 1. Die Helden des Volksepos mit ihren Thaten leben in dem Volke des Sängers in alten Sagen, die als Balladen oder Romanzen in einer Zeit gemeinsamen Handelns entstanden und gesungen wurden, bis sie durch die kunstgeübte Hand eines Dichters mit andern ergänzenden und verwandten Sagen zu einem großen Ganzen ─ einem Epos ─ zusammengefaßt, verarbeitet, umgedichtet werden. Die Nation ergreift dieses volkstümliche Epos mit Begeisterung, erkennt es als ihr Eigentum: es ist National-Eigentum, National-Epos, Volks-Epos. Von der Wichtigkeit und Bedeutung des Nibelungenliedes belehrt uns schon der Anfang desselben: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit Von helden lobebæren, von grôzer arebeit . 2. Das Wunderbare in diesem Volksepos ist dadurch erklärlich, daß ihm die Götter lebensvolle Gestalten sind, die in das Geschick der Menschen eingreifen, das Schicksal bedingen. Die alten Volksepen gehörten ja einer Zeit an, wo man sich die aus den personifizierten Naturkräften gedachten und selbstgebildeten Gottheiten in unmittelbarer Beziehung zu den Menschen dachte, und das Eingreifen in die Geschicke der Menschen voraussetzte. Dies ist in der Jlias und in der Odyssee der Fall, beim Mah â bh â rata und beim R â m â jana, in unseren Nibelungen und in dem jungen Kalewala der Finnen &c. Jn unsern Nibelungen zeigt sich Siegfried mit seinem göttlichen Attribute der Unverletzlichkeit und mit der unsichtbar machenden Tarnkappe, ebenso wie Brunhild in ihrer Unnahbarkeit und mit der göttlichen Kraft als göttliche Wesen, als mythische Figuren. Das Wunderbare war selbstverständlich. § 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen. Wir besitzen folgende Volksepen: 1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee. 2. Die indischen Nationalepen: Mah â bh â rata und R â m â jana. 3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c. 4. Die Volksepen der Finnen, Esten, Lappen: Kalewala, Kalewipoeg, Peiwasch Parn é h. Als Volksepos wird von vielen Litterarhistorikern, welche die unter 4 verzeichneten Volksepen übersehen oder nicht kennen, noch der Herdersche Romanzencyklus Cid erwähnt, den wir S. 266 d. Bds. unter Beigabe von Proben sowie in der Litteratur des romantischen Epos § 120 d. Bds. seinen Platz anweisen mußten. § 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption, Ausführung etc. I . Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee. Die Epen der Griechen, welche im Altertum wegen des ruhigen Fortschreitens ihrer Handlung, wegen ihres heroischen Stoffs, wegen ihrer gediegenen Form und Sprache als die vollendetsten Muster der Poesie angesehen wurden, tragen den Namen klassische Epen und nehmen unter den Volksepen einen hervorragenden Rang ein. Jnhalt: a . Die Jlias besingt in 24 Gesängen oder Büchern (Rhapsodien) einen Teil des Kampfes vor Troja und zwar von der Entzweiung Achills mit Agamemnon bis zur Leichenbestattung Hektors (51 Tage des letzten der 10 Kriegsjahre), also einen ganz kurzen Zeitraum. b . Die Odyssee dagegen behandelt ebenfalls in 24 Gesängen die Heimkehr der Griechen, die zehnjährigen Jrrfahrten und Abenteuer des Odysseus auf seiner Rückkehr von Troja nach Jthaka, sowie das Rachewerk in seinem Hause. Die Jlias, wie die Odyssee, malen zugleich das Leben und Weben, Walten und Schalten der Götter. Sage und Mythe vereinen sich in wunderbarer Harmonie zum großen klassischen Heldenepos. Der verderbliche Zorn des Achilles wird besungen, der den Griechen das Jdeal der Kraft und Jugend und (nach Hegel) das Vorbild des herrlichsten aber eines der letzten Hellenen der edleren Zeit, Alexanders des Großen, gewesen ist. Die Götter nehmen Teil am Kampfe der Menschen. Poseidon macht Meer und Erde erbeben, Hephästos speit Feuer, und die Flußgötter umbrüllen, zwischen Blut und Leichen wütend, zornglühende Menschen. Ares tritt in den Kampf ein, an dem sich selbst Pallas Athene, Apollon und die Götterkönigin beteiligen. Pallas Athene schmettert den Grenzstein dem Ares entgegen, daß er über sieben Hufen Landes dahinstürzt. Droben lächelt der Vater der Götter und Menschen, der, wenn er die Augenbrauen faltet oder die ambrosischen Locken vorwärts sinken läßt, den Olymp erbeben macht. Epische Konzeption und Ausführung. a . Jliade. Eine große Zahl von Heldenthaten sind zu erzählen. Für die Einheit nimmt Homer den Haupthelden Achilles, ohne die andern zu vergessen. Edles Maß wahrt den einzelnen Teilen die Selbständigkeit. Achilles wird eingeführt, aber zürnend geht er in's Zelt. Jnzwischen kann der Dichter Helden um Helden vorführen; Achilles' Bedeutung zeigt sich aber darin, daß, so lang er fehlt, kein siegreicher Fortgang im Kampfe ersichtlich ist. Patroklus' Tod läßt mit einemmale den Gewaltigen wieder erscheinen; Hektor fällt, und wir ahnen den Fall des heiligen Jlion. Ein Ruhepunkt tritt ein. Die Totenfeier des Patroklus giebt zur Äußerung des Schönheitsgefühls der Griechen Gelegenheit: Ruhe, Friede, Schmuck. Nun kommt noch Priamus zu Achill, wodurch der Dichter Gelegenheit findet, den Helden von seiner menschlich erhabenen Seite zu schildern. So wird das großartige Epos in seiner erhabenen Sprache Musterepos. Sind auch an einigen Stellen die trefflichen Gleichnisse etwas gehäuft, so treten doch Personen, Dinge und Ereignisse so klar und anschaulich hervor, daß man meint, man könne sie mit Händen greifen. Jeder Dichter kann hier lernen, wie ein Charakter zu schildern ist, wie derselbe aus seinen Handlungen, Reden und aus den Beurteilungen anderer lebendig vor Augen zu treten hat &c. Jn erhabener Schöne und zauberischer Größe steht die Jliade da, die auf das Volksleben und die religiöse Anschauung von beispielloser, epochebildender Bedeutung blieb. b . Odyssee. Jn der Odyssee leitet uns der Dichter durch alle Wunder der Phantasie zur schönen Wirklichkeit. Anknüpfend an den trojanischen Krieg läßt diese Dichtung den Odysseus durch alle damals bekannten Meere und Länder irren, bis er zu Penelope heimkehrt. Mit dem großen Blutbade auf Jthaka endigt das Epos überraschend schnell. Die Odyssee stellt sich dem Heldenepos der Jliade wie ein Kulturepos gegenüber. Odysseus, der Repräsentant des griechischen Volkscharakters ist der Held, der in allen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Land durch List, Mut und Kraft hervorstrahlt. Das Volk, vom Könige bis zum Bettler, wird geschildert; seine Neigungen, Schwächen und Vorzüge werden gezeigt. Von der Kalypso und aus ihren göttlichen Armen kehrt Odysseus zur Heimat zurück, ─ ein Muster der Kraft und der echten Gesinnung. (Zur näheren Kenntnis der klass. Epen der Griechen empfehlen wir die Übersetzungen von Voß und Jordan. Außerdem ist aber auch das Wesen des Homerischen Epos in vielen Hilfsschriften behandelt, vgl. z. B. von W. Nitzsch Sagenpoesie, Geppert Die Homerischen Gesänge, Bergk Griechische Litteraturgeschichte, Lachmann Vorlesungen, ferner Bonitz', Hennings, Nutzhorns, Jordans u. a. Arbeiten.) Proben aus der Voßischen Übersetzung der Jlias wie der Odyssee finden sich Bd. I S. 156 und 190 &c. II . Die indischen Nationalepen: Mah â bh â rata und R â m â jana. Die geschichtliche Unterlage des Mah â bh â rata (== der große Bh â rata, König von Hastinapura) bildet die Eroberung der Gangesebene, wie die des späteren R â m â jana die früher fallende Verbreitung der Arier nach der südlichen Halbinsel. Jnhalt: a . Mah â bh â rata. Dhritar â schtra, der blinde Vater der Kuru, hatte auf den Thron verzichtet, den nun sein jüngerer Bruder Pandu in Besitz nahm, weshalb dessen 5 tugendreiche Söhne von den Söhnen Dhritar â schtras hartnäckig bekriegt werden. Jn den Abenteuern treten die Götter handelnd ein. Der schlaue Krischna (Jncarnation des Wischnu) verleitet die Pandusöhne, den Eid zu brechen. Alle arischen Stämme werden in den entbrannten großen Krieg mit den Kurus verwickelt. Die Kurus sind im Vorteil; aber Krischnas List, der Ardschunas Wagen lenkt, macht die Pandus zu Siegern. Das Mah â = bh â rata enthält viele Episoden, welche fast sämtlich dem 3. Abschnitt des Gedichts eingefügt sind. Zunächst wird die Erzählung des großen Kriegs durch das berühmte Gespräch „Bhagavad Gita“ unterbrochen, worin Krischna mit Ardschuna angesichts der Heere tiefsinnige Fragen der Religionsphilosophie behandelt. ( I 597 ff.) Zur Beruhigung, Tröstung oder um den Ausgang prophetisch anzudeuten, finden sich weitere Episoden, wie Nal und Damajanti ( I 598), Sawitri &c., wodurch das Mah â bh â rata zu riesigem Umfange anschwoll, so daß es jetzt 18 Bücher mit 100,000 Slokas umfaßt. ( I 596.) Diese Episoden haben den Bau mit dem Riesenepos, dem sie eingefügt sind, gemein. (Vgl. die Probe I 597, 598, 599.) Sogar die Götter greifen in ihnen ähnlich wie dort ein. Jn Nal und Damajanti beteiligen sie sich an der Gattenwahl der Damajanti, und die ganze Fortführung des Epos wird durch die Ränke des bösen Gottes Kali hervorgerufen; in Sawitri hat Sawitri gegen den Beschluß der Götter wie gegen den Todesgott Jama zu kämpfen u. s. w. Probe aus dem Mah â bh â rata (Übersetzung von Adolf Holtzmann ). Die Schlacht der Kuruinge und der Panduinge. ( NB . Der Übersetzer nennt die Pandus und Kurus nach Analogie der Bezeichnung altd. Heldengeschlechter Panduinge und Kuruinge.) Der Tag brach an; schrecklich ertönte von Trommelgewirbel und Muschelklang, Vom Knarren der Räder, vom Wiehern der Pferde und von der Elephanten Schrei; Vom Klirren der Waffen, vom Rufen der Krieger, vom Feldgeschrei und Losungswort Und von der Führer lauten Befehlen weithin ein ungeheurer Schall. Bald standen gegen einander gerüstet die beiden Heere, abendwärts Die Scharen der Kuruinge gewandt, die Panduinge morgenwärts, Von Kampfbegierde beide erfüllt, in Siegeshoffnung beide froh. Als leuchtend sich die Sonne erhob, erblickte man die langen Reih'n Fußgänger, Reiter, Jlfe* und Wagen * Elephanten. mit blinkenden Waffen aller Art, Mit Bogen und Pfeil, mit Lanze und mit Keule, Schlägel, Schwert und Dolch, Die Fürsten mit ihren flatternden Fahnen, mit ihren Zeichen bunt gemalt. Hoch ragte vor allen der schreckliche Fischma, auf silbernem, weißem Wagen, weiß Von Haar und Bart, in weißem Gewande, und weißem Turban, silberweiß Die Rüstung und die Waffen und weiß die Rosse, wie ein weißer Berg; Und hoch an gold'nem Stamme der Palme war allen sichtbar sein Panier, Fünf silberne Sterne. Aber der Alte zu seinem Heere hingewandt, Rief laut mit donnerähnlicher Stimme den Kriegern diese Worte zu: „Heut' ist euch Tapfern wieder die Pforte des Himmels aufgethan; den Weg, Den früher eure Väter und Ahnen gewandelt sind, den geht nun ihr Zu Jndra's Welt der Wonne, indem durch Mut ihr ewigen Ruhm gewinnt. Wollt ihr auf euerm Schragen zu Haus in Krankheit ärmlich euern Lauf Beschließen? Nur im Felde zu sterben geziemt dem echten Kschattriger.“ So rief der Alte; mit Jubelgeschrei antwortete ihm das ganze Heer. Und Fischma ergriff das goldgeschmückte gewund'ne Muschelhorn und blies Mit hellem Schalle; aber sogleich ertönte auch des Feindes Horn. Da rückten die Heere gegen einander mit Trommelschlag und Hörnerklang Und hellem Kriegsgeschrei, daß weit der Erde Boden zitterte. Von Ferne aber krächzten die Raben und bellten die Wölfe, freudevoll Verkündend großen Menschenmord, von Leichen ein erwünschtes Mahl. Die Schlacht begann; wild unter einander war bald der beiden Heere Volk, Fußgänger, Reiter, Wagen und Jlfe undeutlich gemischt, wie wenn das Meer Jm Sturme von brausenden Winden erregt beständig auf- und niederwogt. Da zuckten blanke, geschwungene Schwerter, da flogen Pfeile hin und her. Wie leuchtende Blitze, und glänzend von Oel die Speere und Keule aller Art. Hier trafen Wagen und Wagen zusammen, zwei Elephanten kämpften dort, Hier fochten Reiter mit Reiter und dort zu Fuße zwei Gewappnete. Hier drangen einige Kämpfer zu Fuß auf einen Wagen tapfer ein; Dort brach sich durch der Gehenden Menge ein Wagen mutig eine Bahn. Hier sprengte auf bunt beringeltem Pferde ein Reiter zu einem Wagen hin Und spaltete mit dem glänzenden Beile dem Wagenlenker schnell das Haupt. Dort aber auf einem Wagen ein Held schoß viele tapfre Reisige Mit Pfeilen von den Pferden herab, wer ihm in Pfeilschußnähe kam. Hier stürzten wütende Kriegselephanten auf Pferde, Wagen und Menschen los, Mit Rüsseln schlagend, mit kräftigen Zähnen durchstoßend und mit der Füße Wucht Zerstampfend; dort mit glänzenden Speeren, mit schweren Keulen zerbrachen die Wehr Der Jlfe mutig fechtende Männer und heulend flohen die Jlfe davon. Jn diesem schrecklich tobenden Kampfe, der Jama's Reich vergrößerte, Sah man stets in den Scharen der Feinde des Fischma hohes Banner wehn. Der Sonne Glanz mit Pfeilen verhüllend, war er an Glanz der Sonne gleich, Der unnahbare schreckliche Greis, des Santanu erhab'ner Sohn, Und wie die Sonne die Dunkel der Nacht verscheucht mit steter Strahlen Schein, So nicht ermüdend mit steten Geschossen vertrieb der Held der Feinde Heer. Wo er sich zeigte, da wurden die Sitze der hohen Wagen menschenleer, Da sanken Häupter vom Rumpfe getrennt, hauptlose Leiber hundertweis Zu Boden. Aber den schrecklichen Greis begleiteten schützend in der Schlacht Sechs tapfre Helden, Duchsasana, Krip, Dron, Salja, Wiwiasati Und Sakuni. Denn als zur Schlacht am Morgen die Scharen sich rüsteten, Befahl, von froher Hoffnung bewegt, der König dem Duchsasana: „Mein Bruder! Fischma hat gelobt, heut jeden, der ihm in der Schlacht Begegnet, ohne Erbarmen zu treffen, den Fima selbst und Ardschuna. Nur wenn der Sohn des Drupada, Sichandin, ihm entgegenstürmt, Den will er schonen, denn er spricht: Sichandin ist fürwahr ein Weib, Ein Wolf wird einen Löwen erlegen, wenn dieser sich nicht wehren will. Drum sorge, daß vom Wolfe Sichandin der Fareterlöwe Fischma nicht Gefährdet werde; folge dem Alten auf allen Wegen in der Schlacht; Du und der unbesiegliche Dron und Kripa und Wiwiasati Und Salia und Sakuni, ihr sechs bewachet den Heldengreis, Und seid vor allem immer bedacht, sobald ihr den Sichandin seht, Den abzuwehren und den zu erlegen, Dann wird der Greis, von euch beschützt, Die Panduinge alle besiegen, die Someker und Srindschejer u. s. w. Jnhalt: b . R â m â jana. Der Gegenstand des 24,000 Slokas umfassenden R â m â jana, das dem Mah â bh â rata in Absicht auf Wortvorrat, Ausdrücke und Bilder, ja sogar im Versmaß gleicht, indem es den Wandel und die Heldenthaten Ramas darstellt, ist der Sieg des Helden R â ma über Ravana, den Fürsten der bösen Genien, obwohl derselbe von den guten Göttern das Versprechen der Unverletzlichkeit erhalten hatte. R â ma ist kein göttlicher Held wie z. B. Achilles bei Homer, sondern die durch Klagen über die Verwüstungen des Riesenkönigs Ravanna veranlaßte siebente Jncarnation Wischnus. Er ist der Sohn Dasarathas und sollte als Liebling des Volks Regent werden. Aber die zweite Frau Dasarathas weiß ihrem Sohn Bharata die Regierung zu verschaffen. Nun zieht Rama mit seiner Gattin Sit â in den Wald, wo er 14 Jahre lang Wunderthaten verrichtet, bis er endlich vom Throne Besitz ergreift. Probe aus dem R â m â jana. (Aus dem 1. Buch, nach der Übersetzung Fr. Rückerts. ) Da ihm vor'm Angesicht also der Welturvater selber saß, Mit darein vertieftem Gemüt Walmiki voll Gedanken war. Das Reiherweib bemitleidend, wieder und wieder jenes Lied Sagt' er her verlorenen Sinns, nachhängend seinem Leide nur: Dort des Jägers, des sündhaften, des unverständ'gen arge That, Wie er solch einen schöntön'gen Reiher getötet ohne Grund! Lächelnd aber darauf Brahma zu dem Einsiedlerfürsten sprach: Also ein Lied gefügt hast du, zu bedenken ist nichts dabei. Dir entsprungen ist freiwillig, o Brahman, diese Redekunst; Nun des Rama Gesamtthaten, bester Büßer, verfasse du! Des tugendhaften, pflichtsinn'gen, weisen, der Lust des Weltenraums, Ramas Thaten erzähl' also, wie du hörtest von Narada. Was offenbar und was heimlich von diesem Weisen ist geschehn, Von Rama samt den Kampfhelfern, allzumal von den Riesen auch; Von der Videha-Maid* gleichfalls, was offenbar und was geheim; * Sita. Alles dieses auch unkunde kund gethan soll es werden dir. Sein soll kein Wort, kein unrechtes, dir im Gedicht durch meine Gunst; Die hehre Rama-Mär mache herzerfreulich in's Lied gefügt! So lang die Berge stehn werden, und die Flüß' auf dem Erdengrund, So lang wird in den Welträumen das R â m â jana=Lied ergehn. So lang das R â m â jana=Lied von dir gedichtet wird ergehn, So lange dich emporschwingend wirst du wohnen in meiner Welt. (Vgl. auch die Probe I 598.) III . Die deutschen Volksepen. a . Nibelungenepos. Das von einem nordischen Volksstamme, den Nibelungen, herrührende, durchaus objektiv gehaltene sog. Nibelungenlied stammt aus der Blütezeit der deutschen Litteratur im 12. und 13. Jahrhundert. Um jene Zeit blühte auch das höfische Epos, das wir unter Kunstepos behandeln. Es sind vom Nibelungenepos drei von den Gelehrten mit A, B und C bezeichnete Handschriften erhalten, die aus dem letzten Decennium des 12. Jahrhunderts stammen mögen. Für den Jnhalt des Nibelungenepos s. Bd. I S. 44. Die einzelnen Teile, aus denen es entstand, sind: 1. Siegfriedsage und Sage von Gunther, 2. Dietrichsage und Sage von Etzel, 3. Nibelungenklage aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts. Hauptcharaktere sind: Siegfried, ein unvergleichlicher Held, arglos, liebreich, vertrauensvoll; Hagen, furchtlos, treu gegen seine Gebieterin; Kriemhilde, voll Liebe und Verehrung gegen ihren Gatten, rachedurstig, grausam; Brunhilde, gewaltig, stark, ehrgeizig, voll Haß; Dietrich, gerecht, ohne Tadel. Jn dem ganzen Nibelungen-Epos tritt das echt deutsche Element in seiner Ursprünglichkeit hervor, unbeeinflußt vom Christentum und von der Bildung der Ritterzeit. (Wagner hat es mit Recht als Unterlage für seine charakteristisch deutsche Musik bearbeitet.) Die Germanen waren so genial, ihre epischen Volksdichtungen zur Epopöe zu gestalten, zu einem künstlerischen Epos, das vieles zum Teil aus Urzeiten herüberklingende, zum Teil seit Jahrhunderten Gesungene in einen Guß brachte und Sage wie Mythus zusammenfließen ließ (z. B. Siegfried ist wahrscheinlich Baldur, Hagen von Tronje == Hödur, Dietrich von Bern == Odin &c.). Mythus und Göttersage zerflossen vor dem Einfluß des Christentums. Während Homer weit schönere Götterideale bilden durfte, mußte der Verfasser des Nibelungenlieds heidnische und christliche Anschauungen versöhnen, mußte er wesentliche, heidnische Bestandteile umwandeln oder weglassen. Trotz ihrer Schönheiten bleiben die Nibelungen spröder als die Jlias. Hagen von Tronje steht an Kühnheit und Gewalt keiner dichterischen Erscheinung nach, wohl aber Siegfried dem Achilles. Die Architektur des Epos ist mustergültig. Durch das Ganze zieht sich die Schuld hindurch; diese drängt bis zum Morde Siegfrieds, aus dem neue Schuld erwächst bis zum tragischen Ende, aus welchem nur Etzel, Hildebrand und Dietrich übrig blieben. Abgesehen von dem höfischen Beigeschmack, dem der Dichter sich nicht ganz entziehen konnte, ist das Gedicht ein bleibendes Muster der Poesie, namentlich was Gestaltung und Darstellung betrifft. Als Sprachprobe aus dem durch Schulausgaben allbekannten Nibelungenlied vgl. Bd. I S. 603. b . Gudrunepos. Dem ernsten Nibelungen-Epos steht das weniger vollendete heitere Heldengedicht Gudrun gegenüber, das an der Nordsee spielt, und bei dem nicht das Edelweibliche durch Unglück in Rachedurst und Grausamkeit umschlägt, vielmehr sich in echt weiblicher Weise durch gewaltiges Ertragen des Geschickes bewährt. Es ist entstanden aus den Sagen: 1. von Siegeband und Hagen, 2. von Hildes Entführung, 3. Gudruns Entführung und Befreiung. Jnhalt: s. Bd. I S. 44. Als Sprachprobe aus dem bekannten Gudrunepos vgl. Bd. I , S. 608. c . Weitere deutsche Volksepen. Jn Bd. I § 18, S. 44 sind unter Nr. 3─9 noch mehrere kleine Volksepen erwähnt, sowie Bd. I S. 43 das Bruchstück „Hildebrand“, welches zweifellos den Hauptteil eines gewaltigen deutschen Volksepos bildete, dessen übrige Teile man bis heute nicht auffand. Wie es bei den Griechen kein Dichter verstand, die bedeutungsvollen Helden des Argonautenzugs durch einen Odysseus überragen zu lassen, so vermochte auch bei den Deutschen noch keine dichterische Fähigkeit Hildebrand zum großen Volksepos abzurunden. Beide gewaltige Stoffe blieben ─ so zu sagen ─ episch stecken. Die Brüder Grimm haben zuerst das aus 61 Verszeilen bestehende Bruchstück des Liedes von Hildebrand und Hadubrand in seinem urkundlichen Text, sowie mit wiederhergestelltem Text und Übersetzung, zugleich aber auch mit jenem Volkslied herausgegeben, das nicht wie das obige Bruchstück mitten in der Erzählung des Kampfes abbricht, sondern auch noch die Erkennung, die rührende Sohnesliebe und die Heimkehr zur Mutter Ute besingt. (Vgl. die Bearbeitung im kleinen Heldenbuch von Simrock 1844. S. 305 ff. &c.) Als Sprachprobe aus dem Hildebrandliede vgl. Bd. I S. 402. IV . Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen. Durch Entstehung der Volksepen der Finnen, Esten und Lappen in der neuesten Zeit ist der Beweis geliefert, daß noch heutigen Tags die epischen Volkslieder durch geschickte Hand zu Volksepen vereinigt werden können. a . Das finnische Volksepos Kalew â la. Das Epos Kalew â la, das in der ersten Ausgabe (1835) 32 Gedichte mit 12,000 Versen enthielt, während die 2. Ausgabe (1849) 50 Runen mit 22,796 Versen umfaßt, wurde durch Anton Schiefner 1852 in's Deutsche übertragen. Es ist aus dem Munde von Greisen hervorgegangen und nimmt als Nationalepos einen hervorragenden Rang ein. Jnhalt: Jlmatar, die Tochter der Luft, gebiert nach 700jährigen Wehen den Wäinämöinen, der sich bald durch Weisheit und Sangeskunst auszeichnet. Der neidische Lappenjüngling Joukahainen bekämpft ihn, wird aber besiegt und löst sich nur durch das Versprechen der Hand seiner Schwester Aino. Diese stürzt sich in die Fluten, und wird in einen Fisch verwandelt. Der Gott der Träume ist dem Wäinämöinen behilflich, daß er den Fisch erhascht. Dieser entschlüpft und verhöhnt Wäinämöinen. Da erscheint ihm der Geist seiner Mutter und fordert ihn auf, nach Pohjola (Nordland) zu gehen, wo es viel schönere und weniger spröde Mädchen gebe. Aber Joukahainen lauert ihm mit dem Bogen auf; der Pfeil trifft das Roß, und Wäinämöinen fällt ins Meer. Ein Adler hilft ihm heraus. Jn Pohjola wird er von der Herrin von Pohjola, der Mutter der schönen Maid, freundlich aufgenommen und von seinen Wunden geheilt. Sie will ihn erst dann wieder entlassen, wenn er ihr den Sampo (d. i. eine Mehl=, Salz- und Gold=mahlende Mühle) schmiede, wofür sie ihm die Hand ihrer Tochter verspricht. Wäinämöinen bittet, den Jlmarinen senden zu dürfen, den berühmten Meister der Schmiedekunst, der auch die Hand der Tochter erwerben möge. Die Königin willigt ein. Auf dem Heimwege sieht Wäinämöinen die schöne Maid selbst und entbrennt in Liebe zu ihr. Jlmarinen baut den Sampo, wird aber vorerst von der Jungfrau verschmäht. Noch ein Dritter wirbt um sie: Ahti Lemminkainen, ─ der seine schöne Frau wegen Beteiligung an einem Tanze verstoßen hat. ─ Eben will dieser die letzte der gestellten Aufgaben lösen, als ihn ein Hirte tötet. Seine Mutter findet seinen zerstückten Leichnam mit Hilfe der Sonne; sie holt die Stücke mit einer von Jlmarinen gefertigten Hacke aus dem Wasser, verbindet sie und belebt die Leiche mit himmlischem Balsam. Jnzwischen nehmen Wäinämöinen und Jlmarinen die Werbung um die schöne Maid wieder auf. Wäinämöinen sucht einen Riesen auf, um von diesem die zur Vollendung eines Schiffes nötige Zauberformel zu holen, fällt aber in den Mund des schlafenden Riesen. Als er die Formel erfahren, verläßt er den Leib des Riesen und verabredet mit Jlmarinen, daß die Maid selbst zwischen ihnen entscheiden solle. Diese wählt nunmehr den jüngeren Jlmarinen, der ihre drei Aufgaben gelöst hat. Nun Hochzeit, Heimführung, Empfang in der Heimat Jlmarinens, was sitten= und kulturgeschichtlich wertvoll ist. Ahti Lemminkainen ist erzürnt, daß er nicht zur Hochzeit geladen wurde, weshalb er den Herrn Nordlands tötet und nun auf eine Jnsel entfliehen muß. Eine Episode handelt von Untamo, der seinen Bruder Kalerwo überfällt und dessen Gemahlin in Gefangenschaft schleppt, wo diese den Sohn Kullerwo bekommt, der, dem Schmied Jlmarinen übergeben, dessen Herde hüten muß. Die Frau giebt diesem zur Zehrung einen in Brot gebackenen Stein. Da führt er die Herde in Sümpfe, treibt Bären und Löwen zusammen, die Jlmarinens Gattin zerreißen. Jlmarinen formt sich nach dem Tode seiner löwenzerrissenen Gattin eine Gattin aus Gold und Silber; aber ─ weniger glücklich als Pygmalion ─ vermag er ihr kein Leben einzuflößen. Er beschließt mit Wäinämöinen und Ahti Lemminkainen nach Nordland zu reisen und den Sampo zu rauben, durch den das Nordland zu Wohlstand gelangt war (also eine Art Argonautenzug). Unterwegs töten sie einen Hecht, aus dessen Knochen Wäinömöinen eine Kantele fertigt, auf der er so schön spielt, daß die Herrin Pohjolas und ihre Krieger in Schlaf versinken. Nun entführt er mit den Seinen den Sampo. Die Herrin verfolgt ihn; die Kalewahelden müssen kämpfen. Sie siegen. Aber die Kantele geht dabei zu Grunde; ebenso der Sampo, der in's Meer fällt und in Stücke bricht, den Reichtum des Meeres und des angrenzenden Kalewa= Landes (Finnland) begründend, wohin einzelne Stücke getrieben werden. Neidisch über das Aufblühen Finnlands sendet Pohjolas Herrin Seuchen dahin, sowie einen Bären, den Wäinämöinen tötet. Nun spielt er wieder auf einer neu gefertigten Kantele. Mond und Sonne steigen herab, um zu lauschen, kommen aber dabei in die Gewalt der Herrin des Nordlands, die sie in einen ehernen Berg sperrt, so daß Finsternis Kalewa umschließt. Wäinämöinen kommt mit Jlmarinen angezogen, welch letzterer die Werkzeuge zur Sprengung des ehernen Bergs schmieden soll. Als Pohjolas Herrin dies erfährt, läßt sie Sonne und Mond frei. Wäinämöinen verläßt bald darauf für immer sein Land. Er segelt auf kupfernem Boote an den Rand des Horizonts, wo sich Himmel und Erde berühren. Dort weilt er noch. Die Kantele und seinen Gesang hat er dem finnischen Volke zurückgelassen. Freiherr von Tettau-Erfurt, der in seiner Schrift über das Epos Kalew â la dieses Epos in wissenschaftlicher Weise eingehend betrachtet, nennt es mit Recht ein großes Verdienst des Schöpfers Lönnrot, die Kalew â la, dieses charakteristischste, wertvollste Denkmal der Volkslitteratur aller Zeiten vom Untergange gerettet zu haben. Aber er ist der Ansicht, daß z. B. die neu hinzugekommenen 10,000 Verse der 2. Ausgabe nicht ebensoviel Verbesserungen seien, und daß Lönnrot überhaupt nur dasjenige hätte aufnehmen sollen, was den Sampo betreffe, wodurch dem Epos seine geschlossene Einheit gesichert geblieben wäre. Für deren Mangel macht er Lönnrot verantwortlich, der die Erzählung von den Sampokämpfen, die Abenteuer Ahti Lemminkainens und die tragischen Schicksale Kullerwos als 3 große Stränge neben einander unverbunden herlaufen lasse und dadurch die Einheit preisgegeben habe. Jedenfalls ist es berechtigt, die Kalew â la auch als Schilderung jener Kämpfe bedeutungsvoll zu nennen, welche bei Verdrängung der letzten Reste der Urbevölkerung Finnlands durch die aus dem Süden eingewanderten tschudischen Volksstämme sich ereigneten. Probe aus Kalew â la. (Übers. von A. Schiefner. ) Sechste Rune. Wäinämöinen alt und wahrhaft Schickt sich an um aufzubrechen Nach dem Dorfe voller Kälte, Nach dem nimmerhellen Nordland. Nahm sein Roß, das strohhalmleichte, Dies sein erbsenstengelgleiches, Thut ihm an die goldnen Zügel, Legt ihm Riemen um voll Schönheit, Setzt sich selber auf den Rücken Und beginnt davonzureiten; Jaget hastig auf dem Wege Und durchmißt die Bahn geschwinde Mit dem Roß, dem strohhalmleichten, Mit dem erbsenstengelgleichen. Jagte durch Wäinöläs Fluren, Durch die Flächen Kalew â las, Ritt gar rasch mit seinem Rosse, Jmmer weiter von der Heimat, Kam schon an des Meeres Rücken, An die weitgedehnte Öde, Trocken blieb der Huf des Rosses, Unbefeuchtet seine Füße. Doch der junge Joukahainen, Dieser schwache Lappenjüngling, Hatte Groll seit langer Zeit her, War schon lange, lange neidisch Auf den alten Wäinämöinen, Auf den ew'gen Zaubersprecher. Macht zurecht den Feuerbogen, Schmückt die wunderschöne Wölbung, Bildet sie aus bestem Eisen, Gießt das Rückenstück aus Kupfer, Legt es aus mit gutem Golde, Läßt's an Silber auch nicht fehlen. Woher nimmt er wohl die Sehne, Woher mag den Strang er schaffen? Aus des Hüsi-Elenns Sehnen, Aus des Lempo-Flachses Fäden. Fertig war des Bogens Krümmung, Fertig waren seine Enden, Schön von Anblick war der Bogen, Mußte wohl nicht wenig kosten; Auf dem Rücken stand ein Rößlein, An den Ecken lief ein Füllen, Auf der Wölbung schlief ein Bärlein, Und ein Hase an der Kerbe. Schnitzt' sich dann genug der Pfeile, Dreifach waren sie befiedert, Drechselte den Schaft aus Eisen, Macht' die Spitz' aus harz'gem Holze; War er mit dem Schnitzen fertig, So befiedert er die Pfeile Mit der Schwalbe schmalen Federn, Mit des Sperlings feinen Flügeln. Härtet dann die fert'gen Pfeile Und verleihet ihnen Schärfe Jn dem schwarzen Saft der Schlange, Jn dem Blute gift'ger Nattern. Fertig hatte er die Pfeile, Wohl bespannet seinen Bogen, Wartete auf Wäinämöinen, Daß den Wogenfreund er fasse, Spähet morgens, spähet abends, Spähet selbst zur Mittagsstunde. Wartet lang' auf Wäinämöinen, Wartet lange, wird nicht müde, Sitzet fleißig an dem Fenster, Wachet an des Zaunes Ecke, Horchet an des Weges Ende, Spähet an dem Ackersaume, Auf dem Rücken hängt der Köcher, Jn dem Arm der schöne Bogen. Spähet dann noch weiter draußen, Drüben an dem andern Hause, An der Feuerspitze Ende, An der langen Landzung' Biegung, Dicht am Wasserfall voll Feuer, An des heil'gen Stromes Strudel. Einst an einem Tage endlich Warf er um die Morgenstunde Gegen Nordwest seine Blicke, Wandte seinen Kopf zur Sonne, Sah was Schwarzes auf dem Meere, Auf den Fluten etwas Blaues: „Jst das ein Gewölk im Osten, Jst es etwa Morgendämmrung?“ Nicht war es Gewölk im Osten, Keineswegs die Morgendämmrung, Wäinämöinen war's der alte, Dieser ew'ge Zaubersänger, Zog dort seinen Weg zum Nordland, Ritt drauf los zum Düsterlande, Auf dem Roß, dem strohhalmleichten, Auf dem erbsenstengelgleichen. Hastig faßte Joukahainen, Dieser schwache Lappenjüngling, Seinen Bogen voller Feuer, Wendete den wunderschönen Zum Verderben Wäinämöinens, Um den Wogenfreund zu töten. Vorher fragte ihn die Mutter, Forscht' ihn aus die greise Alte: „Gegen wen schufst du den Bogen Und beschlugst du ihn mit Eisen?“ Joukahainen gab zur Antwort, Redet Worte solcher Weise: „Schuf den Bogen gegen diesen, Hab' mit Eisen ihn beschlagen Zum Verderben Wäinämöinens, Um den Wogenfreund zu töten, Wäinämöinen will ich treffen, Jhn, den ew'gen Zaubersänger, Durch das Herz und durch die Leber, Durch das Schulterfleisch ihm schießen.“ Sie verbietet ihm zu schießen, Nicht erlaubte es die Mutter: „Schieße nicht auf Wäinämöinen, Auf den Heldensohn Kalewas, Wäinö ist von großem Stamme, Meiner Schwester Sohn, mein Neffe.“ „Tötest du den Wäinämöinen, Jhn, den Helden von Kalewa, Dann ach! schwindet alle Freude, Schwindet der Gesang von hinnen Besser ist die Freud' auf Erden, Schöner der Gesang hier oben, Als in Unterweltsgefilden, Jn des Totenreiches Stuben.“ Doch der junge Joukahainen Dachte nach ein kleines Bischen, Hielt zurück sich nur ein wenig; Trieb die eine Hand zum Schießen, Schien die andre es zu hindern, An die Sehne dringt der Finger. Redet endlich noch die Worte, Läßt sich selber also hören: „Möge immerhin verschwinden Alle Freude von der Erde, Mögen alle Lieder schwinden, Schießen werd' ich, nichts beachtend.“ Spannte seinen Feuerbogen, Stützt die kupferreiche Waffe Auf dem linken seiner Kniee, Stemmt den rechten seiner Füße, Nimmt den Pfeil dann aus dem Köcher, Holt hervor den federreichen, Wählte wohl den allergradsten, Mit dem allerbesten Schafte, Diesen that er auf den Bogen, Fügt' er an die Flachsessehne. Richtet dann den Feuerbogen An der rechten seiner Schultern, Stellt sich hin um loszuschießen Auf den alten Wäinämöinen, Redet selber diese Worte: „Geh nun los, du Birkenspitze, Strecke dich, du Tannenrücken, Gleite ab, du Flachsessehne; Wenn die Hand zu niedrig zielet, Mag der Pfeil sich höher richten, Zielt die Hand zu sehr nach oben, Mag der Pfeil nach unten gehen!“ Rasch bewegt er nun den Drücker Schoß den ersten Pfeil behende, Viel zu hoch enteilet dieser, Über seinen Kopf zum Himmel, Daß die Wolken schier zerbersten, Er die Lämmerwolken sprenget u. s. w. b . Kalewipoeg, das Volksepos der Esten. Die Sagen der Esten wurden auf Veranlassung der gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat aus Volksmunde gesammelt und von Dr . Kreuzwald in Verse gebracht, wobei die mitgesammelten lyrischen Gedichte und Sprüche einfach eingereiht wurden. So ist das Ganze in's trochäische Metrum gebrachte Prosa, und dürfte in gleicher Linie mit den Reim-Chroniken des Mittelalters stehen. Jn demselben Metrum wie die Kalew â la hat Kreuzwald das Ganze in 19,000 trochäischen Versen gegeben, während er (nach von Tettau) besser gethan haben würde, die Sagen zu erzählen, wie sie aus dem Munde des Volkes kamen, und die Lyriken besonders zu geben. Jn der Ursprache erschien das Kalewipoeg (unter Beifügung einer deutschen Übersetzung von Reinthal und Dr . Bertram) zu Dorpat 1857─61. Jnhalt: Der Held ─ Kalewipoeg ─ schwimmt ohne Ermüdung über den finnischen Busen. Er will den Fingerring einer Jungfrau aus dem Brunnen holen, bringt aber einen Mühlstein heraus. Mit einem Felsblocke wirft er nach einem Wolf; seine Finger hinterlassen Spuren, daß ein Mann darin stehen kann. Wiederholter Besuch in der Unterwelt und Reise zur Aufsuchung des Endes der Welt u. s. w. Der Held geht unter durch sein eigenes Schwert, trotz aller Heldenthaten und Verdienste, weil er in seiner Jugend im Rausch einen Schuldlosen tötete. Jhm ist nun die Bewachung der Pforte der Unterwelt anvertraut, und seine Schätze warten ─ wie der Nibelungenhort ─ dessen, der sie heben wird &c. Das Kalewipoeg ist wertvoll durch seine ethische Tendenz, als Beispiel, daß kein Frevel unbestraft bleibt, wenn es auch als eigentliches Volksepos geringeren Wert haben dürfte. Probe aus dem Kalewipoeg. (Übers. von Kreuzwald. ) (Aus dem 1. Gesang S. 15.) Hoch im Norden hob ein Hausstand Sich empor aus Felsentrümmern Dicht an Taara's Eichenhaine, Halb versteckt im Waldesdunkel, Halb begrenzt von offner Fläche. Hier entsprang ein Knabendreiblatt, Kräft'ge Brut aus Göttersamen. Einer wanderte nach Rußland, Nach dem Norden zog der andre, Auf den Rücken eines Adlers Schwang der dritte sich der Brüder. Der nach Rußland ausgewandert, Wuchs heran zum tücht'gen Kaufmann Und geschickten Bortenweber; Der nach Nordland war gezogen, Ward ein Krieger, der die Streitaxt Kräftiglich zu führen wußte. Der sich auf des Adlers Rücken Zum Emporflug aufgeschwungen, Führt' ein vielbewegtes Leben, Drang nach Süden und nach Osten Vor auf seinem Adlerfluge, Kreuzte die Gewässer Finnlands Und durchstrich der Wiek und Wierlands Unwirtbare Meeresfluten, Bis sich sein Geschick erfüllte, Und nach Gottes weiser Fügung Jhn sein Aar am Felsenstrande Wierlands unsanft niedersetzte. Kaum in unser Land getragen, Maß er seines Reiches Grenzen Sorgsam aus in weitem Umfang Und erbaute sich den Wohnsitz, Wo die Zügel der Regierung Sich in kräft'ger Hand vereinten. Mehr berichten unsre Auen, Mehr auch unsre weiten Moore Nichts in alten Liedersagen Über Vater Kalew's Walten, Als den Anfang seiner Herrschaft. Wie er um die Braut geworben, Um als Weib sie heimzuführen, Davon singt nur eine Sage Aus den Estendörfern Pleskau's, Und wir geben, was wir hörten, Mit den überkommnen Worten. Jn der Wiek lebt' eine Witwe, Jugendlich, doch still und einsam, Wie ein unbewohntes Stübchen, Wie ein Hüttchen ohne Schirmdach. Auf der Viehtrift schritt sie Sonntags Und, wie es sich fügte, sonst auch Sorgsam selbst der Herde folgend. Und was fand sie einst am Wege, Auf der Trift in Rinderspuren, Auf dem Schaukelplatz des Dorfes? Fand das Küchlein an dem Wege, Fand das Birkhuhnei im Huftritt, Vor dem Dorf die junge Krähe. Und die Witwe nahm das Küchlein Und verbarg das Ei im Busen &c. Schluß des Kalewipoeg. (S. 522.) Und man setzt' den Kalewiden Rittlings auf ein weißes Reitroß, Sandt' ihn auf geheimen Wegen Zu des Höllenreiches Grenzen, Um die Thore zu bewachen, Den Gehörnten zu bedräuen, Daß aus Banden und aus Fesseln Der Gesell nicht weichen möge. Als der starke Sohn des Kalew Zu dem Felsenthor gelangt war Vor die Thür des Schattenreiches, Rief von oben eine Stimme: „Schlage mit der Faust den Felsen!“ Und die schwere Hand erhebend Schlug er mit der Faust den Felsen, Daß sie spaltend tief hineindrang: Und die Rechte blieb gefangen. Dort auf seinem Rosse reitet Heute noch der Kalewide Handgefesselt an dem Felsen, Und bewacht am Höllenthore, And'rer Fesseln, selbst gefesselt. Höllengeister suchen emsig Doppelt angebranntes Kienholz, Um die Ketten zu zerbröckeln, Um die Fesseln zu zerreißen, Deren Ringe um die Julzeit Schrumpfen ein zu Härchendicke. Aber ruft der Hahn im Frührot Von des alten Vaters Thoren Um das Julfest anzukünden: Werden jener Kette Glieder Alle plötzlich wieder dicker. Kalew's Sohn versucht die Rechte Mit Gewalt von Zeit zu Zeiten Aus der Felsenwand zu reißen, Und mit Schütteln und mit Rütteln Macht den Boden er erbeben Und die Hügel zitternd schwanken, Und das Meer fängt an zu schäumen; Doch ihn hält die Hand von Mana: Daß der Wächter nicht vom Thore, Der Beschützer nicht entweiche. Einmal wird die Zeit beginnen, Wo die Späne von zwei Seiten Jn gewalt'gen Flammen brennen, Und die off'nen Gluten schmelzen Dann die Hand auch von dem Felsen. Dann kehrt Kalew auf die Erde, Seinem Volke Glück zu bringen, Eine neue Zeit der Esten. c . Das Volks-Epos der Lappen. Noch freier als Kreuzwald im Kalewipoeg ist Dr . Bertram in Bearbeitung der vom Pastor Fjelder in Lappmarken 1850 aus Volksmund aufgezeichneten Sagen der Lappen zu einem einheitlichen Volks-Epos verfahren, das den Titel führt: Peivash Parn é h, die Sonnensöhne. (55 Seiten.) Er bringt Sachen, von denen das Original absolut nichts bietet, wenn er sich auch dem Ton desselben durch Verschmelzung von Allitteration, Assonanz und Reim anzuschließen strebt. Seine Arbeit ist als litterarische Erscheinung immerhin von Wert, was auch der Ausspruch eines Kritikers beweist: „Es weht uns aus diesem Gedichte die frische Harzluft der nordischen Wälder entgegen. Es ist als hörten wir die frischen Wasser des inselreichen Enarasees unter den Schatten ihrer düsteren Ufertannen rauschen, wie märchenhafte Stimmen der Edda.“ Bertram nennt seine Übersetzung deutsche Variationen über ein lappländisches Thema. Sie erschien Helsingfors 1872. Jnhalt: Der Sonnensohn Peiwar hört von der unvergleichlich schönen Riesenjungfrau Kalla und segelt in seinem Goldschiff zu ihr. Er findet sie am Strande und gewinnt ihre Liebe. Sie führt ihn zum blinden Riesenvater, der zur Probe der Stärke Peiwars dessen gekrümmten Finger biegen will. Die schlaue Kalla befestigt den Schiffsanker am Felsen, dem Vater vorspiegelnd, dies sei der Finger. Als trotz riesenhafter Anstrengung dieser Finger nicht zu biegen war, vermählte er die (mehrfach an die kolchische Medea erinnernde) Tochter Kalla mit Peiwar. Dann trinkt er vom mitgebrachten Met soviel, daß er in trunkener Lustigkeit singt: Heira, Heira! Klingangok! Über Stein und über Stock Möcht ich stampfen, springen, fliegen. Met ist Mut und Wein Vergnügen, Heira, Heira! Klingangok! u. s. w. Der nun scheidenden Kalla giebt er all' sein Gold, dazu die dreifach geknotete Wunderschnur, welche nach Lösung der Knoten heftigen Wind zu erzeugen vermag. Als Kallas Riesenbrüder heimkehrend das Geschehene erfahren, beschließen sie, die Betrüger zu verfolgen. Der Vater will die Söhne zurückrufen, wobei er vom Felsen stürzt und ertrinkt. Kalla gewahrt kaum das Boot der racheschnaubenden Brüder, als sie den ersten Knoten der Wunderschnur löst. Der Wind erhebt sich. Die Riesen verdoppeln ihre Kraft. Kalla löst den zweiten Knoten, und zum Platzen prall werden die Segel. Die Riesen rudern mit rasender Kraft, blutigen Schaum um den Mund. Da löst Kalla den 3. Knoten. Entsetzlicher Sturm beginnt zu rasen, das Goldschiff bis auf den Grund schleudernd, als Kalla die Truhe öffnet und Gold und Gabe opfert. Hell wird's im Osten. Die Verfolger erklettern den Lofodenfelsen, um nach dem Goldschiff zu spähen. Da steigt der Sonnengott siegreich empor und zeigt ihnen das Goldschiff. Als sie dem Sonnensohn fluchen und dem Schiff nachzueilen versuchen, verwandelt sie der zürnende Gott in Stein. Peiwar wird mit seiner blühenden Gattin in seinem Reiche jubelnd begrüßt. Seine 3 Sonnensöhne erweisen sich an Wuchs und Weisheit als Riesen mit festem Blick, wie es Sonnensöhnen geziemt. Proben aus dem Peivash Parn é h, die Sonnensöhne. (Übers. von Dr . Bertram.) Erster Gesang. S. 3. Eine Kunde ist im Kjölen erklungen, Eine Sage vom Süden gesungen, An Felsen und Fjorden gefunden, Beim Wehen des Westwinds gewunden, Gewonnen aus des Waalmeeres Wogen, Aus Halmen der Heide gezogen, Entrissen der rauschenden Welle, Gehoben aus heimlicher Quelle Fernen Geschlechtern &c. Zweiter Gesang. S. 8. Sieh! vor dem schaukelnden Schiffe Ragen rauhrötliche Riffe, Goldig strahlet ein Strand, Silbern lächelt das Land! Peiwar zügelt die Wonne, Es zögert der Sohn der Sonne, Bis herab Düster und Dunkel steigt, Freiern günstig geneigt. Dann naht auf flimmernden Pfaden Kalewalas Gestaden Leise das Goldschiff. &c. S. 11. Du fragst, was ich suche: So höre: „Jch suche durststillenden Born, Zärtliche Zähmung im Zorn, Jch such einen Freund in der Not, Treu mir im Leben und Tod, Jm Glück einen zwingenden Zügel, Jm Unglück den rettenden Flügel, Jm Herzenskummer Ersatz, Jm Elende einen Schatz, Jn Armut einen Verbleib, Mit einem Wort: Jch suche ein Weib! ─ ─ ─ &c. Dritter Gesang. S. 15. Rauch ringelt empor und Dampf Aus graumoosigem Felsgemäuer; Horchend am Herdesfeuer Sitzt Kalew, geblendet im Kampf; Regungslos, ein Riesengebild, Jn des Eisbärs Zotten gehüllt, Ein Ungeheuer, anzuschauen Wie Gram und Grauen. Er denkt Des Weibes in Frieden, Der Heimgegang'nen, Der Nachtumfang'nen, Manalamüden, Die er in's Grab gesenkt Jn birkborkener Spinde, Wo zwischen Sand und Rinde Sie ruht. Er denkt Der Riesensöhne; Ungeheuer wie er, Die zum Fang in's Meer Zur Jagd die Jöllen gelenkt, Jn's wogende Waalmeer. &c. S. 33. Kaum hat Kalla den Knoten entschlungen Als dröhnender Donner erklungen; Bleichblaue Blitze schießen, Schlossen schauern in Spießen; Das sind nicht Wellen, feurige Felsen Scheinen im Meer sich zu wälzen. Hoch zum Himmel peitscht und zischt, Schneeflocken gleich, der Schaum und Gischt, Die Trombe, ein tanzender Turm, Wälzt sich herbei im wirbelnden Sturm: Jn der hohlen Mitte hinauf Jn drohendem, drängendem Lauf Schraubt empor sich ein Wasserstrahl, Weißbauchiger Riesenaal; Und wieder zuckt und züngelt die lange Schwarzgraue Himmelsschlange. Und dreht sich dräuend und dick Um den Aal zum Riesenstrick, Der urgewaltig, Grimmgestaltig Mit Blitzen, Donnern und Toben Vermählet das Unten und Oben. Was er ergreift und umschlingt, Das sinkt Rettungslos, zerrissen, umwettert, Zersplittert, zermalmt und zerschmettert. Es biegt wie Schilf sich der Mast Von dem Orkane erfaßt. Er reißt und zerspleißt Mit grimmem Ergötzen Die Segel in silberne Fetzen. Das Goldschiff liegt auf der Seite. Es hebt sich stöhnend und steigt Aus dem schaurigen Schlunde &c. Schluß S. 42. Also klinget im Kjölen die Kunde, Und lebt in der Lappmark Munde, Ob auch längst schon Peiwar nnd Kalla Wallten empor zur Walhalla.“ § 115. Gemeinsame Ausgangspunkte oder Vergleichsmomente sämtlicher Volksepen. Genaue Kenntnis der Volksepen ermöglicht deren prüfende Betrachtung hinsichtlich ihrer Verwandtschaft oder Ähnlichkeit. Diese ergiebt sich hauptsächlich aus folgenden, in die Augen springenden, einer skizzenhaften Andeutung nicht unwerten Momenten. 1. Die Helden sind mehr oder weniger mit göttlichen Attributen ausgerüstet. 2. Die weiblichen glänzenden Charaktere spielen eine große Rolle und tragen wesentlich zur Herbeiführung der Katastrophe bei. 3. Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung. 4. Die Volksepen tragen der religiösen Anschauung des Volks und ihrer Zeit Rechnung. 5. Die Volksepen gleichen sich hinsichtlich ihrer Mythologie. 1. ( Die Helden sind mit göttlichen Attributen ausgerüstet. ) Die ihr Schicksal selbst entscheidenden Helden der Volksepen vertreten meist die Stelle der Götter; sie sind Halbgötter, oder (wie R â ma) Gottmenschen, die gegen die unbestimmten Mächte ankämpfen und unmöglich Scheinendes leisten. Jm Mah â bh â rata ist es der junge Held Korna (in der Episode Nal und Damajanti Nal, in Hidimba Bhima, in Sawitri Satiawan ), im R â m â jana R â ma, im Homerschen Epos Achilles, bei den Nibelungen Siegfried, im Kalew â la Wäinämöinen &c., die alle von wunderbarer Kraft und Kühnheit sind. Korna erhält vom Sonnengott einen undurchdringlichen Panzer, Achilles wird durch Eintauchen in den Styx bis auf die Ferse, Siegfried durch das Blut des Drachen Fafnir bis auf eine Stelle zwischen den Schultern unverwundbar; Nal kann den Flammen trotzen u. s. w. Achilles zeichnet sich durch heroische Tapferkeit vor den Sterblichen aus, Odysseus durch geistige Fähigkeiten, Siegfried durch Heldenhaftigkeit und Gemüt, Wäinämöinen durch himmlisches Spiel &c. Nur durch eigene Schuld konnten solche göttliche Helden der Volksepen ihren Untergang einleiten: Achilles durch Verbindung mit Polyxena, Siegfried mit Kriemhilde und den Nibelungen &c. 2. ( Weibliche Charaktere von großem Glanze spielen in den Volksepen eine große Rolle. ) Jn der Odyssee sichert Penelope demjenigen ihre Hand zu, der den Bogen ihres Gemahls zu spannen und ein gewisses Ziel zu treffen vermöge. Ähnlich handelt Draupadi im Mah â bh â rata, die zur Bedingung die Handhabung des Bogens ihres Vaters macht. Jn den Episoden des Mah â bh â rata sind es Damajanti, Hidimba, Sawitri, welche die Konflikte herbeiführen. Jm R â m â jana ist es Sita, die, vom Riesenkönig Ravana nach Ceylon entführt, von R â ma zurückerobert wird. Jn der Jlias ist es Helena, welche den Zug veranlaßt. Jm Kalew â la=Epos ist es die Tochter der Pohjola-Herrin, welche die Helden herbeizieht. Jm Kalewipoeg ist es eine Jungfrau, durch deren Fingerring sich der Held zur Handlung bestimmen läßt. u. s. w. 3. ( Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung. ) Wenn auch das Homersche Epos in vieler Beziehung unerreicht dastehen dürfte, so gleichen ihm doch die übrigen Volksepen durch ihre wunderbare Schönheit der Darstellung, durch ihren Reichtum des Farbenwechsels, durch ihre mit dem Großartigen verbundene Anmut, durch die Kühnheit der Charakterzeichnung, durch ihre eigenartige Ausführung. 4. ( Die Dichter der Volksepen tragen mehr oder weniger den religiösen Anschauungen ihrer Zeit Rechnung. ) Der Grieche und der Jnder glaubten an den Verkehr mit den Göttern so fest, wie viele Leute in neuer Zeit noch ans Erscheinen der heiligen Jungfrau glauben, oder wie das alte Testament den Glauben an den Verkehr Gottes und der Engel mit den Menschen voraussetzt. Man fand es begreiflich, daß im Mah â bh â rata, wie bei Homer und in der Kalew â la, die Götter eingriffen und das außerhalb menschlicher Kraft Liegende helfend besorgten. 5. ( Verwandtschaft der Mythologie. ) Die Mythologie der Völker entspricht sich in vielen Stücken. Besonders ist dies bei der griechischen und indischen in bezug auf innern Reichtum der Fall. Die ältere indische Mythologie ist so üppig und prachtvoll als die griechische; die Wohnung des Jndra ist sogar noch glänzender und reicher, als die des Zeus, wenn man auch bei den indischen Göttern nicht jene Jdeale menschlicher Form suchen darf, welche die griechische Mythologie bietet. Jch habe in meiner Arja (S. 494) eine Vergleichung der altindischen Götter mit den griechischen herzustellen gesucht und die Musen des Helikon mit denen des Berges Meru zusammengehalten. Es muß den Laien in Erstaunen setzen, daß Venus wie Lackschmi aus dem Schaume des Meeres hervorgingen, ja, daß diese beide Göttinnen, wie auch Zeus und Jndra, Apollo und Krischna, Bacchus und Soma, Amor und Kama &c. unendlich viel miteinander gemein haben u. s. w. § 116. Die Kunstepen. 1. Das Kunstepos ist nicht (wie das Volksepos) die That und der naturgemäße, unmittelbare Ausdruck des dichterischen Volksbewußtseins, sondern das nach einem bestimmten Plan ausgeführte, absichtsvolle Werk eines einzelnen Dichters, das Produkt seiner Bildung, seiner Subjektivität, seiner Phantasie 2. Das alte Kunstepos ist meist nur Bearbeitungs- oder Nachahmungs=Epos. Der Dichter mußte auch hier seinen Stoff künstlerisch durchdringen; er mußte Wesen und Erscheinung vereinen und die Anschauungsweise seines Stoffes unverletzt bewahren. 3. Schiller definiert den Begriff des modernen Kunstepos nach dem Muster der Jliade. 4. Nur wenige Kunstepen der Neuzeit entsprechen den Schillerschen Anschauungen. 1. Die erste Blüte des Kunstepos fällt in die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts, also in dieselbe Zeit, in welcher unsere deutschen Nationalepen zur Bedeutung gelangten. Da das älteste deutsche Kunstepos von den höfischen Dichtern herrührt, so nannte man es nach diesen Verfassern das höfische Epos. Jm Gegensatz zum romantischen Epos des 19. Jahrhunderts kann man es wohl auch als das altromantische Epos bezeichnen. Der Stoff desselben war nicht mehr der altdeutschen Heldensage entnommen, sondern er war meistenteils dem romanischen Sagenkreise (Karls des Großen, ferner der Gral- und der Artussage) entlehnt. Das Kunstepos strebte nach künstlicherem Ausdruck und liebte an Stelle der schönen Nibelungenstrophe kurze Reimpaare. Da ihm nach Jnhalt und Form von vornherein die nationale Bedeutung des älteren objektiven Volksepos der früheren Zeit mit seinem naiven Glauben an die Macht der Götter mangelte, so stellte man es dem Volksepos als das künstlerische Epos (Kunstepos) gegenüber. Diese Gegenüberstellung darf jedoch nicht etwa auf den Gedanken bringen, daß das Kunstepos sich dem Werte nach zum Volksepos verhalte, wie etwa Kunstpoesie zur Volkspoesie. Vielmehr überragt z. B. das Nibelungenepos die sämtlichen altromantischen Kunstepen im verständnisvollen vorbildlichen Aufbau. 2. Das Kunstepos als Bearbeitungs- oder Nachahmungs-Epos wurde sofort fehlerhaft, wo der Dichter lediglich nachahmte, ohne seinen Stoff künstlerisch so zu durchdringen, daß Wesen und Erscheinung sich deckten und die Anschauungsweise des Stoffes unverletzt blieb. Vergil in seiner dem klassischen Epos nachgeahmten Äneide fehlte, weil er eine Sage aus der heroischen Zeit nahm und ihr eine der Anschauungsweise des Stoffes fremdartige kaiserlichrömische Ausführung gab. Römisch moderne Figuren paßten eben nicht für diesen Stoff. Die bewunderte Scene von Nisus und Euryalus, mit der nächtlichen Spähe des Odysseus und Diomedes Homers verglichen, zeigt daher eine falsche Nachahmung. Klopstock mit seinen Schutzengeln hat ebenso gefehlt, als diejenigen, welche nach Homers Vorgang die Leitung der Götter als zum Wesen des Kunstepos gehörig betrachten wollten. Das Kunstepos der Neuzeit verlangt eine unseren Anschauungen entsprechende Maschinerie. Hätten Dichter wie Hartmann von der Aue, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach weniger das Fremde nachgeahmt, so würden ihre Kunstepen volkstümlicher geworden sein. So entstand nur das immerhin ansprechende höfische Epos mit seinen paarweise vereinten Versen von 4 Hebungen; es übersetzte fremde Stoffe, wobei durch die damalige Pflege des Minnesangs meist die Minne das treibende Agens des Kunstepos wurde, oder in der Luft schwebende lyrische Tiraden den reinen epischen Stil durchsetzten und die Verbindung mit dem objektiven Volksepos erschwerten. 3. Schiller hatte die Absicht, für unsere Zeit ein großes Epos zu schaffen, das, aus dem Geist dieser Zeit herausgeschrieben, diesen für alle Zukunft ebenso wiederspiegelte, wie die Jlias und Odyssee den Geist ihrer Zeit, das also ein modern künstlerisches Volksepos zu sein imstande wäre. Schiller trug sich mit dem Gedanken, zum Helden eines solchen Epos Friedrich den Großen zu nehmen, nur ─ meinte er ─ komme ihm die Jdee für sechs bis acht Jahre zu früh. Sein Ausspruch ist bezeichnend für den Begriff des modernen historischen Kunstepos. Er sagt: „Alle Schwierigkeiten, die von der Modernität dieses Sujets entstehen, und die anscheinende Unverträglichkeit des epischen Tons mit einem gleichzeitigen Gegenstande würden mich so sehr nicht schrecken. Ein episches Gedicht im 18. Jahrhundert muß ein ganz anderes Ding sein, als eines in der Kindheit der Welt. Und eben das ist's, was mich an dieser Jdee so anzieht. Unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophien, unsere Verfassungen, Häuslichkeit, Künste, kurz alles muß auf eine ungezwungne Art darin niedergelegt werden und in einer schönen harmonischen Freiheit leben, sowie in der Jliade alle Zweige der griechischen Kultur u. s. w. anschaulich leben. Jch bin auch gar nicht abgeneigt, mir eine Maschinerie dazu zu erfinden, denn ich möchte auch alle Forderungen, die man an den epischen Dichter von Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen. Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoff, in einem so prosaischen Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt wird. Es rollen allerlei Jdeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch etwas helles daraus bilden. Welches Metrum ich dazu wählen würde? Kein anderes, als ottave rime . (Vgl. I S. 551.) Auch über die Epoche aus Friedrichs Leben, die ich wählen würde, habe ich nachgedacht. Jch hätte gerne eine unglückliche Situation, welche seinen Geist unendlich poetischer entwickeln läßt. Die Haupthandlung müßte womöglich sehr einfach und wenig verwickelt sein, daß das Ganze immer leicht zu übersehen bliebe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig wären. Jch würde darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert darin anschauen lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die Jliade“ u. s. w. 4. Seit Begründung des höfischen Kunstepos entstanden nur wenig Kunstepen, welche der Anforderung Schillers genügen. Jch nenne besonders Jordans Nibelungen, ferner in gewissem Sinne Das Mädchen von Capri von J. Grosse, Die Braut von Cypern von Paul Heyse, Die Völkerwanderung von H. Lingg, Ahasver von Hamerling &c. § 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos. Wir führen nachstehend die sämtlichen Kunstepen bis in die Gegenwart je nach den in ihnen vorherrschenden Elementen vor. Als charakteristische Gruppen oder Gattungen des Kunstepos treten hervor: 1. das altromantische oder höfische Epos, 2. das neuromantische, 3. das religiöse, 4. das idyllische, 5. das historische, 6. das komische und das humoristische Epos, 7. das Tierepos. § 118. Altromantisches oder höfisches Epos. 1. Das altromantische oder höfische Epos ist das Vorbild des neuromantischen. (§ 120 d. Bds.) Es wurde auf Ritterburgen und an den Höfen kunstliebender Fürsten gepflegt. 2. Sein Stoff war den 3 Sagenkreisen von Karl dem Großen, von Artus und vom h. Gral entlehnt ( I S. 45). Daher war es auch vom Geist der Romantik erfüllt; daher blieb es bis in die Gegenwart beliebt. 3. Seine Maschinerie unterschied sich von der im Volksepos dadurch, daß mythische Mächte die Rolle der Götter vertreten. 4. Die Bezeichnung höfisches Epos ( hövesch oder hovelich ) sollte einen Gegensatz zum dörflichen ( dörpeclichen ) Volksgesang ergeben. Häufiger nannte man diese Epen im Gegensatz zu unseren Mären die Aventüren und ihren Helden der aventure herre . Später ging man weiter und bezeichnete auch die einzelnen Abschnitte eines altromantischen Epos als Aventiuren; sogar die Quellen, aus welchen der Dichter schöpfte, belegte man mit diesem Namen. 5. Vielfach wurde die Aventura personificiert. 1. Das höfische oder altromantische Epos hat mit dem neuromantischen gemein, daß bei ihm ─ wie bei diesem ─ das Wunderbare, Feenartige, Romantische vorherrscht (vgl. S. 6 d. Bds., sowie I . S. 58. 88), daß es seinen Stoff aus der Rittergeschichte des Mittelalters, aus der sog. romantischen Zeit nimmt, Abenteuerliches erzählt &c. 2. Kühne Begeisterung für romantisch ritterliche Thaten, schwärmerische Liebe zu Gott, Christus und der Jungfrau Maria, also positiv christlicher Hintergrund, ─ ferner warme Liebe zum Übersinnlichen, die das Romantische in's Reich der Sinne zog, endlich innig sinnige Schwärmerei für das sinnlich Schöne, für die Dame des Herzens: dies war Jnhalt, Grundzug und Geist der altromantischen Epen. Wie der heranwachsende Knabe das Ammenmärchen nicht mehr für bare Münze hinnimmt, sich aber trotzdem an demselben labt, so erfreut man sich auch heute noch an den Wundergebilden der Romantik und des Aberglaubens, ohne sie für Thatsachen hinzunehmen. Das dem Gefühl sich überlassende, den Verstand aber fliehende Zauberhafte hüllt sich gern in ein magisches Dunkel und versetzt sich daher in möglichst fremde Gebiete. Jn die romantischen Epen ragt daher das Morgenland hinein. 3. Die Maschinerie, welche beim Heldenepos durch die mitwirkenden Götter der Heldenzeit gebildet wird, vertreten im romantischen Epos Engel und Teufel, Zauberer, Feen, Elfen, Riesen und Zwerge u. s. w. 4. Man nennt altromantische Epen auch solche, welche ihrem Wesen und Stoffe nach von den Jtalienern, Portugiesen und Franzosen (d. h. von den romanischen Völkern) herrühren. Die Bezeichnung Aventüre (ital. avventura , prov. aventura , franz. aventure , mittelh. âventiure , mittellat. a-d-ventura == Ereignis, Bericht, Geschichte, Gedicht) ist herzuleiten vom mittellat. advenire == klass. evenire sich zutragen (vgl. das franz. Sprichwort: fais ce que tu dois, advienne que pourra ), daher Aventura == das Geschick, das sich Ereignende. 5. Jm Proven ç alischen galt die Aventura als Göttin (glücksgöttin, Fortuna). Auch der mittelh. Dichter personificierte die Aventiure. Die Frau Aventiure, die bei Hans Sachs Abenteuer bedeutet, wird zur schönen Jungfrau, welche einen Stab und einen unsichtbar machenden Ring trägt und durch die Welt reist, deren Lauf zu erforschen. Bei jedem Dichter klopft sie Einlaß erbittend an, sie unterhält sich mit ihm, bescheidet ihn, prüft und erleuchtet seine Begebenheiten und wird so des Dichters Muse. (Vgl. J. Grimm, Frau Aventiure, Kl. Schriften 1. 84.) § 119. Vorführung der altromantischen Epen. Folgende Kunstepen werden als die höfischen oder altromantischen bezeichnet: I . Parzival, von Wolfram von Eschenbach; II . Tristan und Jsolde, von Gottfried von Straßburg; III . Jwein, von Hartmann von Aue; IV . Das Rolandslied des Pfaffen Konrad (aus dem Französischen übersetzt); dazu kommt V . Der rasende Roland ( Orlando furioso ), von Ariosto aus dem Jtalienischen übersetzt. I . Parzival. Diese großartige Dichtung des tiefsinnigsten, bedeutendsten Dichters des Mittelalters Wolfram von Eschenbach, der um 1200 in der Glanzperiode der Hohenstaufen auf der Wartburg am Hofe Hermanns von Thüringen lebte, ist unstreitig sein Hauptwerk, ja, das schönste romantische Epos, das wie kein anderes in eine ideale Gemütswelt versetzt. Jnhalt: Gahmuret, ein Abenteurer aus dem königlichen Geschlechte Anschau (Anjou), will nicht Jngesinde seines erstgeborenen Bruders sein; er wandert von Land zu Land, wird nach dem belagerten Patelamnut verschlagen, das er entsetzt, worauf er die Mohrenkönigin Belakane heiratet. Er verläßt sie unter Zurücklassung eines Geschlechtsregisters für den später geborenen, gefleckten Sohn Feirefiß und gewinnt durch ein Turnier als Preis Titurels Enkelin Herzeleide, die jungfräuliche Witwe. Bald fällt er in der Schlacht, und Herzeleide erzieht ihren Sohn Parzival in der Wald-Einsamkeit. Als Parzival erwachsen ist, beschließt er, auf Abenteuer auszuziehen, um Gott zu dienen und den schwarzen Höllenwirt zu bekämpfen. Die Mutter legt ihm ein Narrengewand an, um ihn lächerlich zu machen, und ihn so zurückzuhalten. Sie sinkt tot zu Boden, nachdem er sie dennoch verlassen hat. Er gelangt an den Hof des Königs Artus, besteht Abenteuer, bemächtigt sich der Rüstung eines von ihm Erlegten, rettet die schöne Königin Kondwiramur von ihren Freiern und vermählt sich mit ihr. Von Sehnsucht nach seiner Mutter erfaßt, verläßt er die Gemahlin und gelangt zur Gralsburg auf dem Berg Montsalwäsche, wo der alte König Titurel war. Da er das Fragen unterläßt, ─ an welches die Heilung des kranken Königs Anfortas, seines Oheims, wie sein eigenes Königtum gebunden war, (denn niemand erlangt das Heil, der nicht nach demselben fragt) ─ verscherzt er die Krone des heiligen Gral. Die Urenkelin Titurels, Sigune, sagt ihm, wo er sich befindet und was er verscherzt habe. Gawan, der nach ihm gesandte Ritter von Artus' Tafelrunde, reißt ihn aus seiner Verzweiflung. Als er von Artus eben unter die Ritter der Tafelrunde aufgenommen werden soll, flucht ihm die grausenhafte, zauberische Gralsbotin Kondrie la Sorziere . Da entsagt er der Tafelrunde und irrt umher, bis er zum Einsiedler Trevrezent, seinem Onkel, gelangt, bei dem er Absolution erhält. Artus nimmt ihn in die Tafelrunde auf. Er kämpft mit seinem Bruder Feirefiß, erkennt ihn und kommt mit ihm zu Artus. Da verkündigt Kondrie, daß er zum König des Grals ernannt worden sei. Seine Gemahlin Kondwiramur vereint sich wieder mit ihm und er bestimmt seinen Sohn Loherangrin (Lohengrin) zum Nachfolger im Königtum des Gral. Der Gang des Epos ist: „Parzival im Naturzustande; sein Weltleben; Ahnung des Göttlichen; Zweifel und Kampf mit demselben; Demütigung, Läuterung, Sieg durch Gottvertrauen und ritterliches Leben.“ Probe aus Parzival, von Wolfram von Eschenbach. Aus der XVI . Aventiure. Ausgabe von Karl Lachmann. (Berlin 1833. S. 375.) Alweinde Parzivâl dô sprach ‘saget mir wâ der grâl hie lige. op diu gotes güete an mir gesige, des wirt wol innen disiu schar.' sin venje er viel des endes dar drîstunt zêrn der Trinitât: er warp daz müese werden rât des trûrgen mannes herzesêr. er riht sich ûf und sprach dô mêr ‘oheim, waz wirret dier?' der durch sant Silvestern einen stier Von tôde lebendec dan hiez gên, unt der Lazarum bat ûf stên, der selbe half daz Anfortas wart gesunt unt wol genas. swaz der Franzoys heizt flôrî, der glast kom sinem velle bî. Parzivâls schoen was nu ein wint, und Absalôn Dâvides kint, von Ascalûn Vergulaht, und al den schoene was geslaht, unt des man Gahmurete jach dô mann în zogen sach ze Kanvoleiz sô wünneclich, ir decheins schoen was der gelîch, die Anfortas ûz siecheit truoc. got noch künste kan genuoc. da ergienc dô dehein ander wal, wan die diu schrift ame grâl hete ze hêrren in benant: Parzivâl wart schiere bekant ze künige unt ze hêrren dâ. ich waene iemen anderswâ funde zwêne als riche man, ob ich rîcheit prüeven kan, als Parzivâl unt Feirefîz. man bôt vil dienstlîchen vlîz dem wirte unt sîme gaste. ine weiz wie mange raste Condwîr âmûrs dô was geriten gein Munsalvaesch mit freude siten. Si hete die wârheit ê vernomen: solch botschaft was nâh ir komen, daz wendec waere ir klagendiu nôt. der herzoge kyôt und anders manec werder man heten si gefüeret dan Übersetzt von Simrock. (Stuttgart 1876. S. 295.) Parzival mit Weinen sprach: „Sagt mir wo der Gral hier liege. Ob Gottes Gnade an mir siege, Des werdet ihr wohl inne werden.“ Da warf er betend sich zur Erden Dreimal zur Dreifaltigkeit, Daß des traurgen Mannes Leid Jetzt ein Ende möcht empfahn. Der Held stand auf und sprach alsdann: „Oheim, was fehlet dir?“ Der für St. Silvestern einen Stier Vom Tode lebend wandeln hieß, Der Lazarum erstehen ließ, Derselbe half, daß Anfortas Alsbald zu vollem Heil genas: Was der Franzose nennt Florie, Den Glanz er seiner Haut verlieh. Parzivals Schönheit war nun Wind, Und Absalons, Davidens Kind, So aller, die wie Vergulacht Die Schönheit erblich hergebracht, Auch Gachmuretens Schönheitspreis, Als er dort zu Kanvoleis Einzug hielt so wonniglich ─ All ihre Schönheit dieser wich, Die Anfortas aus Siechheit trug. Gott kann der Künste noch genug. Da braucht' es weiter keine Wahl: Durch die Schrift an dem Gral War ihnen schon ein Herr benannt. Parzival ward anerkannt Als König und Gebieter dort. Man fände wohl an anderm Ort So leicht nicht zwei so reiche Männer (Von Reichtum bin ich zwar kein Kenner), Als Parzival und Feirefiß. Zu Dienst sich Männiglich befliß Dem Wirt und seinem Gast zumal. Jch weiß nicht der Rasten Zahl, Die Kondwiramur geritten kam Gen Monsalväsch wohl ohne Gram. Sie hatte alles schon vernommen: Jhr war die Botschaft gekommen, Ein Ende hätt' all ihre Not. Von dem Herzogen Kiot Und noch manchem werten Degen War sie auf waldgen Wegen ze Terre de salvaesche in den walt, dâ mit der tjoste wart gevalt Segramors unt dâ der suê mit bluote sich ir glîcht ê. dâ solte Parzivâl si holn: die reise er gerne mohte doln. disiu maer sagt im ein templeis, ‘manec rîter kurteis die küngin hânt mit zühten brâht.' Parzivâl was sô bedâht, er nam ein teil des grâles schar und reit für Trevrizenden dar. des herze wart der maere vrô, daz Anfortases dinc alsô stuont daz er der tjost niht starp unt im diu vrâge ruowe erwarp. dô sprach er ‘got vil tougen hât. wer gesaz ie an sînen rât, ode wer weiz ende sîner kraft? al die engel mit ir geselleschaft bevindentz nimmer an den ort. got ist mensch unt sîns vater wort, got ist vater unde suon, sin geist mac grôze helfe tuon.' Trevrizent ze Parzivâle sprach ‘groezer wunder selten ie geschach, sit ir ab got erzürnet hât daz sîn endelôsin Trinitât iwers willen werhaft worden ist.' Gen Monsalväsch geführt, bis dort Wo Segramors, ihr kennt den Ort, Aus dem Sattel war gewichen, Und ihr der blutge Schnee geglichen. Da sollte Parzival sie finden: Des mocht er gern sich unterwinden. Ein Templer bracht ihm jetzo Märe: Mit der Königin gekommen wäre Höfscher Ritter große Zahl. Nicht lang besinnt sich Parzival: Mit Eingen von des Grales Heer Zu Trevrezenten reitet er. Den Klausner freute herzlich, daß Es also stund um Anfortas, Daß er von jener Tjost nicht starb Und ihm die Frage Heil erwarb. „Gottes Kraft ist unermessen! Wer hat in seinem Rat gesessen? Wer weiß ein Ende seiner Macht? Zu Ende wird es nie gedacht Von allen Himmelschören dort. Gott ist Mensch und seines Vaters Wort. Gott ist Vater und Sohn zugleich, Sein Geist ist aller Hilfe reich.“ Zu Parzival begann er da: „Ein Wunder ists wie nie geschah, Da ihr mit Zorn zum Himmel saht Daß sein dreieinig ewger Rat Euer Trachten ließ gelingen &c.“ II . Tristan und Jsolt. Dieses bedeutende Epos Gottfrieds von Straßburg (um 1210 verfaßt), führt uns die Freuden der Sinnlichkeit und des irdischen Lebens mit allen seinen Schwächen und Thorheiten vor, ist also der diametrale Gegensatz des Parzival. Reinhold Bechstein hat eine treffliche Ausgabe Tristans (Leipzig 1869) veranlaßt. (Vgl. mein Buch „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ S. 423. Wien, Braumüller 1877, wo ich S. 372─383 auch das früher unbekannte Rückertsche Bruchstück in der Neuen Titurel-Strophe bieten konnte.) Jnhalt: Tristan, der Sohn eines Verführers, kennt seine frühzeitig gestorbenen Eltern nicht. Er übt sich in allen ritterlichen Künsten und im Saitenspiel. Von einem Kaufmann wird er seiner Schönheit wegen entführt, dann an der Küste von Kornwallis ausgesetzt, wo sein Onkel Marke herrscht. Hier wird er zum Ritter geschlagen. Er befreit das Land von einem Tribut an Jrland, wird aber von einem vergifteten Pfeil getroffen. Nur die zauberkundige Königin Jrlands kann ihn heilen. Da läßt er sich, als Spielmann verkleidet, am Strand aussetzen, erlangt Zutritt bei ihr, wird geheilt und erteilt der Königstochter Jsolde Unterricht. Sein Onkel Marke entbrennt in Liebe zu Jsolde. Tristan macht den Brautwerber. Er erhält Jsolde, deren Mutter heimlich der Nichte Brangäne einen die Kraft besitzenden Trank giebt, in Marke Liebe für Jsolde zu erwecken. Unterwegs trinken aber Tristan und Jsolde unbewußt den Trank und entbrennen nun in glühender Liebe zu einander. Jsolde wird zwar Markes Gattin; aber sie täuscht den Gemahl, bis dieser sie mit Tristan verstößt. Nach wiederholten Versicherungen der Treue ruft er Jsolde zurück. Tristan lernt auf seinen Jrrfahrten eine andere Jsolde kennen, Jsolde Weißhand, die er liebt und die ihn die erste vergessen macht. Hier bricht das Gedicht Gottfrieds ab. Die späteren Fortsetzer lassen Tristan diese Jsolde heiraten, ohne daß er sie liebt, so daß beide ohne Annäherung unglücklich neben einander gehen. Simrock führt diesen Schluß herbei: Tristan und Jsoldens Tod durch der verschmähten Gattin Rache. Probe aus Tristan und Jsolt. (Bearbeitung von W. Hertz. Stuttg. 1877.) Tristan am Hofe. S. 85. So war denn, wie die Märe spricht, Tristan zu Haus und wußt' es nicht. Er wähnte fremd sich und allein, Und der sein Vater sollte sein, Dem dient' er nun als seinem Herrn. Der war sein froh und sah ihn gern ─ Denn ihn zog auch sein Herz mit Macht ─ Und ließ ihn nirgends außer acht. Getreu zu allen Zeiten Ging Tristan ihm zur Seiten Und bot sich ihm zu Diensten an, Wo er Gelegenheit gewann. Das nahm der König freundlich hin; Er trug dem Knaben holden Sinn. Es that ihm wohl, wenn er ihn sah. Ein lieber Dienstmann wurde da Tristan am Hof von Tintajol. All das Gesinde hielt ihn wohl Und bot ihm gern Geselligkeit. Auch war er selbst so dienstbereit, So freundlich gegen arm und reich: Ja, hätte er sie alle gleich Auf seinen Händen sollen tragen, Er hätt' es keinem abgeschlagen, Das war ihm so von Gott gegeben: Er konnt' und wollte allen leben, Lachen, tanzen, singen, Reiten, laufen, springen, Bald lärmend und bald leise, ─ Er stimmt' in jede Weise. Eines Tages nun geschah's, Daß Marke nach dem Mahle saß, Zur Zeit, wo man auf Kurzweil denkt, Und horchte ganz in sich versenkt Auf einen Harfner, der im Land War als der beste weitbekannt; Derselbe war ein wälischer Mann. Jndes kam Tristan auch heran Und saß zu seinen Füßen hin. Er achtete mit feinem Sinn Des Liedes und der süßen Noten, Und wär's beim Leben ihm geboten, Hier galt es kein Verstellen. Sein Herz begann zu schwellen; Jhn riß dahin sein freud'ger Mut: Meister, traun, Jhr harfet gut! Jhr habt die Noten recht gebracht, So innig ganz, wie sie erdacht, Wie sie bretonsche Zungen Von Herrn Gurun gesungen Und seiner Herzenskönigin. ─ Der Harfner horchte nach ihm hin; Doch schwieg er still und harfte fort, Als hört' er nicht des Knaben Wort, Bis er sein Spiel vollbracht in Ruh. Dann wandt' er sich dem Knaben zu: Wie weißt du, sprach er, liebes Kind, Von wannen diese Noten sind? Verstehst du was vom Saitenspiel? ─ Ja, edler Meister, doch nicht viel. Einst hatt' ich größre Meisterschaft, Nun blieb mir so geringe Kraft, Daß ich vor Euch zu zaghaft bin. ─ Nein, Freund, nimm diese Harfe hin, Sprach der Waliser, zeig uns an, Was man in deinem Lande kann! ─ Wollt, Meister, Jhr darauf bestehn, Und soll's mit Eurer Huld geschehn, Daß ich Euch harfe? sprach Tristan; ─ Ja, Trautgeselle, hier! Fang an! ─ Wie stand die Harfe, die er nahm, Seinen Händen wundersam! Die waren, hört' ich, schön und fein, Daß sie nicht schöner konnten sein, Weich und linde, zart und schlank Und wie ein Hermelin so blank. Sie glitten prüfend zum Beginn Durch die Harfensaiten hin; Das klang so wunderhell und rein. Jhm fielen liebe Weisen ein, Die Lieder vom Bretonerland u. s. w. Da Tristan so die Saiten schlug, Saß Marke still auf alles achtend, Erstaunt den jungen Freund betrachtend, Der zu verhehlen sich beflissen Solch schöne Kunst, solch edles Wissen u. s. w. S. 88. Er ließ so sicher durch die Saiten Die weißen Finger wogend gleiten; Er ließ die Töne quellen Und immer mächtiger schwellen: Schon füllt der Klang das ganze Haus, Das war nicht bloß ein Ohrenschmaus: Auch aller Augen merkten auf Und folgten seiner Finger Lauf u. s. f. S. 90. Tristan, komm her! rief Marke nun, Wer dich das hat gelehret, Der sei vor Gott geehret Und du mit ihm! Welch schöne Lieder! Wie gerne lauscht' ich ihnen wieder Manchesmal zu nächtger Frist, Wenn's noch zu früh zum Schlafen ist! Nicht wahr, das thust du mir und dir? ─ Ja, gerne Herr! u. s. f. S. 93. Der Heimatlose wurde so Am Hof ein traut Gesinde. u. s. f. (Der Schluß dieses Gesangs lautet:) Doch hiemit sei es nun genug: Wir legen diese Märe nieder Und kehren zu dem Marschall wieder, Wie sich sein treu Gemüte Um den Verlornen mühte. III . Jwein. Jwein oder der Ritter mit dem Löwen ist der Held einer dem Artus-Sagenkreis angehörigen Erzählung, aus welcher Chretiens de Troies Dichtung „ Chevalier au lion “ vor 1190 hervorging, welch' letzterer Hartmann von Aue den rohen Stoff zu seinem frei bearbeiteten, jedenfalls schon vor 1205 bekannt gewesenen Epos Jwein entlehnte, auf welches Wolfram von Eschenbach im Parzival 253, 10 und 583, 29 anspielt. Die Grundidee der Hartmannschen Dichtung ist der Widerstreit von Minne und Heldentum und deren endliche Versöhnung; die Moral und das Ziel derselben ist: „Wer mit ganzer Kraft der Seele nach dem trachtet, was wahrhaftig gut ist, dem folget Glück und Ehre.“ (Eine Ausgabe der Hartmannschen Dichtung erschien von Benecke und Lachmann 1827, desgleichen mit Beneckes Wörterbuch 1833. 1843. 1868. Neuhochdeutsche Übersetzungen mit Erläuterungen lieferten Graf Baudissin [1845] und Fr. Koch [1848].) Jnhalt: Bei einem von Artus veranstalteten Feste erzählt ein Ritter, wie er vor Jahren von einem gewaltigen Kämpen bei einem Zauberbrunnen aus dem Sattel geworfen und um sein Roß gebracht worden sei. Jwein beschließt seinen Freund zu rächen. Heimlich schleicht er sich fort und erschlägt den Besitzer des Brunnens, gerät aber zwischen zwei Fallthüren in Gefangenschaft, aus welcher ihn die mitleidige Dienerin der Königin durch einen Zauberring befreit. Jwein heiratet die Königin, geht sodann auf Abenteuer aus. Leider vergißt er, die seiner Gattin versprochene Zeit der Rückkehr einzuhalten. Als die Gattin dem Artus durch Lunete mitteilen läßt, daß Jwein als ein Treuloser ihre Huld verscherzt habe, verliert Jwein den Verstand. Durch eine Salbe geheilt, geht er auf neue Abenteuer aus, bei welchen ein von ihm aus den Klauen eines Lindwurms befreiter Löwe sein Begleiter ist. „Der Löwe wacht' und lief um ihn und um sein Roß. Wie ein kluger Freund und Genoß hütet er und bewacht mit treuer Sorg' ihn jede Nacht.“ Er kämpft gegen Feinde, besiegt zwei Riesen, erlöst 300 Jungfrauen und kehrt endlich zu seiner Gattin zurück. Probe aus Jwein. (Übersetzt von Wolf Grafen von Baudissin 1845.) S. 1. Wer an rechte Güte Wendet sein Gemüte, Dem folgen Heil und Ehre. Des giebt gewisse Lehre König Artus der Gute, Der mit Rittermute Ruhmwürdig konnte streiten. Jhm ward bei seinen Zeiten So herrlich Lob zum Lohne, Daß er der Ehren Krone Da trug, und trägt sie noch zur Stund. Des ward die Wahrheit kund, Denn seine Landesleute Sagen, er lebe noch heute. u. s. f. S. 2. Ein Ritter, der die Kunst verstand Zu lesen, was er in Büchern fand, Daß wenn er nach den Waffen Sich Muße konnte schaffen, Er oftmals auch der Dichtung pflag Wie man gern sie hören mag, Und Lust und Fleiß daran gewandt: Hartmann war er genannt, Als Dienstmann auf der Au verpflichtet: ─ Der hat diese Märe gedichtet. Es hatte König Artus wohl Jn seinem Schloß zu Caridoel Zu Pfingsten sich ein Fest geschart, Glänzend und reich nach seiner Art: u. s. f. S. 3. König Artus und sein Gemahl, Jedweder von beiden zumal Auf ihr Vergnügen war bedacht. Am Pfingsttag als man das Mahl vollbracht, Wählt jeder sich, was auf der Welt Jhm baß behagt und gefällt: Die sprachen mit Frauen wohlgethan, Die rangen und schwenkten sich auf dem Plan, Die tanzten, andre sangen, Die liefen, andre sprangen, Noch andre hörten Saitenspiel, Die schossen nach dem Ziel, Die sprachen von Mühsal und schwerer Zeit, Die von Mut und kühner Tapferkeit. Gawein prüfte sich Waffen, Keye legt' sich schlafen Auf die erhöhten Stufen hin: Auf Gemach ohne Ehre stand sein Sinn. Der König Artus und sein Gemahl, Die hatten auch sich in dem Saal Beide an der Hand gefaßt, Und gingen durch den Palast Jn der Kemenaten eine. Da legten sie sich zum Schlaf, ich meine Wohl mehr noch aus Geselligkeit Als wegen träger Müdigkeit. u. s. f. S. 26. Das beste Glück das mir geschach, War, daß ich noch die Lanze brach: Er setzte mich mit starker Hand Hinter das Roß recht in den Sand, Daß ich sofort durchaus vergessen, Ob ich jemals im Sattel gesessen. Mich ließ er liegen, mein Roß nahm er mit, All' meines Glückes war ich quitt. u. s. f. S. 28. Da bedachte der Herr Jwein Die Verwandtschaft unter ihnen zwein. Er sprach: „Neffe Kalogreant, Es rächt, das glaub' mir, meine Hand Die Unbill so an dir geschehn. Jch will sofort den Bronnen sehn Und was da Wunderbares sei.“ u. s. f. S. 59. So war mein Herr Jwein Von diesen Nöten zwein Viel sehre bezwungen. Wie wohl ihm alles gelungen, Es hätt' ihm wenig Ruhm gewährt, Wär' er an den Hof gekehrt Ohne Pfand und Zeugnis seiner Geschichten: Man glaubt' ihm auf sein Wort mit nichten. u. s. f. S. 77. Jhr dürft nicht so gar verzagen, Mögt gern Euch näher wagen. Meine Fraue, Herr Ritter, beißt Euch nicht. Wem von jemand geschicht So leid als sie erfuhr durch Euch, Soll der dann Gnade finden sogleich, Dazu gehört mehr Dank und Lohn. Jhr habt den König Ascalon Jhren lieben Mann erschlagen; Soll man Euch dafür Gnade sagen? Jhr habt viel schwere Schuld, Nun sucht auch ihre Huld. u. s. f. S. 82. Das alles war nach Wunsche da, Also die Hochzeit nun geschah: Der Tote ist vergessen, Der Lebende hat besessen Beides seine Ehr und sein Land. u. s. f. S. 101. Da fragte mich Frau Minne Worauf ich aus eignem Sinne Jhr nicht Rede stehen kann. Sie sprach: „Sag an, Hartmann, Meldst du, daß König Artus kam, Mit sich zu Haus den Ritter nahm, Und ließ die Frau zurücke fahren?“ Jch konnte mich besser nicht bewahren, Als daß ich sagte, Wahrheit sei's. u. s. f. S. 232. Wer mocht' ihm jetzt noch dräun, Da er gesund den guten Leun Aus dem Streite gebracht? ─ Der er hilfreich vorhin gedacht, Zu der nun kehrt' er zuhand; Dahin, wo er die Jungfrau fand, Die ihre Nistel krank verließ, Der er zum Kämpfer sich verhieß. Die zeigt' ihm die viel rechten Wege. u. s. f. S. 273. Herr Jwein fröhlich da sprach, Als er hörte und sach, Daß alles wohl ausschlug, Und der Kummer den er trug, Daß er ein Ende sollte ha'n: „Fraue, ich habe mißgethan, Und Gott weiß, das schmerzt mich sehr. Nun aber ist Sitte von jeher, Daß man dem schuldigen Mann Wie schwere Schuld er auch gewann, Wenn er bereut, vergebe u. s. f. S. 274. Nun schaute Frau Lunete Erhört all' ihre Gebete. Wo beide, Mann und Weib Haben Gut und gesunden Leib, Schönheit, Verstand und Jugend Ohne Fehl und Untugend. u. s. f. S. 275. So mein' ich war Glück und Freude hie: Doch erfuhr ich nicht, was oder wie Mit beiden seit dem ergangen. Jch konnte Kunde nicht erlangen Von dem ich diese Rede weiß; Drum kann ich Euch mit allem Fleiß Nichts weiter sagen mehre, Als Gott geb' uns Heil und Ehre. (Schluß des Epos.) IV . Rolandslied ( Cantilena Rolandi ). Dieses älteste französische Epos hat seinen Namen von Roland, einem der 12 Paladine (Ritter) Karls des Großen, mit welchem Roland gegen die Araber nach Spanien zieht. Der Pfaffe Konrad hatte es in Reimpaaren geschrieben. Um die unterworfenen Heiden zu prüfen, die das Christentum annehmen wollen, schickt Karl den Ganelon, der sich durch diese Sendung dem Tod geweiht glaubt, und der nun das Frankenheer aus Rache verrät. Karl zieht zurück und läßt arglos Roland als König in Spanien. Dieser wird überfallen und mit allen Franken getötet. Karl besiegt die Aufrührer, beklagt Roland und straft den Verräter. Das Epos kann als markantes litterarisches Denkmal für den Charakter der Zeit der ersten Kreuzzüge aufgefaßt werden. Die Liebe findet in demselben keinen Raum, ─ Roland erwähnt mit keiner Silbe seiner Geliebten, die doch bei der Nachricht von seinem Untergang tot niedersinkt; die Helden sind eben Gottesstreiter. Wie kein anderes Epos trägt das Rolandslied seine Entstehung aus verschiedenen Volksliedern, sowie die Entlehnung und Verschmelzung verschiedener Zusammendichter an der Stirne, indem die Anfangsverse der einzelnen Strophen (Tiraden) eine Art Exposition des Jnhalts dieser Strophen sind und im Epos je die Stellen bezeichnen, wo die Sänger ihre Sagen begannen. Die Strophenform (Tirade, altfranzösisch laisse ) besteht aus einer beliebigen Anzahl akatalektischer, jambischer Quinare mit Assonanz. Jede Tirade bildet ein aus Exposition, anmutiger epischer Breite des Fortgangs und einer Art Refrain bestehendes Teilganzes. Der Pfaffe Konrad hat das Rolandslied (im 12. Jahrh.) für Heinrich den Löwen in's Deutsche übertragen. Jhm folgte im 13. Jahrhundert der Stricker. Jn der Neuzeit hat es Ad. v. Keller (Altfranzös. Sagen 1839) und Wilh. Hertz (1861) in's Deutsche übersetzt. Eine gründlich erschöpfende Belehrung über Sage und Dichtung verdanken wir Wilh. Grimm. (Vgl. Einleitung zu seiner Ausgabe des Ruolandes liet 1838.) Probe aus dem Rolandslied. (Übersetzt von W. Hertz, Stuttgart 1861.) I . Rolands Tod. Tirade 24. Drauf Genelon: „Für mich wirst du nicht gehen; Du bist mein Mann nicht, noch bin ich dein Lehensherr. Karl giebt Befehl, daß seinen Dienst ich thue: Nach Saragossa geh ich zu Marsilies. Doch einen schlechten Streich will ich vollbringen, Daran ich diesen großen Zorn mag kühlen.“ Bei diesem Wort hub Roland an zu lachen. „ 25. Als Genelon den Grafen lachen sah, Um weniges zersprang er da vor Ärger Und nicht viel fehlte, daß er kam von Sinnen. Er sprach zu Graf Roland: „Euch lieb ich gar nicht. Jhr habet falschen Rat auf mich gewandt. Gerechter Kaiser, seht, hier steh' ich vor Euch, Erfüllen will ich, was Jhr mir befohlen.“ „ 144. Als Roland das verfluchte Volk ersah, Das eine schwärzre Farbe hat als Tinte Und gar nichts Weißes an sich, als die Zähne, Da sprach der Graf: „Das weiß ich nun in Wahrheit: Daß, wie mich dünkt, wir heut noch alle sterben. Haut ein, Franzosen! Jch befehl's euch an.“ ─ Sprach Oliver: „Schmach auf den Säumigsten!“ Bei diesen Worten hau'n die Franken ein. „ 156. Der Graf Roland, der schlug sich ritterlich, Doch heiß ist ihm sein Leib und schweißbenetzt, Und große Qual und Schmerz hat er im Haupte, Die Schläfenader sprang ihm, als er blies; Doch wissen wollt er, ob der Kaiser nahe, Er nahm sein Horn und blies mit schwachem Ton. Da hielt der Kaiser an und hört' es wohl: „Jhr Herren,“ sprach er, „Unheil widerfährt uns: Roland, mein Neffe, geht uns heut verloren: Er lebt nicht lange mehr, ich hör's am Blasen. Wer zu ihm will, der reite fort im Flug! Die Hörner blast, so viel im Heere sind.“ Und sechzigtausend blasen sie so laut, Es dröhnt der Berg, es wiederhallt das Thal. Die Heiden hören's, ihnen deucht's kein Scherz, Der eine sprach zum andern: „Karl ist nahe!“ „ 175. Da fühlt Roland, daß seine Zeit vorbei; Er sitzt gen Spanien auf spitzem Hügel, Und mit der einen Hand schlug er die Brust. „Erbarm' dich, Herr, um deiner Tugend willen Der vielen Sünden alle groß und klein, Die ich beging vom Tag, da ich geboren, Bis diesen Tag, wo ich mein Ziel erreicht!“ Er hebt zu Gott empor den rechten Handschuh, Vom Himmel steigen Engel zu ihm nieder. II . Die Rache. Tirade 293. Die Baiern kamen und die Alemannen, Die Poitevins, Bretonen und Normannen, Vor allen aber raten die Franzosen, Daß Genelon mit Wunderqualen sterbe. Da führte man herbei vier starke Rosse, Vier Knechte aber treiben sie zum Lauf Nach einer Stute, die im Felde weidet. Jhm werden alle Nerven ausgespannt Und alle Glieder aus dem Leib gerissen; Das klare Blut strömt durch das grüne Gras. Genelon starb als überwies'ner Schurke; Wer andere verrät, soll nicht frohlocken! V . Der rasende Roland von L. Ariosto († 1533) ist ein romantisches Epos in 46 Gesängen, das für sein Jahrhundert so hoch bedeutend war, wie sein glänzendes Vorbild: Ovids geistvolle „Metamorphosen“ für das ihrige. Während Ovid in Bildern, die mit Verwandlungen endigen, von der Urbildung der Welt an durch die mythische Zeit und alle Weltalter hindurch bis zu Julius Cäsar führt, giebt Ariosto Episoden aus dem Sagenkreise Karls des Großen und schildert in anmutigen Erzählungen das Rittertum nach seiner glänzendsten Außenseite. Wegen seiner schalkhaften, erheiternden Manier und Ausdrucksweise und des sonst durch das Ganze waltenden Humors könnte man dieses altromantische Epos auch zu den humoristischen Epen zählen. Probe aus Ariost's Der rasende Roland. (Übers. von Herm. Kurtz. 3 Bändchen. Stuttgart 1840─1841.) Erster Gesang. 1. Die Frauen, Ritter, Waffen und Amuren, Die Courtoisie besing' ich und den Mut Der Tage, da die Mohren überfuhren Aus Afrika, gehetzt von Zornesglut, Und Trauer lag auf Frankreichs schönen Fluren Durch Agramante's jugendliche Wut, Der seinen Vater wollt' in blut'gen Bächen An König Karl, dem röm'schen Kaiser, rächen. 2. Jm selben Zug will ich von Roland singen, Was nie in Reim noch Prosa ward erhört, Wie ihm der Liebe Pfeil gelähmt die Schwingen, Den Weisen bis zur Raserei bethört, Wenn diese, die mich hält in gleichen Schlingen, Mir mehr und mehr mein bißchen Witz verstört, Sich mir so viel zu lassen will bequemen, Als eben reicht zu meinem Unternehmen. Vierundzwanzigster Gesang. 111. Das Fräulein wirft sich zwischen ihre Hiebe, Von großem Mut entflammt: Halt! ruft sie aus: Halt! ich befehl's bei eurer ganzen Liebe: Spart euer Schwert zu einem bessern Strauß, Und wendet alsbald eure Heldentriebe Auf unser Mohrenlager, das in Graus Und Not ist, so berennt in seinen Zelten, Daß schneller Beistand oder Tod nur gelten. ─ 115. (Letzte Strophe des 24. Gesangs.) So endete der Krieg, bei welchem Bunde Jm Thron die größte der drei Mächte saß. Nun fehlt' ein Pferd, da von der schweren Wunde Der Renner des Tartaren nicht genaß. So kam denn Briliador zur guten Stunde, Der längs dem Bache ging im frischen Gras. Jch bin am Ende des Gesangs, ermattet, Und mach' ein Punktum, wenn ihr mir's gestattet. Sechsundvierzigster (letzter) Gesang. 138. So wie ein Jagdhund einem Bullenbeiße, Den er im Kampfe hingeworfen, thut: Der wehrt sich unter ihm auf jede Weise, Die Lefze schäumt, das Auge blitzt von Glut; Nicht möglich, daß er sich dem Feind entreiße, Der ihn an Kraft besiegt, doch nicht an Wut: So Rüd'ger über dem ergrimmten Mohren, Der alle seine Mühe sieht verloren. 139. Doch glückt es ihm, durch Rütteln und durch Ringen, Die Hand, die gleichfalls mit dem Dolch bewehrt, Frei unter seiner Last hervorzubringen, Zusamt dem Arme, der noch unversehrt. Er will den Dolch nach Rüd'gers Lende schwingen, Doch dieser sieht, wie übel er verfährt, Und wie die Großmut schlimm sich wird belohnen, Will er den schnöden Heiden länger schonen. 140. (Letzte Strophe des ganzen Epos.) Und dreimal bohrt er in des Zornes Brand, Dreimal den Arm hoch hebend mit dem Messer, Den Stahl ihm in die Stirne, bis zur Hand, Und macht sich ledig von dem Eisenfresser. Und los von des erstarrten Leibes Band, Zu Acherons trübseligem Gewässer Verhaucht den Geist mit Flüchen der Barbar, Der hier so stolz und übermütig war. § 120. Das neuromantische Epos. Das altromantische, höfische oder mittelalterliche Epos wurde in der neuhochdeutschen Litteratur mit vielem Glück von verschiedenen Dichtern nachgeahmt. Der Jnhalt des neuromantischen Epos ist ebenso wundervoll und abenteuerlich, als der des höfischen. Das gewöhnliche Versmaß ist die Stanze. Wir führen nachstehend einige hervorragende oder beliebte neuromantische Epen inhaltlich oder kritisch mit Proben vor: 1. Wielands Oberon; 2. Ernst Schulzes Cäcilie; 3. Schulzes bezauberte Rose; 4. Kinkels Otto der Schütz; 5. Oskar von Redwitz' Amaranth; 6. K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard. I . Oberon von Wieland. Oberon ist ein poesiereiches, gehaltvolles, hochinteressantes romantisches Epos in 12 Gesängen. Es trug dem Dichter Wieland den Namen des Dichters der Grazien ein. Goethe urteilte darüber: „So lange Poesie Poesie, Gold Gold, und Krystall Krystall bleiben wird, wird Oberon als ein Meisterstück poetischer Kraft geliebt und bewundert werden.“ Jnhalt: Der Ritter Hüon fällt bei Karl dem Großen in Ungnade. Er wird verbannt mit dem Befehle, nicht eher zurückzukehren, als bis er Zähne vom Kalifen von Bagdad und Haare aus dessen Bart bringen werde. Hüon reist nach Bagdad, und lediglich durch Oberons Unterstützung bringt er außer dem Verlangten noch des Kalifen schöne Tochter als Gemahlin mit. Trotz mancher Abenteuer trifft er gerade noch rechtzeitig zum Turnier ein, bei welchem seine Güter als Preis ausgesetzt sind. Er erringt den Preis, giebt sich dann zu erkennen und erhält seine Gemahlin zurück, worauf ihn auch Karl wieder zu Gnaden annimmt und mit Ehren auszeichnet. Probe aus Wielands Oberon, vgl. Bd. I . S. 553. II . Ernst Schulzes Cäcilie. Cäcilie in 20 Gesängen, der Verherrlichung seiner als Braut gestorbenen Cäcilie gewidmet, schildert in freien Wielandschen Stanzen die Bekehrung der heidnischen Dänen zum Christentum durch deutsche Krieger. Schluß des poetischen Nachworts von „ Cäcilie “ in Oktaven ( I . 550). Du sitzest still auf deinem gold'nen Throne, Vernimmst nicht mehr der Erde Lust und Pein, Kannst mit lebend'gem Dank und ird'schem Lohne Das treue Herz des Sängers nicht erfreu'n. Doch schmückt durch dich ihn seine Lorbeerkrone; Was ihn verherrlicht, alles ist es dein. Weil du es gabst, und weil es dich gesungen, Hat sich sein Lied dem niedern Staub entschwungen. Und soll auch jetzt dies jugendliche Leben Mir ohne Lieb' und ohne Lust entflieh'n: ─ Wohl mancher Traum muß unerfüllt entschweben, Wohl manche Blum' im Keimen schon verblüh'n; ─ Dir hab' ich mich mit Freuden hingegeben, Und nimmer welkt, was du mir einst verlieh'n. Nur einmal kann der Lenz dem Herzen prangen; Doch bleibt sein Duft, wenn auch sein Glanz vergangen. So mag denn weit dies fromme Lied erschallen, Wo deutscher Ernst und deutsche Treue gilt! Und wie sich hell in klarer Bäche Wallen Mit nahem Licht der ferne Stern enthüllt, So leuchte jetzt, wie in des Himmels Hallen, Auf Erden auch, Cäcilie, dein Bild! Doch du nimm hold das Letzte, was ich biete! Es war auch mir des Lebens letzte Blüte. III . Ernst Schulzes Bezauberte Rose. Noch trefflicher, sinniger und poetischer als Cäcilie ist die infolge einer Preisausschreibung von Brockhaus (1816) entstandene Bezauberte Rose in 3 Gesängen, welche die Verwandlung der Königstochter Clotilde in eine Rose durch beschützende Feengewalt, sowie die Rückbildung durch Alpins liebende Dichtergewalt schildert. Probe aus der „ Bezauberten Rose “ von E. Schulze. Und sieh, es schwillt aus ihrem weichen Moose Stets blühender die reiche Knosp' empor, Und lieblich schaut jetzt aus der off'nen Rose Mit gold'ner Kron' ein holdes Haupt hervor, Und rings umher verwebt sich leis und lose Der Blätter Grün zum weichen, seid'nen Flor; Schon scheint der Tau, der hell am Kelch gehangen, Als Perlenschnur am weißen Hals zu prangen. Und als gemach der bunte Zauberreigen Von Duft und Klang verdämmert und verhallt, Steht zart und schlank, in ahnungsvollem Schweigen, Mit irrem Blick die blühende Gestalt. Man sieht die zarte Brust tiefatmend steigen, Vom ersten Hauch des Lebens neu durchwallt; Bang regen sich die kaum gelösten Glieder, Sie hebt den Fuß, und senkt ihn schüchtern wieder. Und wie, gelockt von hellen Frühlingstagen, Die Vögelein, verzagt zum ersten Mal Aus weichem Nest von Zweig zu Zweig sich wagen, Von Busch zu Busch mit zweifelhafter Wahl: So lenkt auch sie im Staunen und im Zagen Bald hier bald dort der Blicke lichten Strahl, Und sieht entzückt bei zarter Mondenhelle Wald, Wies' und Flur, Laub, Blüten, Wolk' und Welle. IV . Kinkels Otto der Schütz. Dieses Epos erzählt in 12 Abenteuern, wie Otto (der jüngere Sohn des Landgrafen Heinrich von Thüringen) entflieht, weil er Mönch werden soll, wie er den Meisterschuß bei einem Schützenfest am Rhein thut, wie er Dienste beim Grafen Dietrich nimmt, und zuletzt dessen Tochter Elsbeth trotz Verrat und Lebensgefahr gewinnt, sodann Landgraf von Thüringen und Hessen wird. Probe aus „ Otto der Schütz “. Erstes Abenteuer. Die Rheinfahrt. Jn klarer Frühlings-Abendpracht, Wenn schon der Sterne Heer erwacht, Wenn kühl der Mond im Ost sich hebt, Die Flur mit blauem Duft umwebt, Jndes im West des Abends Strahlen Den Himmel heiß mit Purpur malen: Wenn Nachtigallenschlag erschallt Und drein im Nachthauch rauscht der Wald; Wenn aus des Wassers dumpfer Schwüle Der Fisch mit lust'gem Sprung sich schnellt, Und in der weichen Schlummerkühle So still und heimlich liegt die Welt; Wenn in der Uferweiden Dunkel Der Elfen Chor den Reigen schlingt, Und aus dem Strom ein leis' Gemunkel Der Nixen auf zum Lichte klingt: Das ist die zauberhafte Stunde, Wo Tag und Nacht in gleichem Bunde Dich kränzen mit dem schönsten Schein, Du Fürst der Ströme, trauter Rhein! Auf deinem Grund geschmolzen rollt Der Nibelungen rotes Gold; Das spielt wie Scharlachfeuerglut Herauf ans Licht aus deiner Flut. Dein Stromgott tief zum Schlaf sich neigt, Sein Odem leis nach oben steigt, Das quillt wie weißen Silbers Schaum, Und stickt des Goldgewandes Saum, Jndes vom Ufer Bergesschatten Das lichte Blau dem Purpur gatten. Drum giebt sich Rot und Weiß und Blau Als Rheinlands Farbe stolz zur Schau. Zu solcher Stunde treibt hinunter Jm bunten Kahn ein Bursch, und munter Beschaut er, leis das Steuer regend, Ringsum sich Fluß und Berg und Gegend. Wo ihm ein Turm vom Ufer winkt, Andächtig auf das Knie er sinkt Und spricht ein flüchtiges Gebet; Doch wo ein hübsches Mädchen geht, Der wirft er einen raschen Kuß Zum Strand hinüber von dem Fluß. u. s. f. So kam er in ein lieblich Land, Zu beiden Seiten ebner Strand; Weit ward und breit und tief der Strom, Weit oben auch des Himmels Dom, Denn rings auf den gestreckten Auen War nirgend mehr ein Berg zu schauen. Nur eines Lichtes ward er innen Am Strand, als ständ's auf hohen Zinnen. Da ward er müd; des Schlafes Macht Befiel ihn um die Mitternacht, Und drückt ihn mit so schweren Lasten, Daß er beschloß am Land zu rasten. Dran mögt ein Wunder ihr begreifen: Ob wir auch selbst ins Weite schweifen, Die edle Frau, geheißen Minne, Lenkt doch die unbewußten Sinne. Sie war's auch, die mit blei'rnem Schlaf Des Knaben helles Auge traf, Daß er nicht an des Glückes Thüre Mit frevler Hast vorüberführe. Hier war es, wo sein Lebenslos Geworfen lag in Glückesschoß; Denn jenes Licht, das er geschaut, Vom Fenster kam's der künft'gen Braut, Und Liebe kann des Ziels nicht fehlen, Magst du auch eigne Pfade wählen. Der Knabe lenkt den Kahn ans Land, Daselbst er dürres Riedgras fand; Er rüstete sich eine Streu, Ein Feuer macht' er ohne Scheu; Den Kahn band er ans Ufer fest, Und holt vom Hirsche sich den Rest, Den er gefällt mit Meisterschuß Erst gestern mitten aus dem Fluß. Durchs Uferdickicht brach das Tier, Um aus dem Flusse sich zu tränken; Schon will es der Geweihe Zier Zum klaren Spiegel niedersenken, Da zielt der Bursch ─ mit krauser Stirn Will flink der Hirsch zur Flucht sich wenden, Da trifft ihn mitten durch das Hirn Ein Bolz, geschnellt von sichern Händen; Drei Ellen sprang er hoch und fiel Dem Schützen, der nicht fehlt sein Ziel. Der Knabe briet sich heut zum Mahl Den Ziemer, und beim Mondenstrahl Sucht bitt're Kräuter er als Würze. Ein Blatt ist Handtuch ihm und Schürze, Als Bratspieß dient sein Jägerspeer, Jm Jagdhorn trägt das Kraut er her; Der Dolch ist gut zum Vorlegmesser, Wenn du nur bist ein guter Esser. Drauf spricht er seinen Abendsegen, Und ohne weiter Überlegen Schließt er zu festem Schlaf in Ruh Die beiden hellen Augen zu. Es knistert noch das Feuer lang, Der Uhu ruft ─ er hört es nicht; Es rauscht der Rhein den Wellensang, Die Elfe klagt ─ ihn stört es nicht. Denn in der Engel treuer Wacht Verschläft er fest die ganze Nacht. V . Redwitz' Amaranth. Amaranth, eine minnigliche deutsche Jungfrau, und der fromme, tapfere, deutsche Heldenjüngling Walther sind die Helden. Letzterer zieht nach Jtalien zu seiner vom Vater bestimmten, ihm noch unbekannten Braut Ghismonde. Ein Unwetter nötigt ihn unterwegs zur Einkehr in einem Waldhofe des Schwarzwalds, wo er die fromme Amaranth kennen und lieben lernt. Er zieht zu seiner Braut und findet in ihr ein prunkliebendes Weltkind. Er kann sie nicht bekehren; da ─ am Trauungstage stellt er die Ungläubige bloß und eilt in die Arme der frommen Amaranth, diese in das Schloß der Väter heimführend. Wenn auch die tendentiöse, schwärmerische Richtung dem Gedicht strenge, nicht ganz ungerechtfertigte Verurteilung zugezogen hat, so ist es doch in vieler Beziehung von hohem dichterischem Werte. Es zeichnet sich besonders durch reiche lyrische Zuthaten, sowie durch seine trefflichen Naturschilderungen aus. Probe aus „ Amaranth “. An Amaranth. Zieht hin, ihr lieben stillen Lieder Zu meiner süßen Amaranth! Jn ihrem Herzen laßt euch nieder, Es ist ja euer Vaterland! Sagt ihr, ihr seiet kleine Sterne Vom Himmel, den sie mir geschenkt, Und zöget her aus weiter Ferne Zu fragen, ob sie mein gedenkt! VI . K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard. Dies in trefflichen Rhythmen geschriebene ergreifende Epos erzählt, wie der Stammvater der Beyer (deren aktenmäßige Geschichte Stramberg Bd. V . Abteilung II des Rheinischen Antiquarius aufrollt) vom Kaiser Friedrich Barbarossa gleichzeitig mit Graf Gottfried von Sponheim-Starkenburg zum Ritter geschlagen wird. Maria von Sponheim legt ihm den goldenen Kranz aufs Haupt. Bei einer Jagd mit Graf Gottfr. v. Sponheim gleitet Konrad aus und ist der Wut eines von ihm verwundeten Ebers preisgegeben. Da lenkt unerwartet Maria den Eber ab; Konrad erlegt ihn nun mit kräftiger Hand und erklärt seine Liebe an Maria. Als sich hierauf Gottfr. v. Sponheim am Kreuzzug beteiligt, stellt er sein Gut und den Schutz der Schwester in Konrads Hut. Bald darauf kommt der von Maria verschmähte, rachsüchtige Wildgraf Gerhard zu Besuch auf Konrads Burg nach Boppard. Er weiß dem jugendlichen Helden einzureden, daß er sich in Sklavenfesseln befinde und die Zeit zu Ruhmesthaten verstreichen lasse. Da giebt Konrad in seiner Bethörung Maria frei, um mit dem Wildgrafen zur Fehde auszuziehen. Die verletzte Maria als Ritter verkleidet fordert ihn zum Zweikampf heraus. Mit kühnem Schlag siegt Konrad. Am Aufschrei merkt er, daß sein Streich die Braut getroffen. Er bricht in namenlosem Schmerz zusammen. Maria segnet den geliebten Mann, der ihr durch den Tod wohlgethan. Konrad flucht dem Wildgrafen und rast fort, um im h. Krieg den namenlosen Schmerz zu betäuben. Maria wird im Kloster Boppard wunderbar gerettet. Als sie einst an der Stelle des Zweikampfs um Konrads Glück betet, tritt ein Pilger herzu, der an derselben Stelle um der getöteten Maria Seelenheil den Himmel anflehen will. Die Liebenden erkennen sich. Der Bund fürs Leben wird geschlossen. Probe aus Ritter Konrad Beyer von Boppard, von K. Hofmann von Nauborn. (1874. S. 10.) Es schwellt der Waffen heller Klang, Wie fröhliche Musik die Brust, Der jungen Ritter Thatenlust; Sie wagten manchen scharfen Gang. Doch keiner war, der kühner, freier Das Roß gelenkt mit fester Hand, Geführt die Waffen so gewandt, Als Herr von Boppard, Konrad Beyer. Als Knappe schon erprobt im Feld, War er im Spiel des Tages Held. Und würdig, nach des Rechts Verlangen, Den Ehrenpreis heut' zu empfangen. Hier scharrt ein edles Roß im Sand, Dort blinkt ein Kranz in zarter Hand: Die sollen als des Ruhmes Kronen, Den jugendlichen Ritter lohnen. Hei, wie der Held auf's Pferd sich schwingt! Das ihm ein Knappe zugeleitet; Der Jubel schallt, Musik erklingt, Als stolz er durch die Schranken reitet. Wie schaute mancher Rittersmann Voll Neid den Ritter Konrad an! Manch' holdes Frauenangesicht, Errötend wie das Morgenlicht, Verklärt ein süßgeheimes Hoffen Von Konrads Falkenblick getroffen. Wohl gern hätt' jede zarte Hand, Durchbebt von innerem Frohlocken, Den gold'nen Kranz am blauen Band Gelegt auf Konrad's dunkle Locken; Doch nur der lieblichsten von allen War dieses Glückslos zugefallen. Marie von Sponheim strahlte weit Ein Stern der Schönheit ihrer Zeit: Aus ihren blauen Augen bricht Ein herz- und geistdurchsonnend Licht; Die Locken um die Stirne hold Wetteifern mit der Sonne Gold; Es glüh'n die Wangen lieblich klar Wie ein aufquellend Rosenpaar, Und aus des Mundes Purpurschein Erglänzen lichte Perlenreih'n; Sanft wogt das Ebenmaß der Glieder Gleich einer Lilie auf und nieder. Fürwahr, so herzgewinnend traut, So reich an Lieblichkeit und Güte Ward keine Jungfrau noch geschaut: Sie war der Blüten schönste Blüte! Mit holdem Blick und leichtem Schritte Tritt sie aus hoher Frauen Mitte Hinauf zu des Altanes Stufen, Wohin mit hellem Hörnerschall Nun Ritter Konrad ward berufen. Stolz schritt er durch die Ritter all', Und von der Schönheit Glanz umgeben Beugt er das Knie mit süßem Beben, Wie wenn ein Falke, nie besiegt, Sich zu der Taube Füßen schmiegt. Bald fühlt er auf der Stirne Rand, Wie sie den gold'nen Kranz beglückt Jhm zitternd auf die Locken drückt, Jhn leicht berührt mit zarter Hand. Jhm war's, als ob des Maien Schein Frisch strahle in sein Herz hinein Und wolle seines Panzers Engen Mit allgewalt'ger Flamme sprengen. Die zarte Hand, die ihn beglückt, Er zitternd an die Lippen drückt. Von allen Seiten auf ihn schauen Die Ritter und die Edelfrauen. Jn süßem Rausche, fast verlegen, Nimmt er Glückwünsche rings entgegen; Musik erschallt, in frohen Weisen Des Tages Helden laut zu preisen. Und während so der Jubel weilt, Maria ist hinweg geeilt; Süß träumend tritt verklärt sie ein Bescheiden in der Frauen Reih'n. Was ihre Seele süß erschüttert, Das spricht nicht aus ein ird'scher Mund; Wie's ihr im Busen wogt und zittert, Kein Dichtergriffel thut es kund! ─ Litteratur des neuromantischen Epos. Romantische Epen haben außer den Erwähnten geschrieben: Wieland (Jdris und Zenide, in 5 Gesängen); Fouqu é (Sigurd der Schlangentöter); Heinr. von Nicolai († 1820, Reinhold und Angelika); Alxinger (Doolin von Mainz); Jmmermann (Die vortreffliche Bearbeitung des Epos Tristan und Jsolde); K. E. Ebert (Wlasta); Pope (Treuer Eckart); A. Müller (Richard Löwenherz und Alfonso); Böttger (Habanna); Grötsch (Der Zug der Normannen nach Jerusalem); Teuscher (Saladin); Grün (Der letzte Ritter); Platen (Die Abassiden in 9 Gesängen, in welchem Gedichte die Abenteuer der Söhne des Harun al Raschid geschildert werden, vgl. I . 329); Herder (Cid, ein nach spanischen Romanzen bearbeiteter, ein romantisches Epos bildender Romanzencyklus); Ettmüller (Karl der Große und das Jungfrauenheer); Simrock (Amelungenlied); Adolf Franckel (Der Tannhäuser); A. Becker (Jungfriedel); Ludwig August Frankl (Don Juan d'Austria); Geibel (Sigurds Brautfahrt); Gottschall (Maja); Hamerling (Ahasver); Julius Grosse (Mädchen von Capri, und Gundel von Königsee); Waldau (Cordula); Hertz (Lanzelot und Ginevra &c.); P. Heyse (Braut von Cypern); Jordan (Nibelunge, allitterirend, ein großartiges Kulturepos auf romantischem Hintergrund); Scheffel (Trompeter von Säkkingen); Weber (Rolands Gralfahrt); J. Wolff (Der Rattenfänger von Hameln, und Tannhäuser); Kastropp (Kain); D. E. von Bassewitz (Undine); Ernst Harmening (Mirjam, Ein Hohelied der Liebe mit eingefügten wertvollen Lyriken) u. a. § 121. Das religiöse Epos. Es hat, wie der Name sagt, ein religiöses Ziel und Jnteresse, wie es auch seinen Stoff aus der biblischen, aus der Kirchen= oder Heiligengeschichte wählt. Es setzt ein gläubiges Gemüt voraus. Jedes Epos mit religiösem Anhauch könnte in bestimmtem Sinne als religiöses Epos bezeichnet werden, auch wenn es stofflich in eine andere Rubrik zu setzen ist. Redwitz' „Amaranth“ könnte einseitig z. B. ebenso ein religiöses Epos wie ein romantisches heißen. Dagegen Rückerts „Leben Jesu“, in Alexandrinern geschrieben, könnte man nur dem Stoff nach als religiöses Epos bezeichnen, da ihm die einheitliche Handlung fehlt. Die altklassische Litteratur hat kein streng religiöses Epos. Die althochdeutsche Litteratur hat nur Evangelienharmonien, welche das vom Erlöser Erzählte, Mannigfaltige in ein harmonisches Ganze zusammenzufassen streben (z. B. die altsächsische Evangelienharmonie Heliand, Otfrieds Evangelienharmonie). Klopstock (Messiade), Dante (Göttliche Komödie; ein Gang durch Hölle, Fegfeuer und Paradies), sowie Milton (Verlorenes Paradies) haben das religiöse Epos geschaffen, weshalb wir ihnen hier ein kurze Betrachtung zu widmen haben. I . Die Messiade von Klopstock. Diese religiöse Epopöe in 20 Gesängen weist an der Person Jesu nach, wie ein göttliches Wesen aus Liebe zu den Sterblichen sich opferte, seine Gottheit verleugnete, menschlich litt und starb, um den Menschen das ewige Leben zu verschaffen. Die 10 ersten Gesänge (zugleich die vorzüglicheren) behandeln das Leiden und den Erlösungstod Christi; die übrigen die Geschichte Jesu bis zur Verklärung. Klopstocks „Messias“ leitete die neueste Blüteperiode unserer deutschen Litteratur ein. Jm Gegensatz zu Ariost und Tasso, die nur für einzelne Bevölkerungsschichten dichteten, richtet sich Klopstock an das ganze Volk. Wo er auf der Erde keinen Stoff mehr findet, da wendet er sich wie Homer zu einer jenseitigen Welt, was freilich oft wie ein Phantasieren empfunden wird, indem er Teufel, Engel, die Seelen Gestorbener oder noch nicht Geborener, desgleichen die beiden ersten Personen der christlichen Gottheit mit historischen Personen des alten Testaments verbindet. Der Dichter hat zudem häufig die epische Anschaulichkeit durch lyrisch=pathetische Ergüsse zu ersetzen gestrebt. Diese ausgedehnten Gefühlsergießungen und seine rednerischen Darstellungen verleihen einzelnen Teilen dieses ernsten religiösen Epos rhetorisch=lyrisches Gepräge. Als Sprach-Probe aus der Messiade vgl. Bd. I . S. 356. II . Die göttliche Komödie von Dante Alighieri. Dante Alighieris (geb. 1265 zu Florenz) Göttliche Komödie ( divina commedia ), die in unserer Litteratur so große Verbreitung fand, umfaßt drei Teile: die Hölle ( l'inferno ), das Fegfeuer ( il purgatorio ), das Paradies ( il paradiso ). Diese Dichtung ist nur der äußeren Form nach ein gelungenes Epos; in Wirklichkeit ist sie eine mystisch sociale Allegorie, welche die Handlung vermissen läßt. Jhre Grundidee ist die Darstellung der welterlösenden Liebe. Sie ist in Terzinen geschrieben und von Kannegießer, Streckfuß, Philalethes (== König Johann von Sachsen), Kopisch, Bernd von Guseck u. a. ins Deutsche übertragen. Jnhalt: Der Dichter sinkt in einem großen Wald in die Tiefe bis zur Hölle. An der Hand des vom Christentum noch unerleuchteten Vergil durchwandert er diese, um ins Fegfeuer zu gelangen, an dessen Eingang er dem Vertreter der Freiheit, Cato von Utica, begegnet. Jmmer höher steigt er. Da trifft er auf einer Blumenwolke die von ihm früher verehrte Beatrice als Sinnbild der christlichen Wahrheit, welche ihn durch das Paradies geleitet. Nun gesellt sich der heilige Bernhard als Typus der christlichen Frömmigkeit zu ihm, der ihn zur Himmelskönigin und heiligen Dreieinigkeit führt. Geblendet vom Glanz sinkt er ohnmächtig nieder, indem er einsieht, hier sei sein irdisches Streben an der Grenze. Als Sprach-Probe aus Dantes göttlicher Komödie vgl. Bd. I . S. 545. III . Das verlorene Paradies von Milton. Miltons (geb. 1608 zu London) verlorenes Paradies ( the paradise lost ) erschien 1667. Es steht durch seine wunderbare Sprache, durch seine ergreifenden Schilderungen, durch seine edle Schönheit in der englischen Litteratur einzig da. Es enthält 12 Gesänge, welche den Sündenfall von Adam und Eva behandeln, indem es seiner Darstellung die Jdee des tragischen Kampfes zwischen Himmel und Hölle zu Grunde legt. Es ist von Bodmer, Zachariä, Kottenkamp, Böttger, Schuhmann und Eitner (1867) ins Deutsche übersetzt. (Das sich anschließende Wiedergewonnene Paradies Miltons in demselben Metrum umfaßt nur vier Gesänge.) Probe aus dem verlorenen Paradies. (Übers. von Bernh. Schuhmann. 2. Aufl. 1877.) S. 3. Des Menschen erste Sünde, den Genuß Von des verbot'nen Baumes Frucht, die Tod Und alles Weh erzeugt hat und die Menschheit Aus Eden bannte, bis ein Größrer einst Sie wieder einführt in den Sitz des Heils ─ Sing', Himmelsmuse, die du auf des Horeb Einsamer Höh' und auf dem Sinai Den Hirten hast begeistert, der zuerst Dem auserwählten Volke kund gethan, Wie Erd' und Himmel aus dem Chaos stiegen! Doch liebst du Sion und den Bach Siloah Am Gott-Orakel mehr, fleh ich von dort Um deinen Beistand für mein kühnes Lied, Das über Aoniens Musenberg hinaus Sich schwingen will, weil es nach Höherm strebt, Als Vers bisher und Prosa noch gewagt. Und du, o Geist, vor dem ein reines Herz Mehr gilt als Tempelpracht, belehre mich! Du kannst es, denn von Anbeginn warst du; Die Tiefe deckend, einer Taube gleich Mit mächt'gen Fittigen, befruchtetest Du ihren Schoß. Was in mir dunkel ist, Erhelle, und was niedrig, richt' empor: Daß, würdig des erhab'nen Stoffes, ich Die ew'ge Vorsehung und Gottes Wege Rechtfert'gen und den Menschen künden mag! Sprich denn ─ vor deinem Blicke birgt sich nichts Jm Himmel noch im tiefen Höllenschlunde ─ Sprich, was hat unser Elternpaar vermocht, So hoch beglückt, vom Schöpfer abzufallen Und wider dessen einziges Verbot, Sonst Herrn der Erdenwelt, zu sündigen? Wer, sprich, verführte sie zum Ungehorsam? Der Höllendrache war es, der, von Neid Und Rachbegier entflammt, der Menschheit Mutter Durch List betrog, nachdem sein Hochmut ihn Herabgestürzt vom Himmel samt dem Heer Aufrührerischer Engel, mit des Hülfe, Nach Herrschaft über seines Gleichen trachtend, Er sich dem Höchsten gleich zu sein vermaß; Verruchten Krieg erhob er drum im Himmel, Krieg wider Gottes Thron und Majestät, Bis auf dem Schlachtfeld seines Stolzes Ziel Vereitelt ward. Die Allmacht schleuderte Mit gräßlicher Zerschmettrung häuptlings ihn Vom Himmelssitz in bodenlos Verderben, Daß er in diamant'nen Ketten dort, Von Glut gepeinigt, wohne, der's gewagt, Zum Kampf zu fordern den allmächtigen Gott. &c. Zur Litteratur des religiösen Epos. Das hauptsächlichste religiöse Epos der Franzosen ist „ Les Martyrs “ (Die Märtyrer) von Chateaubriand. (Deutsch von Haupt und Haßler.) Von den Deutschen sind noch zu nennen: J. J. Bodmer († 1783, Die Noachide); Lavater (Messias); Wieland (Der geprüfte Abraham); Hagenbach (Luther); Stern (Jerusalem); Diterici (Joseph); Paul Heyse (Thekla); Weißbrodt (Genovefa); K. Moritz (Christus); Kulemann (Judith); Rappaport (Moses); Julius Mosen (Ahasver, mehr ein religiös=philosophisches Epos); Seidel (Paulus); Plönnies (Ruth); Steger (Der Heiland); Ferd. Wirth (Mariade) u. a. § 122. Das idyllische Epos (Eidyllion). Das idyllische Epos, welches auch bürgerliches Epos genannt wird (die Griechen nannten es εἰδύλλιον == Eidyllion), hat seinen Schauplatz im bürgerlichen Leben und erzählt Begebenheiten aus demselben. Es schließt daher das Wunderbare und die Maschinerie des Heldenepos aus. Überhaupt verträgt es keine großen Verwicklungen. Es ist ein reicheres Jdyll. (Vgl. S. 231 d. Bds.) Seine Personen sind gemütvoll, natürlich, fromm, tugendhaft, zufrieden, glücklich. Was der Handlung am Bedeutsamen mangelt, das hat die Kunst des Dichters zu ersetzen. Das Silbenmaß des idyllischen Epos ist gewöhnlich der Hexameter. Bei den Römern nannte man die idyllischen Epen auch Bucolica , deren einzelne Stücke Eclogae hießen, eine Benennung, die u. a. auch Kosegarten in den einzelnen Teilen seiner idyllischen Epen (oder im engeren Sinn: Jdyllen) beibehalten hat. I . Luise, von Voß. Jn diesem idyllischen Epos (oder ausgebreitetem Jdyll) schildert der Dichter das idyllische Leben eines Landpredigers, der sich in seinem abgeschlossenen Kreise beglückt fühlt. Seine Tochter vermählt er an einen jungen Prediger. Probe aus Luise, von Voß. (Sämtl. Ged. I 10. Ausg. 1802.) Väterchen, danken wir Gott. Luise begehrt den Geburtstag Lieber im Wald', als unten am Bach in der Laube zu feiern. Lieblich scheint ja die Sonn', und am waldigen Ufer ist Kühlung. Jetzo mein Rat! Herr Walter, der kleine Graf und Luise Gehn voran und wählen den Ort, und suchen uns Brennholz. O, der Besuch auf dem Schloß! Mit Amalia wäre der Gang doch Lustiger! Aber wir beiden Gemächlichen fahren den Richtweg Über den See; der Verwalter, das wissen wir, leihet uns gerne Seinen Kahn. Doch wünscht' ich, daß unser Papa noch ein wenig Schlummerte. Mittagsschlaf ist die angenehmste Erquickung Alter Leut' im Sommer, zumal in der Blüte der Bohnen. Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau: Hört, mein Sohn, wie sie waltet, die Herrscherin? Aber ich muß schon Folgsam sein, denn es gilt den Geburtstag meiner Luise. Kinder, wir beten zu Gott dem unendlichen! Betet mit Ehrfurcht u. s. w. II . Jukunde, von Theobul Kosegarten. Dieses Epos ist die Vereinigung von mehreren, freundlich abgerundeten Jdyllen, von einfachen, naturwahren, dörflich=duftigen Genrebildchen, deren Heldin die fromme Pfarrerstochter Jukunde ist. 1. Bildchen. Zusammentreffen Jukundes am Vorabende des Uferfestes mit der nachbarlichen Freundin Thekla von Thurn, die Jukunde für ihren aus dem Kriege erwarteten Bruder begeistern möchte, aber erfahren muß, daß Jukundes Herz für den unbekannten Befreier ihrer Schwester von einer Schlange schlägt. 2. Sonntagsmorgen im lauschigen Schloßgarten; Gespräch über Platos Phädrus. 3. Die Uferfeier. 4. Nachfeier. 5. Ankunft von Theklas Bruder, den Jukunde als Schlangentöter und Geliebten erkennt; Verlobung. Probe aus Jukunde. (2. Ekloge. Der Sonntagsmorgen. ) Und das Dunkel zerfloß. Ein wehender glänzender Morgen Folgt' auf die sternige Nacht. Aus den funkenstäubenden Fluten Tauchet' entwölkt hervor und schimmerrollend die Sonne. Freude wirbelnd begrüßte die Lerche den heiligen Sabbat, Welcher gewünscht erschien den arbeitseligen Menschen, Die von den Schweißen der Woch' erschöpft und den Lasten der Ernte Länger heute der Ruh' und des Schlummers pflegten. Auch wach noch Dehnten sie wollustvoll auf hartem Pfühle die Glieder. Du nur, Bote des Herrn, ehrwürdiger Pfarrer von Medow, Frühe geweckt von der inneren Glut und dem mächtigen Drange, Deine Brüder das Recht und die Pflicht zu lehren, den Lüstling Aufzuschrecken vom geistigen Schlaf durch Sinais Donner, Gnade hingegen und Heil zu bieten der Buß' und dem Glauben, Darzuhalten dem Wackern im Streit die Kron' und den Palmzweig; Du nur standest bereits anbetungstrunken am Fenster u. s. f. III . Hannchen und die Küchlein, von Eberhard. Hannchen und die Küchlein von A. Gottl. Eberhard († 1845) ist eine Nachbildung der Luise von Voß. 1822 erschien die erste, vor kurzem die 27. Auflage. Heinr. Kurz weist diesem Gedicht den Platz neben Goethes Hermann und Dorothea an und rühmte ebenso dessen vortreffliche Schilderung des einfach Gemütlichen, wie des echt deutschen Familienlebens. Probe aus Hannchen und die Küchlein. ( VII . Gesang.) Auf hob Hannchen das zürnende Huhn; und siehe, da lagen Mehrere Küchlein, schon die gewonnene Freiheit genießend, Andere pickend, versuchten erst noch, ihr Gefängnis zu sprengen, Während die meisten darin noch still und geduldig verweilten. Martha besorgte den Topf voll wärmender Federn, und Hannchen Bettete drinnen die muntersten Küchlein, setzte das Huhn dann Wieder auf's stillere Nest, sein Werk zu vollenden mit Treue. Feierlich wurde der Topf in die wärmere Stube getragen, Futter geholt und gestreut für die kleinen, beweglichen Gäste, Und mit fröhlicher Sorge die weitere Pflege besprochen. „Mutter, entschieden nun ist's!“ rief plötzlich die Tochter dazwischen, „Du nur gehest auf's Schloß; ich bleibe daheim bei den Küchlein. „Stündlich bedürfen sie Futter, und stündlich entkriechen den Eiern „Ankömmlinge noch mehr; die dürfen zu lang in dem Neste „Ja nicht bleiben, denn sonst kann tot sie treten die Alte. „Nein! ich wäre untröstlich, verlör' ich während des Schmausens „Solch' ein niedliches Tier! Drum, Mutter, zu Hause nur laß mich! „Mir ist's besser, ich lasse das Schmausen! Antonien würd' ich „Schmerzlich vermissen, und ─ kurz, wie es scheint, will selber der Himmel, „Daß ich daheim hübsch bleib'; ich gehorche dem Winke des Himmels.“ Während die Mutter erwägen noch wollte das Für und das Wider, Holt' ihr Hannchen geschäftig herbei schon Kleider und Haube, Half sie putzen, und trieb sie hinweg durch Bitten und Küsse. Einsam blieb sie zurück, doch flüchtig enteilte die Zeit ihr u. s. f. IV . Hermann und Dorothea, von Goethe. Hermann und Dorothea (9 Gesänge in Hexametern) neigt sich zum großen Epos hin. Es wurde von Goethe bürgerliches Epos genannt, da ihm die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens zur Grundlage dienen. Jnhalt: Auf dem großen geschichtlichen Hintergrund der französischen Revolution führt der Dichter die schnell sich entfaltende Liebe eines Bürgersohns (Hermann) zu einem lieblichen Mädchen (Dorothea) vor, wobei er das gesunde Bürgerleben in Freud und Leid, in allen möglichen Lagen, in Haus und Hof, auf dem Felde und im Stalle &c. anschaulich malt und ein naturwahres Lebensbild entrollt. Hermann, zu scheu, seine Liebe an Dorothea zu gestehen, ladet sie am Brunnen ein, Stütze seiner Mutter zu werden. Hermanns Vater empfängt sie (zu ihrer Überraschung) als Braut des Sohnes. Die Mutter vermittelt; der Pfarrer vollzieht die Verlobung. Das Gedicht, ebenso ein reizendes Bild des Familienglückes, wie eine Schilderung des Strebens und Grämens der ganzen Menschheit, wird zugleich der Ausdruck des echt deutschen Sinnes. ─ Goethe sagt selbst in einem Briefe an Schiller darüber: „Jch habe das rein Wesentliche der Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters (die französische Revolution als historischer Hintergrund) aus einem kleinen Spiegel zurückzuwerfen getrachtet.“ Wilhelm von Humboldt urteilt (Briefwechsel 1876. S. 39) über Hermann und Dorothea: „Das Epos allein umfaßt die ganze Menschheit, vereinigt zugleich Flug des Geistes und Ruhe der Empfindung, und fügt alle Elemente des menschlichen Daseins zu einem großen Ganzen zusammen.“ Probe aus Hermann und Dorothea. Gesang VII . (Erato.) Denkend schaute Hermann zur Erde; dann hob er die Blicke Ruhig gegen sie auf, und sah ihr freundlich in's Auge, Fühlte sich still und getrost. Jedoch ihr von Liebe zu sprechen Wär' ihm unmöglich gewesen; ihr Auge blickte nicht Liebe, Aber hellen Verstand, und gebot verständig zu reden. Und er faßte sich schnell und sagte traulich zum Mädchen: Laß mich reden, mein Kind, und deine Fragen erwidern. Deinetwegen kam ich hierher! was soll ich's verbergen? Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern, Denen ich treulich das Haus und die Güter helfe verwalten, Als der einzige Sohn, und unsre Geschäfte sind vielfach. Alle Felder besorg' ich; der Vater waltet im Hause Fleißig; die thätige Mutter belebt im Ganzen die Wirtschaft. Aber du hast gewiß auch erfahren, wie sehr das Gesinde Bald durch Leichtsinn und bald durch Untreu plaget die Hausfrau, Jmmer sie nötigt zu wechseln und Fehler um Fehler zu tauschen. Lange wünschte die Mutter daher sich ein Mädchen im Hause, Das mit der Hand nicht allein, das auch mit dem Herzen ihr hülfe An der Tochter Statt, der leider frühe verlornen. Nun, als ich heut' am Wagen dich sah in froher Gewandtheit, Sah die Stärke des Arms und die volle Gesundheit der Glieder, Als ich die Worte vernahm, die verständigen, war ich betroffen, Und ich eilte nach Hause, den Eltern und Freunden die Fremde Rühmend nach ihrem Verdienst. Nun komm' ich, dir aber zu sagen Was sie wünschen, wie ich. ─ Verzeih' mir die stotternde Rede. Scheuet Euch nicht, so sagte sie drauf, das Weitre zu sprechen; Jhr beleidigt mich nicht, ich hab' es dankbar empfunden. Sagt es nur grad' heraus; mich kann das Wort nicht erschrecken: Dingen möchtet ihr mich als Magd für Vater und Mutter, Zu versehen das Haus, das wohlerhalten Euch dasteht; Und ihr glaubet an mir ein tüchtiges Mädchen zu finden, Zu der Arbeit geschickt und nicht von rohem Gemüte. Euer Antrag war kurz; so soll die Antwort auch kurz sein. Ja, ich gehe mit Euch, und folge dem Rufe des Schicksals. Meine Pflicht ist erfüllt, ich habe die Wöchnerin wieder Zu den Jhren gebracht, sie freuen sich alle der Rettung; Schon sind die meisten beisammen, die übrigen werden sich finden. Alle denken gewiß in kurzen Tagen zur Heimat Wiederzukehren; so pflegt sich stets der Vertriebne zu schmeicheln. u. s. f. Zur Litteratur des idyllischen Epos sind noch zu nennen: Ad. Tellkampf (Jrmgard); Kosegarten (Die Jnselfahrt); Dill (Paul und Therese); Bäßler (Wilfried); M. Hartmann (Adam und Eva); Gregorovius (Euphorion); Ebert (Das Kloster); Häring (Die Treibjagd); F. Rhode (Heinrich und Leonore); F. Boas u. a. § 123. Das historische Epos (Heldenepos). Man nennt es auch gern und vorzugsweise das heroische Epos, oder Heldengedicht, auch Epopöe, da es meist die Thaten eines geschichtlichen Helden schildert, ohne Geschichtsschreibung sein zu wollen. I . Das Schah-Nameh des Firdusi. Das Schah-Nameh des Firdusi ist seiner Absicht nach Königs- und Heldensage von der Zeit des Darius Hystaspis bis zum Sturz der Sassaniden. Mit dem Volksepos hat es das gemein, daß es seine Helden zu Halbgöttern mit übermenschlicher Kraft ausrüstet. Es zeigt den Kampf des iranischen Heldentums gegen die Mächte der Finsternis. Die verschiedenen Sagenkreise der Könige und Herrscher ballen sich zu einem einzigen zusammen, in welchem sich das ganze Leben von Jahrhunderten konzentriert. Das Schah-Nameh ist Heldenepos und zugleich eine Art mythischer Geschichte. Es fehlt im Schah-Nameh die Göttermaschinerie, die im Volksepos nicht vermißt wird. Die Einwirkung der Götter ist hier sekundär. Der Dichter hat sich dichterisch von seinem selbstlebenden Werk losgeschält und geht in ihm auf. Durch seine Phantasie hat er 37 Sagen und mehr zur Einheit verbunden. Probe aus dem Schah-Nameh des Firdusi. (Übersetzt von Ad. Friedr. v. Schack. Vgl. Heldensagen des Firdusi. 3. Aufl. Stuttg. 1877. I . 129.) 1. Feridun verteilt das Reich an seine drei Söhne. Schah Feridun beschloß, bei Lebenszeiten Zur Teilung seines weiten Reichs zu schreiten; Jn Rum und Chawer und in Jran schied, Jn Tschin und Turkestan er sein Gebiet. Dem ersten seiner Söhne, Selm genannt, Verlieh er Rum so wie das Abendland, Und sendete, geleitet von den Besten Des Heeres, ihn in jenes Reich nach Westen; Selm stieg auf seinen Thronsitz, und sofort Gehuldigt ward ihm von den Großen dort. Tschin und der Turkomanen weite Flur Gab Feridun dem zweiten Sohne Tur; Jn die Gebiete, die ihm zugeteilt, Zog Tur mit seinem Heere unverweilt Und stieg, dort angekommen, stolzen Schritts, Mit Pracht sich gürtend, auf den Herrschersitz; Die Großen streuten Perlen ihm zu Füßen Und säumten nicht, als König ihn zu grüßen. An Jredsch endlich, seinen jüngsten Sohn, Verlieh der Vater Jrans hehren Thron, Die Kriegervolk=durchstreiften Wüstenstriche, So wie das Diadem, das königliche; Wert hielt er ihn, daß er das Schwert empfinge Mit samt dem Scepter und dem Siegelringe, Und Jrans Große nahten, sich verbeugend, Dem Jredsch ihre Huldigung bezeugend. So setzten sich in freud'gem Hochgefühle Die Drei auf ihre goldnen Herrscherstühle. 2. Selms Neid auf Jredsch. Es floh die Zeit; doch in des Schicksals Schoß Verbarg sich ein geheimnisvolles Los. Dem hehren Feridun ward greis das Haupt, Der Frühlingsgarten wurde weiß bestaubt, Denn also nehmen alle Dinge ab, Der Starke neigt sich alternd in das Grab. Den Söhnen ward, je mehr des Vaters Kraft Zu Ende ging, das Herz voll Leidenschaft. Die Seele Selms begann sich zu umnachten Und anders ward sein Sinnen und sein Trachten. Arglistig saß er zwischen seinen Räten, Bereit, den Weg des Bösen zu betreten; Daß Feridun so Thron als Diadem Dem Jüngern gab, das war ihm nicht genehm. Die Stirne runzelnd, sinnt er Böses nur, Schickt einen Boten an den Bruder Tur Und heißt ihn solche Worte zu ihm reden: „Sei froh! Erreiche deiner Wünsche jeden! Doch sag', o Schah von Turkestan und Tschin, Du Mann von Weisheit, Kraft und Heldensinn, Wird er mißhandelt, zürnt nicht dann ein jeder? Kleingeistig wär'st du, Hoher gleich der Ceder? Vernimm jetzt was ich dir erzählen will, Die Vorzeit sei vor solcher Kunde still! Drei Brüder waren wir, des Thrones Zier; Nun steht der Jüng're über dir und mir. Mir, der dem Alter nach den Vorrang führt, Mir hätte wohl der erste Platz gebührt, Und, wären Thron und Krone mir entgangen, So hätt' es dir geziemt, sie zu erlangen; Wie schwiegen wir nun zu der argen That, Die Feridun an uns begangen hat, Da er an Jredsch Jran gab, das Land Der Lanzenschwingenden und Jemens Strand, Und so zum Mächtigsten den Jüngsten machte, Die Ältern aber ärmlicher bedachte? Nein, nicht in solche Teilung füg' ich mich! Nicht mit des Vaters Spruch begnüg' ich mich!“ Es eilt auf windgeschwindem Dromedar Der Bote hin zu Turan's Schehriar Und trägt ihm die befohl'nen Worte vor; Tur braust mit schwindelndem Gehirn empor, Und wird, jemehr der Reden er vernimmt, So wie der wilde Löwe zornergrimmt. „Geh hin zu Selm! ─ ruft er mit Ungestüm ─ Jn meinem Namen rede so zu ihm: O Bruder, durch des Vaters That, die schnöde, Ward unsre Jugend trauervoll und öde; So ward die Saat zu einem Baum gelegt, Der blut'ge Frucht und gift'ge Blätter trägt. Daß wir zusammenkommen ziemt sich nun, Und, haben wir beraten was zu thun, So gieb zum Aufbruch deinem Heer Befehl!“ u. s. f. II . Rostem und Suhrab, von Rückert. Rückerts Rostem und Suhrab hat es mit der Geschichtschreibung nicht zu thun; der Dichter bietet vielmehr einen dem Schah-Nameh des Firdusi entlehnten heroischen Stoff mit Verwickelungen und dem tragischen Ende der Helden, wodurch das Epos ein volles Recht erhält, zur Kategorie des historischen oder Heldenepos gezählt zu werden. Jnhalt: Der Perserheld Rostem, dem sein Leibroß gestohlen wird, findet es im benachbarten Königreiche, wo er sich in der Nacht heimlich mit der Königstochter Tehmina verbindet. Beim Abschied reicht er ihr eine Goldspange, mit der sie ihm ─ falls aus der Verbindung ein Sohn erblühen sollte ─ den Großgewordenen senden möge. Tehmina erhält einen Sohn, den sie Suhrab nennt. Als der Großgewordene durch seine Mutter das Geheimnis seiner Abstammung erfährt, erwacht in ihm abenteuerlicher Thatendrang und Sehnsucht nach dem Heldenvater. Er will den König von Jran besiegen, und den erledigten Thron dem Vater geben. Die Mutter giebt ihm als Erkennungszeichen die goldene Spange mit. Mit seinem Heere alles vor sich niederwerfend, gelangt Suhrab bis an die Grenzburg Jrans. Dort besiegt er im Zweikampf den tapferen Burgvogt und nimmt nun auch den Kampf mit der als Ritter verkleideten waffengeübten Geliebten dieses Burgvogts auf. Auf ihrem Rosse kommt sie mutig gegen ihn angesprengt. Aber ihr wuchtiger Stoß vermag Suhrab nicht zu rühren. Da verliert sie die Siegeszuversicht. Suhrab wirft ihr eine Fangschnur um den Hals; aber die Geängstete weiß ihn durch Schmeichelworte zu bethören, daß er ihr dieselbe wieder abnimmt. Sie entwischt nun in die Burg. Von der Zinne herab höhnt sie und mahnt Suhrab zur Umkehr. Er erstürmt diese Burg, findet aber die bereits daraus entflohene Geliebte nicht mehr. Dieselbe giebt dem Könige Nachricht, daß nur Rostem für diesen Helden der Mann sei. Rostem rückt an. Neugierig, seinen Gegner kennen zu lernen, schleicht er in der Dunkelheit in Suhrabs Lager, wo sein Erscheinen von Send, dem Einzigen, der Rostem kennt, bemerkt wird. Er will Rostem ans Licht ziehen. Aber Rostem schlägt ihn so wuchtig auf die Stirn, daß er entseelt zu Boden stürzt. Dadurch verliert Suhrab den letzten Anhaltepunkt zur Entdeckung seines Vaters. Suhrab fordert den Mörder zum Zweikampf heraus, und steht nun, ohne es zu ahnen, seinem Vater Rostem gegenüber. Wie Löwen ringen die beiden ebenbürtigen Gegner. Der Kampf bleibt unentschieden. Am zweiten Tage wirft Suhrab seinen Gegner zu Boden. Schon will er ihm den Todesstoß geben, als dieser ihm vorspiegelt, die Landessitte verbiete, den im Zweikampf zum erstenmal Besiegten, zu töten. Suhrab läßt sich bethören. Rostem nimmt alle Kraft zusammen und überwindet nun den Suhrab, dem er ohne Zaudern den Todesdolch in die vertrauensselige Heldenbrust stößt. Todeswund droht Suhrab, daß der Treulose dereinst den Lohn für seine Untreue erhalten werde und zwar von seinem Vater, dem unüberwindlichen Rostem, für den er eine goldene Spange auf der Brust trage. Von Schrecken und Entsetzen erfaßt, bog sich Rostem in zitternder Hast nieder: „Und zog der Spange Gold, besetzt mit den Rubinen Von Sohnes Blut hervor, selbst mit blutlosen Mienen Und rief: Suhrab, mein Sohn! Weh Rostem und Tehminen!“ Eine erschütternde Scene folgt. Suhrab verzeiht dem Vater und tröstet ihn, und dieser, vom Schmerz überwältigt, sinkt zu Boden: „So lag er bei dem Sohn, selbst einem Toten gleich, Und bei ihm lag der Sohn, im Antlitz totesbleich, Jm Antlitz totesbleich, am Herzen toteswund, Mit Rosen seines Bluts blümend den grünen Grund. Noch floß das Blut, noch stand der Odem nicht, noch sah Und fühlt' er, sterbend freut' er sich dem Vater nah. Den Vater, ob ihm schon von ihm dies Leid geschah, Den er allein gesucht, den hatt' er doch gefunden, Und lag, wie er geträumt, von seinem Arm umwunden. So stirbt der Held! ─ Stumm und starren Blickes steht Rostem da, bis alle Ehrenbezeugungen für den gefallenen Helden und dessen Beisetzungsfeierlichkeiten vorüber sind. Dann schwingt er sich, vom Wahnsinn erfaßt, auf sein Schlachtroß, und fort irrt er in die Wüste, den Schmerz zu töten. Beim Abschied ruft er mit hohler Stimme, blassen Antlitzes: „Lebt alle wohl! Wenn man daheim von Rostem spricht Und fragt, wohin er kam? so sagt: Jhr wißt es nicht.“ So endet dieses großartige Epos, dessen reckenhafter Heroismus, dessen ruhige Schönheit, dessen Reichtum des Farbenwechsels, dessen Fluß der Darstellung, dessen Kühnheit der Charakterzeichnung Rückert zu einem der bedeutendsten Epiker seiner Zeit erhebt. (Vgl. I . S. 315.) III . Vergils Äneis. Vergils Äneis, die man als eine Nachahmung der Odyssee bezeichnen muß, läßt die Römer von Äneas abstammen, und besingt in 12 Gesängen des Helden Jrrfahrten nach der Eroberung und dem Brand von Troja bis zu seiner Verheiratung mit Lavinia, der Tochter des Königs Latinus. Eben durch diese Verbindung wird aber Äneas der Stammvater von Romulus und Remus. (Das in Hexametern geschriebene Epos ist von Voß u. a. in's Deutsche übersetzt. Schiller hat in seiner Übersetzung des 2. und 4. Buchs der Äneide eine Vorarbeit zur Übersetzung des Dr . J. E. Nürnberger (2. Aufl. 1841) geliefert, welch letzterer die Schillersche Arbeit einverleibt wurde.) Eine Probe aus Vergils Äneis findet sich Bd. I . S. 553. IV . Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso. Das befreite Jerusalem, dessen Jnhalt die Eroberung des heiligen Grabes im ersten Kreuzzuge bildet und das zum Helden Gottfried v. Bouillon hat, kann ebenso als romantisches Epos, wie als historisches genommen werden. Gewinnend sind die Figuren Tankred und Rinaldo, sowie die Frauen Armida, Clorinde, Herminia. Es ist in Stanzen geschrieben und wurde im gleichen Versmaß von Gries, Streckfuß, Duttenhofer übertragen. Probe aus dem befreiten Jerusalem. (Nach dem Versmaß der Urschrift übersetzt von Duttenhofer. Stuttg. 1840.) Gesang I . (Str. 1.) Die frommen Waffen sing' ich, und den Mann, Der Christus hohes Grab der Kett' entschlagen; Des Arm und Geist so herrlich viel gewann, Der im erhabnen Kampf so viel getragen. Fruchtlos dräut ihm die Höll', umsonst begann Asiens und Lybiens Volk den Kampf zu wagen; Gott schenkt ihm Huld, daß seine irre Schar Bei dem Panier des Heils vereint ihm war. Str. 6. (S. 10.) Sechs Jahre waren's, daß in der Levante Den hohen Streit begann die Christenschar, Durch Sturm Nicea, und das wohlbemannte Antiochien durch List zur Beute war. Wo dann der Krieg auf Persiens Volk entbrannte, Das ungefüg herkam und unzählbar. Tortosa fiel; die schlechte Jahrszeit machte, Daß nun das Heer auf's nächste Jahr erst dachte. Gesang VI . (Str. 97.) Herminia sieht im Thale sich allein, Und zügelt nun den raschen Lauf der Pferde; Da sie entgangen ist der ersten Pein, Bangt ihr nicht mehr, daß sie ergriffen werde. Nun fällt ihr, was sie nicht bedachte, ein, Nun wird ihr klar erst ihres Wegs Beschwerde. Wohl schwerer däucht ihr, als ihr Liebesdrang Jhr täuschend log, sei zu dem Feind der Gang. (Str. 114.) Doch Tankred, noch im Herzen prüfend schwer Die erste Kunde, als er dies erfahren, Denkt nun: vielleicht kam sie aus Liebe her, Und ist, nichts ahnend, drob nun in Gefahren. Drum nimmt er halb nur seine schwere Wehr, Und eilt geheim und still von seinen Scharen, Besteigt sein Roß, und jagt auf ihrer Spur Verhängten Zügels hin durch Feld und Flur. Gesang XVIII .|(Str. 85.) Beim Heere steht da Gottfried seelengroß, Er ändert nicht die Farbe, nicht die Stelle, Er tröstet sie, er sorgt, daß Wasser floß Am Turm hinab, damit das Leder schwelle, Doch immer schlimmer wird der Seinen Los, Schon mangelt ihnen frisches Naß der Quelle, Da schau! mit einem Mal ein Sturmwind weht, Der all' den Brand auf die Erzeuger dreht. Gesang XX .|(144 Schluß des|Epos.) So siegt Gottfried. So viel der Helle gab, Die Sonne, die das Licht herniederstreute, Daß er die Sieger zu dem heil'gen Grab, Zur Stadt hinführen kann, die er befreite. Dort legt er nicht den blut'gen Mantel ab, Er eilt, daß er sein Volk zum Tempel leite, Demütig löst er sein Gelübde, d'rauf Hängt er die Wehr am Grabe betend auf. V . Die Lusiaden des Camo ë ns. Man möchte dieses Epos, in welchem Wahrheit und Dichtung zauberisch zusammenfließen, als ein historisches Feenmärchen bezeichnen. Camo ë ns (1524─80) behandelt in demselben die Fahrt des Vasco de Gama nach Jndien. Jnhalt: Das Epos beginnt mit einer mythologischen Scene im Stile der Äneide von Vergil. Jupiter verkündet den Göttern, daß die Lusitanen nach dem Willen des Fatum nach Jndien ziehen. Bacchus ist dagegen. Venus dafür. Der imponierende Mars vermittelt, daß der Himmel dröhnt. Die Lusitanen segeln der Küste entlang und erklären den Mohren: Wir sind Portugiesen vom Occident, Wir suchen Länder im Orient. Durch ein Wunder der Venus mit ihrer Guarda divina wird Gama den Anschlägen der Heiden entzogen. Er betet. Venus meldet dies dem Jupiter und rührt diesen so, daß er den Gama durch Merkur im Traum warnen läßt. Der 3. Gesang berichtet von Waffenthaten und erzählt die ergreifende Episode von Don Pedro und seiner ihm heimlich angetrauten Jnez de Castro, die der König Alfonso ermorden läßt. Andere Thaten folgen. Jm 5. Canto wird über des Admirals Reise berichtet; wobei eine geographische Übersicht portugiesischer Entdeckungen, ferner meisterhafte Beschreibung meteorologischer und anderer Erscheinungen, z. B. einer Wasserhose, eines Seesturms &c. eingeflochten werden. Endlich Landung in Jndien! (Canto VII .) Eine höchst sorgfältige Beschreibung von Jndien schließt sich an. Vor der Heimreise läßt der Dichter seine Lusitanen noch ein wonniges Dasein mit den Oceaniden feiern. Glücklich läßt er sie wieder auf dem Tajo anlangen. Der Leser fühlt sich durch dieses aus 10 Gesängen bestehende Epos in südliche Regionen versetzt, namentlich im 8. Gesang unter Jndiens Himmel. „Glühende Vaterlandsliebe, unermüdliches Kämpfen gegen die Mauren, löwenkühner Mut zur See im Sturm und Schiffbruch und im fernen Jndien, lebhaftes Mitempfinden der Majestät Gottes in der Natur, innige Verehrung alles Schönen und darum auch der Frauenschönheit“ sind die Grundlagen dieses portugiesischen historischen Heldenepos, das neben Booch-Arkossy (2. Aufl. 1857) noch Eitner u. a. ins Deutsche übersetzten. Probe aus den Lusiaden. (Übers. von R. Avé-Lallemant in der Schrift Luiz de Camoëns . 1879.) Str. 44. Du holdes Kind, Gefahren fürchte nicht Für jene Lusitanen, für die Deinen. Und daß mir etwas mehr zum Herzen spricht, Als Deiner süßen Augen heißes Weinen! Jch schwör's vor Deinem Engelsangesicht: Rom, Griechenland soll sich vergessen meinen Vor Deiner starken Helden Thun und Ringen, Womit sie kühn den Orient durchdringen! Str. 51. Da sieht man gräßliches Zusammenstoßen, Darob der Berge Gipfel selbst erbeben! Das Feld bedecket sich mit wilden Rossen, Die einst Neptun vom Boden rief ins Leben. Da haut man auf einander unverdrossen; Ringsher im Feld entflammt des Krieges Streben. Wie unser Heer da Panzer, Harnisch, Schilde Zerbricht, zerhackt, zerstößt, zermalmt, das wilde! Str. 123. Jnez zu morden ist der Fürst entschlossen, Den Sohn ihr zu entziehn, der ihr verbunden, Jm Wahn, daß wenn nur erst ihr Blut geflossen, Des Prinzen Herz und Gram schon wird gesunden. Das scharfe Schwert, das ritterlich vergossen Der Mohrenscharen Blut aus tausend Wunden, Soll jetzt, o Schmach! zur Schandthat auserkoren, Des schwachen Weibes zarte Brust durchbohren. Letzte Str. Wenn Du es schaffst, daß mehr als die Meduse Dein Antlitz fürchten Afrikas Gefilde, Wenn Du zermalmst am Kap der Ampeluse Der Maroccaner Maurenvolk, das wilde: Dann singet meine schon bewährte Muse Mit Lust und stolz von Deinem Heldenbilde; Ein Alexander scheinst Du dann auf Erden Und des Achilles Glück wird Deins auch werden. VI . Scherenbergs historische Epen. 1. Waterloo (1849. 6. Aufl. 1869) ist ein Epos von origineller kräftiger Charakteristik und bündiger Gedrungenheit der Ausführung. Markig erscheint der alte Blücher und das preußische Heer in den volkstümlichen Farben der damaligen Zeit, ebenso der „blasse heisere Kaiser“ (S. 65 ff.). 2. Ligny (1859. 4. Aufl. 1870). 3. Leuthen (1852. 3. Aufl. 1867). 4. Abukir, die Schlacht am Nil (2. Aufl. 1855). 5. Hohenfriedberg (1869). Zur Charakteristik dieser Epen, die wohl hie und da in chronikartige Reimerei ausarten, beschränken wir uns auf eine Probe aus Abukir : Da warf das Schiff Heureux, der Flottenwächter Gen Morgen, durch den wolkenlosen Himmel Jn ihrem Schlaf gleich unverhofftem Traum Herüber das Signal: „Die Britten kommen!“ „Der Nelson?“ flog es über alle Lippen Vom Admiral hinunter bis zum Schiffsjung; ─ Denn Nelson galt auf See für Britten, wie Zu Lande Bonaparte für Franzosen. ─ Und wie, fegt der Orkan nach Windesstill Jn's Takelzeug, sich rühret jeder Mann Mit der Seehurtigkeit, ihm angeschult Von den erbarmungslosen Elementen, Fuhr auf aus seiner träumerischen Ruh Der Orient ─ und nach die ganze Flotte. Hoch über dem Geplätsch vom kleinen Kiel Stieg mit dem großen Stab der Admiral Auf's Spiegeldeck der prächt'gen Gallerie, Und hinter ihm am Maste stiegen mit Jhm rauschend auf die Flaggen der Signale, Und es begann darauf der Orient Mit seinen Turmesriesen durch die Lüfte Zu sprechen seine Bildersprache. ─ Und Wie Zauberwerk sich selbst aufbaut unhörbar, So reihten sich, still folgend hohem Wink, Zur Schlacht die großen Orlog's, stellten sich Um ihren Orient im Halbmond, wölbend Hinaus den Bogen nach der offnen See. Noch einmal überschaut von seiner Höhe Der Admiral den Halbmond seiner Flotte, Des Hörnerspitzen fern in Dunst zerflossen, Dann hob er wieder den gesenkten Stab, Und winkte: „Fertig zur Aktion!“ ─ Und rauschend, Wie wenn das Drama auf den engen Brettern Beginnen soll, der Vorhang aufrollt, rollt Herab die Segelwand, und schwirrend, wie Am Webstuhl, fliegt von Hand in Hand die Arbeit Auf knappem, straff umsponnenen Verdeck: Gerefft wird, was losbändig, ausgehändet Das Pulver, das Geschütz geladen, los Gemacht die Taljen, durchgeholt das Stück, Geöffnet sind die Luken, die Lunte brennt, Der Stückmatrose tritt an seine Kanone, Der Arzt legt aus sein Wundzeug ─ still ist alles. Und näher kommt der Hannibal der See, Jhm immer mehr in Sicht das Schlachtfahrwasser &c. Zur Litteratur des historischen Epos. Von deutschen historischen Epen sind zu nennen: Christoph Otto von Schönaichs († 1807) Heldengedichte Hermann und Heinrich der Vogler; von Boguslawskys († 1817) Xantippus in 10 Gesängen; Pyrkers Tunisias und Rudolfias (die Tunisias besingt Kaiser Karls V . Zug nach Afrika zur Befreiung der Christensklaven und läßt die Seelen Saladins, Attilas wie Götter auftreten. Die Rudolfias besingt Rudolf von Habsburg); Arnold Schlönbachs Der Stedinger Freiheitskampf und Die Hohenstaufen; Gottschalls Carlo Zeno und Sebastopol; A. Schults Ludwig XVI .; Überhorsts Derfflinger; Pressels Sickingen; Alf. Meißners Ziska; Hamerlings König von Sion; Toblers Winkelried; Roquettes St. Jakob; Gruppes Albion; Aug. Frankls Christophoro Colombo; Rebenstocks Walhalla; Joh. Haupts klares, keusch gehaltenes Albungenlied; G. Fischers Haspinger (Ulm, 1859); Herm. Daums Johs. Hus; Alfred Meißners Ziska; Fed. Köppens Preußens Erhebung; Schlesingers Vindobona; W. Osterwalds König Älfred, und besonders das (Barbarossas Liebesleben behandelnde) ergreifende Epos Gela von dem formgewandten bayrischen Mitvertreter (neben H. Lingg) der historischen Lyrik Karl Zettel u. a. § 124. Das komische, humoristische, satirische Epos. Das komische Epos wird in der Regel als Gegensatz des klassischen oder ernsten (erhabenen) Epos angesehen, da es häufig nur eine Parodie desselben ist. Es erstrebt, durch Vorführung des Lächerlichen (der menschlichen Beschränktheit) das ewig Gültige zur lebendigen Anschauung zu bringen, zu unterhalten. Das Gefühl des Lächerlichen wird erzeugt durch die eigenartige Charakterzeichnung des zur drolligen Figur heruntergestimmten Helden und durch die besonderen Verhältnisse, die der letztere zu bekämpfen hat, oder durch die Wirkung des Kontrastes ( I . 102). Der Dichter behält zuweilen den erhabenen Stoff bei, den er in niederer Ausdrucksweise travestierend behandelt (z. B. Blumauers Äneide). Oder er wählt den Stoff aus dem niedern Leben und behandelt ihn parodierend pathetisch, so daß er selbst beim Unbedeutendsten mit scheinbarem Ernst oder mit schwungvoller Rede, mit wichtig thuender Miene &c. verfährt, wie es beispielsweise in folgenden Dichtungen geschah: Popes Haarlockenraub; Butlers Hudibras; Zachariäs (der eigentlich das komische Heldengedicht in unsere Litteratur einführte) Schnupftuch, Der Phaeton, Renommist, Murner in der Hölle; Tassonis Geraubter Wassereimer u. s. w. Endlich kann er aber auch niedern Stoff in niederer derb=volksmäßiger Form behandeln (z. B. Jobsiade von Kortüm in Knüttelversen, ein Meisterstück witzigen, drolligen Humors, dessen 2ter Teil, in welchem der Dichter den gestorbenen Helden Jobs wieder aufleben, sich ändern und ein vernünftiges Leben führen läßt, matter als der erste ist). I . Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann. Dieses Epos mit Bildern von Sundblad &c. ist bereits in 2. Auflage erschienen. Jnhalt: Jm Weichbild der berühmten Weimarschen Töpferstadt Bürgel hatte man vor Zeiten alle Hasen ausgerottet und noch nie einen Esel gesehen. Einem wandernden Krämer entläuft nun einst dort sein Esel. Ein Jäger flieht vor ihm und meldet die Anwesenheit dieses Untiers dem Rate der Stadt Bürgel, der es für den Urhasen erklärt. Große Jagd. Der Esel wird durch einen Schmied erlegt, der für seine Heldenthat die Tochter des Wirtes erhält. Zum Festschmaus erscheint der Krämer. Er fordert Ersatz und wird dafür gar übel zugerichtet. Das Fell des Esels lag lange im Bürgler Rathaus. Dann spannte man es auf eine Trommel und zog, auf demselben Wirbel schlagend, nach Schleswig. 1870/71 leitete diese Bürgler Jagd-Trophäe die Deutschen auch mit nach Paris. Ein zweites „fröhliches Heldengedicht“ Fr. Hofmanns ist sein glänzend ausgestatteter „ Geisterspuk auf der Veste Koburg “. (Reich illustriert vom Grafen A. Mensdorff-Pouilly und Sundblad.) Dasselbe schildert in „15 Stücklein“ das lustige und patriotische Umgehen der Geister auf der alten Frankenburg, wo neben einem englischen Lord, seinem irischen Diener, einem spanischen Granden und einem verwunschenen Mönch auch Kaiser Ferdinand II ., Gustav Adolf, Wallenstein, Tilly, die Reformatoren, Käthchen Luther, der Ritter Rauber, Herzog Joh. Casimir, Christian VIII . von Dänemark, Fr. Rückert, viele Götter und Göttinnen der Mythologie, Knappen, Volk und sogar drei französische Kanonenseelen bis zur großen versöhnenden Reichsnacht der Geister mit umgehen. Probe aus der Eselsjagd, von Fritz Hofmann. 4. Gsg. Ein schlanker Viertelsmeister, ein Mann von Ansehn dort, Ein weit und breit gereister, hat justament das Wort. „Mir, Männer, dürft' Jhr glauben, in der Menagerie Zu Basel sah ich's selber, es war dasselbe Vieh. 's ist ein geschor'ner Löwe, und weiter ist es nichts!“ „O wehe! weh', ein Löwe!“ Der ganze Kriegsrat spricht's. „Wer hätt' ihn denn geschoren?“ So fragt der Gerber. „Wer? ─ Wo kämen denn die Ohren, die ungeheuern, her?“ ─ u. s. w. Doch wie zu allen Zeiten der erste Mann der Stadt Bei den Begebenheiten der Welt die Zügel hat, So nahm der Bürgermeister die Zügel jetzt zur Hand, Die aufgeregten Geister anführend mit Verstand. u. s. w. Kein Bär, kein Leu, kein Drache! Seht hin es ist ein Has, Jst aller Hasen Mutter, der Urhas! Das ist das. Der Kinder Tod zu rächen bis in das vierte Glied An uns und an den Unsern, das ist das End vom Lied! Das Tier, wie es unbändig jetzt wütet und krawallt, Entlassen wir's lebendig, denkt, wir beklagen's bald! Es streut die Haseneier zu Millionen aus Und treibt mit unsern Kindern uns noch von Hof und Haus. Drum auf mit Mut und Wehre! Jch, Kinder, führ Euch an! Mein Vetter Grobschmied, sei du der linke Flügelmann, Und du stehst auf der Rechten, mein Vetter Gerber! Auf, Für Weib und Kind zu fechten, ist Heldenlebenslauf! u. s. f. Probe aus dem Geisterspuk, von Fritz Hofmann. S. 86. Da rief: „Jhr Herr'n Franzosen!“ der Paddy auf einmal, „Seht Jhr die roten Hosen zu tausenden im Thal? Sie marschieren ohne Gewehre, Musik und Fahnen dahin, Sieg krönte Eure Heere! Sie gehn spazieren nach Berlin! “ &c. II . Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün. Dieses komische Epos hat den leidenschaftlich für die Baßgeige schwärmenden Herzog Moritz (1688─1733 Administrator von Merseburg), zum Helden. Seine Teile sind: Ein Stück Exposition, Jnvocation, nebst etlichen Episoden; Von einer Feder, einem Schwerte und einer Axt, nebenbei etwas von der Menschenhand; Jntermezzo als Arabeske; Wie der Merseburger Hofpoet gesungen haben würde; Der Herzog bestellt sein Zeughaus und wirbt sein Heer; Der Herzog meint die Harmonie zu finden; Der berühmte Chevalier von Pöllnitz am Merseburger Hofe; Etwas von dem alten Riesen Einheer; Der Herzog besiegt die Hydra der Revolution; Der Herzog bereist seine Staaten; Hier wird Spielzeug verfertigt; Eine Vision; Die Saiten klingen aus. Probe aus Nibelungen im Frack. (Ausg. 1877.) S. 17. Mein Held ist traun, kein Riese, das könnt' uns schnell entzwein, Dir möcht' ein Wicht mein Riese, dein Ries' ein Zwerg mir sein; Er ist nicht so groß, daß Mißgunst ihn noch verkleinern wollte, Er ist nicht so klein, daß Liebe aufblasen ihn und strecken sollte. S. 18. Sein Rößlein heißt Marotte, im Baß geht's statt im Paß, Von seinem Schenkeldrucke stöhnt, schnaubt der Geigenbaß! Marotte, sei besungen wie deine Brüder im Stalle, Du springst viel höher, weiter, du bist gewaltiger als sie alle! S. 20. (Vgl. hierher die Probe Bd. I . S. 605.) S. 41. Sie wandern fröhlich weiter. Der Herzog plötzlich spricht: „Mich dünkt, am Gotthardsteiche den Turm dort sah ich noch nicht!“ „„Es thut mir, Sereniss'me, zu widersprechen leid, Kein Turm ist's, nur Windmühle! die Flügel rührt's ja beiderseit!'''' „Sei's Windmühl oder Kirchturm, Entsetzen ist's zu sehn! Denn seht, es regt sich, schreitet, auf uns scheint's los zu gehn!“ Und immer näher wallt es, hat Arme, Beine, Kopf Und steht vor ihnen endlich, ein Goliath mit steifem Zopf. Nach Ellen ist's zu messen vom Scheitel bis zur Ferse, Langbeinig, wie hier im Liede die Nibelungenverse; Sein Atem dröhnt, als blähten der Orgel Bälge sich. Der Herzog ruft fast zitternd: „Wer bist du und von wannen? sprich!“ „„O! kennt ihr nicht den Jonas vom Regiment der Langen? Jch komm' auf Meilenstiefeln von Potsdam hergegangen, Vom König, der den Riesen in Lieb' und Huld geneigt, Nur nicht dem einen jungen, dem Riesen, den er selbst gezeugt. Wie Finkler im Gehege, wie auf der Beize Sperber, So locken Diplomaten, so packen uns die Werber; Wie Schlingen junge Füllen, so fangen uns Verträge, Daß nur der Tritt von Riesen den Staub am Haveldamm errege! &c. S. 42. Der Glanz hat seine Schatten. Seltsam hat sich's begeben, Der König kam uns mustern, als ich im Schenkhaus eben; Zufall, daß ich bisweilen kein musikalisch Ohr, Und mich der Trommel Wecker umsonst vom Schlafe rief empor. Heißt's Unstern nicht, daß grade des Königs Blick sich wählte Zur Rast das einz'ge Knopfloch, an dem der Knopf mir fehlte? Da hat es sich getroffen, ─ o schwärzester Schicksalsbock! ─ Daß eben mich getroffen von Rohr der königliche Stock. Der stand nicht im Kontrakte! Da macht' ich mich von dannen, Und steh euch hier zu Dienste, ein Opfer des Tyrannen.'''' Den Stift schon nimmt der Kanzler, den Steckbrief aufzusetzen, Der Herzog Moritz Wilhelm doch ruft in freudigem Entsetzen: „Nun hab ich auch den Riesen, ─ o Anblick, Götter zu laben! Der Kontrabaß als kleine Armgeige kann handhaben!“ Ohnmächtig all' der Wonne, sinkt er mit bleichen Wangen, Es war von seinem Glücksmond das letzte Viertel eingegangen. Der Riese lädt auf den Rücken den Herzog huckepack, Der Kanzler wallt daneben, das Zwerglein in dem Sack, Wie Baß- und Violaträger zur Stadt heimwandeln sie, Selbst tragend und getragen, ein schönes Bild der Harmonie. III . Tulifäntchen, von Karl Jmmermann. Dieses komische Epos besteht aus 3 Gesängen, I . Tulifäntchen Fliegentöter, II . Die Mauer von Brambambra, III . Balsamine. Jnhalt: Das Zwerglein Tulifäntchen bewährt sich als Fliegentöter. Es fordert den Riesen Schlagadodro zum Kampf heraus, den seine eiserne Mauer mit seinen 50 Mohren erschlägt, wobei nur ein geschwärzter, die Nibelungen lesender Professor davonkommt. Tulifäntchen vermählt sich sodann mit Balsamine, die ihn in einen Käfig sperrt. Er sucht den Tod und wagt einen kühnen Sprung. Aber anstatt zu zerschmettern fällt er in der Fee Libellens Schoß und wurde nun nicht mehr auf Erden gesehn. Probe aus Tulifäntchen. (Nr. 3 des II . Gesangs.) Schlagadodro! Schlagadodro! Ungeschlacht hieß dein Herr Vater, Tramplagonde die Frau Mutter, Doch du selbst heißt Schlagadodro! O bedeutungsvolle Wahrheit Jenes tiefen Spruchs aus Osten: Was das Hänschen nicht gelernet, Wird der Hans wohl wissen schwerlich! Folgt mir jetzo zu dem Haushalt Meines alten Riesenschülers Schlagadodro, Schlagadodro! Nur mir nach! Der Weg ist schlüpfrig; Felsenauf, durch Waldgerinnicht Winden sich die Pfade rieselnd. Hütet das Gesicht vor Nesseln! Nehmt in acht die Hand vor Dornen, Vor dem Pfriemkraut, vor den Brombeer'n! Fürchtet nichts! Euch führt der Dichter, Und ihn führt die freud'ge Muse; Nur den Fels noch! So, da sind wir Auf der Blöße, hoch im Dickicht. Seht, da steht das Schloß Brambambra! Gelt, das ist ein Riesenlustschloß? Kost't dreihunderttausend Thaler! Vater sel'ger Schlagadodro's Kauft' es einst. Nun aber ratet, Ratet klug, von wem er's kaufte? Von dem alten Tulifanten, Welcher damals Gelder brauchte. Ha Verhängnis! Tulifäntchen! Geht nur näher zu der Mauer, Ohne Scheu! Noch speist der Riese. Seht, sie ist durchaus von Gußstahl. Schlagadodro holt' aus England Sich den Meister, der sie baute Mit geheimnisvoller Kunsthand. Nirgends seht ihr eine Schraube, Nirgends eines Stücks Verbindung, Frisch und ganz steht diese Mauer, Wie ein Kind aus Mutterleibe, Und doch wurden viele tausend Eisenplatten in einander Eingefüget; wer entdecket' Dieses Werks verstecktes Wunder? Scheuern läßt der Riese Samstags Seine Mohren diese Mauer, Sie mit Schmirgel reinlich putzen, Daß sie glänzt, ein blauer Spiegel, Weit vom Berg in alle Landschaft. Denn er hält auf sie unendlich, Und sie ist sein Glück, sein Abgott. Schlaft um aller Götter willen Nicht, ihr Teuren, wenn die Mauer Vorkommt; schlaft bei andern Stellen! Glaubt, sie ist vom höchsten Einfluß Auf das weitere Verläufnis Dieses großen Heldenliedes! Rasch hinweg, da naht der Riese! Nach dem Essen wird studieret. Rasch nur hinter jenen Vorsprung! Muse, bleibe du auf Posten, Sag' uns treulich, was du schautest. Schlagadodro blickt verdrießlich, Wie der alte Hund bei Lichtwer, Der zum Lernen war so kopflos. Unter jedem Arme trägt er Sein Getränk in einem Oxhoft. Setzt sich zwischen seine Fässer Auf der Mauer Kante, baumelt Mit den Beinen, sagt verdrießlich: Sonne sticht auch gar zu stark hier, Und dabei soll man studieren! Ein verfluchtes durst'ges Wetter! Führt mit Anstand zu den Lippen Eins der beiden Oxhoft-Fässer, Trinkt gelinde aus dem Spundloch, Trinkt, verschluckt sich nicht im mind'sten, Trinkt das Oxhoft bis zur Neige, Wirft die Tonne von der Mauer, Trinkt die zweite, wirft sie 'nunter, Leer bis auf die Nagelprobe. Seine Augen wurden wacker. Sprach: nun soll'n die Wissenschaften Auch getrieben werden endlich. Jmmer Schlingen, Schlucken, Schlemmen Jst, bei Gott dem Herrn, fast viehisch. Denn im Leibe sitzt der Magen, Und im Kopfe sitzt die Seele. Brot und Fleisch verlangt der Magen, Kenntnisse verlangt die Seele. Jst der Magen satt vom Essen, Muß die Seele auch was haben, Das ist Ordnung, also will es Die Gerechtigkeit, die erste Aller Tugenden; die Seele Jst just'ment so gut, wie du bist Musje Magen. ─ Damit Punktum. Sprach's; holt aus der Tasch' ein Büchlein, Buttmann's griechische Grammatik. Denn er stand beim Griech'schen grade, Das Ebräische soll folgen, Sagte die Prinzeß, im Herbste. Lernte: Tüpto, Tüpteis, Tüptei, Tüptomen, zuletzt Tüptusi, Daß der Wald von dem Gebrüll scholl, Und die Erd' in Ängsten bebte. Während so der arme Riese Griechisch lernte mit Beeifrung, Und den Takt schlug mit den Beinen, Standen hinter ihm die Mohren, Seine tägliche Bedienung, Wedelnd mit den Straußenwedeln; Knull, der Obermohr, und fünfzig Kohlpechschwarze Untermohren; Ein und fünfzig Stück im Ganzen. Knull, jetzt kann ich's, überhöre! Rief voll Freuden Schlagadodro Nach dreistündiger Bemühung. Knull nahm 's Buch hin, überhörte; Schlagadodro kratzt im Haupte, Blickt' hinunter, blickt' gen Himmel, Schwang und schlenkerte die Finger, Konnte nicht ein Sterbenswörtchen, Weinte, daß das Griech'sche nimmer Woll' in seinen Kopf, den harten. Weinte zwanzig Eimer Thränen Aus den Augen, vierzigzöllig, Von der Mauer von Brambambra Nieder auf den sel'gen Buttmann. Dieses waren deine Leiden, Schlagadodro! Schlagadodro! Ungeschlacht hieß dein Herr Vater, Tramplagonde die Frau Mutter Doch du selbst heißt Schlagadodro. Zur Litteratur des komischen Epos. Bekannter gewordene, nennenswerte komische Epen sind noch: Der neue Amadis in 18 Gesängen von Wieland; Wilhelmine, ein prosaisch=komisches Gedicht von Thümmel (in demselben wirbt ein pedantischer Landprediger um die Hand der schönen, jugendlichen Wilhelmine); Der Schoßhund, ─ Das Toppen, ─ Ardon und Themion von Joh. Jak. Dusch († 1787); Der Sieg des Liebesgottes (eine Nachahmung von Popes Lockenraub) von Uz († 1769); Adam und Eva, ─ Karfunkel, ─ Klingklingalmanach (worin der Dichter gegen die Romantiker zu Felde zieht) von Jens Baggesen; Fortunat von Uhland. Mehr humoristisch und satirisch sind folgende Epen: Heines Atta Troll (eine Parodie auf die unkünstlerischen, schwerfälligen Gesinnungspoeten mit ihren mühsam angelernten Künsten und dem Mangel an Genialität); Glaßbrenners Die verkehrte Welt; Weidmanns Parochiade; Prätzels Feldherrnränke; Roffhacks Die Leiden der jungen Lina; Hans Hopfens Pinsel Mings; Ecksteins Die Stumme von Sevilla, Schach der Königin, Venus Urania; Rudolf v. Gottschalls König Pharao; Julius Wolffs Till Eulenspiegel redivivus ; Jul. Grosses Pesach Pardel; K. Schröders „Krethiplethiade, ein heroisch=komisch=romantisch=idyllisches Epos“ u. a. Als humoristische Epen in höherem Stil sind zu nennen: Wielands Oberon, den wir schon unter den romantischen Epen anführten, sowie das bedeutende Epos Don Juan von Lord Byron, das man einen Welt- und Lebensspiegel nennen darf. Das bei uns bekannteste komische Epos der französischen Litteratur ist „Das Lesepult“ ( le lustrin ) von Boileau, eine witzige, geistreiche, in glatten Versen geschriebene Dichtung &c. § 125. Das Tierepos. Es ist eine besondere Gattung oder Abart des komischen und satirischen Epos, welches die Thorheiten und Verkehrtheiten des Lebens geißelt, indem es Tiere als Menschencharaktere oder handelnde Personen auftreten läßt. Es ist seinem Wesen nach allegorisch. Oft bilden Tiere des Feldes und Waldes den Gegenstand der Erzählung, deren Mittelpunkte der Löwe oder Bär (als König), der Wolf (Jsegrim), der Fuchs (Reinhard, Reineke) &c. sind. Die Tiersage leitet ihren Ursprung aus Flandern her, von wo sie bei den fränkischen Stämmen eine Pflegestätte fand. Anfänglich sollte das Tierepos die Tiertypen und das Tierleben in lebendiger Anschaulichkeit vorführen. Später erst bezog man es auf gesellschaftliche Zustände, wodurch es eine didaktische Tendenz erhielt. Es läßt dem Humor freie Entfaltung und wird nicht selten ironisch=sarkastisch. (Vgl. z. B. Glaßbrenners sarkastischen Reineke.) I . Reineke Fuchs, von Goethe. Dieses satirisch=komische Tierepos ist eine Nachbildung jener uralten Tiersage, die wir bereits unter Fabel (S. 162 d. Bds.) erwähnten. Es zeichnet sich durch lebensvolle Jndividualisierung und treffende Charakteristik aus und liefert den Nachweis, daß die seinen Kern bildende alte Tiersage von Reineke Vos in ihrer neuen, schöneren Form auch in unserem Jahrhunderte große Wirkung zu üben vermag, daß auch unsere Zeit aus derselben Belehrung schöpfen kann, ja, daß sie wie ein aus waldesduftiger Heimlichkeit vorgehaltener Spiegel auch die Schwächen unseres Jahrhunderts reflektiert. Die Hauptfigur des in 12 Gesängen im hexametrischen Versmaß aufgebauten Epos ist der Fuchs (Reinhard, Reineke, Reginhard, d. i. der Ratskundige, Ratfeste, franz. renard ). Jnhalt: Allgemeiner Friede wird den Tieren verkündigt. Trotzdem beharrt ein jedes in seiner Selbstsucht. Besonders der Fuchs ist es, welcher alle Tiere auf's Arglistigste und Liebloseste behandelt, sich gegen jegliche Ordnung auflehnt und gegen Religion und Sittlichkeit auf's Gröblichste verstößt. Nobel, der Löwe, Regent des Tierreichs, ist sein Protektor. Jsegrim der Wolf, Lampe der Hase, Braun der Bär, Hinze der Kater, Henning der Hahn &c. verklagen den Fuchs bei Nobel wegen seiner hinterlistigen Betrügereien. Reineke weiß sich herauszulügen, so daß er zuletzt sogar noch von Nobel mit Ehren überhäuft wird. Grundgedanke: List und Ränke gewinnen im Leben die Oberhand über Gutmütigkeit und Ehrlichkeit; Schlauheit und Selbstsucht regieren die Welt. Die neue Ausgabe der klassischen Übersetzung unseres Goethe mit Kaulbachs Jllustrationen hat den Vorzug der Anschaulichkeit durch das Bild, indem es Kaulbach wie kein zweiter verstand, tierische Gestalten und Physiognomien zur typischen Darstellung menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften in den richtigen Situationen aufzufassen und zu verwerten. Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe. Siebenter Gesang. Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet, Manche Ritter kamen dahin; den sämtlichen Tieren Folgten unzählige Vögel und alle zusammen verehrten Braun und Jsegrim hoch, die ihrer Leiden vergaßen. Da ergötzte sich festlich die beste Gesellschaft, die jemals Nur beisammen gewesen; Trompeten und Pauken erklangen, Und den Hoftanz führte man auf mit guten Manieren. Überflüssig war alles bereitet, was jeder begehrte. Boten auf Boten gingen in's Land und luden die Gäste, Vögel und Tiere machten sich auf; sie kamen zu Paaren, Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen. Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause, Dachte nicht nach Hofe zu gehn, der verlogene Pilger; Wenig Dankes erwartet' er sich. Nach altem Gebrauche Seine Tücke zu üben gefiel am besten dem Schelme. Und man hörte bei Hof die allerschönsten Gesänge; Speis' und Trank ward über und über den Gästen gereichet; Und man sah turnieren und fechten. Es hatte sich jeder Zu den Seinen gesellt, da ward getanzt und gesungen, Und man hörte Pfeifen dazwischen und hörte Schalmeien. Freundlich schaute der König von seinem Saale hernieder; Jhm behagte das große Getümmel, er sah es mit Freuden. Und acht Tage waren vorbei (es hatte der König Sich zu Tafel gesetzt mit seinen ersten Baronen, Neben der Königin saß er), und blutig kam das Kaninchen Vor den König getreten und sprach mit traurigem Sinne: Herr! Herr König! und alle zusammen! erbarmet euch meiner! Denn ihr habt so argen Verrat und mördrische Thaten, Wie ich von Reineken diesmal erduldet, nur selten vernommen. Gestern Morgen fand ich ihn sitzen, es war um die sechste Stunde, da ging ich die Straße vor Malepartus vorüber; Und ich dachte den Weg in Frieden zu ziehen. Er hatte, Wie ein Pilger gekleidet, als läs' er Morgengebete, Sich vor seine Pforte gesetzt. Da wollt' ich behende Meines Weges vorbei, zu eurem Hofe zu kommen. Als er mich sah, erhub er sich gleich und trat mir entgegen, Und ich glaubt' er wollte mich grüßen; da faßt' er mich aber Mit den Pfoten gar mörderlich an, und zwischen den Ohren Fühlt' ich die Klauen und dachte wahrhaftig das Haupt zu verlieren: Denn sie sind lang und scharf, er druckte mich nieder zur Erde. Glücklicherweise macht' ich mich los, und da ich so leicht bin Konnt' ich entspringen; er knurrte mir nach und schwur mich zu finden, Aber ich schwieg und machte mich fort, doch leider behielt er Mir ein Ohr zurück, ich komme mit blutigem Haupte. Seht vier Löcher trug ich davon! Jhr werdet begreifen, Wie er mit Ungestüm schlug, fast wär' ich liegen geblieben. Nun bedenket die Not, bedenket euer Geleite! Wer mag reisen? wer mag an eurem Hofe sich finden, Wenn der Räuber die Straße belegt und alle beschädigt? Und er endigte kaum, da kam die gesprächige Krähe, Merkenau, sagte: Würdiger Herr und gnädiger König! Traurige Märe bring ich vor euch, ich bin nicht im Stande Viel zu reden vor Jammer und Angst, ich fürchte, das bricht mir Noch das Herz: so jämmerlich Ding begegnet mir heute u. s. f. II . Rollenhagens Frosch-Meuseler. Rollenhagens „Frosch= Meuseler“ (1595) oder „Der Frösche und Mäuse wunderbare Hofhaltungen“ ist eine Neubearbeitung der „Batrachomyomachie“ und eine Parodie des homerischen Stils. Das Epos ist wertvoll als Versuch, eine ganze Epopöe didaktisch auszuführen. Es zeigt im 1. Buche, wie alles seine Feinde habe, wobei es die bürgerlichen Stände durch Tiere vorstellt. Jm 2. Buch folgen Erörterungen des Froschkönigs Bausback mit dem Mäusekronprinz Bröseldieb über die beste Staatsverfassung. Jm 3. und letzten Buch beginnt der Krieg zwischen Fröschen und Mäusen, welch' letztere trotz tapferster Gegenwehr doch ihren Feinden weichen müssen, da jene sich durch die gepanzerten Krebse verstärken. Das Gedicht ist reizend in den Einzelheiten und gewinnend durch anmutige, behagliche epische Breite; aber in der innern Komposition ist es nicht eng genug gefügt und zusammengeschlossen. Probe aus dem Froschmeuseler, von Rollenhagen. (Ausg. von K. Goedeke. 1876. S. 64. Die Orthographie ist verändert.) Bröseldieb sagt, wer Murner sei. „Murnern, der Katzaner Patron, Lehrt mich kennen mein Mutterfron; Jch bat, wie ich noch war ein Kind, Wie die Kinder fürwitzig sind, Sie wollt's lassen einmal geschehen, Mich auch lassen die Welt besehen .. u. s. w. Sie wehret ab mit Hand und Mund, Predigt mir viel von Katz und Hund, Wie die uns wären so gefähr. Jch bat und gilfert immer mehr, Bis sie zuletzt williget drein, Daß ich ein Stund möcht von ihr sein, Warnet doch mit ganzem Fleiß Und saget von des Murners Weis, Daß er versteckt im Winkel säß, Und die Mäuslein ohn' Brot einfräs, Das wäre sein allerliebste Speis, Den sollt ich ja meiden mit Fleiß. Jch schlich unter der Wand herfür Nach unsers Schlosses Vorderthür, Die in des Mantiers Haus hinging, Davon es Wärme und Rauch empfing, Und guckt heimlich zuerst heraus Wie ein unbewanderte Maus, Ob auch da wär sicher Geleit, Oder ob der Murner säß zur Seit. So saß im Haus im Sonnenschein Ein schönes weißes Jungfräulein, Sein Äuglein glänzten hell und klar, Es leckt und schlichtet seine Haar, Küsset die Händ und wusch sie rein Über die zarten Wängelein; Das Herz im Leib verlanget mir, Daß ich nur möcht treten herfür, Dasselb mit adeligen Sitten Um seine Lieb und Freundschaft bitten, Küssen ihre schneeweiße Händ: So hätt all meine Sorg ein End. ─ Es trat aber am Platz herum Jm Haus die Läng und in die Krumm Ein erschreckliches Wundertier, (Hahn) Dafür die Haut erschüttert mir, Vom Haupt zu Fuß aller Gestalt, Wie man ein Basilisken malt; Jch dacht, ob das der Murner wär, u. s. f. Als hätt mich der Donner geschlagen, So stürzt ich zu dem Loch hinein. Lief zu meinem Frau Mütterlein. Die erschrak und fragt, was mir wär, Daß ich fast hätt kein Atem mehr Und also sehr fing an zu beben; Wollt mir Arzenei für's Schrecken geben. Jch sprach: „O Mutter, der Murner Hat mich erschrecket also sehr, Daß ich schier nimmer Atem hol; Wie habt ihr mich gewarnt so wohl!“ „Was that er denn?“ die Mutter sprach. ─ Jch sagt: Jm Haus ich sitzen sach Ein zartes, schönes Jungfräulein Jm weißen Pelzlein artig fein, Das schmückt sich mit geleckter Hand; Jch hätt mich gern zu ihm gewandt Und um ein Kuß freundlich gebeten; So kömmt der Murner hergetreten Mit Gabelfüßen, mit der Kron, Mit brennendem Schwanz angethon, Daß mich däucht sehr erschrecklich stehen. Der Schelm hätt' mich im Loch gesehen, Springt auf die Thür und rufet laut, Wenn ichs gedenk, graust mir die Haut: „Rück, rück ihn herauser beim Krag'n!“ Damit wollt er sein Dienern sag'n, Daß sie mich sollten nehmen an; Und sie hättens wahrlich gethan, Wenn ich nicht bald entlaufen wär; Davon bin ich erschreckt so sehr. ─ Da sagt die Mutter: „Liebes Kind, Die so schrecklich anzusehen sind, Die thun uns Mäusen nichts zuleid; Die aber dichten Freundlichkeit, So leis und lieblich einherschleichen, Die Händlein küssen, Willkomm reichen, Die sind giftige Kreatur, Teufel unter englischer Figur; Die sind gefährliche Katzen, Die vorn lecken, hinten kratzen. u. s. f. Das Jungfräulein, das so schön war, Bringt uns Mäuschen die größt' Gefahr, Futtert sein Pelz mit unserm Blut; Gott sei Dank, daß er dich behut't! Das Epos schließt mit folgender Moral: S. 288. So ward des Tags der Krieg vollbracht, Die Sonn' ging unter und es ward Nacht. So fahl, so schal, so kalt geht's aus, Wenn sich der Frosch rauft mit der Maus. Aller Welt Rat, Macht, Trotz und Streit Jst lauter Tand und Eitelkeit, Macht doch Mord, Armut, Herzeleid. Gott helf und tröst in Ewigkeit! Amen. Salomon, Vanitas vanitatum et omnia vanitas . III . Der Muckenkrieg. Dieses heroisch=komische Gedicht wurde von H. C. Fuchs verfaßt. F. W. Genthe hat es 1833 nach der Ausgabe von 1600 mit den Varianten der Schnurrschen Bearbeitung von 1612 neu herausgegeben. Jnhalt: Die Mucken und ihre Verbündeten ziehen zu Feld gegen die Ameisen und deren Verbündete. Die Gegner treffen in großer Zahl auf einander und liefern sich eine greuliche Schlacht. Probe des Muckenkriegs. Das erste Buch. (Jnhalt:) Jn diesem ersten Buch rüst' sich Der Mücken Heer zum Ameiskrieg, Die ihnen groß' Schaden und Hohn Bewiesen hatten. Auch kommt an Der Roßfliegen, Weinmücklein, Br ë men Und Schnacken-Hülf. Die Haufen nehmen Jhren Heerzug für über Meer, Segeln mit gutem Wind daher. &c. Das andere Buch. (Jnhalt:) Jm andern Buch da rüsten sich Gleicher Gestalt mit Gewalt zum Krieg, Die Ameisen, und kommen ihnen Die Wanzen, Läuse, Flöhe und Spinnen Zu Hülf. Auch greift die Mucken an Zu Meer ein schreckliches Fortun. Kommen doch endlich an zu Land. Schleifen's Schloß Atricos genannt. Belagern auch Crappa die Stadt. Und weil dieselbe Mangel hat An Proviant, kommen viel Wägen Voll Speis und Trank ihr zu, dagegen Wird Mustibibax der Heid geschickt, Daß er dieselbe der Stadt abstrickt, Daß ihm zwar nicht viel Gut's gebührt, Dann er darob gefangen wird. Siccaboron der wilde Knab Thut mit den Flöh'n eine feine Prob. Jn der Stadt kommt eine Meuterei An Tag, und rückt mit Gewalt herbei Mit den Ameisen der teure Held Granestor, und legt sich auch zu Feld. Myrauca bietet Siccaboron Einen Kampf an, der will nicht d'ran, Veracht' ihn, willigt, daß eine Schlacht Den Krieg zu richten werd' gebracht. Das dritte Buch. (Jnhalt:) Jm dritten Buch werden verbracht, Etlich Scharmützel und ein Schlacht, Beiderseits ficht man ritterlich, Und steht lang im Zweifel der Sieg, Bis endlich Granestor das Feld Und die Viktoriam erhält. Sanguileo mit sein Bundsgenossen (Scannacaballen ausgeschlossen, Welcher dringt durch der Spinne Netz, Die sie gericht hätten) zuletzt Bleibt tot. Siccaboron der Held Lang in der Stadt zur Wehr sich stellt, Darein er war thöricht gerennt, Doch endlich auch sein Leben end't. Zur Litteratur des Tierepos. Schon das Altertum in Jndien, Persien und Griechenland kennt die poetische Auffassung der Tierwelt. Diese hat sich im germanischen Mittelalter ausgebildet und größere Gedichte erzeugt. Fuchs und Wolf treten zuerst als handelnde Personen auf. Jm 12ten und 13ten Jahrhundert treten zuerst in Flandern die Dichter der Fuchs- und Wolfsage auf, um unter diesen Figuren über den Papst, die Geistlichen &c. die satirische Geißel zu schwingen. (Für Näheres vgl. J. Grimms Einleitung zur Ausgabe von Reinhart Fuchs. Berlin 1834.) Es entstanden u. a. Reineke Vos. Des Hundes Not. Die Wolfsklag. Ratsversammlung der Tiere. Flohhatz, von Fischart. Der Froschmäusler. Der Muckenkrieg. Der Ganskönig, von Spangenberg u. a. Drei nennenswerte Tierepen aus der neueren Zeit sind: 1. Bäßler: Ameisen- und Jmmenkrieg (eine Nachbildung des Muckenkriegs), 2. Heinrich Ernst Pöschl: Geranopygmaiomachie (ein komisches Tierepos in 5 Gesängen, welches 1837 in Pesth erschien. Es wurde durch Goldsmiths Gulliver veranlaßt und behandelt den Kampf der Kraniche mit den Pygmäen). 3. Kynalopekomachia, oder der Hunde Fuchsenstreit, von Frh. v. Rumohr. III . Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen. Roman und Novelle. § 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans. 1. Der Roman ist das Prosaepos der Gegenwart. Man versteht darunter im allgemeinen jene umfangreiche Prosa= Erzählung, welche Entwickelungsgang und Geschick eines Helden vom ersten Ahnen oder Beginnen seines Strebens bis zu einem gewissen Abschluß einer Reihe von Begebenheiten, (bis zur Erreichung eines Zieles oder bis zur Sichtbarwerdung der poetischen Gerechtigkeit, d. i. der Vollendung der poetischen Jdee § 130) in abgerundeter Form und poetischer, das wirkliche Leben und den jeweiligen Charakter der Zeit wiederspiegelnder Weise darstellt. Mit andern Worten: der Roman bietet die poetische Gestaltung eines individuellen, einheitlich bestimmten bedeutenden Lebens in der Form geschichtlicher Erscheinung; die Spiegelung dieses Lebens mit seinen sittlichen Höhen und Tiefen; das Bild dieses durch Erfahrung gereiften, durch Gefahren erprobten, zuletzt zu einem sicheren Standpunkt gelangten Lebens, wie es beispielsweise schon bei der homerischen Erzählung der Jrrfahrten des Odysseus entgegentritt. 2. Der Roman der Gegenwart hat eine außerordentliche Verbreitung erlangt; er ist allen Schichten der Bevölkerung und der ganzen Nation geradezu zum Bedürfnis geworden. 3. Er hat daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den Charakter und die kulturelle Signatur des Jahrhunderts. 4. Dadurch erblüht dem Romandichter die hohe Aufgabe, Lehrer und Bildner seines Volks zu werden, und sein Jahrhundert in eine höhere Sphäre geistigen Seins zu heben. 1. Das Wort Roman ( romant ) stammt aus dem Romanischen. Romanisch ist aber dem Wortsinn nach zunächst alles, was seinen Ursprung der lateinischen (== romanischen) Sprache verdankt: also das Jtalienische, Französische, Portugiesische und dasjenige Romanische, welches sich bis auf unsere Tage in einem kleinen Teile Graubündens erhalten hat. Eine Erzählung in der romanischen Sprache hieß ursprünglich ein Romant (z. B. der berühmte abenteuerreiche, phantastische Romant Amadis, das Urbild der späteren Ritterromane, dessen Verfasser wahrscheinlich der Portugiese Vasco de Lobeira um 1400 war, und der im 16. Jahrhundert aus Frankreich nach Deutschland kam, als die erste größere Erzählung, welche man „ romanisch “ nannte. Der musterhafte ritterliche Held dieses Romans, der eine ganze Reihe sog. Amadisromane hervorrief, ist nach einer abenteuerreichen Fahrt nach Schottland verschlagen worden; dort verliebte er sich in die Königstochter Oriana. Dieser breit ausgeführten Liebesgeschichte reiht sich noch die Geschichte des Sohnes der beiden und der Nachkommen an u. s. w. Erst nach diesem Romant nannte man jede abenteuerliche Rittererzählung einen Roman, z. B. das satirische Muster der Ritterromane: den um 1650 erschienenen Don Quixote von Cervantes). Einige leiten den Namen Roman von Gesta Romanorum (Thaten der Römer) her, einer alten Sammlung ursprünglich in lateinischer Sprache geschriebener Liebesgeschichten, die Ende des 15. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt wurde u. s. w. 2. ( Verbreitung der Romane. ) Heutzutage hat der Roman deshalb eine so weitgehende Bedeutung, weil er unserem Lesepublikum diejenige Gattung geworden ist, durch welche es mit allem, was die geistige Welt in Bewegung setzt, in lebendiger Verbindung sich erhalten sehen will; durch welche es über alle wichtigen Fragen, selbst über die Vorschriften des gesellschaftlichen Anstands und Verkehrs sich unterrichten zu können glaubt. Es sucht im Roman sich selbst mit seinen Gefühlen, Sorgen, Kämpfen, Freuden; es verlangt von ihm Raisonnements über Kunst, Politik, Religion, Sozialismus; es wünscht im Roman allen Gesellschafts- und Bildungskreisen zu begegnen u. s. w. Jn der That ist der Roman für manche Menschen das Medium und die Quelle ihrer Weiterbildung, ihrer Anschauungen, ihrer Stimmungen geworden, das Spiegelbild ihrer Liebe und ihres Hasses. Seit Freytags „Soll und Haben“ (1855) gehört es zum guten Ton, die bedeutendsten Romane gelesen zu haben. Ein neuer Roman Freytags, Spielhagens, Auerbachs, Ebers', Kellers ist seitdem dem Lesepublikum ein Ereignis. Das Romanlesen hat die ganze Gesellschaft ergriffen. Romane liest der Fürst und die Fürstin, der Kammerdiener und die Kammerjungfer, der Staatsmann und der Lieutenant, der Student und der Gymnasiast, die Pensionärin und die Matrone, der Kaufmann und das Höckerweib. Das Romanlesen ist nicht Modesache: nein, es ist Leidenschaft, Passion geworden, Bedürfnis für geistige Unterhaltung oder Ernährung. 3. Dadurch hat der Roman eine gewaltige Bedeutung für den Charakter und für die Kultur unserer Zeit erlangt. Die Engländer und Franzosen haben seine moralische Macht nie unterschätzt. Die schlechten Romane und das Lesen derselben sind geeignet ein Volk zu demoralisieren, es gesinnungslos, herzensmatt zu machen; und man hat daher nicht ganz mit Unrecht einen Zusammenhang der Niederlagen bei Austerlitz und Jena mit den weitverbreiteten sentimentalen Romanen jener Zeit erkennen wollen. Spanier, Engländer, Franzosen hatten um jene Zeit nicht so viele schlechte, sog. empfindsame Romane als wir Deutsche. Vielleicht ist ein Teil ihres eigenartigen häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens der Form, der Tendenz, dem Gehalt ihrer Romane zuzuschreiben. (Oder umgekehrt?) 4. Daraus geht hervor, daß, wie jeder Dichter, so besonders der Dichter von Romanen berufen ist, Bildner und Lehrer der Nation zu sein; er hat die Aufgabe sein Volk zu begeistern, zu veredeln. Sein Herz muß an allem, was Menschenbrust erhebt, sich erwärmen, die Schicksale und die Entwickelungsstadien seiner Nation müssen ihn begeistern, die Bedürfnisse seines Jahrhunderts müssen ihm klar vor der Seele stehen und ihn in seinem Schaffen leiten. Ohne in Tendenz und Lehre überzugehen, muß der Roman reflektieren, was der Dichter als Repräsentant des Jahrhunderts fühlt, ja, der gute Roman muß den vollen Jnhalt der Zeit auf anmutige Weise mit der Empfindung und dem Bewußtsein der Nation vermitteln: eine grandiose Forderung, durch deren Ausführung der Roman ─ Reales und Jdeales verschmelzend ─ ebenbürtig neben das Drama tritt, ja als Prosa-Epos für unsere Zeit dieselbe hohe Mission erreicht, welche das poetische Volksepos für eine frühere Epoche hatte. § 127. Verhältnis des Romans zum Epos. 1. Der Roman ist aus dem Epos hervorgegangen und später an seine Stelle getreten, obwohl er sich von dessen Anforderungen an Wohllaut und poetischen Rhythmus emanzipiert hat. 2. Er unterscheidet sich vom Epos in wesentlichen Stücken, vor allem durch seine Prosa-Form, durch seine Stoffe und seine Helden. 1. Der Roman, den man eine Zwitterart zwischen poetischer und prosaischer Darstellung nennen könnte (die Grenzgattung zwischen Poesie und Prosa), war ursprünglich weiter nichts, als das in Prosa aufgelöste Epos, die Analyse, Übersetzung, Nacherzählung, Umbildung des metrischen Epos: das Prosa-Epos (§ 142. XII ). Das Aufblühen des Romans fällt mit dem Niedergang des Epos zusammen. 2. Beweist nun auch der Ursprung des Romans dessen enge Verwandtschaft mit dem Epos, mit dem er mindestens Jnhalt und Zweck gemeinschaftlich hat, so unterschied er sich doch in der Folge von ihm: a . Durch seine für ihn passende Prosaform: für ihn passend, weil der Rhythmus alles in Gold verwandelt, im Roman aber auch taubes Gestein nötig ist und die kleinen und kleinsten Züge in der Physiognomie des Menschen nicht darum unentbehrlich sind, weil sie klein und unbedeutend sind, sondern weil unsere realistische Anschauung sie verlangt, und weil die volksmäßigen Helden des prosaischen Kulturepos des Romans den künstlerischen Rahmen des Heldenepos mit seinen auch in der Sprachweise vornehmen Helden nicht brauchen können, vielmehr die gewöhnliche Sprache des Lebens verlangen, dem sie angehören. (Nur ganz ausnahmsweise hat der Roman metrische Form. Vgl. Fr. v. Schacks Ebenbürtig, und Karl Becks makamenartigen Janko. I 593, Sprachprobe: I 596.) b . Durch seinen weniger wichtigen Gegenstand. Das Kulturgemälde des Epos hat es mit großen Volksinteressen, Völkerkampf &c. zu thun. Es rollt Weltschicksale auf, während der Roman Privatgeschichten mitteilt. c . Durch die mehr zufällige Wiedergabe des Geistes einer bestimmten Zeit und die dadurch bedingte geringere Bedeutung seines Helden. Der Dichter des Volksepos giebt dem Jahrhundert seinen Ab- und Ausdruck; er dichtet als Organ seines Volks aus dem Geiste des Jahrhunderts heraus; der Dichter des Romans malt zwar auch sein Jahrhundert, aber dieses reflektiert nur nebenbei aus der Beleuchtung seines der Phantasie entstammten oder geschichtlich zugestutzten Helden, der ─ wenn auch von ihm Weltbewegendes erzählt wird ─ doch nimmermehr das Überzeugende, Grandiose jener göttergleichen, sagenhaften oder geschichtlichen Helden des heroischen Epos haben kann. d . Durch den Ausschluß des Wunderbaren. Die Wunderthaten des Volksepos erhalten durch das Eingreifen der Götter (Göttermaschinerie) lebensvolle Wirklichkeit, während Wunderthaten moderner menschlicher Romanhelden höchstens die Bedeutung von Romantik, von Abenteuern &c. erlangen. e . Durch seine frei erfundenen Stoffe. Das Epos beansprucht einen in der Sage vorhandenen oder einen historischen Stoff. Nur die aus älteren Epopöen hervorgegangenen Romane, sowie einzelne ihrem Einfluß zuzuschreibende Originalromane früherer Zeit hatten sagenhaften Stoff. Der spätere Roman verließ das Stoffgebiet der Sage und des Wunderbaren und entlehnte seine Stoffe meist der Wirklichkeit und der Erfindung, welche sich an die Geschichte anlehnte, aus ihr schöpfte. Er nähert sich dem Epos, indem seine Personen und Begebenheiten die Lokalfärbung eines bestimmten Landes und einer gewissen Zeit an sich trugen (z. B. die der Kreuzzüge, des Faustrechts), oder indem die wesentlichen von der Phantasie erdachten Personen mit wirklichen geschichtlichen Personen verflochten wurden, wie dies in den halbhistorischen Romanen von Walter Scott und seiner Nachahmer der Fall ist. Je mehr der Roman stofflich den Lokalton seines Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, je mehr er in seinen Figuren das Leben eines Volkes oder einzelner Klassen einer bestimmten Zeit malt, je mehr er zum Zeit- und Kulturbild wird, desto näher stellt er sich dem Epos, desto mehr wird er im edlen Sinn das Prosa-Epos unserer Zeit genannt zu werden verdienen. § 128. Verhältnis des Romans zum Drama. 1. Der Roman ist wie das Drama ein Kunstwerk; wenn auch in der Regel kein metrisches. Jm Hinblick auf seine Disposition und seine poetischen Formgesetze, auf seinen künstlerischen Auf- und Ausbau, auf seine berechnete Motivierung, auf seine verständnisvolle Jneinanderfügung der Begebenheiten, auf Schürzung und Entwickelung des Knotens und anderes ist er dem Drama eng verwandt. (Vgl. § 130.) 2. Der Roman muß wie das Drama ein bestimmtes Maß in der Ausdehnung einhalten. 3. Einen Unterschied bedingt seine größere Ausbreitung der Scenerie und der Gedankenwelt. 1. Man hat vielfach die Kunst des Romanbaus unterschätzt. Jeder halbweg gebildete Schreiber glaubte einen Roman herstellen zu können. Ein Aktenstoff aus dem Staatsanwalts-Archiv, eine Lebensbeschreibung ─ und der Roman in möglichst breiter Ausführung war fertig. Geistvolle Schreiber brachten ein Gewirr von Causerie zusammen, daß man sich bis zur Erhitzung abmühen mußte, durch ihr Geistreichthun hindurch zu gelangen. Und doch muß der gute Roman ebenso kunstvoll angelegt und aufgebaut sein, als das Drama; doch muß er dieselbe lichtvolle Gruppierung, dieselbe Disposition haben. Dieser Umstand müßte von vornherein der Willkür, der Maßlosigkeit, ─ der Verwilderung vorbeugen. Er sollte dem planlosen Darauflosschreiben entgegen treten, den Mißbrauch der Episoden beseitigen, die ellenlangen Beschreibungen einengen, den übergelehrten Kram unmöglich machen, den symmetrischen Verlauf garantieren, und ─ indem die Weitschweifigkeit der knappen Form des Kunstwerks aufgeopfert wird, ─ vor langatmigen, vielbändigen Romanvermächtnissen schützen. 2. Ein guter Roman sollte (wie ein gutes Drama) nur ausnahmsweise die Grenzen eines Bandes überschreiten. Skudery in Clälie giebt uns 10 Bände zu je 600 Seiten; Richardson in Clarissa bietet 4634 Seiten! Und er erzählt doch nur von Entführung, Entehrung und Tod der Clarissa. Manzonis Erzählung: Die Verlobten widmet dem Pater und der Edelnonne, welche beide für den Ausgang des Konflikts nur von episodischer Bedeutung sind, eine sogar die gleichgültige Vergangenheit dieser Personen in Betracht ziehende unnötige Breite. L. Sterne verweilt bei Nebensächlichem in seinem neunbändigen Tristram Shandy. Ebenso Waldau in Nach der Natur, wo man den 2. Band weglassen kann, ohne irgend eine Lücke zu empfinden. Luise Mühlbach versündigt sich am Alten Fritz in einem zehn Bände umfassenden Roman. Von den langatmigen Schilderungen, den endlosen Zwiegesprächen über Politik, Religion und Gesellschaft, die man uns meist für Romane ausgiebt, gehören die einen zu Theophrast und La Bruyère , die anderen zur Leitartikel-Litteratur. Anstatt durch die Größe der Jdee und deren Wahrheit zu fesseln (§ 130), anstatt zu unterhalten und die Phantasie angenehm zu beschäftigen, glaubt so mancher Romanschreiber durch Fabulieren zu wirken, und er artet daher durch seine Stickerei in Übertreibungen aus, die jede Ähnlichkeit mit dem Drama verwischen. 3. Eine berechtigte Verschiedenheit des Romans von dem Drama mit seinem eigenartigen Abschluß durch die That liegt darin, daß der Romandichter durch ruhigen, episch fließenden Fortgang seiner Erzählung beschaulichen Einblick in den Gang und die Entwickelung der nach allen Seiten hin beleuchteten Begebenheiten gewähren muß, daß er durch die epische Schilderung den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit besser, anschaulicher zu genügen hat, als der Dramatiker, daß er bis in's Detail die Scene auszumalen gezwungen ist, welche im Drama durch Coulissen und Gardinen repräsentiert wird u. s. w. § 129. Stoff des Romans. 1. Der Stoff des Romans muß im Erlebnis, in der Wirklichkeit wurzeln. 2. Er muß die Herausschälung einer ethischen Pointe ermöglichen. 3. Die mündliche Tradition ist als Stoff nur bedingungsweise zulässig, sofern sie nämlich durch Jdealisieren &c. den Schein der Wirklichkeit erhalten kann. 1. Um mit den Anschauungen und Bedürfnissen der Zeit möglichst im Einklang zu bleiben, um das große Gebiet menschlichen Seins und Strebens zu umschließen, muß der Stoff des Romans dem Leben der Wirklichkeit entlehnt sein. Der Romanschriftsteller muß hinausziehen auf die Höhen des wirklichen Lebens, die einen Weltblick in den Reichtum menschlichen Waltens gewähren, wie es Gutzkow, Spielhagen, Ebers, Freytag, Keller u. a. thaten; auf diesen Höhen entspringen ihm die dichterischen Quellen des Reichtums lebensvoller Erfindung. Privatleben, Familie, Stand, Staat, Volksleben, Kulturwelt, Verkehr, Religion, Liebe, Arbeit, Politik, Kunst: ─ dies alles wird sich unter den Händen des fähigen Dichters in gesunden Romanstoff umwandeln lassen. „Jedes Menschenherz“ ─ sagt Erwin Schlieben in seiner Preisschrift ─ „aus dem Gott noch nicht herausreflektiert ist, jeder Herd, dessen Feuer noch glückliche Menschen bestrahlt, jede Werkstatt, in der noch redliche Arbeit zusammenkommt, jeder Kampfplatz, auf dem noch wertvolles Leben eingesetzt wird, ist wertvolles Gut, ist eine Stoffquelle, ein Heiligtum der Poesie, von welchem erwärmende Strahlen in das Prosaische und Profane hinausleuchten.“ 2. Von diesem Standpunkte aus, nach welchem der Roman das wirkliche Leben wiederspiegeln muß, ließe sich eigentlich jeder Stoff verteidigen. Aber es sollten doch nur Stoffe gewählt werden, die für Herauskehrung eines ethischen Grundgedankens verwertbar sind, wie es z. B. Leithner in „Denn jede Schuld rächt sich auf Erden“ oder Kurtz im Sonnenwirt that, dessen verworfenen Helden er durch Jdealisierung in tragische Beleuchtung stellt. Oder wie es Auerbach im Landhaus am Rhein und noch mehr im Landolin von Reutershofen thut, dessen Held wegen eines Mordes freigesprochen wird, aber erst durch reuevolles Leben und durch seinen Tod der verletzten Gerechtigkeit Sühne giebt. Oder wie wir es bei dem Vertreter des Seeromans Rosenthal-Bonin in Das Gold des Orion (1882), besonders aber im Diamantschleifer finden, in welchem das unverschuldete Unglück des Helden durch den dramatisch wirkenden Eintritt der poetischen Gerechtigkeit (Wiederfinden der Mutter, Freisprechung, Liebe) anschaulich genug gemalt ist. Kriminalfälle und Ehestandsverbrechen (wie die ersteren von Temme, die letzteren durch den maßvolleren Engländer Richardson (1761) bei uns eingeführt und von Wezel, Laroche u. a. eingebürgert wurden) können unserem ethischen Jdeal nicht gerecht werden. Ebensowenig Stoffe, die den Schelmen= und Räuberkreisen entlehnt sind. Am allerwenigsten die trüben Stoffquellen gewisser sensationeller Kolportageromane, z. B. Eugenie; Strousberg; Amerikanisches Duell; oder Stoffe wie diese: Krakauer Klostergeheimnisse (Berthold); Barbara Ubryk (Born); Schandthaten (Clarkson); Die Mörder aus Wollust (Dauer); Jungfernblut; Nonne und Maitresse (Haffner); Der große Krach; Maitressenwirtschaft (Th. Griesinger); Wollust und Verbrechen auf dem Thron (Reynolds); Die Banditen des Salons, oder der Roman einer Kunstreiterin (Bernhardi) &c. 3. Die mündliche Überlieferung kann nur insoweit zur Stoffquelle werden, als der Dichter durch künstliches Jdealisieren und Motivieren (§. 134) einem Stoffe den Charakter des Erlebnisses und der Wirklichkeit zu verleihen vermag, wie es z. B. Gutzkow in seinem satirischen Roman Blasedow und seine Söhne und in Die Söhne Pestalozzis that. Dies gilt auch für die geschichtlichen Stoffe. (Vgl. z. B. Karl van der Velde: Die Eroberung von Mexiko; Robianos Anna Boleyn; A. Schraders Radetzky; Baudissins Philippine Welser &c.) § 130. Jdee des Romans. 1. Der Stoff in seiner rohen Form giebt keinen Roman, welcher die Bezeichnung eines Kunstwerks verdiente. Der gute Roman entsteht erst durch planvolle Ausbreitung einer nach bestimmtem Ziel hinleitenden Jdee, durch Verkörperung eines Geistigen in sinnlich anschaulichem Gewande. 2. Eine Jdee ist bedeutend, wenn sie den Blick über die Erbärmlichkeit der Wirklichkeit hinweg in das Gebiet des Großen, Sittlichen, Menschheitveredelnden, Erhabenen zu lenken vermag. 3. Eine bedeutende Jdee muß für alle Zeiten gültig bleiben. Darin beruht ihre kulturhistorische Mission. 4. Die Jdee tritt vor allem durch den Helden in sichtbare Erscheinung. 5. Die Jdee muß schließlich durch den Sieg des Guten ihre Symbolisierung erhalten. 1. Wie beim Drama breitet der Dichter auch im Roman diejenige Jdee aus, auf welche mehr oder weniger ein Stoff, ein Ausspruch, eine Erwägung, eine Wahrnehmung hinleitet. So nahm Spielhagen die Jdee zu seinen Problematischen Naturen aus einer bekannten Sentenz Goethes; Gutzkow zu seinem Zauberer von Rom aus der Erwägung von der Lebenskraft des Katholizismus; Freytag zu seinem Soll und Haben aus der Erkenntnis vom Glück des Volks in der Arbeit; Änni Albert zu Harte Gesetze aus der Jnkonsequenz in der bürgerlichen Gesetzgebung; Wilhelmine v. Hillern zu Ein Arzt der Seele aus der Anschauung von der Aufgabe der Frau &c. Viele Romane sind weiter nichts, als lose verbundene Abenteuer eines Helden ohne leitende Jdee. (Man vgl. den bekannten Gil Blas von Lesage, oder den noch bekannteren Simplicissimus von Grimmelshausen.) Gutzkow bietet in den Rittern vom Geiste zwar keine losen Abenteuer, aber drei neben einander herlaufende Jdeen. Dies schadet der Geschlossenheit und Übersichtlichkeit des Romans und dehnt ihn unnötigerweise aus. Richardson war der erste, der einen Helden mit nur einer bestimmten Jdee einführte. Die ursprünglich abstrakte Jdee wird im Lauf des Romans in eine reale verwandelt (z. B. die abstrakte Jdee des Gottesbewußtseins in die reale des religiösen Bedürfnisses u. s. w.). 2. Die reale Jdee muß in das Reich des Schönen, Guten, Wahren einführen. Dadurch wird sie bedeutungsvoll. Bedeutend ist beispielsweise die Jdee der allgemeinen Bildung (z. B. in Goethes Wilhelm Meister), ferner die Jdee der Sittlichkeit (Spittas Reine Herzen), der materiellen Arbeit (Freytags Soll und Haben; Schwartz' Arbeit adelt den Mann); der geistigen Arbeit (Freytags Die verlorene Handschrift); der Ausbildung des Charakters (Dincklages Tolle Geschichten, und Reuters Ut mine Stromtid); des Volkswohls (Spielhagens Jn Reih und Glied); der Humanität (Auerbachs Landhaus am Rhein); der Religion des Geistes (Heyses Kinder der Welt); des Katholizismus (Gutzkows Zauberer von Rom); der Heiligkeit der Ehe (Auerbachs Auf der Höhe); der Macht der Liebe (Brachvogels Falstaff); der Begeisterung für Selbstbefreiung der Frau von Eitelkeit, Trägheit und Seelenschwelgerei (L. v. Fran= ç ois Die letzte Reckenburgerin) &c. Alle Romane, denen die bedeutende Jdee fehlt, sind in ihrer Grundbedingung verfehlt. Sofern z. B. der humoristische Roman eine bedeutende Jdee vermissen läßt, erscheint der Autor lediglich als Spaßmacher, Witzbold, aber nicht als planvoller Humorist. Beim guten Roman muß der Leser die Jdee erkennen, er muß sich aus der Ausbreitung derselben das Facit ziehen können, wie es z. B. in Gottw. Müllers Siegfried von Lindenberg recht wohl möglich ist, wo ein halbgebildeter Schulmeister der Jgnoranz seines ignoranten Landedelmanns gegenüber wie ein großer Gelehrter erscheint und so die Vortrefflichkeit und Wichtigkeit der Jdee der Bildung symbolisiert. 3. Die bedeutende Jdee wird immerfort ihre Gültigkeit behalten; sie wird in jedem Jahrhundert die Berechtigung des Verlangens zeigen, den Genius der Zeit in einer bleibenden Wahrheit zu erfassen und wiederzuspiegeln, weshalb z. B. dasjenige Historische, das keinen Nerv unserer Zeit zu erregen vermag, ebensowenig zu ihrem Träger werden kann, als das bloße Parteigetriebe. Letzteres giebt einer vorübergehenden Jdee Ausdruck, z. B. derjenigen, welche die Gesetzgebung umstürzen will, wie es Heinse in seinem sonst gut geschriebenen „Ardinghello“ thut, wo er Güter- und Weibergemeinschaft vorführt; oder welche (vgl. Schlegels bekannte Lucinde) der schrankenlosen Sinnlichkeit das Wort redet, also einer Anschauung huldigt, die niemals als allgemein wahr anerkannt werden wird. Die bedeutende Jdee des modernen Romans muß auch ein kulturhistorisches Ziel haben. Dies ist beispielsweise bei der Jdee der Liebe der Fall, die alle Seiten des Menschenlebens umfaßt, die ihre Stätte im Palast, wie in der Hütte, bei allen Ständen und Bildungsgraden hat, und die uns imponiert, weil wir hier das Rein- und Edelmenschlich-Jdeale symbolisch im edlen Weibe anschauen. Dies ist auch bei der Jdee der Bildung der Fall, da die Bildung den Wunderbau der modernen Kultur ausführt. Dies ist ferner bei allen religiösen, philosophischen Jdeen der Fall. 4. Der Träger der Jdee ist der Held (§ 132). So ist Georg Hartwig in Spielhagens Hammer und Ambos der Träger der Jdee der materiellen Arbeit; der Professor in Freytags Verlorene Handschrift Träger der Jdee der geistigen Arbeit; Erich im Landhaus am Rhein Träger der Jdee des Humanismus u. s. w. Jm sogenannten Entwickelungsroman, der in streng stufenweiser Folge das Keimen und Erwachen der Jdee bis zum Kampf um dieselbe und bis zu ihrem endlichen Sieg darstellt, wird die Jdee dem Helden zum Jdeal. Leo Gutmann (in Reih und Glied ) ersehnt schon als Kind das Wohl seiner Nebenmenschen und entschließt sich deshalb, als Missionär zu den Wilden zu gehen. ─ Anton Wohlfahrt (in Soll und Haben ) schwärmt bereits als Knabe für die weltumschließenden Erfolge eines großen Kaufmanns und läßt schon im Keime die Jdee erkennen, die später sein Jdeal wird. 5. Die Jdee muß sich lediglich in ihrer Ausbreitung und in ihrem Sieg als bedeutend erweisen, nicht aber darf der Dichter die Jdee als bedeutend dadurch hinstellen, daß er sie als die allein gültige und richtige rühmt, wenn sein Kunstwerk nicht den Charakter des Prätentiösen, spezifisch Tendentiösen erhalten soll. Jn dieser Beziehung fehlt Sacher-Masoch in Die Jdeale unserer Zeit, indem er schwächliche Figuren als Repräsentanten unseres modernen Deutschland hinstellt; ebenso Laicus, der alle Freimaurer bekämpft, ohne nur einen einzigen derselben zu kennen u. s. w. Der objektive Spielhagen fehlt nicht. Seine Romane scheinen gegen verschiedene Typen der Gesellschaft gerichtet zu sein, und sie werden doch zuletzt allen gerecht. Eine bedeutende Jdee wird immer Freunde und Gegner haben müssen. Es ist dies ja erklärlich. Darum ist aber auch der endliche Sieg der Jdee von Bedeutung. Erst bei vollendetem Triumph derselben ist es dem Dichter möglich, das Ende des Romans zu einer Symbolisierung der Jdee zu gestalten. (Vgl. Auerbachs Landhaus am Rhein, wo die Jdee der Humanität einen glänzenden Ausdruck im Kriege der amerikanischen Nordstaaten gegen den Süden als den Verteidiger der Sklaverei findet.) Diese Symbolisierung der Jdee ist eine der bedeutendsten Aufgaben des Romans, der auf den Gebieten des Geistes seine Schlachten schlägt. § 131. Bau des Romans. Der künstlerisch aufgebaute Roman hat mit dem Drama gleiche Teile. Somit unterscheiden wir im Bau des Romans: Exposition, Versetzung in die Sache, Aneinanderstoßen der Begebenheiten, erregendes Moment, Bewegung, steigerndes Moment, Mitte, Höhepunkt, Schürzung des Knotens (Verwickelung), Konflikt, entscheidendes Moment, fallende Handlung, letzte Spannung, Katastrophe, Schluß. Wo dieser Gang nicht beachtet ist, wo die Steigerung zur Mitte und der Abfall zum Schluß fehlt &c., ─ ist der Roman kein Kunstwerk. Es ist das Ganze vielleicht eine Mitteilung der Lebensreise des Helden, eine Beschreibung und Schilderung seiner Erlebnisse, eine langatmige Erzählung, aber es ist keine künstlerische That. Nicht in der labyrinthisch fortgesponnenen, verwickelten Handlung besteht die Kunst des Romans, sondern im künstlerisch angeordneten Verlauf, im organischen Wachstum, in der ursachlichen Verbindung seiner symmetrisch aufgeführten Teile. Mit Recht sagt Mähly (Der Roman des 19. Jahrhunderts S. 8), daß die Strenge der Form das einzige Mittel sei, dem Roman zur Ebenbürtigkeit mit den übrigen Produkten der Phantasie zu verhelfen. An diesem Fels müsse der bloße Dilettant, der handwerksmäßige Pfuscher Schiffbruch leiden. § 132. Der Held des Romans. 1. Jeder Roman muß (wie das Drama) eine Hauptperson haben, auf welche sich, wie auf ein Centrum, alle Ereignisse mittelbar oder unmittelbar beziehen, ja, um die sich die übrigen Charaktere des Romans (vgl. § 133) gruppieren. Dieser Held ist nicht starr, feststehend, stereotyp, wie der Held im Drama, sondern er ist bildsam, entwickelungsfähig, er ist wie alle übrigen Charaktere des Romans im Werden begriffen. 2. Der Held muß eine imponierende, großer Thaten fähige Figur sein. 3. Er muß Eigenschaften besitzen, welche ihn unseres Jnteresses wert erscheinen lassen. 4. Er darf keine erbärmliche Rolle spielen, auch dann nicht, wenn er der vom Schicksal geschaukelte passive Held ist. 5. Die Schilderung des Helden, die nicht mit seiner Geburt zu beginnen braucht, muß naturgemäß, lückenlos fortschreiten. 6. Die Liebe ist im Entwickelungsgang des Helden meist ein wichtiges Moment; am wichtigsten ist sie im Liebesroman. 1. Am besten eignen sich zum Helden des Romans kräftige, zu großen Unternehmungen fähige Personen, Menschen, die (nach W. v. Humboldt) mit allem, was nur überall das Menschlichste und Natürlichste ist, in vollkommenstem Einklang stehen, nicht aber krankhafte, wunderliche Naturen, die wir vergeblich im Kreise der Mitlebenden suchen, wie uns Wilbrandt in seiner ausgebreiteten Novelle „Fridolins heimliche Ehe“ den Helden Severin vorführt, der sich von der Geliebten mißhandeln läßt. 2. Der Held muß die Fertigkeit behalten, seine Leidenschaft und seine Kraft heldenhaft bethätigen zu können, damit er ─ der verachtete Romanheld ─ nicht allzusehr vom geachteteren Helden des Drama, wie vom Helden der Geschichte unserer Tage absticht. Sein Kampf gegen Lüge, Heuchelei, Vorurteil, wie gegen sich selbst muß etwas Jmponierendes haben. Wenn ihm auch hie und da der Wille zum Kampf fehlen mag, so darf ihm doch das Können nicht mangeln. Vorbildliche Helden sind in dieser Beziehung Freytags Anton und Spielhagens Georg. Man merkt bei ihnen nichts von jenem beliebten sprühenden Geistreichthun, womit neuere Romanschriftsteller ihre Helden zu wahren Halbgöttern künstlich herausputzen. Wie frisch aus dem Leben greift Freytag seinen Anton heraus. Die Aufläder haben ihn gern, er wird Karls und des ganzen Komptoirs Liebling; selbst die adeligen Rou é s erklären ihn für einen verdammt guten Jungen. Jn der Tanzstunde fliegen ihm der Mädchen Herzen entgegen; auch die stolze Leonore ist gegen ihn nicht spröde. Sabine und die Tante lieben ihn ─ und wir lieben ihn auch. ─ ─ 3. Seinem inneren Gehalte und Charakter nach paßt für den Helden weder ein menschenunwürdiger, noch ein blasierter unsittlicher Charakter, wenn es der Dichter nicht eben beabsichtigt, diesen mit Eigenschaften auszustatten, durch welche er unserem menschlichen Mitempfinden näher gerückt wird. So erhebt Richardson den Verführer Clarissas zum geistreichen, energisch handelnden Mann von großer Noblesse; so stattet Auerbach den finsteren Sonnenkamp (im Landhaus am Rhein) mit Liebe zu seinen Kindern aus, sowie mit weltmännischem Takt, mit Mut &c. 4. Jn manchen Fällen muß der Held, ─ wenn er nicht mit den allgemein anerkannten Welt- und Sittengesetzen in Widerspruch treten will ─ passiv erscheinen und sich von fremden Einwirkungen, über die er trotz aller moralischen Kraft nicht gebieten kann, oft längere Zeit forttreiben lassen. Dann ist er der unselbständige, zu verarbeitende Mittelpunkt und kann nur im ironischen Sinne Held genannt werden. Jm Leben üben ja die Verhältnisse und das sog. Schicksal eine zwingende Macht, warum nicht im Roman, der doch die poetische Zeichnung des Lebens ist? 5. Bei der Schilderung des Helden liefern sehr viele Romanschriftsteller bloße Lebensbeschreibungen, welche (nach Jean Paul) ohne Einheit und Notwendigkeit der Natur und ohne die romantische, epische Freiheit, gleichwohl von jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt= und Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten solange vor sich hertreiben, als Papier da liegt. Diese Lebensbeschreibungen beginnen meist schon mit der Geburt. Der Leser will aber den Helden nicht in den Windeln sehen, sondern er will ihn schon einige Fuß hoch haben; er wird dann gern zugeben, daß einige durch den Helden erst bedeutend gemachte Reliquien aus der Kinderstube nachgeholt werden. Aufgabe des Dichters ist es, in den Entwickelungsstadien des Helden keine Sprünge zu machen und den Zufall, das Abenteuer nicht in dem großen Maßstab spielen zu lassen, als es z. B. Cervantes thut. Auch ist die Einführung des Schicksals (dieses „tragischen Gesetzes des Universums“, wie es Vischer nennt) heutzutage nicht mehr nötig. Man liebt in unserer realen Zeit natürlichen Verlauf und einen die Gesetze der Menschlichkeit beachtenden Abschluß. Die romantischen Romane (z. B. Spiridion, von George Sand, wo der Geist des Abtes fortgesetzt spukt) würden wegen ihrer sprungartigen, lächerlichen Unwahrscheinlichkeit bei uns kein Lesepublikum mehr finden. Unter allen Romanschriftstellern haben Goethe, Freytag, Spielhagen, Luise von Fran ç ois, Reuter, Gottfr. Keller die lückenloseste Entwickelung bewiesen. So zeigt Goethe in Wilhelm Meister, wie der Held schon frühzeitig von großen Gedanken bewegt ist, wie er sich von der Schauspielkunst angezogen fühlt, wie er alle Stadien der Enttäuschung durchmacht, um endlich durch Shakespeares Dichtungen zum Enthusiasmus entflammt zu werden. Das ist lückenlose Entfaltung! Ähnlich schildert Luise von Fran ç ois in Die letzte Reckenburgerin die Entwickelung eines jungen Mädchens. (Vgl. als Beleg für lückenlosen Fortschritt auch Spielhagens Jn Reih und Glied, Freytags Soll und Haben, Kellers Der grüne Heinrich u. s. w.) 6. Jm Entwickelungsgang des Romanhelden bildet die Liebe meist nur ein bedeutungsreiches Stadium. Auf dasselbe folgt die Zeit des Ringens für die Jdee; das Jdeal selbst ist dem Helden unerreichbar (Beispiel: Wilhelm Meister, der für die Erhebung der Menschheit erglüht ist, aber dann doch nur einfacher Landwirt wird). Jm Liebesroman bildet die Liebe den ganzen Jnhalt. Der Held, welcher für seine individuelle Liebesidee eintritt, erreicht endlich was er will: Die Geliebte. Mag seine Wanderung noch so viele Krümmungen machen, so ist sie doch die Reise zur Hochzeit (Beispiel: Dincklages Tolle Geschichten, wo Moritz doch seine Lolo erhält &c.). Jm Liebesroman hängt das Jnteresse nur am endlichen Besitz. Jm kulturhistorischen, im Zeitromane würde die Liebesbesitz= Beschränkung des für eine allgemeine, ewig wahre, bedeutende Jdee kämpfenden Helden nur das Jnteresse für die allgemeine Jdee abschwächen. Ebenso im sog. Umwandlungsromane! Dem in blinder Leidenschaft kämpfenden Helden öffnen hier die Schicksalsschläge allmählich die Augen und zwingen ihn zur Umschau und zur Umwandlung. Das Ende ist eben diese Wandlung, oder der Tod (Untergang). Die Liebe führt nur in einzelnen Fällen den Entschluß der Umwandlung herbei. (Jn Ut mine Stromtid zerfällt der junge Herr von Rambow mit der ganzen Welt, um endlich umzukehren; im neuen Falstaff von Brachvogel wendet sich ein genialer, in verkehrte Bahnen gelenkter Maler plötzlich zum Bessern; im Sonnenwirt von Kurtz, in Auf der Höhe von Auerbach tritt die Umwandlung dadurch ein, daß die Heldin zur Büßerin wird u. s. w.) § 133. Die übrigen Charaktere des Romans. 1. Die Personen, welche sich um den Helden gruppieren, nennt man die epischen Charaktere des Romans. 2. Diese brauchen nicht niedriger zu stehen, als der Held; doch beruht ihre Bedeutung in der handelnden Hauptfigur, indem sie im Verein mit ihr wirken, oder ihr entgegenstreben. 3. Der Held des Romans ist vom Dichter früher zu bilden, als die Charaktere. 1. Die Zahl der epischen Charaktere ist bei den verschiedenen Dichtern verschieden. Sie richtet sich nach der Ausbreitung der Handlung, nach der Bedeutung des Helden, nach dem Bedürfnis zu Episoden u. s. w. Manche Dichter sind in der Bildung epischer Charaktere sehr schablonenhaft und wählen in ihren Romanen immer wieder die gleichen Typen. Wolfgang Menzel reduziert die große Anzahl Jean Paul scher epischer Charaktere auf folgende sechs stereotyp wiederkehrende Figuren: 1. Der hohe Mensch; 2. ein diesem entsprechendes Mädchen; 3. ein capriziöser Freund des hohen Menschen; 4. ein schwindsüchtiges Mädchen; 5. ein ditto Jüngling, und endlich 6. ein cynischer Arzt. Nach Keiter hat Bolanden 5 Klassen von Figuren: ritterliche Jünglinge, minnigliche Jungfrauen, biedere Väter (seltsamerweise sämtlich Witwer), tapfere Verteidiger des Glaubens und deren nichtswürdige Gegner. Die Lieblingsfiguren der E. Marlitt (Eugenie John) sind schurkenhafte Aristokraten, ein beschränkter Fürst und frömmelnde Heuchler. Dazu kommt (nach Rob. König, Litt.=Gesch. S. 633) die an Aschenbrödel erinnernde Heldin, nach der englischen Jane= Eyre modernisiert und germanisiert, die sehr edel, tugendhaft und stolz den Sieg über die Jntriguen ihrer schändlichen Gegner davon trägt; endlich der ideale Mann, wie ihn Frauen so gerne zeichnen, den die Heldin zu ihren Füßen zwingt u. s. w. 2. Da die Bedeutung des Romans in der Hauptperson gipfelt und die Nebenpersonen diese lediglich zu unterstützen oder zu bekämpfen haben, so ist es jedenfalls unnötig, die Nebenpersonen auf Kosten der übrigen herunterzusetzen, wie z. B. in Sacher Masochs sonst gutgeschriebenem tendentiösen Romane Die Jdeale unserer Zeit alle Nationalliberalen und Patrioten ─ Erbärmliche sind. 3. Auf die Frage, ob der Romandichter zuerst den Helden oder die Charaktere oder die Geschichte zu bilden habe, ist zu antworten, daß zuerst der Charakter des Helden zu schaffen sein dürfte, da dieser den Geist des Romans zu verkörpern hat, gewissermaßen also die Seele der Geschichte ist. Durch den Helden ist die Geschichte bedingt und gegeben; mit dieser erstehen erst die epischen Charaktere. § 134. Das Jdealisieren im Roman. 1. Um den Charakteren des Romans Entschiedenheit zu verleihen, muß das von ihnen Darzustellende, ─ Tugend wie Laster, ─ in erhöhtem Maße gezeichnet werden. Man nennt dies ─ wie im Drama ─ Jdealisieren. (Vgl. § 27 d. Bds., der auch für den Roman gewisse Anwendung findet.) 2. Die durch Jdealisierung bedingten sog. Übertreibungen setzen beim Leser die Befähigung voraus, zwischen Jdeal und Wirklichkeit zu unterscheiden, ohne welche sittliche, ja auch praktische Nachteile fürs Leben leicht eintreten können. 1. Wie im Drama, so müssen auch im Roman die Charaktere idealer aufgefaßt und gezeichnet werden, als man ihnen im gewöhnlichen Leben täglich begegnet, denn der Roman soll die poetische Zeichnung des wirklichen Lebens sein. Die Jdealisierung verlangt ferner, daß die durch die Charaktere repräsentierte Handlung im Romane eine gedrängtere, raschere Folge habe, als dies im gewöhnlichen Leben der Fall ist. Diese Jdealisierung verstärkt die Charakteristik. Jn den geschichtlichen Romanen ist dem Dichter die Charakteristik durch die geschichtliche Überlieferung erleichtert, während in den erfundenen Romanen die berechnetste Jdealisierung zu Hülfe kommen muß, um die Personen in ihren Worten und Handlungen entsprechend zu charakterisieren. Jede Jdealisierung muß in einer Weise geschehen, die nicht gegen die Wahrscheinlichkeitsgesetze verstößt. Eine Übertreibung in der Jdealisierung zwingt zur Ansicht, daß ein solcher Charakter eine Unmöglichkeit sei. (Vgl. Gerstäckers Mississippibilder.) Ein guter Roman darf in seiner Jdealisierung auch nicht gegen die Gesetze der Ästhetik oder gegen die der Moral verstoßen. (Die betrunkene Grete Lobkins in Paul Clifford von Bulwer z. B. ist mit ihren Gemeinheiten und schlechten Bildern, keine eines Kunstwerks würdige Figur.) Demnach muß die Jdealisierung im Roman, (wie im Drama, vgl. S. 38. 1. d. Bds.) dem Schönen, Guten und Wahren entsprechen. 2. Mancher Roman wirkt infolge seiner Jdealisierung erhitzend auf die Phantasie. Er schafft übermächtige, unerreichbare Hoffnungen und malt Situationen, die nie im Leben, oder nur sehr ausnahmsweise vorkommen. Dadurch begründet er aber falsche Lebensansichten, verschrobene Anschauungen und phantastisch überspannte Begriffe, und verleiht nicht selten dem Phantasieleben eine Herrschaft, die für die harmonische Geistesentwickelung störend wirken kann. Wie häufig finden sich schwärmerische Naturen getäuscht, die das im Roman entwickelte Sein zum Maßstab des wirklichen Lebens nehmen und z. B. ein romanhaftes Traum- und Liebesleben erhoffen, wie es die Wirklichkeit nimmermehr zu bieten vermag. Hierbei sei daran erinnert, wie Schlechtigkeit, Roheit und Gemeinheit in so vielen zweifelhaften, nach ihren Stoffquellen im § 129, 2 S. 353 erwähnten Romanen mit bestechenden, und doch das Herz vergiftenden Farben gemalt werden u. s. w. § 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans. Charakteristisch in der Technik des Romans ist der Gang der Handlung, die Episode und die Schürzung des Knotens. ( Gang der Handlung. ) Durch die feinste psychologische Motivierung und die planvollste fast mikroskopische Ausführung der Begebenheit darf der Romandichter den Nachweis liefern, wie eine höhere Hand in die Schicksale des Helden und der übrigen Charaktere eingreift, wie das Verdienst und das Gute belohnt, das Verbrechen und das Menschenunwürdige bestraft wird. Man nennt diese Belohnung oder Bestrafung die poetische Gerechtigkeit. Die Handlung des Romans läßt diese poetische Gerechtigkeit rascher eintreten, als dies im wirklichen Leben der Fall wäre. Jn ihrer Entwickelung legt die Handlung den Charakteren keine Beschränkung des Wirkungskreises auf. Dies wäre sogar ein Fehler. (Ein Künstlerroman, der sich lediglich auf Künstler beschränken würde, müßte den Gegensatz des unkünstlerischen Lebens vermissen lassen und dadurch einseitig werden u. s. w.) Daraus folgt, daß die Handlung Raisonnement und Reflexion bieten darf, indem sie interessante Gegenstände des höheren geistigen und geselligen Lebens in ihren Kreis zieht &c. ( Episoden. ) Die Episoden, welche im Epos mit seiner großartigen, gewaltigen welterschütternden Handlung eine sehr bevorzugte Stelle haben, sind im Roman nicht unbedingt zulässig. Sie sind verwerflich, wo sie abschwächen, wo sie Nebensächliches, gänzlich Wertloses für die Charakteristik des Helden herbeiziehen, wo sie unnötigerweise den Gang der Handlung aufhalten. Sie sind zulässig, wo sie Aufschluß über die Vergangenheit des Helden bieten oder frühere Begebenheiten zur besseren Klarlegung der Haupthandlung nachholen (vgl. Walter Scotts Das schöne Mädchen von Perth, wo man die Episoden ihrer geschickten Verwendung wegen nicht missen möchte). Sie sind aber wesentlich, charakteristisch im philosophischen Roman, wo sie zur Ausbreitung der Jdee, zur Ausschmückung der Situation und zur psychologischen Motivierung einen wichtigen Beitrag liefern. Doch müssen sie in enger Beziehung zur Haupthandlung bleiben und stets zu ihr zurückleiten, wie es z. B. in mustergültiger Weise Lev. Schücking in Schloß Dornegge (in der Liebesepisode Ludwigs und Helenes) thut. ( Schürzung des Knotens. ) Jede Entwickelung muß in gewissem Sinn zur neuen Verwickelung führen, jede Gegenwart muß Keime der Zukunft enthalten. Der Roman erfaßt am besten in seinem Beginne eine bestimmte Begebenheit, die es ihm möglich macht, nach der Zukunft hin weiter gehen zu können, um zugleich Licht über die Vergangenheit zu verbreiten. Durch das Fortschreiten der Handlung entstehen die Verwickelungen, die in enger Beziehung bleiben müssen, um zweckmäßig zu erscheinen und zu spannen. Diese Verwickelungen steigern sich bis zu einer gewissen Lösung, die aber nicht sofort eintritt. Der Dichter bricht plötzlich ab, um an einer andern Stelle anzuknüpfen, so daß er wie ein Feldherr erscheint, der bald bei diesem, bald bei jenem Truppenteil sich aufhält, bald diesen, bald jenen fördernd, bis er sie sämtlich genügend vorgeschoben hat, um sie nun für eine unerwartete Totalwirkung zu vereinigen. Nicht selten führt im Roman die Liebe eine Verwickelung herbei. Alle Hemmnisse bekämpft sie für Erreichung ihres Ziels, nämlich des gegenseitigen Besitzes. Jedoch nicht immer besiegt die Liebe alle Hindernisse; Unglück und Zufall spielen öfters eine wesentliche Rolle; aber Wunder dürfen im Roman nie vorkommen. Alles muß den Schein des Naturgemäßen und der Wahrheit für sich haben. Ein Hauptmittel der Verwickelung bildet das Wiedererkennen ( ἀναγνώρισις ); ein Mittel das z. B. im Epos „Rostem und Suhrab“, im alten Hildebrandlied (vgl. B. I . S. 43) wie neuerdings von Rosenthal-Bonin in seinem Diamantschleifer mit Erfolg angewandt ist, und das man mit Vorliebe im antiken Drama benutzte (vgl. S. 38 d. Bds.), weil man dort bekanntlich die Liebe als leitende Jdee nicht zu verwerten verstand. § 136. Stilgesetze des Romans. Der gute Roman verlangt: 1. logische Anordnung, 2. Objectivität, 3. Einfachheit und 4. interessante Darstellung (Spannung). 1. Logische Anordnung. Die logische Anordnung erfordert strenge Beachtung der Wesens- und Formgesetze des Romans (§ 131 d. B.), sowie eine fein berechnete, verständnisvolle Verteilung des Stoffs. Hiegegen verstößt beispielsweise Jmmermann. Solche Hinhaltung („Hänselung“) des Lesers, wie er sich dieselbe in seinem Münchhausen erlaubt, wo er erst in den späteren Kapiteln den Anfang nachholt, ist mindestens ungehörig und verstößt gegen den bekannten englischen Spruch: Let us begin with the beginning ! (Laßt uns mit dem Anfang beginnen!) 2. Objektivität. Der Roman muß wie jede epische Dichtung für sich allein verständlich sein, ohne daß der Dichter zur Unzeit aus ihm hervorblickt und das einzelne erklärt oder Bemerkungen giebt, wie dies oder jenes zu nehmen sei u. s. w. Der Roman muß einem schönen Gemälde gleichen, das jeder ohne Kommentar versteht und bewundert. Wir wollen es gar nicht hören, wie der Dichter über eine Sache denkt, der Dichter darf sich nicht sehen lassen, mindestens soll er seinen Parteien gegenüber unparteiisch, objektiv erscheinen; er soll seine Gefühle den Personen unterlegen, die er schildert. Es verstößt nicht gegen die Objektivität, wenn der Dichter das Gefühlsleben der Helden nach Nationalität, Geschlecht, Alter, Bildung, Stand zum Ausdruck bringt, wie es im mecklenburgischen „Ut mine Stromtid“, und im rheinischen „Landhaus am Rhein“ geschieht. Aber es verstößt gegen dieselbe, wenn der Dichter sagt: „Der Leser möge mir verzeihen“ (Bulwer, Eugene Aram II . 1); oder: „Man erzählte, was wir bereits wissen“; oder: „Der Leser folge uns nach“ u. s. f. Weiter ist es gegen die Objektivität, wenn gewisse weibliche Federn die Männertypen zu stark idealisieren, die Frauengestalten zu real lassen u. s. w. Es verstößt ferner gegen die Objektivität in bezug auf Zeichnung des Alters, wenn unreife Figuren zu Handlungsweisen benützt werden, die dem reifen Alter angehören, wenn jungen bartlosen Burschen Raisonnements in den Mund gelegt werden, deren nur das Alter und die Erfahrung fähig ist u. s. w. Auch der Stand muß in seinen berechtigten Eigentümlichkeiten gewahrt werden. Es dürfen beispielsweise Untergeordneten, Subalternen keine Reden in den Mund gelegt werden, die sich im Leben kein Vorgesetzter bieten lassen würde. Bei Schilderung der Zeit und des Zeitalters muß Objektivität insofern herrschen, als das Zeitgemälde sich aus Handlung und Verlauf des Romans ergiebt. Ein Roman soll keine historische Abhandlung sein, wie sie z. B. Rousseau lieferte, der in einem 260 Seiten starken Bande den Pariser Zuständen nicht weniger als 200 Seiten widmete. Nicht belehren soll der Roman, sondern objektive, plastisch anschauliche Unterhaltung soll er bieten. Muster objektiver Zeitschilderung bieten Spielhagens Die von Hohenstein (eine Schilderung der Erhebung von 1848), Bolandens Canossa (wo die Zeit Heinrichs IV . geschildert ist), Freytags Jngo und Jngraban, Sacher-Masochs Die Jdeale unserer Zeit, Bachers Friedrichs I . letzte Lebenstage, v. Seeburgs Die Fugger und ihre Zeit. 3. Einfachheit. Die Einfachheit verlangt, daß der Dichter in der Darstellung ein äußeres Motiv (z. B. Glanz einer idealen Frauenerscheinung) neben dem innern Motiv (z. B. geistige Übereinstimmung) durchsichtig wirken lasse; daß er ferner bei der Darstellung der Leidenschaft weder übertreibe noch hinter der Wirklichkeit zurückbleibe; daß er die Charaktere ohne Überladung wahrheitsgetreu zeichne, nicht eine Figur witzig und geistreich nenne, die sich hinterher als das Gegenteil erweist; daß er den Charakter nur aus seinen Äußerungen sich selbst entfalten lasse; daß er alle ermüdenden, vereitelnden, den Gang hemmenden Beschreibungen vermeide (z. B. die kleinlichen Beschreibungen einer Stickerei, einer Verzierung, einer Säule, eines Hundehauses, die doch nicht zur Handlung nötig sind); daß er somit weder die Entfernungen nach Fußen abmißt, noch die Lokalitäten mit pedantischer Genauigkeit aufnimmt, als gälte es einen Bauriß zu entwerfen. Der Dichter darf wohl wie im Vorbeigehen eine Lokalität zeichnen, er darf ein in die Handlung eingreifendes Gewitter schildern (vgl. Freytag in der Verlorenen Handschrift ); er darf die Natur als Reflex der Stimmung nebenbei charakterisieren (vgl. Gottfr. Kellers Der grüne Heinrich I . Kap. 20. oder III . Kap. 1); er darf eine Staffage malen, auf der sich die Handlung vollzogen hat, oder zu vollziehen im Begriff ist; aber er darf nicht minutiöse, ellenlange Beschreibungen von allen möglichen, uninteressanten Gegenständen geben, an denen der Held zufällig einmal vorüberschreitet. Gegen die Einfachheit verstößt es auch, jeden epischen Charakter gleich dem Helden ein Liebesverhältnis anknüpfen zu lassen u. s. w. Jean Paul sagt: „Die Liebe sieht sich ungern vervielfältigt angeführt, bloß weil sie nur in ihrem höchsten Grad ideal ergreift, dieser aber wenige Wiederholungen erlaubt. Die Freundschaft hingegen verlangt Genossenschaft und achtet sie; ein Gärtchen mit zwei Liebenden und deren Kinder in den Blumen und ein Schlachtfeld voll engverbunden kämpfender Freunde erheben gleich hoch.“ 4. Jnteressante Darstellung. Um spannend, anziehend, interessant zu wirken, darf der Dichter zuweilen in Kreise führen, wo man hinter den Koulissen spielt, wo man hinter den Gardinen Geschichte macht; darf er Zustände des Hoflebens entrollen; darf er in Gegenden führen, wo die Freiheit der Bewegung noch unbeschränkt ist; in Gefahren, deren Ausgang für den Helden jeden Augenblick Vernichtung zu bringen scheint; in ferne Weltteile mit ungekannten Völkern, Tieren, Pflanzen (vgl. Robinsonaden, Retcliffes Nena Sahib, Rosenthals Seeromane, Armands Fährtensucher, Coopers Der letzte Mohikan, Gerstäckers Flatbootmann, Mützelburgs Schloß an der Ostsee, Wachenhusens Die Wüstenjäger u. a.); darf er gewaltige Konflikte des Seelenlebens entfalten; darf er ─ nach dem Vorbilde Gottfr. Kellers, der Marlitt, Spielhagens ─ Geheimnisse des Seelenlebens ahnen lassen, ohne diese freilich auszuplaudern, wie es Auerbach im Landhaus am Rhein thut, wo Fräulein Milch leise flüsternd der Professorin ohne Nötigung aus Sonnenkamps Leben berichtet und die Spannung des Lesers beeinträchtigt. Leicht kann die Forderung einer anziehenden, interessanten Gestaltung dazu verleiten, dem Geschmack des wandelbaren Publikums zu große Rücksicht in der Wahl pikanter Stoffe und deren Verarbeitung zu widmen, ohne zu bedenken, daß der Dichter über diesem vom Vorurteil geleiteten Publikum stehen und es erziehen soll. Dem gediegenen Romanschriftsteller, welcher der wahren Kunst zu dienen sucht, sollte in erster Reihe nicht am Beifall der Menge liegen, für ihn müßte vielmehr das Wort Rückerts (Ges.=Ausg. VIII . 305) maßgebend sein: Der Künstler, wenn ein Werk er hat gemacht für alle Befragt verschiedene, wie jedem es gefalle. Es kann nicht jedem gleich gefallen, doch zufrieden Jst er, wenn es gefällt verschiedenen verschieden. § 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman. Alle ästhetischen Anforderungen an das Epos gelten auch dem Romane. Hierzu kommen noch einige besondere Vorschriften in Hinsicht a . der Sprache und Darstellung, b . der Schilderung körperlicher Vorzüge, c . der Benennungen von Charakteren und Orten, wie der Romane selbst. a . Sprache und Darstellung. Die Prosa des Romans muß ästhetisch anmutig, gefällig, anschaulich, klar sein. Sie soll alles Schmutzige, Schamlose ausschließen, so daß man sich stets in guter Gesellschaft fühlt. Sie soll ferner weder lyrisch erhaben noch poetisch süßlich und ebenso wenig schwülstig rhetorisch sich gestalten. Sie soll vollendet schöne Prosa sein und bleiben (vgl. Bd. I . S. 16). Als solche soll sie der Prosa ihrer bestimmten Zeit entsprechen, ohne doch die Prosa derselben nachzuahmen, wie es der glücklicherweise geschichtlich überwundene, neuerdings von Gottfr. Flammberg (Pseud. für Ebrard) wieder versuchte sog. chronikalische Roman that, der die Ereignisse in der nämlichen Sprache erzählt, welche zu der bestimmten Zeit gesprochen wurde. Was die Darstellung des Romans betrifft, so kann diese langer Monologe um so mehr entbehren, als es dem Dichter ja frei steht, beschauliche Selbstgespräche durch die Schilderung zu ersetzen. Man vgl. als Muster Freytag, Goethe (Wilhelm Meister I . Buch Kap. 17), Spielhagen (Problematische Naturen), Gottfr. Keller. Auch der Dialog gehört in seiner Ausbreitung nicht eigentlich oder wesentlich in den Roman, der ja kein dramatisches Kunstwerk sein will. Er ist jedoch am Platze, wo durch ihn die Belebung erfolgreich wird, wo die Gespräche die Handlung fortleiten und mit ihr in kausalen Zusammenhang bringen. b . Schilderung körperlicher Vorzüge. Besonderes Geschick erfordert die gelegentliche Schilderung körperlicher Vorzüge. Körperliche Schönheit sollte man nach Lessing nur in ihrer Wirkung schildern. „Malet uns, ihr Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursacht, und ihr habt die Schönheit selbst gemalt!“ Hiefür ist nötig, daß der Dichter die Personen schildere, indem er sie handeln läßt. Er gebe z. B. eine oder einige Eigenschaften der Heldin an, erzähle, wie sie ihr lockenumrahmtes Haupt erhob, wie der tiefe, wehmütige Blick aus dem dunkeln Auge ins Herz drang und male so den Totaleindruck durch ihr eigenes Thun &c. Die Schilderung Philinens von Goethe in Wilhelm Meister ist ganz der Weise Homers entsprechend &c. c . Benennungen von Charakteren, Orten. Nicht ganz unwesentlich ist im Roman die Wahl der Namen. Eine großartig angelegte Heldennatur möchte Eckstein nicht Knöpfle nennen. Wir auch nicht, da Namen und Charakter sich möglichst decken sollen. Freilich darf der Name nicht schon die Firma für die ganze Geschichte ergeben, wie z. B. Spürnase für einen Spion, der Heldenthaten verübt; oder Leichtfuß für einen Verschwender. Der Name sollte weder banal, noch allzu sezierend scharf sein. Eine abgeschmackte Manier ist die farblose Bezeichnung der Personen durch Buchstaben (z. B. Major P. in N. Oder: Er lebte seit einigen Jahren in K. &c.). Solche lächerliche Diskretion ist ebenso verwerflich, als wenn der Dichter durch Angabe des Alters jeder Schönen den Verdacht erweckt, es sei ihm um eine Biographie zu thun. Ebenso lächerlich ist es beim Roman, der in seinem Jnhalt ein Bild der Sitten, Zustände und der Zeit entrollt, schon auf den Titel zu setzen: Kulturhistorischer Roman, oder Sittengemälde, oder socialer Roman &c. Es ist dies mindestens ein Verstoß gegen die Objektivität (§ 136), welche nicht schon im Voraus den Gehalt ausplaudern will. § 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit. 1. Die Grundlage eines gesunden Romans muß Sittlichkeit sein, da nur diese das Volks- und Familienleben zu weihen vermag. 2. Ein treibendes Motiv darf die echte deutsche Liebe bilden, wie sie Rückert, Chamisso, Redwitz, Kaufmann u. a. gemalt haben. 3. Auch die materiellen Jnteressen der Gegenwart dürfen sich als Motive geltend machen, sofern sie sich mit dem Jdealismus versöhnen lassen. 1. Jrren wir nicht, so stehen wir seit Gustav Freytags Soll und Haben und Gottfried Kellers Musterroman an der Schwelle einer besseren Periode der Romanlitteratur. Die Talente schämen sich mehr und mehr, unsittliches Zeug zu Tage zu fördern, und nur einzelne verkommene Lohnknechte elender Bücherfabriken geben sich noch dazu her, frivole, schmutzige Waare zu fabrizieren, oder französische Machwerke zu übersetzen. Für die Folge wird die Grundlage eines jeden guten Romans ein sittliches Motiv und ein sittliches Ziel sein müssen, da ja ohne grundsatzvolle Sittlichkeit kein edles Leben, kein reines Glück gedacht werden kann. 2. Ein solch sittlich erhabenes Motiv ist die Liebe, die echte und treue Liebe. Sie kann uns entschädigen für die Erkennungsscenen und für all die verlorene Poesie der heroisch=epischen Weltanschauung. Mehr noch: sie kann all jene unsaubere Sinnlichkeit und Frivolität verhüten, mit welcher namentlich die Übersetzungsromane aus dem Französischen ihre leichtfertigen, sittenschädigenden Figuren umkleiden (vgl. z. B. den sogar gerichtlich verfolgten Roman Flauberts Madame Bovary, 1857) und den Geschmack verderben. 3. Jm Roman der Zukunft darf die materielle Seite der Gegenwart recht wohl berücksichtigt werden, da unser Leben eben kein phantastischer Traum mehr ist, vielmehr Hunger und Liebe, Genuß und Vergnügen sich mächtig geltend machen. Aber nimmer sollte im Roman der Zukunft der Egoismus als einziger Beweggrund aller unserer Handlungen hingestellt werden. Der Glanz des Jdealismus d. i. der ästhetischen Schönheit und der Freiheit bewahrt vor dem Versinken ins Genußleben. Der Roman mag immerhin furchtlos beleuchten, was um uns geschieht, aber er behalte stets ein ideales, ethisches, menschenwürdiges Ziel; er suche den Realismus mit dem in diesem wurzelnden lebensfähigen Jdealismus zu versöhnen. Arten des Romans. § 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul. Jean Paul geht bei der Rubrizierung der Romane von der Ansicht aus, daß jeder Roman einen allgemeinen Geist beherbergen müsse, der das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung heimlich zu einem Ziele verknüpfe. Er teilt daher unsere gesamte Romanlitteratur in drei Schulen ein: die italienische, die niederländische, und die deutsche. 1. Die italienische Schule. Der höhere Ton der Romane dieser Schule fordert ein Emporschwingen über die gemeinen Lebenstiefen, ferner größere Freiheit der höheren Stände, hohe Frauen und große Leidenschaften, natur= oder historisch=ideale, gewissermaßen italienische Gegenden u. s. w. Beispiele: Schillers Geisterseher, Goethes Werther, Heinses den persönlichen Genuß predigender Ardinghello, Wielands Geschichte des Agathon, in welcher der Dichter in fremder Umhüllung sich selbst und seine Entwickelung schildert; der Gräfin Jda Hahn-Hahn: Gräfin Faustine &c. (vgl. I . 69 Salonroman). 2. Die niederländische Schule. Hier ist das niedere komische, gleichsam von einem Niederländer Maler detaillirte Genre vorwaltend; der Held kann sich durch romantische Färbung in romantischer Beleuchtung zeigen. Beispiele: Jean Pauls „Blumen=, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs im Marktflecken Kuhschnappel“ (3. Aufl. 1846), Karl Stöbers Der Kuchenmichel, Gustav Nieritz' Seppel, Bachmanns Kerkerwonne, Herbsts Moje und Fritze, Edm. Höfers Die Bettelprinzeß u. a. 3. Die deutsche Schule. Sie liegt in der Mitte zwischen der italienischen und der niederländischen Schule und hat es mehr auf den mittleren Bürgerstand abgesehen. Beispiele: Engels Lorenz Stark; H. v. Kleists Michael Kohlhaas; Jean Pauls Flegeljahre; L. Aug. Kählers Hermann von Löbeneck; Heyses Kinder der Welt; v. Lo ë ns Verloren und nie besessen; Hans Blums Dunkle Geschichten; George-Kaufmanns Auf deutschem Boden; Faust Pachlers schön geschriebener, in Jdee und Ausführung beachtenswerter kulturhistorischer Roman Die erste Frau; Anna Löhns Zwei alte Apotheker; Detlefs Unlösliche Bande; Herm. Oelschlägers Wunderliche Leute u. a. Nicht selten gehen die einzelnen Schulen in einander über. § 140. Einteilung nach Form und Jnhalt. Je nach dem in den Romanen herrschenden Gefühlsausdruck, nach ihrer äußeren Form und nach ihrem Stoff und Jnhalt unterscheidet man folgende Romane: 1. Epische (erzählende), lyrische, didaktische und dramatische (dialogische); 2. tragische, komische, humoristische, satirische, sentimentale (empfindsame); 3. Romane in Brief- oder in Tagebuchform; 4. bürgerliche oder Familienromane, Schäferromane, Räuberromane, Künstlerromane, Salon- und Hofromane, ausländische, Reise= und Seeromane, Familien- und Kulturromane u. s. w. 1. Es ist wohl selbstverständlich, daß sich in jedem Romane lyrische und dramatische Stellen oder Partieen finden. Je nachdem jedoch eines oder das andere Element vorherrschend ist, hat der Roman bestimmte Benennungen. Episch oder erzählend wird er genannt, wenn der Dichter im Hintergrunde bleibt und seine Romanerzählung objektiv mitteilt. Seinem Wesen nach muß überhaupt jeder Roman episch sein, da er ja den Helden und seine Welt wiederzuspiegeln hat. Goethes Wilhelm Meister und aus der neuesten Zeit Gottfried Kellers Der grüne Heinrich sind Muster und Vorbilder des epischen Romans. Vgl. noch Paalzows St. Roche, Ebers' Die ägyptische Königstochter u. a. Lyrisch nennt man einen Roman, welcher vorzugsweise Gefühle schildert. Beispiele: Goethe, Werthers Leiden; Pasqu é , Roman eines Mutterherzens; Lohde, Herzenskämpfe; Gallwitz, Zwei Frauenherzen; Spielberg, Verliebte Herzen &c. Didaktisch (philosophisch) heißt er, sofern er es sich zur Aufgabe macht, Wahrheiten anschaulich zu machen, Belehrung zu bieten. Beispiele: Wielands Lieblingswerk Agathon (S. 377 d. Bds.); Achards Jagd nach dem Jdeal; Ernestis Gold und Talent; Schiffs Der Geisterseher und Damenphilosophie; Charles Realisten und Jdealisten; Habichts Jdeal und Welt; Spielhagens Hammer und Ambos (belehrt über das Verhältnis der dominierenden und unterdrückten Kunst); Gutzkows Der Zauberer von Rom (belehrt über einen von Rom unabhängigen Katholizismus) u. a. Der dramatische Roman, welcher eine strenge, an das Drama erinnernde dialogische Form verlangt, bietet weniger der sich ausbreitenden Geschichte Spielraum, als er Gelegenheit giebt, die Vergangenheit in der Gegenwart vorzuführen. Der dramatische Roman heißt wohl auch der dialogische. Er steht dem Drama so nahe, daß es ein leichtes ist, ihn zu einem solchen umzugestalten. (Zschokke hat z. B. seinen Roman Abällino ohne Schwierigkeit in ein Drama verwandelt.) Vertreter des dramatischen Romans sind: Richardson, Wieland, Jakobi, Engel, Jean Paul, Brachvogel, Fr. Friedrich u. a. Einzelne Romane sind teils lyrisch, teils episch, wie z. B. Schillers Geisterseher 2. Band. 2. Endigt der Held des Romans unglücklich, weil er gegen die gesetzlichen Verhältnisse der Gesellschaft ankämpft, so wird der Roman tragisch genannt. Jn den Leiden des jungen Werther von Goethe machen die von den Gesetzen der Natur und der Wirklichkeit abweichenden Gefühle und Wünsche des Helden den letzteren unglücklich. Dasselbe ist in den Wahlverwandtschaften von Goethe der Fall, wo die Überschreitung allgemein gültiger Schranken Unglück bringt. Dem in der Wirklichkeit ruhenden Roman steht im Gegensatz zu dem in der Sage wurzelnden Epos das ganze Gebiet des Komischen offen. Die für uns abgethanen Schelmen- und Gaunerromane waren ihrem Wesen nach komisch. Der Verstand kann sich beim Aufbau solcher Romane ebenso bethätigen, wie das Gefühl, weshalb sich Verstand und Gefühl in den Widersprüchen ─ in Laune und Spott, in Jronie und Humor ─ begegnen und den Roman a . zum humoristischen gestalten, (Beispiele: Paul de Kocks humoristische Romane; Jean Pauls Romane; Jmmermanns Münchhausen; v. Winterfelds Onkel Sündenbock; v. Grabowskis Die fidele Säbeltasche; Hackländers Romane; Ernst Ecksteins Die Gespenster von Varzin; ferner Reuter, Piening u. a.) oder b . zum satirischen (Beispiele: Cervantes' Don Quijote, Eduard Maria Öttingers Onkel Zebra; Walesrodes Unterthänige Reden; Voltaires satirische Romane); ─ oder c . zum sentimentalen (Beispiele: Goethes Werthers Leiden, Richardsons Clarissa, sowie I . 55). 3. Der Roman in Tagbuchform oder in Briefen, welch letztere meist längere Dialoge oder Monologe sind, ist seinem Äußern nach dramatisch. Er läßt sich rechtfertigen, wenn wenige Personen vorkommen, wie im genannten Goetheschen Roman Werthers Leiden oder in Jakobis Eduard Alwill oder in Richardsons Pamela und Clarissa Harlowe oder in den Romanen der Niederländerinnen Wolf und Deken oder dem 1881 erschienenen Aus Jtalien von Graf Adelmann u. s. w. Jeder Brief ist gewissermaßen die Hälfte eines Dialogs, dessen andere Hälfte der Antwortsbrief bildet. Es dominiert das individuelle, lyrische Moment, weshalb derartige Romane immer auch sentimentale oder empfindsame genannt werden können. Da dem Schreibenden nur in den Mund gelegt werden kann, was er selbst erlebt, so sehen wir in der Briefform immer nur, wie die Welt dem Schreibenden erscheint, nicht aber, wie sie sich in den Augen der andern ausnimmt. So eignet sich die Briefform zur Zeichnung eines Seelenlebens, wie es besonders Goethe im Werther mit allem psychologischen Detail in ruhiger Weise entrollte; nicht aber eignet sich die Briefform für lebhafte Handlung, für rasch sich abwickelnde Ereignisse und für dramatisches Hasten. Als bekanntere Beispiele des Romans in Briefen oder in Tagebuchform sind noch erwähnenswert: Hölderlins Hyperion, Roman in Briefen; sowie Nathusius' Tagebuch eines armen Fräuleins u. a. 4. Jm Allgemeinen ist es nicht so leicht, den Roman auf eine bestimmte Stufe einzuschränken. Da er das ganze menschliche Dasein in allen Kreisen und Lebensverhältnissen umfaßt, so hat man in Hinblick auf seinen Stoff und Jnhalt unterschieden: a . Schäferromane, welche ähnliche Kreise wie die Jdylle umschlossen. Der Begründer ist der Franzose Honoré d'Urfé durch den Schäferroman Asträa 1612. Beispiele: I 52 b und 54, ferner Neumarks Filamon und Belliflora u. a. Vgl. auch den bekannten Schäferroman Galatea von Cervántes &c. b . Räuberromane (vgl. den bekanntesten Rinaldo Rinaldini von Vulpius; Spieß' Die Löwenritter; v. Levitschnigg Der Diebsfänger; Sondermanns Die Räuber; Berthets Räuber von Og è res &c.). c . Künstlerromane (vgl. Cramers Herrmann von Nordenschild; Weises Guido, Lehrling Albrecht Dürers; Gundlings Henriette Sonntag; Hackländers Künstlerroman; Vacanos Der Roman der Adelina Patti; Steffens' Künstlerstreben; Pasqu é s 7 Tage aus dem Leben eines Sängers; Saars Die Geigerin; R. Springers Devrient und Hoffmann &c.). d . Salon- und Hofromane, welche die feineren Stände mit ihren gewählteren Formen, ihrer besseren Bildung und ihrem gesteigerten Lebensgenusse, sowie den Hof mit seiner eigenartigen Sitte umschließen (vgl. die Proben I . 69, sowie von Göhrens Aus dem Salonleben; J. Mühlfelds Die alte Durchlaucht; F. v. Stengels Aristokraten; Zetters Gräfin von Kery; Wartenburgs Eine vornehme Frau; Giltersbergs Die beiden Comtessen u. a.). e . Ausländische, Reise=, Seeromane, welche ein Bild fremdländischer Sitten und Kultur bieten und an oder auf der See, oder auf der Reise in fremden Ländern spielen. (Beispiele: Otto Ruppius' Der Prärieteufel; ferner Rosenthal=Bonins Bernsteinsucher; Coopers Romane; Galens Jnsulaner; Jwanows Die Russen in Turkistan; Whikys Aus dem Londoner Zigeunerleben; Mützelburgs Das Schloß an der Ostsee; Schmelings Ein Ostseepirat; Spielhagens Auf der Düne; Wachenhusens Die Wüstenjäger; Cobbs Des Seesturms Geheimnis &c., vgl. auch I . 69). f . Bürgerliche Romane. Da die Familie, das Bürgertum, die Arbeit den Mittelpunkt bilden, in welchen sich die ganze Fülle des Volkslebens ergießt, so muß der bürgerliche Roman, der den Familienroman und den Kulturroman der Arbeit umschließt, das gesamte Volksleben wiederspiegeln. 1. Familienromane (Muster: Goethes Wilhelm Meister; Hackländers Eugen Stillfried; Th. Mügges Täuschung und Wahrheit; Gustav Jahns Frau Schwertlein; Henriette Hankes Ehen werden im Himmel geschlossen; E. Höfers Zwei Familien; Schirmers Ein Familiendrama; Thalhaus' Eine alte Jungfer; F. Henkels Die Stiefschwestern; E. Fels' Eine Konvenienzehe; Mannsfelds Ein Geheimnis in der Ehe; A. Niemanns Eine Emancipierte; v. Wieses Familie Friedmann; Wickedes Eine deutsche Bürgerfamilie u. a.). 2. Kulturromane. (Beispiele: Grimmelshausens Simplicissimus; Levin Schückings Eine Aktiengesellschast, ferner Die Ritterbürtigen; Heinr. Zschokkes Die Branntweinpest; Fanny Lewalds Eine Lebensfrage, freie geistige Bildung der Frau fordernd; Wicherts Die Arbeiter; A. Schraders Börse und Leben; Petersens Pariser Leben; Luise Ottos Schloß und Fabrik; Nemmersdorfs Ritter unserer Zeit; Kretschmars Tochter des Arbeiters; Hohenhausens Roman des Lebens u. a.) § 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane. Eine bequeme Einteilung scheidet das ganze Gebiet der Romane in zwei Gruppen, nämlich in: a . Tendenzromane, b . Stoffromane. a . Tendenzroman. Als Tendenzroman bezeichnet man den Roman, in welchem der Dichter einen besonderen Standpunkt, oder eine besondere Ansicht, eine höhere Jdee zur Geltung und zur allgemeinen Anerkennung zu bringen sucht, indem er an seinem Helden und dessen Lebensgängen z. B. eine noch nicht als allgemein erkannte Wahrheit in moralischer, wissenschaftlich=künstlerischer Beziehung zum Ausdruck bringt, oder ihn zum Vorwand nimmt, um sich über gewisse wissenschaftliche, sociale, politische, künstlerische Fragen und Jdeen auszusprechen, sie zu bekämpfen, oder zu verteidigen. (Z. B. Luise Ottos Jesuiten und Pietisten; Rodenbergs Die neue Sündflut; E. v. Waldows Blaues Blut; v. Dedenroths Jesuitenränke; B. M. Kapris Uradelig; Klapps Zweierlei Juden; Klaußmanns Ultramontan; Lobedanz' Ein neuer Glaube; Spielhagens Sturmflut, welche die sociale Sturmflut und die durch die französischen Milliarden veranlaßte Bewegung beleuchtet; ferner Gustav Kühnes Die Freimaurer.) Eine gewisse Tendenz (Jdee) muß jeder Roman haben, auch ohne deshalb Tendenzroman zu heißen. Sie liegt in der in ihm zur Geltung kommenden allgemeinen Wahrheit, welche auch von der Gesellschaft als solche betrachtet wird. Der Roman Werthers Leiden von Goethe verfolgt z. B. die Tendenz, nachzuweisen, daß die Vernunft die Gefühle zu mäßigen und zu leiten habe, wenn nicht die ungezügelte Naturkraft zerstörend wirken soll. Wilhelmine v. Hillern verfolgt in ihrem Roman: Ein Arzt der Seele, die Tendenz, den Nachweis zu führen, daß der Frauen Aufgabe sich auf Haus und Familie zu beschränken habe und jedes Überschreiten dieser Schranke zum Unheil führe. Verwerflich ist der Tendenzroman, wenn er ─ um mit Eichendorff zu sprechen ─ „die Jetztzeit antedatiert und der Vergangenheit das Kuckucksei moderner Weisheit unterlegt“, wie es z. B. Heinrich König in den Clubbisten in Mainz (1847. 1875) im Sinn der Aufklärung, ferner der pfälzische Pfarrer Bischoff (pseud. Konrad von Bolanden) im Jnteresse des Ultramontanismus in seinen Romanen Urdeutsch, Franz von Sickingen, Friedrich II . thut, indem er sein Volk beschimpft, um die römische Kirche zu glorifizieren. Man unterscheidet bei den Tendenzromanen streng philosophische Romane (z. B. Auerbachs Spinoza), politische (z. B. Willkomms Die Europamüden), sociale (Gutzkows Engelchen), moralische (Spittas Reine Herzen), pädagogische (Gutzkows Blasedow und seine Söhne, sowie besonders des idealen Leop. Komperts Franzi und Heini. 1881), theologische (Lubojatzkys Die Neukatholischen), ästhetische (Ad. Sterns Ohne Jdeale) &c. Jedenfalls thut man am besten ─ wie wir das weiter unten einhalten wollen ─ den Tendenzroman als philosophischen Roman im weitesten Sinne aufzufassen. b . Dem Tendenzroman setzt man den Stoffroman entgegen und versteht darunter den Roman, der lediglich durch seinen Stoff, d. i. durch die Erzählung zu interessieren sucht. Jn dieser Hinsicht können alle Gattungen von Romanen als Unterordnungen des Stoffromanes bezeichnet werden. Es würde also z. B. der historische Roman ein auf historischer Basis ruhender sog. historischer Stoffroman sein u. s. w. (Beispiele I . 68.) § 142. Unsere Einteilung der Romane. Als übersichtlich, charakteristisch und erschöpfend dürfte sich die Einteilung in 1. historische, 2. philosophische, 3. moderne (Zeitromane) und 4. volksmäßige Romane (Dorfgeschichten) empfehlen. (Die in den §§ 139─142 aufgeführten Arten des Romans lassen sich leicht diesen 4 Kategorien ein- oder unterordnen.) I . Der historische Roman. Man nennt ihn so, weil sein Stoff irgend eine historische, poetisch zu schildernde Begebenheit ist. Einige haben ihn aus dem Gebiet der dichterischen Gattungen ausschließen wollen, da er romanhafte Anschauung für Geschichte ausgebe und somit den historischen Sinn des Lesers schädige. Allein wenn die Gegenwart Gegenstand des Romans sein darf, warum nicht auch die Vergangenheit? Die Prosa, welche den Roman an die Wirklichkeit des Lebens anschließt, verleiht ihm die Wahrscheinlichkeit der Wirklichkeit, wodurch Konflikte viel leichter sich ergeben als im Drama, welches durch gebundene Sprache sich der gemeinen Wirklichkeit enthebt. Es kommt im historischen Roman alles auf die echt poetische, ideale Auffassung an und auf die künstlerisch=schöpferische Wiedergeburt. Die Geschichte muß im Roman aufhören, für sich zu bestehen, sie muß in die Dichtung übergehen. Verbürgte Geschichte darf man daher nicht aus dem Roman lernen wollen. Der Roman muß eben nicht Geschichte sein wollen, als vielmehr eine phantasievolle Umbildung der Geschichte zu einem bestimmten Lebensbilde. (Vgl. z. B. Das Jahr 1812 von Rellstab.) Der Dichter verfährt so, daß er zur Geschichte zudichtet oder von derselben wegläßt, daß er da, wo es für das Jnteresse der Geschichte nötig erscheint, eine Steigerung oder eine Jndividualisierung des Charakters eintreten läßt u. s. w. Bringt der Dichter endlich noch den Charakter einer gewissen Zeit zum Ausdruck, ohne seinen Roman zum Sittengemälde oder zum trocknen Zeitbilde werden zu lassen, ja, läßt er eben alles um des Helden willen geschehen und thut er der inneren Notwendigkeit keinen Eintrag (vgl. z. B. Eugens Der Held des Bauernkriegs), so hat der historische Roman seine Berechtigung. Er ist nach Walter Scotts Vorgang (der seine Laufbahn mit der Übersetzung von Goethes Faust begonnen hatte) in Deutschland sehr gepflegt worden. Viele mittelmäßige Romanschreiber sind geradezu die Affen Walter Scotts geworden. Willibald Alexis, der deutsche Walter Scott, der in Die Hosen des Herrn von Bredow, Der Roland von Berlin, Der falsche Waldemar &c. die Entwickelung Preußens schildert, liefert treffliche historische Romane. Auch haben Laube (Der deutsche Krieg), Luise Mühlbach, Heinrich König, Otto Müller (Die Mediatisierten), Rehfues (Scipio Cikala), Freytag, Scheffel, Hesekiel (Vor Jena), Hiltl, Ludwig Rellstab, Wilhelm Hauff (Lichtenstein), Franz Karl van der Velde (Die Eroberung von Mexiko), Johs. Scherr (Der Prophet von Florenz), Th. Mügge, Burow (Die Preußen in Prag), Conard (Der 7tägige Krieg), W. Ewald (Die Schweden auf Kronberg), Kaiser (Unter dem alten Fritz und Kaiser Joseph), Waldmüller (Napoleon), Adolf Palm (Die Gräfin von Görlitz), Gottschall (Jm Banne des schwarzen Adlers, aus der Zeit der Thronbesteigung Friedrich II . von Preußen), Ebers, Harmening (Matthias Overstolz 1881) &c., anerkennenswertes geleistet, was zum Teil den historischen Romanen Walter Scotts ebenbürtig an die Seite zu stellen ist. Zu den bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiete des historischen Romans der Neuzeit zählen Ebers, Scheffel und Freytag. Sie haben den zur Hälfte wissenschaftlich=historischen Roman geboten, also eine besondere Gattung historischer Romane begründet, welche ebenso unterrichten als unterhalten. Mit großem Ernst schöpfen sie aus der geschichtlichen Vergangenheit: Ebers aus der Geschichte des Pharaonenlandes (Uarda: Glanz der Pharaonen; ägyptische Königstochter: Heimfall Ägyptens an Persien; Die Schwestern: das Hellenentum unter den Lagiden; Der Kaiser: das Römertum &c.); Scheffel (Ekkehard) und Freytag (Die Ahnen) aus der deutschen Vergangenheit. (Der 1. Band der Ahnen „Jngo und Jngraban“ spielt um 357 und 724, der 2. „Das Nest der Zaunkönige“ um 1003. Der Held Jmmo führt die Braut in die von den Feinden spottweise Nest der Zaunkönige genannte Burg. Der 3. spielt in der Zeit der Hohenstaufen; der 4. „Markus König“ zur Zeit Luthers. Der Sohn des Markus entflieht mit der Braut und wird auf der Veste Koburg getraut; Luther versöhnt den Vater. Der 6. und letzte Band zeigt, daß der jüngste Sproß von Jngo und Jngraban niemand anders ist als Gust. Freytag selbst.) Ebers, Scheffel und Freytag haben mit einander gemein, daß sie uns nicht nur rühren mit dem, was sie ganz und wahr erfüllt, sondern auch mit dem, was sie besser als andere der Geschichte nachzuerzählen wissen. (Über Freytag ist merkwürdigerweise Herr J. Bourdeau in der Revue des deux Mondes XLVIII ., 1 vom Novbr. 1881: (» Le roman d'éducation nationale en Allemagne«) p . 135 ff. der Ansicht, daß er eigentlich ein Nachahmer von Walter Scott, sodann (laut Réville , 1. Dez. 1874) auch des Eugène Sue sei!! Ivo , Die Ahnen. » A vrai dire, ce n'est point ici un roman historique, c'est plutôt de la philosophie de l'histoire en action: éveil de l'idée nationale en Allemagne, premières velléités de réforme et d'indépendance du joug ultramontain, point de départ de la civilisation de la Prusse, toutes idées abstraites, accrochées à des épisodes historiques et expliquées par des incidens et des personnages de pure fantaisie. Ces sortes d'ouvrages exigeraient un long commentaire .« Am Schluß seiner Besprechung S. 153 sagt Bourdeau: Le genre du roman historique et politique adopté par M. Freytag, est, sinon faux, du moins un genre de transition: justement abandonné en France et en Angleterre, il n'est plus guère cultivé qu'en Allemagne. En cela les Allemands retardent de trente années. Ils négligent trop, encore aujourd'hui, le roman psychologique, l'étude des sentimens et des caractères etc .) II . Der philosophische Roman nimmt Veranlassung, gewisse Ansichten über wissenschaftliche und künstlerische Gegenstände durch seine Charaktere aussprechen zu lassen, oder aber das Leben der gegenwärtigen Zeit mit Rücksicht auf die Zukunft zu malen. Dieses Raisonnement wird mehr oder weniger im philosophischen Roman Hauptsache, da dieser Roman weniger des Helden als des Raisonnements wegen geschrieben ist. Der philosophische Roman vereinigt alle Formen, die wir als Tendenzromane betrachtet haben. (§ 141.) Bald sucht der philosophische Roman in religiösen Dingen Belehrung zu geben (Spinoza von Auerbach), bald Fragen der spekulativen Philosophie zu erörtern (Spinoza von Auerbach, sowie Fr. Fries' Julius und Evagoras); bald behandelt er die bessere Sitte (Jakobis Waldemar, ferner Al. v. Ungern= Sternbergs Paul ); bald liefert er ein großes Kulturgemälde des Jahrhunderts (Gutzkows Die Ritter vom Geist); bald hat er ein pädagogisches Jnteresse (Gutzkows die Söhne Pestalozzis); bald dient er einer bestimmten Kunst, welch letztere Gattung des philosophischen Romans auch als Künstlerroman bezeichnet wird. Das Raisonnement desselben kann ins Bereich der dramatischen Kunst fallen (Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, ferner Aug. Lewalds Theaterroman), ins Bereich der Malerei (Tiecks Sternbalds Wanderungen, Heinses Ardinghello), in das der Musik (Heinses Hildegard von Hohenthal, Brachvogels Friedemann Bach), u. s. w. III . Der moderne Roman (Zeitroman). Der moderne Roman ist der Roman der Gegenwart und heißt auch Zeitroman, sofern er das Bild der Zeit und ihrer Sitten giebt. Der Zeitroman wurzelt im Erlebten, das er nicht gerade ideal darzustellen braucht. Er liebt freierfundene Stoffe, die er dem Geist und Jnhalt der gegenwärtigen Kulturperiode entsprechend wählt. So schildert z. B. Samarow in Scepter und Kronen die Begebenheiten von 1866, neben welchen er zwei Liebesgeschichten giebt. Er weiß seinen Stoff (z. B. selbst durch Einführung in die Kabinette der Staatsmänner, durch Belauschung Napoleons und Eugeniens, durch Entrollung von Verschwörungen, Erzeugung dämonischen Schauders &c.) lebenswahr und anziehend zu gestalten. Spielhagens Jn Reih und Glied schildert die Lassallesche Arbeiterbewegung (Gutmann ist Lassalle, der romantische König ist Friedrich Wilhelm IV . &c.), Auerbachs Auf der Höh' spiegelt bayerische Zustände unter Ludwig I . Brachvogels sämtliche Romane kann man als Zeitromane bezeichnen. Sein erster Roman war Friedemann Bach, von dem er sagt: „Jch habe in Narziß zu schildern versucht, wie ein solcher Charakter ist, im Friedemann Bach dagegen, wie jeder unter ähnlichen Verhältnissen ein ähnlicher Charakter werden kann.“ Jm Trödler zeigt er mit Geschick und Kunst, wie nur drei Dinge ewig bestehen und uns sicher zu Gottes Thron führen: treue Liebe, bescheidener Sinn und gute Thaten. Sein bedeutendster Roman Ein neuer Falstaff führt aus, wie ein edler Charakter und großer Künstler durch den Hohn und den Spott, den die Häßlichkeit seiner Erscheinung hervorruft, zur Verachtung und Haß gegen die Menschheit sich hinreißen läßt, wie er den Adel seiner selbst preisgiebt und in den Strudel des Gemeinen versinkt, aber doch durch allen Zweifel und alle Verirrung sich hindurchringt zur Reinheit und Klarheit der Anschauung, weil er die leidenschaftliche, lebendige Liebe zu einem schönen liebenswürdigen und edlen Wesen nicht aufgeben kann. Er findet den Ausgang aus dem Labyrinth der falschen Grundsätze, in die er sich hineingepredigt, ─ und den Zugang zum Herzen der Geliebten. Beliebte moderne Romane (zum Teil im Stil des Zeitromans ausgeführte Novellen) aus den letzten 20 Jahren sind: E. Werner, Gesprengte Fesseln; Stahl, Ein weiblicher Arzt; Wilcken, Am Hof; Vict. Sales, Eine Bekanntschaft auf der Straße; Ohorn, Der Klosterzögling; Hiltl, Eine Kabinetsintrigue; Müldener, Aus der Verbrecherwelt; Hermann, Jud und Christ; v. Gottschall, Welke Blätter; Ludolf, Die Tochter des Spielers; Gaboriau, 12 Millionen; J. Krüger, Der Jesuit und sein Zögling; Dewall, Eine Mesalliance; S. Kohn, Ein Spiegel der Gegenwart; H. Hopfen, Arge Sitten; R. Byr, Eine geheime Depesche; Höcker, Geld und Frauen; Hirschfeld, Carriere.) Für weitere Beispiele vgl. I . 68 unter Zeitroman. IV . Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte. Er ist der Jdylle verwandt und beschränkt sich auf Stoffe aus dem Volksleben und aus den volkstümlichen Anschauungskreisen. Somit könnte man ihn auch den Roman des Volkslebens nennen. Die Neubegründer dieser zu allen Zeiten gepflegten Gattung sind Heinrich Zschokke († 1848) und Berth. Auerbach († 1882). Bekannte Beispiele des volkstümlichen Romans oder der Dorfgeschichte aus der allerletzten Zeit (etwa von 1860─1882) sind: Beuthien, Sleswig-Hollsteener Buerngeschichten; Eötvös, Ungarische Dorfgeschichten; Hans Hopfen, Bayerische Dorfgeschichten, und dessen Böswirt; H. Kletke, Der Savoyardenknabe; Molitor, Dorfgeschichten; Gust. Nieritz, Seppel; Raimund, Bauernleben; Rosen, Der Buchenhof; Rosegger, Die Schriften des Waldschulmeisters; Schall, Oberösterreichische Bauerngeschichten; Schaumberger, Fritz Reinhardt &c.; Scheitlin, Der Segen der Bibel; Schöpf, Dorfgeschichten; Snieders, Der Großknecht; Vacano, Dorfbilder; Herm. Schmid, Der Bauernrebell, Das Schwalberl; A. Brook (Pseud. für Antonie Brökel in Kiel) Schutzlos aber nicht hülflos (2. Aufl. 1874.) u. a. Für weitere Beispiele vgl. I . 73. § 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische Stilproben. 1. Als instruktive Beispiele, welche den historischen Fortschritt des Romans charakterisieren (und die für erschöpfende Kenntnis dieses Kunstgenres ein jeder kennen sollte), erwähnen wir: 1. Grimmelshausens Simplicissimus (Ausg. v. Keller 1862). 2. Wielands Geschichte des Agathon, und dessen Abderiden. 3. Gottwerth Müllers Siegfried von Lindenberg. 4. Jean Pauls Siebenkäs. 5. Schillers Geisterseher. 6. Gustav Freytags Soll und Haben. 7. Luise von Fran ç ois Die letzte Reckenburgerin. 8. Scheffels Ekkehard. 9. Ebers Ägyptische Königstochter. 10. R. Hamerlings Aspasia. 11. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. 2. Für Kenntnis des Stil-Fortschritts beschränken wir uns auf nachstehende drei charakteristische Stilproben epochebildender Werke auf dem Gebiete der Romanlitteratur: 1. aus dem humorreichen Romane Simplicissimus, dem hervorragendsten litterarischen Erzeugnisse des 17. Jahrhunderts (Analyse s. I 52.) 2. aus dem bedeutungsvollen, die Erziehung der Menschheit zur Tugend darstellenden philosophischen Roman Agathon, dem Lieblingswerke Wielands, dem Vorbild aller Ritterromane und späteren Romane aus der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts. ( I 54). 3. aus dem vortrefflichen Roman Der grüne Heinrich von Gottfried Keller aus der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts. (Neue Ausgabe 1880.) Stilproben aus drei Jahrhunderten. 1. (17. Jahrhundert.) Stilprobe aus Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus, das ist: Beschreibung des Lebens eines seltsamen Vaganten, genannt Melchior Sternfels von Fuchsheim. (Jn der Neuzeit herausgeg. durch Brockhaus, Reclam und Meyer.) Neunzehntes Kapitel. Wie Hanau von Simplicio und Simplicius von Hanau eingenommen wird. Da es tagte, fütterte ich mich wieder mit Weizen, begab mich zum nächsten auf Gelnhausen und fand daselbst die Thore offen, welche zum Teil verbrannt und jedoch noch halber verschanzt waren. Jch ging hinein, konnte aber keines lebendigen Menschen gewahr werden; hingegen lagen die Gassen hin und her mit Toten überstreut. Meine Einfalt konnte nicht ersinnen, was vor ein Unglück das Ort in einen solchen Stand gesetzt haben müßte. Jch erfuhr aber ohnlängst hernach, daß die Kaiserische Völker etliche Weimarische daselbst überrumpelt. Kaum zween Steinwürfe weit kam ich in die Stadt. Als ich mich derselben schon satt gesehen hatte, kehrte ich wieder umb, ging durch die Aue nebenhin und kam auf eine gänge Landstraße, die mich vor die herrliche Festung Hanau trug. Sobald ich deren erste Wacht ersahe, wollte ich durchgehen; aber mir kamen gleich zween Musketiere auf den Leib, die mich anpackten und in ihre Corps de Garde (Hauptwache) führten. Jch muß dem Leser nur auch zuvor meinen dermaligen visierlichen Aufzug erzählen, ehe daß ich ihm sage, wie mir's weiter ging; denn meine Kleidung und Gebärden waren durchaus seltsam, verwunderlich und widerwärtig, so daß mich auch der Gouverneur hat abmalen lassen. Erstlich waren meine Haare in dritthalb Jahren weder auf Griechisch, Deutsch, noch Französisch abgeschnitten, gekrempelt, noch gekräuselt, noch gelüfft worden; sondern sie stunden in ihrer natürlichen Verwirrung noch mit mehr als jährigem Staub anstatt des Haar-Plunders, Puders, oder Pulvers durchstreut, so zierlich auf meinem Kopf, daß ich darunter herfürsahe mit meinem bleichen Angesicht wie eine Schleier-Eule, die knappen will, oder sonst auf eine Maus spannt. Der übrige Habit stimmte mit der Hauptzier überein; denn ich hatte meines Einsiedlers Rock an, wann ich denselben anders noch einen Rock nennen darf, dieweil das erste Gewand, daraus er geschnitten worden, gänzlich verschwunden und nichts mehr davon übrig gewesen, als die bloße Form, welche mehr als tausend Stücklein allerhand färbiges, zusammengesetztes, oder durch vielfältiges Sticken an einander genähtes Tuch noch vor Augen stellte. Meine Schuhe waren aus Holz geschnitten und die Schuhbändel aus Rinden von Lindenbäumen gewebt; die Füße selbst sahen so krebsrot aus, als wann ich ein Paar Strümpfe von Spanisch Leibfarbe angehabt, oder sonst die Haut mit Fernambuc gefärbt hätte. Jch glaube, wenn mich damals ein Gaukler, Marktschreier oder Landfahrer gehabt und vor einen Samojeden oder Grönländer ausgegeben, daß er manchen Narren angetroffen, der einen Kreuzer an mir versehen hätte u. s. w. 2. (18. Jahrhundert.) Stilprobe aus Wielands Geschichte des Agathon. (Göschensche Ausg. 1853 IV . 40 ff.) Wie ähnlich ist alles dies einem Fiebertraume, wo die schwärmende Phantasie ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betrachtung zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteuer zu dem andern, von der Krone zum Bettlermantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartaros ins Elysium fortreißt! Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden, uns zum Scherze bald glücklich, bald unglücklich zu machen? Oder ist es diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle Majestät der Natur ankündiget, ist es dieser alles belebende Geist, der die menschlichen Sachen anordnet: warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente, die Jahres- und Tageszeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels: in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften? Sind unsere Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des Himmels: warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite seiner Feinde? Oder, hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen: warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall die weisesten Entwürfe? Hier hielt Agathon eine Zeit lang ein. Sein in Zweifeln verwickelter Geist arbeitete, sich los zu winden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur, die ihn umgab, eine andere Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte. ─ „Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Vollkommenheit, weil Agathon ein Sklave, und von Psyche getrennt ist? Schäme dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen! Wie kannst du Verlust nennen, dessen Besitz kein Gut war? Jst es ein Übel, deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles dessen beraubt, warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und warum nennst du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht, sie zu erlangen oder zu erhalten? ─ Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, eh' ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechslungen kannte; eh' ich genötigt war, mit den Leidenschaften anderer Menschen, oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins einem undankbaren Volk aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung, Thoren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein! Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens am besten. Es gab Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich glücklich war; glücklich in den frohen Stunden, wenn meine Seele, vom Anblick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden, irrte; glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor. ─ Ja, du bist's, alles beseelende, alles regierende Güte ─ ich sah, ich fühlte dich! Jch empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit von Augenblicken und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten giebt. Die Macht der Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit heilet den gegenwärtigen Schmerz und verspricht eine bessere Zukunft. ─ Diese allgemeinen Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen wie ehemals um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbe, wie die Natur, die mich umgiebt. ─ O Ruhe meines delphischen Lebens, und du, meine Psyche! euch allein, von allem was außer mir ist, nenne ich mein! u. s. w. 3. (19. Jahrhundert.) Stilprobe aus Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. 3. Band, S. 1. Erstes Kapitel. Arbeit und Beschaulichkeit. Jch schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte noch immer der warme Südwind und es regnete fort. Jch sah aus dem Fenster und erblickte das Thal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen aller Schnee schmelzen mußte und eine große Flut zu erwarten war. Das Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher; für unser Haus war gar keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag, der die Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen, und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der Arbeit, als sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen, standen bis über die Kniee in Schlamm und Wasser, schwangen Äxte und trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem schweren langen Baume einher gingen, hielten die Witzbolde unter ihnen keinen Einfall zurück; nur der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen sah. Jch konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege; nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Thätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Wasser beschäftigt war, der fuhr ins Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzuthun, und auf einem Acker sah ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nachtag eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre. Jch schämte mich, allein so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu thun, entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider nicht viel zu versäumen und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja, sie kam mir schal und nichtig vor; da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Kot und Regen in die Nacht hineinwandern mußte, so ließ eine ascetische Laune mir diesen Gang als eine Wohlthat erscheinen, und ich machte mich trotz aller Einreden meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg. So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Jnnern erwachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens, wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens vor der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte ich an den dunkeln Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet zum Frühstück erscheinen sah. Jch bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unterzubringen wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel. Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten. Es waren Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu verlocken wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten. Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefähr gesagt: „Der große Goethe ist gestorben“, und dies Wort klang mir immer wieder nach. „Der unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging, da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über dessen Rand auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichtum zusammenzuhalten. Jch entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indessen es noch einmal Winter und wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber, den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Jch griff zuerst nach allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich alles Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reise, und als sich der Strom hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief, ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern: Dichtung und Wahrheit. Jch war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der Schatz bar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein dreißigtägiges Liegen und Lesen machte sie unentschlossen und darüber ergriff der Mann wieder seine Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und empfahl sich. Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah mich um, und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten. Jch machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigennützigem Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön und merkwürdig vor und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den Jnhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben. Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief, so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen dreißig Tagen, sowie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben sind. u. s. w. § 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans. Da der Roman ein Bild des wirklichen Lebens ist, so müssen selbstredend diejenigen Völker, welche das bewegteste Leben führen, die meisten interessanten Romane aufzuweisen haben; also Engländer, Franzosen, Amerikaner, Deutsche &c. Wir streifen kurz die fremden Litteraturen, um sodann die Geschichte der deutschen Romanlitteratur in ihren wesentlichen Vertretern aufzurollen, soweit dieselben nicht bereits Bd. I § 18, sowie § 126 bis 144 d. Bds. erwähnt sind. I . Griechen. Der Roman in unserem Sinne konnte bei den Griechen selbst in ihrer Blütezeit nicht gedeihen. Man hatte dort zu jener Zeit noch kein häusliches Leben; alles war öffentlich, die Geschäfte wie das Vergnügen, die Staatsangelegenheiten wie die olympischen Spiele und das Theater. Daher kannte man auch nicht eine verborgene Liebe mit ihren Leiden und Freuden, wie eine solche eine Hauptrolle in unseren Romanen spielt. Erst als in Griechenland das öffentliche Leben aufhörte und ein jeder sich auf seine Familie beschränkte ─ als die Blüte der Litteratur vorüber war, begann der griechische Roman im besseren Sinne unter dem Namen: „milesische Märchen“. Diese sind von Aristides verfaßt und enthalten Scenen aus dem Leben Milets, der Vaterstadt der Hetären. Als die ersten griech. Romandichter sind zu nennen: 1. Antonius Diogenes (2. Jahrh. n. Chr.; er schrieb: Die Wunder jenseit Thule ). 2. Lucius aus Paträ, und Jamblichus, beide im 2. Jahrh. n. Chr. 3. 200 Jahre später Heliodorus, Achilles Tatius, Longus, Xenophon aus Ephesus. 4. Um 600 n. Chr. Chariton. Endlich 5. aus dem 11.─13. Jahrh. Eumathius, Theodorus, Prodromus und Nikotas Eugenianus, welch letztere wegen ihrer erotischen Stoffe den Beinamen Erotiker trugen. (Eine Geschichte des griech. Romans schrieb Erwin Rohde.) II . Jtaliener. Diesen genügte die Novelle und das Epos, weshalb ihnen der Roman ─ mit Ausnahme einer Art Ritterroman ─ fast bis in die Neuzeit fehlte. Da war es denn Alessandro Manzoni, welcher in Verehrung Walter Scotts 1825 in seinen klassischen I promessi sposi (Die Verlobten) den historischen Roman begründete. (Jnhalt: Don Rodrigo, ein vornehmer Wollüstling, welcher sein Auge auf die Braut eines Seidenwebers gerichtet hat, hintertreibt deren Trauung; doch kann er nicht Erhörung finden. Die poetische Gerechtigkeit läßt ihn durch die Pest hinwegraffen, worauf die Verfolgte den Geliebten heiratet. Goethe urteilt über diesen Roman, „man werde von der Bewunderung zur Rührung, von der Rührung zur Bewunderung hingerissen“.) Die bedeutendsten Nachfolger Manzonis, zu denen fast alle berühmten Staatsmänner zählen, sind: Giov. Rosini aus Pisa; Ces. Cant ù (Margherita Pusterla, Mail. 1837); Lucrezia Marinella (L'Enrico Mail. 1844); Massimo d'Azeglio; Domenico Guerazzi, dessen letztes Werk Beatrice Cenci berechtigtes Aufsehen erregte u. a. III . Spanien. Die Romane ( novela ) erblühten hier aus der romanischen Dichtung. Ursprünglich waren es gehaltlose Ritterromane. Don Miguel de Cervantes de Saavedra († 1616) in seinem humoristischen Don Quijote, d. i. Leben und Thaten des sinnreichen Junkers Don Quijote aus der Mancha, parodierte dieselben. Übersetzt wurde derselbe u. a. von E. Zoller. (Jnhalt des Don Quijote: Ein durch die Lektüre von Ritterromanen überspannt gewordener Landedelmann, der Alles glaubt, was die Romane erzählen, faßt den Entschluß, fahrender Ritter zu werden. Zur Rüstung wählt er Waffenstücke verschiedener Zeiten und zum Knappen den Bauern Sancho Pansa, einen gutmütigen, einfältigen, täppischen, zuweilen schalkhaften Menschen, der gern lügt und besonders das Essen liebt. Windmühlen sieht er für Riesen an, Wirtshäuser für Ritterburgen, Stalldirnen für Ritterfräulein. Man erklärt ihn endlich für toll und bringt ihn in die Heimat zurück, wo er in eine Krankheit verfällt, nach welcher er seine vernünftige Anschauung wieder erlangt. Der Roman wurde vielfach nachgeahmt, z. B. vom Engländer Butler im Hudibras; von Wieland im Don Sylvio von Rosalva u. a.) Cervantes wurde Begründer des Liebesromans. Ende des 16. Jahrh. entstanden auch die komischen (Schelmen=) und die Schäfer-Romane. Die Bewunderung für Walter Scott schuf den historischen Roman Gomez Arias von Telesforo de Trueba y Cosio. Man übersetzte die englischen Romane. Beliebte Originalromane enthält die Coleccion de novelas históricas 1832─35. Gefeierte Romandichter sind: Espronceda, Soler, Mariano Jos é de Larra, Jorge Montgomery, Fernan Caballero (begr. d. span. Sittenroman), Perez Galdos, Juan Valera, Fernandez y Gonzales u. a. IV . Frankreich. Jn Frankreich gab es zuerst prosaische Ritterromane. Diese wurden sodann im 16. Jahrh. verdrängt durch den weltberühmten phantastischen, witzsprudelnden, aber auch unflätigen satirischen Roman des Fran ç ois Rabelais: Pantagruel und Gargantua &c. (Jnhalt: Der Riese Gargantua nimmt aus der Notre-Dame=Kirche in Paris die Kirchenglocken weg und hängt sie seinem Riesenroß als Schellen an. Er schlichtet den Krieg der Bäcker und Weinbauern und stillt seinen Durst mit Lattichsalat, wobei er sechs im Salat versteckte Pilger beinahe mit verschluckt hätte u. s. w. Der Roman verhöhnt die politischen Jnstitutionen seiner Zeit und bietet vortreffliche Gedanken über Erziehung, Litteratur, Philosophie &c.) Nachgeahmt wurde der Roman von Fischart in der „Affenteuerlichen und Naupengeheuerlichen Geschichtklitterung. Von Thaten und Rahten der vor kurzen, langen weilen Vollenwolbeschreiten Helden und Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel, Königen in Utopien und Nienenreich. Etwan von M . Rabelais französisch entworfen, nun aber oberschrecklich lustig in ein deutsches Modell vergossen durch Huldrich Elloposkleron 1575 (von ἔλλοψ == ellops Fisch und σκληρός == skleros == hart: Fischhart). Nach Rabelais machte sich der galante Schäferroman nach spanischen und italienischen Mustern geltend. (Den bedeutendsten Astrée von Honoré d'Urfé haben wir bereits S. 369 erwähnt.) Dann brach sich der historische Roman Bahn, sowie der die bürgerlichen Verhältnisse von Paris behandelnde Roman. Scarron führte das komische Element der italienisch=spanischen Romantik in die französische Litteratur durch seinen Roman comique ein. F é n é lon schrieb 1698 den besten Roman des Jahrhunderts: Les aventures de Télémaque . Nun begründete Alain Ren é Lesage durch seinen Diable boiteux 1707 eine neue Art satirischer Romane, die zur Schule hindrängten, welche zwischen Klassizismus und Romantizismus in der Mitte steht und Moral, Natur und Gemütsleben in ihre Kreise zogen. ─ Bedeutendes Aufsehen erregte Voltaire (Candide &c.), Rousseau (Heloise), u. a. Charles Antoine Pigault Lebrun († 1835), der den komischen Roman pflegte, und Paul de Kock (1794─1871) wählten häufig Stoffe aus den Sphären des Gewöhnlichen, Niedrigen. Jhnen stellten sich durch zarte würdevolle Auffassung Frau Sophie Gay und Frau Cottin entgegen. Die Romantiker Vict. Hugo, Alfr. de Vigny, Alex. Dumas, Lacroix, M é rim é e verhalfen dem Roman zur unbestrittenen Herrschaft. Den historischen Roman pflegte Barginet, Paul de Musset u. a., den Sittenroman Balzac, Frau Mazure, Frau Foa, Hortense Allart u. a. Außerdem ist erwähnenswert der Begründer des Seeromans Eug è ne Sue, der über Voltaire und Lesage zu stellen ist. Voltaire liefert Karikaturen, Lesage schlechte Charaktere, Eug è ne Sue stellt den Schurken herrliche tugendhafte Charaktere (die bedenklichen Les mystères du peuple ausgenommen) gegenüber. Muster des guten Romans ist sein von Theod. Hell deutsch übersetzter Ewiger Jude, sowie seine Geheimnisse von Paris. Dieselben sind vom Geist der Wahrheit und der christlichen Humanität durchzogen. Beide Romane sind Zeitbücher, weshalb sie vom Lesepublikum aller Länder förmlich verschlungen wurden. Von den Seeromanen, die Sues Ruf begründeten, erwähne ich nur: Kernock le pirate , sowie La Salamandre . Jm Liebesroman hat sich die auch für Frauen-Emancipation wirkende George Sand hervorgethan, die wie Eug è ne Sue dem Roman sociale Jdeen vermählte. Jol pflegte den Abenteuerroman, Blaze den Soldatenroman, Nodier den phantastischen. Poetisch bedeutend sind die Romane der Sophie Gay und in der Neuzeit des Alphonse Daudet, dessen 1874 von der Akademie gekrönter Sittenroman Fromont jeune et Risler ainé ins Deutsche übertragen wurde und 1876 schon drei Auflagen erlebt hatte. Vielgelesen sind noch: Sta ë l=Holstein, Xavier de Maistre, Jony, About, Flaubert (dessen karthag. Roman Salammbô 1862 und L'éducation sentimentale Aufsehen erregten), V. Cherbuliez, in neuester Zeit der zweifelhafte Emile Zola u. a. V . England. Der englische Roman ist aus den Prosabearbeitungen der Metrical romances entstanden und erreichte bereits Anfangs des 18. Jahrh. eine nennenswerte Verbreitung. Der Begründer des neueren englischen Romans ist Daniel Defoe (1661─1731), dessen Robinson Crusoe durch Campes berühmte Nachbildung auch in Deutschland ungemein populär wurde. Samuel Richardson († 1761) schuf durch seine Romane Pamela, Grandison, Clarissa Harlowe den von Hermes nach Deutschland verpflanzten Familienroman. Fielding († 1754 mit Tom Jones ), Sterne († 1768 mit Tristram Shandy ), Smollet († 1771 mit Peregrine Pickle ) begründeten den humoristischen Familienroman. Jn unserem Jahrhundert drängte sich der Sensationsroman in den Vordergrund, sowie der durch Walter Scotts († 1832) Waverley-Novels begründete historische Roman, der von epochebildender Bedeutung für die Romanlitteratur aller Nationen wurde. Beliebt wurden auch die in Deutschland vielfach verbreiteten Gesellschaftsromane Bulwer-Lyttons. Charles Dickens (geb. 1812) und Thackeray, der Begründer des Sittenromans, pflegten in der Neuzeit den alten humoristischen Familienroman. Vielgelesene Romane schrieben noch Marryat, Trollope, Collins, Kingsley, Mrs. Wood. Der allergrößten Beliebtheit unter allen Romanschriftstellern Englands erfreut sich unstreitig Mary Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot die weltberühmten Romane The Mill on the floss, Felix Holt, Adam Bede, Middlemarch und Daniel Deronda &c. veröffentlicht hat &c. VI . Niederlande. Erst Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts begann die niederländische Romanlitteratur sich zu entfalten. Die Schriftstellerinnen Wolff und Deken liebten den Roman in Briefform. Breno Daalberg schrieb Sensationsromane. Den historischen Roman pflegte Jac. van Lennep († 1868), der seine Stoffe der vaterländischen Geschichte entlehnte. Neben ihm Frau Bosboom Toussaint, ferner Schimmel u. a. Der niederländische Auerbach ist Cremer. Der populärste Romanschriftsteller aber ist neben Snieders der in alle Sprachen übersetzte Hendrik (== Heinrich) Conscience. Seinen Ruf begründete der flämische Roman „Der Löwe von Flandern“, ein historischer Roman höheren Stils, dessen Handlung den Kampf sämtlicher flandrischer Städte gegen französische Usurpation umschließt. Ebenso bekannt wurde bei uns seine von Zoller u. a. übertragene Dorfgeschichte Der Rekrut u. a. VII . Schweden und Norwegen. Erwähnenswert ist der Romantiker Almqvist, sowie durch seine Pflege des historischen Romans Crusenstolpe; ferner die vielgelesene Frederike Bremer, Frau Flygare-Carlen, Frau Knorring, Palmblad, Ridderstad, Mellin, Schwarz, Topelius (schwedisch schreibender Finne) und von den Neueren besonders Rydberg, u. a. Von den Norwegern ist zu nennen: Björnson, Lie, Thoresen (Dorfgesch.), Colban, Glöersen und der nur deutsch schreibende Henrich Steffens († 1845. Vgl. dessen Romane Malkolm und Die vier Norweger &c.). VIII . Dänen. Jhre bedeutendsten Romanschriftsteller sind Jngemann (schrieb Ritterromane), Frau Gyllemburg, Blicher, Carl Bernhard, Goldschmidt, Ewald, Rumohr, Thisted, Drachmann, Jacobsen, Schandorph, Carit Etlar, Hauch und Andersen. Obwohl die Beliebtheit des Romans um die Mitte unseres Jahrhunderts sich steigerte, so ist doch nur der Name Bergsöe und seit 1870 G. Brandes von Bedeutung. IX . Russen. Jn Rußland wurde die Novelle mehr gepflegt als der Roman. Die bedeutendsten Romanschriftsteller und zugleich Novellisten sind: Turgenjew; Bulgarin, der historische Romane schrieb; und besonders der Meister des Romans: Gogol. Außer diesen sind in unserer Zeit gelesen: Dostojewskij, Pissemski, Tschernischewski (Verf. des berühmten Tendenzromans: Was ist zu thun?), Frau Pawlow, Helene Weltmann (die historische Romane schrieb) und viele andere. X . Ungarn. Der Roman wurde besonders durch den Piaristen Andreas Dugonics in die ungarische Litteratur eingeführt, sowie durch Könyi. Bedeutender als diese waren J ó sika, Eötvös († 1871), Kemeny, der historische Zustände trefflich malte, besonders aber der durch Humor und Phantasie glänzende, unübertroffene Moriz J ó kai. (Die größte Berühmtheit erlangte dessen Névleten vár , Das namenlose Schloß, dessen Motiv der französischen Geschichte entlehnt ist, während der wesentliche Teil der Geschichte in Ungarn spielt. Ein französischer Legitimist rettet die 11jährige Tochter Maria Antoinettens und flüchtet mit ihr nach Ungarn, wo er am Neusiedler See ein Schloß ─ das keinen Namen hat ─ ankauft. Zum Schluß acclimatisiert und nationalisiert sich der Retter und Ritter, wird Ungar &c.) XI . Nordamerika. Die hervorragendsten nordamerikanischen Romanschriftsteller sind Cooper und Washington Jrving. An sie reiht sich Hawthorne u. a. XII . Deutschland. Beim Abscheiden des Mittelalters ─ also mit dem Erlöschen der deutschen Heldensage ─ entstand bei uns zunächst eine Art Prosaepos, Prosaerzählungen, Übersetzungen von Ritterromanen &c. als Nachklänge der Rittersage: z. B. a . Eine Bearbeitung der Sage vom hörnernen Siegfried. (Jnhalt: Siegfried von Santen kommt im Wald zum Schmiede Minner, wo er mit einem Schlag den Amboß spaltet. Der erschreckte Meister schickt ihn in den Wald mit dem Auftrag, den furchtbaren Lindwurm zu töten; in Wirklichkeit will er ihm den Untergang bereiten. Siegfried erlegt den Drachen, badet sich im Blute dieses Ungeheuers, wodurch seine Haut bis auf eine durch ein Lindenblatt verdeckte Stelle hörnern wird. Nun erschlägt er den treulosen Schmied &c.) b . Weißkunig (Jnhalt: Lebensgeschichte des Kaisers Maximilians, der den von ihm entworfenen Plan durch seinen Geheimschreiber Max Treitzsauerwein ausführen ließ.) c . Übersetzungen aus dem Französischen: Die Haimonskinder ( I . 45); Die schöne Magelone; Melusina; Genofeva &c. &c. Das Aufkommen der italienischen Renaissancedichtung erzeugte die arkadischen Schäferromane und phantastische, romanartige Erzählungen, z. B. Das Buch der Liebe; Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhütlein; Wickrams Goldfaden (1557, neu durch Cl. Brentano 1809 herausgeg.), sowie das I. 49 A. a . Aufgeführte. Als Gegensatz zur Hof- und Volksdichtung entstand im 17. Jahrhundert der gelehrte, höfische Roman, sowie der Abenteuer- und Schelmenroman. (Aufzählung s. I 52 A. a .) Anfangs des 18. Jahrh. gewannen die Robinsonaden eine außerordentliche Verbreitung; es erschienen über 40 verschiedene Robinsone, ein geistlicher, ein jüdischer, ein medicinischer, ein westfälischer u. s. w. Das sich emporhebende Bürgertum ermöglichte im 18. Jahrh. den Familienroman, sowie ─ nach Walter Scotts Vorgang ─ den historischen Roman. Nach dem Romanversuche Gellerts (Die schwedische Gräfin) haben Wieland und neben ihm Musäus und Hermes die ersten vollkommenen deutschen Originalromane geschrieben. ( I 54 l . und 55 m .) Durch Schillers großartige Bühnenerfolge ( I 56) wurde für die Folge die deutsche Litteratur in neue Bahnen gelenkt; man verließ das Gebiet des Romans und der Novelle und suchte Erfolge im Drama. Da war es Goethe ( I 57), der die alten Versuche wieder aufnahm und den deutschen Roman auf die neue Stufe echt künstlerischer Darstellung emporhob. Er schrieb (seit 1807) die für die Wanderjahre bestimmten Novellen, zu denen auch die Wahlverwandtschaften gehören sollten, die jedoch während der Arbeit äußerlich wie innerlich zum Roman sich gestalteten. Der Vater des humoristischen Romans (der den Prometheusfunken des Romans ─ den Humor ─ von den Engländern Sterne, Swift, Fielding entlehnte) wurde Jean Paul (vgl. I . 58 auch seine Nachfolger). Eine eigenartige Färbung erhielt der Roman der Romantiker. Er leitete auf das christlich mystische Gebiet hinüber und trug mehr oder weniger eine gewisse Voreingenommenheit für Weichlichkeit, Sentimentalität, Abenteuerlichkeit, Farbenpracht &c. zur Schau (Aufzählung I 60). Auf Goethe blickend hatten es sich die Vertreter des jungen Deutschlands ( I 61) zur Aufgabe gemacht, eine geistvolle Prosa zu bieten und das geistreiche Element, die geistreiche Unterhaltung in den Roman einzuführen. Die charakteristischen Reden der Romanhelden benützten sie, das jedesmalige Handeln zu motivieren, zu erklären, ohne doch der dramatischen Lebendigkeit und der bunten Färbung zu entbehren. Der Leser sollte die behagliche Freude des Dichters am geistreichen Gespräch jedoch nicht merken. Da nun aber beim jeweiligen Begegnen der Charaktere des Romans deren Gespräch häufig in pointierte, der Befriedigung und Selbstbespiegelung der Sprechenden gewidmete Phrasen auslief, so mußte es den Anschein gewinnen, als ob manche Unterredung nur den glänzenden Phrasen zuliebe geschrieben sei; ja, es mußte sich fragen, ob durch die Spielereien des Scharfsinns, des Geistreichthuns und Geistreichtums nicht die schönen Bilder und Empfindungen der produzierenden Phantasie in den Hintergrund gedrängt wurden. So wurde es denn mit Jubel begrüßt, als sich allmählich ─ wie von selbst ─ eine neue gesunde Epoche in der Romanlitteratur vollzog durch Freytag, Keller, Reuter, L. v. Fran ç ois, Ebers, Gutzkow, Scheffel u. a.: durch Freytag, der das Volk bei seiner Arbeit aufsucht und indem er die Arbeit verherrlicht, den modernen socialen, aus dem vollen Menschenleben schöpfenden Roman bot; durch Keller, der durch seine objektive Darstellung, wie durch seine sonnigklare Erzählungsweise den epischen, volkstümlichen Roman ausbaute; durch Reuter, der neue Muster des humoristischen Romans und in „Ut mine Stromtid“ vielleicht den besten Roman der Gegenwart lieferte, dessen volle Anerkennung leider das Jdiom beschränkt; durch Luise v. Fran ç ois, die in anmutender Weise zeigte, wie ein moderner Roman philosophisch oder enger gefaßt pädagogisch sein kann, ohne abstoßend zu wirken; durch Ebers, der seine Historie und sein wissenschaftliches Material in der Form eines historischen Romans darbietet u. s. w. Diese Schriftsteller stellten sich auf den Boden eines gesunden Realismus, auf welchem in den letzten Decennien manche gute Pflanze emporgeblüht ist. Der deutsche Roman ist durch sie mindestens gesunder, naturgemäßer, der Wirklichkeit des Lebens entsprechender geworden. Zum Schluß dieser Zeichnung im großen Umriß haben wir im Anschluß an I S. 72 noch jene Romandichter zu nennen, welche innerhalb der letzten Periode von 1870 bis in die Gegenwart (eventuell auch noch von 1860─70) durch irgend eine nennenswerte oder berühmt gewordene Leistung sich bemerklich machten, ohne in Bd. I § 18 oder in den §§ 126─143 irgendwo genannt zu sein (wir erwähnen dabei auch einige Fremde, sofern deren ins Deutsche übersetzten Romane bei uns Einfluß übten): a . Historischer Roman: Außer den I S. 68 und 72 und 372 II ff. genannten Romanschriftstellern sind zu erwähnen: Adami, Breier, Brog, Busch, F. Dahn, Diez, Egan, Frenzel, Gayette-Georgens, Grant, Hamerling, Ernst Harmening, M. Hartmann, L. Herbert, Th. Hemsen, Ed. Jost, Kirchbach, Landsteiner, Langer, A. v. Liliencron (Giovanna 1881, behandelt die französische Revolution), Lippert, v. Maltitz, Konr. Ferd. Meyer (Georg Jenatsch, aus dem 30jähr. Krieg), Otfried Mylius, Neumann-Strehla, Norden, Philippson, Reichenbach, Rüffer, F. L. Schubert, Levin Schücking (ein Meister des historischen Sittenromans), H. J. Schwarz, F. Sonnenburg, P. Stein, v. Veltheim, Zistler u. a. b . Philosophischer Roman: Außer den I 72 und II 374 ff. Genannten: v. Auer, Belot, Brommer, Büchner, Erlburg, A. Fuchs, Pfarrius, C. M. Sauer, Stifft u. a. c . Moderner Roman (Zeitroman): Außer den I 68 und II 374 Genannten: Adolay, Aimars, v. Amyntor, Anthony, Auersberg, Av é =Lallemant, Belani, Berger, Berkow, Beta, v. Bibra, Billig, M. Bormann, G. F. Born, v. Brackel, T. S. Braun, G. v. Brühl, Collins, Dehnike, Dominikus, Dungern, Ebeling, Egan, K. Elmar, Fastenau, Ferry, Feuillet, Fr. Friedrich, Fritze, Gensichen, Gerstenberg, Grimard, W. Grothe, Baronin v. Grotthus, R. E. Hahn, Haidheim, Ed. Hammer, Heimburg, F. Helm, Henry, Herzog, Heßlein, v. Hillern, Hirschfeld, Höcker, O. Horn, J. P. Jakobsen, Jensen, Katsch, v. Keller, E. Kellner, Kettnacker, v. Kessel, Kittl, Klee, G. Knöpfer, E. Kronau, Kohlenegg, Krane, Krabbe, C. Kraus, Krause, Theod. und Anni Küster, L'Arronge, Mahler, H. Martin, Mels, Mitzlaff, O. Moser, L. Mühlfeld, Müller v. Königswinter, Nentwig, Olivier, Pflug, O. Pollak, Gust. zu Putlitz, Rafael, Reid, Reinfels, v. Roskowska, Rothenfels, El. Schack von Jgar, Max von Schlägel, H. Seidel, Smidt, Steen, Streckfuß, Tarnow, Vely, Verena, F. Th. Vischer, Vollmer, Walther, Weller, Widdern, Ziemssen u. a. d . Volkstümlicher Roman und Dorfgeschichte: Außer den I 73 und II 375 ff. Genannten: Alar ç on, Allwey, Anzengruber, A. Becker, A. Beneke, Biursten, Brandrupp, Ernst, E. Höfer, Holtei, Hans Hopfen, Kleinsteuber, Lenzen, B. Lohmann, Neumeister, Scheibe, Schweichel, Silberstein, Steltzig, Weber, J. Westphal, Wichert u. a. Einzelne Romanschriftsteller, die von uns weder I § 18 noch II § 126 bis 143 genannt wurden, ließen ihre z. T. recht gediegenen Romane im Feuilleton von Zeitungen oder in periodisch erscheinenden Journalen erscheinen. Gediegene Romane finden sich aber auch noch in folgenden Publikationen: Album, Bibliothek deutscher Originalromane; Album, eine Unterhaltungsbilbliothek; Bibliothek klassischer Romane; Museum, Bibliothek der besten Romane; Originalbibliothek deutscher Volksromane; Jllustrierte Romanbibliothek; Transatlantische R.B.; Neue R.B.; Günthers deutsche R.B.; Romanmagazin des Auslands; Roman- und Novellenbibliothek; Roman- und Novellenmappe; Wiener Romane; Deutsche Romanzeitung; Deutsche Romanbibl. zu Über Land und Meer; Jllustrierte Romane aller Nationen; Schäfers Romanblätter &c. (Vgl. auch S. 402 d. Bds.) Über die Geschichte des Romans haben geschrieben Wolff (Allg. Gesch. des Romans. Jena 1841. 1850); Eichendorff (Der deutsche Roman im 18. Jahrh. Leipzig 1851); Cholevius (Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jahrh. 1866); Fr. Kreyßig (Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart. Berl. 1877. 2. Aufl.); Felix Bobertag (Gesch. des Romans und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland. Bis jetzt 2 Bände erschienen) &c. § 145. Novelle. 1. Novelle ist eine künstlerisch ausgeführte, anmutige, frische, oft kühne Darstellung einer pikanten, interessanten Begebenheit: eine ansprechende, fesselnde Kunst-Erzählung, welche dem Bedürfnis einer erfahrenen, reifen, gebildeten Konversation entspricht. (Durch diese scharfe Begrenzung ist wohl ihre Verschiedenheit von der einfachen Erzählung, ferner von der kunst- und planlosen, unveredelten Erzählung des gewöhnlichen Lebens, sowie auch von der als Anekdote bezeichneten kurzen Erzählung einzelner interessanter Äußerungen, Züge oder Handlungen zur Genüge präzisiert. Näheres bringt die Ausführung sub 1 und 3.) 2. Wie von der einfachen Erzählung nach unten, so unterscheidet sich die Novelle auch nach oben von dem meist größeren, in den Situationen verwickelteren Roman, zu dem sie sich verhält, wie eine Episode aus dem Leben des Helden zu dessen völliger Entwickelung, oder wie ein Abschnitt aus der Weltgeschichte zur Weltgeschichte selbst. 3. Das Wort Novelle stammt von dem ital. novella oder dem französischen nouvelle und bedeutet soviel als Neuigkeit, kleine Neuig= keit, Anekdote. Boccaccio (im Decamerone) verlieh der Novelle kunstvollere Ausbildung. 4. Goethe faßte die Novelle wie Boccaccio auf. Die freie Form der Gegenwart verlieh ihr aber erst Tieck. Eine kleine Novelle heißt Novellette. (Beispiele der Novellette lieferte Rosenthal-Bonin im Heiratsdamm, sowie Wickede u. a.) 1. Jn der Theorie wie in der Praxis unterscheidet man zwischen Novelle und Erzählung folgendermaßen: Eine ruhig vorwärts schreitende Geschichte, welche die Begebenheiten der Reihe nach vom Anfang an vorführt und auf künstlerische Tüchtigkeit hinsichtlich der Erfindung und Ausführung verzichtet, heißt in der Regel nur Erzählung. Zur Novelle wird die Erzählung, wenn sie einen mehr dramatisch bewegten Ausdruck annimmt und bei den wichtigeren Momenten und Situationen verharrt, wenn sie ferner ihrem Helden a priori Bedeutung verleiht und durch dessen Schicksal volles Jnteresse erzeugt, wenn sie endlich nach der Hauptsache sofort abschließt, das Minderbedeutende der Ergänzung des Lesers überlassend. ─ Um ein Beispiel anzugeben, so läßt die Erzählung den Helden vom Vaterhause weggehen, begleitet ihn nach Hause und schildert in ungekünstelter Weise noch das erlebte, häusliche Glück; die Novelle dagegen beginnt außen, greift zurück in kunstvollen Jntermezzo's und bricht nach der Heimkehr des Helden ab, nachdem sie seine Zukunft hat ahnen lassen. (Vgl. den Schluß der Novelle Heyses S. 396 d. Bds.) 2. Während der Roman die Einheit in einer Reihe von Handlungen bietet, ist die Novelle eine einzelne Geschichte in möglichst einfacher durchsichtiger Weise. Sie verhält sich zum Roman, mit dem sie die Einteilung gemein hat, wie die poetische Erzählung zum Epos, wie der Kreisausschnitt zum Kreis. Während der Roman das gesamte Leben und somit alle Verhältnisse und Beziehungen des Helden umfaßt, hat die Novelle, die sich mit einem Lebensabschnitt begnügt, nur ein specielles, ein individuelles Jnteresse; während ferner der Roman den Charakter sich erst entwickeln läßt, genügt der Novelle ein bereits fertiger Charakter, den sie in eine Situation versetzt, in welcher er sich bewähren soll. Es ist daher die Novelle, als Episode aus dem Leben des Helden, in der Regel kürzer, als der Roman, obwohl die Kürze kein notwendiges Erfordernis der Novelle ist. Gar mancher ostensibel angezeigte Roman ist nur eine Novelle. Goethes Wahlverwandtschaften stehen zwischen Novelle und Roman. (Jn romanhafter Breite ist hier die Geschichte der unglücklichen Liebe beider Paare behandelt; aber die Beschränkung auf ein Liebesverhältnis engt diesen Roman fast zur Novelle ein.) Steffens' Roman Die Familie Walseth und Leith (1827) und Die vier Norweger sind zusammengefügte Novellen. Steffens hat ihnen den Namen Novellencyklus gegeben. Der berühmte Norweger hat das Verhältnis der Novelle zum Roman ähnlich genommen, wie das der epischen Rhapsodie zur Epopöe aufzufassen ist. Jm Roman muß sich alles aus den gegebenen Verhältnissen entwickeln und gewissermaßen als Folie einer höheren Weltordnung erscheinen, in der Novelle darf auch der Zufall walten. Jm allgemeinen muß man zugeben, daß der Roman, im Gegensatz zur Novelle, eine bestimmte Richtung auf die Sitte und das Historische nimmt, was bei der Novelle durchaus nicht nötig ist. Der Roman mit seinen vielen Personen repräsentiert die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit und wird dadurch lokal, ja national ─ historisch. Jn diesem Sinne könnte man sagen, daß jeder Roman national, historisch sei, wenn nicht für die Mitwelt, so doch für die Zukunft. (Wilhelm Meister und Der Titan sind für uns bereits eben solche geschichtliche Denkmale geworden, wie der Simplicissimus.) Die Novelle stellt ihre Figur und deren Geschick von der Gesellschaft abgesondert dar und bezweckt nur allgemein menschliches Jnteresse, wobei allerdings zuzugeben ist, daß eine Vereinigung von Novellen dem Ganzen ein historisches Gepräge zu verleihen im Stande ist. 3. Man bezeichnete ursprünglich jede eng begrenzte Erzählung oder Geschichte in Prosa als Novelle. So enthält z. B. die älteste, italienische Novellensammlung aus dem 13. Jahrhundert (die Cento novelle antiche ) viele Novellen, die wir eben historische Anekdoten nennen würden. Erst durch den Decamerone des Boccaccio († 1375), der keine einzige seiner an die Sage oder Geschichte sich anlehnenden hundert Novellen erfunden hat, erhielt die italienische Novelle kunstmäßigere Form und Ausbildung. Durch ihn wurde sie eine interessante, lebhaftere Erzählung, wie eine solche den Anforderungen der Gebildeten entspricht. 4. Goethe war der erste Dichter, der die Novelle in diesem Sinne auffaßte (in Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, diesen kleinen humoristisch sprudelnden Novellen im geistreichen Konversationston). Er nennt als sein Vorbild den Decamerone, während der gelehrte Julian Schmidt meint, Diderots Jacques le fataliste habe größeren Einfluß auf ihn geübt. Jn neuester Zeit hat die Novelle die größte Verbreitung in Zeitschriften gefunden. Tieck war es, welcher der Novelle eine unserer Zeit entsprechende freiere Form verlieh, indem er sich ihrer bediente, um interessante, wichtige Fragen und Jdeen klarzulegen. Er gab ihr auf diese Weise das Raisonnement des philosophischen Romans, wodurch sie natürlicherweise auch an Ausdehnung gewinnen mußte. Die gute Novelle, welche mit der flachen, banalen Feuilletonnovelle gewisser Vielschreiber nichts gemein hat, bietet nunmehr durch die Aussprüche ihrer Personen ein Bild der Zeit, und vermittelt auch die Resultate aus den Gebieten der Wissenschaft, der Moral und der Kunst &c. Die Novelle in Versen pflegte besonders auch Paul Heyse. (Vgl. Ges. Novellen in Versen 1863. 1870 &c.) § 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten. 1. Die Novelle verlangt einen fesselnden Grundgedanken, rasche Handlung, anziehende Gestalten, leichte, geistreiche, quellsprudelnde Darstellung, versöhnenden Schluß. 2. Daher muß sie die Prüfung eines geistreichen, gebildeten, erfahrenen Erzählers zu bestehen vermögen. 1. Jm Gegensatz zum Roman mit seiner bewußten, klaren, künstlerischen Komposition, seiner passenden Einleitung, Charakteristik der Figuren, Verwickelung, Katastrophe u. s. w. verlangt die Novelle die allereinfachste Anlage und Ausführung. Jhr Reiz liegt in der leichten, flüchtigen Zeichnung, nicht in der Bezugnahme auf Grundsätze, auf Sitte und Zeit. Sie muß sich durch Geist und Neuheit ihres Grundgedankens auszeichnen, wie durch poetisch=künstlerische Abrundung, und infolge der geringeren Verwickelungen durch rasch fortschreitende Handlung. Jhre Gestalten müssen anziehend und bedeutend sein, die Verwickelung einfach, leicht, effektvoll und geistvoll, die Darstellung, wie der ganze Plan klar, natürlich. Die sog. Breite des Epos, Episoden und lange Schilderungen sind dem Begriff der Novelle durchaus zuwider. Ebenso ist das Wunderbare in der Novelle, wie jedes nebensächliche, dem Begriff widersprechende Moment nicht am Platze. Auch darf die Katastrophe nicht eine drückende, unbehagliche Wirkung auf's Gemüt üben. Nur auf diese Weise wird die Novelle die Stelle einer geistvollen, pikanten Unterhaltung im gesellschaftlichen Leben zu vertreten vermögen. 2. Die Anforderungen an den Novellisten sind selbstredend keine geringen. Als in den Salons der Berliner Frauen, einer Bettina, einer Rahel u. a. die bedeutendsten Geister verkehrten, war die Blütezeit der deutschen Novelle. Berlin als Hauptort des Salons war auch das günstigste Terrain für die Novelle. Berlin ist auch heute noch die beste Schule für den Novellendichter, von dem man mehr als je die Fähigkeit einer leichten, angenehmen Unterhaltung, große Weltkenntnis, gründliches Wissen, Geist, Humor, Phantasie, besonders Fluß, Einfachheit und Klarheit der Erzählung fordern muß. Nur wer das menschliche Leben und Streben kennt und es mit universellem Sinn zu beurteilen versteht, wird seine Leser in die einzelnen Episoden desselben blicken lassen können. Er wird verstehen, oft mitten in unaufgeklärte Begebenheiten hinein zu versetzen, um zur rechten Zeit Aufklärung über Veranlassung und Beginn der Begebenheit zu geben. Vor allem wird er neue Gedanken zu bieten vermögen, die auch den Gebildeten interessieren und ihm zu der Überzeugung verhelfen, daß er sich in guter Gesellschaft befinde. Nicht immer leistet der Novellendichter zugleich auch Bedeutendes auf dem Gebiete des Romans. So hat sich z. B. Tieck, einer der besten Novellisten, mehrfach im Roman versucht. Aber die besten seiner Romane (selbst der 1840 erschienene Vittoria Accorombona nicht ausgenommen) machen lediglich den Eindruck weit ausgeführter Novellen. § 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische Stilproben. I . Als instruktive Beispiele, welche die verschiedenartige Behandlung der Novelle ersehen lassen, erwähnen wir: 1. Tiecks Zauberschloß. 2. Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehe. 3. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. 4. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. 5. W. Hauffs Die Bettlerin vom Pont des arts , sowie Phantasien im Bremer Ratskeller. 6. Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts. 7. Leopold Schefers Die Überschwemmung. 8. Ebers Eine Frage. 9. Ludwig Foglars Glaubensselig. 10. Prinz Emil zu Schönaich-Carolaths Tauwasser. 11. Paul Heyses Novellen in Versen, ferner Marion, und L'Arrabbiata. 12. Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Züricher Novellen und Das Sinngedicht. II . Für Jllustration des Stilfortschritts und der Stileigenheit beschränken wir uns auf drei charakteristische Proben: 1. aus Tiecks Zauberschloß, einer jener ersten Novellen, durch welche eine freiere Form der Novelle eingeleitet wurde; 2. aus L'Arrabbiata von Paul Heyse, einer der vorzüglichsten Novellen der Gegenwart; 3. aus einer dramatisch gehaltenen Frauennovelle (Durch Leid zu Freud) von der gern gelesenen Novellistin L. A. Weinzierl. 1. Aus Das Zauberschloß von Tieck. „Nur nicht auf diese Art raisonniert!“ rief der alte Freimund aus; „das Leben läßt sich nun einmal nicht so betrachten und noch weniger nach einigen Maximen einrichten. Hast du nicht die Fähigkeit, jeden einzelnen Fall recht als einen einzelnen, aus seinen fernen und nächsten Bedingnissen herausgestalteten zu erwägen, ihn mit Geschicklichkeit nach seinen Umständen zu lenken, und ihn so seiner Bestimmung entgegenzuschicken, so wirst du niemals ein brauchbarer Geschäftsmann werden, ja, auch als Privat immer nur an Zufälligkeit laborieren, ohne deines Lebens froh zu werden!“ „Zufälligkeit, Zufälle!“ antwortete ihm Schwieger: „diese sind es ja eben, die uns allenthalben zu thun machen. Und vollends, wenn nun gar, indem noch obenein, wenn etwa ─ ─“ „Donnerwetter!“ rief Freimund, indem ihm der Wachsstock aus der Hand fiel, mit welchem er mühsam in einen Wandschrank hineinleuchtete; „Sebastian! Angezündet!“ Der Diener kam, hob die Wachsschere vom Boden auf und Freimund legte tiefatmend das lange thönerne Rohr, an welchem er geraucht hatte, auf den Tisch. Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Sopha, in tiefen Gedanken verloren. Der Diener brachte das Licht, Freimund nahm es in die Linke, die Pfeife in die Rechte, und ging wieder an den Schrank, mühsam und ängstlich in Papieren suchend, indem ihm große Schweißtropfen von der Stirne rannen. Es war in den heißesten Tagen des Julius und dem Kramenden war es sehr mühsam, das Licht zu lenken, mit der rechten Hand die Akten zu sondern, sie anders zu packen und schnell einzusehen, und wieder, auf Augenblicke m