Deutsche Poetik . ────── Theoretisch-praktisches Handbuch der deutschen Dichtkunst . Nach den Anforderungen der Gegenwart von Dr . C. Beyer. ────── Dritter Band. ────── Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1884. Die Technik der Dichtkunst. ────── Anleitung zum Vers- und Strophenbau und zur Übersetzungskunst von Dr . C. Beyer. ────── Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1884. K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart. Einleitung als Vorwort. ────── Der Bücher Väter sind's ─ die Spender sind's Des großen Zauberhorts. Jch sehe sie Bei ihrer Arbeit in den stillen Zellen, Bei ihren Lampen, seh' die heißen Stirnen, Das müde Zucken ihrer bleichen Lippen, Jch sehe sie vom Schweiß der Mühen triefen Jm Frohn der eignen schöpferischen Kraft. O, die ihr leset, habt ihr je bedacht, Wie viele Stunden lang gereift im Stillen, Was euch minutenlang ergötzt? Erwäget ihr, Wie viel des Dochtes sich in so viel Licht, Jn so viel Glut verzehrte? Wisset ihr, Wie zu dem Strauß, der euch mit Duft umströmt, Sich Blum' an Blume mühevoll gefügt? Wie schwer der Stirn, dem Herzen sich entrungen, Was ihr wie Schaumwein aus dem Spitzglas schlürft? ─ Ja, geistig Schaffen auch ist Arbeit, wißt, Jst Tagewerk; ist Tagwerk mehr als je, Seitdem von einsamen Parnassoshöhn Hinunter zu dem Volk die Muse stieg. ─ ─ (Rob. Hamerling. Aus Prolog z. 26. Jahrg. d. Westerm. Mon.=Hefte.) Mit dem vorliegenden 3. Bande dieses Werkes ist das vorzugsweise aus Beispielen der deutschen Litteratur, sowie aus den Lehren der besten Schriftsteller auf dem Gebiete der Ästhetik und aus den Dichtwerken aller Nationen geschöpfte große System der Poetik in seinem ganzen weiten Umfange abgeschlossen. Der Jnhalt dieses Bandes verhält sich zu dem der beiden ersten Bände, wie Praxis zu Theorie. Er hat sich die Aufgabe gestellt, die Methode der dichterischen Technik zu zeigen und das bezügliche Material in einem vom Leichteren zum Schwereren aufsteigenden Stufengange zu liefern. Er will also praktisch in die Technik der Poesie einführen und mindestens die Befähigung zur Vers- und Strophenbildung erzielen. Hiermit unternimmt er den kühnen Versuch, die seither mehr oder weniger dem Zufall überlassene Erlernung dichterischer Technik als Lehrdisziplin nach methodisch=pädagogischen Prinzipien in die Litteratur einzuführen. Dem Bedenken jener, welche aus unserem Beginnen eine Vermehrung der Dichterlinge und Reimschmiede prophezeien möchten, erwidern wir zunächst folgendes: Es ist noch keinem die Behauptung in den Sinn gekommen, daß die auf unseren Gymnasien so fleißig betriebenen Übungen in lateinischer Prosodik und Metrik und in lateinischer Versbildung lateinische Dichterlinge und Reimschmiede geschaffen hätten. Ebensowenig hat man ein Überwuchern von stümpernden Rednern und dilettierenden Schriftstellern infolge der rhetorischen und stilistischen Übungen an unseren höheren Lehranstalten wahrgenommen. Niemand endlich hat bis jetzt bemerkt, daß die Schüler unserer Musik=, Zeichen- und Malerschulen insgesamt das Proletariat der Stümper in der Musik=, Zeichen- und Malerkunst vermehrt hätten. Man erblickt heutzutage mit Recht die Aufgabe dieser Anstalten darin, die ästhetische Durchschnittsbildung des Jahrhunderts zu heben und dem einzelnen das Leben zu verschönern durch ein reicheres Maß von Fertigkeiten, durch größere Reife des Urteils und namentlich durch Bildung des bisher so sträflich vernachlässigten ästhetischen Geschmacks, ─ und man ist zufrieden, wenn nur hie und da ein bedeutender Künstler aus ihnen hervorgeht. Jn ähnlicher Weise könnte man sich belohnt fühlen, wenn unsere praktischen Unterweisungen auch nur einzelne wirkliche Dichtertalente in die richtigen Bahnen lenken, dafür aber die ästhetische Mittelbildung unserer Zeit (d. h. die Durchschnittshöhe des von Bildung nach Regeln und Mustern abhängigen Kunstgeschmacks) zu steigern vermöchten. Dadurch würden sie auch den Dilettantismus bekämpfen und die Flut mittelmäßiger Gedichte eindämmen. Wer sich im deutschen Vers- und Strophenbau praktisch geübt hat, wer die poetischen Formen mit Beachtung aller Anforderungen und Feinheiten in den Kunstgriffen nachbildete, wer einsehen lernte, wieviel zu einem guten Gedichte gehört, der wird sich zweifellos ernstlich scheuen, dem im Geschmack gehobenen Publikum halbreife Früchte aufzutischen. Viele meinen, daß ästhetisches Fühlen, genießendes Verständnis der Dichter und dichterisches Hervorbringen gar keine besondere Schulung nötig habe, während doch in Wahrheit die Dichtkunst, wenn sie es zur Meisterschaft bringen will, die schwerste aller Künste ist, weil sie zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben eine größere Fülle und Tiefe lebendigen Wissens und Könnens voraussetzt, als die andern Künste, bei welchen die technischen Schwierigkeiten schon durch deren handgreifliches Arbeitsmaterial mehr in die Augen springen. Aus einem Marmorblocke eine Göttin oder aus den Farben einer Palette ein schönes Bild hervorzuzaubern, erscheint dem Laien schwieriger, als aus der unsichtbaren Sprache, die er selbst im Munde führt, ein schönes Gedicht zu schaffen; denn er weiß nicht, daß die Sprache einem Dichter, der nicht auf bereits ausgetretenen Bahnen wandelt, ein noch spröderer Stoff ist, als dem Bildhauer der härteste Marmor (Bodenstedt). Die Verskunst setzt energische Schulung voraus; sie muß, wie das Zeichnen, das Malen, das Klavierspielen und die musikalische Komposition gründlich erlernt und nachhaltig geübt werden. Ohne Anweisung, ohne Abstraktion der Regeln aus den besseren Dichtwerken &c. hätten ja auch die klassischen Dichter gewisse, aus der ältesten Zeit sich herschreibende Gesetze der Dichtkunst so wenig geübt, als mancher Dichterling unserer Tage oder die Dichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Goethe gesteht, daß seinen Meisterdichtungen recht ernstes Ringen, rücksichtslose Selbstkritik und Belehrung seitens anderer vorausgegangen seien; und Herder ist der Ansicht, daß die Poesie nicht die Domäne einiger hervorragender Geister sei, sondern einer Gesamtheit, die wir Volk nennen. Friedrich Rückert, dessen Ahnen Bauern waren, hat eine unausgesetzte Schulung an sich vollzogen und sich zum klassischen Dichter emporgerungen. Die Poesie ist eben nichts weniger als ein angeborenes Vorrecht von nur wenigen Menschen. Fähigkeit und Anlage zur Poesie hat der ewige Baumeister aller Welten in größerem oder geringerem Grade in des Menschen Brust gelegt, und es kann daher ein jeder ─ ohne Dichter werden zu wollen ─ ebenso gut einen gelungenen Vers bilden lernen, als er es ohne Schriftsteller werden zu sollen ─ zur Herstellung eines guten Prosastücks zu bringen vermag. Es soll freilich nicht behauptet werden, daß Schulung an sich zum guten klassischen Gedichte führen müsse, daß also einzig und allein die Virtuosität in der Technik den großen Dichter mache. Wir Deutsche verlangen vom Dichter neben Virtuosität in der Technik noch Tiefe und Gediegenheit des Gedankens; diesen kann nur derjenige mit der Form verschmelzen, welcher die Melodie aus dem Rhythmus und das Feuer der Begeisterung aus dem Wohllaut der Metapher durch seinen zur Klarheit, Lebendigkeit und Gewandtheit des Geistes und der Phantasie führenden, poetischen Entwickelungsgang seinem geistigen Jch vermählt hat. Einen jeden zum großen Dichter bilden zu wollen, dürfte überhaupt und im allgemeinen eine unlösbare Aufgabe sein, weil ja neben Anleitung zum Vers- und Strophenbau der ganze Bildungsgang in Betracht kommt. Aber einen phantasiereichen Menschen, einen talentvollen, harmonisch entwickelten Jüngling, eine dem Jdealen zustrebende Jungfrau auf Pfade zu leiten, auf denen unsere klassischen Dichter Großes leisteten, das muß eine würdige, ─ eine lohnende Aufgabe sein! Noch nach einer anderen Richtung möchte der vorliegende Band eine eigenartige Stellung und Bedeutung beanspruchen. Durch Behandlung, Einteilung und Gruppierung des dichterischen Stoffes erwächst nämlich dem Lernenden Kenntnis vom Bau der Sprache und der Dichtungen, sowie Einsicht in Gesetz und Regel; er lernt das Schöne in Form und Jnhalt empfinden; es tritt ihm die Anschaulichkeit und Feinheit des dichterischen Gegenstandes wie der Unterschied in der dichterischen Stilhöhe entgegen; er ist veranlaßt, die Laute in ihrer Mischung und Anordnung zu vergleichen, die Härten zu vermeiden, das jeweilige Reim-Echo behufs Erreichung zierender Reime zu prüfen, in den Geist der Strophik im Hinblick auf Stoff und Form einzudringen u. a. m. Ohne Zweifel wird dadurch der frische, lebendige, sprachliche Ausdruck begünstigt oder gefördert, die Fähigkeit form= und inhaltsvoller Darstellung von Jdeen und Gefühlen gesteigert, das Urteil erweitert, der ästhetische Geschmack veredelt, die Phantasie belebt und somit der Lernende ─ ohne jegliche poetische Fiktion ─ mehr als durch irgend eine andere Unterrichtsdisciplin in eine höhere Sphäre menschlichen idealen Seins und ästhetischen Fühlens emporgehoben. Dies ist die gleichsam pädagogische Bedeutung unserer Arbeit. Ein namhafter Dichter hat einmal geäußert, daß niemand auf poetischen Gebieten mitzusprechen berechtigt sei, der nicht die Praxis mit der Theorie verbunden habe. Wir setzen hinzu: Nichts Vollendeteres könnte es geben, als eine Nation, in welcher jeder Gebildete hierbei mitzusprechen vermöchte, in welcher jeder seinen Vers ebenso zu bilden verstünde, wie seinen Prosaaufsatz; dann würde das Dilettantische nur geringe Verbreitung finden; dann würden die wirklich bedeutenden Dichter, getragen von der höheren ästhetischen Mittelbildung der Nation, in Wahrheit Leitsterne des Jahrhunderts sein! ─ Hiermit kommen wir auf unsere Übungen selbst zu sprechen. Schon ein Blick in das Jnhaltsverzeichnis wird darthun, daß wir allen Rhythmen, Strophen, Formen, Gleichklängen, Dichtungsgattungen &c. unsere Beachtung zuwandten. Wir haben eine systematische Folge vom einfachen Jambus bis zu den schwierigsten deutsch nationalen und fremden Strophenbildungen eingehalten und den Weg gezeigt, den der zur Selbständigkeit geführte Kunstjünger zu wandeln hat. Überall schickten wir die präzise Anleitung und die praktischen Vorschriften und Winke über Gesetze und Regeln voraus, so daß der Schaffende nicht erst die Handwerksvorteile mühsam zusammenzusuchen oder zu abstrahieren braucht; überall bahnten wir eine Anleitung zur Kritik an und suchten die Voraussetzungen für das eigene dichterische Schaffen zu formulieren oder die Regel aufzustellen. Aber auch die Bildung und Behandlung aller jener Formen der Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik haben wir gezeigt, welche irgend eine Schwierigkeit in der Technik bieten, oder deren Handhabung besondere Kunstgriffe beansprucht. Jene wenigen Dichtungsgattungen, welche in ihrer äußeren Form nicht von den in diesem Bande behandelten abweichen, konnten um so eher weggelassen werden, als wir das präzise Maß wahren mußten. Auch übergingen wir einige stofflich umfangreiche Gattungen, deren Technik und Bau mit allen ihren Feinheiten bereits in den betreffenden Paragraphen der beiden ersten Bände dieser Poetik abgehandelt sind, so daß auf diese erschöpfende Quelle verwiesen werden kann. Alle Handgriffe im Aufbau der prosaischen Gattungen (Roman und Novelle) wurden mit einer wohl in allen Litteraturen ohne Beispiel dastehenden Ausführlichkeit bekanntlich im zweiten Band unserer Poetik behandelt und durften daher in diesem Bande nicht wiederholt werden. Das Gleiche ist hinsichtlich der Technik des Dramas der Fall. Die Paragraphen 20─43 und 149─177 des 2. Bandes dieser Poetik wurden ja auch bereits von den geachtetsten Dichtern als eine erschöpfende Dramaturgie begrüßt. (Die praktische Anleitung zu einem Dramolett bietet übrigens S. 165 ff. dieses Bands.) Es lag weiter im Bereiche der Anforderungen an unser Werk, auch die Übersetzungen aus fremden Sprachen zu berücksichtigen. Da gute Übersetzungen der Gedichte Wiederholungen derselben in anderen Sprachen sind, so muß unseres Erachtens das Verständnis und die Befähigung angebahnt werden, solche Übersetzungen zu liefern, bei denen Harmonie zwischen Jnhalt und Form herrscht, wie sie im Original besteht. Es muß die Übersetzung mindestens der guten Kopie des Gemäldes zu vergleichen sein, wie dies beispielsweise von den Schlegel-Tieckschen, oder Baudissinschen Übersetzungen Shakespeare'scher Dramen, besonders aber von Em. Geibels, Th. Kaysers, Osw. Marbachs Übersetzungen klassischer Dichter, und Ferd. Freiligraths Übertragungen neuerer Dichter zu rühmen ist. Es genügte uns deshalb nicht, nur durch geschichtliche Darstellung des Anfangs und der Entwickelung deutscher Übersetzungskunst in deren Wesen und Begriff einzuführen; vielmehr haben wir aus den sämtlichen Übersetzungen aller Zeiten Grundsätze und Anforderungen an Übersetzung und Übersetzer abstrahiert und an markanten Beispielen gezeigt, wie der Lernende durch Vergleichung und Benützung des ihm gegebenen Stoffes zur Höhe des vollkommenen Übersetzers zu gelangen vermag. Auch die Praxis der Dialektdichtungen durften wir nicht unbeachtet lassen. Wie viele Denkmale deutscher Dialekt-Poesie sind von so hohem Werte, daß sie im Lichte unserer hochdeutschen Poesie immerhin zum klaren Verständnis gebracht zu werden verdienen! Selbst die historische Vergleichung verdienten diese Denkmale; denn es ist mindestens die Erwägung wertvoll, ob die neue Bildung einer allgemeinen hochdeutschen Poesie an die Zerrüttung der dialektischen Laut= und Tonverhältnisse, oder ─ wie es sicher der Fall ist ─ an den Einfluß der Accentuation im niederdeutschen Dialekt geknüpft war u. s. w. Bei den von uns gewählten Beispielen leitete uns der pädagogische Erfahrungssatz, daß der Schüler dasjenige gern erstrebt, was ihm erreichbar erscheint, während ihn allzuhohe Ziele leicht entmutigen können. Wo es sich darum handelte, ästhetisch zu wirken, die Schönheit der Sprache zu zeigen, Herz und Geist zu erheben und die Phantasie zu beleben, da sind die allerbesten klassischen Beispiele geboten worden; wo es jedoch nur auf nackte korrekte Form ankam, mußten zuweilen Lösungen eintreten, welche lediglich den Nachweis der Regel ergaben und unschwer erkennen ließen, wie leicht der gegebene Stoff zu bearbeiten sei &c. Zum Schlusse danken wir noch für die unzähligen Ermutigungen und Auszeichnungen, welche die beiden ersten Bände unserer Poetik seitens kompetenter Richter, seitens unserer namhaftesten Dichter &c. gefunden haben. Für eine der lohnendsten Errungenschaften unseres Werkes erachten wir es aber, daß der uns seitdem befreundet gewordene treffliche Dichter Dr . Faust Pachler, 1. Kustos der k. k. Hofbibliothek in Wien, bei der Korrektur des vorliegenden Bandes uns in zuvorkommender Weise seine ergiebige Beihilfe lieh; desgleichen der verdiente Philologe und Schriftsteller, Gymnasialdirektor Dr . G. Autenrieth, sowie der bekannte Übersetzer Hofrat Dr . E. v. Zoller und andere hervorragende Fachgelehrte. Möge unser Volk nunmehr auch an diesem dritten und letzten Bande der deutschen Poetik freudigen Anteil nehmen, damit unsere seit drei Decennien rastlos geförderte große Arbeit den erstrebten und ersehnten wesentlichen Beitrag liefere für endliche Begründung und Vollendung einer Wissenschaft der Poetik, für Wertschätzung und Bewunderung deutscher Poesie, wie für Pflege und Verallgemeinerung deutschen poetischen Geistes! Stuttgart, 13. Juli 1883. Dr . C. Beyer. Jnhalts-Verzeichnis. ────── Deutsche Poetik. Dritter Teil. Die Technik der Dichtkunst. Einleitung als Vorwort. Erstes Hauptstück: Reimlose, auf dem Rhythmus beruhende Verse. (Redeverse.) I . Übungen im jambischen Rhythmus. Seite § 1. Bildung jambischer Verstakte 1 § 2. Bildung jambischer Viertakter 3 § 3. Bildung jambischer Quinare (Blankverse) 6 § 4. Bildung des neuen Senars (Trimeter) 12 § 5. Bildung des reimlosen neuen Nibelungenverses 16 § 6. Bildung von Alexandrinern 19 II . Übungen im trochäischen Rhythmus. § 7. Bildung trochäischer Verstakte 20 § 8. Bildung trochäischer Viertakter 21 § 9. Bildung trochäischer Quinare 23 III . Übungen im anapästischen Rhythmus. § 10. Bildung anapästischer Verstakte 26 § 11. Bildung anapästischer Viertakter 28 § 12. Bildung anapästischer Achttakter 30 IV . Übungen im heroischen Versmaß. § 13. Bildung von deutschen Accenthexametern 32 § 14. Bildung von deutschen Pentametern 36 § 15. Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter 37 V . Übungen im gemischten Rhythmus. § 16. Bildung logaödischer (gemischter) Verse 42 Zweites Hauptstück: Reimverse. I . Übungen in allitterierenden und assonierenden Versen. Seite § 17. Bildung allitterierender Verse 44 § 18. Bildung assonierender Verse 46 § 19. Bildung allitterierend=assonierender Verse 48 II . Übungen im Reimsuchen und Reimbilden. § 20. Versuche im Reimen der Prosarede. (Gereimte Prosa. Makamenform) 49 § 21. Strengere Form der Reime. (Vorgeschriebene Reime. Ghasele) 57 § 22. Bildung von abwechselnd reimlosen und gereimten Verszeilen 62 § 23. Bildung von ununterbrochenen Reimversen 64 § 24. Schriftliche und mündliche Übungen im Metrum und im Reim 66 A . Mündliche Umbildung mittelhochdeutscher Gedichte 67 B . Schriftliche Umbildung von Fabeln 68 C . Mannigfaltige Umbildungen der nämlichen Gedichte 70 ────── Drittes Hauptstück: Strophenbildung. § 25. Einführung in die Strophenbildung 72 § 26. I . Anfänge der Strophenbildung und Entwickelung derselben (Philosophie des Strophenbaus) 73 II . Länge der Verszeilen und der Strophen: A . Zeilenlänge, B . Strophenlänge, C . Normen für die Zeilen und Strophenlängen 74 III . Rhythmus und Reim bei den Strophen 75 IV . Verbindung längerer Strophen und das strophische Charakteristikum 76 V . Einteilung des Gedichtstoffes 77 § 27. Bildung jambischer Reimstrophen 78 § 28. Bildung gereimter Nibelungenstrophen (Langzeilen) 82 § 29. Bildung von Strophen aus gebrochen geschriebenen neuen Nibelungenversen 85 § 30. Bildung mittelhochdeutscher Nibelungenstrophen 87 § 31. Bildung von Alexandrinerstrophen 89 § 32. Bildung trochäischer Reimstrophen 92 § 33. Bildung daktylischer Reimstrophen 95 § 34. Bildung trochäisch=daktylischer Reimstrophen 96 § 35. Bildung jambisch=anapästischer Reimstrophen 97 § 36. Bildung von Reimstrophen mit strophischem Charakteristikum oder mit charakteristischer Verbindung mehrerer Reimformen 98 § 37. Freie Accentverse zu freien Strophen vereint 101 ────── Viertes Hauptstück: Fremde moderne Strophen und Dichtungsformen. (Südliche Formen.) § 38. Bildung von Sonetten 104 § 39. Bildung von Ritornellen 106 Seite § 40. Bildung von Terzinen 107 § 41. Bildung von Oktaven (Stanzen) 108 § 42. Bildung von Sicilianen 112 § 43. Bildung von Decimen 113 § 44. Bildung von Trioletten 113 § 45. Umbildung eines dichterischen Stoffes in alle möglichen Vers= und Strophenarten. (Eine Prüfungsaufgabe) 115 § 46. Übungen ohne Ende 124 ────── Fünftes Hauptstück: Antike Strophenformen. § 47. Vorbemerkungen und Stellungnahme 125 § 48. Bildung von sapphischen Strophen. (Trochäisch=daktylischer Rhythmus) 127 § 49. Bildung von alkäischen Strophen. (Jambisch=anapästischer und daktylisch=trochäischer Rhythmus) 129 § 50. Bildung asklepiadeischer Strophen 130 ────── Sechstes Hauptstück: Dichtungsgattungen mit Bevorzugung des Gelegenheitsgedichts. § 51. Wie entsteht ein Gedicht? 133 § 52. Die Praxis der Versbehandlung 135 § 53. Vorbemerkungen zu den Gelegenheitsgedichten 136 I . Gedichte aus dem Bereiche der Didaktik. § 54. Bildung von Rätseln aller Formen 137 § 55. Bildung von Epigrammen. (Stammbuchvers. Taufspruch. Trinkspruch) 141 § 56. Kurze lyrisch=didaktische Form. (Poetischer Gruß) 145 § 57. Poetische Epistel. (An einen Arzt) 145 § 58. Wirkliches Lehrgedicht. (Gedicht für Wohlthätigkeitszweck) 146 II . Gedichte aus dem Bereiche der Lyrik. § 59. Elegisches Gedicht. (Einer Braut zum Hochzeitstage) 148 § 60. Jdyllisches Gedicht. (Geburtstagsgedicht für den Freund) 149 § 61. Geselliges Gedicht. (Abschiedsgedicht für einen Freund. Zu einer goldenen Hochzeit. Für einen wiedergenesenen Vater) 151 § 62. Religiöses Lied. (Zum neuen Jahr) 156 § 63. Reim-Ode. (Zum Wiegenfeste eines Dichters) 157 § 64. Dithyrambus. (Hochzeitsgedicht) 158 § 65. Elegie. (Trostgedicht) 159 § 66. Hymnus. (Zum Ernte- und Dankfest) 160 III . Gedichte aus dem Bereiche der Epik. § 67. Poetische Erzählung 161 IV . Gedichte aus dem Bereiche der Dramatik. Seite § 68. Einweihungskantatine 163 § 69. Dramatisches Gedicht in einem Akte 165 ────── Siebentes Hauptstück: Die Praxis der Dialektpoesie. (Winke, Gesichtspunkte, Handgriffe.) § 70. Allgemeines und Geschichtliches zur Einführung 175 § 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen 176 § 72. Stoffe der Dialektpoesie 177 § 73. Grenze der Abscheidung zwischen Hochdeutsch und Dialekt, oder Behandlungsmöglichkeit eines Stoffs für dialektische Poesie 178 § 74. Behandlung der Stoffe 178 § 75. Ausdrucksweise und Sprache des Dialektgedichts 178 § 76. Übertragung des Dialektgedichts ins Hochdeutsche und umgekehrt 179 § 77. Anforderungen an den Dialektdichter 183 ────── Achtes Hauptstück: Übersetzungskunst. § 78. Allgemeines und Geschichtliches zur Orientierung und Einführung. Die Ausgangspunkte der deutschen Übersetzungskunst 184 Voß als Begründer der deutschen Übersetzungskunst 186 Goethe's Einfluß. Platens Einfluß 188 I . Griechische Dichter 188 a . Epik 188 b . Griechische Lyrik 190 c . Dramatische Dichtung 191 Moderne Bearbeitungen der griechischen Tragiker 193 II . Römische Dichter 193 Überblick 196 § 79. Anforderungen und Grundsätze 197 A . Anforderungen an die Übersetzung 198 B . Anforderungen an den Übersetzer und Anleitung 203 § 80. Einblicke in die Geheimnisse der Übersetzerpraxis. (Handgriffe, Methode der Übersetzerfeile &c.) 209 § 81. Ernste Mahnung an den angehenden Dichter 219 § 82. Methode und Technik der Übersetzungskunst. (An einem Beispiel nachgewiesen) 219 Übersetzungsversuche aus verschiedenen Sprachen: § 83. Griechische Sprache. A . Übersetzungen aus der Epik 229 B . „ „ „ Lyrik 231 C . „ „ „ Tragödie 233 § 84. Lateinische Sprache 237 § 85. Übersetzungsversuche aus dem Französischen 244 § 86. „ „ „ Englischen 249 § 87. „ „ „ Jtalienischen 251 Seite § 88. Übersetzungsversuche aus dem Spanischen 253 § 89. „ „ „ Portugiesischen 257 § 90. „ „ „ Schwedischen 260 ────── Neuntes Hauptstück: Selbstkritik und dichterische Feile. § 91. Angeborenes Genie. Die Selbstkritik der namhaftesten Dichter 264 § 92. Normen, Grundsätze, Ratschläge für Selbstkritik und Feile 264 § 93. Praktische Nachweise der Selbstkritik und der dichterischen Feile an guten Beispielen 265 § 94. Feile einzelner Verse und Strophen 266 a . Schiller 266 b . Wieland 267 c . Lessing 268 d . Klopstock 269 e . Körner 270 f . Mörike 270 g . Rückert 272 § 95. Feile oder Umarbeitung ganzer Gedichte. Lessing 273 § 96. Feile in Überarbeitung fremder Schöpfungen. Hauff 274 § 97. Schlußbemerkungen 275 Die Technik der Dichtkunst. Jm Fleiß kann dich die Biene meistern, Jn der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein; Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern: Die Kunst, o Mensch, hast du allein. Schiller. Die Kunst bleibt Kunst! Wer sie nicht durchgedacht, Der kann sich keinen Künstler nennen. Goethe. Der ist der Meister, welcher leicht vollbracht hat, Was allzuleicht der Schüler sich gedacht hat. Gisbert Frhr. v. Vincke. Erstes Hauptstück. Reimlose, auf dem Rhythmus beruhende Verse (Redeverse). ────── I . Übungen im jambischen Rhythmus. § 1. Bildung jambischer Verstakte. 1. Wir beginnen die praktische Anleitung und Einführung in den deutschen Vers- und Strophenbau mit Bildung jambischer Verstakte (⏑ –), welche am leichtesten herzustellen sind. Es ist für den Anfang gestattet, die prosaischen Wendungen des Stoffes beizubehalten, da es lediglich darauf ankommt, daß möglichst reine Accentjamben gebildet werden. 2. Nicht die (auf der geregelten Folge von kurzen und langen Silben beruhende) sog. Silbenquantität ist es also, worauf unsere Übungen abzielen, sondern der von betonten und unbetonten Silben abhängende deutsch=accentuierende Rhythmus. Der Accent muß in unserer accentuierenden Sprache wie ein Heiligtum gepflegt werden. 3. Lediglich betonte, vom Accent getroffene Silben (Stammsilben) dürfen zu Arsen (Hebungen) gewählt werden. Dieselben können also nie in die Thesis (Senkung) gestellt werden, wohl aber gehören unbetonte bis mitteltonige Silben in die Thesis. 4. Man muß sich hüten, sprachlich unbetonten Silben durch Versetzung in die Arsis den Hochton (den rhythmischen oder Verston) zu verleihen, wie dies im Beispiel „Das fūrcht | bărē | Geschlecht | der Nacht“ geschah; es würden sonst Sprache und Rhythmus miteinander in Streit geraten. (Es giebt nur zwei richtige Betonungen des Wortes furchtbare, nämlich: „fūrchtbărĕ Geschlēcht“, d. i. das fürchterliche, oder fūrchtbārĕ, d. i. fūrchtlōsĕ. Aber furchtbārĕ und fūrchtlōsĕ spricht niemand, höchstens fūrcht ̆ barĕ, wo sodann fūrchtbār reiner Spondeus [– –] wird.) 5. Eine betonte Silbe kann den Vollton einbüßen und für die Thesis geeignet werden, wenn sie sich mit der nachfolgenden so verschmilzt, daß man von einer Art Enklisis (Zurückwerfen des Accentes) sprechen könnte, z. B. Fraŭ Mēisterin sagte zu &c., oder: Hĕrr Vāter, ihr &c., oder: Ăch, Mūtter, ăch, Mūtter &c. 6. Umgekehrt kann ausnahmsweise sogar ein Artikel oder eine Präposition zur Länge erhoben und für die Arsisstellung geeignet werden, wenn der Vollton sie trifft: a . der weit von seinem Substantiv abgerückte Artikel z. B.: O zeigt | mir dēn | von ihr | gelieb | ten Freund! b . die den Gegensatz hervorrufende Präposition z. B.: Nĭcht vōr | dem Walde liegt der Feind. 7. Es ist nicht nötig, daß jeder Satz mit einem Jambus endige. Vielmehr können einzelne Sätze trochäisch (– ⏑) schließen und die nachfolgenden Sätze trotzdem mit Jamben beginnen, da die Pausen hinzugerechnet werden dürfen. 8. Da unsere Sprache trochäischen Grundcharakter hat, also das Einsetzen mit der Arsis fordert, so werden dem Lernenden mehr trochäische Satztakte in die Quere kommen, als er wünschen mag. Er wird dieselben vermeiden können, wenn er Wörter mit Vorsilben einfügt (z. B. vĕrgēben, gĕlēiten, bĕsprēchen, ĕrnǟhren &c.). 9. Ein Kunstmittel, jambische Takte zu erhalten, besteht auch darin, daß man zwischen volltonige, schwere Silben (z. B. That, Wort) sog. Flickwörter oder auch Flexionssilben einschiebt (z. B. Thāt und Wōrt, oder Thātĕn, Wōrte). 10. Aus phonetischen Gründen ist eine Abwechselung der Vokale in den Arsen wünschenswert. 11. Zu vermeiden sind mehrere, dicht hinter einander kommende, einsilbige Wörter, da jedes derselben den Hochton verdient und somit durch Vereinigung vieler derselben der Rhythmus ins Schwanken gebracht werden kann. 12. Da wir uns in unserer Einführung in die Technik des Versbaus auf Anregung durch nur wenige Beispiele beschränken müssen, so ist es jedem anheimzugeben, sich nach weiterem Material umzusehen. Zur Umbildung der Prosarede in den jambischen Rhythmus eignen sich wegen ihrer fortlaufenden, dem dichterischen Ausdruck freien Spielraum gewährenden Perioden vorzugsweise Monologe, beschreibende und erzählende Lesestücke und Naturschilderungen &c. (Wir erwähnen in Sophokles' Aias den berühmten Monolog 815 ff., Monologe in Shakespeare's Julius Cäsar, in Schillers Tell und Wallenstein. Ferner Erzählendes z. B. in Wallenstein der Bericht über die Schlacht bei Neustadt, oder in der Jungfrau von Orleans: „Wir hatten sechzehn Fähnlein aufgebracht“ u. s. w.) Aufgabe. Das nachfolgende Bruchstück aus Charikles und Theages von Herder soll in jambische Verstakte umgebildet werden Stoff. Die heilige Stille, die die Nacht um sie verbreitete, die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt schienen, auf der einen Seite einige zurückgebliebene Schimmer der Abendröte, und auf der andern der hinter den Schatten des Waldes sich sanft erhebende Mond ─ wie erhebt dieser prächtige Tempel, wie erweitert und vergrößert er die Seele! Man fühlt in diesen Augenblicken so ganz die Schönheit und das Nichts der Erde; welche Erholung uns Gott auf einem Stern bereitet hat, auf dem uns Mond und Sonne, die beiden schönen Himmelslichter, abwechselnd durchs Leben leiten! Und wie niedrig, klein und verschwindend der Punkt unseres Erdenthales sei, gegen die unermeßliche Pracht und Herrlichkeit aller Sterne, Sonnen und Welten u. s. w. Lösung. Dĭe hēiligĕ Stīllĕ, dīe dĭe Nācht um sie verbreitet, auch die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt erschienen, hier auf dieser Seite ein'ge Schimmer goldner Abendröte, die zurückgeblieben, dorten auf der andern ─ hinter Waldesschatten sich erhebend ─ still der Mond. Wie hoch erhebt doch dieser prächt'ge Dom, wie sehr erweitert und vergrößert er die Seele! Fühlt man doch in solchen Augenblicken ganz die Schönheit wie das Nichts der Erde, ja, man fühlt Erholung, uns von Gott auf einem Stern bereitet, wo den Menschen Mond und Sonne, diese beiden Himmelslichter, wechselnd durch das Leben leiten, und wie gegen aller Sterne, Sonnen, Welten Pracht und unermeßnen Schöne, so verschwindend klein der Punkt des Erdenthales sei u. s. w. ( NB . Man suche hier, wie bei allen folgenden Lösungen, Versehen aufzuspüren, Kritik zu üben und z. B. nachzuweisen, wie in Z. 1 „ die die “ unschön wirkt, wie Z. 2 „ auch die “ von sehr zweifelhafter Länge ist, wie Z. 4 in „aufgehängt erschienen“ die Vorsilbe er die Änderung „aufgehangen schienen“ empfiehlt u. s. w.) § 2. Bildung jambischer Viertakter. 1. Wir gehen sofort zur bequemen Form des jambischen Viertakters (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) über, welcher ebenso akatalektisch (vollzählig), wie katalektisch (unvollzählig) sein kann, z. B.: Ŏ trock | nĕ dīe | sĕ Thrǟ | nĕ nīcht, | akatal. Die Dir | im Au | ge schim | mert. | katal. (Hamerling.) 2. Wollte man nur vollständige (akatalektische) Viertakter bilden, ohne sich um Cäsur oder die syntaktischen Pausen zu kümmern, so könnte man die Verse (wie im vorigen Paragraphen) in fortlaufenden Zeilen schreiben. 3. Wenn sämtliche Verse akatalektisch (vollständig) sind, so ist zur Wahrung des Verscharakters darauf zu achten, daß die syntaktischen Ruhepausen ans Ende derselben zu stehen kommen, um die Jncision (Versabschnitt) zu markieren. 4. Satztakt und Worttakt darf der Lernende nicht zu oft zusammenfallen lassen. Vielmehr muß er unserer Sprache den Schein unbegrenzter freier Bewegung wahren und der Monotonie und Monorhythmik vorbeugen. 5. Ständige Diäresen (Zusammenfallen des Verstaktes mit dem Satztakte) am Ende des zweiten Taktes sind zu vermeiden, weil sonst der Vers halbiert würde und das Ganze das Gepräge jambischer Zweitakter erhalten müßte. 6. Es ist hier des Wohllauts wegen mehr als bei der vorigen Übung auf freundlichen Wechsel der Sprachlaute zu halten. Ein Kunstgriff hierbei ist im allgemeinen: a . gedehnten Silben den Vorzug vor geschärften in der Arsis zu geben, b . volle und kräftige Vokale öfter eintreten zu lassen, als das fade e oder das dünne i &c. 7. Auch in den Thesissilben sollte dieser Wechsel einige Beachtung finden. Anstatt der vielen Endsilben mit dem fast tonlosen e, können zur Abwechselung kleine Formwörtchen wie: in, vor, zu, um, auf &c. in die Thesis gerückt werden. 8. Da diese Wörtchen meist mit einem Vokal beginnen, so müssen zur Vermeidung des Hiatus (Zusammentreffen zweier Vokale) zuweilen die ihnen vorhergehenden Flexionssilben elidiert werden (z. B.: hätte in == hätt' in, hätte auf == hätt' auf &c.). Die mäßige Anwendung des Hiatus muß gewöhnliche, dem Alltagsleben angehörige Wendungen ausschließen. 9. Nach einer syntaktischen Pause ist der Hiatus gestattet, da ja die Elision an dieser Stelle die Cäsur (Verseinschnitt) aufheben würde, ein Hinüberlesen über diese Cäsur aber verwerflich wäre. 10. Die Elision vor einem Konsonanten (die sog. Apokope) sollte nur höchst ausnahmsweise beliebt werden, weil sie eine Härte ergiebt. Es darf elidiert werden: Hätt' er, nicht aber Hätt' der &c., oder Hätt' man &c. Aufgabe. Die nachfolgende Sage ist in jambischen Viertaktern wiederzugeben, und zwar sind akatalektische Verse zu bilden. (Vgl. übrigens S. 2 Ziffer 7.) Das Material für den einzelnen Vers ist durch Taktstriche abgegrenzt. Es ist bei Lösung dieser Aufgabe die Beibehaltung der prosaischen Wendungen des Stoffs gestattet, damit um so größere Sorgfalt der Bildung reiner Accentjamben und der Vermeidung des Hiatus, wie der Beachtung der obigen Vorschriften zugewendet werden kann. Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) ( Von Karl Seifart. Sagen &c. Göttingen 1854.) Stoff. Einer armen Witwe | bei Hildesheim hatten | die Werber ihren einzigen Sohn | genommen und in den siebenjährigen Krieg geschleppt. | Die arme Frau konnte weiter nichts thun, | als weinen und beten, daß ihr der liebe Gott | doch ihre einzige Stütze | am Leben erhalten möge. | Das that sie denn auch jeden Morgen. | Aber Jahre vergingen, | und keine Nachricht kam von ihrem Sohne. | Die harten Nachbarn lachten | und meinten, sie solle sich doch nur über ihren Sohn | zufrieden geben. | Dem wäre nur geschehen, | was so manchem Mutterkinde | im Kriege geschehe. | Aber die Frau ließ sich nicht irre machen; | sie konnte nicht daran glauben, | daß Gott ihr ihre einzige Stütze | nehmen würde, und sie betete | nach wie vor für das Wohlergehen ihres Sohnes. | Da war es ihr einmal in der Kirche, | als ob sie in einen tiefen Schlaf | fiele, und doch standen | ihre Augen weit offen, so daß sie | Wunderbares schaute. | Sie sah in eine weite, weite Welt, | darin lagerten viele Tausende | fremder Völker, | und unter den Völkern stand ein König | mit goldener Krone, | Lösung (mit Beibehaltung der Prosawendungen des Stoffs). Eĭnst hāttĕn ēinĕr ārmĕn Frāu Zu Hildesheim, der alten Stadt, Die Werber ihren einz'gen Sohn Fort in den langen Krieg geschleppt. Die arme Witwe weinte viel; Sie flehte täglich, daß ihr Gott Den Sohn, den allereinz'gen Hort Am Leben mög' erhalten. ─ Und es verging ihr Jahr um Jahr, Und keine Nachricht kam vom Sohn! Die harten Nachbarn lachten kalt, Und rieten, wegen ihres Sohns Zufrieden sich zu geben doch, Denn ihm sei Gleiches nur geschehn, Wie manchem andern Mutterkind Geschehe wohl in jedem Krieg. Der Witwe Hoffnung wankte nicht; Sie glaubte nimmermehr daran, Daß Gott ihr diesen teuren Sohn Genommen, ─ ja, sie flehte neu Für ihn, der größten Hoffnung voll. Da war's ihr in der Kirch' einmal, Als ob in einen tiefen Schlaf Sie fiel', und doch geöffnet stand Das Aug' ihr, daß sie hell und klar Viel Wunderbares ward gewahr. Sie sah in eine weite Welt Und ward gewahr ein großes Heer Von fremder Völker bunter Schar. Ein König unter ihnen stand Mit goldner Kron' auf seinem Haupt; der einem schönen, jungen Soldaten einen Kranz | auf den Kopf setzte. | „O Gott, das ist ja mein Franz Karl!“ | rief die Frau laut, | so daß die andern Beter alle erschrocken | umschauten | und meinten, der Frau | sei etwas zugestoßen. | Die Frau aber fühlte eine wunderbare | Freude in der Brust | und ging himmlischen Trostes voll | aus der Kirche. | Da sah sie draußen die Jungen | zusammen laufen, | schmucke Reiter trabten | unter Trompetenblasen daher, | und ─ bald wäre die Frau vor Freuden | gestorben, denn all den Reitern | voran stolzierte als Oberst | ihr Franz Karl | und suchte seiner Mutter Haus auf. | Er schmückte mit dem Lorbeerkranz Nur einen Krieger, schön und jung. „O Gott, das ist ja Franz, mein Sohn!“ Dies rief entzückt die Frau so laut, Daß alle Beter drob erschreckt Nach ihr die Blicke wandten. ─ Sie meinten, daß der armen Frau Ein Unfall zugestoßen sei. Doch diese fühlte ─ (wunderbar! ─) Die reinste Freude in der Brust. Voll Himmelstrost verließ sie dann Die Kirche mit der Beter Schar. Und draußen sah viel Kinder sie Zusammenlaufen, gaffen, schrei'n. Viel schmucke Reiter trabten an, Trompeten blasend nahten sie. Vor Freude wäre fast die Frau Gestorben, denn den Reitern all' Ritt stolz voran als Oberst ─ wer? Jhr teurer Sohn, der sehnsuchtsvoll Aufsuchte seiner Mutter Haus. ( NB . Weiteres Material zu Übungen im jambischen Viertakter bieten Märchen und kleine, freundliche Erzählungen.) § 3. Bildung jambischer Quinare (Blankverse). 1. Satzende und Ende des Blankverses (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) brauchen nicht unbedingt zusammen zu fallen, vielmehr darf der Satz zuweilen in die neue Verszeile hinüberragen. Zu oft soll dies freilich nicht geschehen, weil dies zwar jambischen Rhythmus, nicht aber jambische Quinare ergeben würde. Das Enjambement (Überschreiten) sollte in der Lyrik nie, im epischen Gedicht nur selten vorkommen. 2. Der Miltonsche jambische Quinar hat stets männlichen Schluß, der Shakespearesche gestattet bald weibliche, bald männliche Endung. Um nicht in Zweifel über die Versgliederung zu geraten und das Ende der Blankverse zu markieren, haben bessere Dichter (seit Lessing) den Shakespeareschen Quinar angewandt, also den letzten Takt zuweilen hyperkatalektisch (überzählig) gebildet, z. B. Vers 2 und 3 der folgenden Probe: Wăs je | dĕr Blū | mĕ Dū | gĕwǟh | rĕst, gȫnn' | Auch mei | nen Blu | men, mei | nen E | pheme | ren Zur Rei | fe Zeit, | in lang' | und kur | zem Da | sein. (Herder.) 3. Es dient zur Wahrung des Verscharakters, die syntaktischen Pausen und Ruhepunkte (Satzende, Satzeinschnitt, Vordersatzschluß, Nachsatzende) häufig ans Ende der Quinare zu verlegen. 4. Hohe markierende Bedeutung hat der Einschnitt, wenn die überzählige Silbe den Charakter einer schweren Silbe erhält. Doch muß diese hemmende Wirkung mit dem Satzende zusammenfallen. Wo dies nicht der Fall ist, wie in folgendem Beispiel, ist sie wegen ihrer hemmenden Gewalt störend und fehlerhaft, selbst da wo das Fehlerhafte durch Recitation gemildert werden kann: Wo sind sie? Blieb von ihnen ich allein Nicht übrig? ich der menschlichste, den Vōr | sīcht Allein nur rettete? (Herder, Der entfesselte Prometheus.) 5. Zur Unterbrechung der Monotonie, wie zur Markierung der Jncision und zur Steigerung der malerischen Kraft beginnt man zuweilen die frische Verszeile mit einem Spondeus (– –) oder einem Trochäus (– ⏑), z. B.: Vṓrrāt zu haben, der Vulkan ist furchtbar. (Oehlenschlägers Correggio.) Mǟchtĭg | gĕnūg, der Menschheit Reich zu trennen, Ōhnĕ | Gĕfǖhl, Verstand und Gliedermaß. (Herder, Der entfesselte Prometheus.) Diese Versanfänge verlangen Berechnung, wenn sie den Rhythmus nicht stören sollen. 6. Zur Vermeidung der Eintönigkeit darf auch innerhalb der Zeile zuweilen ein Spondeus oder ein Anapäst stehen. Z. B. ein Spondeus: Des schönsten Boten Ū́nglǖcksbṓtschāft. (Goethes Faust.) oder ein Anapäst: Verzeih uns edle Base ─ Himmĕl ŭnd Ērde! (Lindners Brutus u. C.) 7. Eine Feinheit ist es, den Spondeus (– –) nur hie und da an ungeraden Stellen (also im 1., 3., weniger im 5. Takt) eintreten zu lassen, um nicht den Verscharakter zu schädigen. Bei den, nach Dipodien (zwei Takten) gemessenen Versen der Alten mußte die Dipodie mit einem Jambus schließen, weshalb eben nur in ungeraden Takten Spondeen sein konnten. 8. Empfehlenswert ist es, Cäsuren mit Diäresen abwechseln zu lassen. Bei weiblichem Versschluß wirken die Diäresen freundlicher, bei männlichem die Cäsuren. Man sollte die Cäsur im 5. Takt des hyperkatalektischen Quinars vorsichtig (d. h. nicht zu oft nacheinander) gebrauchen, weil sonst die beiden letzten Silben als trochäisch empfunden werden, was den Rhythmus verrücken müßte, namentlich wenn noch dazu innerhalb des Verses die Cäsuren überwiegen sollten. 9. Die syntaktische Cäsur kann nach jeder Silbe eintreten. Sie steht nach der ersten, wenn der Blankvers mit einem Ausruf oder mit einem einsilbigen, komparativisch oder fragend gebrauchten Wörtchen beginnt, und dann ist sie von großem Wert, z. B.: Geh! | hol ihn! Wie aus einer guten That. Bst! | Hafi, bst! &c. Ah! | ah! Nun schlägt &c. Was? | Eine Thräne fiel herab &c. (Lessing, Nathan.) 10. Die sogenannte proven ç alische Cäsur am Ende des 2. Taktes, welche die Troubadours pflegten, verhindert, daß man bei trochäischen Satztakten an trochäischen Rhythmus glaubt. Eine untergeordnete Cäsur kann in die Mitte der Zeile (am liebsten nach der 5. Silbe) zu stehen kommen. Schiller bediente sich der Diärese am Schluß des zweiten Taktes sehr häufig. Lessing wich ab. Dies machte freilich manchen Vers mehr oder weniger unmusikalisch. 11. Setzt man die syntaktische Cäsur in den letzten Takt, so läuft man Gefahr, daß die letzte Silbe gleich einer Thesis zur ersten Silbe des nächsten Verses genommen, oder die Kürze des 1. Taktes der folgenden Verszeile auf diese Weise zur Länge erhoben wird, wodurch mindestens eine Verwischung der Jncision eintritt, z. B.: Betrachtet dieses Bild noch einmal. | Sagt Noch einmal ─ nein ihr werdet es nicht sagen. (Oehlenschläger.) 12. Was die Satztakte betrifft, so ist es durchaus kein Fehler, wenn einzelne derselben zwei oder mehrere Verstakte umklammern. Jm Gegenteil tragen lange Verstakte nicht selten zum freundlichen Accentwechsel bei und verleihen dem Satzaccent eine bestimmte Höhe, z. B.: Jch herze dich | mĭt tāusĕndfāchĕr Glūt. (Goethe, Faust.) (Das ditrochäische [doppeltrochäische] Wort „tausendfacher“ dient hier zur Verbindung von drei jambischen Takten. Bei Platen finden sich Wortkolosse, die nicht selten vier und fünf Takte verbinden, z. B. im Trimeter [§. 4]: Der nebenbuhlerischen Ungroßmütigkeit. (Platen, Mathilde von Valois.) (Vgl. bei Platen auch die freilich nicht hierhergehörigen, ungeheuerlichen Satztakte „Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie“, „Demagogenriechernashornangesicht“ &c., die einen Trimeter ausfüllen.) Selbstredend dürfen allzulange Satztakte schon aus ästhetischen Gründen nur spärlich angewendet werden; sie würden in größerer Anzahl Fluß und Beweglichkeit des Rhythmus beeinträchtigen. 13. Aus ästhetischen Gründen warnen wir vor allzuviel Konsonantenanhäufungen im jambischen Quinar wie in jedem Rhythmus. Wer die nötige Vorsicht in der Form schon im Anfang dichterischer Übung walten läßt, wird bei vorgerückter Fertigkeit seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Jnhalt zuwenden können. 14. Gut gearbeitete reimlose Quinare finden sich z. B. in: Götterdämmerung von H. Heine; Der Schwester Traum von Hauff; Frau Generalin von Varnbüler von Mörike; Herakles auf dem Oeta von Geibel; Lebwohl von Gerok &c. 15. Als Beleg, wie fleißig und ernst bedeutende Dichter in der Bildung von Quinaren verfuhren, bieten wir nachstehendes Beispiel aus Goethe's Jphigenie. (Vgl. Goethe's Jphigenie. Freiburg 1883.) Dritter Prosa-Entwurf. 1781. Jphigenie. Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hains, wie in das Heiligtum der Göttin, der ich diene, tret' ich mit immer neuem Schauer und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher! So manche Jahre wohn' ich hier unter euch verborgen, und immer bin ich wie im ersten fremd, denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Land der Griechen, und immer möcht' ich übers Meer hinüber, das Schicksal meiner Vielgeliebten teilen. Weh dem! der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben führt, ihn läßt der Gram des schönsten Glückes nicht genießen, ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken nach seines Vaters Wohnung, an jene Stellen, wo die goldne Sonne zum erstenmal den Himmel vor ihm aufschloß, wo die Spiele der Mitgebornen die sanften, liebsten Erdenbande knüpften. Ausarbeitung. 1787. Jphigenie. Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligtum Tret' ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe; Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd. Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh' ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend; Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern Ein einsam Leben führt! Jhm zehrt der Gram Das nächste Glück von seinen Lippen weg. Jhm schwärmen abwärts immer die Gedanken Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo Sich Mitgeborne spielend fest und fester Mit sanften Banden aneinander knüpften &c. Aufgabe 1. Der nachfolgende Stoff soll in jambische Quinare verwandelt werden. (Die Verszeilen sind so gut als möglich durch Taktstriche angegeben. ) Stoff. Verkehre viel mit deinen Kindern; | Tag und Nacht sollst du sie um dich haben und sie lieben | und dich lieben lassen schöne Jahre lang. | Nur während des kurzen Kindheitstraumes | sind sie dein, nicht länger! Schon mit der Jugend | schleicht vieles durch ihre Brust, was du nicht bist, | und mancherlei lockt sie an, was du nicht besitzest, | und sie erfahren von einer alten Welt, | welche ihren Geist erfüllt; die Zukunft schwebt | ihnen vor. So geht die schöne Gegenwart | verloren. Nun zieht der Knabe mit dem Wandertäschchen | voll Notwendigem hinaus. | Weinend siehst du ihm nach, bis er verschwindet. | Nimmer wird er wieder dein! Er kehrt | zurück, nun liebt er und wählt sich eine Jungfrau. | Sie leben beide, andere leben auf | aus ihm ─ du hast nun einen Mann an ihm erhalten, | einen Menschen, ─ aber kein Kind hast du mehr! | Nun bringt dir die vermählte Tochter ihre Kinder | manchmal in dein Haus, um dich zu erfreuen. | Du hast an ihr eine Mutter, aber kein Kind mehr. | Darum gehe fleißig mit deinen Kindern um! | Sei Tag und Nacht um sie und liebe sie | und lasse dich lieben einzig schöne Jahre lang. Lösung. Von Leopold Schefer. Geh' fleißig um mit deinen Kindern! Habe Sie Tag und Nacht um dich und liebe sie Und laß dich lieben einzig schöne Jahre; Denn nur den engen Traum der Kindheit sind Sie dein, nicht länger! Mit der Jugend schon Durchschleicht sie vieles bald ─ was du nicht bist. Und lockt sie mancherlei ─ was du nicht hast. Erfahren sie von einer alten Welt, Die ihren Geist erfüllt; die Zukunft schwebt Nun ihnen vor. So geht die Gegenwart Verloren. Mit dem Wandertäschchen dann Voll Nötigkeiten zieht der Knabe fort. Du siehst ihm weinend nach, bis er verschwindet, Und nimmer wird er wieder dein! Er kehrt Zurück, er liebt, er wählt der Jungfrau'n eine, Er lebt. Sie leben, Andre leben auf Aus ihm ─ du hast nun einen Mann an ihm, Hast einen Menschen ─ aber mehr kein Kind! Die Tochter bringt vermählt dir ihre Kinder Aus Freude gern noch manchmal in dein Haus! Du hast die Mutter, aber mehr kein Kind! Geh' fleißig um mit deinen Kindern! Habe Sie Tag und Nacht um dich, und liebe sie, Und laß dich lieben einzig schöne Jahre. Aufgabe 2. Eine kurze Scene aus einem Drama des Verfassers („ Der geräuschlose Feldzug “ 1874. 2. Aufl.) soll in jambische Quinare umgewandelt werden. (Weiteres Material zur Erlangung größtmöglicher Übung bietet jedes Prosadrama. ) Stoff. Leopold. Hoheit, der Krieg, der viele rauh macht, ─ mich hat er weicher gestimmt, als je. Jn Feindesland empfand ich oft ein Verlassensein, das ich zuvor nie kannte. Die Sehnsucht zog mich zurück in Jhre stille, idyllische Residenz, wo mir ein Stern aufgegangen war von ewigem, mildem Glanze, der meine Hoffnung wurde bei Sieg und bei Gefahr. Jhre Briefe, Hoheit, die früheren Zeichen Jhrer hohen Gunst, beglückten mich, wie mich der Ausruf ermuthigte, mit dem Sie mich empfingen. Geliebte Fürstin, bin ich Jhnen wirklich teuer? Darf ich kühn mein Auge mit der Frage erheben, die der Mann im Leben nur einmal an das Weib seiner Liebe richtet? (Tumult unten.) Fürstin (bewegt). Sie dürfen es, Leopold. Der Himmel hat Sie mir gerade in der schweren Stunde wiedergeschenkt, wo ich Jhren Tod so innig beweinte, wo schon die schwarze Rotte ihre Hand ausstreckte ─ nach meiner Ehre und meines Landes Freiheit! Leopold (auffahrend). Das wagte man gegen die Fürstin! Man täuschte Sie sogar mit meinem Tode?! (Geschrei unten.) „Nieder mit den Jesuiten!!“ (Wüster Lärm.) Fürstin. Gerechter Gott! Was geht in der Stadt vor? Lösung. Leopold. Der Krieg, der rauhe Herzen schafft, hat mich So weich gestimmt, wie niemals ich's geahnt. Wie oft empfand ich doch in Feindesland Die ganze Pein des Worts: Verlassensein! Vor meinem Auge stieg dann deutlich, klar Das Bildnis auf von Jhrer Residenz, Jn deren stillen, herrlichen Jdylle Jhr Stern ein Licht verstrahlte, dessen Glanz Mir Hoffnung gab bei Sieg wie bei Gefahr. Jch fühlte Sehnsucht, fühlte wie mein Herz Unlösbar an der fernen Stätte hing. Und Jhre Briefe, Hoheit, teure Zeichen Der hohen Gunst, die ich zuvor genoß Entzückten mich; es steigerte das Glück Zum Hochgenuß der Seligkeit der Ausruf, Mit welchem Sie beim Eintritt mich empfingen. Geliebte Fürstin! Mutig fragt mein Mund: Bin ich in Wahrheit teuer Jhrem Herzen? ─ Darf kühn zu Jhnen ich das Aug' erheben Mit jener Frage, die der stolze Mann Jm Vollbewußtsein seines Werts nur Ein Mal Zum Weibe seiner Liebe werbend spricht? ─ Fürstin. Sie dürfen's, Leopold! wie ein Geschenk Des Himmels nah'n Sie mir in dieser Stunde. Wo ich um Jhren Tod so innig klagte, Wo schon die schwarze Rotte frech die Hand Nach meines Landes Freiheit, meiner Ehre, Zu strecken suchte. Leopold. Wie? das wagte sie, Die falsche Brut? Man täuschte Sie sogar Mit meinem Tod? (Geschrei unten:) „Fort mit den Jesuiten.“ (Wüster Lärm.) Fürstin. Gerechter Gott! was kündet solcher Lärm? § 4. Bildung des neuen Senars (Trimeter). 1. Der neue Senarius (⏑–⏑–⏑ | –⏑–⏑–⏑– |) ist für unsere Sprache ein etwas breites Gefäß, für welches der Satz oft nicht ausreicht, so daß zur Ausfüllung nicht selten Flickwörter herbeigezogen werden müssen. 2. Er ist für uns nicht unwichtig, da wir ihn bei Übersetzung der griechischen Tragiker nötig haben, ganz abgesehen von den vielen deutschen Gedichten, die in diesem Versmaß geschrieben sind. Außerdem weist uns das Urteil Schillers (dessen Montgomery-Scene in der „Jungfrau“ aus Senaren besteht) auf diesen Vers hin. Nach seinem Geständnis wurde es ihm schwer, „von den schönen und volltönenden Senaren zu den lahmen Fünffüßlern zurückzukehren“. 3. Die nach Dipodien messenden Alten konnten die einzelnen Dipodien mit einem Spondeus (––) beginnen. Es kam nur darauf an, daß die Dipodien mit einem Jambus schlossen. Wenn wir dies im Deutschen nachahmen wollten, so müßten wir uns (da unser Senar ein Accentvers ist) wenigstens steigender Spondeen (z. B. Glāubst dū́? Tūrnī́er) bedienen und dieselben also nur im 1., 3. und 5. Takt anwenden. Der Verscharakter würde nicht gestört werden, da der Jambus (im 2., 4. und 6. Takt) doch immer das letzte Wort behalten könnte. Die Einfügung von steigenden Spondeen beugt der Monotonie vor und hemmt die allzurasche Bewegung. 4. Ein fallender Spondeus (z. B. Dḗnkmāl, Nṓrdwīnd) stört den rhythmischen Fluß in auffallender Weise und ist nur dann zu gestatten, wenn er die Jncision oder vielmehr den Beginn des neuen Verses markiert, oder wenn er den Satzaccent unterstützt, in welchem Fall er sogar als Schönheit empfunden werden kann, z. B.: Fū́rchtbār ĭst dēine Rede, doch dein Blick ist sanft. (Schiller, Jungfrau II , 7.) (Vgl. auch Lenau II , 32: Sā́atkȫrner seines Ruhms &c.) An Stelle des Spondeus kann auch ein Trochäus (–⏑) treten. 5. Unsere deutsche rhythmische Form bleibt anspruchsloser, als die griechische. Es liegt dies in unserem ruhigeren Volkscharakter, der die Beweglichkeit des südländischen nie geteilt hat. Alle deutschen Dichter, welche sich einredeten, die Rhythmik der ältesten Völker auf unsere Sprache übertragen zu sollen, sind gescheitert, sind unpopulär geworden oder geblieben. Bei den Alten galten zwei Kürzen als eine Länge, wodurch es sich erklärt, daß wir bei ihren Nachahmern Daktylen und Anapäste im Trimeter finden. Bei uns ist die Auflösung der Arsislänge in 2 Kürzen undenkbar. Es kann also höchstens ein Anapäst (⏑⏑–) eingefügt werden. Ein Daktylus (–⏑⏑) könnte nur am Anfang an Stelle des Trochäus (–⏑) eintreten. Viele Anapäste einzumischen ist gefährlich, da diese anstürmenden, leicht beschwingten Takte sich dem Ohre rasch empfehlen. 6. Die Cäsuren sind den Diäresen im Senarius vorzuziehen, da letztere die Bedeutung der Cäsuren verdunkeln könnten. Die erste Vorschrift ist, eine stehende Diärese inmitten des Verses zu vermeiden, weil dieselbe den Senar zum Alexandriner gestalten würde. 7. Als Grundform des Senars könnte man es bezeichnen, wenn die Cäsur im 3. Takt sich befindet. Jn diesem Falle kann man ein umklammerndes Wort einfügen, um nicht in den trochäischen Rhythmus zu geraten. 8. Am schönsten erscheint die vorherrschend weibliche Cäsur im 4. Takt. Beispiele: a . im 3. Takt: Die 1 Kin | der s 2 chla | fen, 3 C mor | de nicht | den sü | ßen Schlaf. (Platen IV , 26.) b . im 4. Takt: Du 1 rch Feu'r | un 2 d Was | ser ge 3 h | ich, 4 C wie | Pamina that. (Ebenda IV , 24.) 9. Würden trochäische Worte nach ihr folgen, so könnte der Rhythmus leicht ins Schwanken geraten; in der Regel folgt ein einsilbiges Wort, wodurch der Vers seinen jambischen Haltpunkt behält. 10. Weniger schön und beliebt ist die Cäsur im 5. Takte, obgleich sie noch wirkungsvoll genug erscheint, z. B.: So will | ich auf | den Ze | hen schlei | chen. 5 C Laß | mich doch. | 11. Ein Vorkommen der Diärese mit der Cäsur in der gleichen Verszeile ist statthaft. Beispiel: Jch geh' | hinein | D und gra | be. C Hal | tĕ dĕn Mōp | sus hier | Zurück, | D wenn heim | er keh | ren soll | te, C daß | er mich | Jm Ho | fe nicht | ertap | pe, C ja | den Schatz | D zugleich Entdecke &c. (Platen IV , 24.) 12. Eine Cäsur ist am Anfang (also im 1. Takt) nur dann gestattet, wenn ein Ausruf oder ein einsilbiges bedeutendes Wörtchen (etwa ein Jmperativ, eine Negation &c.) den Vers beginnt. 13. Da der letzte Verstakt, der höchst selten mit einem einsilbigen Satztakt schließt, dem Vers sein abschließendes Gepräge verleiht, so befindet sich im letzten Takt nur höchst ausnahmsweise die Cäsur. 14. Rhythmische Pausen treten ein, wo das Satzende mit dem Versende zusammenfällt. Um die freie Bewegung durch das Einzwängen des Gedankens in den engen Raum von sechs Jamben zu hindern und der Eintönigkeit vorzubeugen, ist es erlaubt, hie und da längere Sätze in die neuen Verszeilen hinüberragen zu lassen, sofern nur der Charakter des Senars gewahrt ist, z. B.: Alle zwölf zusammen sind Die erste Zahl, indessen man im Trauerspiel Nur fünfe braucht; doch freilich wird das fünfte bloß Als Stier bei den Hörnern hergezogen, während doch Der Dichter selbst das fünfte wär' als Wassermann: Doch Mopsus kommt. Er will doch nicht ins Haus hinein? Pst! Mopsus! &c. (Platen IV , 25.) 15. Ein Kunstgriff ist es, daß man da, wo der Jnhalt über den Vers hinüberflutet, zur Ausfüllung der folgenden Zeile einen kurzen Satz einfügt &c. Aufgabe. Nachfolgender Stoff ist im neuen Senarius zu geben. Göttliche Reminiscenz. Stoff. Vor langer Zeit sah ich ein wundersames Gemälde | in einem Karthäuserkloster, das ich oft besuchte. | Heute trat es mir mit frischen Farben vor die Seele, | als ich einsam im Gebirge wandelte, | umgeben von wild umhergeworfenen Felsentrümmern. | An einer jähen Steinkluft, deren Saum | von zwei Palmen überschattet | nur wenig Gras den emporklimmenden Ziegen bietet, | sieht man den Jesusknaben auf Steinen sitzend; | ihm ist ein weißes Vließ als Polster untergelegt. | Mir erschien das schöne Kind nicht allzu kindlich. | Der heiße Sommer, welcher sicherlich sein fünfter schon war, | hat seine, bis zum Knie herab | von einem gelben, purpurumsäumten Röcklein | bedeckten Glieder und seine gesunden Wangen sanft gebräunt; | aus seinen dunklen Augen leuchtet stille Feuerkraft; | doch den Mund umspielt ein fremder, unnennbarer Reiz. | Ein alter Hirte, welcher sich freundlich zu dem Kinde niedergebeugt hat, | übergab ihm soeben ein versteinertes, seltsam gestaltetes Meergewächs | zum Zeitvertreib. | Nachdem der Knabe das Wunderding beschaut, | spannt sich sein weiter Blick wie betroffen | dir entgegen, doch wirklich ohne Gegenstand, | durchdringend ewige, grenzenlose Zeitenfernen: | als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz | der Gottheit, ein Erinnern, das im nämlichen Augenblick erloschen sein wird; und das welterschaffende | Wort von Anfang zeigt lächelnd als ein unwissendes, spielendes Erdenkind dir sein eigenes Werk. Lösung. Von Mörike. Vŏrlǟngst | săh īch | ĕin wūn | dĕrsā | mĕs Bīld | gĕmālt, | Jm Kloster der Karthäuser, das ich oft besucht. Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir. An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, Von zweien Palmen überschattet, magre Kost Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt. Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind; Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum, Hat die gesunden, zarten Wangen sanft gebräunt; Aus schwarzen Augen leuchtet stille Feuerkraft, Den Mund jedoch umfremdet unnennbarer Reiz. Ein alter Hirte, freundlich zu dem Kind gebeugt, Gab ihm so eben ein versteinert Meergewächs, Seltsam gestaltet, in die Hand zum Zeitvertreib. Der Knabe hat das Wunderding beschaut, und jetzt, Gleichsam betroffen, spannet sich der weite Blick, Entgegen dir, doch wirklich ohne Gegenstand, Durchdringend ew'ge Zeitenfernen, grenzenlos: Als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz Der Gottheit, ein Erinnern, das im gleichen Nu Erloschen sein wird; und das welterschaffende, Das Wort von Anfang, als ein spielend Erdenkind Mit Lächeln zeigt's unwissend dir sein eigen Werk. ( NB . Zu rügen wäre hier die fehlerhafte Skansion Mörike's Z. 1: Vŏrlǟngst statt Vṓrlǟngst sāh ĭch ĕin; ferner die falsche Versbetonung, Z. 5: „Trăt ēs mĭt“ &c.) § 5. Bildung des reimlosen neuen Nibelungenverses. 1. Der neue Nibelungenvers läßt sich leicht aus 2 jambischen Dreitaktern bilden, deren erster weibliche Cäsur hat, also hyperkatalektisch ist. Schema: ⏑–⏑–⏑–⏑ | ⏑–⏑–⏑–. 2. Nach dem deutschen Accentqualitätsprinzip ist es gestattet, hie und da Anapäste in den neuen Nibelungenvers einzufügen, wodurch derselbe an Schönheit gewinnt. Aufgabe. Die nachfolgende Sage (der Gebrüder Grimm) soll in reimlose Nibelungenverse umgewandelt werden. Wir verweisen dabei auf die gereimte strophische Bearbeitung von Chamisso (1831) und die Rückertsche aus dem Jahre 1817. Sollte bei der Lösung hie und da ein ungesuchter Schlußreim sich ergeben, so braucht derselbe keineswegs unterdrückt zu werden, da wir ja den Reimversen zusteuern. Das Riesenspielzeug. Stoff. Jm Elsaß auf der Burg Niedeck, die an einem hohen Berge bei einem Wasserfalle liegt, waren die Ritter vor der Zeit große Riesen. Einmal ging das Riesenfräulein hinab ins Thal, wollte sehen, wie es da unten wäre, und kam bis fast nach Haslach auf ein vor dem Walde gelegenes Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestellt wurde. Es blieb vor Verwunderung stehen und schaute den Pflug, die Pferde und die Leute an, was ihr alles etwas neues war. „Ei,“ sprach sie und ging hinzu, „das nehm' ich mir mit.“ Da kniete sie nieder zur Erde, spreitete ihre Schürze aus, strich mit der Hand über das Feld, fing alles zusammen und that's hinein. Nun lief sie ganz vergnügt nach Hause, den Felsen hinaufspringend; wo der Berg so jäh ist, daß ein Mensch mühsam klettern muß, da that sie einen Schritt und war droben. Der Ritter saß gerade am Tische, als sie eintrat. „Ei, mein Kind,“ sprach er, „was bringst du da? die Freude schaut dir ja aus den Augen heraus.“ Sie machte geschwind ihre Schürze auf und ließ ihn hinein blicken. „Was hast du da so Zappeliges darin?“ ─ „Ei, Vater, ein gar zu artiges Spielding! So etwas Schönes hab' ich mein Lebtag noch nicht gehabt.“ Darauf nahm sie eins nach dem andern heraus und stellte es auf den Tisch, den Pflug, die Bauern und ihre Pferde, lief herum, schaute es an, lachte und schlug vor Freude in die Hände, wie sich das kleine Wesen darauf hin und her bewegte. Der Vater aber sprach: „Kind, das ist kein Spielding, du hast da etwas Schönes angestiftet! Geh nur gleich und trag's wieder hinab ins Thal!“ Das Fräulein weinte, es half aber nichts. „Mir ist der Bauer kein Spielzeug,“ sagte der Vater ernsthaft, „ich leid's nicht, daß du mir murrst; kram' alles sachte wieder ein und trag's an den nämlichen Platz, wo du's genommen hast! Baut der Bauer nicht sein Ackerfeld, so haben wir Riesen auf unserem Felsenneste nichts zu leben.“ Lösung. (Mit Beibehaltung der Prosawendungen.) Aŭf ēi | nĕm hō | hĕn Fēl | sĕn ‖ ĭm schȫ | nĕn Ēl | săßlānd | Strahlt hell das schöne Niedeck, die stolze Riesenburg, Wo einst als Ritter hausten nur Riesen schaurig groß. Einst ging ein Riesenfräulein von dort hinab ins Thal Neugierig, um zu sehen, wie es da unten sei. Mit mächt'gen Riesenschritten durcheilte sie den Wald Und kam nicht weit von Haslach im Reich der Menschen an. Da fand sie einen Bauern auf seinem Ackerfeld, Wie er mit Pflug und Pferden den Acker froh bestellt. Wie sah sie vor Verwundrung bald Pflug bald Bauer an, Die Pferde und das Pflügen, es war ihr alles neu. „Ei, welch' ein artig Spielzeug“, ruft sie voll Freudigkeit, „Der Vater wird sich freuen, ich nehm' es mit nach Haus.“ Sie knīeet ēilig nīeder ŭnd brēitĕt dĭe Schǖrze aus Und streicht mit ihren Händen nun übers Ackerfeld. Den Bauer mit den Pferden und mit dem Pflug dazu Nimmt sie in ihre Schürze und bindet froh sie zu. Dann lief sie voller Freuden den steilen Weg zurück, Wo andre mühsam klettern, that sie nur einen Schritt. Sie eilte zu dem Vater, zu zeigen ihren Fang. Der Ritter saß am Tische und aß ein Lendenstück. Er richtet nun zur Tochter den hocherstaunten Blick. „Was zappelt in der Schürze, das du mir bringst herbei?“ So rief der tapfre Esser der Riesentochter zu. Da naht sie mit der Schürze, zu zeigen ihm den Witz. „Ei, sieh doch, lieber Vater, was ich gefangen hab', Ein allerliebstes Spielzeug, wie ich's noch nie gesehn. Drauf eines nach dem andern stellte sie auf den Tisch. Den Pflug und dann die Pferde, zuletzt den Bauer auch. Dann schlug sie in die Hände und jubelte vor Freud, Wie sich die kleinen Wesen bewegten hin und her. Sie rennt voll lauten Jubels im Saale dann herum, Zu fangen rasch die Pferde, die sich zur Flucht gewandt. Gebietend sprach der Vater, (man merkt ihm an den Ernst): Was hast du angerichtet? das ist kein Spielzeug Kind. Geh' nur und trag' es wieder hinunter in das Thal; Wo du es hergenommen, da stell' es wieder hin. Es hilft dir nicht dein Murren und auch dein Weinen nicht, Der Bauer ist kein Spielzeug, er baut für uns das Feld, Verhungern müßte der Riese, wär' er nicht auf der Welt. ( NB . Der Lernende möge die letzte Zeile bessern, indem er fragt: Wer wäre nicht auf der Welt? Die Änderung muß lauten: Wä̆r' dĕr Bāuĕr nĭcht āuf dĕr Wēlt. Jn dieser Art fehlen so viele, z. B. Kleist (vgl. S. 28 Z. 7), Gregorovius u. s. w. Die Bezüge müssen logisch und grammatikalisch richtig und schon beim ersten Lesen verständlich sein!) § 6. Bildung von Alexandrinern. 1. Bei Bildung des Alexandriners, dieses jambischen Sechstakters, ist darauf zu achten, daß nach dem 3. Takte eine ständige Diäresis eintritt (⏑–⏑–⏑– | ⏑–⏑–⏑– | ). Der Satztakt des 3. Verstaktes darf somit nicht den 4. Takt überbrücken. 2. Nach Günthers u. a. besonders aber Rückerts Vorgang (Frauentaschenbuch 1825, S. 411) ist es im Deutschen gestattet, dem Alexandriner zuweilen weibliche Endungen zu geben, wodurch er um eine Thesis verlängert wird, also hyperkatalektischen (überzähligen) Abschluß erhält (wie in den S. 19 Z. 4 und 5 angeführten Versen). 3. Es ist nicht nötig, daß jederzeit mit der stehenden Diäresis eine syntaktische Pause verbunden werde; im Gegenteil würde fort= gesetztes Zusammenfallen der Diäresis mit einer syntaktischen Pause dem Verse klappernd=monotonen Charakter verleihen und jeden Alexandriner als zwei jambische Dreitakter erscheinen lassen, z. B.: Die Blumen in dem Korn, ‖ sie können Dich nicht nähren, Am Orte, wo sie blühn, ‖ da könnten wachsen Ähren. Aufgabe. Nachstehendes Bruchstück soll in Alexandrinerverse verwandelt werden. Selbstredend ist für die Lösung der Reim nicht nötig. Stoff. Jm Lande Madras lebte der Fürst Aswapati, der durch seine Tugenden alle Sterblichen überstrahlte. | Er war gottselig und pflichtliebend; dem Bedrängten verhieß er seinen Schutz, den Armen verlieh er Gaben; er liebte sein Volk und wurde von demselben wieder geliebt; im Niedrigsten ehrte er eben den Menschen. | Bei allem Glück und Reichtum entbehrte er des lieblichen Kindersegens. | Täglich flehte er die Götter um dieses Glück an, ja, er hatte der Gottheit des Feuers bereits achtzehn Jahre hindurch Opfer dargebracht. | Endlich erschien die Gottheit Sawitri und sprach: Du sollst belohnt sein. | Bitte Dir eine Gnade aus, doch vergiß nicht, Gutes zu wünschen. | Aswapati sprach: Verleihe mir, hohe Göttin, den lieblichen Kindersegen, um den Dich mein Beten und Opfern täglich neu anflehte. | Es sei, erwiderte die Göttin; wisse, daß ich Deinen Wunsch dem Urvater der Götter und der Welt vorgetragen habe. | Der durch sich selbst seiende, gnädige Gott hat Dir eine Tochter verheißen | u. s. w. Lösung. Von Fr. Rückert (Ges. Ausgabe XII , 261). Jn Madras herrscht' ein Fürst, Aswapati genannt, An Glanz der Tugenden der Sonne gleich entbrannt; Gottselig, pflichtbedacht, schutzgebend, gabenmehrend, Volksliebend, volksgeliebt, als Freund die Menschen ehrend, Kein Glück und keinen Schatz, als Kinder nur, entbehrend. Um dieses Glück bracht' er Gebet dem Himmel dar Und opferte dem Feu'r andächtig achtzehn Jahr'. Da stieg die Gottheit, die im Opferfeuer wohnt, Sawitri, aus der Glut, und sprach: Du seist belohnt! Erwähl', Aswapati, von mir Dir eine Gnade, Und weiche mit dem Wunsch nicht von der Pflichten Pfade! „Gebet und Opfer bracht' ich dar der Kinder wegen, So werde mir verliehn, o Göttin, Kindersegen.“ Schon hab' ich Deinen Wunsch, den ich erkannt, vor Tagen Der Götter und der Welt Urvater vorgetragen; Und so verliehen hat der durch sich Seiende Nun eine Tochter dir, der Allverleihende u. s. w. ────── II . Übungen im trochäischen Rhythmus. § 7. Bildung trochäischer Verstakte. 1. Da der Grundrhythmus unserer Sprache trochäisch (–⏑) ist, so fallen bei trochäischen Versen Satz- und Verstakte leicht zusammen. Wenn auch dadurch hie und da eine besondere rhythmische Wirkung erzielt wird, wie z. B. in der Stelle: Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren, Tiere wimmern Unter Trümmern &c., Alles rennet, rettet, flüchtet &c., so würde doch bei ununterbrochen sich folgenden Diäresen jeder Takt als ein kleines Ganzes im Vers sich abheben und abschälen und die Versverbindung lockern. 2. Man kann die Verbindung der Verstakte durch Einfügung von jambischen Satztakten erzielen (z. B.: Lāß bĕglǖckt Gĕdūld ĕrflēhn dĕm Frēund'). Oder man kann hiezu auch ditrochäische und mehrsilbige Satztakte wählen, z. B.: Lichtgeboren folgt's der Spur &c. (J. Hammer.) Abgeschmackte Niedlichkeiten. (Sallet.) 3. Erinnert soll auch hier werden, daß bei Bildung katalektischer (unvollzähliger) Verse die rhythmischen Pausen den Verstakten anzurechnen sind. 4. Wichtig ist, daß in den Arsen (Stammsilben) volltönende Vokale mit einander wechseln, sofern mehrere trochäische Verstakte mit trochäischen Satztakten zusammenfallen (koincidieren). 5. Ferner ist zu beachten, daß in trochäischen Versen ausnahmsweise sinkende Spondeen (─́–), sowie Daktylen (–⏑⏑) nicht bloß zulässig, sondern zur Verminderung der Eintönigkeit hie und da sogar erwünscht sind (besonders im dramatischen Vers). 6. Um nach einsilbigen Arsen jambische Satztakte zu erhalten, wähle man Satztakte mit den thetischen Vorsilben ge, er, zer, em, emp, ent, ver, be &c. 7. Es ist bei Bildung von Satztakten vorerst weniger auf blühende poetische Ausdrucksweise, als auf korrekte Form zu achten. Somit kann die Prosarede noch beibehalten werden, wenn der Lernende sie nicht verändern will. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in trochäische Verstakte umgebildet werden. (Dieselben sind in fortlaufenden Zeilen zu schreiben. ) Stoff. Jm Gefilde vor Bagdads Thoren waren zur Feier des Neujahrsfestes tausend Zelte aufgeschlagen. Der große Kalif Harun saß mit allen Zeichen seiner Würde auf dem Throne, umgeben von seinen Kronbeamten, zunächst aber von seinen drei geliebten Söhnen Amin, Assur und Assad. Die Menge lag in den Gärten zerstreut, wo Trank und Speise verteilt wurde. Unter Jasminlauben ruhten Frauen und Männer; doch die Knaben tanzten mit den jüngsten Mädchen. Jndessen trat ein Mohr mit einem Pferd am Zügel vor den Pavillon des Herrschers. Es war kein Roß aus arabischem Blute und auch kein Hengst aus Andalusien, vielmehr war es von Künstlerhand aus Holz gebildet, die Hufe waren von Erz und die Mähnen von Gold &c. Lösung. Von Platen. Tāusĕnd | Zēltĕ | wārĕn | āufge | schlagen | durchs Ge | filde vor den Thoren Bagdads, um das Fest des neuen Jahrs zu feiern. Auf dem Throne saß der große Harun als Kalif mit allen Würdezeichen, rings im Zirkel seine Kronbeamten; doch zunächst die drei geliebten Söhne Prinz Amin und neben Assur Assad. Durch die Gärten lag zerstreut die Menge, Trank und Speise wurde rings verteilt ihr. Unter Lauben, aus Jasmin gebildet, ruhten Fraun und Männer; doch die Knaben schlangen Tänze mit den jüngsten Mädchen. Vor des Herrschers Pavillon indessen trat ein Mohr mit einem Pferd am Zügel. Nicht ein Roß war's aus arabschem Blute, nicht ein Hengst aus Andalusien war es! Nein ─ von Künstlerhand aus Holz gebildet, Erz die Hufe nur und Gold die Mähne. § 8. Bildung trochäischer Viertakter. 1. Der trochäische Viertakter, welcher unter dem Namen „spanischer Trochäus“ große Beliebtheit erlangte, hat nicht selten eine Diärese am Ende des 2. Taktes. Der Lernende hat darauf zu achten, daß dieselbe nicht zur stehenden Diärese werde, weil dadurch der Vers in trochäische Zweitakter auseinander fallen würde. 2. Der trochäische Viertakter kann akatalektisch (–⏑ | –⏑ | –⏑ | –⏑ | vollzählig) und katalektisch (–⏑ | –⏑ | –⏑ | – unvollzählig) sein. 3. Es empfiehlt sich mit Rücksicht auf die Markierung des Versschlusses, zuweilen katalektische Verse mit akatalektischen wechseln zu lassen. 4. Die bequemste Form ist der akatalektische und der katalektische ungereimte trochäische Viertakter, auf die wir uns fürs erste beschränken. 5. Für lebhafte Aktion paßt dieses Versmaß mit seiner sinkenden Tendenz nur dann, wenn die Satztakte von Takt zu Takt übergreifen und Cäsuren ergeben. Bei geschickter Bauart kann dieser Vers als lyrischer, folglich auch als dramatischer Vers auftreten und fliegen und fortreißen. Wir empfehlen ihn nicht, weil ihn unsere Schauspieler nicht sprechen können, und weil er unsere Dichter häufig zum Rhetorischen und Bombastischen verleitet. Er eignet sich besonders zu leichten, humoristischen, geistreichen poetischen Erzählungen und Romanzen und zu kleinen epischen Gedichten elegischer Natur. (Jn einigen poetischen Erzählungen [z. B. Heines] nimmt er sich freilich höchst langweilig aus.) 6. Da viele trochäische Satztakte mit Vokalen endigen, so liegt die Gefahr der Hiate nahe, die zu vermeiden sind. 7. Allzuviele Spondeen dem Verse einzufügen, würde den trochäischen Rhythmus beeinträchtigen und dem Verse ein schweres Gepräge verleihen. Platen vervehmt die trochäischen Viertakter (oder Halbtrochäen, wie er sie im Hinblick auf den nach Dipodien gemessenen antiken Tetrameter [Achttakter] nennt), indem er (Ges. Werke IV , 77. Ausg. 1854) im Unmut über Müllners „Schuld“ sich also vernehmen läßt: „Jn jenen widersinnigen Hiatusreichen Halbtrochä'n, die jeder kennt, Wo bald ein Reim sich findet, bald auch wieder nicht, Bricht unser Missionarius den Geist heraus, Versteht sich, bloß den müllnerischen &c.“ Mit Recht bekämpft G. von Vincke Platens Anschauung, indem er (in seinem „kleinen Sündenregister“ S. 44, 1882) pathetisch ausruft: Nicht die Halbtrochä'n verdienen's: Stellt sie nur auf richt'ge Füße, Wahrt sie vor'm Hiatenballast, Vor Spondeen-Überfrachtung, Und von Harmonie gebändigt, Wandelt leicht der feste Schritt.“ Aufgabe. Der nachstehende Stoff soll in ungereimten trochäischen Viertaktern wiedergegeben werden. Stoff. Einen Tag vor seinem Tode ließ Cid seine Freunde um sich versammeln und sprach als Feldherr folgendes zu Lösung. Von Herder. Tāgĕs | nōch vŏr | sēinĕm | Tōdĕ | Ließ Cid seine Freunde kommen, Und als Feldherr sprach er so: ihnen: Jch weiß, daß der Mohrenkönig Bukar, der Valencia eingeschlossen hält, meinen Tod ersehnt; verschweigt ihn diesem Saracenen. Und die kostbaren Spezereien und der Balsam des Sultans von Persien sind wohl zum Einbalsamieren meines Leichnams gesandt. Wohl, meine Freunde, laßt meinen Leichnam waschen und mit Myrrhen einbalsamieren. Sodann kleidet ihn vom Haupte bis zur Sohle. San Jago wird euch begleiten; aber kein Klagegeschrei erschalle, und keine Thräne werde um mich geweint. Vielmehr ─ wenn ich gestorben sein werde ─ laßt in die Trommeten blasen und mit Pauken, Cymbeln und Klarinetten das Feldgeschrei zur Schlacht erheben. Und wenn ihr meinen Leichnam nach Kastilien begleitet habt, soll es kein Mohren= Seewolf erfahren; alle sollen hier zurückbleiben. Sattelt meinen Freund Babie ç a, legt mir meine Waffen an, gürtet mir die Tizona an und setzt mich so auf mein Roß. Neben mir soll Gil Diaz, Don Jeronymo, der Bischof, und mein tapferer Freund Bermudes gehen; Jhr aber, Alvar Fa ñ ez Minaya, zieht eilig zur Schlacht gegen Bukar! Gott wird Euch den Sieg verleihen, San Pedro hat mir dies selbst verkündet. Dies sprach der Feldherr ruhig, und der Ehrenbalsam des Sultans war ihm zum Triumph gesendet. „Jch weiß, daß der Mohrenkönig, Daß Bukar mit seinen Heeren, Der Valencia hart umschließt, Gierig meinen Tod erwartet; Bergt dem Saracenen ihn. Und die kostbar'n Spezereien, Die Balsame, die der Sultan Mir aus Persien gesandt, Sandt' er wohl für meinen Leichnam ─ Wohl, ihr Freunde, laßt ihn waschen, Balsamiert ihn mit der Myrrhe, Kleidet ihn von Haupt zu Fuß; San Jago wird Euch begleiten, Und kein Klaggesang erschalle, Keine Thräne wein' um mich. Vielmehr, wenn ich ausgeatmet, Lasset die Trommeten tönen, Laßt die Pauken, laßt die Cymbeln, Laßt die Klarinetten rufen, Feldgeschrei zur nahen Schlacht. Und wenn ihr dann nach Kastilien Meinen Leichnam hinbegleitet, Wiss' es ja kein Mohren-Seewolf, Alle lasset hier zurück. Sattelt meinen Freund Babie ç a, Kleidet mich in meine Waffen, Gürtet an mir die Tizona, Und so setzt mich auf mein Roß. Neben mir dann geht Gil Diaz, Don Jeronymo, der Bischof, Und mein tapfrer Freund Bermudes; Jhr Alvar Fa ñ ez Minaya Ziehet stracks hin auf Bukar; Daß Euch Gott den Sieg verleih'n wird, Sagte mir San Pedro selbst.“ Also sprach der Feldherr ruhig, Und des Sultans Ehrenbalsam War gesandt ihm zum Triumph. § 9. Bildung trochäischer Quinare. 1. Der trochäische Quinar (oder der serbische Trochäus) findet sich wie der trochäische Viertakter in der Regel akatalektisch (vollzählig) und nur beim Strophenschluß katalektisch (unvollzählig). 2. Er stimmt zur Klage, zum Ton der Schwermut. 3. Es fehlt ihm ein klassisches Vorbild, weshalb wir aus den Beispielen neuerer Dichter die Regeln abstrahieren müssen. 4. Sollte durch das Zusammenfallen von Diäresen mit syntaktischen Pausen innerhalb des Verses der Verscharakter schwankend werden, so muß von Zeit zu Zeit ein katalektischer Vers eingeschaltet werden, welcher die Jncision markiert und der Vermischung des Verscharakters vorbeugt. 5. Goethe mischt in der Braut von Korinth ─ des Wechsels halber ─ kürzere Zeilen ein. 6. Durch Einfügung jambischer Satz takte sind Cäsuren anzubringen, um auf diese Weise die allzuvielen Diäresen zu vermeiden, welche der trochäische Charakter unserer Sprache nur allzusehr begünstigt. 7. Die Nachahmer der serbischen Volkslieder haben nicht selten Daktylen eingemischt, was anerkennend zu beachten ist. Jhre Quinare nähern sich aufs glücklichste dem daktylischen Hexameter. Auch Platen belebte die Monotonie in den Abassiden durch Daktylen. Einen Nachfolger hat er erst heute gefunden. Tandem (Pseud. für Spitteler) hat 1883 sein allegorisches Lehrgedicht „Extramundana“, das er als kosmische Epik („individuelle Mythologie“) einführt, in diesem Versmaß erscheinen lassen. 8. Manche gebrauchten den Vers zum Sonett, Jmmermann zum Lustspiel („Auge der Liebe“); freilich hat es ihm niemand nachgemacht. Bei Übergreifung der Satztakte in die Verstakte würde man den trochäischen Quinar zum Bühnenvers gebrauchen können; niemand hat den Mut und kaum Einer das Geschick, ihn an Stelle des üblichen jambischen Quinars als Theatervers zu verwenden. Aufgabe. Folgender Stoff soll in trochäische Quinare umgewandelt werden. Das Material für je einen Vers ist durch Taktstriche abgegrenzt. Doch sind Überschreitungen dieser Maße gestattet. Nach zehn Jahren. Stoff. Nach langer Jrrfahrt trat ich ein | ins Haus der Schwester. Helles Jauchzen | von unbekannten Kinderstimmen schallte mir entgegen. | Und im Gemach, in welches der Abend | seine goldenen Strahlen durchs Weinlaub hindurch warf, | sah ich vergnügte Knaben spielen, | sieben an der Zahl. Sie | tummelten sich im Schimmer | froh umher; frisch wie die Rosen | blühten ihre Wangen. ─ Sie waren alle noch nicht geboren, | als ich auszog in die Welt, | selbst ihre Namen kannte ich nicht. | Sie sahen mich mit ihren großen Augen | verwundert an, so daß ihr Spiel verstummte. | Die Älteste nahte schüchtern | und fragte mit dem Tone der Mutter: Wer bist du? | Da nahte auch schon die Schwester. Jch sank ihr | in die Arme. Dann zeigte sie mir voll Wonne | ihre Kinder, des Hauses Schatz, | der sich so lieblich gemehret; dann nannte sie | den heimgekehrten Onkel den Kindern. | Nun entstand ein großer Jubel. | Die entschlossenen Buben kletterten an mir empor, | um mich zu küssen; die Mädchen bogen | mein Haupt herab; und selbst das Kleinste, das sich erst vor meinem Bart gescheut hatte, | langte mit den Händchen nach mir. Wie wohl ward mir's, so ganz umschlungen | und umrankt vom frischen jungen Leben, | das mich wie eine Bienentraube am Bienenstocke | umhing und mich nach tausend Wundern fragte. | Aber ein leiser Wehmutshauch | ging mir doch durchs Herz, denn diese Küsse | und Fragen, die rings auf mich einstürmten, | mahnten mich zugleich: Soviel Schritte | diese Kinder ins Leben thaten, so viel Schritte | bist auch du dem Tode zugeschritten, | und täglich rascher reift in ihnen | das Geschlecht, welches dereinst über deinem Grabe | wandeln soll, um selig zu sein oder zu weinen. | Und ich legte meine Hände wie segnend | auf ihr Haupt und dachte still bei mir: | Seid mir gegrüßt, ihr holden Todesboten, | ich danke euch, daß ihr so lieblich | den ernsten Gruß an mich bestellt habt. | Wachset freudig auf zu vollem Leben, | daß, wenn ich einst dahin sein werde, | ihr mit euren Brüdern vollenden könnt, | was ich und mein Geschlecht nicht vermochte. Lösung. Von Em. Geibel. Jn der Schwester Haus nach langer Jrrfahrt Trat ich ein; da hört' ich's drinnen jauchzen Hell von unbekannten Kinderstimmen. Sieh', und im Gemach, in das der Abend Golden flutete durch schattend Weinlaub, Sah ich wohlgemut die Kleinen spielen, Sieben an der Zahl. Die blonden Häupter Tummelten im reichergoßnen Schimmer Froh umher, und wie die Rosen blühten Jhre Wangen von gesunder Frische. Ach, sie alle waren nicht geboren, Als ich auszog, durch die Welt zu schweifen, Selbst die Namen wußt' ich kaum zu nennen. Still verwundert drum mit großen Augen Schauten sie mich an, das Spiel verstummte, Und die Älteste, mir schüchtern nahend, Fragte mit der Mutter Ton: wer bist du? Doch da kam die Schwester. Jn die Arme Sank ich ihr, und dann voll Wonne zeigte Sie die Kinder mir, den Schatz des Hauses, Der so lieblich sich gemehrt, und zeigte Dann den heimgekehrten Ohm den Kindern. Und nun gab's ein Jubeln, rasch entschlossen Kletterten an mir empor die Buben, Mich zu küssen, und die Mädchen bogen Mir das Haupt herab, und selbst das Kleinste, Das sich erst gescheut vor meinem Barte, Tastete nach mir mit seinen Händchen. O wie ward mir's wohl, so ganz umschlungen, Ganz umrankt vom jungen frischen Leben, Das wie eine Bienentraub' am Stocke Um mich hing, und tausend Wunder fragte! Aber leise ging ein Hauch der Wehmut Durch das Herz mir doch, denn diese Küsse, Diese Fragen, die mich rings bestürmten, Mahnten sie zugleich nicht: So viel Schritte Sie gethan ins Leben, so viel Schritte Hast auch du gethan dem Tod entgegen, Und schon reift in ihnen täglich rascher Das Geschlecht, das über deinem Grabe Wandeln soll und selig sein und weinen. Und wie segnend legt' ich meine Hände Auf ihr Haupt und dachte still die Worte: Seid gegrüßt, ihr holden Todesboten Seid gegrüßt, ich dank' euch, daß so lieblich Jhr den ernsten Gruß an mich bestellt habt. Aber ihr ─ zu vollem Leben freudig Wachset auf, daß, wenn ich einst dahin bin, Jhr vollenden mögt mit euern Brüdern, Was ich selbst und mein Geschlecht nicht konnte. ────── III . Übungen im anapästischen Rhythmus. § 10. Bildung anapästischer Verstakte. 1. Der jambische Rhythmus verträgt recht wohl anapästische (⏑⏑–) Verstakte. Durch dieselben erhält der jambische Vers noch größere Beweglichkeit und Beschleunigung, als ihm von Natur schon eigen ist. 2. Werden alle jambischen Verstakte eines Gedichtes, oder auch nur die Mehrzahl derselben, in Anapäste verwandelt, so entstehen anapästische Verse. Bei Vorwiegen der jambischen Verse spricht man von jambisch=anapästischem Rhythmus und nennt die Verse gemischt (logaödisch). 3. Die Alten (Äschylus, Sophokles, Aristophanes) verwendeten den Anapäst, um der Leidenschaft den nötigen Ausdruck zu verleihen. Jm Deutschen bedient man sich desselben in Gedichten, die ein mutiges Fortschreiten, lebhaften Schwung und leichte Beweglichkeit der Gefühle beweisen sollen. 4. Da ein Jambus ebensoviel Zeit beansprucht, als ein Anapäst, so können im anapästischen Rhythmus überall auch Jamben stehen. (Vgl. Poetik I , 254 ff.) Jhr Vorkommen muß indes ein beschränktes sein, wenn der anapästische Rhythmus nicht verwischt werden soll. 5. Aus diesem Grunde beginnt man die anapästische Reihe in der Regel mit einem Jambus. 6. Um nicht allzusehr ins Rollen zu geraten, ist es geboten, hie und da syntaktische Pausen einzufügen, oder auch am Schluß der Sätze den verlangsamenden Jambus oder auch einen steigenden Spondeus anzuwenden. Durch geschickte Benützung übergreifender Satztakte wird das anapästische Versmaß, besonders das verlängerte, amphibrachisch (z. B. ⏑–⏑ | ⏑–⏑ | ⏑–⏑ | ⏑–⏑). 7. Daktylische Satztakte eignen sich hie und da zur Bildung von anapästischen Viertaktern, da sie schöne Cäsuren ermöglichen. Aufgabe. Der nachfolgende Stoff soll unter Beachtung des Obigen im anapästischen Rhythmus wiedergegeben werden; die Einfügung von Jamben ist gestattet. Stoff. Empfangt mich, ihr heiligen Schatten! Jhr hohen, belaubten Gewölbe, welche der ernsten Betrachtung geweiht sind, empfangt mich und haucht mir ein Lied zum Ruhme der verjüngten Natur ein! Und ihr, lachende Wiesen, mit euern labyrinthischen Bächen, ihr betauten, blumigten Thäler! Jch will mit eurem Wohlgeruche Zufriedenheit atmen. Jch will euch besteigen, ihr duftigen Hügel, in goldene Saiten will ich die Freude singen, die um mich herum aus der beglückten Flur lacht. Aurora und Hesperus sollen meinen Gesang hören. Auf rosenfarbenen Wolken, umgürtet mit Lösung von Kleist. (Anapäste und Jamben.) Ĕmpfāngt | mĭch, hēi | lĭgĕ Schāt | tĕn! Jhr ho|hen belaub|ten Gewöl|be, der ernsten Betrachtung geweiht, empfangt mich, und haucht mir ein Lied ein zum Ruhm der verjüngten Natur! ─ Und ihr, o lachende Wiesen, voll labyrinthischer Bäche! betaute, blumigte Thäler! Mit eurem Wohlgeruch will ich Zufriedenheit atmen. Euch will ich besteigen, ihr duftigen Hügel! und will in goldene Saiten die Freude singen, die rund um mich her, aus der glücklichen Flur lacht. Aurora soll meinen Gesang, es soll ihn Hesperus hören. Auf rosafarbnem Gewölk, mit jungen Blumen umgürtet, sank jüngst der jungen Blumen, sank jüngst der Frühling vom Himmel. Sein göttlicher Hauch wurde durch alle Naturen gefühlt. Der Schnee schmolz auf den Bergen, die Ströme traten aus den Ufern, die Wolken zergingen in Regen, Wellen schlug die Wiese, der Landmann erschrak. Noch einmal hauchte der Frühling. Da flohen die Nebel und verliehen der Erde den blauen Äther; wieder trank der Boden die Flut und die Ströme traten zurück in ihre vom Schilf begrenzten Betten. Zwar streute der weichende Winter, so oft er in den Nächten wiederkehrte, von seinen oft kräftigen Schwingen Reif, Schneegestöber und auch Frost, und er rief die gewaltigen Stürme. Diese kamen mit donnernder Stimme vom Nordpol angezogen, verheerten heulend die Wälder und durchwühlten die Meere bis auf den Grund. Da hauchte der Frühling noch einmal seinen belebenden Odem, und die Luft wurde sanft; aus den Stauden, Blumen und Saaten entstand ein grüner Teppich und bekleidete Thäler und Hügel &c. Frühling vom Himmel. Da ward sein göttlicher Odem durch alle Naturen gefühlt. Da rollte der Schnee von den Bergen, dem Ufer entschwollen die Ströme, die Wolken zergingen in Regen, die Wiese schlug Wellen, der Landmann erschrak. ─ Er hauchte noch einmal: Da flohen die Nebel und gaben der Erde den lachenden Äther, der Boden trank wieder die Flut, die Ströme wälzten sich wieder in ihren beschilften Gestaden. Zwar streute der weichende Winter bei nächtlicher Wiederkehr oft von kräftig geschüttelten Schwingen Reif, Schneegestöber und Frost und rief den unbändigen Stürmen: Die Stürme kamen mit donnernder Stimm' aus den Höhlen des Nordpols, verheerten heulende Wälder, durchwühlten die Meere von Grund auf. ─ Er aber hauchte noch einmal den allbelebenden Odem. Die Luft ward sanfter; ein Teppich, mit wilder Kühnheit aus Stauden und Blumen und Saaten gewebt, bekleidete Thäler und Hügel &c. § 11. Bildung anapästischer Viertakter. 1. Am gebräuchlichsten sind neben anapästischen Achttaktern (Tetrametern) die anapästischen Viertakter (Dimeter). 2. Ununterbrochen fortlaufende anapästische akatalektische Viertakter würden wohl der flüssigen Rede entsprechen, aber es würden keine Absätze entstehen. Um diese zu erreichen, möge man zuweilen einen katalektischen Viertakter oder auch einen Zweitakter einfügen. Durch dieses Kunststück haben die Dichter von jeher ihre anapästischen Systeme gebildet, z. B. Grosse, Geibel, Schiller, welcher katalektische Nachsätze einfügt. Anapästische Systeme hatten schon die Alten eingeführt; insbesondere war der Paroemiacus (⏑⏑–⏑⏑─́ | ⏑⏑–⏓), ein katalektischer anapästischer Dimeter, von jeher unterbrechender Vers oder Schlußvers eines solchen Systems. (Vgl. Hephäst. und Scholl.) 3. Platen, der sich dieses Vorteils bedient, schließt mehrfach die Strophe durch einen katalektischen Viertakter ab, dessen Schlußtakt ein fallender Spondeus ist. Er hemmt dadurch gleichsam mit einem stoßförmigen Schlag die Bewegung und markiert die Jncision. „Ein Erob | erer zieht || D der Poet einher. Jhm diene die Welt ‖ und der Menschheit Herz Wie ein Ball in der Hand, ‖ den übungsreich Bald fängt, bald wirft ‖ Des erhabenen Spielers Ānmūt!“ (Platens Werke IV , 102.) 4. Wie im vorstehenden Platenschen Beispiel findet sich in den meisten akatalektischen anapästischen Viertaktern nach dem 2. Verstakte eine männliche Diärese, wenn auch keine stehende. (Freilich giebt es auch Ausnahmen, bei denen der Satztakt aus dem 2. Verstakte in den 3. hinüberragt, wie diese von Rückert: Mein Schatz, | ihr Sum | men ist süß | er Erwerb | .) Der Lernende möge dies nachahmen. Er vermeidet hiedurch, daß der Hörer beim Lesen von Anapästen den Eindruck von Daktylen erhält; auch heben sich die Anapäste deutlicher ab. 5. Beim katalektischen Vers rechnet man die Pause hinzu. 6. Noch machen wir darauf aufmerksam, daß beim katalektischen anapästischen Viertakter der 3. Verstakt weder ein Jambus noch ein Spondeus sein darf, sondern nur ein Anapäst, ähnlich wie im Hexameter der vorletzte Takt zur Gewinnung eines freundlich hemmenden Schlußfalls nur ein Daktylus sein darf. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in anapästischen Viertaktern wiedergegeben werden. Je der sechste derselben soll katalektisch sein und den Satz abschließen. Stoff. Auf, ihr Genossen, erstickt eure Zweifel | und eröffnet den Tanz. Der sehnsüchtig wartende Freund | hat dies leere Gefilde betreten: | Der Dank feiere ihn nunmehr in Ergießungen | nie müden Gesanges. Es zerfällt freiwillig | der Willkomm in gemessene Silben. ‖ Auf, ihr Genossen, umtanzet ihn, | die gewaltige Hymne beginnt, | die wie ein Glücksbote, wie ein von dem Lösung von Platen. Auf, auf, o Genossen! den Zweifel erstickt, Und eröffnet den Tanz! der erwartete Freund, Der ersehnte, betrat dies leere Gefild: Nun feire der Dank in Ergießungen ihn Nie müden Gesangs! Freiwillig zerfällt Jn gemessene Silben der Willkomm. Auf, auf, o Genossen! Umtanzt ihn rings Und die Hymne beginnt, die gewaltige, die, Jdagebirg | Ganymeden keck geraubter Aar, | die Gestirne vorbei, siegesstolz sich wiegt | auf des Wohlklangs silberner Schwinge. ‖ Auf, ihr Genossen, ruft | den Romantiker, welcher sein Dasein | in melodischen Traum lullt. Es erschien Dir, o Poet, | der erwartete Gast, nach welchem Du | sehnsüchtig Seufzer längst erhubst. ‖ Wie ein Bote des Glücks, wie ein Aar, der keck Von dem Jdagebirg Ganymeden geraubt, Die Gestirne vorbei, sich siegstolz wiegt Auf silberner Schwinge des Wohlklangs! Auf, auf, o Genossen! Und rufet empor Den Romantiker, der in melodischen Traum Sein Dasein lullt! Es erschien, o Poet, Der erwartete Gast, nach welchem Du längst Schweratmend erhubst, voll süßer Begier, Sehnsüchtig unsterbliche Seufzer! § 12. Bildung anapästischer Achttakter. 1. Der anapästische Achttakter (oder der aristophanische Tetrameter) wird in der Regel katalektisch gebildet, so daß die Pause des letzten Verstaktes hinzugerechnet werden muß, um ihn vollständig erscheinen zu lassen. Man könnte sagen, er bestehe aus zwei anapästischen Viertaktern, von denen der letzte katalektisch ist. 2. Er hat eine stehende Diärese am Schluß des 4. Taktes, weshalb man ihn nicht selten gebrochen schreibt, so daß die akatalektische Anfangshälfte den Vordersatz, das zweite katalektische Hemistichium dagegen den Nachsatz bildet. 3. Herkömmlicher Weise wird der anapästische Achttakter nie zu Strophen vereint, sondern nur in der fortlaufenden Rede verwandt. 4. Rückert markiert den Schluß der sehr langen Zeile durch die Katalexis wie durch Anwendung der Assonanz. 5. Die im vorigen Paragraphen gegebenen Regeln für Bildung des anapästischen Viertakters gelten auch für den Achttakter. Aufgabe. Anapästische Achttakter. Von den gebrochenen 7 Schlußzeilen des Stoffes sollen die 6 ersten akatal. Zweitakter sein; die letzte Zeile soll mit einem katalekt. Viertakter abschließen. Stoff. Anapäst, du sausender Aar, kehre zurück zur Freundin, | welche im Gemache sich härmt und sich hinaus sehnt aus dem Dämmer der Krankheit! | Auf dem schattigen Platze mit seinem säuselnden Laube, wo der Fußtritt des Menschen verhallt, | wo der Kuckuck und das freundlich blickende Häschen bis in die Nähe sich wagen, | wo der Freund rastet und durch die Bäume den blauen Himmel sieht: | Jch entsende Dich von hier, daß du als mein Bote die sandige Landschaft durcheilest! | Vernimm denn meinen Befehl: Die Ereignisse des Tages, den wir heute mit Wandern zubrachten, | berichte mit schwungvoller Rede und in jauchzend gehobenen Maßen. | Vergiß nicht des Stromes in der Ebene mit der Schafschwemme, | wo der ängstlich zappelnde Bock den Waschenden umriß, | vergiß auch nicht das Moor am Waldessaume mit den weidenden Kühen, | noch der friedlichen Rast im Schatten der Gartenmauer. | Erzähle auch vom Walde, und von der Najade, | welche von Rosen umblüht, vom Moos übergrünt und vom durstigen Eppich umrankt wird. | Was du geschaut, behalte, und sobald du das Städtchen erreicht hast, | senke dich aus deinen schwindelnden Höhen auf den Baum nieder, | der vor ihrem Fenster steht, | und fächle ihr Genesungsluft des Gebirges zu, | und dein von der mailichen Luft verklärtes Auge leuchte in das Düstere: verscheuchend gespenstigen Spuk, damit ihr die Welt als ein blühendes Bild erscheine, sowie auch des Freundes Gestalt, der überall der Entbehrenden eingedenk blieb. Lösung. Von Gottfr. Kinkel. Nŭn zurǖck, | Ănăpǟst, | dŭ mĕin sāu | sĕndĕr Aār, | ŭnd ĭm Stūr | mĕ zurück | zu der Freun | din, Die sich härmt im Gemach und nach Sonne sich sehnt aus dem drückenden Dämmer der Krankheit! Auf dem schattigen Platz mit dem säuselnden Laub, wo verhallet der menschliche Fußtritt, Wo der Kuckuck vertraut in die Nähe sich wagt und mit freundlichem Auge das Häschen, Wo sich rastet der Freund auf dem Saum des Gebirgs und durch grünende Wipfel ins Blau schaut: Jch entsende dich hier, daß du Bote mir seist durch die flachere sandige Landschaft. So vernimm den Befehl denn: Die Wunder des Tags, den wir heute mit Wandern verbrachten, Du verkünde sie ihr mit geflügeltem Wort in den jauchzend gehobenen Maßen! Und vergiß nicht des Stroms, der die Ebne durchrollt, mit der lustigen Schwemme der Schafe, Wo mit zappelnder Angst der gewaltigste Bock in die Fluten den Waschenden umriß, Nicht des schillernden Moors an dem Saume des Walds, wo die mastigen Kühe sich labten, Noch der friedlichen Rast in der Schwüle des Tags, in dem mauerbeschatteten Garten. Von dem Walde darnach auch erzähle du ihr, von der neckend verborgnen Najade, Die die Rosen umblühn, die das Moos übergrünt, die der durstige Eppich umrankt hält. Wie du selbst es geschaut, so behalt es genau, und sobald du gewonnen das Städtchen, Da entschwinge dich leicht aus den schwindelnden Höhn auf die nickenden Wipfel des Baumes, Der mit tröstlichem Grün durch das Fenster ihr blickt in das matte verschmachtende Auge, Und entfalte die Schwing' und umfächle sie leis mit genesender Luft des Gebirges, Und dein Auge verklärt von der mailichen Luft in das Düstere laß es ihr leuchten; Es verscheuche vor ihr Den gespenstigen Spuk, Daß sie schaue die Welt Als ein blühendes Bild, Und des Freundes Gestalt, Der in allem dem Glück Der Entbehrenden treulich gedenk blieb! ────── IV . Übungen im heroischen Versmaß. § 13. Bildung von deutschen Accenthexametern. Obwohl der ausländische (exotische) Hexameter für uns Deutsche in keiner Weise zu den empfehlenswerten Maßen gehört, so muß man sich doch mit ihm vertraut machen, um die deutschen hexametrischen Dichtungen ihrem Werte nach würdigen zu können. 1. Der Hexameter ist ein ursprünglich aus 6 Daktylen bestehender Vers. Um seinen ins Unendliche forthüpfenden Gang zu zügeln und sein Ende zu markieren, setzte man an Stelle des letzten Daktylus einen hemmenden Spondeus (– –) oder Trochäus (– ⏑). Zur Vermeidung der Eintönigkeit der übrigbleibenden fünf Daktylen hat man als hemmendes Mittel je nach Bedürfnis den einen oder den andern der ersten 4 Daktylen mit einem Spondeus vertauscht, nicht aber den 5., der als Charakteristikum für den Hexameter unangetastet bleiben mußte. Das bewegliche Schema des Hexameters gestaltete sich nunmehr folgendermaßen: type="versmetrik" 2. Der deutsche Hexameter darf nicht gegen die deutschen Accentgesetze verstoßen; er darf also niemals leichte Silben in die Arsis bringen, oder die betonten wie unbetonte thetisch verwenden. Wir nennen ihn im Gegensatz zum quantitierenden Hexameter der Alten Accenthexameter . 3. Manche deutsche Dichter, welche den deutschen Accentgesetzen keine Rechnung trugen, haben durch Verlegung volltoniger Silben in die Thesis unerträgliche Accentverschiebungen veranlaßt, welche kaum ausnahmsweise durch rhythmische Malerei zu rechtfertigen sind. Der Anfänger sollte zur Bildung seines Ohres jede Accentverschiebung zu verbessern suchen. Es würde z. B. der Hexameter: Horch, es er | dröhnt im Ge | fild Schlācht | rū́f und Geklirre der Waffen etwa so zu ändern sein: Horch, es er | dröhnt im Ge | filde Ge | klirre der | Waffen und | Schlā́chtruf. Oder so: Horch, es er | dröhnt im Ge | filde der | Schlā́chtrūf, | Klirren der Waffen &c. 4. Es ist besser, die zweite Thesis des Daktylus im Tongewichte etwas schwerer zu halten, als die erste. Daktylen, wie hei 5 lsa 3 me 1 r, sind unserem Ohre nicht so bequem, als wu 5 nde 1 rsa 3 m, weil die Diäresis (Einschnitt am Ende des Verstaktes) ein kräftiges Einsetzen des neuen Verstaktes begünstigt. (Vgl. nachstehende Ziff. 14.) 5. Aus diesem Grunde würden sich einsilbige Thesen wie er, ich, mich, mir, ein &c. in der 2. Thesis besser ausnehmen, als in der ersten. 6. Bei den quantitierenden Alten spielte der Spondeus, dessen eine Länge der anderen entsprach, eine große Rolle. Jn unserem Accenthexameter kann es sich nur um sog. trochäische Spondeen (─́ –) handeln, deren zweite Hälfte beim Lesen einen geringeren Tongrad erhält (z. B. We 5 ltma 3 cht). Die ganze neuere deutsche Verskunst beruht auf richtiger Anschauung dessen, was ein Spondeus ist und spottet aller philologischen und antiquarischen, ja selbst Brücke's physiologischen Beobachtungen. Die Sprache lebt, der Sprechende lebt und der Accent richtet sich nach dem gegenwärtig Sprechenden! 7. Als Spondeus im Hexameter muß demgemäß der jambische Spondeus, bei welchem die 2. Hälfte den Sinnton hat (z. B. gie 4 b a 5 cht) selbstredend ausgeschlossen sein. 8. Da viele Trochäen (z. B. Tr 5 übsa 3 l, la 5 ngsa 3 m, u 5 rba 3 r) dem trochäisch gelesenen Spondeus gleichen, oder ihm wenigstens im Tonwert nahe stehen, so erhellt, daß der Trochäus im deutschen Accenthexameter zulässig ist. Durch seine Einführung erhält der Hexameter mindestens größere Leichtigkeit und Biegsamkeit, als der antike Hexameter mit seinem monotonen Geklapper. Die große Skala von Trochäen (z. B. He 5 ilkra 4 ut, he 5 ilsa 3 m, he 5 ili 2 g, he 5 ile 1 n) ermöglicht dem Dichter die Auswahl, so daß der Unterschied in der Praxis nicht einmal erheblich zu sein braucht. Gerade der Trochäus unterscheidet unseren dunklen Accenthexameter von dem antiken Hexameter und gestattet eine große Mannigfaltigkeit in den Satztakten, die dem antiken Hexameter fremd ist. 9. Selbst die Gegner des Trochäus im Hexameter müssen diesen Verstakt tolerieren, wenn nach seiner Arsis eine kräftige Cäsur eintritt, indem z. B. die Arsis ein einsilbiges Stammwort bildet und die Thesis die Vorsilbe des Stammworts vom nachfolgenden Daktylus (z. B. Macht; Ge | walt &c.). Jn solchen Fällen räumt nämlich die rhythmische Pause der nachfolgenden Thesis eine erhöhte Bedeutung ein, die der Länge des Spondeus nichts nachgiebt. Beweis: Macht; Ge walt 10. Der Trochäus eignet sich für den 1., 4. und letzten Takt am besten. Selbst Homer hat im 4. Takte einigemal den Trochäus angewandt. 11. Am Schluß des Hexameters wirkt der Spondeus kräftiger als der Trochäus. 12. Schon bei den ersten Übungen hat man sich zu bestreben, die Hauptcäsur in den 3. Takt zu bringen. 13. Eine Diäresis am Ende des 3. Taktes ist streng zu vermeiden, da sie den Hexameter halbieren würde. 14. Um die einzelnen Verstakte fester in einander zu fügen und die störenden Diäresen (namentlich am Ende des 2. und 4. Taktes) zu vermeiden, möge man sich amphibrachischer Satztakte bedienen (⏑ – ⏑, z. B. beleben, erfreuen, Verrichtung &c.). Auch kretische Satztakte (– ⏑ –) helfen über manche Schwierigkeit hinweg. Der Bacchius (– – ⏑, z. B. Weinfässer) ist kaum als Notbehelf für den Daktylus zulässig, auch wenn die zweite Silbe mitteltonig gelesen wird (z. B. frēigĕbĭg == fre 5 ige 3 bi 1 g). Da wir im Hexameter den Trochäus gestatten, so können wir dagegen recht gut amphimakrische Wörter, z. B. Wāssĕr | fāll, anwenden. Die Silbe fall beginnt dann den neuen Satztakt. 15. Besondere Sorgfalt erfordert die Unterlassung des Hiatus im heroischen Versmaß, da die doppelte Mundöffnung der raschen Bewegung des Versmaßes hinderlich sein muß. Am allerwenigsten dürfte ein Hiatus zwischen die beiden Thesen des Daktylus fallen. Der Hiatus „freundliche Augen“ dürfte dieselbe Nachsicht beanspruchen können, als der Hiatus zwischen 2 Jamben oder 2 Trochäen, da das erneute Atemholen und Einsetzen nach dem Daktylus „freūndlĭchĕ“ möglich wäre. Niemals wäre jedoch der Hiatus „Frēundĕ ĭn“ oder „Höre auf“ zu entschuldigen, da der rasche Versrhythmus eine Unterbrechung zwischen den beiden Thesen des Daktylus unmöglich macht. E nach e ist zu vermeiden. Freilich geht dies nicht immer in der Prosa (z. B.: Meine Ehre. Deine Eltern). Die Poesie hat eben andere Worte zu suchen. 16. Für die ersten hexametrischen Bildungen genügt die Beachtung dieser Hauptsachen. Zu den Feinheiten im Hexameter gelangt man, wenn man im Hinblick auf unsere Anforderungen wägt, prüft, vergleicht, ergänzt, feilt. Tröstend muß der Umstand sein, daß selbst Goethe's erste Hexameter (in Hermann und Dorothea) recht mangelhaft waren, während seine späteren Bildungen strengeren Anforderungen bedeutend näher kamen. Aufgabe. Die nachfolgende Erzählung soll in Hexametern (in gewöhnlicher Sprache) wiedergegeben werden. Die Elster und ihre Kinder. (Von Wilh. Grimm. Tierfabeln bei den Minnesingern. Aus den Abhandlungen der Akademie der Wiss. Berlin, 1855.) Stoff. Eine Elster führte ihre Kinder aufs Feld, | damit sie lernen möchten, selbst ihre Nahrung zu suchen. | Das gefiel ihnen aber nicht. „Wir wollen lieber ins Nest zurück,“ riefen sie, „da haben wir's bequemer; denn du, liebe Mutter, trägst uns die Speise im Schnabel herbei.“ Doch die Alte erwiderte: „Meine Kinder, ihr seid groß genug, euch selbst zu ernähren; meine Mutter hatte mich viel früher ausgewiesen.“ „Aber die Bogenschützen werden uns töten,“ antworteten die Kinder. „Nein, nein,“ sprach sie, „es gehört Zeit zum Zielen; wenn ihr seht, daß sie die Armbrust in die Höhe heben und an das Gesicht legen, um abzudrücken, so fliegt davon.“ „Das wollen wir wohl thun,“ wandten die Kinder wieder ein, „aber wenn einer einen Stein nimmt und nach uns werfen will, so ist dazu kein Zielen nötig, wie dann?“ „Jhr könnt ja sehen, wie er sich bückt,“ sagte die Alte, „wenn er den Stein aufheben will.“ „Aber wie, wenn er einen Stein beständig in der Hand trägt und jeden Augenblick zum Schleudern bereit ist?“ „Ei was ihr nicht alles wißt!“ sprach die Mutter; „ihr könnt schon selbst für euch sorgen.“ Damit flog sie weg und ließ sie allein. Lösung a . Takt 1 2 3 4 5 6 Ēinstmăls fǖhrtĕ dĭe Ēlstĕr dĭe Jūngĕn spă ziērĕn ĭm Sā́atfēld Sie zu be lehren, sich künftig zu suchen die kräftige Nahrung. Jhnen ge fiel dies nicht und sie riefen: Wir wollen im Nest ruhn. Sieh! dort haben wir's tausendmal schöner, wo, Mütterchen, Du uns Nährendes herträgst reichlich im Schnabel. Da sagte die Elster: Kinder, ihr seid nun ver ständig ge nug, euch selbst zu ver sorgen. Mir ward früher ge wiesen die Thüre. Da riefen die Kinder: Tötliche Pfeile der Schützen, sie finden die Kinderchen wehrlos. O, sprach lächelnd das Mütterchen: Zeit braucht immer das Zielen. Drum, wenn ihr sehet er greifen die Armbrust, suchet das Weite! Schreiend und polternd er widerten nun die Kinderchen altklug: Wie, wenn jemand sich bückt, zu er greifen ein Steinchen des Unheils? Während der Werfer sich schlau bückt, müßt ihr be ginnen den Fluchtflug. Doch, wenn der Gegner be ständig den Stein in den Händen her umträgt, Listig das Schleudern be ginnend, be vor es die Kinderchen ahnen? Ei, was alles ihr Klugen schon wißt, sprach lächelnd die Mutter. Sicherlich braucht ihr nicht fürder des mütterlich wachenden Umblicks. Sprach's und ent flog in die Ferne, für immer die Jungen ver lassend. Lösung b . Von Karl Putz. Hast du der Elster Gespräch mit den Jungen gehört in dem Saatfeld, Wo sie dieselben belehrte, sich künftig zu suchen die Nahrung? Jhnen jedoch mißfiel es; sie riefen: „Wir wollen ins Nest heim; Denn dort haben wir's besser; Du selbst bringst reichlich im Schnabel Uns das benötigte Futter herzu.“ Drauf sagte die Elster: „Kinder, ihr seid nun erwachsen genug, euch selbst zu ernähren, Wie ich es früher gemußt.“ Doch es sprachen die ängstlichen Jungen: „Bringt uns nicht in Gefahr pfeilsendender Bogen des Jägers?“ Aber die Mutter begann: „Zeit fordert das Zielen und Schießen; Drum, wenn zum Bogen ihr greifen ihn seht, dann suchet das Weite!“ ─ „Und wenn ein andrer sich bückt nach dem Stein, um zu werfen auf uns her?“ ─ „Während gebückt er noch steht, müßt schleunig zur Flucht ihr euch wenden.“ ─ „Doch, wenn einer den Stein in den Händen beständig herumträgt, „So daß, eh wir es merken, er immer zum Schleudern bereit ist?“ ─ „Ei, wie denkt ihr an alles so klug!“ sprach lächelnd die Mutter; „Sicherlich braucht ihr mich nicht, und ihr wißt euch selber zu helfen!“ Sprach's und entflog in die Fern', und verließ die gewitzten für immer. § 14. Bildung von deutschen Pentametern. 1. Der Pentameter besteht aus zwei katalektischen daktylischen Dreitaktern ( type="versmetrik" ), oder aus zweimal 2½ Takten, oder auch aus 6 Takten, von denen die letzte Hälfte des 3. und 6. Taktes eine Pause hat. 2. Nur in den beiden ersten Verstakten des Pentameters kann statt des Daktylus ein Spondeus oder auch ein Trochäus gesetzt werden. Jm letzten Hemistichium (Vershälfte) muß der Daktylus beibehalten werden und zwar einesteils, um den daktylischen Grundcharakter zu wahren, andernteils um das Anhalten nach der ersten Hälfte (rhythmische Pause) durch die neu beschleunigte Bewegung in Vergessenheit zu bringen. Beispiele des Pentameters: a . mit dem Trochäus im Anfang: J̄st dĭe | Līebĕ dăhīn, ‖ labt der Gedanke daran. (Platen.) b . mit dem Spondeus im Anfang: J̄st nīcht | Līebĕ fü̆r | sīch ‖ schon ein lebend'ger Gewinn. (Platen.) Bis statt | Klārhēits | schēin ‖ wirkliche Klarheit erschien. (Rückert.) c . mit daktylischem Anfang: Ābĕr ĕin | sēhnĕndĕs | Hērz ‖ findet sich wieder in euch. (Platen.) 3. Ein Zusammenziehen der beiden Hälften des Pentameters durch ein überbrückendes Wort ist unzulässig (versrhythmisch unschön), weil die letzte Silbe des ersten Hemistichiums ungebührlich lang ausgehalten werden müßte, z. B.: Helena | selbst und der | blond )̐̑| lockigen Freundinnen Wort. 4. Der Pentameter kommt in der Regel nur in Verbindung mit anderen Metren vor, insbesondere mit dem Hexameter. § 15. Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter. Aus der Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter entsteht eine Zweizeile, welche unter dem Namen elegisches (oder epigrammatisches) Distichon bekannt ist. Sie wurde um so lieber zu Elegien und Epigrammen verwendet, als der zur präzisen Ausdrucksform zwingende Pentameter dem ins Weite eilenden Hexameter einen freundlichen Abschluß aufnötigt. Eine Reihe solcher, durch den Jnhalt zusammenhängender Distichen bildet das elegische Gedicht . A . Das elegische Distichon. 1. Es gleicht in seinem Anlauf und Abfluß der Welle, die ewig flieht und ewig wieder naht. 2. Es ist nicht unbedingt nötig, daß am Ende des Hexameters eine syntaktische Pause eintritt, vielmehr kann der Jnhalt des Satzes hie und da einmal in den folgenden Pentameter überlaufen. 3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion; man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um ihnen sodann die Distichenform zu verleihen. 4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die orientalischen) die beste Schule. Aufgabe 1. Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu verwenden. An die Erde. Stoff. Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen; er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß. Lösung. Von Friedrich Hebbel. Gönne dem Baume die Freude, gen Himmel zu wachsen, o Erde: Was er an Früchten erzeugt, wirft er dir doch in den Schoß. Aufgabe 2. Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon verwendet werden. Stoff. Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten und Schwächen. | Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung auch zu leben. Lösung. Nie sei schüchtern, befangen vor anderen außer mit Ursach'. Sie sind Menschen wie du, haben Gebrechen wie du. Merke: zu scheu'n sind nicht von den Menschen die bessern und weisern; B . Das elegische Gedicht. 1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen Ausdruck verleiht, nennt man es elegisches Lied . 2. Elegie heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender, sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt. 3. Bei einem elegischen Gedichte kann ausnahmsweise der Gedanke aus einem Distichon in das andere überlaufen. 4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo= sophischen Abhandlungen aus Prosa in kleine elegische Gedichte umgewandelt hat (z. B. Kolumbus, die Führer des Lebens &c. &c.). 5. Als eine instruktive Vorübung und Überleitung zur selbständigen Produktion könnte die Veränderung strophischer elegischer Reimgedichte ins elegische Versmaß empfohlen werden, weil der Lernende hier ein vollendetes, poetisch durchgearbeitetes Material bereits vorfindet. Wenn seine Bildung auch weit hinter dem Original zurückbleiben muß, so befindet er sich während seiner Arbeit, die in diesem Falle nur die Form zu berücksichtigen hat, doch in guter Gesellschaft. Wir empfehlen alle jene Formen, die wir unter elegischem Lied im 2. Bande der Poetik erwähnten. Ohne hier eine Aufgabe zu geben, zeigen wir durch eine kleinste Probe, wie wir es meinen: Original. Von Friedrich Rückert. Wer die Hand, die strafend schlägt, Jn demselbigen Moment Herzlich lieben kann, der trägt Liebe, die den Tod nicht kennt. Umbildung. Wer es vermöchte, die Hände, die strafenden, treulich zu lieben, Trüge gewiß im Gemüt Liebe, die nimmer erstirbt. Die erste Strophe von „des Einsamen Klage von Herder“ würde etwa so umzubilden sein: Original. Der Lenz erblüht! die Freude flieht! Mein Leben hat die Nacht umhüllt, Und meine Seel' ein Schmerz erfüllt, Der ewig in mir glüht u. s. w. Umbildung. Freuden und Frühling entfliehn. Vom Dunkel umhüllt ist mein Leben; Schmerz durchzieht mein Gemüt, ewig bedrückt mich das Weh u. s. w. Aufgabe. Nachstehender Stoff ist zuerst a ) mit möglichst treuer Beibehaltung der Prosarede zu übertragen. Sodann kann b ) eine mehr freie Bearbeitung versucht werden. Auf Jean Paul. Stoff. Ein Stern ist untergegangen und das Auge des Jahrhunderts wird sich schließen, bevor er wieder erscheint; denn in weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius und erst späte Enkel heißen freudig willkommen das, wovon trauernde Väter weinend geschieden. Eine Krone ist gefallen von dem Haupte eines Königs! Und ein Schwert ist gebrochen in der Hand eines Feldherrn; und ein hoher Priester ist gestorben! Wohl mögen wir den beweinen, der uns Ersatz gewesen und uns nun unersetzlich geworden. Jedem Lande ward für jedes trübe Entbehren irgend eine freundliche Vergütung. Der Norden ohne Herz hat seine eiserne Kraft; der kränkelnde Süden seine goldene Sonne; das finstere Spanien seinen Glauben; die darbenden Franzosen erquickt der spendende Witz, und Englands Nebel verklärt die Freiheit. Wir hatten Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr; in ihm verloren wir, was wir nur in ihm besaßen: Kraft, Milde, Glauben, heiteren Scherz und entfesselte Rede. Das ist der Stern, der untergegangen: der himmlische Glaube, der in dem Erloschenen uns geleuchtet. Das ist die Krone, die herabgefallen: die Krone der Liebe, die den beherrschte, der sie getragen, wie alle, die ihm unterthan gewesen. Das ist das Schwert, das gebrochen: der Spott in scharfer Hand, vor dem Könige zittern, und der blutleere Höflinge erröten macht. Und das ist der hohe Priester, der für uns gebetet im Tempel der Natur ─ er ist dahin geschieden, und unsere Andacht hat keinen Dolmetscher mehr. Wir wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die andern, die ihn nicht verloren. Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, in der er allen geboren werden wird, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd bis sein Volk ihm schleichend nachkommt. Lösung a . (Mit Beibehaltung der Prosawendungen.) Ūntĕrgĕ | gāngĕn ĭst | wiēdĕr ĕin | Stērn ŭnd nĭcht | ēhĕr wĭrd | schlīeßĕn | Sich des Jahr | hunderts | Blick, ‖ bis er uns | wieder er | scheint. | Denn in entferntester Bahn kommt näher der leuchtende Genius, Der willkommen erscheint freudigen Enkeln dereinst. Trauernd scheiden die Väter von ihm mit der bitteren Klage: Von eines Königs Haupt heut' ist gefallen die Kron'; Heute gebrochen entzwei ist ein Schwert in der Hand eines Feldherrn, Ein hoher Priester ist tot, er ist gestorben uns heut'. Jnnig beweinen, betrauern wir den, der Ersatz uns gewesen, Der seitdem er uns tot ganz unersetzlich uns ward. Jeglichem Lande wurde für drückendes trübes Entbehren Schon von Natur ein Ersatz freundlich vergütend gewährt; Oben dem eisigen Norden mit fröstelnder Kälte des Umgangs Ward für das mangelnde Herz eiserne, zwingende Kraft; Unten dem weichlichen Süden wurde die goldene Sonne, Spanien, finsterstes Land, Glaube zu Teil wurde dir. Frankreichs bestes Besitztum bildet das sprudelnde Witzeln. Doch wes rühmen wir uns Deutsche im Herzen der Welt? Unser Besitztum heißt Jean Paul, dem wir vieles verdanken: Sanftmut, Glauben, Humor und das entfesselte Wort. Jener erglänzende Stern Jean Paul ist untergegangen! Himmlischer Glaube hat stets in dem Erloschnen gestrahlt. Denke der Krone, die mit ihm entschwunden: der Krone der Liebe, Die ihn trug und durchzog, die er den Schülern vererbt. Denke des Schwerts, das zerbrach, und vor dem selbst Könige bangten, Denke des schneidigen Spotts, jeglichem Höfling ein Schreck. Wehe, der tüchtigste Priester, der für uns geopfert im Tempel Ewiger reiner Natur, die er gedeutet, ist tot. Wehe denn unserer Andacht, welcher der Dolmetscher mangelt, Lasset beklagen uns selbst, denen der Göttliche fehlt. Lasset beklagen auch jene, die nicht den Toten verloren, Jedem nicht hat er gelebt, weil ihn nicht jeder verstand; Aber die Zeit wird erscheinen, da werden ihn alle betrauern, Dann, wie heute schon uns, allen gehören wird er. Seht ihr ihn strahlen, am Throne des neuen Jahrhunderts geduldig Lösung b . (Freiere Form.) Von Karl Putz. Denkrede auf Jean Paul. Wēlch hēll | glǟnzĕndĕr | Stērn īst | jētzt ūns | ūntĕrgĕ | gāngĕn! Dies Jahr | hundert ver | geht, ‖ eh' er sich | wieder er | hebt. Denn in erhabenem Lauf hinziehet der leuchtende Genius, Der auf weitem Geleis strebt zu gelangen ans Ziel. Enkel wohl werden dereinst die Zurückkehr dessen begrüßen, Den, da von ihnen er schied, trauernde Väter beweint. Welch hehr strahlender Schmuck fiel nieder von Königes Haupte! Welch ein gewaltiges Schwert brach in gebietender Hand! Welch ein erlesener Priester verstarb, dem keiner wohl gleich ist Weit in der Welt ringsum, da er der oberste war! Wahrlich wir haben ein Recht, um den Toten in Trauer zu weinen, Der als Ersatz uns galt, während ihn keiner ersetzt. Jeglichem Land ist dar für betrübtes Entbehren geboten Jrgend ein freundliches Gut, irgend ein schöner Besitz. Nordisches Land ist herzlos zwar, doch eiserner Kraft voll; Südliches krankt, doch strahlt's golden in sonniger Glut, Spanien, finsteren Geists, kann rühmen sich kirchlichen Glaubens, Und der Franzosen Bedarf decket der spendende Witz. Wessen erfreun wir uns? Jean Paul war's, den wir besaßen, Den wir entbehren nunmehr! ─ ach! ein so herber Verlust, Welchen das trauernde Volk in den jetzigen Tagen erlitten, Weil grad das ihm entging, was es vor andern erhob: Kraft im Gemüt und die Milde des Sinns, herzinniger Glaube, Heiterer Scherz und das Wort, welches die Fessel verlacht. Kennst du den untergegangenen Stern? den erhabenen Glauben, Der im Erloschenen uns hatte geleuchtet bisher? Kennst du den niedergefallenen Schmuck? das war ja die Liebe, Die in dem Träger gewohnt, und die Verehrer erfüllt. Kennst du das Schwert, das gebrochen? der Spott in der stürmenden Hand war's, Welcher den Fürsten erschreckt, welcher den Höfling beschämt. Kennst du den obersten Priester? für uns stets hat er gebetet Ernst in dem Kreis der Natur, den er zum Tempel gemacht. Da er von uns abschied, wer soll statt seiner erscheinen, Andachtvollen Gemüts uns zu vertreten vor Gott? Ach! wohl gilt es zu trauern um ihn, den nun wir verloren, Und um die andern, die nicht ihn verlieren gekonnt. Denn nicht allen hat er gelebt; doch in künftiger Zeit noch Wird er von allen erkannt, wird er von allen beweint. Bis einst dies Jahrhundert sich schließt, steht selbst er geduldig ────── V . Übungen im gemischten Rhythmus. § 16. Bildung logaödischer (gemischter) Verse. 1. Die Mischungen von verschiedenen Metren sind ziemlich vielfältig, was auch unsere Übungen des 5. Hauptstücks darthun werden. 2. Die neueren Dichter beschränken sich meistenteils ─ sofern sie nicht freie Accentverse vorziehen ─ auf Einmischung von Anapästen (⏑⏑–) in den jambischen Rhythmus, sowie von Daktylen (–⏑⏑) in den trochäischen. 3. Da wir dem jambisch=anapästischen Rhythmus mehrfache Übungen im 3. Hauptstücke widmen konnten und im 5. Hauptstück die gemischten antiken Maße berücksichtigen werden, so können wir uns hier darauf beschränken, durch eine Aufgabe die Einmischung von Daktylen in den trochäischen Rhythmus des deutschen Verses zu üben. 4. Um dem immer neu ins Stocken geratenden trochäischen Verse größere Beweglichkeit zu verleihen, empfiehlt sich diese Einmischung von Daktylen. 5. Der Anfänger hat sein Augenmerk auf Wiederkehr und Anordnung des Daktylus zu richten. 6. Überhaupt verlangt die Symmetrie, daß dem Daktylus kein Übergewicht eingeräumt werde. Aufgabe. Viertaktige trochäisch=daktylische Verse. Eibsee. Stoff. Grauenvoll, schwindelnd sind die Felswände, die von Adlern umschwebten Riesenberge, welche das Felsenantlitz widerspiegeln in dem stillen, tannenbekränzten schwarzen Bergsee: Grauenvoll ist das heimliche Atmen, Wogen, Weben, Todeslächeln, zu vergleichen Hertha's heiliger Waldsee auf der vom Nordlicht umflammten Jnsel, wo den Wagen der Göttin weiße Kühe zum Wasser zogen, und wo Sklaven in der Nacht das heilige Götterbildnis wuschen; aber der brausende See hat sie alle verschlungen. Denn wer einmal das Göttliche geschaut hat, ist dem Tode unrettbar verfallen. Lösung. Von Julius Grosse. Grāuĕn | vōllĕ | schwīndĕlndĕ | Wǟndĕ, | Riesen | bērgĕ, ŭm | schwebt von | Adlern, | Düster | spiēgĕlnd dăs | Felsen | antlitz | J̄n dĕm vĕr | schwiēgĕnĕn | tānnĕnbĕ | kränzten | Schwarzen | Spiēgĕl dĕs | heīmlĭchĕn | Bergsees: | Grāuĕn | vōll ĭst dĕin | hēimlĭchĕs | Atmen, | Wōgĕn ŭnd | Wēbĕn ŭnd | Todes | lächeln | Gleichwie | Hertha's | hēilĭgĕr | Waldsee | Drōbĕn ăuf | nōrdlĭchtŭm | flammter | Jnsel, | Wo den | schīmmĕrndĕn | Wāgĕn dĕr | Göttin | Weiße | Kǖhĕ zŭm | Wasser | zogen, | Und das | hēilĭgĕ | Götter | bildnis | Wūschĕn dĭe | Sklaven | schwēigĕnd bĕi | Nachtzeit; | Ābĕr dĕr | See mit | dōnnĕrndĕm | Brausen Hāt sĭe dănn | gierig | āllĕ vĕr | schlungen. Dēnn wĕr dăs | Göttliche | eīnmăl gĕ | schaut hat, Der, un | rēttbăr, vĕr | fiel dem | Tod! Zweites Hauptstück. Reimverse . ────── I . Übungen in allitterierenden und assonierenden Versen. § 17. Bildung allitterierender Verse. 1. Die Allitteration (Stabreim) ist die Wiederkehr gleicher Anfangsbuchstaben. Da sie zur symmetrischen Gliederung der poetischen Gestaltungen verwendet wird, so muß sie ─ wie jeder Gleichklang ─ in ihrer Anwendung gesetzmäßig sein. 2. Sie darf nur die begrifflich bedeutenden Wörter ─ also nur die Stammsilben ─ verbinden. 3. Nicht die Gleichheit beliebiger Wortanfänge ist also bei den allitterierenden Versen das Wesentliche, sondern der Umstand, daß die durch den Gleichklang ausgezeichneten Silben auch in der Arsis stehen und den Begriffston tragen. Da somit nur die Hebungen allitterieren dürfen, so sind Allitterationen wie Geld und Gemüt verwerflich, nicht aber Allitterationen wie Gedanke und Dienst. 4. Der Dichter muß streben, den Eindruck der sinnlich starken Hauptvorstellung wellenartig fortzuleiten und zu erhalten durch Worte, welche dem Worte der Hauptvorstellung im Anfangsklange ähnlich sind. 5. Am Platze ist die Allitteration, wenn eine Grundvorstellung wie ein Echo über die Verse hinüberklingen soll, wenn es sich also um plastisch anschauliche oder malerische Darstellung handelt. Allitterieren können hierbei alle Konsonanten von gleichem Klang, wie z. B. die labialen v, f, ph, pf, b, p, w. 6. Dem die Hauptvorstellung tragenden centralen Hauptstab stehen in der Regel zwei Liedstäbe (Stollen) gegenüber. Diese Stäbe haben insgesamt die metrische Verbindung der Zeilen zu bewirken. 7. Alle Arsen eines Gedichts (nach Rückerts Beispiel s. Lösung 1) allitterieren zu lassen, ist unmöglich durchführbar; ja, es ist schon schwer, die wichtigsten Stäbe in einem längeren Gedicht durch Allitteration zu verbinden. Jn dieser Schwierigkeit liegt sicher ein Grund für die Unpopularität der Allitteration. (Ein anderer Grund mag immerhin die Monotonie der Allitteration sein, in welcher nicht selten die nüchternste Prosa mit dem schwülstigsten Bombast sich verbindet.) 8. Die Wirkung der Allitteration und ihre Bedeutung steigert sich, wenn die allitterierenden Stäbe möglichst eng an einander gerückt werden. 9. Aus der sinnlichen, ohrumstrickenden Wirkung der Allitteration geht hervor, daß dieselbe hie und da noch recht gut zur Lautmalerei verwertbar ist. Es ist nötig, daß der Dichter allitterierender Verse über die malerische Kraft der Vokale und der Konsonanten sich insbesondere unterrichtet (wir verweisen auf Poetik I , 119). 10. Mit der Allitteration verbinden neuere Dichter nicht selten auch den weiter unten zu übenden Schlußreim, welcher der Allitteration berechtigte Konkurrenz machte und sie heutigen Tags fast verdrängt hat. 11. Wir wählen von den Hauptformen der Allitteration je ein Beispiel, es dem Lernenden überlassend, behufs weiterer Übungen Nachbildungen anderer Formen zu versuchen. Aufgabe 1. Allitterationslaut w. Der nachstehende Stoff soll zu allitterierenden Versen verwertet werden, von denen der 1. und 3. je sechs Trochäen zählen, während der 2. und 4. nur je fünf Trochäen nötig haben. Das Material ist für je 2 Verszeilen eingeteilt. 1. Es ist zunächst der Gedankengang des Stoffs auszubreiten und zu verarbeiten. 2. Sodann sind die Hauptpfeiler für die verlangte Allitteration w zu errichten, wie wir es unten unter b durch Überschreiben mit anderer Schrift andeuten werden. Stoff. Durch welche Mittel kann man sich gegen häßliche Schneewinde schützen? Durch warmen Ofen, schützende Kleidung, feuriges Getränke und unterhaltende Frauen. Verarbeitung des Gedankens. 1. und 2. Vers. Kennst du die Mittel, durch welche sich ein verständiger Mann gegen die häßlichen Schneewinde zu schützen vermag? 3. und 4. Vers. Durch geheizten Ofen, warme Kleidung, gutes Getränk und freundliche Frauen. Festsetzung der Hauptpfeiler für die verlangte Allitteration w. Weisst welche Weiser Kennst du die Mittel, durch die sich ein verständiger Mann gegen wüsten Winter-Winde Wehre wählt Warme Wohnung die häßlichen Schneewinde zu schützen vermag? ‖ Durch geheizten Ofen, weiche Watte, wollenes Wams, würzgen Wein willige Weiber warme Kleidung, gutes Getränk und freundliche Frauen. Lösung. Von Rückert. Wenn die wüsten Winterwinde wütend wehn, Weißt du, was zur Wehre wählt ein Weiser? Warme Wohnung, weiche Watt' und wollnes Wams, Weiter: würzgen Wein und will'ge Weiber. Aufgabe 2. Mehrere Allitterationslaute. Der nachstehende Stoff soll in vier katalektische trochäische Viertakter umgebildet werden. Allitterationslaut der 1. Zeile ist f, der 2. und 3. l, der 4. d und sch. Stoff. Von allem, was ich sah, gefiel mir nichts mehr, seit er mir fehlte. | Mein Auge vergoß Thränen, seit es litt, daß er wegging. | Wer mich zum Vergnügen einladen wollte, bereitete mir eine Last. | O wie vorteilhaft unterschied er sich von allen, die ich seither fand! | Lösung. Von Fr. Rückert (Makame 10). Mir gefiel, seit er mir fehlte, nichts worauf mein Auge fiel; Seit es litt, daß er entglitten, floß von Leid mein Augenlid; Wer zur Lust mich laden wollte, lud nur eine Last mir auf; O, von denen, die ich fand, wie unterschied sich Er, der schied! § 18. Bildung assonierender Verse. 1. Die Assonanz ist die Wiederkehr gleicher Vokale oder Diphthonge und soll als sog. freie Assonanz die betonten Silben der Verszeile verbinden; als versgliedernde Assonanz ist sie die Wiederkehr gleicher Vokale oder Diphthonge in den letzten Verstakten der Verszeilen. 2. Da nur der Vokal (oder Diphthong) reimt, so ist die größte Reinheit der Vokale (oder Diphthonge) im Laut zu erstreben. Eine Vermischung klangverwandter Vokale (z. B. von e mit ä und ö, ei mit eu und äu, i mit ü) ist oft zu entschuldigen; bei Lautverschiedenheit würde eine störend unterbrechende Verdunkelung der Assonanz bewirkt werden. (Vokale und Wasser klingen ungleicher als Lieder und Übel.) 3. Nur Arsissilben dürfen assonieren. 4. Assonanzen mit dem faden e haben nur geringe Wirkung und sollten daher weniger geübt werden. 5. Um von vornherein namentlich auf die versgliedernden Assonanzen am Zeilenende aufmerksam zu machen, ist zu raten, in den ersten Zeilen der jeweiligen Dichtung Binnenassonanzen anzuwenden. 6. Die assonierenden Klänge dürfen nicht zu weit auseinander stehen, wenn sie wirksam sein sollen. Man sollte daher in Vermischung nicht assonierender Verse mit assonierenden möglichst sparsam sein. (Jn der spanischen Art assoniert jeder gerade Vers, also bei vier Versen der 2. und 4.) 7. Die assonierenden Verse verlangen ein einfaches Versmaß und klaren, freundlichen Rhythmus, wenn nicht die Aufmerksamkeit von der Assonanz abgezogen werden soll. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in akatalektischen jambischen Quinaren wiedergegeben werden. Der assonierende a= Laut soll als Vokal der letzten Silbe die Verszeilen schließen. Stoff. Die Vianer kehren in ihre Stadt zurück, ziehen die Brücke auf und verwahren das Stadtthor. Darüber wird Kaiser Karl sehr zornig; und aufgebracht ruft er aus: „Zum Sturm, meine Ritter! Wer heute fehlt, dessen Lehen in Frankreich, gleichviel ob es Schloß oder Stadt, Turm oder Feste, Dorf oder Markt sei, soll dem Boden gleich gemacht werden.“ Da kommen sie alle herbei. Die Schildner dringen gegen die Mauer vor, mit Hammer und gestähltem Schaft schlagend. Aber die Vianer steigen auf die Mauern und werfen Steine und Scheiter herab, wobei mehr als 60 Frankenjünglinge zermalmt werden. Da spricht Herzog Naims im Bart: „Herr Kaiser, glaubt Jhr, daß Jhr diese hohen Mauern mit ihren starken Zinnen und den festen, jahrhundertalten Türmen, welche einst kräftige Heiden erbauten, mit Gewalt gewinnen werdet? Jhr werdet es nicht vermögen. Daher rate ich, Zimmerleute herbeirufen zu lassen, um Rüstzeuge zu erbauen. Lösung. Aus Roland und Alda. Von Uhland. ( NB . Das nachfolgende Beispiel ist eine Tirade und französischer Art. Das Schwänzchen „Davon die Mauern stürzen“ ist das Ausgehen des Atems, und stets folgt sodann eine neue Assonanz.) Schon kehren die Vianer in die Stadt, Gehoben wird die Brück', das Thor verwahrt. Als Kaiser Karl es sieht, sein Blut aufwallt, Laut auf er schreit, von wildem Zorn entbrannt: „Wohlan zum Sturme, wackre Ritterschaft! Wer jetzt mir fehlt, was er zu Lehen hat, Hab' er in Frankreich Bergschloß oder Stadt, Turm oder Feste, Flecken oder Markt, Auf solche Worte kommen all' heran, Die Schildner dringen auf die Mauern dar, Mit Hammer schlagend und gestähltem Schaft. Die von Viane steigen maueran; Da werfen Stein und Scheiter sie herab, Und mehr als sechzig werden da zermalmt Der Jünglinge vom schönen Frankenland. „Herr Kaiser! ─ spricht der Herzog Naims im Bart ─ Wollt Jhr die Stadt gewinnen mit Gewalt, Die hohen Mauern mit den Zinnen stark, Die festen Türme, manch' Jahrhundert alt, So Heiden einst erbaut mit großer Kraft, Jn Eurem Leben wird es nicht vollbracht. Drum sendet eh' zurück nach Frankenland, Daß Zimmerleute werden hergeschafft! Und sind sie angekommen vor der Stadt, So laßt sie bauen Rüstzeug mancher Art, Davon die Mauern stürzen!“ u. s. w. § 19. Bildung allitterierend-assonierender Verse. 1. Die Verbindung der Allitteration mit der Assonanz steigert die Anschaulichkeit und erhöht die Wirkung der nachahmenden sinnlichen Fülle unserer Sprache. 2. Eine gewinnende, beliebte Form derselben, welche die freie (onomatopoetische) Assonanz mit der Allitteration verbindet, ist die sog. Annomination. 3. Die bequemere, ebenso wirkungsvolle Form verbindet die Allitteration mit der versgliedernden Assonanz am Ende der Verszeilen. 4. Schwieriger ist die Verbindung von Allitteration mit Assonanz inmitten der Verszeilen, wie wir dies bei Jordan finden. (Vgl. dessen „Nibelunge“.) Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in Verszeilen von je vier Arsen mit beliebigen Thesen gegeben werden, wobei Allitteration und Assonanz inmitten der Zeilen einzufügen sind. (Es wird sich empfehlen, erst den Stoff einzuteilen, sodann die Hauptpfeiler für die Allitteration und für die Assonanz einzufügen, wie wir dies bei der ersten Aufgabe des § 17 d. Bds. gezeigt haben.) Stoff. Da hockte auf einem Aste des Baumes ein singender Zeisig; man sah seine emporgeschnörkelte Zunge im Schnabel, beim Trillern vom Schlafe überrascht. Doch kaum betritt Siegfried den mit Reif überzogenen Rasen, als ein Gelispel in den Bäumen begann; es vereinigten sich die Sträucher, die Blumen nickten und von den Blättern tauten die Eiskrystalle ab. Die Vögel rauschten in schnellem Flug mit hellem Gezwitscher empor; die hungernde Biene durchsuchte nach Honig die Dolden der Fliedergebüsche. Das Heimchen sprang von der Ähre herab, die Quelle ergoß ihr Wasser, die Frösche quakten, das fliehende Ämschen wurde vom Laubmolch erhascht und verspeist, auf dem Baume sang der Zeisig weiter. Alle Geschöpfe erwachten ─ zur Freude, zur Gefahr, zur Verfolgung, zur Angst und zum Haß. Lösung. Von Wilhelm Jordan. Da hockte wie zwitschernd auf einem Zweige Ein zierlicher Zeisig; man sah sein Zünglein Emporgeschnörkelt im offenen Schnabel, Doch vom Schlafe betroffen im Schlagen eines Trillers. Doch kaum berührte den bereiften Rasen Die Sohle Siegfrieds ─ da zog ein Säuseln Durch alle Bäume; da beugten sich die Büsche, Da nickten die Blumen und nieder von den Blättern Tauten zur Tiefe die harten Krystalle. Da rauschten die Vögel auf raschem Fittich Mit fröhlichem Laut durch lauere Lüfte; Da suchte summend nach süßen Säften, Nach langem Darben, um die duftigen Dolden Der Fliedergebüsche die fleißige Biene; Da hüpfte das Heimchen von seinem Halme, Da quoll die Quelle, die Frösche quakten, Da ereilte das Ämschen, wie rasch es auch ausriß, Der lauernde Laubmolch und schmatzte lüstern, Da zwitschert' auf dem Zweige der zierliche Zeisig Erwachend vom Traum seinen Triller weiter, Und alle Wesen erwachten ─ zur Wonne, Zu Gefahr und Verfolgung, Furcht und Feindschaft. ────── II . Übungen im Reimsuchen und Reimbilden. § 20. Versuche im Reimen der Prosarede. (Gereimte Prosa.) 1. Wenn dem Dichter beim Erklingen eines Lautes sofort eine ganze Summe aller möglichen Gleichklänge wie chladnische Klangfiguren anschießt und wiederklingt, so ist dies zweifellos nur das Resultat fortgesetzter Übung im Versbilden und im Reimsuchen. Von Fr. Rückert, der sich namentlich in seinen Makamen-Nachbildungen als ein personifiziertes Reimlexikon erwies, hat es der Verf. d. B. nachgewiesen, daß derselbe als junger Mann auf allen Biertischen, an Kirchenwänden, in Notizbüchern &c. seine Reimübungen anstellte, so daß es erklärlich ist, wie derselbe eine so einzige und vollkommene Herrschaft über den Reim ausübte und eine so staunenswerte Reimvirtuosität erlangte, wie vor und nach ihm kein Dichter der Welt. Wenn daher Anfänger im Versebilden über Reimarmut unserer Sprache, über Mangel an Reimklängen klagen, so möge ihnen Rückerts Vorbild Ermutigung einflößen. Jedenfalls ist diese Art, durch Beachtung und eigene Übung Fertigkeit im Reim zu erlangen, der Benützung eines Reimlexikons weit vorzuziehen, wie ein solches von Peregrinus Syntax (Leipzig, Brockhaus 1826) in 2 Bänden existiert und recht viel überflüssiges, für Poesie unbrauchbares Material enthält. 2. Homer schrieb die blühendste Sprache, ohne Grammatik in unserem Sinne gelernt zu haben, ─ und doch lernen wir Grammatik; Mozart war Klaviertechniker, ohne Bertini's, Kramer's und Herz' „Fingerübungen“ gespielt zu haben, ─ und doch üben wir diese „Fingerübungen“, bevor wir ein größeres Musikstück einstudieren. So möge auch der Anfänger im Versbau nicht glauben, daß ihm die Muse den Lorbeer anders, denn als Lohn für schwere Mühen reichen werde. Er möge also, bevor er sich an eine größere Dichtung wagt, lang fortgesetzte Übungen im Suchen aller möglichen Reime vornehmen. 3. Zunächst möge er prosaische Erzählungen, Novelletten und ähnlichen Lesestoff unter Beibehaltung der Prosaform mit Reimen versehen. Dadurch liefert er, ohne es zu beabsichtigen, die in unserer Litteratur durch Rückerts Umbildungen eingeführte Makamenform, welche bekanntlich nichts weiter ist, als eine Erzählung von regellosestem Rhythmus in gereimter Prosa, wobei allerdings hie und da lyrische Gedichte eingeflochten sind. Da übrigens der auf dieser Stufe angelangte Lernende bereits die Fähigkeit erlangt hat, schulgerechte Reimpaare zu bilden, so ist es keine zu große Zumutung, ähnliche Gedichte in primitiver Form einzufügen, um die Makame vollständig zu machen. Der die Leistungsfähigkeit beweisende Erfolg wird zweifellos anfeuernd wirken. 4. Bei Bildung von Reimen in der Prosarede (Makame) sind alle Arten des Vollreims (vgl. weiter unten Ziffer 9) nicht nur gestattet, sondern sie werden dem Lernenden sogar zugemutet. Es übt außerordentlich, wenn man Doppelreime, gleitende, schwebende Reime &c. anwendet. Wahl und Anzahl der Gleichklänge ist also freigegeben. 5. Um alle möglichen Arten des Vollreims anwenden zu können, mag der Text in beliebiger Weise erweitert, fortgesponnen, umgeordnet, geändert und ergänzt werden. 6. Übungen in der Stellung und Aufeinanderfolge der Reime verbinden wir in späteren Paragraphen mit der Lehre von der Strophe. 7. Auch in den einfachsten Reimübungen ist auf Reinheit des Reims zu halten. Wir begreifen darunter die Gleichartigkeit des reimenden Klangs, nämlich: a . der Diphthonge. Somit dürfen sich nicht folgen ei─eu (z. B. eitel─Beutel), ai─äu (z. B. Kaiser─Häuser), ai─eu (z. B. Mai─neu), ei─äu (z. B. Weite─Geläute); b . der Vokale. Unrein sind demnach i─ü (z. B. lieben─üben), e─ä (z. B. bewegen─Schlägen), e─ö (z. B. beten─Nöten), ö─ä (z. B. hört─ erklärt); c . der Konsonanten. Unrein wäre b─p (z. B. schreibest─kneipest), b─f (z. B. Fabel─Tafel), g─ch (z. B. Tag─Fach), g─ck (z. B. mag─ Geschmack); d . der Silbenquantität. Es darf nur die betonte Silbe Trägerin des Reimes sein, nicht aber die Nachsilbe. (Unrein ist also Spiegelung─ Hoffnung, nicht aber sterblich─verderblich.) e . Unrein ist endlich der Reim, welcher kurze Silben (⏑) auf gedehnte bezieht (z. B. Herr─Meer, will─viel). Jnkorrektheiten im Buchstaben, sofern der Klang sich deckt, mögen gelind beurteilt werden. Dem vollendeten Dichter werden gewisse Freiheiten (wie z. B. der Reim Kuß auf Gruß) gern einzuräumen sein; bei dem Anfänger aber muß auf möglichste Reinheit gehalten werden, damit seine Freiheiten sich nicht bis zur Verwilderung häufen. 8. Wenn schon alle jene Begriffswörter anschaulich wirken, denen man ihre onomatopoetische Entstehung ansieht, so sind besonders jene Reimworte am wirksamsten, welche durch ihren Klang dasjenige schon im voraus malerisch andeuten, was sie ausdrücken sollen. 9. Für unsere praktischen Übungen sind fürs erste folgende Reimarten völlig genügend: a . männlicher Reim, welcher mit der Hebung (Arsis) schließt, z. B. Gebrauch─Hāuch; b . weiblicher Reim, welcher mit der Senkung endigt, z. B. Liebĕ─Triebĕ, glühĕnd─blühĕnd; c . gleitender Reim, bei welchem 3 Silben reimen, von denen nur die erste betont ist, z. B. schwḗllĕndĕ─quḗllĕndĕ; d . schwebender Reim, bei welchem Spondeus mit Spondeus reimt: a . steigend, z. B. bleīb nā́h─schreīb dā́, b . sinkend, z. B. Lā́ut stȫrt─Brā́ut hȫrt; e . Doppelreim, welcher an eine Silbe (oder an die beiden Silben) des Spondeus eine tonlose Silbe anfügt, z. B. Sangmeister─Klanggeister; Klinge klang ─ Schlinge schlang. f . Ghaselenreim, bei welchem a . ein Vollreim (männlich oder weiblich) oder b . deren 2 mit dem identischen Reim (d. i. dem Reim, welcher das Wort der Reimstelle ohne Veränderung wiederholt) verbunden wird, z. B. a . trägst du mir im Herzen ─ schlägst du mir im Herzen; oder stets am rechten Orte hat ─ stets die rechten Worte hat; b . schlägt mein Herz ─ trägt mein Schmerz. (Dieser Reim findet sich hauptsächlich beim Ghasel, das übrigens häufig genug nur die unter a b c d verzeichneten Reimarten aufweist.) Die weiteren künstlicheren Reimarten sind in unserer Poetik Bd. I , S. 425 ff. abgehandelt. Aufgabe. Es soll die nachfolgende Sage so erweitert und ausgeführt werden, daß selbst die kleinsten rhythmischen Reihen durch den Reim ausgezeichnet werden. Je öfter der gleiche Reim sich wiederholt, je mehr Reimarten angewendet sind, desto besser soll die Ausführung genannt werden. Der Rhythmus darf durchaus regellos sein, da die ganze Aufmerksamkeit auf den Reim zu legen ist. Dieser soll alle möglichen Kunststücke enthalten und in allen erdenklichen Formen auftreten. Auch die Einführung der Allitteration ist gestattet. An Stelle der Ghasele, welche sonst den Makamen eingefügt sind, sollen zwei ungekünstelte Gedichte in daktylischen Viertaktern mit Reimpaaren eingearbeitet werden; das erste derselben soll das Wandern preisen, während das zweite sagen soll, was man auf Erden selig sein heißt. Beide Gedichte sind einem Dichter in den Mund zu legen, worauf dann wie ein deus ex machina ein dritter Erzähler erscheint, der die Sage weiter fortspinnt. (Klanggleiche unreine Reime ─ vgl. S. 51. 7. c ─ sind in den Lösungen vorerst noch zu tolerieren.) Anstatt weitere Anforderungen in der Aufgabe zu stellen, zeigen wir lieber in der Ausführung, wie kühn und frei der Schüler sich bewegen darf, um zur Gewandtheit in Handhabung aller möglichen Reimformen zu gelangen. Die Teufelsbrücke. (Aus Gebrüder Grimms deutschen Sagen.) Stoff. Ein Schweizer Hirte, der öfters sein Mädchen besuchte, mußte sich immer durch die Reuß mühsam durcharbeiten, um hinüber zu gelangen, oder einen großen Umweg nehmen. Es trug sich zu, daß er einmal auf einer außerordentlichen Höhe stand und ärgerlich sprach: „Jch wollte, der Teufel wäre da und baute mir eine Brücke hinüber.“ Augenblicklich stand der Teufel bei ihm und sagte: „Versprichst du mir das erste Lebendige, das darüber geht, so will ich dir eine Brücke dahin bauen, auf welcher du stets hinüber und herüber kannst.“ Der Hirte willigte ein; in wenig Augenblicken war die Brücke fertig; aber jener trieb eine Gemse vor sich her und ging hinten nach. Der betrogene Teufel ließ alsbald die Stücke des zerrissenen Tieres aus der Höhe herunter fallen. Stoff und Gedankengang der einzuflechtenden Gedichte. I . Hinweg mit den Sorgen, zum Wandern mache Fröhlichkeit bereit! Eilet hinaus in die Wälder, beim Wandern vergeßt euer Haus. Verweilt nicht bei euern Sorgen, denn mit Fröhlichkeit erobert man die Welt. Gutes Gewissen, Tüchtigkeit im Kampf und kundiger Blick &c. haben goldnen Wert. Mutiger Blick läßt sich nicht zurückscheuchen, Männer und Frauen achten den Mutigen. Schlage lauter, mein sehnendes Herz, sammle, was das Leben bietet. Eile, vom Mute beseelt, hinaus, ein fahrender Sänger ist überall daheim. Himmlisch woget die Luft, balsamischer Duft umgiebt mich. Wonne erfüllt meine Dichterbrust, im Wandern ist selige Lust. II . Willst du wissen, mein Geist, was man auf Erden schon selig sein nennt? Wandle morgens am tosenden Fluß, erhebe den Blick zum Himmel. Trinke das ewige Licht, labe dich am Anblick der Sonne. Lausche dem Gesange der Vögel, erquicke dich am Blumenduft. Wenn du dazu noch Blüten der Liebe treibst, so weißt du, was man auf Erden selig sein nennt. Lösung mit Beibehaltung der regellosesten Prosarede. Die Makame von der Teufelsbrücke. An einem heiteren Frühlingsmorgen, ─ zu scheuchen berufliche Sorgen, ─ rüsteten wir uns zu fröhlichem Lauf ─ und machten nach dem Zauberberg uns auf, ─ wo wohlbekannt, ─ hoch über die schäumende Reuß gespannt, ─ seit alten Zeiten so genannt, ─ hängt die Teufelsbrücke, ─ von der wir mit Grausen kamen zurücke. ─ Wir fürchteten nicht des Teufels Tücke, ─ drum ruhten wir aus in der Teufelslücke, ─ wo der Fels ist zerrissen in riesige Stücke, ─ wo man zum erstenmal gewahrt die wundersame Teufelsbrücke. ─ Unser sangeskundiger Begleiter setzte sich nieder, ─ er ließ erklingen fröhliche Lieder, ─ die entquollen, o herrliche Lust! ─ seiner göttlichen Dichterbrust. ─ Er sang ─ bald süß, bald bang ─ aus Herzensdrang: Weg mit Sorgen und weg mit Leid, Fröhlichkeit mache zum Wandern bereit. Denket der Wälder und eilet hinaus, Lebet im Wandern, vergesset das Haus. Wollt ihr verweilen bei Gütern und Geld? Fröhliche Menschen erobern die Welt. Frieden im Herzen und kundiges Schwert, Wissen im Kopf sind von goldenem Wert. Mutiger Blick scheut nimmer zurück, Schaffet bei Männern und Frauen mir Glück. Schlage nur lauter, du sehnendes Herz, Sammle des Lebens erglänzendes Erz! Eile, vom Mute beflügelt, hinaus, Wisse, der Sänger ist allwärts zu Haus! Ach, wie sie woget, die himmlische Luft, Und mich umhüllet balsamischer Duft! Und wie sie schwellet, die dichtende Brust! Wandern verleihet doch seligste Lust. Der Dichter hatte geendet ─ und sich von uns gewendet. ─ Sein Auge war vor Rührung mit Thränen genetzt, ─ als er sich wieder zu uns gesetzt. ─ Dann begann er mit geröteter Wange ─ in unvergleichlichem Gesange: Willst du erfahren, o sehnender Geist, Was denn irdisches Seligsein heißt? Wandle des Morgens am rauschenden Strom, Hebe den Blick zu dem himmlischen Dom. Trinke das strömende, ewige Licht, Schaue der Sonne verglühend Gesicht. Lausche der Vögelein süßestem Sang, Schaue die Blumen ─ o Duft und o Klang! Treibst du noch Blüten der Liebe, mein Geist, Weißt du, was irdisches Seligsein heißt. Wir wollten uns erheben, ─ dem Dichter den Zoll der Bewundrung zu geben ─ und ihm zu sagen: ─ Bei dir zu sein ist Behagen, ─ niemand wird verzagen, ─ du verstehst zu lenken der Launen Wagen, ─ die Sorge zu fassen am Kragen, ─ zu besänft'gen den nagenden Magen ─ und den Teufel zum Teufel zu jagen; ─ du hast dir die Ehrenkron' aufgesetzt ─ und unsre Herzen mit Wonnen geletzt, ─ ja, unsre Augen mit Thränen genetzt. ─ Da trat im Nu ─ von der Seit' auf uns zu ─ (wir sind nicht wenig erschrocken, ─ das Blut kam uns allen ins Stocken) ─ ein Scheusal mit wilden, schwerhängenden Locken, ─ mit stierem Blick, ─ mit entblößtem Genick, ─ in der Hand einen Strick. ─ Bald begann er berichtend, ─ durch seine menschliche Stimme unsre Befürchtung vernichtend: ─ Seht Jhr dort die Weymouthsfichte, ─ die eben ─ umschweben ─ zwei teuflische Wichte; ─ dort spielt meine Unglücksgeschichte! ─ Damit ich Ruhe finden kann, o habt Erbarmen ─ und höret an mich Armen! ─ Hier an diesem Ort ─ hab' ich begangen vor tausend Jahren einen Mord. ─ Erst wenn es gelungen, ─ mit Menschenzungen ─ dies Verbrechen ─ vor Menschen hier auszusprechen, ─ kann ich mich lösen ─ aus den Krallen des Bösen. ─ Ein Mörder bin ich, ein arger Sünder, ─ meines Unheils Begründer ─ und Verkünder, ─ der alle hundert Jahr' erscheint ─ und sein verlornes Leben beweint. ─ Wir versprachen ihn anzuhören ─ und sein Erzählen nicht zu stören. ─ Da fuhr er fort wild schaurig, ─ im Ton unendlich traurig: ─ Vor tausend Jahren ─ lebte hier, im Bösen unerfahren, ─ ein junges Blut, ─ wohlgemut, ─ brav und gut, ─ voll kühnem Wagemut, ─ vor Fahrnis allzeit auf der Hut. ─ Es zog ihn an ein Mädchen ─ vom Hirtenstand, mit Fädchen ─ dem Auge sichtbar nicht. ─ Die Brave war sein einz'ges Licht, ─ sein schönstes Lob- und Preisgedicht. ─ Zu ihr zu eilen, ─ bei ihr zu weilen, ─ war ihm kein Fluß zu breit, ─ kein Weg zu weit. ─ Wollt' er nehmen den Weg, den geraden, ─ mußt' er durchwaten ─ den Fluß ─ zu seinem Verdruß. ─ Es war gefährlich ─ und sehr beschwerlich ─ zu durchschreiten die schäumenden Fluten, ─ die leichtbeschuhten, ─ die ihn oft drohend zwangen, ─ zu bangen ─ und zu nehmen ─ für sein Liebesunternehmen ─ den nicht angenehmen, ─ unbequemen ─ fernen Krummsteg ─ mit großem Umweg. ─ Oft bestieg er den verrufenen Zauberfels, ─ von wo stets in lieblichstem Farbenschmelz ─ der Jüngling wahrnahm das Haus, ─ wo die Allerliebste ging ein und aus. ─ Aus der Vogelperspektive ─ sah er in unendlicher Tiefe, ─ er auf dem Liebesolymp ein Zeus, ─ da unten die tosende furchtbare Reuß. ─ Mit höllischem Gebraus ─ und lärmendem Gesaus ─ flutete sie dahin ─ seit Urbeginn ─ mit Würgersinn ─ erboste Wassermassen, ─ welche Liebesglück hassen, ─ und jene niemals frei lassen, ─ die mit ihrem Schmerz nicht zu Glücklichen passen. ─ Der Liebe Zauberfädchen ─ zog ihn zu seinem Mädchen. ─ Er rief mit lauter Stimme Schall, ─ daß übertönt wurde der Wiederhall ─ vom Reußfall ─ mit seinem lärmenden Wasserschwall: ─ O heil'ge Anastasia, ─ ich wollte, statt deiner der Teufel wär' da, ─ bauend aus einem Stücke ─ hinüber eine Brücke. ─ Kaum hatt' er geäußert sein Begehren, ─ fing an das Wasser der Reuß sich zu mehren, ─ und aus gewaltigem Wasserschuß, ─ abkühlend seinen Herzverdruß, ─ ertönte des Teufels Willkommensgruß. ─ Drauf senkte sich der Wasserguß ─ und es erschien, welch Hochgenuß! ─ ein schöner Gemsenjäger ─ und kräftiger Bogenträger. ─ Doch als der Hirt den Pferdfuß sah, ─ da war er einer Ohnmacht nah. ─ Der Teufel belächelte des Hirten Wehruf ─ und Flehruf, ─ den zu großes Ängsten schuf ─ vor dem Pferdehuf. ─ Er verhöhnte des Hirten Ach ─ und sprach: ─ Du, furchtsamer Rufer, ─ willst erreichen jenes Ufer? ─ Bau' doch deinem Liebesglücke ─ die sichere Brücke. ─ Oder, du Zauberfelserklimmer, ─ werde ein kühner Schwimmer, ─ wenn du der Liebe Schimmer ─ willst nahe sein, ─ um diese zu frei'n, ─ die jetzt ist nicht allein, ─ und die für dich trägt Herzens-Pein, ─ der deine Liebesworte sind Trostkost ─ und deine Küsse Trostmost ─ und deine Briefe Trostpost. ─ O wisse, Sterblicher! Noch heute wirbt dein Feind um sie! ─ Drum auf, der Einsamkeit entflieh' ─ und schleunig zu der Teuren zieh', ─ zu stören fremde Hausschau, ─ ja, Bauschau, ─ zu retten die Liebste vor Angst und Not ─ und vor der Liebe Nottod. ─ Mich dauert künftige Todnot, ─ drum komm' ich wie das Notbot ─ und bau' aus einem Stücke ─ hinüber dir die Brücke. ─ Fürs Bauen in dieser hohen Region ─ verlang' ich einen geringen Lohn ─ von dir, verliebter Erdensohn, ─ der ich selbst bin der Kronlohn ─ und Thronlohn. ─ So rief der Teufel im argen Hohn ─ (er wähnte sich als Sieger schon) ─ indem hinzu er setzte ─ dies Letzte: ─ Es soll als Preis das zuerst über die Brücke Strebende, ─ Lebende ─ sein das mir zu Gebende. ─ Willigst du ein, ─ so soll sogleich die Brücke fertig sein. ─ Der Hirte war's zufrieden; ─ da hört' er wieder die Reuß aufsieden. ─ Und mit Getöse ─ verschwunden war der Böse. ─ Doch in der Luft (wie wunderbar!) ─ bot dem erstaunten Blick sich dar ─ vom Bergesrand ─ zur Uferwand ─ hinüber wie ein Seil gespannt ─ von keinem Menschen noch gekannt ─ gebaut aus riesigem Eisenstücke ─ die schwindelnd hohe Teufelsbrücke. ─ Der Hirte war nun katzenschlau, ─ fern blieb er lang dem Brückenbau, ─ der war ihm gar zu wasserblau. ─ Dann rief er: Um dem Liebesdiebe ─ zu geben kräftige Liebeshiebe, ─ und zu begraben der Liebe Leid ─ nehm' ich mir Zeit. ─ Auf diesem Lebens-Raubbau, ─ dem höllischen Brückenschaubau, ─ wär' als erstes Lebendes, ─ Hinüberstrebendes, ─ dem Teufel zu Gebendes ─ für all seinen Trug ─ auch eine Gemse genug. ─ Nun begab er sich auf die Jagd an den Bergesrand, ─ wo er wußte den Gemsenstand. ─ Sieh doch! wie die Gemsen nach der Höhe zudringen, ─ und der Brücke zuspringen! ─ Und er mit seinem Bogen ─ laut rufend kam nachgezogen: ─ hei, Teufel, sei betrogen! ─ Kaum betrat eine Gemse die Brücke, ─ so riß sie der Teufel in Stücke. ─ Dann fuhr der höllische Schuft ─ durch die Luft ─ hinab in die wäss'rige Gruft. ─ Vor Ärger die Fluten schlagend, ─ und seinen Zorn mit sich tragend, ─ schwur er in schreckhafter Sprache ─ dem Hirten teuflische Rache. ─ Den andern Gemsen ging es gut. ─ Da nahm sich auch der Hirte Mut. ─ Die Heiligen anflehend zu seinem Glücke, ─ ging er ruhig über die Brücke ─ und rief: Von diesem Steg ─ hinweg ─ eil' ich zu meinem Schatzplatz, ─ der soll mir werden ein Schwatzplatz ─ und ein Schmatzplatz. ─ Er traf auch keinen Liebesdieb, ─ erspart blieb ihm der Liebeshieb. ─ Der Teufel hatte gelogen, ─ drum war er jetzt betrogen. ─ Nun warb der Hirt' ohn Zeitaufwand ─ um seiner Allerliebsten Hand; ─ der Eltern Trotz er überwand, ─ bald schloß sich zweier Liebesband. ─ Die Liebste sprach mit holdem Mund: ─ Gott segne unsern Herzensbund! ─ Jch liebte dich aus Herzensgrund ─ zu jeder Stund. ─ Und er erwidert: Herzensstern, ─ dein dacht' ich immer nah und fern, ─ in Appenzell wie in Luzern. ─ Könnt' ich dich meiden Augenstern? ─ Jch habe dich von Herzen gern, ─ du Frauenkern ─ und Minnestern! ─ Bald baute sich der Hirte ein Wirtshaus oder ein Schmaushaus, ─ und als er gab den Hausschmaus, ─ dies merket meine Hörer, ─ daß ihr nicht werdet Störer ─ oder gar Empörer: ─ da reizte mich der Teufel, den Hirten zu bringen in Nöten ─ und den Schuldlosen zu töten. ─ Jch gönnt' ihm nicht sein Eheglück, ─ bald lockt' ich ihn zu dieser Brück', ─ und warf ihm rasch den Judasstrick ─ um das Genick. ─ Hier an diesem Ort ─ beging ich den Mord; ─ hier an diesem Grat ─ hab ich begangen die blutige That. ─ Bei diesem entsetzlichen Wort ─ stürzte der Gespenstige fort ─ und warf sich mit furchtbarem Fall ─ und dröhnendem Schall, ─ (es ertönte gespenstig der Wiederhall ─) nicht in den tosenden Wasserschwall, ─ nein, in das Steingerölle, ─ von welchem Feu'r und Dampf aufquoll wie von der Hölle. ─ Uns ergriff ein Grauen, ─ das uns nicht mehr ließ zur Brücke schauen. ─ Es war uns nicht mehr plauderig, ─ und niemand war mehr zauderig, ─ die Luft selbst schien uns schauderig. ─ Jch rief: Weg, weg! ─ von diesem Teufelswegsteg, ─ damit uns nicht auch wegfeg ─ mit Getöse ─ der Böse, ─ der Mächtige, ─ Verdächtige, ─ Niederträchtige, ─ der das Edle verdächtigt, ─ sich der Guten bemächtigt. ─ Jch hab' in der Regel ein Erzherz, ─ doch heute fühlt' ich Herzschmerz, ─ hier fehlte mir der Erzscherz, ─ statt dessen drückte Erzschmerz. ─ Wir rannten nach der Ebene zurück, ─ und kamen gesund an zum Glück! ─ Nie hab' ich wieder den Zauberberg erklommen, ─ nie wieder zu Gesicht bekommen: Teufelsbrücke, ─ Teufelslücke, ─ Teufelstücke. Dies ist die Makame von der Teufelsbrücke, ─ gebaut vom Teufel aus einem Stücke. ─ Anleitung zur Kritik. Um Besserungsfähiges zu entdecken, möge man unter Berücksichtigung des seither Gelernten prüfen: a . die logische Entwickelung des Stofflichen, Jnhaltlichen, b . das Grammatikalische und Syntaktische, (vgl. S. 18) c . die Reime (vgl. S. 51) u. s. w. Man ersetze Reime wie geraden ─ waten, beschwerlich ─ gefährlich, Fels ─ Schmerz &c. § 21. Strengere Form der Reime. (Vorgeschriebene Reime.) 1. Hat sich der Lernende in der gereimten Prosarede genügend geübt, so muß er, ─ um methodisch weiter zu schreiten, ─ die wenig schwierige Form wählen, welche den gleichen Reim in den geraden Zeilen verlangt, die ungeraden jedoch ungereimt läßt. Es ist dies die Form des sogenannten Ghasels, oder besser: des Kita's (d. i. eines wirklichen Bruchstücks eines Ghasels), zu welchem somit der Lernende auf ungesuchter Weise wie von selbst gelangt. 2. Die Ghaselenform eignet sich ─ was hier schon bemerkt sein soll ─ für einen Stoff, bei welchem Gedanke und Gefühl um einen bestimmten Punkt sich konzentrieren, bei welchem der Dichter nur ein gewisses Grundgefühl hat und die gleichen Erscheinungen stets wiederkehren. 3. Wenn dem Lernenden die Gewinnung des Reimes schwer wird, so möge er den Jnhalt der beiden Zeilen so lange wenden und ver= stellen, bis das Reimwort sich ergiebt; z. B. beim Reime üren kann der Satz: Schüren muß des Hauses Feuer Selbst der Wind mit kaltem Atem so gewendet werden: Selbst der Wind mit kaltem Atem Muß des Hauses Feuer schüren u. s. w. Der Satz: Der Feind verlangt die That ist beim Reime eint etwa so zu wenden: Die That verlangt der Feind; beim Reime angt: Der Feind die That verlangt u. s. w. 4. Jst das Reimwort nicht schon im Textessatz gegeben, so muß es durch Herbeiziehen eines sinnverwandten Wortes ersetzt werden. Beim Reime still wird z. B. das obige Beispiel etwa so heißen müssen: Die That der Gegner will; beim Reimwort flucht: == die That der Gegner sucht u. s. w. 5. Man vermeide schon hier abgenützte Reime. Ein Kunstmittel, diese Reime erträglich zu machen, besteht darin, daß man ihnen durch Verschmelzung mit einem anschaulichen Substantiv gesteigerte Bedeutung oder den Charakter des Neuen verleiht, z. B. Herzenswonne, Freudensonne; Freundesliebe, Freudentriebe; Seelenschmerz, Felsenherz u. s. w. 6. Zur Erreichung größtmöglicher Übung geben wir von einigen der gebräuchlichsten Reimformen je ein Beispiel. Aufgabe 1. Weiblicher Reim. Vokal a im Endreim ade. Das Metrum sei der trochäische Viertakter, der Endreim erscheint in Zeile 1 und 2 und dann in allen geradzahligen Zeilen. Stoff. Jeder Blume am Meeresgestade | und jedem Wasserschaum im Meere, | jedem Sterne am Himmelszelte, | jedem Sonnenstrahle | habe ich meine Liebesschmerzen | thränenden Auges fruchtlos vorgesungen. | nun will ich sie den Steinen vorsingen, | um sie abzuladen. | Möge der härteste aller Steine | mir Gnade schenken! Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz. Jeder Blume am Gestade, Jedem Schaum im Wellenpfade, Jedem Stern im Dom der Nächte, Jedem Strahl im Sonnenrade Sang ich meine Liebesschmerzen Fruchtlos vor im Thränenbade; Nun den Steinen will ich singen, Daß ich meinen Schmerz entlade; Du, der härteste der Steine, Schenkst du wohl vielleicht mir Gnade? Aufgabe 2. Weiblicher Reim. Vokal u im Endreim uche. Metrum: der jambische, katalektische Viertakter. Reimstellung wie früher. Stoff. Dein Dach, o Buche, barg mich vor Wind und Wetter wie ein Regen= Lösung. Von Fr. Halm. Es barg dein Dach mich, Buche, Gleich grünem Regentuche tuch; | gastfreundlich rauschtest du meinem Besuch entgegen. | Jch segne dich dafür, und mein Fluch treffe den, | der dir mit Axt und Säge naht. | Zwar tönt Fluch und Segen nicht aus einem Zauberbuch. | Aber wie du mich mit Wohlgeruch umweht hast, | so weht aus frommem Dichterspruch Weiheduft entgegen. | Vor Wind und Wetter, rauschend Gastfreundlich dem Besuche! Drum ruh' auf dir mein Segen, Und trag' an meinem Fluche, Wer immer Axt und Säge Fortan an dir versuche! Und tönt auch Fluch wie Segen Aus keinem Zauberbuche, Es weht, wie mich dein Schatten Umhaucht mit Wohlgeruche, Es weht ein Duft der Weihe Aus frommem Dichterspruche. Aufgabe 3. Männlicher Reim. Vokal o im Endreim or. Das Metrum sei der jambische Viertakter. Reimstellung wie in Aufg. 1. Stoff. Die Liebe rief von der Himmelsthüre: | Wer ist, der schaut zu Gott herauf? | Wir sind, die schau'n empor zu Gott, | rief zu der Lieb' eine Anzahl Priester. | Die Liebe rief: Wie könnt ihr schau'n? | Vor eurem Antlitz hängt ein Schleier, | er ist gewebt aus Gier und Haß, | durch den das Licht seines Scheines beraubt wurde. | Vor eurem trüben Blicke nimmt | die Sonne Wolkenschleier an. | Die Gnade, die auf Wolken sitzt, | hört nicht, was euer dumpfer Ruf verlangt. | Und die Erhörung steigt nicht herab, | wie euer Gebet es wünscht. | O thut, eh' ihr zum Himmel schaut, | euch Erdendunkels ab zuerst. | Statt Gier und Haß nehmt Lieb ins Herz, | und schaut zur Gottheit dann hinauf. | Lösung. Von Fr. Rückert. Die Liebe rief vom Himmelsthor: Wer ist, der schaut zu Gott empor? Wir sind, die schau'n empor zu Gott, Rief zu der Lieb' ein Priesterchor. Die Liebe rief: Wie könnt ihr schau'n? Vor eurem Antlitz hängt ein Flor. Ein Flor, gewebt aus Gier und Haß, Durch den das Licht den Schein verlor. Vor eurem trüben Blicke nimmt Die Sonne Wolkenschleier vor. Die Gnade, die auf Wolken sitzt, Schließt eurem dumpfen Ruf ihr Ohr. Und die Erhörung steiget nicht Herab, die nur Gebet beschwor. O thut, eh ihr zum Himmel schaut, Euch Erdendunkels ab zuvor. Statt Gier und Haß nehmt Lieb ins Herz, Und schaut zur Gottheit dann empor. Aufgabe 4. Männlicher Reim. Vokal i im Endreim icht. Metrum: Der jambische Fünftakter. Reimstellung wie früher. Stoff. Solange die Sonne den Nachtflor nicht durchbricht, | haben die Tagesvögel keine Zuversicht. | Die Sonne weckt die Tulpen auf; | daher sollst Lösung. Von Fr. Rückert. Solang die Sonne nicht den Nachtflor bricht, Sind Tagesvögel ohne Zuversicht. Der Blick der Sonne ruft die Tulpen auf. auch du jetzt erwachen, o Herz. | Das Schwert der Sonne gießt im Morgenrote | das Blut der Nacht aus, Sieg erfechtend. | Voll Schlafs das Auge, sprach ich: Es ist Nacht; | er sprach: Aber nicht vor meinem Antlitze. | Solang es graut, ist der Tag zweifelhaft; | wer zweifelt am hellen Tage noch an der Sonne? | Jm Osten steht die Sonne, ich steh' im Westen, | ein Berg, an dessen Haupt der Schein sich spaltet. | Jch bin der Schönheitssonne blasser Mond; | schau weg von mir, der Sonn' ins Antlitz. | Dschelaleddin nennt sich das Licht im Ost, | des Wiederschein auch zeigen meine Verse. | Jetzt ist, o Herz, dir zu erwachen Pflicht. Das Sonnenschwert gießt aus im Morgenrot Das Blut der Nacht, von der es Sieg erficht. Voll Schlafs das Auge, sprach ich: Es ist Nacht. Er sprach: Vor meinem Angesichte nicht. Solang es graut, ist zweifelhaft der Tag; Am hellen Tag, wer zweifelt noch am Licht? Jm Osten steht das Licht, ich steh im West, Ein Berg, an dessen Haupt der Schein sich bricht. Jch bin der Schönheitssonne blasser Mond; Schau weg von mir, der Sonn' ins Angesicht! Dschelaleddin nennt sich das Licht im Ost, Des Wiederschein auch zeiget mein Gedicht. Aufgabe 5. Gleitender Reim. Vokal a im Endreim altige. Metrum: Der trochäische katalektische Viertakter. Stoff. Preis dir, allgewaltige, | vielgestaltige Liebe! | Licht und Schatten und das mannigfaltige Farbenspiel, | vereinige! | Du bist eine strömende, | unerschöpft reichhaltige Formenquelle. | Fördere ans Licht | alles, was Lichtgehalt hat. | Laß im Licht gedeihen und blühen | alles, was Lichtgestalt hat. | Mit deinem Hauche gleiche | jeden Zwiespalt aus. | Und laß vor deinem Blick alles, | was Mißgestalt hat, vergehen. | Wie die Rosen sich aufblättern, | so blättre die Falten meines Gemüts auf | und ich singe dir noch lange | die mannigfaltigsten Lieder. | Lösung. Von Fr. Rückert. Preis dir, allgewaltige Liebe, vielgestaltige! Licht und Schatten, Farbenspiel, Eine, mannigfaltige! Formenquelle, die du strömst, Unerschöpft reichhaltige! Fördre zur Geburt ans Licht Alles lichtgehaltige! Laß im Licht gedeihn und blühn Alles lichtgestaltige! Gleiche aus mit deinem Hauch Jegliches zwiespaltige! Und vor deinem Blick vergehn Laß das mißgestaltige! Blättre mir wie Rosen auf Dies Gemüt, das faltige! Und noch lange sing' ich dir Lieder mannigfaltige. Aufgabe 6. Gleitender Reim. Vokal a im Endreim astete. Metrum: Der jambische Viertakter. Stoff. O Zeit, in der ich rastete, | in welcher mir nichts zur Last fiel, | in der ich noch so wohlgemut | am Tisch der Ruhe als Gast saß, | in der ich nicht nach falscher Gunst | mit eiligen Schritten mich bemühte. | Du flohst, es rette mich das Glück, | da es weiß, wie lang ich entbehrte, | wie lange ich keine schöne Hand | mit meiner Hand berührte. | Lösung. Von Platen. O Zeit, in der ich rastete, Jn der mich nichts belastete, Jn der ich noch so wohlgemut Am Tisch der Ruhe gastete! Jn der ich nicht nach falscher Gunst Mit eil'gen Schritten hastete! Du flohst, es rette mich das Glück, Da 's weiß, wie lang ich fastete, Wie lang ich keine schöne Hand Mit meiner Hand betastete! Aufgabe 7. Ghaselenreim. Diphthong ei im Endreim eise. Metrum: Der jambische Viertakter. Stoff. Du bist mir der wahre Weise, | dies sagt mir leise dein Auge. | Du bist mir auf dieser langen Reise | ein Gastfreund ohne Hehl. | Dein Leben liefert mir den Beweis, | daß es auf Erden noch Liebe giebt. | Du bringst mir den Moschusduft der Liebe | und die Speise der Wahrheit. | Jn deinem lieben Kreise | wird mir's so leicht, so warm. | Du bist eine Perle, | mir über alles wert. | Lösung. Von Platen. Du bist der wahre Weise mir, Dein Auge lispelt's leise mir: Du bist ein Gastfreund ohne Hehl Auf dieser langen Reise mir; Dein Leben wird, daß Liebe noch Lebendig, zum Beweise mir. Du bringst der Liebe Moschusduft, Du bringst der Wahrheit Speise mir; Es wird so leicht, es wird so warm Jn deinem lieben Kreise mir; Du bist die Perle, deren Wert Hoch über jedem Preise mir. Aufgabe 8. Ghaselenreim. Vokal e im Reim erz sein. Metrum: Der jambische Viertakter. ( NB . Das Beispiel ist zugleich Probe des schwebenden Reims.) Spielzeug. Stoff. O laß, was ich im Scherze gesagt, | nicht ganz als Scherz dir gesagt sein! | Besieh den Scherz, bevor du lachst, | und du wirst tiefen Schmerz entdecken. | Betrachte dein Spielzeug, ehe du es zerbrichst, | und du wirst finden, daß es ein Dichterherz ist. | Lösung. Von Robert Hamerling. O laß, was scherzend ich gesagt, Nicht ganz gesagt als Scherz sein! Besieh' den Scherz, bevor du lachst, Es wird ein tiefer Schmerz sein. Besieh' dein Spielzeug, eh' du's brichst, Es wird ein Dichterherz sein! § 22. Bildung von abwechselnd reimlosen und gereimten Verszeilen. 1. An die Übungen in der Ghaselenform schließen sich die Übungen in abwechselnd reimlosen und gereimten Verszeilen eng an. Sie sind in ihrer Anwendung noch leichter als die Ghasele, da ja nur immer ein Reim in der Strophe nötig ist. (Wir kommen bei der gebrochen geschriebenen Nibelungenstrophe noch einmal auf diese Form zurück.) 2. Daß sich bei Zusammenstellung von je 2 ungereimten und 2 gereimten Verszeilen vierzeilige Strophen ergeben, ist nebensächlich, kann aber immerhin als Überleitung zur Strophenbildung beachtet werden. 3. Die Bildung reimloser und gereimter Verszeilen ist deshalb sehr leicht, weil das große Material innerhalb zweier Zeilen zweifelsohne mindestens ein Reimecho in sich schließt. 4. Mehr als 10 Takte sollten bei diesen Übungen beide Verszeilen (mit Rücksicht auf die Architektonik des Reimes) nicht betragen. 5. Dilettanten wenden häufig den jambischen hyperkatalektischen Quinar ohne ein strophisches Charakteristikum an. Noch beliebter sind bei ihnen wegen leichter Handhabung die jambischen Viertakter. Der Lernende thut gut daran, bei denselben die gereimte Zeile je um 1 ganzen oder ½ Takt zu verkürzen, weil dadurch der Abschluß markanter wird. Aufgabe 1. Männlicher Reim. Nachstehender Stoff soll in jambischen Dreitaktern gegeben werden, von denen je die geraden, reimlosen hyperkatalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑) sein mögen, während die gereimten akatalektisch sind. Liebesahnung. Stoff. Wohl schmücket unsere Jugend | manch schöner Kranz; | ein sonniger Äther | beglänzt sie, | ein warmer Mai | bringt Blumen | und frohe Lieder. | Doch um Eines | ist sie besonders zu beneiden: | es sind nicht die roten Wangen | und nicht das rasche Blut, | Lösung. Von Franz v. Kobell. Wohl schmückt die schöne Jugend So mancher grüne Kranz, Ein sonnigheller Äther Weht drüber seinen Glanz, Ein duftig warmer Maien Bringt seines Gartens Zier, Bringt farbig frische Blumen, Bringt frohe Lieder ihr; Doch Eines ist vor allen Jhr neidenswertes Gut, Die Blüte nicht der Wangen Und nicht das rasche Blut: es ist die Ahnung der Liebe, | wenn sie im Herzen keimt, | wenn sie die Erde | zum Himmel verklärt, | wenn die Welt | ihr Abglanz wird, | wenn sie alles verschönt | mit ihrem Zauber. | O daß die flüchtige, teilnamslose Zeit | nicht verweilt | an jener Lust des Daseins, | die uns der rasche Wechsel | entzieht, | als ob den Himmel | sein rasches Glück reue, | als wäre es wie verloren, | ja, als wäre es schade darum, | wenn er es der armen Erde | zum vollen Besitz überließe. | Die Ahnung ist's der Liebe, Wenn sie im Herzen keimt, Wenn leise sie zum Himmel Die Welt hinüberträumt, Wenn alles wird da außen Zu ihrem Spiegelbild, Verschönt, verherrlicht alles, Wohin ihr Zauber quillt; O daß du nicht verweilest, Du flüchtig kalte Zeit, An jener Lust des Daseins, An jener Seligkeit, Daß uns so schneller Wechsel Aus ihren Armen reißt, Als reute es den Himmel Das Glück, das er verheißt, Als wär' es wie verloren Und schien' ihm schade drum, Gäb' er's der armen Erde Zum vollen Eigentum! Aufgabe 2. Weiblicher Reim. Nachstehender Stoff soll in jambischen Viertaktern gegeben werden; die geraden, reimlosen Zeilen sollen akatalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –), die gereimten dagegen katalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑) sein. Wasser und Wein. Stoff. Der stolze Wein sprach einst zum Wasser: | Jch tafle mit den Fürsten; | alle Ritter und Edle | dürsten nach meiner Quelle; | ich befinde mich in goldenen Bechern | und werde hoch gepriesen. | Dir wird davon | nichts zu teil. | Darauf entgegnete das Wasser: | Jch bin mit meinem Schicksal nicht unzufrieden; | im Morgenglanze küßte mich | ein Mädchen von der Rose hinweg, | und hat die Blume mir anvertraut, | daß ich sie frisch erhalten soll; | ich habe der Rose auch die Knospen | gar kunstreich entfaltet. | Lösung. Von Franz v. Kobell. Zum Wasser sprach der stolze Wein: Jch tafle mit den Fürsten, Die Ritter und die Edlen all' Nach meiner Quelle dürsten, Jn goldnen Bechern hause ich Zum Himmel hoch gepriesen, Dir wird von solcher Herrlichkeit Kein Stäubchen zugewiesen. Das Wasser sprach: ich zürne drum Fürwahr nicht meinem Lose, Mich küßte jüngst im Morgenglanz Ein Mädchen von der Rose, Und hat die liebe Blume mir Vertraut, sie frisch zu halten, Jch wußte fein die Knospe ihr Gar künstlich zu entfalten. Jch danke dem Geschicke | für die Gunst eines schönen Mädchens | und überlasse dir gern deinen Prunk | und deiner Edlen Blicke. | Schweigend vernahm dies der Wein | und schalt hinfort das Wasser nicht mehr. ─ Ja, schöne Mädchen gelten zu allen Zeiten viel | und werden jederzeit viel gelten. | Um solcher Gunst von schöner Maid Wohl dank' ich dem Geschicke Und laß dir gerne deinen Prunk Und deiner Edlen Blicke. ─ Und schweigend hörte es der Wein, Wollt's Wasser nicht mehr schelten. Ja schöne Mädchen gelten viel Und werden 's immer gelten. § 23. Bildung von ununterbrochenen Reimversen. 1. Jm Gegensatz zu den Gedichten mit abwechselnd reimlosen und gereimten Verszeilen enthalten alle Reimgedichte lediglich gereimte Verse und zwar in den verschiedensten Stellungen und Kombinationen. 2. Die wesentlichen Kombinationen in der Reimzahl und =Stellung werden in der Strophenlehre zur Anschauung gebracht werden. Hier beschränken wir uns auf drei charakteristische Formen. a . Reimpaare. Aufgabe 1. Nachstehender Stoff ist in jambischen Viertaktern wiederzugeben. Männliche und weibliche Reime sind je nach Bedürfnis gestattet. Stoff. Der jugendliche Beherrscher einer halben Welt erhielt in seinem Königszelte die Nachricht, daß von all seinen Kriegern nicht ein einziger zurückgekehrt sei, daß die Krieger scharenweise an einer Quelle verschwänden. Da besann er sich nicht lange. Rasch bestieg er sein Schlachtroß und ohne jegliches Gefolge sprengte er dem Bache zu. Dort angelangt band er eilig sein Roß an einen Baum und erklomm nun den Hügel, wie es seine Krieger auch gemacht hatten. Zum erstenmal erfaßte ihn die Lust, frei zu wandern. Er vergaß Stolz und Eitelkeit seiner Würde und fühlte menschlich rein, wie entzückend die Natur sei. Lösung. Von Karl von Thaler. Die Kunde kam ins Königszelt, Dem jungen Herrn der halben Welt, Daß Keiner, den man ausgesandt, Zum Heimweg sich zurückgewandt; Daß ganze Scharen an der Quelle Verschwänden wie des Baches Welle. Der König sann nicht lange nach, Als solches Wort zu ihm man sprach; Er warf sich rasch aufs hohe Roß, Ließ ferne des Gefolges Troß Und ritt allein dem Bache zu. Dort angelangt, hatt' er nicht Ruh; Er stieg vom Pferd am Ufersaum, Band selbst das Tier an einen Baum Und klomm den Hügel dann hinan, Wie seine Krieger auch gethan. Zum erstenmal war Alexandern Die Lust gekommen, frei zu wandern. Der Krone Stolz und Eitelkeit Vergaß er ganz für kurze Zeit Und fühlte rein und menschlich nur, Wie schön und prächtig die Natur. b . Drei Reime. Aufgabe 2. Ein Reimgedicht mit drei einander folgenden Reimen, also nach dem Reimschema: a a a, b b b &c. &c. Jambisch anapästischer Rhythmus. Dreitakter; die das Ganze abschließende Pointe kann ausnahmsweise in einem Viertakter gegeben werden. Rachelust. Stoff. Möchte doch das Veilchen, das ich bringe, | und das Liedchen, das ich singe, | zu deinem Herzen sprechen. | Jch habe dir das Veilchen gebracht | und das Lied gesungen | und du hast nicht an mich gedacht. | Ein andrer ist dir zugeneigt | und bringt dir ebenfalls Blumen und Lieder, | dieser hat deine Gunst erworben. | Wäre ich doch dieser andre, | um mich rächen zu können! | Nie würde ich deine Wünsche erfüllen; | und wenn du mich noch so sehr bitten würdest, | Lieder | und Veilchen würde es nicht mehr geben. | O wäre ich doch der andre! | Lösung. Von Franz v. Kobell. Das Veilchen, das ich dir bringe, Das Liedchen, das ich dir singe, Ach, daß es zum Herzen dir ginge! ─ Jch hab' das Veilchen gebracht, Sang dir das Lied bei der Nacht, Du hast nicht daran gedacht. Ein andrer schwärmt um dich Mit Blumen und Lied wie ich, Der gewinnt dein Gefallen für sich. Jch möcht' dieser andere sein, Nur um mich zu rächen allein! Thät nimmer dein Begehren, nein, Und bätest du noch so sehr Jch säng' kein Liedchen mehr, Und gäb' kein Veilchen her ─ Wenn ich nur dieser andre wär'! c . Gekreuzte Reime. Aufgabe 3. Ein Reimgedicht mit ununterbrochenen Reimversen. Jambische Viertakter. Die ungeraden Zeilen können hyperkatalektisch sein, um weibliche Reime zu erhalten, dagegen sollen die geraden Zeilen männlich reimen. Das Gedicht soll gekreuzte Reime ( a b a b ) erhalten. Waldleben. Stoff. O geheimnisvolles Träumen | der vom Duft durchzogenen Waldesnacht. | O tritt ein, dann erblüht goldne Märchenpracht | aus Büschen und Bäumen. | Jn grünem Golde | spielt das Licht der Sonnenstrahlen. | Die neckende Blütendolde des Grases streift | Lösung. Von Otto Roquette. O tief geheimnisvolles Träumen Der duftdurchwehten Waldesnacht! Tritt ein, und rings aus Busch und Bäumen Erblüht dir goldne Märchenpracht. Lebendig wirrt in grünem Golde Der Sonnenstrahlen buntes Licht, Es streift des Grases Blütendolde den Blumen ums Gesicht; | die Riesentanne erhebt sich rauschend | aus dem umgebenden Buchengrün, | und erzählt von der Vorwelt in dunklen Worten, | als Greis, der doch immer noch lebenskühn ist; | und an ihrer knorrigen Wurzel | entspringt der Bach, | der immer neue Frühlingslust bringt, | wenn auch mancher Ast verdorrte. | So tränkt mit jugendlichen Quellen | die ewige Lebensflut | den reinen Trieb verglühter Sonnen, | den weder Sturm noch Glut zu welken vermochte. | Den Blumen neckend ums Gesicht; Die Riesentanne hebt sich rauschend Aus nachbarlichem Buchengrün, Der Vorwelt dunkle Worte tauschend, Ein Greis, und doch noch lebenskühn. Und um der Wurzeln schwarze Knorren Springt hell aus frischer Felsenbrust Der Bach; mag mancher Ast auch dorren, Er bringt ihm neue Frühlingslust. So tränkt mit jugendlichen Bronnen Die ewig klare Lebensflut Den reinen Trieb verglühter Sonnen, Den nicht gewelket Sturm noch Glut. § 24. Schriftliche und mündliche Übungen im Metrum und im Reim. 1. Wenn wir auch nicht der Ansicht sind, daß in unserer poesiearmen Zeit Dichterschulen wie in Griechenland zur Zeit der Sappho und des Alkäos &c. erstehen werden, so meinen wir doch, daß in unsern geselligen Vereinigungen viel für Pflege der Poesie geschehen könnte, und daß daher eine Anregung hierzu willkommen sein dürfte. Gebildete Männer und Frauen, Dichter und Dichterfreunde &c., könnten sich unter versgewandter Leitung vereinigen, um dichterische Übungen zu veranlassen, Jnteresse für unsere dichterische Kunst zu wecken und das Vestafeuer deutscher Poesie vor dem Erlöschen zu bewahren. 2. Zur Zeit des Meistersanges waren es schlichte Handwerker, welche sich (mit freilich nur geringem Verständnisse) der lyrischen Poesie annahmen und ohne Poetik, ohne Kenntnis der poetischen Gesetze die Meisterschulen in Nürnberg, Mainz, Straßburg, Augsburg, Frankfurt, Regensburg, Memmingen &c. gründeten. Metrum, Reim, Melodie &c. wurden bei ihren Nachahmungen der Minnesinger genau beachtet und bildeten die sogenannte Tabulatur. Schüler konnte jeder sein; Schulfreund hieß, wer die Tabulatur kannte; Singer, wer einige Melodien zu singen vermochte; Dichter, wer Lieder nach Melodien anderer zu bilden verstand; Meister, wer neue Töne erfand. Es bestanden also 5 Grade. Auf einer Art Bühne (Gerüste, Gemerke) versammelten sich die Vorstände (Merker). Der Singer stellte sich auf den Singstuhl (eine Art Kanzel). Der erste Akt war das Freisingen. Vier Merker, von denen einer die Ordnung bestimmte, waren Richter. Der eine verglich den Jnhalt, ob er auch streng biblisch sei. Der zweite untersuchte, ob den Regeln des Lieds (Bars) genau entsprochen wurde. Der dritte prüfte den Reim, der letzte die Melodie. Der 1. Preis (silbernes Gehäng mit einer Münze, den König David als Harfenspieler darstellend), sowie der 2. Preis (seidene Blumen) gaben Anrecht auf die Stelle eines Merkers. 3. Ein solcher Apparat war damals nötig, um Eifer zu wecken und Aufmerksamkeit zu erzielen, damit Wesen wie Form gewahrt wurde. Das genießende Beschauen der dichterischen Gaben erbte sich eben so traditionell von Generation zu Generation weiter wie die Kunst, regelrecht zu schaffen. Es dürfte verdienstlich erscheinen, neuerdings eine Tradition zu begründen, die fortwirkt, ohne wie bei jenen zu verknöchern. Wir sind daher mit Vereinigungen zufrieden, welche das genießende Beschauen unserer dichterischen Gaben bezwecken, daneben aber auch Minderbegabte in die Technik der Poesie einzuführen vermögen. 4. Da die Umbildung mittelhochdeutscher Gedichte ins Hochdeutsche ebenso leicht auszuführen sein dürfte als die Übertragung in andere Versformen und Rhythmen, und da es in pädagogischer Beziehung für den Lernenden ermutigend ist, den Erfolg seiner Thätigkeit zu sehen, so widmen wir der Übertragung einzelner Dichtungen gebührende Rücksicht. 5. Wir bemerken, daß in allen jenen Fällen die Veränderung des Ausdrucks, ja, selbst die Einfügung eines neuen Gedankens gestattet ist, in welchen das hochdeutsche Reimwort dies nötig macht. 6. Das Reimgeschlecht darf je nach Bedürfnis geändert werden. A . Mündliche Umbildung mittelhochdeutscher Gedichte. Aufgabe. Nachstehendes Gedicht von Walther von der Vogelweide soll ins Hochdeutsche übertragen werden. Gefährdetes Geleite. Original. (Ausg. v. Frz. Pfeiffer. ) Ich saz ûf eime steine: und dahte bein mit beine, dar ûf sast' ich den ellenbogen; ich hete in mîne hant gesmogen daz kinne und ein mîn wange. dô dâhte ich mir vil ange, wes man zer werlte solte leben. dekeinen rât kond' ich gegeben, wie man driu dinc erwurbe, der keines niht verdurbe. diu zwei sint êre und varnde guot, der dwederz dem andern schaden tuot, daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde: Lösung. Von K. Simrock. Jch saß auf einem Steine: Da deckt' ich Bein mit Beine, Darauf der Ellenbogen stand; Es schmiegte sich in meine Hand Das Kinn und eine Wange. Da dacht' ich sorglich lange Dem Weltlauf nach und ird'schem Heil; Doch wurde mir kein Rat zu Teil, Wie man drei Ding' erwürbe, Daß ihrer keins verdürbe. Die zwei sind Ehr' und weltlich Gut, Das oft einander Schaden thut, Das dritte Gottes Segen, An dem ist mehr gelegen: die wolte ich gerne in einen schrîn. jâ leider des enmac niht sîn, daz guot und werltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen. stîg' unde wege sint in benomen: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze, frid' unde reht sint sêre wunt: diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt. Die hätt' ich gern in einen Schrein. Ja leider mag es nimmer sein, Daß Gottes Gnade kehre Mit Reichtum und mit Ehre Je wieder in dasselbe Herz; Sie finden Hemmung allerwärts: Untreu hält Hof und Leute, Gewalt fährt aus auf Beute; So Fried' als Recht sind todeswund: Die dreie haben kein Geleit, die zwei denn werden erst gesund. B . Schriftliche Umbildung von Fabeln. 1. Viele unserer Fabeldichter haben ältere Stoffe abweichend von den älteren Quellen oder mit Zusätzen neu bearbeitet, was zur Lehre dienen kann. 2. Die beste Belehrung, wie aus einer Fabel durch Fortspinnen des Geschichtlichen der Fabel und durch Veränderung einzelner Umstände eine neue Fabel gebildet werden kann, giebt Lessing in seinen „Abhandlungen über die Fabel“. (Der Lernende vgl. das Wesentliche II , 166 unserer Poetik.) 3. Der Fabeldichter braucht sich nicht sklavisch streng an ein bestimmtes Versmaß zu halten; er kann auch je nach seinem Stoffe einzelne Zeilen verkürzen oder verlängern, sofern die Pausen in Anrechnung kommen. 4. Bei der Fabel kommt es vor allem auf Einfachheit der Darstellung an, auf kindlich=naive Ausdrucksweise. Aufgabe 1. Nachstehender Stoff soll im jambischen Rhythmus erzählt werden. Die Länge der Zeilen und der rhythmischen Reihen ist dem Belieben anheimgegeben. Stoff. Ein alter Haushahn hielt auf einer Scheuer Wache. | Er sah einen Fuchs herbei eilen. | Schon von weitem rief dieser dem Hahne zu: „Freue dich, Freund, | ich bringe frohe Kunde: | Der Krieg der Tiere unter einander hört auf. | Von nun an wird Friede und Freundschaft herrschen. | Lösung. Von Fr. v. Hagedorn. Ein alter Haushahn hielt auf einer Scheuer Wache; Da kommt ein Fuchs mit schnellem Schritt, Und ruft: O krähe, Freund, wie ich dich fröhlich mache! Jch bringe gute Zeitung mit. Der Tiere Krieg hört auf; man ist der Zwietracht müde; Jn unserm Reich ist Ruh' und Friede; Jch bringe auch dir den Frieden. | Komme herab, daß ich dich herzen kann.“ | Jn diesem Augenblicke schielte der Hahn nach der Seite. Als der Fuchs nach dem Grunde fragte, antwortete der Hahn: „Halt, Greif und Bellard, | die Hunde, welche du kennst, sehe ich daher kommen.“ | Da ergriff der Fuchs die Flucht: „Was ficht dich an?“ rief ihm der Hahn zu. | „Gar nichts,“ erwiderte der Fuchs im Davonlaufen, „der Streit ist ganz gewiß zu Ende, | aber ich fürchte, daß die Hunde noch nicht davon unterrichtet sind.“ | Jch selber trag' ihn dir von allen Füchsen an. O Freund komm' bald herab, daß ich dich herzen kann! Wie guckst du so herum! ─ Greif, Halt und Bellard kommen, Die Hunde, die du kennst! versetzt der alte Hahn; Und als der Fuchs entlauft: Was, fragt er: ficht dich an? ─ Nichts, Bruder! spricht der Fuchs: der Streit ist abgethan, Allein ich zweifle noch, ob die es schon vernommen. Aufgabe 2. Eine zweite Fabel im jambischen Rhythmus ist zu bilden. Man möge Alexandrinerverse wählen. Zuweilen kann auch ein fünf=, vier- oder dreitaktiger Vers eingefügt werden, da die Pausen in Anrechnung gebracht werden dürfen. Die Milchfrau. Stoff. (Nach Lafontaine's bekannter Fabel.) Eine Bauersfrau, geliebt von ihrem Manne und gesund an Leib und Seele, ging am frühen Morgen zur Stadt. Auf ihrem Kopfe trug sie einen großen Topf mit vier Stübchen süßer Milch. Sie eilte, denn sie wollte die erste Milchverkäuferin in den Straßen der Stadt sein. Sie dachte bei sich: Die erste Milch ist teuer, und wenn ich Glück habe, nehme ich mindestens sechs Groschen ein; für diese kaufe ich fünfzig Eier; diese geben fünfzig Hennen, davon verkaufe ich soviele, als für den Ankauf eines kleinen Schweines nötig sind. Wie glücklich macht der Gedanke, meinem Manne eine Freude zu bereiten! Wie mag er aufschauen, wenn das Schwein erst gemästet sein wird und ich dafür eine Kuh mit einem Kälbchen erhandeln kann. Das Kälbchen will ich täglich auf die Weide bringen: „Hei,“ rief sie und that vor Freude einen Sprung. Sie wollte sagen: „Hei, wie lustig wird es hüpfen und springen!“ Da lag auch schon der Topf in Scherben am Boden. Mit Schrecken sah sie alle ihre Pläne vernichtet. Eine Weile betrachtete sie sprachlos die weiße Milch auf dem schwarzen Boden. Dann wandte sie sich weinend der Heimat zu. Der Mann beruhigte sie, indem er sie ermahnte, keine Luftschlösser zu bauen. „Das wahre Glück“, so setzte er bedeutungsvoll hinzu, „besteht in der Zufriedenheit.“ Lösung. Von Gleim. Auf leichten Füßen lief ein artig Bauernweib, Geliebt von ihrem Mann, gesund an Seel' und Leib, Frühmorgens nach der Stadt und trug auf ihrem Kopfe Vier Stübchen süße Milch in einem großen Topfe. Sie lief und wollte gern „Kauft Milch“ am ersten schrei'n; Denn dachte sie bei sich, die erste Milch ist teuer, Will's Gott, so nehm' ich heut' sechs bare Groschen ein, Dafür kauf' ich mir dann ein halbes hundert Eier; Mein Hühnchen brütet sie mir all' auf einmal aus; Gras eine Menge steht um unser kleines Haus; Die kleinen Küchelchen, die meine Stimme hören, Die werden herrlich da sich letzen und sich nähren; Und ganz gewiß, der Fuchs müßt' listig sein, Ließ er mir nicht so viel, daß ich ein kleines Schwein Dafür eintauschen könnte! Seht nur an! Wenn ich mich etwa schon im Geiste freue, So denk' ich nur dabei an meinen lieben Mann! Zu mästen kostet's mir ja nur ein wenig Kleie! Hab' ich das Schweinchen fett, dann kauf' ich eine Kuh Jn meinen kleinen Stall, ein Kälbchen wohl dazu; Das Kälbchen will ich dann auf meine Weide bringen, Und munter hüpft's und springt's, wie da die Lämmer springen. Hei! sagt sie, und springt auf, und von dem Kopfe fällt Der Topf; das bare Geld, ─ Und Kalb und Kuh und Reichtum und Vergnügen Sieht nun das arme Weib vor sich in Scherben liegen! Erschrocken bleibt sie stehn und sieht die Scherben an, „Die schöne weiße Milch, sagt sie, auf schwarzer Erde!“ Weint, geht nach Haus, erzählt's dem lieben Mann, Der ihr entgegen kommt mit ernstlicher Gebärde; „Kind“, sagt der Mann, „schon gut! Bau nur ein andermal Nicht Schlösser in die Luft, man baut sich seine Qual! Geschwinder drehet sich um sich kein Wagenrad, Als sie verschwinden in den Wind! Wir haben all' das Glück, das unser Junker hat, Wenn wir zufrieden sind!“ (Man vgl. auch die Bearbeitung II , 229 unserer Poetik.) C . Mannigfaltige Umbildungen der nämlichen Gedichte. Aufgabe. Zur Gewinnung größtmöglicher Fertigkeit versuche man, selbst auszuwählende kleinere mittelhochdeutsche Gedichte lautlesend umzubilden: 1. in regelrechte hochdeutsche Verse mit reinen Jamben, 2. in trochäische Verse mit reinen Trochäen, 3. in jambische Verse mit eingefügten Anapästen, 4. in trochäische Verse mit eingefügten Daktylen. ─ 5. Weiter möge man jeden Vers dieser Gedichte zuerst um je einen Verstakt verlängert, dann um je einen Verstakt verkürzt vorlesen, und zwar ebenso im jambischen, wie im trochäischen Metrum. 6. Endlich können Übungen im Reimgeschlecht und in der Reimart erfolgen. Diese Übungen werden den Lernenden befähigen, mit Erfolg zur Strophenbildung überzugehen. Beispiele: Zu Beispielen für 1─4 empfehlen wir: „ Deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrh. Eine Auswahl von Karl Bartsch. 2. Aufl. 1879. Der angefügte, erschöpfende Glossar macht dieses Buch ebenso für Vorlesungen, wie besonders für unseren Zweck wertvoll. Ein Beispiel für Ziffer 5 und 6 ist Rückerts Parabel „ Der thörichte Mann “, welche der Dichter nach der im jambischen Quinar geschriebenen Übersetzung Hammer-Purgstalls aus dem Divan Mewlane Dschelaleddin's (vgl. Hammer-Purgstalls Geschichte der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818) in jambischen Viertaktern (also um 1 Takt verkürzt) und mit meist abweichenden Reimen nachgedichtet hat. ─ Drittes Hauptstück. Strophenbildung. ────── § 25. Einführung in die Strophenbildung. 1. Übungen in der deutschen Strophik (d. i. im kunstvollen Bau deutscher Strophen) wurden bis jetzt systematisch nirgends angestellt. Man kannte antike Strophen und pflegte sie: von einer deutschen Strophik sprach ─ Seyd und Wessenberg ausgenommen ─ überhaupt niemand. Auch die Handbücher der Poetik behandelten die deutsche Strophenbildung höchst oberflächlich oder gar nicht, bis wir dieselbe in unserer Poetik zum erstenmale zum System erheben und eine deutsche Strophentheorie schaffen konnten. 2. Die Strophe verlangt nach Jnhalt und Form einheitlichen Bau und bestimmte Abgeschlossenheit, um als abgerundetes Teilganzes zu erscheinen. 3. Somit ist das bei der antiken Strophe erlaubte Hinüberziehen des begonnenen Satzes in die folgende Strophe in unserer deutschen Strophe unstatthaft. 4. Eine Ausnahme ist zu gestatten, wenn die fortlaufende Handlung eines Stoffes ein Aufhören oder einen syntaktischen Ruhepunkt nicht gestattet. Jn jedem Falle muß sich aber das Strophenschema dem Ohre und dem Auge erst sicher eingeprägt haben. Nie darf also das Enjambement am Anfange eines Gedichts eintreten; also niemals schon am Ende der 1. oder 2. Strophe. 5. Zur Einführung in die Technik der Strophe, die eine Naturnotwendigkeit unserer Sprache ist, beschränken wir uns (anschließend an das im 1. Bd. unserer Poetik Gelehrte) lediglich auf die praktischen Gesichtspunkte, indem wir darlegen: I . Die Anfänge der Strophenbildung und die Entwickelung derselben, II . Die Länge der Verszeilen und der Strophen, III . Rhythmus und Reim bei den Strophen, IV . Verbindung längerer Strophen und das strophische Charakteristikum, V . Einteilung des Gedichtstoffes. § 26. I . Anfänge der Strophenbildung und Entwickelung derselben (Philosophie des Strophenbaus). 1. Der Anfang aller Strophenbildung ist die Zweizeile (Distichon, Reimpaar). Diese ist die elementarste Form der Strophe. 2. Schreibt man die Zeilen des Reimpaars gebrochen, so entstehen Vierzeilen. 3. Fügt man der Zweizeile einen einzeiligen Abgesang an, so entsteht die Dreizeile. 4. Durch Anfügen dieses Abgesangs an die Vierzeile entsteht die Fünfzeile, welche zur Sechszeile hindrängt, sofern ihre ersten vier Zeilen aus Reimpaaren bestehen. Die 5. Zeile wird nämlich in diesem Fall als halbes Reimpaar empfunden, das seine zweite, fehlende Hälfte verlangt. 5. Die Vierzeile mit dreizeiligem Abgesang ergiebt die Siebenzeile. 6. Durch Brechung der Langzeilen bei der Vierzeile entsteht die Achtzeile. 7. Die Neunzeile baut sich auf aus 2+2+5, oder 3+3+3. 8. Die Zehnzeile setzt sich zusammen aus 4+4+2, seltener (namentlich bei Dilettanten) aus 5+5 u. s. w. 9. Die Ausdehnung der Strophe geht meistens nur bis zur Oktave oder auch noch bis zur Decime. Doch giebt es noch zahlreiche Elf=, Zwölf=, Dreizehn- und Vierzehnzeilen. Übervierzehnzeilige Strophen gehören zu den Seltenheiten. 10. Jede Strophe besteht aus Gliedern und Untergliedern. Meist bilden Vordersatz und Nachsatz ein Glied. Die Periode: „Es zogen zwei Grenadiere nach Frankreich, Die in Rußland gefangen waren. Als sie ins deutsche Quartier kamen Ließen sie die Köpfe hangen ─“ besteht aus 2 Gliedern von je einem Vordersatz und einem diesem entsprechenden Nachsatz. Jeder Satz bildet eine Verszeile, so daß die ganze Periode eine symmetrische, vierzeilige Strophe ergiebt, welche Heine also gestaltet hat: „Nach Frankreich zogen zwei Grenadier', Die waren in Rußland gefangen. Und als sie kamen ins deutsche Quartier, Sie ließen die Köpfe hangen.“ 11. Ähnlich ist der Bau jeder Strophe zu analysieren. 12. Bei Beurteilung der Strophenglieder werden auch die Pausen hinzugerechnet. II . Länge der Verszeilen und der Strophen. A . Zeilenlänge . 1. Die Zeilenlänge hängt ab von der Stimmung und vom Stoffe. Von der Stimmung: Leidenschaftlich erregter Jnhalt läßt sich nicht in knappe Formen einzwängen, denn die leidenschaftliche Sprache ist wortreich und bedarf eines weiten Maßes. (Die Leidenschaft an sich spricht nicht langatmig. Aber der dichterische Ausdruck der Leidenschaft ist stets wortreich.) Dagegen empfehlen sich kürzere Zeilen für wenig erregten, spielerischen, tändelnden Jnhalt (Beispiel: Rückerts „Alle die Dingerchen“), ferner für Niedliches (Beispiel: Goethe's „Ein Blumenglöckchen vom Boden hervor), für kaleidoskopisches Vorbeihuschen, bewegliches Leben (Beispiel: Goethe's „Verschiedene Empfindungen an einem Platze“), für entschlossenes Vorgehen (Beispiel: Goethe's „Frech und froh“), für neckisches Wesen (Beispiel: Goethe's „Gefunden“), für raschen Wechsel des Gefühls, Entschiedenheit, Energie, wie für leidenschaftsvolles Vorgehen &c. u. s. w. Vom Stoffe: Bei größerer Ausbreitung des Stoffes, bei breiterer Aufrollung der Gedanken, bei Darlegung eines reichen Stoffes, bei dem wir uns unbeschränkt ausgedehnt äußern wollen, sind längere Zeilen am Platze. 2. Stellt man alle lyrischen Gedichtstrophen nebeneinander, wie wir sie in der That von Kürnberger bis in die Neuzeit vereinen konnten, so ergiebt sich als mittlere Ausdehnung des lyrischen Verses (des Liedverses) der Viertakter, und zwar in allen Rhythmen. 3. Der Viertakter ist auch der Vers für die meisten Epen, selbst für unser liedartiges nationales Nibelungenepos, sofern man unter Hinzurechnung der Jncisionspausen den Nibelungenvers als einen doppelten Viertakter (Tetrameter) ansehen könnte. Besonders das romantische Epos hat diesen Vers mit Vorliebe angewandt. B . Strophenlänge . 4. Es ist eine interessante Erscheinung, daß die meisten Dichter selbst bei kurzzeiligen Gedichten kurze Strophen gewählt haben. Viel= leicht ist dies im Schönheitsgefühl begründet, welches eine gewisse Proportionalität der Hauptteile zu den Unterabteilungen verlangt. Leider ist die Strophenlänge bei vielen Dichtern von der zufälligsten Willkür oder dem unwillkürlichsten Zufall abhängig. Man merkt ihrer Planlosigkeit gar bald an, daß sie über die Symmetrie der Strophen und deren architektonischen Aufbau nie nachgedacht haben. C . Normen für die Zeilen- und Strophenlängen . 5. Jm allgemeinen wird wohl hinsichtlich der Ausdehnung von Zeilen und Strophen Folgendes festzusetzen sein: a . Bei größerer Ausbreitung des Stoffs, bei breiterer Aufrollung der Gedanken, wie bei Darlegung eines reichen, ernsten Jnhalts sind längere Zeilen und kürzere Strophen am Platze. b . Die Zeilenzahl der Strophe entspricht den Gruppen, in welche der Stoff eingeteilt wird. c . Wenn die Kurzzeilen ohne rhythmischen Absatz zusammen gelesen werden können, so daß mehrere derselben wie eine einzige Zeile erscheinen, so ist eine längere Ausdehnung der Strophe bei Kurzzeilen wohl gerechtfertigt. d . Jm andern Fall ist die kurze Strophe berechtigt, wenn die Langzeile mehrere Kurzzeilen vereinigt und in 2, 3 oder gar 4 Teile (Zeilen) geschrieben werden könnte, wie dies beispielsweise in Anastasius Grüns Antworten („Dichter, bleib' bei deinen Blumen! Nicht an Thronen frech gemeistert“), oder in Platens „Nächtlich am Busento lispeln“ oder in vielen Ghaselen Rückerts (vgl. z. B. S. 320 in Östliche Rosen, der Ausg. von 1822) &c. der Fall ist. 6. Platen scheint bei seinen doppelzeiligen Strophen von dem Satze ausgegangen zu sein, daß sich das Ganze zum Hauptglied verhalten müsse, wie das Hauptglied zu den Nebengliedern. Dies ist jedenfalls zu beachten, denn es bedeutet die Anwendung des Gesetzes vom goldenen Schnitt und der Proportionalität. (Poetik I , 84.) III . Rhythmus und Reim bei den Strophen. A . Rhythmus . 1. Bezüglich des Rhythmus ist in der Praxis vorerst das eine zu beachten, daß sich für lebhaftes frisches Fortschreiten der Jambus eignet; für eiliges Aufwärtsdrängen und Weiterjagen ─ also für Marschlieder, Spottgedichte ─ der Anapäst; für elegisches Jnsichkehren, für Ernstes, Gemessenes, Beschauliches der Trochäus; für leidenschaftvolles Reflektieren der Daktylus &c. &c. B . Reim . 2. Jm allgemeinen ist der Reim der Strophen vom Charakter eines Gedichts abhängig. Soll dieses der Ausdruck von Kraft und Energie sein, so muß es männliche Reime haben, während ein tieflyrisches Gedicht (wie z. B. das Sonett) weibliche Reime beansprucht. Jn der Oktave mit ihren weichen Vordersätzen und bestimmt abschließenden Nachsätzen können weibliche mit männlichen Reimen abwechseln. Ähnlich ist es bei ähnlichen Strophenformen. (Vgl. 7. Hauptstück.) 3. Strophen lebhaften, beweglichen, übersprudelnden, heiteren Jnhalts sollten den daktylischen (schwebenden) Reim tragen, wobei selbstredend der Reim jeder letzten Verszeile der Strophe männlich sein müßte. 4. Bei Gedichten mit heiterer Grundstimmung sollten insbesondere Reimklänge mit den hellen Vokalen i und e gewählt werden, während in ernsten Gedichten nur männliche oder weibliche Reime mit den dunklen Vokalen a o u am Platze sind. 5. Kunstvollere Reime, Fremdwörter in der Reimstelle &c. können sich anerkannte Dichter gestatten; bei einem Dichterling, der sich durch fabrikmäßige Produktion von Oktaven, Terzinen oder andern nicht einmal verstandenen Formen den Charakter eines Dichters verleihen möchte, nehmen sie sich mindestens sehr sonderbar aus. Diese ungewohnten Reime meistern unsere Sprache und lenken vom Jnhalt ab. Wie oft verstümmelt der komische Reim die Wortform, wie oft bringt er minder bedeutende Anschauungen in die Reimstelle! 6. Um die Strophe im Anfange eines Gedichtes schon durch den Reim als Teilganzes abzuheben, ist es empfehlenswert, in der nächstfolgenden (zweiten) Strophe nicht allzu ähnliche Reimworte anzuwenden. Wenn also z. B. die erste vierzeilige Strophe die Reime Blick ─ Geschick brachte, darf die zweite nicht Glück ─ zurück wählen, weil man dies für ein Reimecho (─ wenn auch für ein unreines ─) ansehen und die beiden Vierzeilen als eine einzige Achtzeile auffassen könnte. IV . Verbindung längerer Strophen und das strophische Charakteristikum. 1. Bei längeren Strophen, welche nicht schon durch den Periodenbau und durch den Gedanken verbunden sind, ist darauf zu achten, daß das Reimband sie zusammenhalte, wie dies beispielsweise bei den Huitains der alten Franzosen ( a b a b b c b c ), bei der Siebenzeile der Engländer ( a b a b b c c ) und bei der Kanzone der Jtaliener der Fall ist, wo die Coda durch den Reim an die Piedi sich anschließt &c. Daher sollte z. B. bei unseren achtzeiligen Strophen wenigstens ein Reim die erste Strophenhälfte mit der zweiten verketten. Schon vier= zeilige Strophen zerfallen häufig in zwei Reimpaare, wenn das erste Reimpaar dem zweiten im Reimgeschlecht entspricht und mit dem Gedanken abschließt. Jch erinnere an die vierzeiligen Strophen des Freiligrathschen Löwenritts, die (mit Ausnahme der 2. und 3.) sämtlich als Reimpaare zu schreiben sind. Das gleiche ist bei mancher neuen Nibelungenstrophe Uhlands der Fall. Bei der alten Nibelungenstrophe verlängerte man in verständnisvoller Weise je eine (die 4te) Verszeile, um der Strophe ein charakteristisch abschließendes Gepräge zu verleihen, während Uhland diese charakteristische Schleppe abgeschnitten hat. 2. Zusammengefügt können zwei Reimpaare zu einer Vierzeile dadurch werden, daß beim folgenden Paar das Reimgeschlecht wechselt. 3. Um Strophenabschluß und strophische Abgrenzung in der Praxis zu markieren, empfiehlt sich die Anwendung irgend eines der nachfolgenden Strophenmerkmale: a . Abwechselung der Reime, der Reimstellung, der Reimverschlingung, der reimenden Vokale &c. b . Refrain. c . Regelmäßige Wiederkehr längerer und kürzerer Zeilen. d . Abwechselung im Tongrade. e . Abwechselung im Rhythmus. f . Anwendung verschiedener Kola. V . Einteilung des Gedicht-Stoffes. 1. Es ist dem Anfänger zu raten, seinen erzählenden Stoff zunächst in kleine Gruppen abzuteilen (abzugrenzen), und dann erst an die Ausarbeitung dieser Teile zu Strophen zu gehen. Der Meister überfliegt sein Material und versifiziert es ohne weiteres; der Lehrling muß sich erst die Wege öffnen, bevor er zu gehen versucht. 2. Auch der Verfasser lyrischer Gedichte thut gut daran, seinem Stoffe eine Gliederung angedeihen zu lassen. Jede dumpfe Empfindung des Lyrikers wird durch Umsetzung in Gedanken zum klaren Gefühl. Diese zu klaren Gefühlen führenden Gedanken sind einer Disponierung fähig. Freilich darf der Gedanke beim lyrischen Gedichte nicht dominieren, er darf nur die Grundlage für die Empfindung sein. 3. Es ist vorteilhaft, unsere sämtlichen Strophenschemata (Poetik I , 634) zu studieren, um entscheiden zu können, welches Strophenmaß für einen bestimmten Stoff zu wählen ist. 4. Die Ausdehnung der Strophe (ob dieselbe nämlich 2=, 3=, 4= und mehrzeilig sei) hängt meist von den Stoffgruppen ab. Wir geben bei den Aufgaben im jambischen Versmaße Gedichte von der Zweizeile bis zur Achtzeile, um den Einblick in den Aufbau zu ermöglichen. Bei den übrigen Versmaßen beschränken wir uns auf die gebräuchlichsten Formen. Jambischer Rhythmus. § 27. Bildung jambischer Reimstrophen. 1. Es ist bei mehrzeiligen Strophen der ästhetischen Wirkung halber zu raten, mit akatalektischen und hyperkatalektischen Reimpaaren zu wechseln, oder mit andern Worten, neben dem männlichen Reim auch den weiblichen anzuwenden. 2. Die Recitation hyperkatalektischer Verse verschmilzt die Schlußsilbe des Verses mit der Anfangssilbe des folgenden Verses gewissermaßen zu einem Anapäst. 3. Jst das Gedicht in seinen Versschlüssen katalektisch, so ist beim Recitieren die Pause hinzuzurechnen. 4. Wichtig ist bei Bildung des Gedichts, daß in die Reimstelle stets ein Begriffswort zu stehen komme, welches mehr oder weniger den Jnhalt der ganzen Zeile in sich vereint, zugleich aber durch die Erinnerung an den Gleichklang der vorhergehenden Zeile auch den sinnlichen Eindruck und Jnhalt des vorhergehenden Verses wiederzuspiegeln vermag. Dieser Reim verleiht unendlichen Klang und Schmuck; er wirkt ästhetisch und verstärkt den versaufbauenden Rhythmus. Aufgabe 1. Reimpaare. Metrum: der jambische Viertakter. Erinnerung. Stoff. 1. Unser Herz ist ein Totenschrein, | in welchen man die gestorbene Liebe legt. ‖ 2. Doch wenn Abends der Mond am Himmel erscheint, | wird die tote Liebe lebendig. ‖ 3. Und sie umschwebt dich im blassen Mondenschein | mit thränenfeuchtem Antlitz. ‖ Lösung. Von Otto von Leixner. Es ist das Herz ein Totenschrein, Man legt gestorbne Lieb' hinein; Doch wenn der Mond am Himmel geht, Die tote Liebe aufersteht, Und schwebt um dich im blassen Licht Mit thränenfeuchtem Angesicht. Aufgabe 2. Dreizeilige Strophen. Jambische Viertakter. Behufs eines strophischen Charakteristikums erhält je die letzte (3.) Verszeile der Strophen katalektischen Abschluß, also weiblichen Reim. Reimschema a a b . Morgenlied. Stoff. 1. Niemand ahnt noch den Sonnenaufgang; die Morgenglocken sind noch nicht erklungen. ‖ 2. Die Stille der Lösung. Von L. Uhland. Noch ahnt man kaum der Sonne Licht, Noch sind die Morgenglocken nicht Jm finstern Thal erklungen. Nacht ruht auf dem Walde; die Vöglein zwitschern leise im Traume. ‖ 3. Nur ich bin hinausgegangen ins Feld und habe ein Lied gedichtet und es laut gesungen. ‖ Wie still des Waldes weiter Raum! Die Vöglein zwitschern nur im Traum, Kein Sang hat sich erschwungen. Jch hab' mich längst ins Feld gemacht Und habe schon dies Lied erdacht Und hab' es laut gesungen. Aufgabe 3. Vierzeilige Strophen mit gekreuzten Reimen a b a b . Jambischer Rhythmus. Abwechselnd hyperkatalektische Viertakter mit akatalektischen. Klar muß es sein. Stoff. 1. Klarheit will ich haben, ich vermag zu entsagen, | wenn es das Schicksal verlangt. | Viel leichter kann ich entsagen, als den Zweifel ertragen, | der meine Kraft aufreibt. ‖ 2. Jch kann mich aus den Schmerzen befreien, | denn die Stürme stählen den Mut. | Nur Furcht und Hoffnung | wirken verzehrend wie die Sonnenglut. ‖ 3. Der Feige und Ohnmächtige | mag dem trügerischen Lichte vertrauen; | ich verlange ganze Schmerzen und volles Glück; | ich kämpfe nicht gegen wesenlose Schatten. ‖ Lösung. Von Eduard Tempeltey. Klar muß es sein! Jch kann entsagen, Wenn mir's das Schicksal zubestimmt, Viel leichter, als den Zweifel tragen, Der Kraft auf Kraft mir stückweis nimmt. Aus Schmerzen kann ich mich erheben, Und gegen Stürme wächst der Mut, Doch zwischen Furcht und Hoffnung schweben, Das läßt verdorr'n in Sonnenglut. Feigherz'ge Ohnmacht mag sich sonnen An flüchtig trügerischem Licht ─ Nein, ganze Schmerzen, ganze Wonnen, Nur gegen Schatten kämpf' ich nicht! Aufgabe 4. Fünfzeilige Strophe. Schema: a b a c b . Metrum: die a = Zeilen seien jambische Viertakter, die b = Zeilen Dreitakter, die c = Zeilen katalektische Viertakter (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑). Das Bettelmädchen. Stoff. 1. Ein Bettelmädchen lauscht am Thor, | zitternd vor Frost. | Ein junger Ritter tritt heraus | und wirft ihr seinen Mantel hin, | fragend, ob sie noch etwas haben wolle. ‖ 2. Das Bettelmädchen antwortet nichts; | es friert sie gar zu sehr. | Mit glühendem Blick kehrt sie dem Ritter den Rücken. | Sie läßt seinen Mantel liegen | und sagt: ich will nichts mehr. ‖ Lösung. Von Friedr. Hebbel. Das Bēttĕlmǟdchĕn lauscht am Thor, Es friert sie gar zu sehr; Der junge Ritter tritt hervor, Er wirft ihr hin den Mantel, Und spricht: was willst du mehr? Das Mädchen sagt kein einzig Wort, Es friert sie gar zu sehr; Dann geht sie stolz und glühend fort, Und läßt den Mantel liegen Und spricht: ich will nichts mehr! Aufgabe 5. Sechszeilige Strophe. Reimschema a b a b c c . Metrum: a = und c = Zeilen akatalektische jambische Viertakter, b = Zeilen katalektische Viertakter (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑). Diese katalektischen Viertakter, sowie das abschließende Reimpaar verleihen der Strophe ihr charakteristisches Gepräge. Dank im Glücke. Stoff. 1. Vergiß es, daß du einst | arm gewesen bist, | daß du mit Thränen des Jammers | täglich deinen Morgensegen gebetet hast. | Vergiß die Armut früherer Zeiten, da du nun glücklich bist, | wie man ja auch am Tage die Träume vergißt. ‖ 2. Der Edelstein denkt nicht mehr | an seine Herkunft, | und die Perle erinnert sich nicht mehr | ihrer Geburtsstätte, | wenn beide | im Lockenhaare funkeln. ‖ 3. Dein Dankgebet sei Freude, | wo du auch weilest; | und wo du ein Bild | von Erdenleid erblicken magst, | da lindre die Not, | und an meiner Brust empfange Dank dafür. ‖ Lösung. Von Hermann Lingg. Vergiß es, daß du einst im Schoß Der Armut bist gelegen, Und da des Jammers Thräne floß Jn deinen Morgensegen, Vergiß es, da du glücklich bist, Wie Träume man am Tag vergißt. Es denkt nicht mehr der Edelstein An seine Bergesklüfte, Die Perle nicht im Sonnenschein An ihre Meeresgrüfte, Sie beide funkeln freudeklar Jn deinem dunkeln Lockenhaar. Die Freude sei dein Dankgebet, Wohin ihr Hauch dich trage; Wo immer dich ein Bild umsteht Von bleicher Erdenklage, Da lindre, segne, streue Lust, Und nimm den Dank an meiner Brust! Aufgabe 6. Siebenzeilige Strophe. Reimschema: a b b a c c a . Metrum: a = Zeilen akatalektische jambische Viertakter, b = und c = Zeilen hyperkatalektische Viertakter. An den Genius. (Während einer Krankheit. ) Stoff. 1. Du Genius der Dichtkunst, | der du mein Herz mit heiligem Feuer entflammtest, | erhalte mein Leben, | bis ich ein deiner würdiges Werk schuf. | Dann mag mein Staub | zu Staub werden, | einem Tropfen gleich, der zum Meere zurückkehrt. ‖ 2. Du hast in meine Brust | die Sehnsucht gelegt, Gott und die Welt zu erkennen, | und in Liedern Lösung. Von Em. Geibel. Du Genius, der von ew'gem Herd Mein Wesen all' gesetzt in Flammen, O halte diesen Leib zusammen, Bis ich ein Werk schuf, deiner wert. Dann mag in Erde, Luft und Wellen Der Staub dem Staube sich gesellen, Ein Tropfen, der zum Meere kehrt. Du legtest tief in diese Brust Die Sehnsucht, Gott und Welt zu schauen, zu singen, | was ich geschaut; | o laß mich nicht sterben, | bis ich mit reinen Sinnen | die Lust des erfüllten Wunsches genossen. ‖ 3. Jn meinem Herzen schläft noch so viel. | Wenn ich einer der Auserwählten bin, | so erbarme dich des noch nicht Gewordenen, | und schenke mir Leben, bis ich das Ziel erreicht habe, | damit ich Ruhe im Grabe finde | und mich tröstend beglücke der Kranz, | der sich dereinst um mein Saitenspiel winden wird. ‖ Dem Lied es selig zu vertrauen Mit Wort und Klang was mir bewußt; O laß mich fahren nicht von hinnen, Bis einmal ich mit reinen Sinnen Gekostet der Erfüllung Lust. Mir schläft im Herzen noch so viel; O bin ich Einer der Erkornen: Erbarme dich des Ungebornen, Gieb Leben, Leben bis ans Ziel; Daß ich dort unten Ruhe finde, Und Trostes voll der Kranz sich winde Um mein verstummend Saitenspiel. Aufgabe 7. Achtzeilige jambische Strophen; hyperkatalektische Dreitakter mit gleitendem Reim in den ungeraden Versen. Vers 6 und 8 seien akatalektische Dreitakter. Der Versrhythmus könnte in den ungeraden Zeilen der letzten thetischen Silbe durch Hinzunahme einer rhythmischen Pause das Übergewicht von einem Takte verleihen. Jhre Stimme. Stoff. Ach jene lieblichen, | wie vor der eigenen Schönheit | ins Stocken geratenden, | innigen Klänge; | sie locken mir, gleich verschwebenden | Akkorden der Lust, | mit erbebenden Klängen | das Herz aus der Brust. | Und ach, schon hat die Zauberflut | mein lauschendes Herz | mit Lispelwogen | umfangen; | süß umronnen | folgt es diesem Tönebann | und fällt in das leidvolle Liebesnetz, | das aus Tönen gesponnen ist. | O, in Perlen rinnende Flut, | in welcher ich lauschend schwimme, | o du das Herz verlockend=erobernde, | bethörende Stimme! | Selbst wenn das Zauberreich der Klänge | zum Chore sich vereinte, | es würde doch nicht so verlockend | an mein Ohr sich drängen. Lösung. Von R. Hamerling. Ăch jēnĕ līeblĭch lōckĕndĕn Wie vor der eignen Schöne Verschämten, leise stockenden, Herzinnig süßen Töne; Sie locken, gleich verschwebenden Akkorden sel'ger Lust, Mit Klängen, süß erbebenden, Das Herz mir aus der Brust! Und ach, schon hat das lauschende Mit ihren Lispelwogen Die Zauberflut, die rauschende, Befangen und umzogen; So folgt das süß umronnene Dem Bann der Töne stets, Und fällt ins klanggesponnene Leidvolle Liebesnetz! O Flut, in Perlen rinnende, Darin ich lauschend schwimme, Verlockend herzgewinnende, Bethörend süße Stimme! Vereinte selbst zum Chore sich Des Klanges Zauberreich ─ Nicht drängt' es mir zum Ohre sich So lockend und so weich! § 28. Bildung gereimter Nibelungenstrophen (Langzeilen). 1. Die Nibelungenverse können reimlos (vgl. § 5) oder gereimt sein. Die gereimten treten als Zweizeilen (Nibelungen-Distichen, Reimpaare), wie insbesondere als Vierzeilen (die sog. neuen Nibelungenstrophen) auf. 2. Die neue Nibelungenstrophe umfaßt zwei männliche Reimpaare. 3. Von einem strophischen Charakteristikum könnte bei ihr höchstens insofern die Rede sein, als mit dem Ende der 4. Zeile die syntaktische Pause zusammenfällt. 4. Viele Dichter schließen auch den Satz schon am Ende des 2. Nibelungenverses, weshalb ihre vierzeiligen sog. neuen Nibelungenstrophen nur in der Schreibung als strophische Teilganze erscheinen. Bei der Recitation fallen sie in 2 zweizeilige Strophen auseinander. 5. Als ein Schönheitsmittel empfiehlt sich bei den Nibelungenversen die Einfügung von Anapästen. 6. Wegen der bedeutenden Zeilenlänge der Nibelungenverse ist in der Nibelungenstrophe die Einfügung von Cäsurreimen von schöner Wirkung. Anastasius Grün versucht diese Form in der ersten Strophe von „Des Herrschers Wiege“, während er den Cäsurreim in den ferneren Strophen wegläßt. Es empfiehlt sich für diese Form gebrochene Schreibung. (Vgl. den folgenden Paragraphen.) Aufgabe 1. Zweizeilige Strophen ohne Anapäst. Der Christbaum. Stoff. 1. Du bist wieder gekommen, schöne Weihnachtszeit, | in der mir treue Elternliebe den Christbaum weihte! ‖ 2. Heute heult kalter Sturm übers Meer, | nur im Geiste sehe ich das Weihnachtsfest. ‖ 3. Erinnerung malet mir, was ich entbehre, | und so ist mir im Meere das Weihnachtsfest des Erinnerns beschert. ‖ 4. Als Kind bot mir dieser Abend so viel des Schönen, | die Freude rötete mir stets die Wangen. ‖ 5. Heute peitscht mir der eisige Wind die Flut ins Angesicht, | und färbt meine Wangen mit Purpur wie vordem. ‖ 6. Einst winkte mir der gabengeschmückte Tannenbaum, | nach dessen Zweigen ich sehnsüchtig blickte. ‖ 7. Heute sind 3 Masten meine Weihnachtsbäume, | verziert mit des Eises Silberstangen. ‖ 8. Einst strahlten die Lichtlein durchs Grün des Baumes, | heute schimmern viele Sterne im Himmelsraum. ‖ 9. Starr und unverwandt blickt mein Auge zur Höhe, | wie es dereinst den Christbaum angeschaut. ‖ 10. So habe ich alles wieder, was ich schmerzlich entbehrt, | so ist mir auch im Meere ein Weihnachtsbaum geworden. ‖ Lösung. Von Heinrich von Littrow. Bist wieder angekommen, du holde Weihnachtszeit, Jn der mir Elternliebe den Christbaum sonst geweiht. Heut' bist du kalt und frostig im weiten Sturmesmeer, Nur die Erinn'rung zaubert dich geistig zu mir her! Sie malet freundlich wieder, was ich mit Schmerz entbehrt, So ist mir auch im Meere ein Weihnachtsbaum beschert. Einst war es dieser Abend, der viel des Schönen bot, Des Herzens Freude malte mir beide Backen rot. Heut' peitscht der Nord, der eis'ge, ins Angesicht die Flut, Und färbet meine Wangen wie einst mit Purpurglut. Einst winkte mir die Tanne, mit Gaben reich geschmückt, Nach deren dunklen Zweigen ich sehnsuchtsvoll geblickt; Heut' stehen nur drei Masten als Weihnachtsbäume da, Und Silberstangen Eises verzieren jede Rah'. Einst strahlten viele Lichter durchs dunkle Grün am Baum, Heut' schimmern tausend Sterne im weiten Himmelsraum. Mein Auge schaut zur Höhe so starr und unverrückt, Wie es in meiner Jugend den Christbaum angeblickt. So hab' ich alles wieder, was ich mit Schmerz entbehrt, So ist mir auch im Meere ein Weihnachtsbaum beschert. Aufgabe 2. Vierzeilige neue Nibelungenstrophe ohne Mittelreim und ohne Anapäst. Graf Eberhard der Rauschebart. Stoff. 1. Jst denn im Schwabenlande jeglicher Sang verschollen, | wo doch dereinst die Ritterharfe vom Staufen niederklang? | Wenn aber der Sang nicht verschollen ist, warum vergißt man, | die Waffenthaten der tapfern Väter zu rühmen? ‖ 2. Man bildet leichte Liedchen und schreibt Sinngedichte, | man höhnt die holden Frauen, die doch sonst den Gegenstand des Liedes bildeten; | die Heldenstoffe, die längst ihres Sängers warten, | läßt man zur Seite liegen. ‖ 3. So steige denn aus deinem Grabe, | du alter Rauschebart, mit deinem Heldensohne hervor. | Noch in deinen alten Tagen schlugst du dich mannhaft, | durchbrich mit hellem Schwerterklang auch unsere Zeiten. ‖ Lösung. Von L. Uhland. Jst denn im Schwabenlande verschollen aller Sang, ─ Wo einst so hell vom Staufen die Ritterharfe klang? Und wenn er nicht verschollen, warum vergißt er ganz Der tapfern Väter Thaten, der alten Waffen Glanz? Man lispelt leichte Liedchen, man spitzt manch Sinngedicht, Man höhnt die holden Frauen, des alten Liedes Licht; Wo rüstig Heldenleben längst auf Beschwörung lauscht, Da trippelt man vorüber und schauert, wenn es rauscht. Brich denn aus deinem Sarge, steig aus dem düstern Chor Mit deinem Heldensohne, du Rauschebart, hervor! Du schlugst dich unverwüstlich noch greise Jahr' entlang: Brich auch durch uns're Zeiten mit hellem Schwerterklang! Aufgabe 3. Vierzeilige neue Nibelungenstrophe mit Cäsurreim und Anapästen. Den Sorglosen. Stoff. 1. Erhebt euch vom Mahle. Der Wein ist blutig rot, | aus jedem Pokale und aus jeder Schüssel grinst der Tod entgegen. | An einem Härchen sehe ich über euern Häuptern das Schwert hängen; | ihr aber bleibt sorglos sitzen. ‖ 2. Jst euch die schottische Sitte nicht bekannt, | wenn ein blutiger Stierkopf auf den Tisch gestellt wurde? | Das schwarze Büffelhaupt auf blutiger Schüssel | war die Aufforderung zur Rache. ‖ 3. Von den Sitzen sprangen alle empor, | das Blut spritzte, die Rache begann; | sie schlug die Faust, die eben noch nach dem Becher reichte, vom Stumpfe, | und ehe die Lippe den Becher berühren konnte, flog das Haupt vom Rumpfe. ‖ 4. Erhebt euch vom Mahle, trotzt dem Tode. | Seht ihr nicht den Stierkopf, die Aufforderung zur Rache? | Lange gährt es schon; rührt euch, | damit nicht euer Kopf verloren sei, bevor die Lippe den Becher berühren kann. ‖ Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz. Auf, auf vom üppigen Mahle! der Wein ist blutig rot, Es grinst aus jedem Pokale, aus jeder Schüssel der Tod; Ob eurem Haupte blitzen seh' ich am Haar das Schwert. Jhr bleibt behaglich sitzen, bis es herniederfährt. Die alte schottische Sitte, ist sie euch nicht bekannt, Wenn in des Tisches Mitte der blutige Stierkopf stand? Es stand in roter Lache des schwarzen Büffels Haupt, Das war der Ruf der Rache, da kam der Tod geschnaubt. Da sprangen von den Sitzen der Schloßherr und sein Clan, Das Blut begann zu spritzen, die Rache ward gethan; Sie schnitt die Faust vom Stumpfe, die eben den Becher nahm, Sie hieb den Kopf vom Rumpfe, eh' die Lippe zum Rande kam. Auf, auf vom vollen Becher, dem Tode sei getrotzt! Schaut, wie der stumme Rächer, der gräßliche Stierkopf glotzt, Schon lange hat's gegohren, und wenn ihr euch nicht rührt, So ist der Kopf verloren, eh' der Kelch zur Lippe geführt. § 29. Bildung von Strophen aus gebrochen geschriebenen neuen Nibelungenversen. 1. Alle Nibelungenverse mit Cäsurreim eignen sich für gebrochene Schreibung, ja, sie drängen zu ihr hin. 2. Schreibt man Nibelungenreimpaare ohne Mittelreim gebrochen, so entstehen Strophen mit unterbrochenen Reimen ( x a x a &c.). Es reimt in denselben nur die 2. mit der 4. Zeile, nicht aber die 1. mit der 3. 3. Wird die vierzeilige Nibelungenstrophe gebrochen geschrieben, so ergeben sich selbstredend achtzeilige Strophen, die ebenso wenig vierzeilig geschrieben werden dürfen, als die vierzeiligen Nibelungenstrophen zweizeilig. 4. Auch bei den gebrochen geschriebenen Nibelungenversen ist die Einfügung von Anapästen ein Schönheitsmittel. 5. Die gebrochen geschriebenen Nibelungenverse ohne Mittelreim sind leicht zu bilden, da die Reime nur sehr spärlich folgen. 6. Dies gilt auch für andere abwechselnd reimlose und gereimte Verse, bei welchen mit Rücksicht auf die Architektonik des Reims die Zeilenlänge nie mehr als höchstens 5 Takte betragen sollte, da in diesem Fall die Entfernung des Reimechos ja immer 10 Takte umfaßt. Aufgabe 1. Halbgereimte neue Nibelungenverse mit Anapästen. Das Blatt im Buche. Stoff. 1. Meine alte Muhme | besitzt ein altes Büchlein, | in welchem | ein altes dürres Blatt liegt. ‖ 2. So alt und dürr sind wohl auch die Hände geworden, | die ihr das Blatt in der Jugend gepflückt haben. | Was mag nur die Alte denken? | Sie weint, so oft sie das Blatt ansieht. ‖ Lösung. Von Anast. Grün. Jch hab' eine alte Muhme, Die ein altes Büchlein hat, Es liegt in dem alten Buche Ein altes dürres Blatt. So dürr sind wohl auch die Hände, Die einst im Lenz ihr's gepflückt. Was mag doch die Alte haben? Sie weint, so oft sie's erblickt. Aufgabe 2. Halbgereimte neue Nibelungenverse mit Anapästen, bei welchen (nach Analogie der verlängerten 4. Langzeile in der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe) ein strophisches Charakteristikum durch Verlängerung der 4. Halbzeile um 1 Takt geschaffen wurde. Stein- und Holz-Reden. Stoff. 1. Auf der Lüneburger Heide | steht ein alter Stein, | daneben eine alte, | wohl tausendjährige Eiche. ‖ 2. Es ziehen im Frühling | fröhliche Gesellen vorbei; | sie singen von deutscher Freiheit, | aber ihr Sang verhallt in der Ebene. ‖ 3. Da spricht der Stein zur Eiche, | wie wenn er vom Traum erwachte: | „Ging nicht die Freiheit vorüber? | Erwache, deutscher Baum!“ ‖ 4. Da fuhr ein Brausen | durch die Krone des Baumes, | und seine alten Äste | trieben tausend Knospen. ‖ 5. Die Sänger zogen weit fort durch die Heide; | die Eiche hat ihnen von oben | traurig nachgeschaut. ‖ 6. Dann dehnte sie sich in der Wurzel, | um den Sängern nachzusehen. | Des Liedes Nachhall klang | durch ihr Blätterdach. ‖ 7. Jm Herbste | hörte sie den letzten Hall verklingen, | dann schüttelte sie sich zornig, | daß das letzte Laub von den Ästen fiel. ‖ 8. Und zum alten Steine sprach sie: | „Jch will nun wieder schlafen. | Du, wunderlicher Träumer, | sollst mich nicht mehr stören.“ ‖ Lösung. Von Gottfried Keller. Auf Lüneburger Heide Da steht der alte Stein, Daneben die alte Eiche, Sie mag wohl tausendjährig sein. Es ziehn vorbei Gesellen Jm Lenz mit frischem Sang; Sie singen von deutscher Freiheit, Auf weitem Plan verhallt der Klang. Da spricht der Stein zur Eiche, Als wacht' er auf vom Traum: „Ging nicht vorbei die Freiheit? Wach' auf, wach' auf, du deutscher Baum!“ Und durch des Baumes Krone Da fährt ein Saus und Braus, Die moosigen Äste schlagen Jn tausend jungen Augen aus! Die Sänger sind gezogen Fernhin durchs Heidekraut: Die Eich' hat ihnen von oben Gar lang und traurig nachgeschaut. Sie hub sich aus der Wurzel Den fernen Sängern nach: Es klang des Liedes Nachhall Wohl durch ihr hohes Blätterdach. Den letzten Hall verklingen Hat sie im Herbst gehört: Da hat sie, schüttelnd, die Äste Vom letzten Laub im Zorn geleert. „Nun will ich wieder schlafen,“ Spricht sie zum alten Stein; „Du wunderlicher Träumer, Sollst mir nun einmal stille sein!“ Aufgabe 3. Ganz gereimte neue Nibelungenverse mit freier Anwendung des Anapästs. Stoff. 1. Dein blaues Auge ist ein Spiegel von bösem Schimmer, | in welchem ich mich nimmer müde schaue. ‖ 2. Doch bei allem Schauen ersehe ich wenig Gutes, | niemals spiegelt sich mein eigenes Antlitz wieder. ‖ 3. Zwei fremde Augen sind es, welche mich spottend anblicken; | es malt sich in deinem Auge, du schönes Kind, ein fremder Mann. ‖ Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz. Ein Spiegel von bösem Schimmer, Das ist dein Auge blau, Darin ich nimmer und nimmer Und nimmer mich müde schau'. Doch ob ich schaue und schaue, Viel Gutes erseh' ich mir nicht, Nie spiegelt sich unter der Braue Mein eigenes Angesicht. Zwei fremde Augen sind es, Die sehen mich spottend an, Jm Auge des schönen Kindes, Da malt sich ein fremder Mann. § 30. Bildung mittelhochdeutscher Nibelungenstrophen. 1. Bei Bildung mittelhochdeutscher Nibelungenverse sind vor allem die sechs Hebungen jeder Verszeile zu beachten, die Senkungen sind willkürlich. 2. Wesentlich ist das Vorhandensein der weiblichen Cäsur nach dem 3. Takte. Selbstredend ist auch die gleitende Cäsur gestattet. 3. Bedeutungsvoll bleibt das strophische Charakteristikum in der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe. 4. Man erhält es durch Verlängerung einer Verszeile (in der Regel der vierten) um eine Hebung, oder auch durch Einfügung von Anapästen oder Spondeen ins Strophenende. 5. Zur Verschönerung trägt die Anwendung des Cäsurreimes bei. A . Langzeilen . Aufgabe. Ohne Cäsurreim. Stoff. König Richard Löwenherz rief: Laßt meinen Sänger Blondel | herzukommen, damit er meinen Schmerz mit Tönen stille. | Jch war oft wunder am Herzen, als jetzt am Leibe; | aber immer heilte sein Gesang alle meine Schmerzen. ‖ u. s. w. Lösung. Von Fr. Rückert. Laßt Blondel, meinen Sänger, rief Richard Löwenherz, Herzu, daß er mit Tönen mir nehme meinen Schmerz. Jch war oft ärger am Herzen, als jetzt am Leibe wund, Da schuf von allen Schmerzen mich immer sein Gesang gesund. u. s. w. B . Gebrochene mittelhochdeutsche Nibelungen-Verszeilen . Aufgabe 1. a . Ohne Cäsurreim. Zwei Särge. Stoff. 1. Jm Dome stehen einsam | zwei Särge, | in dem einen ruht König Ottmar, | im andern der Sänger. ‖ 2. Der König führte einst mit Macht | sein Scepter, | drum hat er noch das Schwert in der Rechten | und die Krone auf dem Haupte. ‖ 3. Neben dem stolzen König | liegt der Sänger; | ihm hat man die Harfe | in die Hände gelegt. ‖ 4. Die Burgen zerfallen, | und der Schlachtruf erschallt, | aber das Schwert in des Königs Hand | bleibt unbeweglich. ‖ 5. Doch wenn das Land in Blüte steht | und die milden Lüfte erwachen, | da klingt noch die Harfe des Sängers fort | in ewigem Gesang. ‖ Lösung. Von Justinus Kerner. Zwei Särge einsam stehen Jn des alten Domes Hut, König Ottmar liegt in dem einen, Jn dem andern der Sänger ruht. Der König saß einst mächtig Hoch auf der Väter Thron, Jhm liegt das Schwert in der Rechten Und auf dem Haupte die Kron'. Doch neben dem stolzen König Da liegt der Sänger traut, Man noch in seinen Händen Die fromme Harfe schaut. Die Burgen rings zerfallen, Schlachtruf tönt durch das Land, Das Schwert, das regt sich nimmer Da in des Königs Hand. Blüten und milde Lüfte Wehen das Thal entlang ─ Des Sängers Harfe tönet Jn ewigem Gesang. Aufgabe 2. b . Mit Cäsurreim. Hoffnung. Stoff. 1. O milde Blume Hoffnung, | ich begieße dich jeden Tag; | du hast dich dem weinenden Herzen | zum Eigentum ergeben. ‖ 2. Deine Blüten und Blätter | streben dem Himmel entgegen. | Doch bedarfst du nicht das Sonnenlicht, | wohl aber ein menschliches Herz. ‖ 3. Jhr schönen Gartenblumen, | was soll mir euer Schein? | Jch will nur die einzige Hoffnungsblume | pflegen und warten. ‖ Lösung. Von Hermann Kletke. O Hoffnung, milde Blume, Täglich begieß' ich dich; Du gabst zum Eigentume Dem weinenden Herzen dich. Blüten und Blätter, immer Streben sie himmelwärts; Nicht brauchst du der Sonne Schimmer, Du brauchst ein menschliches Herz! Jhr prangenden Blumen im Garten, Was hilft mir der bunte Schein? Pflegen will ich und warten Der lieben Blume allein. § 31. Bildung von Alexandrinerstrophen. 1. Die einfachste Form einer Alexandrinerstrophe ist die Verbindung von zwei Alexandrinerversen (vgl. § 6) zu einem Distichon durch den Reim. 2. Die übrigen Formen entstehen aus der Verbindung von mehreren Alexandrinerversen, von denen ─ zur Erlangung eines strophischen Charakteristikums ─ in der Regel eine Zeile verkürzt wird (zuweilen auch deren 2). 3. Man unterscheidet neunzeilige (Geibelsche Form), sechszeilige (Freiligrathsche Form), seltener vierzeilige und fünfzeilige Alexandrinerstrophen. 4. Jm Französischen finden wir mehrfach vierzeilige Alexandrinerstrophen mit gekreuztem Reim ( a b a b ), sowie (aus 4 + 9 zusammengesetzte) dreizehnzeilige, bei denen der Schlußvers ein jambischer Viertakter ist. (Vgl. z. B. Lamartine's méditations poétiques .) 5. Jm Deutschen hat man sich (außer in Übersetzungen) zu alexandrinischen Vierzeilen nicht entschließen mögen, wahrscheinlich weil gekreuzte Reime (wegen der beträchtlichen Zeilenlänge des Alexandrinerverses und der ständigen Diärese im 3. Takte) in architektonischer Beziehung mißlich erscheinen mochten. Rückert hat mehrfach 2 Alexandriner= Reimpaare ( a a b b ) verbunden, wobei er meistenteils im Reimgeschlecht wechselte. 6. Eine freundlich gebaute, uralte alexandrinische Vierzeilenform mit gekreuzten Reimen danken wir v. Löwenstern († 1648). Die erste Alexandrinerzeile dieser Form hat akatalektischen (männlichen), die 2. und 4. hyperkatalektischen (weiblichen) Schluß; die 3. Zeile ist nur ein halber Alexandriner, dessen mit der ersten Zeile korrespondierender Reim um einen halben Vers näher gerückt wird. Das Ohr erwartet infolge des alexandrinischen Rhythmus das Reimecho schon in der 2. Zeile und wird nun durch die vertagende weibliche Endung derselben auf den sogleich folgenden Reim der 3. Zeile hingelenkt, wie andererseits die Endung der 2. Zeile ihr Echo dadurch um ½ Vers früher bekommt. Die Reime klingen sehr freundlich zusammen. Beispiel: Wenn ich in Angst und Not mein Au ge heb' empor Zu dei nen Ber gen, Herr, mit Seuf zen und mit Fle hen, So reichst du mir dein Ohr, Daß ich nicht darf betrübt von dei nem An tlitz ge hen. 7. Bei der sechszeiligen Alexandrinerstrophe reimen sich folgende Zeilen: 1─2, 4─5, 3─6 (also Schema: a a b c c b ). Jn der Regel hat Vers 1 + 2, sowie 4 + 5 weiblichen, 3 + 6 dagegen männlichen Schluß; doch kann männliches und weibliches Geschlecht auch in umgekehrter Folge wechseln. 8. Meist verkürzt man, um ein strophisches Charakteristikum zu gewinnen, nur eine Zeile, in der Regel die letzte. Zuweilen ist noch eine mittlere Zeile verkürzt. 9. Die verkürzte Zeile ist ein jambischer Viertakter. Verkürzung auf Dreitakter ist selten; Freiligrath bietet eine solche, aber sie entbehrt des Wohllauts der übrigen Formen. Man könnte sich übrigens recht gut eine Verkürzung auf Zweitakter denken. 10. Die alexandrinische Fünfzeile hat zwei Reime; es reimen sich die Verse 1 + 3 + 4 einer=, und 2 + 5 andererseits. Das Schema ist also: a b a a b oder a a b a b . Die b =Reime sind es, welche vom Dichter nach Belieben verkürzt werden können. Aufgabe 1. Alexandriner-Distichon. Nachstehende Materien sollen zu Gnomen (oder zu Epigrammen) verwertet werden. (Zur Vergleichung stellen wir die Lösungen Schefflers [Angelus Silesius] und Rückerts einander gegenüber. ) Die Überschriften mag der Lernende nach Maßgabe des Stoffes erfinden. Stoff. a . Erst wenn dein Herz weich wie Wachs geworden, | drückt der heilige Geist das Bildnis Jesu hinein. ‖ b . Wer ein Ziel erreichen will, darf sich nicht zersplittern. | Wie ein Schütze muß er sein, der ein Auge schließt, um mit dem anderen um so sicherer zu zielen. ‖ Lösungen. Zu a . Dein Herz. Mensch, wenn dein Herz vor Gott wie Wachs ist weich und rein, So drückt der heil'ge Geist das Bildnis Jesu drein. (A. Silesius.) Der Siegelring wird nicht in harten Stein sich drücken; Herz, werde weiches Wachs, soll Gottes Bild dich schmücken. (Fr. Rückert.) Zu b . Das Ziel. Die Seele, welche Gott das Herze treffen will, Seh' nur mit einem Aug', dem rechten, auf das Ziel. (A. Silesius.) Wenn eines wirken soll, so laß das andre ruhn; Ein Schütz, der treffen will, muß zu ein Auge thun. (Fr. Rückert.) Aufgabe 2. Freiligraths zweite Alexandrinerstrophe. Nachstehender Stoff soll Strophen ergeben, welche aus je fünf Alexandrinerversen und einem abschließenden jambischen Viertakter bestehen. Afrikanische Huldigung. Stoff. 1. Jch werfe mich vor deinem Throne nieder, o König; | ich führe dieses Heer von hunderttausend Hufen, | diesen Raub und diesen Sklaventroß | und diese Schar von Ringern und Schützen | zurück vor dein Schloß. ‖ 2. Die Schlacht ist gewonnen; wir haben gesiegt; | der König der Feinde fiel, so gut er auch fechten mochte. | Jch schlug ihm mit meinem scharfen Säbel den Kopf ab. | Sein Rumpf liegt in der Wüste. | Erlaube, daß ich dir sein Haupt | auf dieser Schale verehre. ‖ 3. Es trieft weder von Öl, noch von Narden und Salben; | es trieft von Blut. | Doch dir soll das Dschaggasblut zum Salböl werden. | Jch salbe dich zum Könige über das von mir geraubte Reich. | Die volle Schale ergieße ich | über deine Krone. ‖ 4. Und jene goldne Krone, | welche bisher dieses Haupt geschmückt, ziere von nun an das deinige. | Heil, daß ich sie auf deinem Haupte prangen sehe. | Führt die Gefangenen vor! schwingt eure wuchtigen Keulen, | und der Trompetenschall und das Heulen der Erschlagenen | übertöne der Jubelruf: Heil dir, Fürst von Dahomeh! ‖ Lösung. Von F. Freiligrath. Jch lege meine Stirn auf deines Thrones Stufen; Jch führe dieses Heer von hunderttausend Hufen, Jch führe diesen Raub und diesen Sklaventroß, Jch führe diese Schar von Ringern und von Schützen, Die mit dem Dolch gewandt den Bauch der Feinde schlitzen, Zurück, o König, vor dein Schloß! Gewonnen ist die Schlacht! Wir waren gute Schlächter! Der Feinde König fiel, ein schlanker, wilder Fechter! Sein langer Hals war nackt, mein Säbel schnell und scharf. Jm Sande liegt sein Rumpf, der Tigerin zum Mahle. Erlaube, daß ich dir auf dieser goldnen Schale Sein triefend Haupt verehren darf. Es trieft von Öle nicht, von Narden und von Salben: Es trieft von rotem Blut, Gebieter! deinethalben! Doch dir zum Salböl wird dies dunkle Dschaggasblut. Jch salbe dich zum Herrn des Reiches, das ich raubte; Die volle Schale leer' ich über deinem Haupte Auf deiner goldnen Krone Glut. Und jene, die gezackt und blank mit gelbem Scheine Dies tote Haupt umblitzt, jetzt schmücke sie das deine! Heil, daß ich ihren Glanz auf deiner Stirne seh'! Führt die Gefangnen vor! schwingt die gewicht'gen Keulen, Und durch Trompetenschall und der Erschlagnen Heulen Jauchzt: Heil dir, Fürst von Dahomeh! Trochäischer Rhythmus. § 32. Bildung trochäischer Reimstrophen. 1. Man läßt sich durch den trochäischen Grundcharakter unserer Sprache häufig verleiten, nur trochäische Satztakte aneinander zu reihen, wodurch ein Überschuß an Diäresen entsteht und das Gedicht monotonen, leierartigen Charakter erhält. Es ist daher bei Bildung trochäischer Verse und Strophen erstes Erfordernis, Satztakt und Verstakt nicht allzuoft zusammenfallen zu lassen und die durch Übergreifung der Satztakte entstehende schmückende Cäsur nicht zu vernachlässigen. 2. Es ist von allzu häufiger Verwendung des trochäischen Maßes abzuraten (vgl. I , 262). Am meisten eignen sich zur dichterischen Verwertung der trochäische Viertakter, der Fünftakter und der Achttakter. 3. Bei den Kompositionen im trochäischen Viertakter empfiehlt sich eine schmückende Diärese am Ende des 2. Takts. 4. Um beim trochäischen Fünftakter die Verstakte zu überbrücken, kann hie und da ein amphibrachisches Wort (⏑ – ⏑), also ein Wort mit Vorsilbe eingefügt werden (z. B. Gerede, Vertrauen, Beschwerde). 5. Beim trochäischen Achttakter ist darauf zu halten, daß die erste Vershälfte nicht katalektisch abschließt, weil dadurch eine Pause entstehen würde, welche gleich einer Jncision die Verszeile in 2 Teile trennen müßte, die ganz gut in 2 Zeilen geschrieben werden könnten. 6. Gesetz ist es, daß im trochäischen Achttakter am Ende des 4. Taktes eine stehende Diärese sich befinde, die besonders Marbach in „Äschylos' Tragödien“ (1883 S. 73) treffend beachtet. Aufgabe 1. Achtzeilige Strophen. Reimschema: a a b b c d c d . Trochäische Viertakter. Die a=, b = und d = Zeilen sollen katalektisch (– ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | –) sein, die c = Zeilen dagegen akatalektisch (– ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑). Wiegenlied. Stoff. 1. Schlafe ein, mein Kindelein | im Frieden der Liebe! | Ruhe sanft, | das Auge deiner Mutter hält Wache. | Jch streue Blumen auf dich | und auf dein Lager. | Wirst du dereinst zum Lohne | Blumen auf das Grab deiner Mutter pflanzen? ‖ 2. Schlafe beim Dämmerlicht des Abends, | schlafe fest, Lösung. Von Herzog Ernst II . zu Sachsen-Koburg. Schlaf, o schlaf, mein Kindelein, Jn der Liebe Frieden ein! Ruhe sanft die ganze Nacht, Deiner Mutter Auge wacht. Blumen streu' ich auf dich nieder, Auf dein Lager sanft herab. Streut mein Kindlein einstens wieder Blumen auf der Mutter Grab? mein Kind! | Jm Traume mögen dir Engel erscheinen, | du selbst bist ja ein Engelein. | Wenn am Morgen Thränen quellen, | so schlage den Blick auf, | damit deine Äuglein | das stille Mutterglück wieder schauen. ‖ 3. Und wenn ich einstens zur Ruhe gehe, | so schließe du mir die Augen zu. | Dann, gute Nacht, mein geliebtes Kind. | Gott im Himmel wird über dich wachen. | Bleib ihm lebenslang getreu, | wenn auch dein Lebensschifflein vom Sturm bedroht sein wird. | Nimmt dich dann dein Schöpfer von dieser Welt, | so werde ich dich dort wiedersehen. ‖ Bei des Abends Dämmerlicht Schlafe, Kindchen, rühr' dich nicht; Träume von den Engeln fein, Bist ja selbst ein Engel klein. Wenn am Morgen Thränen tauen, Schlage auf den süßen Blick, Daß die Äuglein wieder schauen Deiner Mutter stilles Glück. Wenn ich einstens geh' zur Ruh', Schließe mir die Augen zu. Dann, mein Kindchen, gute Nacht! Der dort oben für dich wacht. Folg' ihm treu durchs ganze Leben, Ob auch Stürme dich umwehn. Nimmt er einst, was er gegeben, Werd' ich dort dich wiedersehn. Aufgabe 2. Sechszeilige Strophen. Reimschema: a a b c c b . Gereimte trochäische Viertakter. Die a = und c = Zeilen sind akatalektisch, die b = Zeilen katalektisch. Jn zarter Frauenhand. Stoff. 1. Seine heimatlosen Lieder | legt der wandernde Dichter | gern in die Hand der Frauen. | Muß er auch ruhelos kämpfen, | so weiß er doch gut aufgehoben, | was sein Herz durchzog. ‖ 2. Wenn zarte Frauenhände | sein Buch durchblättern, | knüpfen sie mit ihm ein luftiges Band, | und er hat das Gefühl, | als ob zarte Frauenhände | segnend auf sein müdes Haupt sich legten. ‖ Lösung. Von Albert Träger. Seine heimatlosen Lieder Legt der flücht'ge Dichter nieder Gern in zarte Frauenhand; Bleibt auch er dem Kampf verkettet, Ruht doch sanft und weich gebettet, Was sein tiefstes Herz empfand. Wenn durch seines Buches Seiten Schlanke weiße Finger gleiten, Knüpfen sie ein luftig Band; Und er fühlt mit Trost und Segen Auf sein müdes Haupt sich legen Eine zarte Frauenhand. Aufgabe 3. Vierzeilige Strophen. Trochäische Fünftakter. Männliche und weibliche Reimpaare. Wandel der Sehnsucht. Stoff. 1. Die Fahrt schien mir allzu lang; | ich sehnte mich | aus der weiten Meereswüste | nach der lieben Heimat zurück. ‖ 2. Endlich erschien Lösung. Von N. Lenau. Wie doch dünkte mir die Fahrt so lang, O wie sehnt' ich mich zurück so bang. Aus der weiten, fremden Meereswüste Nach der lieben, fernen Heimatküste. das lang ersehnte Land. | Voll Jubel eilte ich an den Strand, | wo mich die Vertrauten meiner Jugend grüßten: | die heimatlichen Bäume. ‖ 3. Heimatlich verwandt | erschien mir der Vögel Gesang; | o ich hätte vor Freuden | jeden Stein umarmen mögen. ‖ 4. Da fand ich dich, | und alle meine Freuden sanken dir zu Füßen; | in meinem Herzen | blieb nur hoffnungslose Liebe. ‖ 5. Nun sehne ich mich wieder hinaus | in das dumpfe Getöse der Fluten. | Auf den wilden Meeren möchte ich | nur mit deinem Bilde mich unterhalten. ‖ Endlich winkte das ersehnte Land, Jubelnd sprang ich an den teuern Strand, Und als wiedergrüne Jugendträume Grüßten mich die heimatlichen Bäume. Hold und süßverwandt, wie nie zuvor, Klang das Lied der Vögel an mein Ohr; Gerne, nach so schmerzlichem Vermissen, Hätt' ich jeden Stein ans Herz gerissen. Doch, da fand ich dich und ─ todesschwank Jede Freude dir zu Füßen sank, Und mir ist im Herzen nur geblieben Grenzenloses, hoffnungsloses Lieben. O wie sehn' ich mich so bang hinaus Wieder in das dumpfe Flutgebraus! Möchte immer auf den wilden Meeren Einsam nur mit deinem Bild verkehren. Aufgabe 4. Zweizeilige Strophen. Trochäische Achttakter. Weibliche Reimpaare. Jm Walde. Stoff. 1. Ast in Ast verschlungen und Krone an Krone steht der Eichwald; | in guter Laune sang er mir heute sein altes Lied vor. ‖ 2. Eine junge Eiche am fernen Waldesrande begann sich zu regen; | dann ging es an ein Sausen und Biegen; ‖ 3. in mächtigem Zuge nahte es, zu breiten Wogen schwoll es an, | und hoch, durch die Wipfel sich wälzend, kam es wie eine Sturmflut herangebraust. ‖ 4. Und nun sang und pfiff es schauerlich oben in den Wipfeln; | dazwischen erdröhnte von unten das Knarren der Wurzeln. ‖ 5. Zuweilen schwang gellend die höchste Eiche ihren Schaft allein. | Dann aber fiel der Bäume Chor um so donnernder ein. ‖ 6. Einer wilden Meeresbrandung war das schöne Spiel zu vergleichen; | weißlich schimmernd war das Laub südwärts starr hingestrichen ‖ 7. So streicht ─ bald laut bald leise ─ der alte Hirtengott seine alte Geige, | indem er seine Wälder in der uralten Weltenmelodie unterweist. ‖ 8. Unaufhörlich schweift er auf und nieder | in den alle Lieder umfassenden sieben Tönen der alten Tonleiter. ‖ 9. Und die jungen Dichter wie die jungen Finken lauschen in dunkeln Büschen | und nehmen die Melodien in sich auf. ‖ Lösung. Von Gottfr. Keller. Arm in Arm und Kron' an Krone steht der Eichenwald verschlungen, Heut hat er bei guter Laune mir sein altes Lied gesungen. Fern am Rand fing eine junge Eiche an sich sacht zu wiegen, Und dann ging es immer weiter an ein Sausen, an ein Biegen; Kam es her in mächt'gem Zuge, schwoll es an zu breiten Wogen, Hoch sich durch die Wipfel wälzend kam die Sturmesflut gezogen. Und nun sang und pfiff es greulich in den Kronen, in den Lüften, Und dazwischen knarrt' und dröhnt' es unten in den Wurzelgrüften. Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine: Donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine! Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen, Alles Laub war, weißlich schimmernd, starr nach Süden hingestrichen. Also streicht die alte Geige Pan der Alte, laut und leise, Unterrichtend seine Wälder in der alten Weltenweise. Jn den sieben Tönen schweift er unaufhörlich auf und nieder, Jn den sieben alten Tönen, die umfassen alle Lieder. Und es lauschen still die jungen Dichter und die jungen Finken, Kauernd in den dunklen Büschen sie die Melodien trinken. Daktylischer Rhythmus. § 33. Bildung daktylischer Reimstrophen. 1. Bei diesen Strophen ist wie bei den hexametrischen Versen auf solche Daktylen zu halten, welche dem deutschen Accent Rechnung tragen. Also sind nur Stammsilben in die Arsis zu stellen, nicht aber Formsilben, Artikel und unbetonte Silben. Jn der Thesis müssen alle schweren Silben vermieden werden. 2. Die Einfügung des Trochäus und des trochäischen Spondeus in den daktylischen Vers ist gestattet, da der Trochäus dieselbe Zeit beansprucht, als der Daktylus. 3. Zwei Kürzen am Schluß des Verses würden mit Ungestüm zum nächsten Vers weiter drängen. Deshalb schließt man den längeren daktylischen Vers nur mit einer einzigen Thesis, also mit einem die rasche Bewegung hemmenden trochäischen Spondeus oder einem Trochäus. Es können aber auch beide Thesen fallen. Aufgabe. Vierzeilige daktylische Strophen. Viertaktige, katalektische Verse. Reimschema: a a b b . Stoff. 1. Auf einem fernen Berge steht ein Schloß, darin sich Ritter und Volk wacker tummeln. ‖ Lösung. Von C. Beyer. Fern im Gebirg erglänzet ein Schloß, Drinnen sich tummelt ein fröhlicher Troß: Narren und Weise und herrliche Frau'n, Knappen und Ritter gar stattlich zu schau'n. 2. Obgleich ermüdet und bestaubt, komme ich guten Mutes im Schloß an. ‖ 3. Mein ganzes Hab und Gut ist Stift und Papierrolle und, wenn ich auch keine Habe besitze, so rühme ich mich doch des Ritteradels und des Minnesanges. ‖ 4. So trete ich ins Schloß und fühle sofort, daß es ohne Kampf um die Minne nicht abgehen wird, denn das Töchterlein des Ritters wird von vielen Hervorragenden umworben. ‖ 5. Und muß ich nun wirklich auf ihre Liebe verzichten, so ist mir doch nicht verwehrt, ihre Schönheit zu preisen. Wie gerne würde ich weiter wandern, wenn ich nur nicht damit die Schmerzen der Trennung auf mich laden würde. ‖ Bin ich auch müd' vom ermattenden Lauf, Zieh' ich doch mutig zum Schlosse hinauf: Gelb das Barett und der Mantel bestaubt, Blitzend das Schwert und gehoben das Haupt. Schreibergeräte nur trag' ich nach Pflicht, Andere Habe mir heute gebricht: Rinnt in den Adern doch adelig Blut, Bin ich im Singen und Sagen doch gut. Tret' ich ins Schloß, seh' bald ich die Not, Daß mich ein Kampf um die Minne bedroht: Ritters fein Töchterlein liebt mich so sehr, Wie keinen andern in Landen umher. „Jst denn den Demant zu preisen verwehrt, Muß ich verlassen, die meiner begehrt?“ Scheiden und Meiden, wie fällt's ins Gewicht! Wäre beim Wandern die Trennung nur nicht! Trochäisch-daktylischer Rhythmus. § 34. Bildung von trochäisch-daktylischen Reimstrophen. Daktylische Takte wechseln mit trochäischen. Das über den Daktylus im vorhergehenden (33.) Paragraphen gesagte ist auch hier ins Auge zu fassen. Aufgabe. Akatalektische trochäisch=daktylische Zweitakter. Der erste Takt sei Daktylus, der zweite Trochäus. Reimschema: a a b b . Stoff. Jch strebe weder | nach Reichtum noch nach Ehre, | Herrschaft und Würde | würden mir nur eine Last sein. Selbst um das Wissen | bekümmere ich mich nicht weiter | als draußen im Walde | Maus und Käfer. Lösung. Von V. v. Scheffel. Reichtum und Ehre Nimmer ich 'gehre, Herrschaft und Würde Wär' mir nur Bürde. Bin selbst um Wissen Mehr nicht beflissen Als in dem Wald draus Käfer und Grasmaus. Die fremden | Schwindelgestalten | plagen uns nur, | statt uns zu laben. Mir sei | himmlischer Frieden beschieden, | ein sorgenloses Herz | und fröhliches Wesen, Herzerfreuender Gesang, | erheiternde Spiele, | Musik | und Tanz. Solches gefällt mir, | solches wünsche ich mir; | mit Rosen im Haare | möchte ich dereinst sterben. All' jene kalten Schwindelgestalten, Statt zu erquicken Plagen und drücken. Mir sei beschieden Himmlischer Frieden, Sturmfreies Herze, Narrheit und Scherze, Minniger Singsang, Ballspiel und Klingklang, Flöten und Geigen, Wirbelnde Reigen: Solche verehr' ich, Solche begehr' ich; Rosen im Haare Schreit' ich zur Bahre. Jambisch-anapästischer Rhythmus. § 35. Bildung jambisch-anapästischer Reimstrophen. 1. Das Streben, in anapästischen Maßen sich zu versuchen, hat Schiller durch Gedichte wie Die vier Weltalter, Die Worte des Glaubens &c. angefacht. (Der Lernende möge diesen Gedichten eine Anregung entnehmen.) 2. Das Geheimnis der Wirkung liegt im beweglichen Fluß und dem freundlich gefälligen Rhythmus der anapästischen Verse. 3. Durch Einfügung von Jamben in die anapästischen Verse erleiden dieselben eine angenehme Verzögerung, wie andererseits der jambische Rhythmus durch Einfügung von Anapästen eine Beschleunigung erhält. 4. Es empfiehlt sich, die anapästischen Reihen mit einem Jambus beginnen zu lassen, da ja jede Bewegung am Anfange langsamer ist, als im weiteren Verlauf. 5. Jm deutschen anapästischen Vers braucht man den Jambus nicht an eine bestimmte Stelle zu rücken; über seine Stellung entscheidet vielmehr Versrhythmus und Satztakt. Aufgabe. Zweizeilige jambisch=anapästische Strophen (Distichen). Anapästische akatalektische Viertakter. Vorübergehn. Stoff. 1. Jch gewahrte die Leiden am Thore, | da grüßte ich und ließ sie Lösung. Von Karl Siebel. Jch sah die Leiden am Thore stehn; Jch grüßte und ließ sie vorübergehn. vorüberziehen. 2. Jch gewahrte die Freuden, wie sie ins Fenster sahn, | da grüßte ich und ließ sie vorüberziehen. 3. Was soll ich denn erhoffen und ersehnen? | Jch ersehne das Vorübergehen. Jch sah die Freuden ins Fenster sehn; Jch grüßt' und ließ sie vorübergehn. Was soll ich hoffen und was erflehn? ─ Vorübergehn; vorübergehn! § 36. Bildung von Reimstrophen mit strophischem Charakteristikum oder mit charakteristischer Verbindung mehrerer Reimformen. a . Reimstrophen mit charakteristischem Strophenabschluß . 1. Die einzelnen Formen des strophischen Charakteristikums konnten wir bereits bei Einführung in die Strophenlehre (§ 26 dieses Bands) anführen, da dieselben in den Übungen auf dem Gebiete der Strophik zur Anwendung gelangen müssen. Aus diesem Grunde haben wir a. a. O. (§ 26) die betreffenden Übungen verschieben können und brauchen nunmehr nur noch die charakteristische Form des Refrains nachzuholen. 2. Man versteht unter Refrain oder Kehrreim bekanntlich die in jeder Strophe eines bestimmten Gedichts regelmäßig wiederkehrende Wiederholungsformel, welche meist ganze Zeilen (Kehrzeilen) unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederbringt. Die unveränderte Wiederholung heißt fester Kehrreim, die veränderte ist als flüssiger Kehrreim bekannt. Man spricht von Anfangs=, Mittel- und Endrefrain, je nachdem derselbe am Anfang, in der Mitte oder am Schluß der Strophe steht. Die gebräuchlichste Form, auf welche wir uns in unserer nachstehenden Übung beschränken, ist der Endrefrain. Er gleicht einer Säule, welche dem lockeren Gefüge der Strophe einen wunderbaren Halt verleiht. Zudem ist er der ideale Punkt, in welchen die Stimmung einer jeden Strophe ausläuft. Aufgabe. Fünfzeilige Strophen. Reimschema: a a b b a . Metrum: a = Zeilen jambische Dreitakter, b = Zeilen Viertakter. Die letzte Zeile der Strophe wiederholt sich (Refrain ). Ein Stündlein wohl vor Tag. Stoff. 1. Als ich noch schlief, | es mochte eine Stunde vor Tagesanbruch sein, | sang leise auf dem Baume vor meinem Fenster | ein Schwälblein. | Es mochte eine Stunde vor Tagesanbruch sein. ‖ Lösung. Von Ed. Mörike. Derweil ich schlafend lag, Ein Stündlein wohl vor Tag, Sang vor dem Fenster auf dem Baum Ein Schwälblein mir, ich hört' es kaum, Ein Stündlein wohl vor Tag: 2. Es sang: Höre, was ich dir sagen will. | Jch muß deinen Schatz anklagen. | Während ich dieses singe, | herzt er eine andere Geliebte: | Es ist wohl eben eine Stunde vor Tagesanbruch. ‖ 3. Jch rief: O weh mir! Sprich nicht weiter! | Jch will nichts mehr hören. | Flieg hinweg von meinem Baum! | Liebe und Treue ist wesenlos wie der Traum, | den man träumt eine Stunde vor Tagesanbruch. ‖ Hör' an, was ich dir sag', Dein Schätzlein ich verklag': Derweil ich dieses singen thu', Herzt er ein Lieb in guter Ruh', Ein Stündlein wohl vor Tag. O weh! nicht weiter sag'! O still! nichts hören mag! Flieg' ab, flieg' ab von meinem Baum! ─ Ach, Lieb' und Treu' ist wie ein Traum Ein Stündlein wohl vor Tag. b . Verbindung der Allitteration mit dem Reim . 1. Der Erste, welcher die Allitteration mit dem Vollreim verband, war Otfried im Evangelienbuch (868 n. Chr.). Er hat die 1. und 3. der vier Arsen jeder Verszeile durch Accentzeichen ausgezeichnet und dadurch die Accentuierung der Stammsilben wesentlich gefördert. Jndem er weiter im Schlußreim den stärksten Accent schuf, zu welchem immer mehr das Steigen und Sinken der ganzen Tonreihe hindrängte, hat er den nachhaltigsten Anstoß zur Weiterentwickelung des accentuierenden Prinzips in unserer Sprache geliefert und gezeigt, daß auch der Reim die Aufgabe des allitterierenden Wortes übernehmen kann. 2. Nach dem Siege des Vollreims kam die Allitteration ins Abnehmen. 3. Erst in der Neuzeit hat man wieder erkannt, welchen Zauber in ästhetischer Beziehung, welche musikalische Wirkung, welche lautmalende Fähigkeit die Allitteration hat, weshalb einzelne Dichter, die (im Gegensatz zu Jordan) nicht auf den Vollreim verzichten mochten, die Allitteration in Reimgedichten zur Anwendung brachten. 4. Um einzelne markante Beispiele zu erwähnen, so schließt Rückert jede Strophe seines in alle Schullesebücher übergegangenen Gedichts „Roland der Ries'“ mit gleichem Reim (Macht, Schlacht, Wacht, Nacht &c.). Schlegel führt im Sonett „Was ist Liebe?“ den Allitterationslaut L durch; Rückert im gereimten Rosenlied den Allitterationslaut r (ebenso Müller von der Werra im Rüpellied). Mit Geschick haben sonst noch die Allitteration mit dem Endreim verbunden: Bürger (im Lied von der Einzigen), Goethe (in „Es war ein König in Thule“), Heine (in „Es blasen die blauen Husaren“), Uhland (in „Jn Liebesarmen ruht ihr trunken“), Fouqu é (in vielen Dichtungen), W. Müller u. a. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu einem zweistrophigen Gedicht von je 4 Verszeilen verwertet werden, in welchem der Allitterationslaut L den Eindruck fortsetzen soll, den der L= Klang durch die Erinnerung an das Wort Liebe hervorruft. Metrum: Der jambische Quinar. Zur Gewinnung eines strophischen Charakteristikums kann irgend eine Zeile jeder Strophe verkürzt werden. Stoff. Du sangst mir, o Freund, sonst Gesänge von Frauenliebe und =Leben vor. Mein Ohr hing an deinem Munde. Mein Herz erbebte in Freude und Zuneigung. Du singst nicht mehr. Deine Lyra ist mit Spinngewebe überzogen. Sprich, wird mir dein süßer Gesang die verlorene Freude nie wieder zurückgeben? Lösung. Von Chamisso. Du sangest sonst von Frauen-Lieb und Leben, Mein trauter Freund, mir schöne Lieder vor; An deinen lieben Lippen hing mein Ohr, Jch fühlte mich in Lieb und Lust erbeben. Du singst nicht mehr; ─ um deine Lyra weben Die Spinnen, dünkt mich, einen Trauerflor; Sprich, wirst du nie die Lust, die ich verlor, Du süßer Liedermund mir wiedergeben? c . Verbindung des Vollreims mit der Assonanz . 1. Eine Verbindung der freien Assonanz (innerhalb der Verszeile) mit der versgliedernden Assonanz (am Ende der Verszeile), welch letztere durch Übereinstimmung auch der Konsonanten zum Vollreim wurde, finden wir bei unseren ersten Dichtern, z. B. bei Uhland: Was rauschet, lauschet im Gebüsch? Was ringt sich auf dem Baum? Was senket aus der Wolke sich Und taucht aus Stromes Schaum. oder bei Goethe: Dringe tief zu Berges Klüften, Wolken folge hoch zu Lüften, Muse ruft zu Bach und Thale Tausend abertausendmale &c. 2. Als eine einfachere Verbindung der Assonanz mit dem Vollreim ist es zu betrachten, wenn der gleiche Assonanzlaut in Verbindung mit dem Vollreim durch das ganze Gedicht sich hindurchzieht. 3. Wir finden eine solche Verbindung im Gedicht von Rückert I , 462 unserer Poetik. 4. Als eine weitere Form dieser Verbindung kann das Ghasel betrachtet werden, sofern es den gleichen Vokal in allen geraden Zeilen beibehält. 5. Jn neuester Zeit hat Johannes Fastenrath die Assonanz dem Vollreim namentlich in seinem spanischen Romanzenstrauß vermählt, wo er den gleichen Assonanzlaut (zum erstenmal in der Romanze ) durch das ganze Gedicht hindurchführt und die verschiedenartigsten Reime anschießen läßt (vgl. z. B. seine Romanze La Virgen de la Servilleta , wo der ü=Laut bis ans Ende durchgeführt ist). 6. Für unseren praktischen Zweck mag die im § 24 geübte Ghaselform, sowie die spanische Romanzenform genügen. Aufgabe. Nachstehender Stoff ist im spanischen Trochäus so wiederzugeben, daß der Assonanzlaut ü am Ende der geraden Zeilen mit dem Reime sich verbindet. La Virgen de la Servilleta . Stoff. 1. Als du geboren wurdest, Murillo, durchzog ein Glühen die Lüfte, die Sonne schien glühender, tausend Düfte durchströmten die Natur. 2. Die Engel stiegen zu dir nieder voll Schönheit und Güte und schütteten auf deinen Busen Lilien und Blüten von Orangen. 3. Auf den Altären und in den Tempeln herrschte wunderbares Entzücken, denn das Kindlein sollte sie dereinst mit Gemälden zieren. 4. Als das Kindlein größer wurde, sah es im Traume herrliche Bilder, und es malte wieder, was es im Traume gesehen. u. s. w. Lösung. Von Johannes Fastenrath. Als, Murillo, du geboren, Ging ein Glühen durch die Lüfte, Goldner funkelte die Sonne, Und es strömten tausend Düfte. Engel stiegen zu dir nieder Voller Schönheit, voller Güte, Schütteten auf deinen Busen Lilien und Orangenblüte. Jn den Tempeln und Altären War ein wunderbar Entzücken, Denn das Kind, ein Himmelsmaler, Herrlich soll es einst sie schmücken. Größer wird das Kind, und Bilder Schaut's im Traume, göttlich=süße, Und lebendig malt es wieder Die geträumten Himmelsgrüße. u. s. w. § 37. Freie Accentverse zu freien Strophen vereint. 1. Die Verse sind frei heißt: sie sind nach Arsenzahl, Ausdehnung und Anordnung der Verstakte ganz von dem Belieben und dem subjektiven Empfinden des Dichters abhängig; es fehlt ihnen jeder metrische Einteilungsgrund. 2. Jn der Regel hat jeder Vers die Ausdehnung einer rhythmischen Reihe: gleichviel ob kürzer oder länger. 3. Der Parallelismus der korrespondierenden Zeilen verlangt oft das Auseinanderbrechen einer rhythmischen Reihe, oder die Verbindung von zwei derselben. 4. Jede Zeile ermöglicht am Schlusse das Atemholen, das jedoch keineswegs Bedingung ist. 5. Eine freie Strophe hat gewöhnlich den Umfang eines Gedankens, einer Periode. Das Ende der Periode bedeutet in der Regel auch das Ende der Strophe. Doch giebt es Ausnahmen, welche durch den Jnhalt diktiert werden. 6. Die freien Strophen können gereimt und ungereimt sein. Der Reim ist ein wichtiges Formelement. 7. Zu ihrer Handhabung gehört große dichterische Gewandtheit, Geist und Empfindung. Aufgabe. Nachstehender Stoff ist in Accentversen und freien Strophen anzureihen. Sturm. Stoff. 1. Der Sturm wütet, | er peitscht die Wellen, | daß sie wildschäumend erbrausen, | und sich auftürmen, | und es wogen die Wasserberge, | und das Schifflein erklimmt sie; | hastig sich mühend ersteigt es den Berg, | um plötzlich niederzustürzen | in den gähnenden Flutenabgrund. ‖ 2. O Meer, | du bist die Mutter der Schönheit, | o schone meiner, du Großmutter der Liebe. | Schon umflattert mich | die leichenwitternde Möve, | welche am Mastbaum den Schnabel wetzt, | gefräßig nach dem Herzen lechzend, | das deine Tochter rühmt | und das dein schalkhafter Enkel | als Spielzeug erwählte. ‖ Lösung. Von H. Heine. Es wütet der Sturm, Und er peitscht die Wellen, Und die Wellen wutschäumend und bäumend, Türmen sich auf, und es wogen lebendig Die weißen Wasserberge, Und das Schifflein erklimmt sie, Hastig mühsam, Und plötzlich stürzt es hinab Jn schwarze, weitgähnende Flutabgründe ─ O Meer! Mutter der Schönheit, der Schaumentstiegenen! Großmutter der Liebe! schone meiner! Schon flattert, leichenwitternd, Die weiße, gespenstische Möve, Und wetzt an dem Mastbaum den Schnabel, Und lechzt voll Fraßbegier nach dem Herzen, Das vom Ruhm deiner Tochter ertönt, Und das dein Enkel, der kleine Schalk, Zum Spielzeug erwählt. 3. Mein Bitten und Flehen ist umsonst! | im Sturme verhallet mein Ruf, | er wird vom lärmenden Tosen übertönt. | Das brausende, pfeifende, heulende Meer | gleicht einem Töne-Tollhaus; | und zwischendurch vernehme ich | Harfenlaute, | Gesang, | ergreifend und vernichtend ertönt er, | und ich erkenne die Stimme. ‖ 4. Fern an der schottischen Küste, | wo das graue Schlößlein steht, | die brandende See überragend, | erblickt man am Bogenfenster | eine schöne kranke Frau, | zart und blaß, | die Harfe spielend und singend, | und der Wind durchwühlt ihre Locken | und trägt ihren Gesang | über das sturmbewegte Meer. ‖ Vergebens mein Bitten und Flehn! Mein Rufen verhallt im tosenden Sturm, Jm Schlachtlärm der Winde. Es braust und pfeift und prasselt und heult, Wie ein Tollhaus von Tönen! Und zwischendurch hör' ich vernehmbar Lockende Harfenlaute, Sehnsuchtwilden Gesang, Seelenschmelzend und seelenzerreißend, Und ich erkenne die Stimme. Fern an schottischer Felsenküste, Wo das graue Schlößlein hinausragt Über die brandende See, Dort, am hochgewölbten Fenster, Steht eine schöne, kranke Frau, Zartdurchsichtig und marmorblaß, Und sie spielt die Harfe und singt, Und der Wind durchwühlt ihre langen Locken, Und trägt ihr dunkles Lied Über das weite, stürmende Meer. Kritische Notiz zur vorstehenden Lösung. Dergleichen Verse sollten gleichviel Hebungen haben, um musikalisch zu wirken. So z. B. sollten die 2 ersten Verse auf Seite 102 als Einer geschrieben sein oder die anderen kürzer. Man möge versuchen, die Schlußverse auf Seite 103 so zu teilen: Und der Wind durchwühlt Jhre langen Locken Und trägt ihr dunkles Lied Über das weite, (Das) stürmende Meer. Eine Hebung mehr oder weniger thut hier wenig zur Sache. Aber im ganzen sollte Gleichmäßigkeit herrschen. So könnte beispielsweise auch stehen: Und zwischendurch Hör' ich vernehmbar, u. s. w. Viertes Hauptstück. Fremde moderne Strophen und Dichtungsformen. (Südliche Formen.) ────── § 38. Bildung von Sonetten. 1. Das Sonett ist eine Art Epigramm von 14 Verszeilen, welches in den ersten 8 Versen breiteren Raum für die Exposition zum epischen Vordersatz gewährt, während die 6 folgenden Zeilen den lyrischen Nachsatz (die Klausel) bilden. Die englischen Abarten (das Shakespearesche, sowie das Spencersche Sonett) sind beachtenswert. Die Shakespearesche Form mit 3 kreuzreimigen Vierzeilen und einer zweizeiligen Schlußstrophe haben wir bereits I , 534 dieser Poetik erwähnt. Die Spencersche Form ist noch schöner und vollendeter ( abab, bcbc, cdcd, ee ). Sie baut sich wie die Spencerstanze (vgl. § 41 dieses Bands) auf dem französischen Huitain (Achtzeile) auf; nur hat sie lauter gleichlange Verse. 2. Da das Sonett aus 8zeiligem Aufgesang und 6zeiligem Abgesang besteht, so muß vor allem der für dasselbe bestimmte Stoff in zwei Gruppen abgegrenzt werden. Zuvor ist jedoch der Gedanke zu prüfen, ob er dieser Form zu vermählen ist. 3. Beide Stoffteile müssen sich nämlich zu einander verhalten, wie Vordersatz zu Nachsatz, oder Satz zu Gegensatz. Der letzte Teil (die beiden Terzinen) giebt gewissermaßen die Moral. (Das Epigrammatische des Sonetts kann sich ausnahmsweise auch in der letzten Zeile der zweiten Terzine, also in der letzten Verszeile konzentrieren.) 4. Aus diesem Grunde darf niemals der Jnhalt aus dem ersten Hauptteil in den zweiten überlaufen. Vielmehr muß zwischen den beiden Hauptteilen des Sonetts ein Ruhepunkt und eine syntaktische Pause angebracht werden. 5. Da jeder Teil wieder aus zwei Unterabteilungen besteht, so umfaßt das Sonett vier Teile, nämlich 2 Quartette und 2 Terzinen. (Prokesch-Osten [vgl. Kleine Schriften Bd. 6] scheidet in 8 und 6 Zeilen; nur ein Sonett schreibt er in 3 Abschnitten d. i. in 4 + 4 + 6 Zeilen, die übrigen sämtlich in 2 Abteilungen d. i. in 8 + 6 Zeilen. Schönaich= Carolath setzt einmal [S. 104 seiner vortrefflichen „Dichtungen“ 1883] die beiden Terzinen an den Anfang, um mit den beiden Quatrains zu schließen. Das Mißliche des materiellen Übergewichts des 8 zeiligen Schlußteils mildert er, indem er den Jnhalt aus den beginnenden Terzinen in die Quartette überlaufen läßt und den Nachsatz erst mit der achten Zeile beginnt. Wir müssen uns aus ästhetischen Gründen für Beibehaltung der traditionellen Sonettenform erklären, welche in ihrer formellen Schönheit und Proportionalität das Gesetz vom goldenen Schnitt bestätigt. Wenn der Lehrsatz der Ästhetik: „Gewicht ersetzt die Maße“ richtig ist, und somit der kürzere Teil bei einem Zusammengesetzten dem längeren das Gleichgewicht zu halten vermag, so müssen auch die beiden Terzinen am Schluß des Sonetts den beiden Quatrains die Wagschale ebenso halten können, wie z. B. der kürzere Abgesang im lyrischen Gedicht die beiden Stollen des Aufgesangs aufzuwiegen vermag.) 6. Die Reime der lyrischen Sonettform sind mit Rücksicht auf die im Sonett herrschende weiche Stimmung in der Regel und dem Herkommen gemäß weiblich. Diese weiblichen Reime haben freilich das Mißliche der kaum zu vermeidenden Endsilbe en. Bei vielen Dichtern sind die durchaus weiblichen Reime nichts weiter als affektierte Nachahmung der italienischen Art; die italienische Sprache bringt aber männliche Reime nur mit äußerster Mühe auf, wie denn beispielsweise der ganze Ariost deren höchstens 3 oder 4 haben mag. 7. Dem Anfänger ist für die beiden Quatrains der schon von Petrarka beliebte umarmende Reim anzuraten, da derselbe das Auseinanderfallen in Zweizeilen verhindert und daher auch in der Vierzeile Verwendung findet. (Erwähnenswert bleibt die ältere italienische Sonettenform, bei welcher die erste Hälfte eine Siciliane ist, welcher eine um 2 Zeilen verkürzte, anfänglich darauf reimende folgt.) 8. Aus Gründen des Wohlklangs möchten wir uns gegen die Anwendung von Fremdwörtern auch in den fremden Formen erklären. Aufgabe. Reim der beiden Quatrains aren, onte ( durch Jahren und thronte diktiert), Reim der Terzinen unden, auchen ( durch verbunden und tauchen gegeben ). Das Liebesfrühlings-Haus. Stoff. 1. Sei, Haus, uns gegrüßt, das so reich an Liebes jahren ist, und in welchem der Schöpfer unzähliger Liebesgedichte thronte; du trotzest dem Zahn der Zeit, denn dich beschirmen die Götter. 2. Du trägst Rückerts Bild, dessen Frühlingsblume in deinen Räumen weilte; er hat dir den seiner Braut gewährten Aufenthalt dadurch belohnt, daß nun jeder zu dir wallfahrtet. 3. Möge mein Volk seinem Geist verbunden bleiben und in seine Dichtungen sich versenken. 4. Dann erst wird es erkennen, welche anregende Kraft und welchen Segen die tiefempfundenen Lieder Freimund Reimars atmen. Lösung. Von C. Beyer. Sei, Haus, gegrüßt mir, reich an Liebesjahren, Jn welchem einst der Liebe Sänger thronte, Und das der Zeiten Grimm bis heut verschonte, Weil dich Apoll beschirmt und deine Laren. Du trägst des Bild, um den sich Edle scharen, Des Frühlingsblum' in deinen Räumen wohnte, Und der mit seinem Nachruhm dich belohnte: Das Rückertantlitz, das wir gern gewahren. O möge fürder, seinem Geist verbunden, Mein Volk in seine Herzensflut sich tauchen, Und feiern ihn in gut- und bösen Stunden. Daß es erkenne, welchen Segen hauchen Die Lieder Freimunds, tief und wahr empfunden Voll Gluten, die uns nimmermehr verrauchen. § 39. Bildung von Ritornellen. 1. Das Ritornell ist eine einzelne, für sich verständliche Dreizeile. Die erste Zeile, welche häufig kürzer ist, als die beiden folgenden, bringt meist einen Pflanzennamen als Anrede, während die beiden andern den vollen Jnhalt des Textes bieten. Man nennt dieses Ritornell das Blumenritornell. 2. Das Ritornell von Arricia hat die erste Zeile ebenso lang, als die zwei übrigen, und stets hat die zweite Zeile andere Selbstaber gleiche Mitlauter, und fast immer reimt die erste auf die dritte, z. B. hangen, singen, bangen; minder, leider, Kinder. 3. Die zweite und dritte Zeile sind jambische Quinare, von denen der letzte mit der ersten Verszeile reimt oder assoniert. 4. Die Mittelzeile ist reimlos. 5. Nur in seltenen Fällen vereinigen sich mehrere Ritornelle zu einem Ritornellen-Cyklus. 6. Wenn jedoch ein Gedicht aus mehreren Ritornellstrophen besteht, so hängen dieselben doch nicht durch das Reimpaar zusammen, wie dies bei den Terzinen der Fall ist (vgl. § 40 dieses Bandes). Aufgaben. Die erste Verszeile soll mit der dritten reimen. Bei den Lösungen der Aufgabe b soll die erste Zeile verkürzt sein. a . Das Blumensträußchen. Stoff. a . Du hast alle Sommerhäuschen nach der Liebsten durchsucht. Endlich hast du sie gefunden und ihr ein Blumensträußchen gegeben. b . Die Weinrebe. b . Edle Weinrebe! Längst hat Frost und Kälte nachgelassen, damit du blühen kannst. Lösungen. a . Du hast umschritten alle Sommerhäuschen, Du bist dann vor dem letzten stehn geblieben, Und hast gebracht der Liebsten Rosensträußchen. b . O grüne Rebe! Der Frühling hat verjagt schon längst die Kälte, Damit er dir die Lust zum Blühen gebe. § 40. Bildung von Terzinen. 1. Die Terzine besteht aus 3 jambischen Fünftaktern. Obwohl sie häufig genug nur weiblich gereimt ist, so ist doch (und nach Rückerts, Heyse's u. a. Vorgang) aus ästhetischen Gründen die Abwechselung des weiblichen mit dem männlichen Reimgeschlechte anzuempfehlen, um der Eintönigkeit entgegen zu treten und Gelegenheit zur Anwendung unserer vielen männlichen Reime zu bieten. 2. Zu vergessen ist nicht, daß den Schluß jeder Terzinendichtung eine isoliert stehende Zeile bildet, welche mit der mittleren Zeile der letzten Strophe reimt. 3. Besondere Beachtung verdient, daß jede Terzine für sich ein strophisches Teilganzes zu bilden hat. Es ist also am Schluß einer jeden Terzine (mit Ausnahme der letzten) ein syntaktischer Ruhepunkt zu setzen, ─ eine selbst von Freiligrath (dem es Chamisso rügt), wie von vielen neueren Dichtern übersehene Forderung. Aufgabe. Jm Nachstehenden ist immer der Stoff für eine Strophe abgeteilt. Der Terzinenreim für Zeile 1 und 3 jeder folgenden Strophe ist durch gesperrten Druck angedeutet. Doch kann der Lernende nach Belieben abweichen. Mein Vaterland. Stoff. 1. Jch habe mein Vaterland stets geliebt. Doch wo ist das Vaterland hienieden, wenn der Krieg die Völker gegen einander hetzt? ‖ 2. Jst das ein Vaterland, wo die farbigen Grenzpfähle stehn, welche die Völker wie Herden trennen? ‖ 3. Oder ist es da, wo die deutschen Adlerfahnen vor Fremden wehen, die im Donner der Kanonen für ihre Sprache kämpfend den Tod erleiden? ‖ 4. Mein Vaterland ist der Menschheit ganze Breite, wo der Friede Gottes uns über schwebt und wo man Gott verehrt. ‖ 5. Es ist da, wo die Eintracht wohnt, wo man mit Wonnen Lieder singt und Freiheitsmut die Brust schwellen macht. ‖ 6. Es ist da, wo das Leben aus nie erschlossenem Grund emporquillt und Menschen wohnen, die geistiges Leben lieben. ‖ 7. Es ist da, wo es Liebe giebt und treue Augen erglänzen; es ist die weite Welt. ‖ 8. Mein Vaterland hat keine irdischen Grenzen. ‖ Lösung. Von Julius Grosse. Das „Vaterland“, ich hab' es stets geliebt; Doch sagt, was ist das Vaterland hienieden, Wenn Sturm und Feuer durch die Völker stiebt? Jst das ein Vaterland, wo lang' im Frieden Die farbgen Pfähle an der Grenze stehn Und herdenweis die Völker abgeschieden? Jst's, wo die deutschen Adlerfahnen wehn Vor Fremden, die im Donner der Kanonen Für ihre Sprache auch zum Tode gehn? ─ Mein Vaterland ist, wo noch Menschen wohnen, Wo Gottes Frieden über Alpen schwebt Und wo ihn betend ahnen Millionen. Mein Vaterland ist, wo die Eintracht lebt, Wo Liedesklang der Brust entquillt mit Wonnen Und Mut der Freiheit durch die Seelen bebt. Mein Vaterland ist, wo in goldner Sonnen Das Leben schäumt aus nie erschloss'nem Grund Und Geister trinken aus des Geistes Bronnen. ─ Mein Vaterland ist, wo ein süßer Mund Von Liebe flüstert, treue Augen glänzen: Die weite Welt ist's, bis die andre kund. ─ Mein Vaterland hat irdisch keine Grenzen. § 41. Bildung von Oktaven (Stanzen). 1. Der Begriff Stanze ist ein ziemlich weitgehender, elastischer. Man kann darunter zunächst und im weitesten Sinn die um 1 oder 2 Verse verkürzte (oder auch um 1 oder 2 Verse verlängerte) Achtzeile begreifen, nämlich folgende Formen: a . Die im nächsten Paragraphen zu übende älteste Form der Stanze mit nur 2 überschlagenden Reimen: die Siciliane ; b . Die in diesem Paragraphen zu behandelnde italienische Form mit 3 Reimen: die Oktave oder Stanze im engeren Sinn; c . Die nach dem Muster des französischen Huitain (Achtzeile) gebildete deutsche Achtzeile, welche 3 Reime hat und als deren häufigste Form wir Heyse's Urica bezeichnen. Es giebt noch ein altfranzösisches Huitain mit der Form a a a b c c c b , wobei wie immer die Verslänge ungleich sein kann, wenn nur die Symmetrie nicht aufgehoben ist. Bezeichnen wir mit dem Accentzeichen (') unter dem Buchstaben die längere Zeile, ferner mit 2 Accentzeichen (") eine noch längere Zeile, so stellt sich das Schema ungefähr so her: a a̗ a b c c̗ c b , oder auch a a a b̗ c c c b̗ , oder a a a̗ b c c c̗ b u. s. w. Oder so a a̗ a b͈ c c̗ c b͈ u. s. w. (Ähnlich, nur daß jede 4. Verszeile stets den Reim b hat, findet man lange Gedichte auch im Orientalischen; auch Beispiele im Hariri. Nur arbeitet der Araber meist so: a a a a b b b a c c c a , wonach der Reim a das Band des Ganzen ist.); d . Die englische Spencerstanze mit 3 Reimen in 9 Versen, wo an die französische Stanze ein Alexandriner angefügt ist; e . Die englische Siebenzeile (Shakespearestanze) mit 3 Reimen in 7 Versen (Shakespeare's Muster). Sie ist, wie schon das Schema a b a b b c c zeigt, eine um das dritte a verkürzte italienische Stanze, welche nach dem altfranzösischen Balladen- und altitalienischen Canzonengesetz des an die Strophe reimenden Anhanges gebaut ist (wie er auch im Huitain vorkommt); f . Die Stanze (Waltherstanze), welche Walther von der Vogelweide anwandte: a b a b c c c oder a b a b c d d c . g . Die spanische Decime, eine Stanze mit 5 Reimen in 10 Versen. 2. Die Stanze oder Oktave im engeren Sinn, deren Technik dieser Paragraph darthun soll, besteht aus 8 fünftaktigen jambischen Versen, von welchen die 6 ersten alternierend reimen, während die beiden letzten ein Reimpaar sind: a b a b a b c c . 3. Jhre Schönheit beruht auf dem melodischen Reimwechsel, dem rhythmischen Ebenmaß von Vorder- und Nachsatz, auf der schönen Geschlossenheit der 6 ersten Reimzeilen, welche durch Abwechselung des Reimgeschlechts eine angenehme, wellenartige Bewegung ergeben. Hierzu kommt das freundliche, charakteristisch abschließende Reimpaar, welches den Satz und den Sinn schließt und die Moral giebt. 4. Da die Einfügung männlicher Reime die Gliederung der Oktaven in zweizeilige, aus Vorder- und Nachsatz bestehende Perioden erleichtert, so empfiehlt sich für unsere Sprache die Abwechselung von weiblichen und männlichen Reimen, so zwar, daß die Markierung des abschließenden Nachsatzes (die 2., 4. und 6. Zeile) männlich ist. 5. Der männliche Schluß bei den Nachsätzen der 3 ersten Perioden verleiht unserer deutschen Oktave ein charakteristisches Gepräge. 6. Aus ästhetischen Gründen der Symmetrie und des Wohllauts raten wir dem Lernenden die Beibehaltung der traditionellen Reimfolge a b a b a b c c . 7. Sorgfältig ist die inhaltliche Verbindung der 5. Zeile mit der 4. herzustellen, damit die Strophe nicht wie 2 Vierzeilen erscheine. 8. Die Zeilenlängen Schillerscher und Wielandscher Oktaven sind wegen ihrer Willkürlichkeit zu tadeln. Wohl aber ist die ausnahmsweise Einfügung von Alexandrinern zulässig, da ja hyperkatalektische Quinare unter Hinzurechnung der Pausen den Alexandrinern gleichwertig sind. Eigentliche Oktaven im engeren Schulsinne sind dies freilich trotz ihrer 8 Zeilen ebensowenig, als z. B. die französischen Huitains , wohl aber sind es Stanzen. 9. Den Wohlklang fördert es, wenn am Schluß je des 2. Taktes eines jeden Verses eine Diärese gesetzt wird. 10. Ebenso ist es von Bedeutung, auf der 10. Silbe den Wortaccent mit dem rhythmischen zusammenfallen zu lassen. Somit dürfen beispielsweise Satztakte wie „Verheimlichungen“, „Heimlichkeiten“, „herrliche“ &c. nicht den Vers schließen, was ja auch schon gegen die Gleichheit der Silbenquantität des Reims verstoßen würde. 11. Viele gleichartige einsilbige Worte neben- und nach einander müssen vermieden werden, da jedes von ihnen den Hochton wie den Tiefton erhalten kann. 12. Zur Vermeidung der Eintönigkeit ist die ausnahmsweise Einfügung von Anapästen gestattet. Allzuviele Anapäste würden den jambischen Grundcharakter der Oktaven in Frage bringen. 13. Die von Rückert auch als lyrische Form verwertete Oktave hat meist weibliche Reime. 14. Daß die Oktave auch für humoristischen Jnhalt geeignet ist, beweisen die Oktaven von Graf v. Schack, die manche klägliche, von prosodischen Jnkorrektheiten &c. wimmelnde Nachäffung gefunden haben. 15. Die Oktave eignet sich insbesondere zu Prologen und zu Epilogen, zu Festdichtungen, zu Widmungsgedichten, zu kulturhistorischen Gedichten &c. Aufgabe. Theodorichs Reue. Stoff. 1. Mit tiefem Schmerz hört Theodorich den Preis des Toten, aus seinen Augen brechen Thränen, ihn erfaßt ein Grauen, als wenn er gerichtet worden wäre. Er seufzt tief und birgt sein weinendes Gesicht an die Mauer der Säule, dann legt er sein königliches Geschmeide ab und eilt hinaus in die finstere Nacht. ‖ 2. Jm Hofe eines Klosters vernahm man in der nämlichen Stunde der folgenden Nacht den Ruf: „Steht auf, ihr Mönche, öffnet das Thor, hier bin ich, nach dem ihr geschickt habt.“ Theodorich trat ein, vor einer Nische lag ein vertieftes Grab. Ein Mönch sprach zu den übrigen: „Dieser hat sich erboten, den Toten einzumauern.“ ‖ 3. Sie trugen mit seiner Hilfe Odoakers Leichnam zur Gruft hinab, und allein, wie wenn er ihm etwas abzubitten hätte, bog sich Theodorich über ihn. Dann schloß er den marmornen Sarg, ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein zum stillen Haus und bei ihm saß der Mönch mit der Leuchte in der Hand. ‖ 4. Als am andern Morgen die Gebetglocke ertönte, trat Theodorich aus dem Kirchengang und horchte auf dem Marmorblock der letzten Stufe nach dem Klang derselben. Dann strich er sich den Schweiß von der Stirn, ein tiefer Ernst lag auf seinen Zügen; da flog vor allem Volke ein Adler über ihn hinweg. ‖ Lösung. Von Hermann Lingg. Theodorich vernimmt mit Schmerz und Trauer Des Toten Preis, aus seinen Augen bricht Die Thräne vor, und ihn ergreift ein Schauer, Als sprächen Himmelsstimmen sein Gericht. Er seufzt aus tiefster Brust, und an die Mauer Der Säule birgt er weinend sein Gesicht, Dann legt er ab Geschmeid und Goldgefunkel, Und eilt allein hinaus in Nacht und Dunkel. Durch eines Klosters Hof zur gleichen Stunde Rief's in der nächsten Nacht: „Auf! wenn ihr schlieft, Herbei, ihr Mönche, mit dem Schlüsselbunde! Schließt auf das Thor, ich bin es, den ihr rieft!“ Theodorich trat ein, vor ihm im Grunde Vor einer Nische lag ein Grab vertieft. „Der ist es,“ sprach ein Mönch, „der sich erboten Mit seiner Hilfe trugen sie zur Stätte Des Odoakers Leichnam, und allein, Als ob er ihm was abzubitten hätte, Bog jener lang sich über ihn herein. Er schloß den Sarg von schwarzer Marmorglätte, Ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein Zum stillen Haus, umweht von Moderfeuchte, Und bei ihm saß der Mönch und hielt die Leuchte. Als Morgens früh des Klosters kleine Glocke Zum Beten rief, trat aus dem Kirchengang Theodorich, und auf dem Marmorblocke Der letzten Stufe horcht er nach dem Klang, Er strich von seiner heißen Stirn die Locke, Sein jugendliches Antlitz überdrang Ein tiefer Ernst und in der Morgenwolke Flog über ihm ein Adler vor dem Volke. § 42. Bildung von Sicilianen. 1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &c. haben mehr oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene. 2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen ( ab ab ab ab ). 3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet. 4. Demnach schließt sie ─ wie das Schema zeigt ─ auch nicht mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und Nachsatz bestehenden Periode. 5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim. Aufgabe. Das Menschenherz. Stoff. Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische Gleißen des Wassers meiden; | ein durch die Angel belogenes Fischlein wird nicht mehr an den Köder gehen; | ein Lamm, das man dem Wolf entrissen, wird gern im schützenden Stalle bleiben; | nur das so oft betrogene Menschenherz läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. | Lösung. Das Bienlein, das dem Wassertod entflogen, Wird es nicht fliehn des Wassers trügend Gleißen? Das Fischlein, von der Angel schwer betrogen, Wird es wohl wieder an den Köder beißen? Das Lamm, das du dem Wolfe hast entzogen, Wird's nicht die Sicherheit des Stalles preisen? Dein Herz nur, Mensch, das öfter schon belogen, Läßt stets aufs neue sich ins Unglück reißen. § 43. Bildung von Decimen. 1. Diese Form, welche aus 10 trochäischen Viertaktern besteht, ist in Spanien beliebt, wo der Grundcharakter der Sprache jambisch ist. Jn unserer deutschen Sprache mit ihrem trochäischen Gepräge ist sie weniger empfehlenswert, da nicht jeder Dichter es versteht, durch überbrückende Satztakte die Diäresen zu vermeiden. 2. Um das Auseinanderfallen der Strophen in 2 Fünfzeilen zu vermeiden, muß man die syntaktische Pause möglichst selten ans Ende der 5. Zeile verlegen. Daher sollte das Schema a b a b a | c d c d c möglichst vermieden werden. 3. Nachahmenswert ist das Beispiel Rückerts und in neuester Zeit Johannes Fastenraths (vgl. die vielen Decimen in seinem Calderonbuch), welche den syntaktischen Ruhepunkt ans Ende der 4. Zeile setzen. 4. Am gebräuchlichsten ist das Reimschema: abba, accd, dc , sowie das aus 2 Vierzeilen mit abschließendem Reimpaar bestehende: abab, bccb, dd . Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu einer Decime verwendet werden. Schema: abba, accd, dc . Stoff. Jch denke an dich, großer Calderon! | Um dich würdig zu besingen, bete ich zu Gott, | denn auch in der Kunst betrete ich | das Heiligtum der Religion. | Jch bete zu Gott, | wenn ich mich dessen erinnere, was er dir verliehen. | Durch die Gaben deines Geistes | durftest du in einer Weise Zeugnis von ihm ablegen, | daß jeder anbetend die Knie beugen wird, | der sich zu dir erheben will. | Lösung. Von Johannes Fastenrath. Dein gedenk' ich, Calderon, Und um dich zu singen, bet' ich, Denn auch in der Kunst betret' ich Heiligtum der Religion. Ja, ich bet' zu Gottes Thron, Denk' ich des, was dir gegeben, Denn durch deines Geistes Leben Durftest Gott du so bezeugen, Daß die Kniee der muß beugen, Der zu dir sich will erheben. § 44. Bildung von Trioletten. 1. Der Reim in dieser, meist aus 8 jambischen oder auch trochäischen Versen bestehenden poetischen Form ist durch die beiden ersten Zeilen geboten. Das Schema ist in der Regel a b b a b a a b oder a b a a b a a b . 2. Die beiden ersten Zeilen enthalten den laufenden Gedanken für das Triolett; sie sind also gewissermaßen als Thema für die Weiterführung zu betrachten. 3. Nachdem die erste Zeile als vierte Zeile wiedergekehrt ist und zwei weitere Zeilen den Jnhalt fortgesponnen haben, schließen die beiden ersten Zeilen das Ganze wie ein Refrain ab. Somit kehrt im Triolett der gleiche Gedanke dreimal in gleicher oder verwandter Weise wieder. 4. Es ist eine Schönheit, wenn die wiederholten (oder nur kaum veränderten) Verse eine neue Wendung im Gedankengang erzielen. 5. Die Verse brauchen nicht von gleicher Länge zu sein, wie schon der Meister dieser Form, Charles d'Orléans , beweist. Jch setze zum Beleg ein improvisiertes Triolett von Faust Pachler her: Du ahnest es nicht, a Wie sehr ich dich ehre, wie heiß ich dich liebe, b Wie gern ich's dir sagte, wie gern ich's dir schriebe. b Du ahnest es nicht. a Ach, wenn du es wüßtest und Hoffnung mir bliebe b Nach diesem Gedicht! a Du ahnst es ja nicht, a Wie sehr ich dich ehre, wie heiß ich dich liebe. b Es versteht sich von selbst, daß die a =Zeilen unter sich gleich lang sind und ebenso die b =Zeilen unter sich. 6. Von Abarten sind hier erwähnenswert die von Tandler in 9 Versen, wo die erste a =Wiederholung nicht den 4., sondern den 5. Vers bildet, sowie die von Klamer-Schmidt ebenfalls in 9 Versen, wo die a =Wiederholung bereits auf der 3. Zeile eintritt. 7. Andere Abarten, deren wir im ganzen 14 verzeichnen könnten, gehören nicht hierher. Die wichtigsten derselben, welche in der deutschen Poesie zur Anwendung gelangt sind (nämlich: a . das zweistrophige Triolett, b . das Rondel oder dreistrophige Triolett, c . das eigentliche Rondeau oder Ringelgedicht, welches aus 13 jambischen oder trochäischen Versen besteht und in 2 ungleiche Strophen von 8 und 5 Zeilen zerfällt &c.) haben wir Bd. I S. 579─583 dieser Poetik ausführlich abgehandelt. Aufgabe. Ein Triolett ist zu bilden, dessen Grundgedanke ist: Das geistig Schöne steht doch höher als das sinnlich Schöne. Dieser Gedanke durchleuchtet das bestimmende Reimpaar: Das Schönste mag dein Aug' und Ohr entzücken, Viel edler ist, o Mensch, das geistig Schöne. Jm weiteren Verlauf kann angeführt werden: Zwar nenne ich dich nicht geschmacklos, wenn du nur Geschmack für jenes Schöne hast, das du sehen oder hören kannst (also für bildende Kunst und Musik). Aber die Poesie wirkt nicht auf die Sinne, sondern auf den Geist, und darum steht sie und der Geschmack dafür höher und ist edler, wie der Geist edler ist als der Körper. Lösung. Von Faust Pachler. Das Schönste mag dein Aug' und Ohr entzücken, Viel edler ist, o Mensch, das geistig Schöne. Nicht, daß ich drum dich als geschmacklos höhne ─ Das Schönste mag dein Aug' und Ohr entzücken! Doch niedrig stehn die Farben und die Töne, Die einzig nur durch Sinnenreiz beglücken. Das Schönste mag dein Aug' und Ohr entzücken, Viel edler ist, o Mensch, das geistig Schöne. § 45. Umbildungen eines dichterischen Stoffes in alle möglichen Vers- und Strophenarten. (Eine Prüfungsaufgabe.) 1. Der Lernende, welcher unsere sämtlichen Übungen mit Erfolg durchgearbeitet hat, wird gut daran thun, wenn er zu seiner Selbstvertiefung einen Augenblick inne hält und nunmehr unter Zugrundelegung eines bestimmten dichterischen Stoffes Umbildungen in allen möglichen Formen vornimmt. 2. Da durch diese Umbildungen gewissermaßen ein Examen und eine Art Rekapitulation beabsichtigt ist, so möge der Anfänger bei Ausführung der Teilaufgaben sich immer erst das Regelwerk der einzelnen bezüglichen früheren Paragraphen ansehen. 3. Jndem wir durch unsere nachstehende, methodisch geordnete Aufgabe die Hand zur Wiederholung unseres ganzen Systems bieten, wollen wir doch nicht alle Möglichkeiten erschöpfen, sondern wir lassen dem Lernenden noch viele Wege offen, die dem warmen Vertiefen in die beiden ersten Bände sich von selbst erschließen werden. 4. Der Lernende möge die Lösungen immer erst dann vergleichen, wenn er die eigene Lösung vollendet haben wird. 5. Wesentlich ist bei allen Lösungen die strenge Beachtung des deutschen Accents, um unserem Accentprinzip (gegenüber dem quantitierenden) zum Sieg zu verhelfen, ─ eine Aufgabe, welcher unser ganzes Streben in allen Bänden dieser Poetik gewidmet war. Aufgabe. Es sollen Umbildungen des nachfolgenden Gedichts hergestellt werden und zwar: 1. im Jambus, 2. im Trochäus, 3. im Anapäst, 4. im sog. Mutakarib (Versmaß des Schah-Nameh und des Jskandernameh ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑–), 5. im Distichon, 6. im jambischen Sechstakter (Trimeter ), 7. im anapästischen Achttakter (Tetrameter ), 8. im Alexandriner, 9. in Hinkejamben, 10. im Hendekasyllabus, 11. in der Allitteration, 12. in der Assonanz, 13. in der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe, 14. in der Ghaselenform, 15. in der Sonettform, 16. in der Oktave, 17. in der Siciliane, 18. im serbischen Trochäus, 19. in der neuen Nibelungenform ( a . Gebrochene Nibelungenstrophe mit eingefügten Anapästen. Reimschema: xaxa. b . Gebrochene Nibelungenverse ohne Anapäst ), 20. im trochäischen Viertakter, 21. im jambischen Viertakter &c. Das sterbende Alpröslein. Von C. Beyer. Stoff. „Hoch auf dem Felsen ein Röslein blüht rot, Möcht' es wohl brechen, doch brächt' es den Tod. „Röslein, wie bist du so zaubrisch zu sehn, Möchte vor Sehnen und Liebe vergehn. „Schaue dich an, o du süßestes Gut, Werde dich brechen und flöß' auch mein Blut. „Schenke zum Schmuck dich der Trautesten mein, Freut sie sich dran, wird lohnend es sein.“ Kühnlich erstieg er die felsige Wand, Knickte das Röslein mit zitternder Hand. Kehrte zurück nicht, stürzte hinab ─ Schmückte das sterbende Röslein sein Grab. Lösungen. Von Karl Putz. 1. Jambus. Ein Röslein blüht am Felsen rot, Gern bräch' ich's, doch das bringt den Tod. Bezaubernd ist dein Blüh'n zu sehn, Sehnsucht nach dir macht mich vergehn. Jch schaue dich, du süßes Gut, Jch breche dich, fließt auch mein Blut. Jch bringe dich der Liebsten mein, Wenn sie sich freut, wird's Lohn mir sein. ─ Kühn steigt er auf zur Felsenwand, Die Rose pflückt schon seine Hand; Jedoch er wankt, er stürzt hinab, ─ Das Röslein aber schmückt sein Grab. 2. Trochäus. (Fünftakter.) Hoch am Felsen blüht ein Röslein rot, Gern wohl bräch' ich's, doch es bringt den Tod. Zaubrisch bist du, Röslein anzusehn, Muß nach dir vor Sehnsucht fast vergehn. Jmmer schau' ich dich, mein süßes Gut, Brechen muß ich dich, flöß' auch mein Blut. Heft' an's Mieder dich der Liebsten mein, Hat sie Freude dran, wird's Lohn mir sein. Kühn aufsteigt er zu der Felsenwand, Knickt die Rose schon mit blut'ger Hand. Kehrt nicht mehr zurück, stürzt tief hinab, ─ Doch das Röslein schmückt ihm auch das Grab. 3. Anapäst. Schön Röslein blühet an Felshöh'n rot, Gern möcht' ich es brechen, doch bringt mir's den Tod. O Röslein, wie bist du bezaubernd zu sehn, Mein Sehnen nach dir macht fast mich vergehn. Lang schau' ich dich an, mein süßestes Gut, Dich muß ich noch brechen, ob's gilt mein Blut. Dich hol' ich herab für die Trauteste mein, Wenn sie sich nur freut, wird's lohnend mir sein. ─ Gar kühnlich erstieg er die felsige Wand, Und er knickte die Rose mit zitternder Hand; Kam leider zurück nicht, stürzte hinab, ─ Schön Röslein sterbend nur schmücket sein Grab. 4. Mutakarib. (⏑─́– | ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑–) So hoch auf dem Fels dort du Alpröslein rot, Wie gern holt' ich dich, doch es bringt mir den Tod. Du bist doch, o Röslein, so hold anzusehn! Die Sehnsucht nach dir macht, ach! fast mich vergehn. Nur du bist mein Ziel nun, mein wünschbarstes Gut, Gar kühn brech' ich dich noch, ob fließt auch mein Blut. Und du sollst der Schmuck bald für Treuliebchen sein, Denn wenn sie sich freut, bringt's genug Lohn mir ein. ─ Nun furchtlos besteigt er die senkrechte Wand, Und knickt schon das Röslein mit wundblut'ger Hand; Er wankt aber abwärts und stürzt tief hinab, Das Alpröschen schmückt ihm allein noch das Grab. ( NB . Das Mutakarib kann in unserer Sprache nur anapästisch skandiert werden [vgl. § 47], also so: ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –.) 5. Distichon. Hoch an den Felsen erblüht Alpröslein so rot und so lieblich; Brechen wohl möcht' ich es gern, aber es dräuet der Tod. Röschen, wie hast du das Herz und die Sinne mir völlig bezaubert! Sehnen nach dir wird nie schwinden in meinem Gemüt. Jmmer beschau' ich nur dich und ich weiß nicht besseren Wunsch mehr; Kostet es auch mein Blut, brechen wohl muß ich dich noch. Röschen, dich wähl' ich zum Schmuck für die Liebste vor anderem Zierrat, Hat sie nur Freude daran, ist es mir Lohnes genug. ─ Wagenden Mutes erklimmt er die steile, die felsige Höhe, Pflücket die Rose sich schon ab mit ermattender Hand. Nicht mehr kehrt er zurück zu den Seinen, ─ er stürzt in den Abgrund, Wo ihm das Röslein so lieb schmücket verwelkend das Grab. 6. Trimeter. Dort blüht ein Alpenröslein hoch an Felsen rot, Gern möcht' ich's brechen, aber es dräuet mir Gefahr. Und doch, o Röslein, blühest du so zaubrisch schön, Daß ich nach dir vor Sehnsucht fast vergehen muß. Jch schau' nach dir nur, achtend für das Beste dich, Und will dich brechen, müßte fließen auch mein Blut. Jch hefte dich ans Mieder meiner geliebten Braut, Und wenn sie dein sich freuet, ist mir's Lohn genug. ─ Darauf bestieg er kühnlich hohes Felsgestein Und knickte schon die Rose, zitternd, doch beglückt. Rückkehren sah ihn niemand, denn er stürzte tief, Und nur das Alpenröslein ward ihm Grabesschmuck. 7. Anapästische Achttakter. Hast je du gehört, was in früherer Zeit im Tirolergebirge sich zutrug? Da stand einstmals an dem Felsengestein hoch droben ein blühendes Röslein; Das schaute von fern sich ein Jüngling an voll brünstigen Sehnens der Liebe. Der sprach zu der Ros': Ab bräch' ich dich gern, doch ist's mit Gefahren verbunden. O Röslein rot, wie erblühtest du schön, wie so zauberisch blickst du hernieder, Daß Verlangen nach dir du erweckst in der Brust, und es wird mir doch nimmer gestillt sein. Lang schau' ich zu dir in die Höhe hinan und erkenn' als süßestes Gut dich; Wahrhaftig, du mußt noch heut mein sein, sollt' auch mein Leben ich wagen, Um der Liebsten zum Schmuck dich zu holen herab. Dann steck' ich dich ihr an das Mieder; Wenn sie sich daran mag herzlich erfreun, wird das schon Lohns mir genug sein! ─ Und der Jüngling stieg zu der Felswand auf, zu der steilen, mit mächtigen Schritten, Stand droben am Rand, auf schwindliger Höh', und er knickte mit Zittern die Rose, Wo bald er nicht mehr ward fürder gesehn, denn er stürzte hinab in den Abgrund. Doch sterbend das Grab ihm schmückte sodann das ersehnte, das herrliche Röslein. 8. Alexandriner. Auf hohem Felsen blüht ein Alpenröslein rot; Jch möcht' es brechen gern, doch wär es mir zum Tod. Wie bist du, Röslein, doch so zaubrisch anzusehn, Wirst du nicht mein, so muß vor Sehnsucht ich vergehn. Dich schau ich immerfort, du bist mein bestes Gut, Dich muß ich brechen bald, mag fließen auch mein Blut. Jch heft' ans Mieder dich der Herzgeliebten mein, Hat sie nur Freude dran, wird's Lohn genug mir sein. ─ Jn kühnem Wagnis steigt er auf zur Felsenwand Und knickt die Rose schon mit banggestreckter Hand. Doch kehrt er nicht zurück, er stürzet tief hinab, Das Alpenröslein nur schmückt sterbend ihm das Grab. 9. Hinkejamben. An hohen Felsen blühet rot das Alpröslein, Gern würd' ich's brechen, doch dies bringt den Tod sicher. Du bist, o Röslein, anzusehen ganz zaubrisch; Nach dir vor heißer Sehnsucht fast vergehn muß ich. Seit ich dich schaue bist du mein Begehr einzig, Dich muß ich brechen, ob es auch mein Blut kostet. Ans Mieder meiner Liebsten will ich dich heften; Hat sie nur Freud' an dir, ist mir's genug lohnend. ─ Waghalsig steigt er auf an steilen Felswänden Und knickt die Rose droben mit der Hand glücklich; Doch kehrt er nicht zurück mehr, sondern stürzt abwärts, Und nur sein Grab noch schmücket sterbend Alpröslein. 10. Hendekasyllabus. Hoch am Felsen erblüht das rote Röslein, Doch zu brechen es, ist zum Tod gefährlich. Röslein, zauberisch blühest du da droben, Daß mein Sehnen nach dir mich fast vergehn macht. Jmmer schau' ich dich an mit süßem Streben; Brechen muß ich dich noch, ob auch mein Blut fließt. Schön am Mieder der Liebsten sollst du prangen; Wenn sie deiner sich freut, ist's Lohn genug mir. ─ Ohne Zagen erklimmt er hohe Felsen, Knickt mit zitternder Hand die rote Rose. Aber nimmer herniedersteigend stürzt er; Nur das Röschen verbleibt als Schmuck im Grab ihm. 11. Allitteration. Alpenröslein wunderrosig Blühet hoch am Rand des Felsen; Doch es brechen zum Gebrauche, Würde sichern Tod mir bringen. Zartes Röslein, bist so zaubrisch, Daß mich Sehnsucht fast verzehret. Blüt' und Blatt muß mein noch werden, Sollte fließen drum mein Blut auch. Dich zur Lust der Liebsten hol' ich, Die dafür mir süßen Lohn beut. ─ Ohne Zagen klimmt ans Ziel er, Knickt die Rose, doch mit Zittern; Stieg herab nicht, weil er stürzte; Röslein sterbend schmückt das Grab ihm. 12. Assonanz. Hoch am Felsen blüht das Röslein, Es zu holen ist gefahrvoll. O wie blühest du so zaubrisch! Schön'res sah ich niemals annoch. Dich begehr' ich, süßes Röslein, Breche dich von deinem Standort, Daß du werdest Schmuck der Liebsten, Die dafür mir bietet Danklohn. ─ Kühn erklimmt er steile Höhen, Knickt die Rose mit der Hand schon; Aber weh! er stürzt hinunter, Und das Röslein schmückt sein Grab noch. 13. Alte Nibelungenstrophe. Jm fernen Gebirgsdorfe hört man die Sage noch: Ein Alpenröslein blühend stand an dem Felsenjoch. Das sah ein junger Knabe, der sehnte sich sehr darnach, Wie es von ferne schimmerte, weshalb er bei sich selber sprach: Hoch an dem Felsenrande, du Alpenröslein rot, Dich möcht' ich gern gewinnen, doch sicher mir wär's zum Tod. Wie blühst du gar so lieblich, wie zaubrisch bist du zu sehn; Jch fühl' ein brünstig Sehnen nach dir; das macht mich fast vergehn. Jch schaue nach dir nur immer, du bist mein süßestes Gut, Und kühn muß ich dich brechen, ob's kostet auch mein Blut. Jch hefte dich dann ans Mieder der Liebsten und Holden mein; Sie wird sich deiner freuen, und das soll Lohn genug mir sein. ─ Mit kühnen, eiligen Schritten bestieg er die Felsenwand, Und knickte schon die Rose mit bang begieriger Hand. Doch stieg er nicht mehr nieder; er stürzte jäh hinab, Und nur das Alpenröslein schmückte sterbend das einsame Grab. 14. Ghasel. An Felsenhöhen seh' ich sprießen Röslein rot; Wie soll ich lebend dein genießen, Röslein rot? Dein Anblick hat mir Herz und Sinn bezaubert ganz, So daß um dich die Thränen fließen, Röslein rot. Dich schau' ich an, dich will ich wahrlich brechen noch, Müßt ich mein Blut um dich vergießen, Röslein rot! Jch hefte dich ans Mieder dann der Liebsten mein; Das wird sie sicher nicht verdrießen, Röslein rot. ─ Kühn steigt er auf zur hohen, steilen Felsenwand, Und kann mit Fingern schon umschließen Röslein rot. Doch kommt er nicht zurück mehr, sondern stürzt hinab; Den Toten schmückt in Steinverließen Röslein rot. 15. Sonett. Ein Röslein blüht an Felsen rot hoch oben. Was kann nach dir die Sehnsucht denn mir frommen? Dein Anblick macht das Herz mir ganz beklommen, Und all mein Denken ist zu dir gehoben. Um dich nur möcht ich meine Kraft erproben, Und gält's mein Blut, zu dir noch muß ich kommen. Zum Schmuck der Liebsten sei'st du kühn genommen; Wenn dein Besitz sie freut, wird sie mich loben. ─ Schon klimmt er auf zur Höh' mit kühnem Wagen, Um das ersehnte Röslein dort zu pflücken; Schon faßt er es mit bangem Wohlbehagen. Doch heimzukehren wollt' ihm nicht mehr glücken, ─ Er wankt und stürzt und liegt im Grund zerschlagen, Und nur das Röslein darf das Grab ihm schmücken. 16. Oktaven. Ein Röslein blüht am Felsen rot hoch oben. Was kann nach dir die Sehnsucht denn mir frommen? All meine Sinne sind zu dir erhoben, Dein Anblick macht das Herz mir ganz beklommen. Um dich noch möcht' ich meine Kraft erproben, Und gilt's mein Blut, zu dir noch muß ich kommen. Zum Schmuck der Liebsten, will ich her dich bringen; Sie wird mich loben, wenn es wird gelingen. ─ Schon klimmt er auf zur Höh' mit kühnem Wagen, Um das ersehnte Röslein dort zu pflücken, Wo ringsumher nur Felsenwände ragen; Man sieht ihn steigend immer höher rücken. Schon greift er zu mit bangem Wohlbehagen; Doch heimzukehren will ihm nicht mehr glücken. Er wankt und stürzt, und liegt im Grund als Leiche; Das Röslein schmiegt sich ans Gesicht, ans bleiche. 17. Sicilianen. Ein Röslein blüht am Felsen rot hoch oben. Was kann nach dir die Sehnsucht denn mir frommen? All meine Sinne sind zu dir erhoben, Dein Anblick macht das Herz mir ganz beklommen. Um dich noch möcht' ich meine Kraft erproben, Und gilt's mein Blut, zu dir noch muß ich kommen. Jch hole für die Liebste dich, und loben Wird sie gewiß mich, daß ich's unternommen. Der Knabe klimmt zur Höh' mit kühnem Wagen, Um ein ersehntes Röslein dort zu pflücken, Wo ringsumher nur Felsenwände ragen; Man sieht ihn steigend immer höher rücken. Schon faßt er es mit bangem Wohlbehagen; Doch heimzukehren will ihm nicht mehr glücken. Er wankt und stürzt, und liegt im Grund zerschlagen, Und nur das Röslein darf das Grab ihm schmücken. 18. Serbische Trochäen. Alpenröslein blüht am Felsen oben; Knabe sah's und ward voll heißen Sehnens. Weil sein Wunsch ist, bald es zu besitzen, Spricht der Knabe bei sich selber also: „Alpenröslein, blickst so hold hernieder, Und bezaubernd ist dein Blühn zu sehen. Dich eracht' ich für so teure Habe, Daß ich gern um dich mein Leben wage. Für die Liebste hol' ich dich hernieder, An der Brust ihr sollst du stattlich prangen.“ Und er steigt empor zur hohen Felswand, Pflückt die Rose schon, ob auch mit Zittern; Aber nicht mehr kehrt er heim; im Abgrund Liegt er tot, das Röslein fest noch haltend. 19. Romanzenform (mit Anapästen). Ein Alpenröslein blühet Da droben auf Felsenhöhn; Das ist zu sehen so zaub'risch, Das schimmert herab so schön. O Röslein, holdes Röslein, Du bist mein süßestes Gut; Dich muß ich noch gewinnen, Flöß auch mein junges Blut. ─ Der Knabe kühn erklimmet Die steile, felsige Wand, Und knicket droben das Röslein Sich ab mit zitternder Hand. Doch nimmer kehrt er wieder, Er stürzte gar tief hinab. Das teuer errungene Röslein Nur darf noch schmücken sein Grab. (Ohne Anapäst.) Dort hoch am Bergesrücken Erblüht ein Röslein rot; Das möcht' ich gerne pflücken, Doch dräut Gefahr und Tod. O Röslein, dein Erblühen Jst zaubrisch anzusehn; Jch muß um dich mich mühen, Sonst möcht' ich gar vergehn. Dich schau ich mit Begierde, Du mein ersehntes Gut; Um solche Blumenzierde Darf fließen wohl mein Blut. Dich hol' ich jetzt hernieder Zum Schmuck der Liebsten mein; Dich steck' ich an ihr Mieder, Sie wird's vergelten fein. ─ Aufsteigt er kühn in Eile Hinan die Felsenwand, Und knickt nach einer Weile Die Ros' an schmalem Rand: Doch heimwärts kam er nimmer, Er stürzte tief hinab; Des Rösleins Blütenschimmer Doch schmückt sein fernes Grab. 20. Trochäischer Viertakter. Dort an hohem Bergesrücken Blüht ein Röslein purpurrot. Ach, wie gerne möcht' ich's pflücken, Doch mir dräut Gefahr und Tod. Alpenröslein, dein Erblühen Jst so zaub'risch anzusehn; Muß um dich mich ernstlich mühen Oder sehnend gar vergehn. Dich beschau' ich mit Begierde, Du mein heißerwünschtes Gut, Und um deine Blumenzierde Darf ja fließen selbst mein Blut. Freudig hol' ich dich hernieder Zum Geschenk fürs Liebchen mein; Wenn du prangst an ihrem Mieder, Wird sie mir's vergelten fein. ─ Kühnlich steigt er auf in Eile, Hoch hinan die Felsenwand, Und er knickt nach einer Weile Schon die Ros' an schmalem Rand. Doch zur Heimat kam er nimmer; Denn er stürzte tief hinab. Alpenrösleins Blütenschimmer Schmücket einzig ihm das Grab. 21. Jambische Viertakter (mit charakterist. Strophenschluß ). An hohem Felsenrande fern Ein Röslein seh' ich blühen, Das möcht' ich pflücken gar zu gern Und mich darum bemühen. Es blüht so schön, es blüht so rot; Soll ich darum den Weg zum Tod Wagen, zum allzufrühen? Wie bist, o liebes Röslein, du So zaub'risch anzusehen! Mein Sehnen findet keine Ruh Und macht mich schier vergehen. Seit ich dich blühn seh' ferneher, Bist du mein Wunsch und mein Begehr, Anderes bringt mir Wehen. Jch muß, o Röslein, immerfort Den Blick zu dir erheben. Du stehst so strahlend droben dort, Füllst mich mit Wonnebeben. Heiß wallt entgegen dir mein Blut; Dich muß ich brechen, süßes Gut, Kostet es auch mein Leben. O Röslein rot, mein mußt du sein; Jch hole dich hernieder Zum Schmucke für die Liebste mein; Dich steck' ich ihr ans Mieder. Sie wird der Gabe freuen sich, Und ihre Freud' ist dann für mich Neue Belohnung wieder. ─ So steht der Knabe voll Begier, Und schaut das Röslein droben; Nicht bleiben kann er länger hier, Will seine Kraft erproben. Kühn steigt er auf zur Felsenwand, Und knickt die Ros' am steilen Rand. Sollen den Mut wir loben? Er freut sich, daß es ihm gelang, Das Röslein abzupflücken. Jetzt aber sinnt und denkt er bang: Wird auch der Heimweg glücken? Und sieh', er wankt, er stürzt hinab, Das Röslein aber darf sein Grab Welkend im Abgrund schmücken. § 46. Übungen ohne Ende. Jn ähnlicher Weise, wie dies die Übungen des § 44 darthun, lassen sich Übungen mit jedem beliebigen Stoff anstellen. Man nehme beispielsweise das Schützenlied aus Tell (3. Akt 1. Sc.), von dem die erste Strophe etwa so in der Umwandlung aussehen würde: a . Um einen Trochäus verlängert: Mit dem Pfeil und mit dem Bogen Durch Gebirg und Schlucht und Thal, Kommt der junge Schütz gezogen Früh beim ersten Morgenstrahl &c. b . Jambisch: Mit seinem Pfeil und Bogen Her durch Gĕbīrg und Thal Kommt frōh der Schütz gezogen Beim ersten Morgenstrahl. c . Anapästisch: Mit Pfeilen und Bogen Zu Berg und zu Thal Komm' her ich gezogen Beim frühesten Strahl. d . Daktylisch: Wild zu erlegen mit Pfeil und mit Bogen Komm' ich zu Berg, in die Schlucht und zu Thal Her als ein lustiger Schütze gezogen Früh bei des Tages erwachendem Strahl u. s. w. Der Lernende, welcher nach Vollendung ringt, wird die Aufgaben dieses Bandes bis zur Geläufigkeit wiederholen, dazu sich neue Aufgaben stellen, um dieselben mit der Ausdauer eines Rückert zu lösen. (Vgl. S. 50 d. Bds.) Τῆς δ ' ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν ! zu deutsch: Vor die Tugend setzten die Götter den Schweiß! (Hesiod in „Werken und Tagen“. V. 266.) Jn der That war zu allen Zeiten dem gewissenhaften, ernsten und ausdauernden Streben niemals die Palme des Erfolges versagt! Fünftes Hauptstück. Antike Strophenformen. ────── § 47. Vorbemerkungen und Stellungnahme. 1. Nachdem wir in genügender Anzahl Übungen in jambischen, trochäischen, anapästischen und jambisch=anapästischen, daktylischen und künstlichen Reimstrophen geboten haben, lassen wir der Vollständigkeit halber und zum Abschluß der Strophenbildungen noch einige Übungen aller möglichen Rhythmen folgen, nämlich die gebräuchlichsten, beliebtesten, vierzeiligen antiken Strophen, welche durch Zusammensetzung vorgeschriebener Metren herzustellen sind. Große Odenmaße, die nur mit Zuhilfenahme des Bleistifts zu skandieren sind, lassen wir begreiflicherweise gerne bei Seite. 2. Unser ernstes Bemühen, den deutschen Accent in seine Rechte einzusetzen, möchte sich auch bei Bildung antiker Strophenformen bewähren. Jndem wir ─ um nur eines zu betonen ─ von Spondeen u. dgl. sprechen, könnte es für den Kurzsichtigen, Halbgebildeten oder Eingebildeten den Anschein gewinnen, daß wir unserem Prinzip nicht so ganz treu bleiben, sondern dem sog. Quantitätsprinzip Konzessionen machen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Quantitätsprinzip ─ dies soll allen Anhängern desselben nachdrücklichst an dieser Stelle wiederholt sein ─ ist nicht mehr zu rehabilitieren, und selbst wenn es im Alt- und Mittelhochdeutschen nachzuweisen wäre, so darf es doch für uns nicht mehr existieren. Das in der neuhochdeutschen Metrik zu beachtende Gesetz darf nur das der Accentqualität sein! Die Accentqualität richtet sich aber nach der Sprachweise, nach der Prosa und ist durch und durch musikalischer und zugleich logischer Natur. Jeder Vers sollte so gebaut sein, daß er ohne darüber geschriebenes Schema schon prima vista richtig gelesen, resp. betont werden muß, so zwar, daß diese richtige Betonung weder vom Studium noch vom Zufall abhängig wäre. Platen, den Ludwig Eichrodt einen Sprachverderber nennt, fehlt in dieser Beziehung gewöhnlich, was viele seiner Schüler vergeblich zu bemänteln suchen. Freilich erschließt keiner wie er das Geheimnis der Form, ja, gerade durch seine Verstöße und seine Konsequenz thut er es; er verdient daher ernstes Studium und alle neueren Dichter werden bekennen müssen, daß sie in der Lyrik ─ was Praxis anlangt ─ formell ihm, sowie innerlich dem großen Rückert das meiste verdanken. (Man vergleiche Enks deutsche Zeitmessung mit Bezug auf Platen, sowie Rückerts Kritik des Siebenmeers.) Aber alle Verdienste Platens haben seine fehlerhaften, undeutschen Betonungen nicht entschuldigen können. Wir haben es oft genug ausgesprochen und wiederholen es hier ausdrücklich, daß unser Spondeus entweder ein Hochton mit einem Tiefton oder umgekehrt ist, daß es im Deutschen also nur fallende oder steigende sog. Spondeen giebt. Der sog. Spondeus „Ā́cht gīeb“, oder „Gīeb ā́cht“ kann als tonlich schlechter Trochäus oder schlechter Jambus aufgefaßt werden. Man ersieht dies, wenn man ein Wort zusetzt, z. B.: „Ācht giĕbt ēr, nĭcht sīe“; oder „Gĭeb ācht ĭn dēinĕm Krēisĕ“; man ersieht es ferner bei Spondeen wie Bā́umōbst und Ṓbstbāum. Die sog. tonlosen Silben und die Pausen bestimmen alles weitere, und die Volkssprache hilft auch dem verknöchertsten Pedanten auf die richtige Spur. (Jch erinnere beispielshalber nur an die Melodie ihrer Schnadahüpfl. Mancher Schulmetriker würde sicher unser „Ob's d' hergehst“ &c. als Molossus (– – –) bezeichnen, während es doch Amphibrach (⏑ – ⏑) ist, denn der schwere Ton liegt auf „ her “.) Das, was Spondeus heißt, ist im Deutschen nur unter besonderen Umständen möglich: nämlich durch zwei Worte von gleichem Gewicht, zwischen denen eine oder zwei Senkungen verloren gegangen sind, oder wenn in einem Worte sämtliche Silben schwer für die Zunge sind. „ Feldhauptmann “ wäre zu lesen – ⏑ ⏑, „ Feldlager “ – ⏑ ⏑. „ Jm Feld lagert “ bildet einen Antispast (⏑ ─́ – ⏑) und hat den richtigen Spondeus, aber doch nur durch Konzession. (Dieser Antispast ist nämlich type="versmetrik" , wobei das Zeichen ⏜ die unterdrückte Senkung bedeutet.) „Gieb, gieb“ ist ein echter, reiner, unkonzessionierter Spondeus, aber auch mit unterdrückter Senkung. Wir Deutschen lösen niemals eine Länge in zwei Kürzen auf oder rechnen zwei Kürzen für eine Länge. Nicht die Länge der Silbe, nicht ihr sprachlicher Wert, sondern nur ihre logische oder syntaktische Bedeutung und endlich der Rhythmus im ganzen, sowie das nachbarliche Verhältnis im einzelnen bestimmt, was sie ist: ihre Bedeutung hängt also nur vom Accent ab. Dies vorausgeschickt, können immerhin auch die antiken Maße größtenteils nachgeahmt werden; aber die Verteilung der Accente, da= mit sie der antiken Form gleichkommen, ist sehr, sehr schwer! Vor der Hand und bis das deutsche Accentgesetz überall praktische Geltung, Verwendung und Anerkennung gefunden haben wird, heißt es eben, sich so gut als möglich mit „steigenden“ und „fallenden“ Spondeen behelfen. 3. Was die Strophik betrifft, so halten wir dafür, daß ein Übergreifen einer Strophe in die andere im Deutschen gerade so gegen alle Regel der Melodie ist, wie das Übergreifen des Sinnes von einem Hexameter in den andern. Es wäre wohl vom deutschen Dichter zu verlangen, das Versmaß äußerlich richtig zu stellen und den Stoff nach Fuß und Elle abzumessen. Die meisten unserer Dichter (am seltensten der Meister der Ode, Johannes Minckwitz) gestatten sich bis in die Gegenwart nach Art der Alten das Überlaufen einer Strophe in die andere. 4. Man sollte in der Kritik antiker Maße die allergrößte Strenge walten lassen, denn sie nähern sich in unserer neuhochdeutschen Sprache am meisten der Prosa, die ja gleichfalls reimlos ist. Je höheren Schwung sie verlangen und zeigen, desto natürlicher muß ihre Sprache klingen, desto logischer müssen sie sein. § 48. Bildung von sapphischen Strophen. (Trochäisch-daktylischer Rhythmus.) 1. Jn der sapphischen Strophe waltet trochäisch=daktylischer Rhythmus, so zwar, daß jeder trochäischen Verszeile nur ein daktylischer Takt eingefügt ist. 2. Dieser den monotonen, trochäischen Gang unterbrechende Daktylus findet sich bei den Alten in den drei ersten Zeilen der vierzeiligen sapphischen Strophe je als dritter Takt eingefügt, während er im vierten (abschließenden sog. adonischen) Vers am Anfang steht, wie nachstehendes Schema beweist: – ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒ – ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒ – ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏒ Horazisches Schema der kleinen sapphischen Strophe: type="versmetrik" type="versmetrik" type="versmetrik" type="versmetrik" 3. Die Schönheit der sapphischen Strophe liegt in der melodischen Abwechselung des Daktylus mit dem Trochäus, wozu sich in vielen Fällen noch der Spondeus gesellt. Platen und Voß fügten als zweiten und letzten Takt eines jeden Verses einen Spondeus ein. Andere (z. B. Matthisson und Hölty), denen der Spondeus nicht wesentlich war, oder die ihn an die Spitze des Verses rückten, haben den Daktylus schon als zweiten Takt eingefügt (z. B. Eīnsām wāndĕlt dĕin Frēund ĭm Frǖhlĭngsgārtĕn). Ein kirchlicher Dichter verlegte den Daktylus sogar an den Anfang der Verse. 4. Die größte Geschmeidigkeit verliehen der sapphischen Strophe Dichter wie Klopstock, Stolberg, Matthisson &c. dadurch, daß sie den Daktylus in jeder Verszeile um je einen Takt tiefer hinabrückten. Wir empfehlen diese Form nicht, weil sie die Auffassung eines einheitlich gebauten Verses mindestens sehr erschwert. 5. Vielmehr entscheiden wir uns bei unseren Übungen für jene Form, welche nach dem Trochäus den Spondeus und sodann den Daktylus bringt. 6. Der Rhythmus der sapphischen Strophe verlangt mehrfach Spondeen und weibliche Versschlüsse; auch fordert er die Vermeidung des Zusammenfallens von Satz- und Verstakten. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu sapphischen Strophen verarbeitet werden. Segen der Schönheit. Stoff. 1. Wenn ich sinnend über den Marktplatz gehe, fühle ich mich inmitten der wogenden Menschenflut einsam, und ich seufze. ‖ 2. Doch wenn plötzlich aus dem Menschengewühl ein freundliches Frauenantlitz auftaucht und mich anblickt, ‖ 3. um meinem Blicke ebenso rasch wieder zu entschwinden, dann ist mir das Herz wie umgewandelt. Nimmermehr sänge oder erzählte ich, wie mir zu Mut ist, es glänzt mein Blick, ‖ 4. das Blut wallt freier, im Vorwärtsschreiten tröste ich mich und bin erstaunt über den Segen der Schönheit; mit einemmal erscheint mir die Welt freundlich. Lösung. Von Rob. Hamerling. Wandl' ich sinnend über den lauten Marktplatz, Wo des Volks sich drängender Schwarm die trüben Wellen wälzt, da fühl' ich mich einsam, seufze, Leer und schal. Doch taucht aus der Menge plötzlich, Aus dem trüben Larvengewühl ein helles Frauenantlitz, das wie ein selig Wunder Und dem Blick dann ebenso rasch entschwebt ist: O wie rasch auch ist mir das Herz verwandelt! Nimmer säng' und sagt' ich, wie mir geschieht, es Mir, das Blut wallt freier, ich hege wandelnd Holden Trost und staune, wie süß der Schönheit Segen niedertauet, und lieb und schön ist (Verteilung kurzer rhythmischer Reihen wie: „es | glänzen die Blicke | mir“ auf drei Verszeilen sind in Hinsicht auf die äußerliche Schönheit bedenklich.) § 49. Bildung von alkäischen Strophen. (Jambisch-anapästischer und daktylisch-trochäischer Rhythmus.) 1. Die alkäische Strophe hat in den beiden ersten (alkäischen) Versen jambisch=anapästischen Rhythmus, oder (bei Verstärkung der Cäsur durch eine syntaktische Pause) jambischen und daktylischen Rhythmus. Die 3. Verszeile ist ein hyperkatalektischer, jambischer Viertakter; die letzte führt daktylisch=trochäischen Rhythmus ein. Schema: ⏑ – ⏑ – ⏒ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓ ⏑ – ⏑ – ⏒ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓ ⏑ – ⏑ – ⏒ – ⏑ – ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑ 2. Die Schönheit dieser Strophe liegt in ihrer Beweglichkeit, sowie in dem schönen Rhythmuswechsel, der einen charakteristischen Strophenabschluß ermöglicht und sie mehr als andere antike Strophen für unsere Sprache empfiehlt. 3. Wesentlich ist die Cäsur inmitten der beiden ersten alkäischen Verse, die freilich manche Neuere nicht durchweg beachtet haben. 4. Die 5. Silbe der alkäischen Verse ist bei Horaz niemals eine Kürze. Platen hat sich ihn zum Muster gewählt. Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in alkäische Strophen übertragen werden. Abendstimmung. Stoff. 1. Jch schreite am Meere dahin. Feierlich still ist die Natur. Der Mond gießt sein Licht über die brandenden Wogen des Meeres. ‖ 2. Jenseits des Meeres kenne ich ein Grab, wo Dornen und Unkraut wuchern. ‖ 3. Du fernes, verlassenes Grab, ob dich wohl der Mond in der Nacht küßt, wenn der Wind die Gräser bewegt? Mich erfasset großer Schmerz und dazu läuten aus der Ferne die Glocken. ‖ Lösung. Von Ernst Ziel. Am Meer im Zwielicht schreit' ich gesenkten Haupts; Tiefernste Andacht wehet durch die Natur, Und unter blassen Mondesstrahlen Jch weiß ein Grab jenseits des bewegten Meers: Dort wuchert Unkraut rings und der Dornenbusch, Und wenn die Welt entschlief am Abend, Ob dich der Mond, weltfernes, verlass'nes Grab, Wohl nächtens küßt, wenn Wind durch die Gräser streicht? ─ Mich faßt unendlich Weh: Von ferne (Das freundliche Gedicht würde noch größeren Eindruck machen, wenn die beiden letzten Zeilen [d. h. ihr Jnhalt] die 5. und 6. Zeile ergeben würden.) § 50. Bildung asklepiadeischer Strophen. 1. Man unterscheidet zwei Formen asklepiadeischer Strophen. Die erste enthält drei asklepiadeische Verse und einen abschließenden glykonischen Vers, während die zweite an Stelle des dritten asklepiadeischen Verses einen pherekratischen Vers eingefügt hat und dadurch dreigliedrig wird: ein trikolisches Tetrastichon. 1. Form: – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – 2. Form: – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ – – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏒ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ 2. Es herrscht der Choriambus (– ⏑ ⏑ –) vor und zwar ist in der letzten Zeile 1 Choriambus, in den andern Zeilen je 2 Choriamben zwischen einen halbierten gestellt. Die beiden ersten und die beiden letzten Silben jedes Verses ergeben wieder einen ganzen Choriambus. 3. Der den Hauptteil der Strophe bildende asklepiadeische Vers gleicht dem Pentameter durch den Einschnitt des Verses in der Mitte; ja, er müßte als solcher erkannt werden, wenn sein vorletzter Takt anstatt eines Trochäus ein Daktylus sein würde. Der Unterschied liegt darin, daß beim Pentameter der 1. Takt ein Daktylus sein kann, während der vorletzte ein solcher sein muß. (Vgl. Poetik I , 357.) 4. An Schönheit gewinnen die Verse der asklepiadeischen Strophe, wenn sie mit einem trochäischen Spondeus beginnen. Klopstock, Platen u. a. haben ihre Strophen (nach Horazens Vorgang) mehrfach auf diese Weise gebildet ( I , 522 dieser Poetik. Vgl. Platens Werke II , 179). 5. Bei den neueren Dichtern ist der erste Takt meist ein reiner Trochäus. Aufgabe. Nachstehender Text soll in der Form der 2. asklepiadeischen Strophe wiedergegeben werden. An die Gräfin Pieri in Siena. Stoff. 1. Nur wenigen Frauen fielen Schönheit und Reiz anheim; auch Reichtum ist selten verteilt. Aber viel seltener findet sich mit Reichtum und Schönheit ein teilnehmendes, großes Herz vereint. ‖ 2. Mit diesen Vorzügen ausgestattet, sehe ich dich dem würdigen Gatten geeint. Seinem Dasein verleihst du zwar nicht Prunk, wohl aber Gehalt. ‖ 3. Dichtkunst, Musik, Geselligkeit heben dein Leben empor (wie es der Deutschen ziemt), ja, erheben dich aus dem einförmigen Kreislauf des schlaftrunknen Jtaliens. ‖ 4. Mit Gastfreundschaft nahmst du den Dichter auf. Dafür bietet er dir den Scheidegruß, weil der Frühling gekommen ist und er an die Abreise denken muß. ‖ 5. Es ist schön, sich seinen Herd zu gründen; doch nicht minder schön ist es, unabhängig sich selbst zu leben, zu reisen und wohlwollende Menschen kennen zu lernen, ─ gleichsam zu stehen auf hohem Verdecke zu Schiffe. Lösung. Von Platen (Werke II , 186). Schönheit fielen und Reiz wenigen Frau'n anheim, Auch Reichtümer verschenkt selten ein günstig Los; Doch viel seltener giebt es Dem Schönheit es und auch Gaben des Glücks gesellt: Also seh' ich vereint würdigem Gatten dich, Rastlos thätigem Dasein Dichtkunst hebt und Musik, wahre Geselligkeit Hebt dein Leben empor (wie es der Deutschen ziemt) Aus einförmigem Kreislauf, Gastfreundschaftlichen Sinns nahmst du den Dichter auf, Dankbar bietet er dir liebenden Scheidegruß, Weil aufs neue der Frühling Schön ist's, häuslichen Kreis sammeln umher, wiewohl Schön nicht minder, sich selbst leben und frei von Zwang Anschaun Städte der Menschen, Diese Lösung zählt zu den schönsten Oden Platens; leider ist die Skansion nicht durchweg korrekt. Man vergleiche: Platens Skansion. Str. 1. Aūch Rēichtǖ́mĕr Str. 1. Eīn tēilnḗhmĕndĕs Str. 2. Dēm Schȫnhēit ĕs ŭnd āuch Gābĕn Str. 3. āus ēinfȫ́rmĭgĕm Deutsche Betonung. Ăuch Rēichtü̆mĕr Ĕin tḗilnēhmĕndĕs Dĕm Schȫnhĕit ē̆s ŭnd ăuch Gābĕn ăus ḗinfȫrmĭgĕm Die letzte Strophe klingt nicht gut; auch würde die Umstellung der beiden letzten Zeilen zu empfehlen gewesen sein. Sechstes Hauptstück. Dichtungsgattungen mit Bevorzugung des Gelegenheitsgedichtes. (Jm Sinne des § 66 der Poetik, Bd. II .) „Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“ Goethe . ────── § 51. Wie entsteht ein Gedicht? Geheimnisse, allgemeine Gesichtspunkte, Kunstgriffe, Fingerzeige &c. 1. Wer ein Gedicht machen will, wird dazu durch einen Gedanken, durch eine Empfindung, durch eine bestimmte Gelegenheit veranlaßt. 2. Um den jeweiligen Stoff zu gewinnen, muß er sich die Frage vorlegen: Was will ich besingen? An welchem Gedanken soll sich mein Gedicht aufranken? Welchem Gefühle soll es Ausdruck verleihen? Welche Lehre oder Nutzanwendung soll verkörpert wexden? Was will ich erzählen? Was soll dramatisch zur Darstellung gelangen? Was oder wieviel giebt das Gefühl, der Einfall, der Anlaß, die Begebenheit; oder viel häufiger noch: Jst das auch genug? 3. Wo liegt die Pointe und wie gelange ich dazu? 4. Die auf diese Weise anschießenden Gedanken bringe der Lernende (wenigstens im Anfange seines Produzierens) zu Papier, disponiere dieselben, ordne sie (behufs strophischer Einteilung) in Gruppen, suche sie zu idealisieren und ─ zu versifizieren. 5. Er muß geradeaus schauen, niemals seitwärts, und er darf nur bieten, was er beim Geradeausschauen erblickt, ─ sonst nichts! 6. Er muß steigern, viel, aber nicht alles bringen. 7. Er muß das Besondere, das etwa Persönliche &c. zum Allgemeinen erheben. 8. Er muß klar ─ und vor allem natürlich sein. 9. Der Charakter des Stoffes wird Rhythmus, Versmaß, Strophenschema (wie wir dies in den Aufgaben dieses Hauptstücks zeigen werden) meist von selbst ergeben. Der Lernende muß aber darnach wohl prüfen, ob nicht durch Verlängerung oder Verkürzung eines Verses oder einer Strophe, durch veränderte Reimstellung &c. &c. dem Gedichte eine größere Wirkung verliehen werden kann. 10. Und wenn dies bei Einer Strophe nötig geworden, muß er darauf achten, wie er es bei den andern auch so mache, ohne daß der Leser etwas von Überarbeitung merkt. 11. Je strenger die gewählte Form und je enger die Strophe ist, desto besser wird sie für die Übung sein. Wenn der Dichter nur wenig Raum hat, so wird er das Überflüssige (oder doch nicht Notwendige) wegwerfen lernen und bald sehen, wie nüchtern ist, was er behielt. Er wird es ausschmücken wollen und es dabei nach allen Seiten drehen und wenden, bis es klappt. 12. Die dichterischen Erwägungen, Ausschmückungen, Wendungen &c. brechen sich erst beim Versifizieren Bahn. 13. Jn der Ausführung soll der Lernende seiner Phantasie freien, vorwärtsdrängenden Spielraum lassen, sofern er von dem Grundgedanken und dem Ziel seines Vorwurfs nicht abweicht. 14. Die praktische Antwort auf die Frage: Wie entsteht ein Gedicht? bieten die nachstehenden Aufgaben mit ihren Lösungen, die nicht durchweg als Muster oder Schablonen aufgefaßt werden dürfen, wohl aber als instruktive Beispiele für die Technik, wie sie vom pädagogisch unterrichtlichen Standpunkt kaum besser zu wählen sein möchten. 15. Selbstredend müssen wir uns nach und nach immer mehr darauf beschränken, das zu Übende lediglich andeutungsweise und im großen Umriß zu bieten, um allmählich zur selbständigen Produktion überzuleiten. 16. Für Diejenigen, welche durch unsere bisherigen praktischen Übungen noch nicht die erforderliche Fertigkeit im Bilden der Formen erlangt haben sollten (so daß sie bei unserer nunmehrigen Bevorzugung des Jnhalts und Beschränkung auf denselben auch noch mit erheblichen Formschwierigkeiten zu kämpfen haben, vgl. S. 136 Ziff. 5), wiederholen wir die Forderung: behufs Vertiefung in der Technik noch inne zu halten und insbesondere folgende Formen bis zur Geläufigkeit zu üben: a ) Das antike Distichon (Epigramm in 2 Zeilen); b ) das italienische Ritornell (Dreizeile); c ) die Vierzeile ( a b a b oder a b b a in losen Einfällen nach Art von Rückerts Vierzeilen oder Halms Meinungen und Stimmungen); d ) die Achtzeile in allen Formen (vgl. § 41); e ) das Sonett in den Hauptformen (also petrarkisch, spencerisch, shakespearisch); f ) das Ghasel (§ 21); g ) das Triolett und das Rondeau (§ 44). Dies wären die bekanntesten Formen, welche schon in Einer Strophe das ganze Gedicht geben. 17. Aber auch der gewandtere Lernende kann einen Augenblick verweilen, um sich noch in den schwierigsten Formen zu versuchen: a . in der Terzinenform (§ 40), in der Sestinenform ( I , S. 547 dieser Poetik), in der Kanzone ( I , S. 558 dieser Poetik), in orientalischen Formen ( a a a b c c c b d d d b e e e b u. s. w.), in französischen a a a b̗ b b b c̗ c c c d̗ , wo jeder 4. Vers kürzer ist. 18. Auch die Übungen in antiken Versen können vor Eintritt eigener Produktion wiederholt und gesteigert werden. 19. Auf diese Weise bekommt der Anfänger die Technik der Sprache und der Dichtkunst in die Hand; dazu wird ihm auch das Übersetzen aus fremden Sprachen (wo er nur mit dem Formellen zu thun hat), wesentlich nützen. Dies betonen wir hier ausdrücklichst, indem wir auf das 8. Hauptstück verweisen. 20. Wenn der Lernende auf diese Art Gewandtheit und Leichtigkeit erlangt hat, wird er mit Erfolg zu den leichteren, einheimischen Gedichtformen, bei denen die Aufmerksamkeit nunmehr dem Jnhalt zuzuwenden ist, übergehen können. Diese Formen sind im Grunde genommen ja auch nur Nachahmungen. § 52. Die Praxis der Versbehandlung. Unterschied der Versbehandlung in der Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik. 1. Der nämliche Vers ist in der Lyrik strenger nach musikalischen Grundsätzen zu behandeln, als in den andern Arten; er hat die allergrößte Freiheit im Drama. 2. Exempla docent ! Wir finden in Goethe's Jphigenie, im Tasso, in Die natürliche Tochter &c. kaum Einen dramatischen Vers, in Kleists Stücken kaum Einen lyrischen, im Nathan fast nur einen Prosavers, bei Hebbel einen häufig gepreßten dramatischen, bei Halm einen meist lyrisch überschwenglichen, bei Grillparzer (außer in den Trochäenstücken) abwechselnd einen weich lyrischen oder hart dramatischen, bei Schiller nicht selten einen lyrisch überschwenglichen, meist aber schwungvoll dramatischen Quinar. Bei Rückert wie bei Uhland begegnen wir einem undramatischen Quinarjambus u. s. w. 3. Es ist nicht das, was man Sprache nennt, es ist die Vers=, nicht die Wortbehandlung, die das Charakteristische hierbei ausmacht. 4. Und fast möchte man den meisten neueren Dichtern den augenfälligen Beweis liefern, daß sie das eigentliche Verhältnis ihres Verses zu dem versifizierten Gedanken nicht kennen. 5. Wie oft erinnert Goethe's weicher Vers an den ruhigen Fluß der epischen Rede! Wie oft Halms süßlicher an den Würzduft eines überfüllten Blumengartens, an lyrisch stimmende Mondnacht oder Sonnenpracht! Wie verschieden würden diese Dichter den gleichen Gedanken ausdrücken! 6. Der Anfänger möge sich behufs seiner gediegenen Durchbildung und Vertiefung eine kritische Vergleichung der gegebenen Muster nicht verdrießen lassen. Der Zeitaufwand wird sich bei seinen ferneren Arbeiten tausendfach lohnen! § 53. Vorbemerkungen zu den Gelegenheitsgedichten. Allgemeines und Besonderes. Disposition. Gesichtspunkte und Grundsätze. 1. Goethe sagt: Die Welt ist so groß und das Reich des Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. 2. Beim Gelegenheitsgedichte ist nicht nur die Gelegenheit ins Auge zu fassen, sondern sehr häufig auch die persönliche Beziehung zur Feier oder zum Gefeierten, d. i. zum Gegenstande. Gefühl und Anlaß, Zeitumstände und persönliche Verhältnisse müssen entscheiden, ob das Gedicht allgemein oder ganz besonders zu halten sei. Letzteres wird stets nur intim und für die Öffentlichkeit kaum mitteilbar sein. 3. Wichtig ist für die Disposition des Aufbaus von Gelegenheitsgedichten 1. das Motiv, 2. die thematische Arbeit, 3. die Verzierung u. s. w. Die praktischen Beispiele ergeben dem Strebsamen das Nähere. 4. Die von uns gelehrte Bestimmung der Strophen- und Verszahl ist wichtig für den Anfänger. Der Meister wird die Strophenzahl niemals (oder höchst ausnahmsweise) im voraus festsetzen. 5. Wir verwenden die bis jetzt geübten Rhythmen, Maße, Strophen &c., wie dieselben durch den Stoff diktiert werden, da wir von nun an den Schwerpunkt unseres Unterrichts dem Jnhalt zuwenden müssen. 6. Wesentlich ist, daß unsere Gelegenheitsgedichte die wichtigen Dichtungsgattungen der Didaktik, Lyrik, Epik und Dramatik vorführen, so daß wir das vorliegende Hauptstück als die praktische Einführung in die im 2. Band unserer Poetik gelehrten Dichtungsgattungen bezeichnen dürfen. 7. Dabei verfahren wir nach einem festen, auf pädagogischen Grundsätzen beruhenden Plan, indem wir mit den leichtesten Dichtungsgattungen beginnen und (der Mahnung des großen Pädagogen Pestalozzi eingedenk) recht stufenweise zum Schwereren fortschreiten. 8. Wir üben zunächst die einfachsten Formen aus dem Gebiet der Didaktik: also die Rätselspiele, welche der Prosa verwandt sind und sich durch den Umstand empfehlen, daß sie gern von jungen Leuten gebildet werden, die meist nichts weiter als Volksverse zu bilden vermögen. Sodann behandeln wir die wichtigsten Formen der Didaktik, der Lyrik und der Epik bis hinauf zu den einfachen Formen der dramatischen Poesie, deren gründliche Erfassung und Übung zweifelsohne befähigen wird, Stoffe zu größeren Dramen nach den im 2. Bande unserer Poetik gebotenen dramaturgischen Vorschriften erfolgreich zu verarbeiten. ────── I . Gedichte aus dem Bereiche der Didaktik. § 54. Bildung von Rätseln aller Formen. 1. Die leichteste Form der Gelegenheitsgedichte ist das zur allegorisch=didaktischen Poesie gehörige Rätselspiel. 2. Um das in Frage stehende Rätselwort in seinen Merkmalen richtig fixieren zu können, hat sich der Anfänger für eine der nachstehenden Rätselformen zu entscheiden: a . Das Palindrom lautet von vorne wie von rückwärts gelesen gleich (z. B. Edom ─ Mode); b . die Homonyme gebraucht das nämliche Wort doppelsinnig (z. B. Tībĕr und Tĭbēr-Tiberius); c . der Logogriph oder das Buchstabenrätsel erzielt durch Weglassung, Zusatz, Vertauschung eines oder mehrerer Buchstaben einen neuen Sinn (z. B. Pflug, Flug, Lug); d . das Anagramm versetzt einen oder mehrere Buchstaben, um ein neues Wort entstehen zu lassen (z. B. Ampel ─ Lampe); e . das Worträtsel malt den Begriff, das Wesen, den Nutzen, die eigentliche oder auch uneigentliche Bedeutung des zu erratenden Wortes (z. B. Korb in seinem Gebrauch und in seinem figürlichen Sinn); f . die Charade oder das Silbenrätsel giebt die Bedeutung der Silben an, um sodann das zu erratende Wort umfassend anzudeuten (z. B. Augen, Blick, Augenblick). 3. Die Formen a bis c sind poetische Spielereien und stehen der Hauptsache nach an der Grenzscheide der Poesie und der Prosa. 4. Die Formen d bis f sind einer poetischen Behandlung fähiger. 5. Erstes Erfordernis bei Bildung der 3 letzten Formen ist eine genaue Kenntnis von Begriff, Wesen, Jnhalt, Bedeutung &c. des in Frage stehenden Wortes. 6. Es empfiehlt sich, das Einzelne in Prosa zu notieren, um es sodann erst zu versifizieren. 7. Selbstredend ist darauf zu achten, daß der Stoff ebenso durch seinen Jnhalt wie durch die zu erhaltende dichterische Form das Jnteresse fesselt. Doch sind wir gerade bei den Rätseln aus dem in Ziffer 3 angegebenen Grunde in der Auswahl weniger streng. 8. Wir geben von jeder Rätselform eine Aufgabe mit einer aufs notwendige beschränkten Anleitung, die den Anfänger befähigen soll, ähnliche Worte zu wählen und in analoger Weise Rätsel zu bilden. 1. Bildung eines Palindrom. Aufgabe. Das Palindrom soll (in seiner ersten Verszeile) das Wort Edom dem Worte Mode (in der zweiten Verszeile) gegenüberstellen. 1. Man werde sich zunächst über den Begriff der Worte klar, um den Stoff zu gewinnen. Stoff. a . Von Esau's Beinamen Edom (d. i. der Rote) erhielten bekanntlich seine Nachkommen den Namen Edomiter. Das von ihnen bewohnte Land Edom war sehr kriegerisch und verhielt sich feindlich gegen die Juden, denen es beim Zug nach Kanaan den Durchzug verweigerte; es wurde später von Saul erobert und von David unterworfen. b . Liest man das Wort Edom rückwärts, so entsteht das Wort Mode: ein Begriff, den die Juden zu allen Zeiten pflegten; Modeartikel findet man in allen ihren Buden. 2. Es handelt sich darum, das Wesentliche dieses Stoffes in zwei Sätzen zusammenzufassen. 3. Der Anfänger wird bei der Versifizierung an Langzeilen denken. Doch wurde von jeher instinktiv bei derartigen volksmäßigen, prosaverwandten Spielereien dem jambischen Viertakter der Vorzug gegeben. Lösung. Einst war's ein arger Feind der Juden, Doch rückwärts ─ schmückt es ihre Buden. ( NB . Zu Versuchen empfehlen wir die Rätselwörter Nebel ─ Leben; Amor ─ Roma; Stab ─ Bast; Gras ─ Sarg &c.) 2. Bildung einer Homonyme. Aufgabe. Die Homonyme soll die durch den Accent verschiedenartig gewordenen Wörter Tībĕr und Tĭbēr in verschiedenem Sinne gebrauchen. 1. Behufs Feststellung des Stoffes ist zu notieren: Stoff. Der Tībĕr ist der bekannte Fluß, an welchem Rom liegt; Tĭbēr oder Tiberius war jener römische Tyrann und Wollüstling, welcher 37 nach Chr. unter Decken erstickt wurde. 2. Es empfehlen sich für den geringen Stoff ─ ähnlich wie bei der vorigen Aufgabe ─ jambische Viertakter. 3. Der einfache Jnhalt begünstigt die volksmäßigen Reimpaare. Lösung. Giebst du der ersten den Accent, So ist's ein Fluß, den jeder kennt; Versetzest du ihn nach der zweiten: Ein Wütrich ist's in alten Zeiten. ( NB . Zu weiteren Versuchen empfehlen wir Flügel [vom Vogel] und Flügel [Klavier]; Römer [Gebäude in Frankfurt a. M.] und Römer [Jtaliener]; Acht; Hut; Kiel; modern &c.) 3. Bildung eines Logogriph. Aufgabe. Von dem Worte Pflug soll zu diesem Behufe der erste, sodann der 2. Buchstabe weggenommen werden. 1. Stoff. Es ist Charakteristisches von jedem, durch die Weglassungen neu entstehenden Wort niederzuschreiben, also etwa: a . vom Pflug, daß er ruhig seine Bahnen zieht, b . vom Flug, daß er die Luft durchschneidet und das geistige Kriterium des Jdeengangs eines Dichters ist, c . vom Lug, daß er in unserem Gedicht durch Kopfabnahme des zweiten Wortes entsteht. 2. Der breitere Stoff des den Verstand herausfordernden Jnhalts verträgt längere Zeilen, da jede Zeile eine Behauptung zu geben hat. Es dürften sich Alexandriner empfehlen, welche durch ihre konstante Diärese einen Ruhepunkt ermöglichen. 3. Bei der voraussichtlich vierzeiligen Strophe sind Reimpaare angezeigt. 4. Behufs enger Verbindung der Reimpaare wie zur Erreichung eines abgerundeten Abschlusses ist Wechsel des Reimgeschlechts um so mehr nötig, als mit Rücksicht auf den Parallelismus membrorum (der Glieder) keine einzige Zeile verkürzt werden darf. Lösung. Wohlthätig langsam geht das Ganze seinen Gang; Nehmt ihm den Kopf, so fährt's die blaue Luft entlang, Und sein nennt's der Poet; doch böse Leute sagen: Weit eigner wär' es ihm, nähm' man ihm Kopf und Kragen. ( NB . Für weitere Bildungen schlagen wir vor: Schmerz, Merz, Erz, Herz, Scherz; Tasche, Asche; Ziegel, Jgel; Hammel, Hummel, Himmel; Semele, Seele; Greis, Reis, Eis; Treue, Reue; Mohren, Ohren &c.) 4. Bildung eines Anagramms. Aufgabe. Das Wort Rose, bei welchem durch Versetzung des e das Wort Eros entsteht, soll zu einem Anagramm die Veranlassung geben. 1. Stoff. Das Gedicht möge ohne weiteres sagen, daß durch Versetzung des letzten Buchstabens vom fraglichen Worte der Name eines Gottes entsteht. Sodann führe es Eigenschaft oder Bedeutung dieses Gottes (Eros) näher aus. 2. Um die bei Rätseln beliebten jambischen Viertakter zu erhalten, möge jeder Satz (Periode) sich über zwei Zeilen erstrecken und männlich abschließen. 3. Auf diese Weise erhalten wir männliche und weibliche Reime. 4. Wird der Aufgesang aus 2 zweizeiligen Sätzen und der Abgesang aus einem das Ganze charakteristisch abschließenden Reimpaare bestehen, so ergiebt sich für die Lösung folgendes Schema: a b a b c c . 5. Das Reimpaar c c kann verlängert werden und weiblichen Schluß erhalten. Dies gestaltet die Strophe auch äußerlich anmutend. Lösung. Von Th. Körner. Wird vorgesetzt das letzte Zeichen Als Götterknaben schaust du mich; Zeus muß sich meinem Willen beugen, Jch quäle, ich beglücke dich; Aus meinen Händen fallen dir die Lose, Doch ohne Dornen reich' ich keine Rose. ( NB . Weitere Übungen können folgende Worte behandeln: Ampel, Lampe; Leib, Blei; Nagel, Angel, Algen &c.) 5. Bildung eines Worträtsels. Aufgabe. Es soll ein das Wort Schiff behandelndes Worträtsel gebildet werden. 1. Für Erlangung guten Stoffes sind die sämtlichen Merkmale zu vereinigen, welche den Begriff Schiff ergeben oder ahnen lassen. Stoff. Der allegorische Stoff darf den Namen Schiff, den er meint, nicht gebrauchen. Aber er darf das Schiff tropisch als einen Vogel bezeichnen, als einen Fisch (wegen der Leichtigkeit, mit welcher es die Wellen zerteilt), als einen Elefanten (sofern es wie dieser Türme trägt), als eine Spinne (weil es wie diese lebhaft die Füße bewegt). Der Stoff darf schließlich von den Eisenzähnen (Anker) sprechen, die sich so fest anzuklammern vermögen, daß das Schiff jedem Sturme Trotz zu bieten vermag. 2. Geben wir jeder Behauptung eine gebrochen zu schreibende Langzeile von 8 Jamben, so erhalten wir 12 jambische Viertakter. 3. Der Satzabschluß begünstigt männlichen Reim. Es ist also Wechsel des Reimgeschlechts insofern angezeigt, als der Cäsurreim beim jambischen Rhythmus nur weiblich sein kann. 4. Die sechs Behauptungen und Vergleiche (Vogel, Fisch, Elefant, Spinne, Eisenzahn, Kraft) ergeben sechs Langzeilen oder 12 Kurzzeilen, also eine 12zeilige Strophe mit dem reimwechselnden Schema: a b a b c d c d e f e f . Lösung. Von Fr. Schiller. Ein Vogel ist es, und an Schnelle Buhlt es mit eines Adlers Flug; Ein Fisch ist's und zerteilt die Welle, Die noch kein größres Untier trug; Ein Elefant ist's, welcher Türme Auf seinem schweren Rücken trägt; Der Spinnen kriechendem Gewürme Gleicht es, wenn es die Füße regt; Und hat es fest sich eingebissen, Mit seinem spitz'gen Eisenzahn, So steht's gleichwie auf festen Füßen Und trotzt dem wütenden Orkan. ( NB . Zu weiteren Worträtseln empfehlen wir: Feuer, Regenbogen u. a., die Schiller und Körner poetisch behandelt haben.) 6. Bildung von Silbenrätseln (Charaden ). Aufgabe. Jn der zu bildenden Charade soll das Charakteristische von den Augen und dem Blick derselben angedeutet werden, um das Ganze der Zusammensetzung (Augenblick) ahnend zu erschließen. 1. Stoff. Die beiden ersten (die Augen) werfen das dritte (den Blick) uns zu. Mahnung: Ergreift das Ganze (den Augenblick) rasch, denn plötzlich wird es entschwunden sein. 2. Wir bilden zwei ausgedehnte Sätze, von denen der erste die erste Hälfte des Stoffs giebt, während der zweite die letzte Hälfte ausdrückt. 3. Bei gebrochener Schreibung entstehen wie bei der vorigen Aufgabe weibliche und männliche Reime im Wechsel. 4. Die Satzlänge reicht zu jambischen Quinaren aus. Lösung. Von Th. Körner. Freund! werfen einst mit freundlich süßem Glanze Die lieben ersten dir die dritte zu, So fasse kühn und mutig schnell das Ganze, Denn sonst entflieht es dir im Nu. ( NB . Zu Charaden empfehlen sich: Nacht-Schatten; Steuer-Mann; Roß= Bach; Bach-Stelze; Rhein-Fall; Licht-Schere; Gold-Papier &c.) § 55. Bildung von Epigrammen. 1. Es ist vor allem darauf zu achten, daß der erste Teil des Epigramms (der Vordersatz) nur exponiere, während der zweite (Nachsatz oder Klausel) die Pointe zu geben hat, wie dies in charakteristisch kürzester Weise beim epigrammatischen Distichon der Fall ist, wo der Hexameter die Erwartung andeutet, während der Pentameter den Aufschluß giebt. 2. Als präzise Form für das Epigramm ist auch das (§ 38) behandelte Sonett zu erwähnen, das in den ersten acht Versen der Exposition (oder dem Vordersatz) breiteren Raum gewährt, während die sechs folgenden Zeilen den lyrischen Nachsatz (die Klausel) bilden können, wie dies im allgemeinen die A. Möserschen Sonette (9─20 in „Schauen und Schaffen“) zeigen. 3. Zuweilen können mehrere Vordersätze durch einen einzigen Nachsatz ihren Abschluß erhalten. Dies ergiebt das ausgebreitete Epigramm. 4. Beliebte Epigrammformen sind: a . das einfache Epigramm, wie es in elegischer Form (vgl. S. 38), oder in Ritornellform, oder in Vierzeilenform &c. in der Gelegenheitsdichtung (als Stammbuchvers &c.) sich einführt; b . das ausgebreitete Epigramm, welches bei Widmungen (z. B. an Täuflinge, Brautleute &c.), ferner in Trinksprüchen &c. vielfach Verwendung findet. 1. Einfache Epigramme. Aufgabe. Wir veranlassen: a . einen Stammbuchvers, welcher den Ausspruch einer Frau: „ Jch liebe dich “ preist; b . einen Stammbuchvers, welcher sich durch „ Gedenke mein “ selbst empfiehlt. 1. Die Gedanken des Materials dürften folgende sein: Stoff. Zu a : Exposition: Frauenmund ist eine Blume. Klausel: Die Blüte derselben heißt: Jch liebe dich. Zu b : Exposition: Wenn einst dein Blick auf dieses Blatt fällt, Klausel: Gedenke meiner, wie man des Toten gedenkt. 2. a . Schon die erste Verszeile des Stoffes bei a deutet auf trochäischen Rhythmus hin, für den sich auch der zögernde Jnhalt des Verses eignet; b . Dagegen verträgt der vorwärtsblickende, feierlich=elegische Jnhalt des Stoffes von b jambischen Rhythmus. 3. a . Die erste rhythmische Reihe bei a ist ein trochäischer Viertakter und kann ohne weiteres als Maß für die kleine Strophe dienen; b . Die rhythmische Reihe bei b ist ausgebreiteter und erheischt als Gefäß mindestens den jambischen Quinar. 4. a . Wenn bei a die Exposition 1 Zeile erhält, so beansprucht die Klausel deren 2; es empfiehlt sich somit für das Epigramm a die italienische Ritornellform (§ 106); b . Der Stoff unter b kann auf 4 Zeilen ausgebreitet werden, von denen die beiden ersten exponieren, während die zwei letzten die Klausel bieten. Die Schlußzeile mag zur Gewinnung eines freundlichen Abschlusses um 1 Takt verkürzt werden. Lösung. (Stammbuchverse.) a . Ritornellform. Von R. Hamerling. Frauenmund ist eine Blume. Und die Blüte dieser Blume Jst das Wort: Jch liebe dich. b . Vierzeile. Von E. Geibel. Wenn sich auf dieses Blatt dein Auge senkt, Betracht' es still, als wär's mein Leichenstein; Und mild, wie man der Toten sonst gedenkt, Gedenke mein! 2. Ausgebreitetes Epigramm. a . Widmung an einen Täufling. Aufgabe. Exposition wie Klausel eines dem Täufling zu widmenden Epigramms sollen in mehrere Sätze auseinander gebreitet sein. 1. Die Gedanken des Materials dürften etwa folgende sein: Exposition: Alles, was Liebe bieten kann, habe ich als Wunsch für dich ersonnen: Liebe und Hoffnung wünsche ich, endlich Glauben an das Schöne, Gute und Wahre; Klausel: Glaube, Liebe, Hoffnung im Verein gleichen der Sonne. 2. Der würdevolle Stoff beansprucht lebhaften (jambischen) Rhythmus. 3. Als breiteres Gefäß für den Jnhalt ist der Quinar anzuraten. 4. Schon eine oberflächliche Disponierung des Stoffes ergiebt 4 Doppelverse für die Exposition und deren 2 für die Klausel, somit ein 12zeiliges Epigramm. 5. Um den Abschluß der Exposition äußerlich zu markieren, möge das vierte Reimpaar mit dem Reimgeschlecht wechseln. Lösung. Was Liebe wünschen, Treue bieten mag, Das sei mein Wunsch an deinem Wiegentag: Die Liebe wünsch' ich für dein reines Herz, Sie wahre dich vor Leiden und vor Schmerz; Die Hoffnung wünsch' ich, die in Lieb' erglüht, Daß sie dein Blumenleben reich umblüht; Den Glauben auch ans Gute, Schöne, Wahre, Als Führer durch die Reihen deiner Jahre: Ja, Glaube, Liebe, Hoffnung sei'n vereint, Dann ist's des Glückes Sonne, die dir scheint, Und ihre Strahlen leuchten hell und klar Dir freundlich bis zum letzten Lebensjahr. b . Bildung eines Trinkspruchs. 1. Der poetische Trinkspruch beschränkt sich in der Regel auf eine Person, auf eine die Stimmung charakterisierende Personifikation, oder auf einen naheliegenden, humoristisch zu behandelnden Gegenstand; er beleuchtet seinen Stoff von allen Seiten, um ─ ähnlich wie die Priamelform ─ Vordersätze als Prämissen für die Pointe zu gewinnen. Zuweilen erweitert sich der Trinkspruch zu einem mehrstrophigen Gedicht, indem der Dichter von irgend einer Thätigkeit oder einem Vorzuge ausgeht, um im weiteren Verlauf durch geschicktes Heranziehen verwandter oder steigerungsfähiger Momente eine Person auszuzeichnen oder zu besingen. Jmmerhin bleibt er eine Art Epigramm. 2. Wir veranlassen im nachstehenden einen Trinkspruch auf Goethe's Geburtstag. Der Stoff mag sich folgendermaßen aufreihen: Stoff. Wenn auch Goethe im Grabe ruht, so lebt er doch. Andere aber, welche tot sind, scheinen zu leben; sie bewegen sich und scheinen mit Sorgen zu kämpfen. Goethe ist durch eine Kluft von allen Sorgen geschieden. Er lebt und wirkt, da wir streben ihm nachzuringen. Wir trinken darauf, daß unser Streben gelingen möge. 3. Selbstredend ist bei einem, die Unterhaltung belebenden Trinkspruch nur der jambische, oder ─ bei größerer Lebhaftigkeit ─ der jambisch=anapästische Rhythmus angezeigt. 4. Die längere Reihe und der feierliche Charakter des Stoffs weisen auf den Quinar und auf die Oktavenform hin. Lösung. (Oktavenform.) Von A. v. Chamisso. Jch sag' euch, Goethe lebt, ob in der Gruft, Und viele Tote scheinen nur zu leben. Sie regen sich und atmen Gottes Luft Und scheinen vielen Sorgen hingegeben. Jhn trennt von allen Sorgen eine Kluft, Er lebt und wirkt und schafft, da andre streben, Da wir, wie er zu leben, streben, ringen; Ein Glas darauf: es mög' uns auch gelingen! § 56. Kurze lyrisch-didaktische Form. (Vgl. Poetik II , 218.) Aufgabe. Poetischer Gruß mit einem Blumenstrauß. Disposition. 1. Das Gedicht soll zwei Gedanken ausprägen: a . der herbstliche Frost hat ein paar Blumen für dich verschont; b . ich will ihm gleichen und dir meine letzten Poesien widmen. 2. Die Gedanken des Stoffes mögen sich in folgender Ordnung anreihen: Stoff. Jn trüben, kalten Tagen | hat der Herbst einige blühende Blumen | aufgehalten, | damit du sie empfangest. | Jch will diesem Herbste gleichen! | Wenn dereinst über meine poetischen Wälder | und über die Blumen meiner Gedanken | eisige Lüfte wehen, | dann will ich dich noch | mit dem letzten Grün schmücken. ‖ 3. Die elegische Stimmung dieses Stoffes weist auf sinkenden, trochäischen Rhythmus hin. 4. Die kleinen Stoffgruppen empfehlen den Viertakter. 5. Der Stoff enthält ─ nach Art des Epigramms ─ Exposition und Klausel und ist somit auf eine einzige Strophe zu verteilen. 6. Zur Verbindung derselben ist es empfehlenswert, der Schlußzeile der Exposition wie der Klausel das gleiche Reimecho zu verleihen. Die übrigen Verse mögen durch umarmende Reime ( a b b a ) und Reimpaare zusammengefügt werden. Lösung. Von N. Lenau. Jn den trüben, in den kalten Tagen, die uns heimgesucht, Hat der Herbst auf ihrer Flucht Letzte Blumen aufgehalten, Um sie dir zu schenken! Diesem Herbste will ich gleichen: Wenn auf meine lauten Wälder, Blumigen Gedankenfelder Mir die Todeslüfte streichen, Daß sie schweigen und verblühn, Will ich mit dem letzten Grün Deiner noch gedenken. NB . Das Gedicht hat den Fehler, die Worte „kalten Tagen“ in 2 Verse zu verteilen. § 57. Poetische Epistel. (Vgl. Poetik II , 212.) Aufgabe. Epistel eines Genesenen an seinen Arzt. 1. Disposition. Das Gedicht möge in seinem ersten Teile ausführen, wie der genesene Dichter der heilkräftigen Nymphe eines Badeortes opferte und ihr einen krystallenen Pokal schenkte. Die didaktische Pointe bildet sodann der Befehl dieser Nymphe, den weingefüllten Becher ihrem Diener zu widmen. 2. Der Stoff wird sich etwa folgendermaßen anordnen: Stoff. Der jüngsten Nymphe im Schwesternchor, | welche Wunder wirkt in ihrem bescheidenen Brunnen-Tempel | und sich selbst eine Zukunft prophezeit: | goß ich in frühester Tagesstunde | Opfermilch aus | und schenkte ihr ein krystallenes Weihegefäß. | Jn der Tiefe rauschend, sprach sie: | Meinem Diener bringe den Pokal | gefüllt mit der Gabe jenes Gottes, | der meinen Berg mit seinen Reben schmückt, | obwohl er meine Lippen nicht zu berühren wagt. | 3. Die antiken Bilder und Namen und die langen rhythmischen Reihen weisen auf den neuen Senarius hin, dem ursprünglichen attischen Trimeter. 4. Wegen der fortlaufenden Rede möge derselbe reimlos sein. 5. Bei dem einzelnen Senare ist die wechselnde weibliche Cäsur zu beachten, durch welche die nunmehr mit einer Arsis beginnende zweite Vershälfte fallende Tendenz erhält, eine Abwechselung, welche ein Schönheitsmittel des Verses ist. Lösung. Von E. Mörike. Der jüngsten in dem weit gepriesnen Schwesternchor Heilkräft'ger Nymphen unsres lieben Vaterlands, Die wunderthätig im bescheidnen Tempel wohnt, Sich selber still weissagend einen herrlichern; Jn deren schon verlorne Gunst du leise mich An deiner priesterlichen Hand zurückgeführt: Heut' in der frühsten Morgenstunde goß ich ihr Die Opfermilch, die reine, an der Schwelle aus, Und schenkte dankbar ein krystallen Weihgefäß. Sie aber, rauschend in der Tiefe, sprach dies Wort: Bring meinem Diener, deinem Freunde, den Pokal, Mit jenes Gottes Feuergabe voll gefüllt, Der meinen Berg mit seinen heiligen Ranken schmückt, Obwohl er meine Lippen zu berühren scheut. § 58. Wirkliches Lehrgedicht. (Vgl. Poetik II , 219.) Aufgabe. Gedicht für einen Wohlthätigkeitszweck. 1. Disposition. Ein Gedicht zum Besten eines Asylvereins für Obdachlose ist zu bilden, welches in seiner Einleitung den grimmig kalten Winter mit seinen eisigen Ostwinden, Schneestürmen und Nordlichtern in der Absicht schildert, in seinem Hauptteil die Hilfsbedürftigkeit der Obdachlosen zu malen, Wahrheiten auszusprechen und schließlich zur wohlthätigen Liebe aufzufordern. 2. Die der Religion, der Moral und dem Leben entstammenden Gedanken dieser Disposition ergeben sich von selbst. Wir breiten sie dem Anfänger wie eine Paraphrase aus; der geübtere, kühne Kunstjünger mag sich dieselben selbst schaffen. Stoff. Der Winter mit seinen Ostwinden und seinen Schneestürmen kommt ins Land gefahren. ‖ Bei Nordlichtschein jagt der beutegierige durch unsere Steppen und fällt in unsere Hürden ein. ‖ Er legt dem Lande seine Eisesfesseln an. ‖ Jhn hindert weder das Sonnenlicht bei Tag, noch das blitzende Firmament bei Nacht. ‖ Venus ist wie eine flammende Mondsichel anzusehen. ‖ Und das Frührot ist duftumwallt: ─ wehe, daß es Arme giebt, wenn in der eisigen Kälte die Wolke zerstiebt. ‖ Wehe, daß aus den Nordlichtgarben kein Korn zu dreschen ist. ‖ Wehe, daß kein Obdachloser an dem ewigen Himmelsfeuer seine Hände wärmen kann. ‖ Wehe, daß das Himmelsgewölbe das einzige Obdach für Kranke und Hungernde ist. ‖ Wehe, daß so manche Kinder, Weiber und Greise ärmer daran sind, als die Vögel. ‖ Wehe, daß inmitten unseres geselligen Getriebes, inmitten von Börsen, Bällen und Waffenspielen Obdachlose sich finden können. ‖ Wehe über all' die alten Wunden der Menschheit. Auf, helft nach eurem Teil! ‖ Ziehe hinaus, mein Lied, und erspähe warme Herzen. ‖ Singe das Wort Liebe: nur die Liebe vermag die Welt zu heilen. ‖ 3. Dieses für die großen Kreise des Volks bestimmte Gedicht muß volksmäßige Form erhalten, also volksliedartige Verse und Strophen, ähnlich etwa wie die wirksamen Volkslieder: Jnsbruck, ich muß dich lassen; Es wollt' ein Jäger jagen; Jch hört' ein Sichlein rauschen; Des Pfarrers Tochter von Taubenheim; Die Königskinder u. a. (Vgl. II , 83. 85. 86 dieser Poetik.) 4. Diese eben genannten Volkslieder sind sämtlich aus jambischen Dreitaktern aufgebaut, für welche auch der obige Stoff besonders geeignet erscheint. 5. Die kleinen volksmäßigen Strophen sollen aus je zwei Reimpaaren bestehen, von denen behufs Erreichung eines strophischen Charakteristikums immer das zweite männlichen Abschluß haben möge. Lösung. Von F. Freiligrath. Der Winter kommt gefahren, Er treibt die Welt zu Paaren, Der Ostwind ist sein Speer, Der Schneesturm sein Gewehr Mit eisbehangner Schleppe, Ein Beutefürst der Steppe, Fällt er bei Nordlichtschein Jn unsre Hürden ein. Und richtet seine Zelte, Und schlägt das Land mit Kälte, Und legt ihm, der Tyrann, Wildstarre Fesseln an. Derweil bei Tag die Sonne Strahlt herrlich und in Wonne, Und Nächtens ruhig brennt Und blitzt das Firmament. Venus mit prächt'gem Scheine, Beinah wie eine kleine Mondsichel anzusehn, Flammt nieder ernst und schön. Und o, des duftumwallten, Des knisternden, des kalten Frührots! Die Wolke stiebt! ─ Weh, daß es Arme giebt! Weh, daß es giebt, die darben, Weh, daß aus Nordlichtgarben Zu frohem Erntefest Kein Korn sich schwingen läßt! Weh, daß, der Not zu steuern, An jenen ew'gen Feuern Kein obdachloser Mann Die Hand sich wärmen kann! Weh, daß dies glüh'nde, blanke Gewölb für tausend Kranke Und Hungernde zur Frist Das einz'ge Obdach ist! Daß Kinder, Weiber, Greise, Ärmer als Rab' und Meise, Nicht wissen, wo zu Nacht Das Bett für sie gemacht. Und alles das inmitten Der Wagen und der Schlitten, Bei Börse, Bank und Ball Und stolzem Waffenschall! Weh, all der alten Wunden Der Menschheit, oft verbunden, Und immer noch nicht heil! ─ Auf, wirk auch du dein Teil! Auf, rühr' auch du die Schwinge, Flieg aus, mein Lied und singe! Flieg aus! in Reif und Schnee Nach warmen Herzen späh! Flieg aus! O sieh, schon feuchten Sich Augen! Augen leuchten! Sieh, Hände weit und breit Jn Liebe hilfbereit. Das ist das Wort! Ja: Liebe! Sing' immer: Liebe! Liebe! Die Liebe hegt und hält, Die Liebe heilt die Welt. NB . Trennungen wie Str. 5: kleine Mondsichel, und Str. 6: kalten Frührots, und Str. 9: blanke Gewölb, sind nicht zu empfehlen. ────── II . Gedichte aus dem Bereiche der Lyrik. A . Formen ruhiger Empfindung. § 59. Elegisches Gedicht. (Vgl. Poetik II , 119.) Aufgabe. Ein Abschiedsgedicht der Schwester an die Braut zum Hochzeitstage. Disposition. 1. Du scheidest heute von uns und lässest mich zurück; ohne dich wird alles rings herum öde und leer sein. Jch darf an deinem Hochzeitsfeste nicht klagen. Nimm den Brautkranz von mir; er möge dich in der Ferne an die Heimat erinnern. 2. Diese Gedanken lassen sich etwa folgendermaßen erweitern: Stoff. Noch heute wirst du uns verlassen. Dein Antlitz erglänzt in Freuden wie dieser Kranz in Blüten. ‖ Mir bleibt der Schmerz darüber, daß ich dich nicht mehr sehen soll. ‖ Jedem Orte, dem Klaviere, den Blumen &c. wirst du fehlen. ‖ Jch hätte alle Ursache zu weinen und muß mich doch heiter zeigen! ‖ Laß mich meiner Pflicht nachkommen und dir den Brautkranz überreichen. ‖ Trag' ihn zum Andenken an uns und an die Heimat. ‖ 3. Der jambische, fröhlich fortdrängende Rhythmus, den ein Brautgedicht beanspruchen möchte, kommt mit jedem Takt ins Stocken, so daß das durch und durch elegische Gedicht aus trochäischen Satztakten mit Anakrusis (Auftakt) bestehen wird, also nur äußerlich jambische Form trägt. 4. Die sechs Stoffgruppen prädestinieren sechs Strophen, von denen jede freilich nur 2 Langzeilen (oder 4 Kurzzeilen) umfassen kann. 5. Zum Abschluß der Langzeilen eignet sich männlicher Schluß. Es werden demnach weibliche Reime mit männlichen wechseln, wodurch sich das Reimschema a b a b ergiebt. Lösung. Von Paul Heyse. Nun willst du, liebe Schwester, scheiden, Eh' noch ein Tag zur Rüste geht. Dein Leben steht in hellen Freuden, Wie dieser Kranz in Blüten steht. Nun bleibet meins, von dir verlassen, Jm grünen Schatten still zurück, Soll nicht dein Leben mehr umfassen, Nicht mehr gedeihn an deinem Blick. Wie wird in dem gewohnten Zimmer Mir jede Stätte fremd und leer! Dich find' ich am Klaviere nimmer, Dich nicht bei deinen Blumen mehr. Wohl hätt' ich Grund, vollauf zu klagen, Und ach, wie viele stimmten ein; Doch ziemt es sich an Festestagen Bescheiden und vergnügt zu sein. Des frohen Dienstes laß mich warten, Und nimm in deiner Wonne Glanz Aus meinem grünen Mädchengarten Den besten Schmuck, den reinen Kranz. Trag ihn in freudigen Gedanken; Und muß es sein, und gehst du fort, Grüßt doch aus seinen zarten Ranken Heimat und Jugend dich auch dort. § 60. Jdyllisches Gedicht. (Vgl. Poetik II , 122.) Aufgabe. Ein Geburtstagsgedicht für den Freund. 1. Disposition. Das Gedicht soll nachstehenden Gedanken dichterischen Ausdruck verleihen: Du bist für die Freundschaft geboren; du bist der Frieden ─ umringt vom Frieden. Dich liebt die Sonne. Kind und Gattin gedeihen. Die Schatten der Seligen mögen dich schützend umgeben. 2. Der Stoff ordnet sich folgendermaßen an: Stoff. Freue dich über dein Los; dir ward eine treue Seele gegeben; am heutigen Feste bezeugen wir's. ‖ Selig ist, wer im Hause Frieden und Liebe findet; manches Leben ist verschieden wie Licht und Nacht; du wohnst in goldner Mitte. ‖ Der gütige Gott bewahrt deine Güter. ‖ Kind und Frau gedeihen dir; auch die geliebten Schatten der Seligen sind an dich gewöhnt. ‖ Möget, ihr Schatten, ihn behüten, und wenn widrige Winde über Land und Haus wehen, so ruhe sein Herz in eurer Erinnerung aus. ‖ Aus Freuden reden wir von Sorgen. Das ernste Lied erfreut wie dunkler Wein. Morgen ist das Wiegenfest vorüber und alles geht wieder seinen gewohnten Gang. ‖ 3. Der freudeentquollene Stoff mit seiner bewegten Tendenz bedingt jambischen Rhythmus. 4. Die durchschnittlich längeren Reihen des Stoffes ermöglichen den dem Charakter des Gedichts am meisten zusagenden Quinar. 5. Die sechs Gruppen des Stoffs verlangen zu ihrer Ausführung sechs Strophen. 6. Der Stoff einer jeden Gruppe reicht zu 4 Verszeilen aus. 7. Zur Markierung des Schlusses einer jeden Strophe möge je die letzte Zeile um einen Takt verkürzt werden. Lösung. Von Fr. Hölderlin. Sei froh! du hast das gute Los erkoren, Denn tief und treu ward eine Seele dir; Der Freunde Freund zu sein, bist du geboren, Dies zeugen dir am Feste wir. Und selig, wer im eignen Hause Frieden, Wie du, und Lieb' und Fülle sieht und Ruh; Manch Leben ist, wie Licht und Nacht, verschieden, Jn goldner Mitte wohnest du. Dir glänzt die Sonn' in wohlgebauter Halle, Am Berge reift die Sonne dir den Wein, Und immer glücklich führt die Güter alle Der kluge Gott dir aus und ein. Und Kind gedeiht und Mutter um den Gatten, Und wie den Wald die goldne Wolke krönt, So seid auch ihr um ihn, geliebte Schatten! Jhr Seligen an ihn gewöhnt! O seid mit ihm! denn Wolk' und Winde ziehen Unruhig öfters über Land und Haus, Doch ruht das Herz von allen Lebensmühen Jm heilgen Angedenken aus. Und sieh! aus Freude sagen wir von Sorgen; Wie dunkler Wein, erfreut auch ernster Sang; Das Fest verhallt, und jedes gehet morgen Auf schmaler Erde seinen Gang. § 61. Geselliges Gedicht. Aufgabe 1. Zum Geburtstage eines scheidenden Freundes ist ein Gedicht zu bilden, das zugleich Abschiedsgedicht wird. 1. Disposition. Das Festlied ist zum Abschiedsgesang geworden. Die heimgegangenen Gestalten fragen, was dich aus unserer Mitte vertreibt. So möchte auch ich fragen. Wenn du einstens zurückkehren wirst, so findest du bei mir das alte Herz. 2. Diese Gedanken lassen sich folgendermaßen erweitern: Stoff. Dein Wiegenfest ist zur Abschiedsfeier geworden. ‖ Witz und Laune vermag ich heute nicht zu bieten, so nimm mit einem Abschiedslied vorlieb. ‖ Nicht will ich in deine Zukunft blicken, vor der mir bangt, da du dich dem Weltengewühle zuwendest; aber ich will der schönen, entflohenen Stunden gedenken, die mich deinem Herzen verbanden. ‖ Es nahen dir die freundlichen, längst heimgegangenen Gestalten, um dich noch einmal zu grüßen. ‖ Und die Geister vergangener Tage möchten dich fragen, wie du so kühn sein konntest, so viel Teueres zurück zu lassen und Ungewissem nachzujagen. ‖ Auch mein Herz möchte diese Frage stellen, ohne deine Antwort zu erwarten, die ich in deinen Augen lese. Denn nie wirst du den Wiegentag wieder in so deutscher Weise im Bruder- und Freundeskreise feiern. ‖ Vielleicht suchst du dereinst wieder den Frieden des stillen Lebensabends auf; wenn du dann zu uns zurückkehren wirst, so findest du auch noch beim Greise das alte Freundesherz. 3. Für diesen, das ununterbrochen fortquellende Gefühlsleben zum Ausdruck bringenden Stoff eignet sich wegen seines lyrischen, ruhelosen Bewegtseins jambischer Rhythmus. 4. Die längeren Stoffgruppen deuten auf Quinare. 5. Der Stoff zerfällt in 7 Gruppen, deren poetische Behandlung ein siebenstrophiges Gedicht beansprucht. 6. Da der Stoff der Einzelgruppe für die Oktave nicht zureichend ist, so empfehlen wir sechszeilige Strophen, die durch geschickte Reimverschlingung gegen das Auseinanderfallen in 2 Dreizeilen zu sichern sind. 7. Das empfehlenswerteste Reimmuster ist das bekannte Reimschema von Schillers Polykratesstrophe ( a a b c c b vgl. I , 657 dieser Poetik). Lösung. Von E. v. Houwald. Dein Wiegenfest, das wir so oft besungen, Das wir, von Wonn' und Ahnungen durchdrungen, Verjubelt oft, verträumt, verlacht, verweint, Ruft heute mich zu deiner Abschiedsfeier, Und stimmt die kleine, fast bestaubte Leier Noch einmal dir, du mein geliebter Freund. Und wenn ich statt der heitern Rundgesänge Dir in dein Fest nur Trauertöne menge, Wirst du mir dann, mein Freund, dies auch verzeihn? Sieh, Witz und Laune kann ich dir nicht bringen, Zwar hallt die Saite, und ich werde singen, Doch soll's ein Abschiedslied dem Freunde sein. Nicht vorwärts schau ich auf den Weg zum Ziele, Den du dir wählst; mir bangt, daß zum Gewühle Der großen Welt du wendest deinen Lauf; Nein, mahnend dich an die entfloh'nen Stunden, Die mich auf immer an dein Herz gebunden, Deck ich der Vorzeit heil'gen Schleier auf. Und sieh, da stehn die freundlichen Gestalten! ─ Sie nahen dir, nicht dich zurückzuhalten, Nur grüßen wollen sie dich noch einmal: Da stehn sie alle, die schon heimgegangen, Da steht des Herzens heißeres Verlangen, Da steht der Seele hohes Jdeal. Da stehn die Geister der vergangnen Tage, Und alle wagten gern an dich die Frage: „Was treibt dich denn aus unsrer Mitte fort? Wie konnte denn dein Herz die Kühnheit fassen, So vieles Teure hier zurückzulassen, So möchte auch mein liebend Herz dich fragen, Du aber sollst mir nicht die Antwort sagen, Nur lesen will ich sie in deinem Blick. Doch so im Bruder- und im Freundeskreise, Bei treuer Liebe und bei deutscher Weise, So kehrt dir dieser Tag doch nie zurück. Und einst vielleicht, des Glanz- und Kampfes müde, Suchst du am stillern Abend wieder Friede, Und hast du dann dir unsre Flur erwählt, Dann findest du dies Herz auch noch im Greise, Der still und fröhlich in der Seinen Kreise Den Kindeskindern noch von dir erzählt. Aufgabe 2. Widmungsgedicht zum Feste einer goldenen Hochzeit. 1. Disposition. Das Gedicht soll folgende Gedanken ausführen: Schön war euer Vermählungstag, schön war auch euer Silberfest, am schönsten ist der goldne Hochzeitstag. 2. Diese Gedanken können also entwickelt werden: Stoff. Fünfzig Jahre sind seit eurem ersten Hochzeitstag verflossen. Es war ein schöner Tag, an welchem zum erstenmal die Namen Gatte und Gattin ertönten. Schön war auch der Tag, an welchem ihr euer silbernes Ehejubiläum feiertet. Doch am schönsten ist es, daß ihr euer goldnes Hochzeitsfest erlebtet. Drum nahen Kinder und Enkel mit diesen Wünschen: Wir grüßen euch, indem wir gerührt die reichen Jahre eures Ehestands überblicken. Heil euch, die ihr in allen Wechselfällen Liebe bewahrt habt. Glücklich möget ihr dereinst das Demantfest feiern. 3. Der freudig stimmende, fast dramatisch belebte Stoff verlangt jambischen Rhythmus, jambische Quinare. 4. Bei der Unregelmäßigkeit der Stoffgruppen kann von symmetrischen Strophen keine Rede sein. Es empfehlen sich vielmehr Reimpaare, oder (je nach der zusammen zu schließenden Stoffgruppe) Strophen mit gekreuzten Reimen. 5. Eine Abwechselung im Reimgeschlecht ist für Markierung der Strophenschlüsse empfehlenswert. 6. Bei diesem improvisierten Gedichte können einzelne nicht ganz reine Reime, sofern sie sich wenigstens im Laute decken (z. B. heute ─ Freude, erreicht ─ verzweigt, Thaten ─ Pfaden) passieren. Lösung. Der Jahre fünfzig sind verflossen heute, Seit am Altar in Glück und höchster Freude Ein lieblich Brautpaar auf den Knieen lag: Es feierte den ersten Hochzeitstag. Schön war der Tag, an dem zum erstenmale Der Name Gatte, Gattin war ertönt, Als einst zur Pilgerschaft im Erdenthale Des Priesters Segen diese zwei gekrönt. Doch schön war's auch, als nach entflohnen Jahren Ein Silberfeier-Morgen sie vereint, Und im Bewußtsein, daß sie glücklich waren, Wohl manche Freudenthräne sie geweint, Als liebend in der Kinder frohem Bunde Das Glück vergangner Zeiten sich erneut, Und dann das Brautpaar mancher Lebensstunde Erinnernd, glücklich, liebend sich gefreut. Am schönsten ist's, daß siegend es erreicht Des goldnen Hochzeitfestes Freudenmahl. Heut' naht mit diesem Rufe weitverzweigt Der Kinder und der Enkel stolze Zahl: „Heil, dreimal Heil! dem teuren Jubelpaare! Wir grüßen euch im Herzen froh bewegt, Und überschau'n gerührt die reichen Jahre, Die ihr verbunden habt zurückgelegt; „Heil, dreimal Heil! Jn Freuden, Schmerz und Mühen Bewahrtet ihr des Liebens süße Lust, Und was dereinst das Herz ließ hold erglühen, Hat fortgelodert still in eurer Brust. „Heil, Jubelpaar, Heil euren reichen Thaten, Und Glück und Segen euren Segenspfaden! Es find' nach frohen, reich beglückten Stunden Das Demantfest, wie heut', euch froh verbunden!“ Aufgabe 3. Widmungsgedicht für einen wiedergenesenen, greisen Vater. 1. Disposition. Was soll das Gedicht erzielen? a . Es soll dem Schmerz über die Erkrankung, und dem Jubel über die Wiedergenesung Ausdruck verleihen; b . es soll ausführen, was vom Himmel für den Kranken erfleht wurde, und c . es soll Wünsche darbringen. 2. Ohne noch auf die Ausführung dieser Disposition einzugehen, so deutet schon die fortdrängende Absicht des zu schaffenden Gedichts in ihrer freudigen Tendenz, sowie der feierliche Charakter des Stoffes auf jambischen Rhythmus und auf eine kunstvollere Strophenform hin. 3. Es bleibt die Wahl zwischen Oktaven und Terzinen. 4. Wir entschließen uns für die schön verschlungenen Terzinen, die eine ununterbrochene Verbindung des einheitlichen Gedankens ermöglichen. 5. Demzufolge ordnen wir unser Material in lose Gruppen an, von denen jede den Stoff für eine Terzine ergeben soll. (Der Geübtere mag sich den Stoff selbst ausspinnen.) 6. Wir deuten den Terzinenreim durch gesperrten Druck an; selbstredend kann von unserem Reime je nach Neigung und Bedürfnis abgewichen werden. Stoff. 1. Ernste Krankheit entzog dich uns. ‖ 2. Wir erflehten dein Leben mit diesem Gebete: ‖ 3. Gnädiger Gott, lasse ihn genesen; nimm uns die große Angst ab. ‖ 4. Gott erhörte unser Flehen; der Genesung Kunde erscholl. ‖ 5. Vergessen waren alle Mühen. Nun bringen wir diese Wünsche: ‖ 6. Neu wachse dein Leben; der Himmel schenke Kraft zu neuen Thaten. ‖ 7. Er leite dich in Freud und Leid. ‖ 8. Du mögest dich fühlen wie in einem Frühlings haine. ‖ 9. Der Sonnenschein des Glücks möge, über dem Haine erglänzend, ein Bild des Edlen und Schönen hervorzaubern. ‖ 10. Jeder Baum sei ein Sinnbild neuer Kraft, jeder bedeute ein neues Lebensjahr. ‖ 11. Jeder Zweig prophezeie einen sonnigen Freuden tag. ‖ 12. Jedes Blatt künde eine frohe Stunde. ‖ 13. Aus dem Säuseln der Blätter ertöne dir frohe Kunde von den Deinen ‖ 14. bis an dein glücklich Ende. Lösung. 1. Der wärmste Liebesblick war uns entschwunden, Als dich, mein Vater, Krankheit trüb umzog, Als deine Lebenskraft lag festgebunden. 2. Da war's die Liebe, die zum Lichtquell flog, Erbittend so dein unersetzlich Leben Vom ew'gen Himmel, der dich uns entzog: 3. „O, gnäd'ger Gott, du wollest wiedergeben Den Vater uns, des Krankheit übergroß, Du mögst die Angst von unsern Herzen heben.“ 4. Da wandte Gott das dunkle Todeslos; Und der Genesung frohe Zauberkunde Wie Balsam sich ins wunde Herz ergoß. 5. Aufs neue wardst geschenkt du unserm Bunde, Vergessen waren Sorgen, Angst und Müh, Und dieser Wunsch entquoll der Deinen Munde: 6. „Dein Leben, Dulder, grüne neu und blüh, Der Himmel laß in Gnaden dir geraten, Was deine Lieb erstrebte spät und früh. 7. „Er schenk dir Kraft zu neuen Liebesthaten, Er stärke dich im Frieden wie im Streit, Er leite gnädig dich auf Blumenpfaden. 8. „Jn huldvoll dir beschiedner Lebenszeit Mögst du dich fühlen wie im Frühlingshaine, Wo auszuruhen jeder ist bereit. 9. „Dein Auge schweife froh im Sonnenscheine, Und, wo es weilet, mög ein freundlich Bild Das Edle, Schöne finden im Vereine. 10. „Ein jeder Baum im sprossenden Gefild Ein neues, frohes Lebensjahr dir deute Voll edler Früchte ewig schön und mild. 11. „Und deinem Zukunftssein zur steten Freude Sei jeder Zweig ein wonn'ger Freudentag, Erprangend sonnighell und klar wie heute. 12. „Und jedes Blatt an jedem Zweige mag Bedeuten eine stillbewegte Stunde, Durchzittert von des Glückes Herzensschlag. 13. „Und lispelnd zieh aus stillen Haines Grunde Durch alle Blätter, teurer Vater, dir Von deinen Kindern allzeit frohe Kunde, 14. „Bis der Vollendung Kranz schmückt dein Panier!“ § 62. Religiöses Lied. (Vgl. Poetik II , 123.) Aufgabe. Zum neuen Jahr. 1. Disposition. Zum neuen Jahre wünsche ich neuen Segen, neue Hoffnung und ein neues die Schuld vergessendes Herz. 2. Der Stoff von jedem dieser Einzelwünsche kann zu einer Strophe ausgebreitet werden, so daß sich ein dreistrophiges Gedicht ankündigt. 3. Die gedanklichen Momente mögen sich folgendermaßen entwickeln: Stoff. Zum neuen Jahre wünsche ich neuen Segen, denn unergründlich an Segen ist der Brunnen Gottes. Bald werden die Fluren wieder mit grüner Saat und goldenem Korn überdeckt sein. ‖ Zum neuen Jahre wünsche ich neue Hoffnung, denn noch jedes Jahr brachte Vogelsang und Blumen, und so soll auch dieses Jahr uns Freude bringen. ‖ Zum neuen Jahre wünsche ich ein neues Herz, welches ─ einem frischen Blatt im Lebensbuch vergleichbar ─ keine Schuld aufweist; ─ ausgetilgt und ausgeglichen sei der alte Zwist und der alte Fluch. 4. Der nach Art des Jambus rasch fortdrängende Charakter des Stoffes erfordert jambischen Rhythmus. 5. Der Stoff einer jeden Strophe besteht augenfällig aus zwei Teilen, von denen der erstere den Aufgesang, der letztere den ausführenden Abgesang zu bilden vermag. 6. Der Aufgesang reicht zu je zwei jambischen Viertaktern aus, der längere Abgesang zu drei derselben. Es ergiebt sich somit eine fünfzeilige Strophe. 7. Da die Pointe jeder Strophe in ihren beiden Anfangszeilen (─ also im ersten Stollen des Aufgesangs ─) gipfelt, so eignet sich dieselbe zur Wiederholung am Schluß, wodurch die fünfzeilige Strophe siebenzeilig wird. Lösung. Von K. Gerok. Zum neuen Jahre neuen Segen, Noch Wasser gnug hat Gottes Born; Harrt fröhlich sein, ihr Kreaturen, Bald deckt er die beschneiten Fluren Mit grüner Saat und goldnem Korn; Zum neuen Jahre neuen Segen, Noch Wasser gnug hat Gottes Born! Zum neuen Jahre neues Hoffen, Die Erde wird noch immer grün; Auch dieser März bringt Lerchenlieder, Auch dieser Mai bringt Rosen wieder, Auch dieses Jahr läßt Freuden blühn; Zum neuen Jahre neues Hoffen, Die Erde wird noch immer grün! Zum neuen Jahr ein neues Herze, Ein frisches Blatt im Lebensbuch! Die alte Schuld sei ausgestrichen, Der alte Zwist sei ausgeglichen, Und ausgetilgt der alte Fluch; Zum neuen Jahr ein neues Herze, Ein frisches Blatt im Lebensbuch. B . Lyrik der Begeisterung. § 63. Reim-Ode. Aufgabe. Zum Wiegenfeste eines Dichters und Gelehrten. 1. Hauptgedanken: Der zu Besingende liebt die Musen. Sein ganzes Leben hat er dem Jdealen geweiht. Darum ist er dichterischer Huldigung würdig. 2. Die Einzelgedanken für die Ausführung der Ode erwachsen etwa folgendermaßen. Stoff. Es war dein höchstes Streben, Schönheit und Kunst zu pflegen. Deine Leistungen zogen die ersten Geister der Nation an. ‖ Darum bringen die Musen dir, als ihrem Beschützer, innige Wünsche dar und winden dir den Lorberkranz. 3. Der vorstehende Stoff gliedert sich naturgemäß in zwei Hauptgruppen, welche eine zweistrophige Ode verlangen. 4. Der begeisterungatmende Stoff weist auf den aufsteigenden Jambus hin, der in den aufwärts dringenden leidenschaftlichen Anapäst übergedrängt wird: also auf jambisch=anapästischen Rhythmus. 5. Die Ode mit ihrer leidenschaftlichen Erregung dichterischer Empfindung verlangt den möglichst glänzenden sprachlichen Ausdruck, kühne Metaphern, kunstvolleren Periodenbau &c. 6. Der begeisterten Bewunderung würde ein alltägliches Strophenschema schlecht stehen. Vielmehr muß die Strophenform (dem Rhythmus entsprechend) frei erscheinen, wenn diese auch innerhalb der Grenzen einer einheitlichen, ästhetisch schönen Form zu halten ist. 7. Wir empfehlen neben dem aus dem Stoffe resultierenden jambisch=anapästischen Viertakter den Wechsel mit kurzen Zeilen und einen syntaktischen Ruhepunkt nach der 3. Zeile, so daß je die zweite Strophenhälfte mit der ersten in parallele Berührung gebracht wird. Lösung. Es war dir, o Edler, erhebendes Streben, Das Leben Zu weihen der Schönheit, dem Blühen der Kunst; Mit Hoheit gewannst du, ein wirklicher Meister, Die Geister, Drum bringen die Musen am heutigen Feste Das Beste Und Schönste dem Meister zur Huldigung dar; Sie winden aus Blumen in ewigem Lenze Dir Kränze § 64. Dithyrambus. Aufgabe. Hochzeitsgedicht. 1. Disposition. Das Gedicht soll folgende Gedanken ausführen: Laßt uns mit dem Becher anstoßen, laßt uns küssen und lieben, laßt uns Kränze winden. Liebe ist die Quelle aller Güter und Wonnen; sie läßt sich nicht besingen, nur Brust an Brust empfinden. 2. Der Stoff mag folgende Skizzierung erhalten: Stoff. Laßt uns anstoßen; laßt uns leben und singen; laßt uns in gehobenen Gefühlen nach dem Höchsten ringen; laßt uns lieben; Liebe ist Leben, Leben ist Gesang. ‖ Laßt uns Kränze weben und zerreißen ohne Falsch und Heuchelei, mit froher, frommer Gesinnung. Die Liebe ist ein Gebet, ja, sie ist die Erhörung. ‖ Aus dem reichen Liebesbronnen quellen Blumen, Sterne, Güter und Wonnen. Kein Sänger vermag die Liebe zu besingen; sie läßt sich nur fühlen. ‖ 3. Der elegische Stoff verträgt trochäischen Rhythmus, doch würde ihn auch der lebendig verbindende jambische Rhythmus gut kleiden. 4. Die drei Gruppen, in welche der Stoff zerfällt, lassen sich in 3 Strophen von je 8 Verszeilen einteilen. 5. Die kurzen rhythmischen Reihen reichen zur Ausfüllung von Viertaktern aus, die durch das Reimband zu verbinden sind. 6. Das Reimschema ist: a a a b c c c b . Der b =Reim verhindert das Auseinanderfallen der Strophe in zwei Vierzeilen. Lösung. Von Ad. v. Chamisso. Laßt uns mit den Bechern klingen, Laßt uns lieben, leben, singen Und in Dithyramben ringen Freudig um den ersten Rang! Laßt uns holde Kränze weben, Küsse nehmen, Küsse geben, Jst die Liebe ja das Leben, Jst das Leben doch Gesang! Kränze weben und zerreißen, Wie die Götter es uns heißen, Sonder Arg und sonder Gleißen: Sind wir froh doch, fromm und gut! Ein Gebet ist ja das Lieben, Jst Erhörung auch von drüben ─ Laßt uns singen, leben, lieben, Glühen uns in heilger Glut! Aus der Liebe reichem Bronnen Quellen Blumen, Sterne, Sonnen, Alle Güter, alle Wonnen, Namenlos und unbewußt. Kann ich je zu singen wagen, Was ich kaum vermag zu tragen? Doch das Wort kann es nicht sagen, Herzensschlag nur, Brust an Brust! § 65. Elegie. Aufgabe. Ein Trostgedicht an einen Freund, dem die Gattin starb, ist zu bilden. 1. Disposition. Nichts als einen Händedruck und einen Kranz kann dir der Freund bieten. Gönne der Gattin die Ruhe, wenn auch dein Blick sie oft suchen wird. Möge die Erinnerung Trost, die allbesiegende Zeit Linderung verleihen. 2. Diese Gedanken lassen sich folgendermaßen erweitern. Stoff. Alles, was dir mein Herz bieten kann, ist ein Händedruck und ein Kranz. Möge die Gattin, die dich und die deinen so treu geliebt, sanft ruhen. Nun trägt man sie dorthin, wo die stummen Zeugen der Erinnerung stehen. Dein Blick wird noch oft auf ihrem Hügel ruhn. Möge dir die Erinnerung Trost bringen, bis die allbesiegende Zeit deinem Herzen Linderung gewähren wird. 3. Für diesen innigen, fortdrängenden Stoff eignet sich der jambische Quinar, der auch reimlos sein kann. 4. Wenn er reimlos ist, so dürfte sich empfehlen, die Verse abwechselnd männlich und weiblich zu schließen, wodurch sich der Rhythmus belebt. 5. Auch möge hie und da die Jncision durch eine syntaktische Pause markiert werden. Lösung. Von Th. Souchay. Ein Händedruck, ein Kranz ─ das ist ja alles, Was heute dir, o Freund, mein Herze bringt Und bringen kann! ─ Sie schlummre sanft, die Gute, Die dich so treu geliebt, dich und die deinen! Die einst dein alles, deiner Kinder Mutter, Man trägt sie heut aus deinem Dichterheim Dorthin, wo der Erinnrung stille Zeugen Jn feierlicher Andacht schweigend stehn. Aus deinem Fenster wird dein Liebesblick Oft thränenfeucht auf ihrem Hügel ruhn, Dann sei dein Trost des schönsten Glücks Gedenken Bis sanft die große Allbesiegrin Zeit Den Wunden deines Herzens Lindrung schafft. Gott sei mit dir und deinen lieben Kindern! § 66. Hymnus. Aufgabe. Hymnus zum Ernte- und Herbstdankfest. 1. Disposition. Danket dem Herrn durch Spiel und Gesang. Jhr, Schnitter, stellt Garben aus; ihr, Winzer, Trauben; ihr, Mädchen und Knaben, bringt Äpfel und Birnen; ihr, Alten, naht mit Blumen zum Preis des barmherzigen Gottes. 2. Die Erweiterung und Aufbauschung dieses Stoffes muß vom Auflodern des Gefühls diktiert sein und Andacht wie Bewunderung Gottes atmen. Die einzelnen Teile der Disposition werden sich etwa folgendermaßen erweitern lassen: Stoff. Dankt dem gnädigen Schöpfer und preiset seine Barmherzigkeit. Ehrt ihn durch Saitenspiel und schmückt die Altäre. ‖ Jhr Schnitter tragt Garben herbei zum Zeichen, daß ihr auch der Darbenden gedachtet und das Jahr gesegnet war, ‖ Jhr Winzer bringt Trauben und lindert die Not der Armen. ‖ Jhr Mädchen und Knaben kommt mit den reichen Früchten der Bäume herbei. ‖ Nahet auch ihr, ihr Alten, singet dem Herrn und bringt Blumen zum Zeichen, daß Gottes Liebe immer neu blüht. ‖ Danket eurem Schöpfer und jubelt im Chor: Gott ist getreu. ‖ 3. Für diesen die höchste Begeisterung atmenden Stoff, der das Herz im Gesang überfließen lassen möchte, eignet sich Liedform im Verein mit dem feierlichen antik=daktylischen Rhythmus. 4. Durch Anwendung männlicher Cäsuren können hie und da rhythmische Pausen angebracht werden, so daß der Rhythmus nach denselben anapästisch anhebt und mancher daktylischen Reihe in ihrem Verlauf belebende, anstürmende Wirkung verliehen wird. 5. Der Liedform entspricht noch der daktylische Viertakter. Er ist für die musikalische Wirkungsweite des Reims geeigneter, als längere daktylische Verse. 6. Der Stoff der Gruppen dürfte auf je sechs Verszeilen auszubreiten sein. 7. Um den Einzelstrophen ein anmutiges Gepräge zu verleihen, mag die 5. Zeile jeder Strophe gebrochen geschrieben und mit dem Cäsurreim versehen werden. 8. Auf diese Weise entsteht scheinbar ein dreizeiliger Abgesang, dessen vom Reim gehobener Rhythmus ungemein ergreifend wirkt. 9. Die 3 zweizeiligen Gruppen jeder Strophe schließen männlich, so daß sich folgendes Strophenschema ergiebt: a b a b c c b . Lösung. Von Karl Gerok. Danket dem Schöpfer und preist den Erhalter, Dessen Barmherzigkeit immer noch neu, Rühret die Harfe und spielet den Psalter, Schmecket und sehet wie freundlich er sei, Ziert die Altäre, Bringt ihm zur Ehre Liebliche Opfer des Lobes herbei. Hebet, ihr Schnitter, die goldene Garbe, Schwinget sie auf den bekränzten Altar, Daß nun im Lande kein Hungriger darbe, Stellt sie zum Zeugnis im Heiligtum dar; Mühlen, sie sausen, Tennen, sie brausen, Loben im Takt das gesegnete Jahr. Bringet, ihr Winzer, die Früchte der Reben, Trauben, gereift von der sonnigen Glut; Himmlische Tropfen ins irdische Leben Flößet ihr süßes, ihr feuriges Blut, Lindert die Schmerzen, Träuft in die Herzen Goldenes Hoffen und männlichen Mut. Aber nun bringet, ihr Mädchen und Knaben, Früchte der Bäume, rotwangig wie ihr, Unter den süßen, den saftigen Gaben Brachen die seufzenden Äste ja schier; Purpurn behangen Sah man es prangen Rings im beschatteten grünen Revier. Kommet auch ihr noch an Stäben, ihr Alten, Singet noch einmal ein „Gott ist getreu!“ Was noch von Blumen die Gärten enthalten, Traget zum Schmuck des Altares herbei; Aster und Winden Sollen verkünden: Gottes Erbarmen blüht immer noch neu! Danket dem Schöpfer und preist den Erhalter, Dessen Barmherzigkeit immer noch neu, Rühret die Harfe und spielet den Psalter, Schmecket und sehet, wie freundlich er sei; Laßt es in Chören, Donnernden, hören Himmel und Erde: Der Herr ist getreu! ────── III . Gedichte aus dem Bereiche der Epik. § 67. Poetische Erzählung. Aufgabe. Ein zum Vortrage bestimmtes, an ein Vorkommnis anknüpfendes, erzählendes Gedicht ist zu bilden. 1. Disposition der Begebenheit. Ein Freund hat einen Spaziergang ausgeführt, bei welchem er sich die Taschen mit Petrefakten füllte, dazwischen aber die Aussicht genoß. Bei einer Begegnung wird diese Begebenheit humoristisch verwertet und der Wunsch nach Wiederholung des Spaziergangs ausgedrückt. 2. Entwurf der Prosaerzählung. Ein als Petrefaktensammler bekannter Freund unternahm vor einiger Zeit in Begleitung mehrerer Freundinnen einen Spaziergang. Er äußert, daß er denselben gerne wiederholen möchte, um aufs neue die gewohnten Pfade scherzend zu wandeln. Aber sodann möchte er auch wieder Petrefakten an jenem Hügel sammeln, an welchem beim ersten Spaziergang ein warmer Regen die verschiedensten Species der Liasformation bloß gelegt hatte. Er meint, das Sammeln sei damals eine süße Mühe gewesen, denn er hätte doch dazwischen die entzückendste Aussicht auf Gebirg und Thal, auf burggekrönte Felswände, auf Rebengrün und Matten und auf die herrlichen Wälder in ihrer prächtigsten wechselnden Beleuchtung genießen können, wie sein Auge Schöneres nie geschaut. Er fügt hinzu: Schade sei es doch, daß man an solcher Stätte so wenig Zeit zum Schauen habe. Daher erteilt er den Begleiterinnen den Rat, diese Herrlichkeiten am Petrefaktenhügel künftighin zugleich für ihn mit zu genießen, da er es sehr beklagen würde, wenn all das Schöne verloren ginge, während er seiner Lieblingsneigung nachgehe, die für ihn auch Poesie sei. 3. Der Stoff, welcher im allgemeinen erbaulich=beschaulichen Charakter hat, verträgt trochäischen Rhythmus, namentlich, wenn ihm in den anregenden Partien durch einzuflechtende jambische Satztakte die erfrischende Bewegung des jambischen Rhythmus verliehen wird. 4. Wir haben bereits betont, daß bei poetischen Erzählungen mit Rücksicht auf die wünschenswerte Kürze der rhythmischen Reihen der Viertakter empfehlenswert sei. 5. Die bequemste Reimform bei den häufig ausgedehnten poetischen Erzählungen, auch bei Epen, ist das Reimpaar. 6. Der Anfänger beachte den Kunstgriff, bei längeren rhythmischen Reihen, die je 2 Zeilen umfassen, der Verbindung halber hie und da gekreuzte Reime eintreten zu lassen. Lösung. Von Ed. Mörike. Einmal noch an eurer Seite, Meinen Hammer im Geleite, Jene Frickenhauser Pfade, Links und rechts und krumm und grade An dem Bächlein hin zu scherzen, Dies verlangte mich von Herzen. Aber dann mit tausend Freuden Gleich den Hügel auf zu weiden, Drin die goldnen Ammoniten, Lias-Terebratuliten, Pentakrinen auch, die zarten, Alle sich zusammenscharten, ─ Den, uns gar nicht ungelegen, Just ein warmer Sommerregen Ausgefurcht und abgewaschen, Denn so füllt man sich die Taschen. Auf dem Boden Hand und Knie, Kriecht man fort, o süße Müh'! Und dazwischen mit Entzücken Nach der Alb hinauf zu blicken, Deren burggekrönte Wände Unser sonnig Thalgelände, Rebengrün und Wald und Wiesen Streng mit dunkeln Schatten schließen! Welche liebliche Magie, Uns im Rücken, übten sie! Eben noch in Sonne glimmend Und in leichtem Dufte schwimmend, Sieht man schwarz empor sie steigen, Wie die blaue Nacht am Tag! Blau, wie nur ein Traum es zeigen, Doch kein Maler tuschen mag. Seht, sie scheinen nah zu rücken, Jmmer näher, immer dichter, Und die gelben Regenlichter All in unser Thal zu drücken! Wahrlich, Schön'res sah ich nie. Wenn man nur an solcher Stätte Zeit genug zum Schauen hätte! Wißt ihr was? genießt ihr beiden Gründlich diese Herrlichkeiten, Denn mich fickt' es allerdinge, Wenn das rein verloren ginge. Doch, den Zweck nicht zu verlieren, Will ich jetzt auf allen Vieren Nach besagten Terebrateln Noch ein Stückchen weiter kratteln; Das ist auch wohl Poesie. NB . Die im Schwabenlande durch den Klang sich deckenden unreinen Reime der Lösung &c. sind richtig zu stellen. ────── IV . Gedichte aus dem Bereiche der Dramatik. § 68. Einweihungskantatine. (Vgl. Poetik II , 534.) Aufgabe. Gedicht zur Enthüllung eines Standbildes. 1. Disposition. Zur Enthüllung der Statue Schillers soll eine lyrische Dichtung, welche Arien und Chöre enthält und unter Jnstrumentalbegleitung zum Vortrag gelangt (Kantatine), geschaffen werden. Dieselbe mag in der Eingangsarie den Dichter begrüßen. Ein Frauenchor kann darauf sagen, daß die Frauen dem Dichter Blumen darbringen. Sodann soll ein Männerchor den Dichter preisen. Ein Frauenchor feiert nunmehr den Sohn der Heimat. Eine Arie schließt mit der Aufforderung, feierlich auf das Rauschen seines Adlerfittigs zu lauschen. 2. Ausführung. Da die Kantatine mit einer präzisen sachlichen Andeutung oder Reflexion zu beginnen hat und ihre Empfindungen handelnden Personen in den Mund zu legen sind, so ist zunächst in einer Arie auszuführen, wie Schiller, der Kunst entstiegen, seine Heimat neu begrüßt, und wie alle Herzen dem auch im Bildnis Herrlichen entgegenfliegen. Daran reiht sich ein Frauenchor, welcher dem Dichter den Segen des Lenzes (Frühlingskränze) zu Füßen legt. Ein Männerchor erkennt an, daß der Dichter mit Engelstimmen sang und ein überirdisches Feuer in allen Seelen entzündete; daß er aus den Blicken der Muse selige Wahrheit las und darüber den eigenen Schmerz vergaß. Ein Frauenchor gesteht, daß Schiller, der Sohn der Heimat, im Bilde wie ein hoher Fremdling erscheine. Die unterbrechende Schlußarie mahnt, zu lauschen, da des Adlerfittigs Rauschen und seines Bogens starker Klang vernehmbar seien. 3. Der Ausführung der einzelnen Teile (Nummern) dieser Kantatine ist ein größerer Spielraum geboten. Der Dichter hat lediglich ein liedartiges Maß zu wählen, das zwischen dem Fünftakter und dem Zweitakter in der Mitte steht. 4. Für die sachliche Einleitung, wie für den korrespondierenden Schluß empfiehlt sich der jambische Fünftakter; in den kurzen Chören genügt für den beschränkten Stoff der jambische Dreitakter. 5. Von Künsteleien in der Reimstellung kann bei der Kantatine nicht die Rede sein. Am gebräuchlichsten sind Reimpaare oder gekreuzte Reime. Lösung. Von Ed. Mörike. Dem heitern Himmel ew'ger Kunst entstiegen, Dein Heimatland begrüßest du, Und aller Augen, alle Herzen fliegen, O Herrlicher, dir zu! Frauen. Des Lenzes frischen Segen, O Meister, bringen wir, Bethränte Kränze legen Wir fromm zu Füßen dir. Männer. Der in die deutsche Leyer Mit Engelstimmen sang, Ein überirdisch Feuer Jn alle Seelen schwang; Der aus der Muse Blicken Selige Wahrheit las, Jn ew'gen Weltgeschicken Das eigne Weh vergaß; Frauen. Ach, der an Herz und Sitte Ein Sohn der Heimat war, Stellt sich in unsrer Mitte Ein hoher Fremdling dar. Doch stille! horch! zu feierlichem Lauschen Verstummt mit Eins der Festgesang: ─ ─ Wir hörten deines Adlerfittigs Rauschen Und deines Bogens starken Klang. § 69. Dramatisches Gedicht in einem Akte. Aufgabe. Es soll ein dramatisches Gedicht zur Körnerfeier geschaffen werden. 1. Erwägung, welchen Charakter das Gedicht tragen soll? Es möge ein Phantasiegemälde werden. 2. Welchen Gedanken im allgemeinen soll es Ausdruck verleihen? Die Beantwortung dieser Frage führt zur Disposition im groben Umrisse: 3. Erdichtung der Disposition. Das Gedicht soll besingen, wie Körners Leichnam von Kriegern nach der Eiche von Wöbbelin gebracht wird, wo von seinen Freunden das Grab zugerichtet wurde. Der Dichter nimmt an, daß unter dieser Eiche seit urdenklichen Zeiten ein deutscher Barde ruht, dessen Geist den geweihten Platz hütet, damit künftighin nur ein ebenso würdiger Sänger und Streiter fürs Vaterland darin gebettet werde. Der Geist in Gestalt eines ehrwürdigen Greises empfängt den Zug an der Eiche und widersetzt sich der Einsenkung des Sarges, bis er erfährt, daß der Tote Sänger und Held gewesen sei und für sein Vaterland den Tod erlitten habe. Nun preist er den Toten, dessen Einsenkung nunmehr erfolgt, dieses Grabes würdig. Der Greis verschwindet; verklärende Stimmen erschallen. Das Stück schließt mit Verkündigung nahen Kampfes fürs Vaterland und mit begeisterten Rufen &c. &c. 4. Um sich über die Personen und das Wesentliche dessen, was sie zu sprechen und zu handeln haben, klar zu werden, ist zunächst ein Überblick über die dramatische Begebenheit (Poetik II , 31) zu entwerfen, etwa in folgender Weise: Erster Prosaentwurf und erfindende Ausspinnung der Fabel. Roher Stoff. Beschreibung der Scene. Abendhimmel. Eichbaum. Offenes Grab. Kriegerzug mit Fackeln, in der Mitte ein Sarg &c. Der Kriegerchor schließt heranziehend mit dem Gesang eines Körnerschen Liedes (etwa: „Gebet während der Schlacht“). Der Greis, welcher das Grab bewacht, erkundigt sich nach dem Namen des Toten, indem er bemerkt, daß dieses Grab nur das edelste Heldenherz aufnehmen werde. Der Zugführer fragt, ob jemand diesen Greis zum Wächter bestellt habe. Mehrere Stimmen verneinen dies und wollen den Greis wegdrängen. Der Zugführer mahnt, das Alter zu ehren und die Bahre vorerst abzusetzen. Dann giebt er dem Greise die Versicherung, daß in der That ein edles Heldenherz im Sarge schlummere; dies beweise der Eichenkranz. Der Greis verweigert trotzdem die Bestattung des Toten, indem er erklärt, es genüge nicht, sich den Eichenkranz durch das Schwert verdient zu haben. Der Führer mahnt den Greis, den Zorn der Brüderschar nicht heraufzubeschwören: der Tote sei ein Edler gewesen, welcher dem Ewigen nachgestrebt habe; er fordert die Freunde zum Zeugnis heraus. Ein Krieger rühmt, daß der Geschiedene ein edler Sänger gewesen sei. Ein anderer Krieger rühmt, daß ─ wenn der Feind wie eine lernäische Schlange erschienen sei ─ der Dichter Zriny's vorbildlichen Tod gepriesen und durch solche Lieder, wie sie nur ein Tyrtäos gesungen haben könne, den Mut belebt habe. Der Greis erwidert, daß er wohl die Macht des Gesanges kenne, daß aber der schwerterrufende Gesang kein Schwert sei: nur Schwerter verlange die Schlacht! Der Führer bezeugt, daß der Geschiedene auch das Schwert führte. Ein dritter Krieger unterbricht durch das Zeugnis, daß der Sänger auch ein tapferer Streiter war, welcher im Kampfe gleich einem mit leuchtendem Speer die Feinde zerstreuenden Seraph erschienen sei. Der Greis erkennt dies an, doch meint er, daß Greis und Jüngling, Vater und Sohn in den Kampf gezogen seien, ohne daß jeder die dritte d. i. die höchste Weihe erhalten habe. Da deckt der Führer den Sarg auf und ruft hinweisend auf den Leichnam: Dieser hat nicht nur gesungen und gekämpft, ─ er ist auch für sein Vaterland gestorben! Der Greis ist besiegt. „Legt den Edlen zu edlem Staub,“ spricht er, „und gebt ihm ein Schwert mit hinab, damit, wenn einmal dem Vaterlande Schande drohe, ein Pflüger dieses Schwert ausackere und die Thaten der Ahnen verkünde. Doch nicht sein Schwert gebt ihm, denn dieses taugt noch zum Kampfe: ein anderes wird sich finden.“ Ein Gräber tritt mit rostzernagtem Eisenschwerte vor und erzählt, daß er dasselbe beim Graben des Grabes gefunden habe. Der Greis neigt im Zurücktreten bestätigend das Haupt. Der überraschte Führer mahnt, dem Greise zu gehorchen und das Schwert in den Sarg zu legen. Der Chor singt eine passende Strophe eines Körnerschen Liedes. Nun befiehlt der Führer, den Namen des Toten in den Stamm zu hauen, damit die Enkel dereinst Körners Eiche ehren. Mehrere Stimmen sagen aus, der Greis sei in der Luft zerflossen; sein Bart sei silberhell geworden, sein Gesicht glänzend, um seinen Scheitel habe man einen Eichkranz gesehen und eine Harfe sei in seiner Hand ertönt. ─ (Jn diesem Augenblick erbeben Stamm und Zweige der Eiche wie im Sturmwind.) Die Stimme des Greises spricht aus der Eiche: Zwei Barden ruhen nun hier. Einige Krieger rufen: Der Boden spricht. Andere: Jn der Höhe tönt Geisterlaut. Sphärenmusik erklingt und eine Stimme singt: Klaget nicht um mich; ich werde euch im Kampfe das Kreuzespanier voraustragen. Ein Chor von oben ruft: Es flammt das heilige Kreuzeszeichen, Sieg wird euch werden! Eine Stimme ruft: Freut euch, Brüder; ich sehe bewaffnete Streiter Gottes in flammendem Gewande niedersteigen. Der Chor dieser Streiter singt: Wir stehn euch bei, damit ihr siegt. Der Führer: „Vernahmt ihr den Gesang?“ Niederknieend ruft er mit emporgehobenem Schwerte: „Führe uns, Herr, zum Siege!“ (Ausbrechendes Gewitter. Anzeichen eines nahen Kampfes. Hörnerklang. Begeisterter Aufbruch der Lützower unter wildfreudigem Gesang einer Strophe des Körnerschen Schlachtliedes.) Die Körner-Eiche. Von Fr. Kind. Erste dichterische Bearbeitung. Abenddämmerung. Der Himmel ist ganz mit trüben Wolken überlaufen. Unter einer alten Eiche ein frisch aufgeworfenes Grab. Ein Greis, der, in ein dunkles Gewand gehüllt, am Stamm der Eiche lehnt. Aus der Ferne nähert sich bei dumpfem Gesang ein Zug Krieger mit einigen Fackeln, einen aufgebahrten Sarg in der Mitte. ────── Chor der Krieger endet: „Gott, dir ergeb' ich mich! Wenn mich die Donner des Todes begrüßen, Wenn meine Adern geöffnet fließen, Dir, mein Gott, dir ergeb' ich mich! Vater, ich rufe dich!“ Der Greis. Steht, Männer! Gebt Bericht, wes ist der Staub, Den ihr bei lieblich schaurigem Gesang Endgültige Lösung. Dunkler Abend. Der Himmel ist ganz mit Wolken überlaufen. Unter einer alten Eiche ein frisch aufgeworfenes Grab. Ein verhüllter Greis lehnt am Stamm der Eiche. Totenmarsch hinter der Scene. Dann nähert sich bei Fackelschein und mit Gesang ein Kommando Lützower. Hierauf ein Sarg mit kriegerischen Ehrenzeichen und vielfachen Kränzen, hinterdrein, Paar um Paar, Krieger von verschiedenen Scharen und Waffengattungen. ────── Chor der Krieger. „Gott, dir ergeb' ich mich! Wenn mich die Donner des Todes begrüßen, Wenn meine Adern geöffnet fließen, Dir, mein Gott, dir ergeb' ich mich! Vater, ich rufe dich!“ Der Greis. Steht, Männer! Gebt Bericht, wes ist der Staub, Den ihr bei lieblich schaurigem Gesang Zurückgeleitet in der Mutter Arm? Mir teuer ist der Eiche Schattenraum ─ Erkoren hat mich eine tapfre Schar, Dies Grab zu hüten, für ein Heldenherz, Wie keins noch größer schlug in Jünglingsbrust ─ Führer des Zugs. Sagt, wer beschied ihn zu des Grabes Wacht? Mehrere Stimmen. Wir nicht! ─ Nicht wir! ─ Entweich', du Geist der Gruft! Führer. Das Alter ehrt! ─ Halt! Setzt die Bahre ab! ─ Wer du auch seist, des Wort zermalmend fast Durchs Dunkel hallt ─ wohl schlug ein großes Herz Jn des geliebten Waffenbruders Brust! Siehst du den Eichkranz auf des Sarges Haupt? Wem dieser ward, ist freier Erde wert! Greis. Doch wehr' ich euch den Eingang in das Grab! Auch ich lebt' einst nicht ruhmlos meinen Tag ─ Doch, was ich sah, als ich das Schwert noch schwang, Was ewig lebt in Schlacht- und Siegsgesang, Hat wunderbar die Zeit zurückgebracht; Die Vorwelt lebt, die Väter sind erwacht! Zurückgeleitet in der Mutter Arm? Mir teuer ist der Eiche Schattenraum ─ Erkoren hat mich eine Heldenschar, Dies Grab zu hüten, für ein tapfres Herz, Wie wenig schlagen in der Jünglingsbrust ─ Führer des Zugs. Sagt, wer beschied ihn zu des Grabes Wacht? Erster Krieger. Wir nicht! Zweiter Krieger. Noch wir! Dritter Krieger. Entweich', du Geist der Gruft! Führer. Das Alter ehrt! ─ Halt! Setzt die Bahre ab! ─ Wer du auch seist, des Wort zermalmend fast Durchs Dunkel hallt: wohl schlug ein tapfres Herz Jn des geliebten Waffenbruders Brust! Siehst du den Eichkranz auf des Sarges Haupt? Wem dieser ward, ist freier Erde wert! Greis. Doch wehr' ich euch den Eingang in das Grab! Auch ich lebt' einst nicht ruhmlos meinen Tag ─ Doch, was ich sah, als ich das Schwert noch schwang, Was ewig lebt in Schlacht- und Siegsgesang, Hat wunderbar die Zeit zurückgebracht; Die Vorwelt lebt, die Väter sind erwacht! Wohl mancher ward des Laubs der Eiche wert; Doch der, des hier die Mutter Erde harrt, War größer ─ Führer. Ja, er war's! ─ Du ernster Greis, Erwecke nicht den Zorn der Brüderschar! ─ Kennst du den Jüngling hier im Leichentuch? Dem edlen Flügelroß der Fabel gleich, Genügt' ihm nicht der Erde enger Kreis, Und höher, zu den Sternen, ging sein Lauf. Sprecht, Freunde! daß aus mehr'rer Zeugen Mund Die Wahrheit schöpfe dieser Rhadamanth! Ein Krieger. Jhn birgt der Sarg, der zu des Ruhmes Hallen Sich in des Lebens Frühlingsschimmer schwang. Vor allen Jünglingen der Zeit, vor allen, War ihm verliehen Wohllaut und Gesang; Was Herrliches der Götter Hand entfallen, Ward reizender durch seiner Saiten Klang; Verklärter noch in wundervollen Tönen Schien Lust und Scherz, und die Magie des Schönen. Ein Zweiter. Doch kaum, daß, wachsend gleich dem Ungeheuer Lernäa's, der Verderber uns bedroht, Da glüht' er auf in heil'gen Zornes Feuer, Und pries beneidend Zriny's großen Tod; Da stürmt' er mächtig in Alcäus Leier, Und deutete der Flammenzeichen Rot, Und fern und nah, so weit die Töne hallten, Erblitzten Waffen und Paniere wallten! Wohl mancher ward des Laubs der Eiche wert; Doch der, des hier die Mutter Erde harrt, War größer ─ Führer. Ja, er war's! ─ Du ernster Greis, Erwecke nicht den Zorn der Brüderschar! ─ Kennst du den Jüngling hier im Leichentuch? Dem edlen Flügelroß der Fabel gleich, Das nicht den Erdball seine Heimat glaubt, Strebt er nach höhern Lichtgefilden auf. Sprecht, Freunde! daß aus mehr'rer Zeugen Mund Die Wahrheit schöpfe dieser Rhadamanth! Ein Krieger. Jhn birgt der Sarg, der zu des Ruhmes Hallen Sich in des Lebens Frühlingsschimmer schwang, Vor allen Jünglingen der Zeit, vor allen, War ihm verliehen Wohllaut und Gesang. Was Herrliches der Götter Hand entfallen, Ward reizender durch seiner Saiten Klang; Verklärter noch in wundervollen Tönen Schien Lust und Scherz, und die Magie des Schönen. Ein Zweiter. Doch kaum, daß, wachsend gleich dem Ungeheuer Lernäa's, der Verderber uns bedroht, Da glüht' er auf in heilgen Zornes Feuer, Und pries beneidend Zriny's großen Tod; Da stürmt' er mächtig in Alcäus Leier, Und deutete der Flammenzeichen Rot, Und fern und nah, so weit die Töne hallten, Erblitzten Waffen und Paniere wallten! Greis. Nicht mir verborgen ist der Saiten Macht, Die alten Barden, glaub' es, junger Mann! Sie waren auch nicht müssig, wenn es galt ─ Und wohl ist's auch zu meinem Ohr gehallt, Wie, da die Ernte reif war, Schlachtgesang Durch Feld und Wald, aus Berg und Thal erklang ─ Traun! ihrer Ahnen sind die Sänger wert; Doch der, des hier die Mutter Erde harrt, War herrlicher! Es weckt das Flammenwort Aus Sängers Brust zwar auf der Männer Schwert, Doch ist's kein Schwert, und Schwerter will die Schlacht. Führer. Das kannt' auch er, der Schläfer hier im Sarg ─ Ein dritter, jüngerer Krieger. Und flog in Dampf und Feuer Voran voll Kampfeslust; Es kreuzte Schwert und Leier Sich auf der tapfern Brust. Wie jene Seraphinen, Die fromm mit Harfenton Dem Gott des Himmels dienen, Wenn Höllenmächte droh'n, Mit leuchtend hellem Speere, Mit Flammenschwertes Macht, Des Abgrunds freche Heere Zerstreu'n in ew'ge Nacht; Mit eines Cherubs Mienen, Und doch so himmlisch mild, So ist er uns erschienen, So lebt in uns sein Bild! Greis. Wer Großes würdig singt, ist Ruhmes wert; Noch höheren, wer Liedesthaten übt; Greis. Nicht mir verborgen ist der Saiten Macht. Die alten Barden, glaub' es, junger Mann, Sie waren auch nicht müssig, wenn es galt ─ Und wohl ist's auch zu meinem Ohr gehallt, Wie, da die Ernte reif war, Schlachtgesang Durch Feld und Wald, aus Berg und Thal erklang. Traun! ihrer Ahnen sind die Sänger wert! Doch der, des hier die Mutter Erde harrt, War herrlicher! Es weckt das Flammenwort Aus Sängers Brust zwar auf der Männer Schwert, Doch ist's kein Schwert, und Schwerter will die Schlacht. Führer. Das kannt' auch er, der Schläfer hier im Sarg ─ Dritter Krieger, sich näher drängend. Und flog in Dampf und Feuer Voran voll Kampfeslust; Es kreuzte Schwert und Leier Sich auf der tapfern Brust. Wie jene Seraphinen, Die fromm mit Harfenton Dem Herrn des Himmels dienen, Wenn Höllenmächte droh'n, Mit leuchtend hellem Speere, Mit Flammenschwertes Macht, Des Abgrunds freche Heere Zerstreu'n in ew'ge Nacht; Mit eines Cherubs Mienen, Und doch so himmlisch mild, So ist er uns erschienen, So lebt in uns sein Bild! Greis. Wer Großes würdig singt, ist Ruhmes wert; Noch höheren, wer Liedesthaten übt; Doch wehr' ich euch den Eingang in das Grab. Erhob für Freiheit, für den heil'gen Herd, Nicht Greis und Jüngling rachentglüht das Schwert? Zog nicht entbrannt zu fahrvoll hartem Strauß Der deutsche Knabe mit dem Vater aus? Doch jedem ward die höchste Weihe nicht ─ Führer. Der Phönix stürzt sich ahnend in die Glut, Sucht Tod, und findet ihn! ─ Ehrwürd'= ger Greis, Sieh unsern Toten, sieh sein rotes Blut! Er sang, er stritt, er starb fürs Vaterland! Er wirft die Decke des Sargs zurück. Einige Krieger mit Fackeln treten näher. Man erblickt den blutigen Leichnam, mit Eichenblättern umgeben. Greis, nach einer Pause. So legt den Edlen hier zu edlem Staub, Und ─ gebt ein Schwert dem Tapfern mit hinab, Daß einst, nach mancher Sonne trägem Lauf, Wenn Deutschland jemals Joch und Schande droht, Das Schwert ein Pflüger ackre aus dem Feld, Und wisse, was die Ahnen einst gethan! Doch nicht sein Schwert ─ kein Schwert ist jetzt zu viel, Des Spitz' und Schärfe noch zum Kampfe taugt! ─ Ein andres wird sich finden, auch erprobt ─ Ein Gräber, zu dem Führer. Ja, Herr! im Zwielicht gruben wir dies Grab Und trafen tief versunken Stein bei Stein, Doch wehr' ich euch den Eingang in das Grab. Erhob für Freiheit, für den heil'gen Herd, Nicht Greis und Jüngling rachentglüht das Schwert? Zog nicht entbrannt zu fahrvoll hartem Strauß Der deutsche Knabe mit dem Vater aus? Doch jedem ward die dritte Weihe nicht ─ Führer. Der Phönix stürzt sich ahnend in die Glut, Sucht Tod ─ und findet ihn! ─ Du ernster Greis, Sieh unsern Toten, sieh sein rotes Blut! Er sang, er stritt, er starb fürs Vaterland! Er wirft die Decke des Sargs zurück. Einige Fackelträger treten näher. Mehrere Krieger umringen den Sarg und beugen sich darüber hin. Greis, nach einer Pause. So bergt den Edlen hier zu edlem Staub, Und ─ gebt ein Schwert dem Tapfern mit hinab, Daß einst, wenn jemals Schmach und Sklavenjoch Den Gauen meines Deutschlands wieder droht, Das Schwert ein Pflüger ackre aus dem Feld, Und wisse, was die Ahnen einst gethan ─ Doch nicht sein Schwert ─ kein Schwert gelt' euch zu viel, Des Spitz' und Schärfe noch zum Kampfe taugt, Ein andres wird sich finden, auch erprobt, Ein gutes Schwert, das auch ein Barde schwang. ─ Ein Schanzgräber, zu dem Führer. Ja, Herr! im Zwielicht gruben wir dies Grab Und trafen tief versunken Stein bei Stein, Und hofften schier auf einen reichen Schatz; Doch fanden wir nur dieses Eisenschwert, Gewichtig, stark, doch fast vom Rost zernagt ─ Der Greis neigt langsam und bedeutend das Haupt, weicht einen Schritt zurück und steht dann unbeweglich. Führer. Das ist doch wunderbar. ─ Gehorcht dem ernsten Greis! Man legt das Schwert in den Sarg. Während dieser hinabgelassen und mit Erde bedeckt wird, singt das Chor. „Gott weckte uns mit Siegerlust Für die gerechte Sache. Er rief es selbst in unsre Brust: Auf, deutsches Volk, erwache! Und führt uns, wär's auch durch den Tod, Zu seiner Freiheit Morgenrot. Dem Herrn allein die Ehre!“ Führer. Jetzt haut des Toten Namen in den Stamm, Daß auch der Enkel Körners Eiche kennt! Jhr Zimm'rer, vor! und Fackeln, Fackeln her! Jn diesem Augenblick, bevor die Fackeln noch herzukommen, tritt der Mond hinter den Wolken hervor und beleuchtet die Rinde des Stamms; der Greis ist verschwunden. Führer. Wo kam der Alte hin? Mehrere Stimmen. Zerronnen wie in Luft! ─ Jm Augenblicke, da der Mond erschien! ─ Und hofften schier auf einen reichen Schatz; Doch fanden wir nur dieses Eisenschwert, Gewichtig, stark, doch fast vom Rost zernagt ─ Der Greis neigt langsam und bedeutend das Haupt, weicht einen Schritt zurück und steht dann unbeweglich. Führer. Das ist doch wunderbar. ─ Gehorcht dem Greis! Man legt das Schwert in den Sarg. Während dieser hinabgelassen und mit Erde bedeckt wird, singt der Chor. „Gott weckte uns mit Siegerlust Für die gerechte Sache. Erste Salve. Er rief es selbst in unsre Brust: Auf, deutsches Volk, erwache! Zweite Salve. Und führt uns, wär's auch durch den Tod, Zu seiner Freiheit Morgenrot. Dritte Salve. Dem Herrn allein die Ehre!“ Führer. Jetzt haut des Toten Namen in den Stamm, Daß auch der Enkel unsers Freundes Grab, Die Barden-Eiche kennt ─ ihr Zimm'rer, vor! Zimmerer treten herzu. Die Fackeln sind größtenteils heruntergebrannt und verlöscht. Der Mond tritt hinter einer Donnerwolke hervor und beleuchtet die Eiche. Man erblickt den eingehauenen Namen in grünem Feuer. Der Greis ist verschwunden. Erster Krieger. Seht! seht! Führer. Wo ist der Alte? Jch sah's, da er zerrann! Sein grauer Bart Floß silberweiß zur breiten Brust herab, Und sein Gesicht umspielt' ein milder Glanz. ─ Um seinen Scheitel schlang ein Eichkranz sich, Und eine Harfe dröhnt' in seiner Hand! ─ Seht, wie der Stamm erbebt! Die Zweige faßt Ein Sturm, und nirgends regt sich sonst die Luft ─ Stimme aus der Eiche, indem der erste Schlag in die Rinde geschieht. Zwei Barden deckt nun dieser Eiche Laub! Einige. Hört! hört, der Boden spricht! Andre. 's tönt in den Wipfeln, Wie Geisterlaut, wie Windesharmonie! Wunderbar liebliche Musik, die sich bald mit Gesang verschmilzt. Eine Stimme von oben. Höret auf um mich zu klagen; Wißt, ein lichtes Kreuzpanier Gab der Herr der Sterne mir, Euch's im Streit voranzutragen! Chor von oben. Es flammet, wie Sonnen, das heilige Zeichen; Zweiter Krieger. Er zerrann Jn Luft, sowie des Mondes Licht erschien! ─ Dritter Krieger. Jch sah's, da er verschwand: sein grauer Bart Floß silberhell zur breiten Brust herab, Und sein Gesicht umfloß ein milder Glanz. Zweiter Krieger. Um seinen Scheitel schlang ein Eichkranz sich, Und eine Harfe dröhnt' in seiner Hand. Erster Krieger. Seht, wie der Stamm erbebt! Die Zweige faßt Ein Sturm, und nirgends regt sich sonst die Luft. Stimme aus der Eiche. Zwei Barden deckt nun dieser Eiche Laub! Zweiter Krieger. Hört! hört! der Boden spricht! Dritter Krieger. Und in der Höh Tönt Geisterlaut, wie Äolsharfenton. Wunderbar liebliche Musik. Alle Krieger, malerisch gruppiert, blicken in die Höhe und bleiben unverändert in derselben Stellung. Eine Stimme von oben. Höret auf um mich zu klagen; Wißt, ein lichtes Kreuzpanier Gab der Herr der Sterne mir, Euch's im Streit voranzutragen. Chor von oben. Es flammet, wie Sonnen, das heilige Zeichen, Der Himmel wird siegen, die Hölle muß weichen! Ehre sei Gott! Stimme. Freudig, freudig, meine Brüder! Schwert und Lanze in der Hand, Blitz und Flammen ihr Gewand, Steigen Streiter Gottes nieder! Chor. Wir stehn euch zur Seite im heiligen Kriege, Wir führen die irdischen Brüder zum Siege! Musik und Gesang verhallt. Führer. Vernahmt ihr, was das Chor der Engel sang? Er wirft sich zur Erde und erhebt betend sein Schwert gen Himmel. Alle knien um ihn im weiten Kreise. So führ' uns, Herr, und wär's auch durch den Tod, Zum Sieg des Rechts, zum Freiheitsmorgenrot! Jn der Ferne ein lang aushaltender Donner. ─ Aufspringend mit hoher Begeisterung: Hurrah! die Schwerter 'raus! Mit uns ist Gott! Alle, wildfreudig mit Gesang einfallend: „Der Hochzeitmorgen graut ─ Hurrah, du Eisenbraut! Hurrah!“ Der Himmel wird siegen, die Hölle wird weichen! Ehre sei Gott! Stimme. Streiter Gottes steigen nieder, Schwert und Lanze in der Hand, Blitz und Flammen ihr Gewand; Freudig, freudig, meine Brüder! Chor. Wir stehn euch zur Seite im heiligen Kriege, Wir führen die irdischen Brüder zum Siege! Musik und Gesang verhallt wie in die Ferne. Führer. Vernahmt ihr, was der Chor der Engel sang? Er wirft sich zur Erde und erhebt betend sein Schwert gen Himmel. Alle knien um ihn im weiten Kreise. Mit tiefer Jnbrunst: So führ' uns, Herr, und wär's auch durch den Tod, Zum Sieg des Rechts, zum Freiheitsmorgenrot! Ein lang anhaltender Donner. ─ Darauf Schießen im Hintergrunde, Trompeten= und Hörnerruf. Er springt auf und ruft feurig: Hurrah! die Schwerter 'raus! Mit uns ist Gott! Alle, wildfreudig einfallend, mit gezogenem Schwerte und gefälltem Bajonett fortstürzend: „Der Hochzeitmorgen graut ─ Hurrah, du Eisenbraut! Hurrah!“ Siebentes Hauptstück. Die Praxis der Dialektpoesie . (Winke, Gesichtspunkte, Handgriffe &c.) ────── § 70. Allgemeines und Geschichtliches zur Einführung. Sprache ist die gemeinsame Redeweise eines ganzen Volks, Dialekt die natürliche Redeweise einzelner Volksstämme. Die Schriftsprache ist somit das Organ für viele Volksstämme, die Dialektsprache für einen einzelnen Volksstamm. Das natürliche Verhältnis ist dieses, daß sich nach und nach zwischen den Volksstämmen eine gemeinsame Sprache ausbildete, die kein Gemenge war, sondern welcher ein sich vordrängender Dialekt zu Grunde lag. Jn Deutschland wurde eine solche gemeinsame Sprache Bedürfnis mit dem Auftreten des Rittertums und der fahrenden Sänger. Der Bayer wollte in Thüringen verstanden sein, der Schwabe am Rhein und der Österreicher im Norden &c. Es bildete sich daher mit der Zeit eine gemeinschaftliche Sängersprache aus, welche durch das Verleihen von Handschriften seitens der Klöster wesentlich gefördert wurde. Freilich vermochten die einzelnen Dichter ihre dialektischen Eigenheiten nicht mit einemmale abzulegen, und man merkt es bei interessevollem Vertiefen in früheste Handschriften gar bald, ob dieselben einen Schwaben, einen Thüringer, oder einen Österreicher &c. zum Verfasser haben. Die Dichter hatten die beste Absicht, Schriftsprache zu schreiben, aber sie wurden durch ihren Dialekt zur unabsichtlichen Färbung veranlaßt. Als mit Beginn des 17. Jahrhunderts die neuhochdeutsche Sprache den Sieg über das Niederdeutsche, wie über alle deutschen Dialekte vollendet hatte, wurden diese Dialekte immer mehr verdrängt; die schöne Zeit der Dialektpoesie war zu Grabe gegangen. Da machten Ende des vorigen Jahrhunderts einzelne universelle Köpfe auf die Bedeutung der Dialektpoesie aufmerksam. Herder vor allen meinte, daß die Poesie um so schöner sei, je weiter sie sich von der modernen Kultur entferne. Er belegte seine Behauptungen durch Volkslieder, ─ und der alte Volksgeist feierte seine Auferstehung. Mit dieser Würdigung des Volkstümlichen stieg der Dialekt rasch im Ansehen. Unsere bedeutendsten Dichter ─ besonders aber Goethe ─ haben die urwüchsige Kraft der Volksseele erkannt und manche Eroberung auf diesem Gebiete gemacht. Eine stolze Reihe von Dialekt-Dichtungen ─ von J. H. Voß' niedersächsischen Jdyllen über J. P. Hebel, Grübel, Sailer, Weitzmann, Nadler, Castelli, J. G. Seidl, Kobell, Schandein, Stelzhamer, Stoltze, Holtei, Corrodi, Grimminger, Klesheim, Storck, L. Eichrodt, Grasberger, Rosegger u. a. hinüber bis zu den allgelesenen Poesien Fritz Reuters, Kl. Groths u. a. ─ bewies dem Sehenden, welche Fülle von Traulichkeit, Naivetät, jugendlicher Frische, welch' ungezählter Reichtum von individuellen, unübersetzbaren Wörtern, welch' unerschöpflicher Vorrat plastischer, kerniger Formen und Begriffe, welche große Menge sinnlich bedeutender, flüssiger Worte, Elemente und lebhafter Formen zu einem, oft den Bücherstil überragenden besonderen Stil hier zusammengedrängt sind, ja, welche volltönende Weichheit, Herzlichkeit und humoristische Munterkeit die Dialekte besitzen. Die Dialektpoesie verdient daher nicht bloß benützt, sondern (wie dies Goethe, Uhland, Mörike, Rückert u. a. gezeigt haben) auch ausgebeutet zu werden. Aus diesem Grunde dürfte es nicht unverdienstlich sein, wenn wir endlich dem Dichter eine Bahn für Verständnis der Dialektpoesie zu brechen suchen, indem wir vorerst Grundsätze, Winke, Kunstgriffe und Charakteristisches aus dem bis jetzt vorliegenden Material der Dialektpoesie entrollen, um durch ─ so zu sagen ─ aphoristische Bemerkungen zu richtigen Stand- und Gesichtspunkten über Benützung und Ausbeutung anzuregen. § 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen. Die ersten Lieder, welche aus dem Drange des Volkes als geistige Bilder seines Wesens und Treibens entstanden, lebten lange vor Entstehung einer Schriftsprache als Gemeingut des Volks durch ihren volkstümlichen Jnhalt wie durch ihre (Form und Gedanken zusammenhaltende) sangbare Melodie. Da diese Lieder nach Erstehung einer gemeinsamen, nationalen Schriftsprache nicht schriftlich aufgezeichnet wurden, sondern nur in mündlicher Überlieferung sich erhielten, so trugen sie auch noch in den Zeiten der dialekt=abschleifenden Schriftsprache das Gepräge ihres dialektischen Ursprungs. Als man sodann begann. diese Volkslieder in hochdeutscher Sprache zu fixieren, ja, als Volkslieder in hochdeutscher Sprache gedichtet und gesungen wurden, da hat sich die Macht der alten Dialektlieder durch Beibehaltung oder Aufnahme mundartlicher Anklänge bewährt, da hat man mit Vorliebe zu gleichsam paläontologischen Überresten aus der Zeit der Dialekte gegriffen, welche nunmehr wie zu Versteinerungen gewordene Bilder uns an die Wiege der Großeltern und in naive Zeiten schöner, unentweihter Volksanschauungen zurückführen und erinnern. Unsere besten Dichter von Goethe bis in die Neuzeit haben manchen ihrer Lieder volksmäßiges Gepräge zu verleihen gesucht, indem sie dieselben den Dialektliedern näherten und damit Provinzialismen, Archaismen und naive, dialektische Formen aufnahmen und die volksmäßige Ausdrucksweise auch in der Redeform nachzuahmen suchten. Wir geben zum Nachweis einige beliebige Proben: Jm schönsten Garten wallten Zwei Buhlen Hand in Hand, Zwo bleiche, kranke Gestalten, Sie saßen im Blumenland. (Uhland.) Des Schäfers sein Haus und das steht auf zwei Rad, Steht hoch auf der Heid en so frühe wie spat. (Mörike.) Es fliegt manch Vöglein in sein Nest Und fliegt auch wied'r heraus, Und bist du mal mein Schatz gewest, So ist die Liebschaft aus. (Geibel.) Und der Rock und die Hos Sein mir beide zu schlecht, Und der Deutsch' und der Franzos Mir ist keiner nit recht. (Dingelstedt.) Es erhellt, daß diese Dichter nur noch den kleinen Schritt von der volksmäßigen Ausdrucksweise zur volksmäßigen Aussprache zu thun brauchten, ─ um uns das Dialektgedicht zu geben. Dieser Schritt ist da und dort auch gethan worden. Wir brauchen nur Gedichte wie das Goethe'sche Schweizerlied anzuführen u. s. w. § 72. Stoffe der Dialektpoesie. Selbstredend hat der Dialektdichter nur ein beschränktes Stoffgebiet, da mit dem Dialekt von selbst die spezifischen Eigentümlichkeiten einer kleinen Landschaft und eines von ihr bewohnten, mit ihr verwachsenen Volksteiles hervortreten. Seine Stoffe bewegen sich demgemäß meist in jenen Kreisen, in welchen sich der Dialekt seine Heimstätte gewahrt hat: also innerhalb einer, dem großen Weltverkehr entrückten, idyllischen, ursprünglichen, ländlichen Natur, weshalb auch die Stoffe vorzugsweise einer objektiven, plastischen Behandlungsweise fähig sind. Subjektive Gefühls- und Gedankenlyrik ist im Dialekt weniger am Platze, da die Dialektpoesie höchstens noch Gefühle, nie aber spekulierende Reflexionen begünstigt. Aus diesem Grunde verträgt die Dialektpoesie auch nur solche Stoffe, welche einer naiven, d. i. einer ungesucht unbefangenen, treuherzigen Sprache fähig sind. J. P. Hebel und nach ihm besonders Fr. Reuter haben solche Stoffe meisterhaft verwendet. Die Dialektpoesie fußt in ihren Stoffen auf einem emsig bewegten, arbeitsvollen Leben und den darauf folgenden Feierstunden. Die letzteren sind es, die den Gesang begünstigen. Das aus gethaner Arbeit entspringende Gefühl der Pflichterfüllung läßt diese Stunden nicht verträumen, wohl aber mit doppelter Lust genießen. Das genügsame Volk geht nicht über die Grenze seiner Lebenslust hinüber. Hingabe an die Scholle, die den Bestand sichert, Stolz auf die Heimat mit ihren Vorzügen und Erzeugnissen, Liebe zu der oft nicht einmal ganz empfundenen Schönheit der Natur, Lust und Leid, sowie der bescheiden=vergnügliche Umgang mit seinesgleichen: das ist der goldene Feierabend, der (dem Stoffe nach) in der Dialektdichtung seither erklang und der auch in der Folge in ihr erklingen sollte oder wird. Auf Grund einer volksmäßigen Anschauung bauen sich die seelischen Vorgänge, baut sich die Gefühls= und Gedankenwelt auf, welcher der Dichter seine Stoffe zu entnehmen hat. § 73. Grenze der Abscheidung zwischen Hochdeutsch und Dialekt, oder Behandlungsmöglichkeit eines Stoffs für dialektische Poesie. Jn Beantwortung der berechtigten Frage, bis zu welchem Grade eine dialektische Behandlung irgend eines Gegenstandes gerechtfertigt sei, läßt sich im allgemeinen behaupten, daß alle Stoffe, wofür die Durchschnittsbildung eines Volks Jnteresse zeigt, zur Dialektdichtung geeignet sind, sofern diese Stoffe eine volksmäßige Sprache vertragen und in volksmäßige, dialektisch individuelle Bilder und Wörter gefaßt werden können. Alles, was dialektisch behandelt werden will, muß wie der Dialekt selbst jene Traulichkeit, Naivetät, Gewandtheit und jugendliche Frische atmen, welche das Hochdeutsche längst eingebüßt hat. Es eignet sich für den Dialekt wenig das Oratorische, Hochpathetische; um so mehr aber das Kernige, Einfache, Schlichte, Klare in der Phrase und alles Volksmäßige, was den Schwulst und den gezierten, geschraubten Ausdruck ausschließt. Besonders aber eignet sich für den Dialekt alles, was den treffenden Ausdruck der auf gesundem Menschenverstand beruhenden, praktischen Moral verlangt: die Spruchdichtung, ferner tiefe und innige, dabei aber ganz natürliche Empfindungen, vorzüglich aber alle Arten der sowohl derben, als schalkhaften Komik und Humoristik. Wie es im Dialekt Eigenartiges giebt, so findet sich auch im Hochdeutschen manches, was im Dialekt gar nicht, oder nur mit Umschreibung wiederzugeben wäre, indem dabei Ton und Klangfarbe verwischt werden würden. § 74. Behandlung der Stoffe. Wie sich das Volk in seinen Dichtungen nur an das wirkliche Leben hält und bei seiner rastlosen Arbeit keine Zeit zur Schwärmerei findet, so muß auch die Behandlungsweise des Dialektdichters Bilder schaffen, die der Wirklichkeit nachgezeichnet sind. Um nur eines zu erwähnen, so kann ein Kind aus dem Volke nicht „schlafen und träumen, bis Liebe es heißt auferstehn“; aber dieses Kind kann sich doch auch seinen Betrachtungen hingeben und in seiner eigenartigen Weise Ersehnen und Erfüllen zusammenhalten u. s. w. § 75. Ausdrucksweise und Sprache des Dialektgedichts. Wenn die Ausdrucksform im Dialektgedicht der Volksanschauung und dem Volksgefühl anzupassen ist, so muß auch die Sprache dem Volksmund entsprechen. Sie darf daher niemals eine hochtrabende sein. Aber da jeder Dialekt eine Menge Nuancen und Abstufungen vom Edleren zum Gewöhnlichen, vom Feineren zum Gröberen und Gemeinen hat, so soll der Dichter möglichst oben bleiben und die edlere Ausdrucksweise bevorzugen. Auch im Dialekt soll das Unschöne vermieden und das Schöne in naiv=idealer Weise zur freundlichen Anschauung gelangen, und dieser Grundsatz muß nach Möglichkeit auch da noch festgehalten werden, wo der derbe Humor zum Worte kommt; denn auch beim urwüchsigsten Humor muß man sich immer noch in guter Gesellschaft befinden. Die gröbere Sprache hat stets gröbere Stoffe im Gefolge, die eben der Dialektdichter bei Seite lassen soll, um nicht zur Vergröberung der Gefühlsweisen, der Sitten und des Ausdrucks beizutragen. Er soll ─ um mit Ad. Grimminger in „Moi Derhoim“ zu sprechen ─ „ das Volksgemüt in seinem Gemütssonntagsstaat “ darstellen. Als abschreckende Beispiele können Gedichte der verschiedensten Dialektdichter dienen. Wir beschränken uns auf folgende Probe von Weitzmann: Er (der Wunderdoktor) häb die feinista Maniera, Und d'Arbet gang ihm vo' der Hand, Und koiner könn so d'Leut balbira Und schreapfa, as wie's er verstand. De gsunde Leut geit er zum Speia, De kranke zum Purgira ei', Und wo ma hairt „o Jeses!“ schreia, So hoißts: Do muaß der Dokter sei'! u. s. w. § 76. Übertragung des Dialektgedichts ins Hochdeutsche und umgekehrt. I . Übertragung ins Hochdeutsche . Da das Verstehenlernen unbekannter Mundarten und das mühsame Zusammenstoppeln der fremden Dialektausdrücke nach unvollkommenen Wörterbüchern viele um den Genuß bringt, die Dialektgedichte als abgerundete Ganze, als lebendige Schöpfungen in vollem Geisteszuge zu genießen und sich diesem Vergnügen ungestört und unbefangen hinzugeben, so hat man es mehrfach versucht, die wirkungsvollsten Dialektdichtungen ins Hochdeutsche zu übertragen. (Jch erinnere nur an Robert Reinicks gelungene, empfehlenswerte hochdeutsche Übersetzungen der J. P. Hebelschen Dichtungen, die mit Bildern und Zeichnungen von L. Richter 1876 bereits in 6. Auflage in Leipzig bei Wigand erschienen und in welchen der Dichter-Übersetzer dem Wortgeiste hie und da die Worttreue geopfert hat, um den zarten Hauch natürlicher Unbefangenheit nicht durch eine pedantisch=wortgetreue Übersetzung zu einer steifen, hölzernen, kalten oder gar unverständlichen Wendung zu formen; mit Rücksicht auf die Schlichtheit des Verses hat er auch in verständnisvoller Weise die Wortstellung geändert, dem hochdeutschen Gedanken hochdeutschen Reim verliehen u. a. m.) Doch hat man nicht immer die erwartete Anteilnahme seitens des größeren, hochdeutschen Publikums gefunden, da sich mit der Verpflanzung des Dialektgedichts in fremden Boden häufig die Wärme des Kolorits, sowie Duft und Farbe der Ausführung verloren haben, gleichsam also dem schönen Schmetterling der Schmelz seiner Flügel abgestreift wurde. Diese Erfahrung müßte genügen, um mindestens Unberufene von Umbildung der Dialektgedichte abzuhalten und die Berechtigung der Dialektpoesie neben dem Hochdeutschen anzuerkennen. Um derartige Übertragungen anschaulich zu machen, beschränken wir uns auf eine charakteristische Probe aus einer süddeutschen Mundart. Nürnberger Mundart. Vorbemerkung. Abweichend vom Original hat sich die Übersetzung der Reimpaare bedient, und da dieselben gleiche Zeilenlänge begünstigen, so hat der Übersetzer durchweg akatalektische jambische Viertakter gebildet. ─ Man bemerke in der hochdeutschen Übersetzung die reiche Ausmalung des Gedankens gegenüber der volksmäßigen Behandlung im Original. Der Käfer. Original von Grübel. Dau sitz' ih, sieg an Käfer zou, Thout in der Erd'n kröich'n; Öiz kröicht er aff a Grösla naf, Dau thout sich's Grösla böig'n; Er git sih ober alli Möih Und rafft sih widder af, Und hält sih on den Grösla oh, Will widder kröich'n naf. Bald kröicht er naf, bald fällt er noh, Banah a halba Stund, Und wenn er halb oft drub'n iß, So ligt er widder drunt; Und wöi er sicht, daß goar niht geiht, Und daß er goar niht koh, So brat't er seini Flüg'l aus, Und flöigt öiz ganz dervoh. Öiz denk' ih: Wöi's den Käfer geiht, Su thout's dir selber göih; Der haut doch gleihwuhl meiher Föiß, Du ober haust ner zwöi. Du kröichst scho rum su langa Zeit Die Läng' und in die Quer, Und kummst döstwög'n doch niht weit, Und werst af d'Letzt wöi der. Wennst lang genoug dau in den Gros Übertragung von Fr. Halm. Jch ruhte still am Wiesenrain, Und vor mir kroch ein Käferlein; Ein Grashalm liegt in seiner Bahn, Den klimmt es unverzagt hinan; Der aber schaukelt sich im Wind, Und schüttelt's wieder ab gelind. Und wieder kaum emporgerafft, Umklammert es den schlanken Schaft, Und hebt still kletternd sich empor, Und wieder geht's ihm wie zuvor; Doch wieder keck erneut's den Lauf, Stürzt wieder und strebt wieder auf, Und jetzt, jetzt endlich ist's am Ziel ─ Und wieder fällt es, wie es fiel! ─ Da breitet's still die Flügel aus, Und in der Lüfte Blau hinaus, Als wär' der Mühen nun genug, Nimmt's leise schwirrend seinen Flug! ─ Und still im Herzen flüstert's mir: „Auch dir geht's wie dem Käfer hier; „Keck trittst du in des Lebens Bahn, „Und strebst und ringst und klimmst hinan, „Und rennst und jagst im tollen Lauf, „Und raffst dich stürzend wieder auf, Bist kroch'n, haust niht g'wüßt um wos, So wörst, nauch Sorg'n, Möih und Streit, Fortflöig'n in die Ewigkeit. „Und endlich, wenn du jahrelang „Dich abgemüht in heißem Drang, „Und suchtest ohne Unterlaß, „Und weißt am Ende selbst kaum was, „So breitest du die Flügel aus, „Und kehrst dich ab vom Erdengraus, „Und wie der Käfer schwingst auch du „Dich kampfesmüd' den Wolken zu!“ II . Übertragung ins Mundartliche . Es ist ohne Zweifel die Frage berechtigt, ob es angemessen sei, hochdeutsche Gedichte in Dialektform zu übertragen. Obwohl in dieser Richtung gelungene Versuche zu registrieren sind, so möchten wir uns doch nicht eben ermutigend aussprechen, da für die Übertragung des Hochdeutschen der lokale Boden des Originals fehlt und kein Grund vorhanden scheint, ein zuvor schon allen zugängliches Gedicht einem kleineren Kreise vielleicht in mangelhafterer Gestalt zu empfehlen. Humoristische Gedichte eignen sich noch am besten für Übertragung, doch liefern auch sie keinen Beitrag zur Kenntnis von Land und Leuten und deren Gebräuchen und Sitten. Dagegen könnte manchmal die in den Lokalboden verpflanzte humoristische Pointe eines Gedichtes für sich ein passendes, dialektisches Genrebildchen ergeben, wie dies beispielsweise die nachstehende Bearbeitung Reuters zeigt. Hier ist freilich von keiner Übersetzung mehr die Rede, sondern von freier Benützung eines entlehnten fremden Stoffes (Einfalles), der in neuer Form und Fassung nunmehr zu einem völlig neuen Gedichte wird. Romanze von Sangerhausen. (Musenalmanach 1783.) Als Marbod seinen Gaul bestieg, Fort in den Türkenkrieg Zu ziehn, da wünscht' ihm die Mama Mit Küssen Glück und Sieg. Mit Thränen sprach sie: „Triffst du nun Den Erbfeind an, mein Sohn, So handle, wie es Christen ziemt, Und gieb du nie Pardon. „Bring' uns die Siegeszeichen mit, Die deine Hand erficht, Damit die ganze Nachbarschaft Von deinen Thaten spricht.“ ─ Wie Unglück Helden gern verfolgt, So kam auch unser Mann Zum Unglück erst zu seinem Heer, Als schon die Schlacht begann. Doch faßt' er heldenmütig sich, Blieb halten wohlbedacht, Und brausend wie sein schnaubend Roß Sah er die ferne Schlacht. Des Tages drauf, beim Morgenrot Ritt er aufs Leichenfeld, Da lag ein Spahi hingestreckt, Und Zorn ergriff den Held, Der Held sein Schwert, entsetzlich war's Zu sehn, wie weit er's trieb! Denn wißt, daß er ihn jämmerlich Jn hundert Stücke hieb. Als so gekühlt sein Mütlein war, Zog er den Spahi aus, Und nahm den Panzer und den Rock Bedächtig mit nach Haus. Die Mutter freute sich: „Noch mehr,“ Sprach sie, „würd' ich mich freun, Wär's nur sein Kopf! dann könnt' er doch Nicht fürder schädlich sein!“ O fürchtet nichts! versetzt der Sohn, Bei meiner höchsten Ehr'! Denn wißt, als ich ihn traf, da hatt' Er schon den Kopf nicht mehr! Aus Läuschen un Rimels, von Fritz Reuter. „Na, Korl, wo is di dat denn gahn?“ ─ „„Jh, Herr, dat gung jo doch noch so““ ─ „Na, hest di düchtig 'rümmer slahn!“ ─ „„Ja, Herr, tauletzt bi Waterlo.““ ─ „Dor hest di denn woll eklich fecht't?“ ─ „„Ja, ümmer druf! as Blüchert seggt.““ ─ „Wo was dat denn? Vertell doch blos!“ „„Je, Herr, ick güng' e stiw up los, Un as ick irst so recht in Grimm, Dunn haut' ick rechtsch un linksch herüm, Un, Herr, den Einen haut' ick ─ Einen! Den'n haut' ick beide Beinen af.““ „De Beinen? ─ Wo? Woso, de Beinen? Worüm haut'st em den Kopp nich 'raf?“ ─ „„Je, Herr, de Kopp, de was all af! ““ § 77. Anforderungen an den Dialektdichter. Der Dialektdichter ist, ─ sofern er auf das Prädikat Dichter im edlen Sinn Anspruch erheben will ─ innerhalb seiner Sphäre an dieselben poetischen Gesetze gebunden, denen jeder Dichter im allgemeinen sich zu unterwerfen hat, da ja die Dialektpoesie kein Tummelplatz sein soll, auf welchem Ausschreitungen und Willkürlichkeiten gestattet sind. Eine Hauptanforderung ist Erwerbung von Feinfühligkeit, Ausbildung des ästhetischen Geschmacks und des musikalischen Gehörs, um entscheiden zu können, wo die Handlung nicht zu den Worten paßt, wo die Ausdrucksweise unschön oder geschraubt klingt, wo das Bild aus dem Rahmen fällt, wo Ungeschliffenes, Rohes, Unschönes in Klang und Wendung zu beseitigen ist u. s. w. Nur wenige Dialektdichter verstehen es, die mundartlichen Schätze zu heben und das Gold von den Schlacken zu scheiden. Während sich nämlich im Dialekt einerseits die naiven Empfindungen der Volksseele, die einfachen, ungeschminkten Gefühle der Natur künden und die Frische und Unmittelbarkeit ihrer Anschauungen ausprägen, enthält derselbe doch auch genug Ausdrücke, welche von sprachlicher Schwerfälligkeit, Schlaffheit, Nachlässigkeit &c. herrühren; ─ und nur ein feinfühliger Dichter wird mit sicherem Griffe das Gediegene, Edle, Anmutige des Dialekts in das Reich der Poesie einzuführen vermögen. Sodann muß der Dialektdichter Meister der Form werden und ─ eingedenk der Wahrheit, daß das Beste für das Volk gut genug ist ─ diese Form nimmermehr mit gemeinem Jnhalt vermählen. Auch in der Dialektpoesie ist der schönen Form ein hoher Vorzug einzuräumen, weshalb wir der Behauptung widersprechen, daß sich die Dialektdichtung auf die primitivste Form zu beschränken habe, nur weil meist Unberufene darin ihr Wesen trieben. Verschiedene Dialektdichter (vgl. Hebel, der sogar fremde Formen anwandte, Seidl, der allein 400 prächtige Vierzeilen schrieb, Rosegger, Reuter u. a.) haben gezeigt, daß dem Dialektgedicht von tüchtiger Hand auch recht wohl künstliche Verse und Strophen verliehen werden können. Der Veranlasser muß eben Dichter sein, der sie in seiner Gewalt hat, um auch bei schwierigen Formen (vgl. z. B. Grimmingers Nachtgang in „Moi Derhoim“) freundliche Gebilde zu bieten. Man darf dem Dialektdichter nicht anmerken, daß seine Arbeit eine mühevolle war, daß sein spröder Stoff Risse bekommen habe und nun notdürftig übertüncht wurde. Form und Stoff müssen in ungezwungener, naturgemäßer Weise harmonieren. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Dichter über seine Grenzen hinausgeschritten sein. Mancher Dialektdichter liebt es, im Gedichte banale Witze, Späße &c. anzubringen. Dies kann jedoch nur auf Kosten der Poesie und des guten Geschmacks geschehen und liegt sicherlich außerhalb der Mission des Dialektgedichts. Nicht Witzbold soll der Dialektdichter sein, wohl aber Humorist; nicht Verstand, sondern Herz und Gemüt sollen im Dialektgedicht ihre Lichter spielen lassen. Wo daher die Dialektpoesie statt mangelhafter Reimpaare und zweifelhafter Späße gutgeformte Poesie und gemütreichen Humor bietet, da wird sie sich dem herzigen, tiefgründigen Volksliede nähern und gleich demselben jenen Reiz entfalten, welchen (nach Goethe) dasselbe auch auf den ausübt, der auf höherer Bildungsstufe steht, so ungefähr, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend ihn fürs Alter haben. Jm Grunde genommen schreiben unsere Dialektdichter auch ihre Poesien nur für die gebildeten Kreise. Und wenn sich die Nachfolger dies stets vergegenwärtigen wollten, so würden sie infolge ihrer höheren Aufgabe und ihres ernsteren Auditoriums ihre Gebilde nach den Gesetzen des Schönen bleibendem Genusse weihen. Achtes Hauptstück. Übersetzungskunst. ────── § 78. Allgemeines und Geschichtliches zur Orientierung und Einführung. Die Ausgangspunkte der deutschen Übersetzungskunst. Die Kunst der metrischen Übersetzung aus fremden Sprachen ─ die Übersetzungskunst ─ ist eine schwere Kunst, welche wie jede andere Kunst erlernt und geübt werden muß. Es sind ja nicht bloß formale Momente, die in Betracht kommen, sondern tausenderlei Anforderungen, die sich auf den sprachlichen Ausdruck beziehen, auf Wiedergabe von unübersetzbaren Ausdrücken (z. B. Humor, Galanterie), auf Nachahmung der Quellen, auf den zu übertragenden Stil, der beispielsweise bei Herodot ganz anders ist, als bei dem reflektierenden, oft in dunkler Kürze sich haltenden Tacitus oder bei dem pragmatisch=historischen Thukydides &c. &c. Ohne Zweifel hat das Übersetzen großen bildenden Wert, weshalb es schon Plinius (im 9. Brief des 7. Buches) und Quintilian dringend empfehlen und die größten Geister von Cicero an (der Xenophons Bücher von der Haushaltungskunst und den Plato in seine Sprache übersetzte) bis in die Gegenwart es übten. Trotzdem wurde die Einführung in die Übersetzungskunst bis heute in keinem Lehrbuch darzulegen versucht, denn das von uns teilweise benützte, übrigens schon Ende der 50er Jahre erschienene Buch von Gruppe handelt von einzelnen Übersetzern aus den antiken Sprachen und ist lediglich eine historische Studie, der nichts ferner liegt, als die Praxis der Übersetzungskunst lehren zu wollen. Alle jene Männer, welche uns fremde Dichtwerke übertrugen, haben die Übersetzungskunst durch Übungen praktisch erlernen müssen, indem sie nicht selten durch langjährige, irreleitende Abstraktionen die Regeln einzeln und jeder für sich aufsuchten, bis sie zu festen Normen und Grundsätzen in Hinsicht auf deutsche oder undeutsche Wortbildung, Wortbiegung, Wortfolge, Wendungen &c. gelangten. Unsere ältesten Übersetzungen stammen aus dem griechischen (und lateinischen) Altertum; sie versuchten, den altklassischen Geist zum deutschen Nationaleigentum zu machen. Erst nachdem die Wirkungen des Griechentums erprobt waren, begann man, auch aus den Litteraturschätzen anderer Völker zu übersetzen. So wurden Shakespeare, Calderon, Ariost, Tasso &c. die unsrigen; so sind uns (namentlich seit Gründung der morgenländischen Gesellschaft in Kalkutta 1784) die Araber, Perser und Jnder näher geführt worden; so übersetzt man nunmehr aus dem Französischen, Schwedischen, Dänischen, Russischen, Serbischen, Ungarischen und allen halbwegs bekannten Sprachen. Für einen orientierenden Überblick über die Übersetzungen aus der frühesten Zeit bis in die Gegenwart ist zunächst zu bemerken, daß bei den ältesten Übersetzungsversuchen zur Zeit der Minnesinger (wo man nur nach Arsen skandierte) von poetischer Kunst füglich nicht die Rede sein konnte. Ebenso wenig war dies zur Zeit der Meistersänger der Fall, wo alle Kunst auf Silbenzählung abzielte. Erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts steigerten sich die Anforderungen an die Übersetzungskunst, namentlich seit durch K. Gesner der Versuch gemacht worden war, das heroische Versmaß des Hexameters ins Deutsche zu übertragen. Opitz (im 17. Jahrhundert) hob bereits als unterscheidendes Moment zwischen unserer und der antiken Sprache den Accent hervor; er führte den Jambus und den Trochäus ein und begründete die Nachbildung weiterer künstlerischer Maße aus der antiken Litteratur. Das importierte Maß des Hexameters, den zunächst Opitz' Zeitgenosse August Büchner in Wittenberg aufnahm (sodann die Pegnitzschäfer in Nürnberg), machte rasch Fortschritte, so daß bereits 1691 Christian Weise (in „Curieuse Gedanken von deutschen Versen“) gereimte Distichen schrieb, die lediglich aus Daktylen bestehen. Gottsched meinte, wir hätten lange und kurze Silben und vermöchten daher die antiken Maße nachzubilden. Er selbst bildete in der „kritischen Dichtkunst“ reimlose Hexameter und gab verdienstvolle Proben von Distichen Anderer (z. B. des Heräus). Am gewaltigsten wirkte Klopstock auf die Übersetzungskunst durch sein Studium der antiken Maße und deren praktische Anwendung in der Messiade, wodurch er die Möglichkeit bewies, dem deutschen Hexameter gleichfalls rhythmische Beweglichkeit zu verleihen. Klopstocks heller Blick erkannte, daß wir bei Übersetzung des antiken Maßes in unserer Sprache den Spondeus durch den Trochäus ersetzen können; auch entging ihm nicht, daß der Hexameter eine leichtere (fließendere) Periodisierung gestattet; er bekämpfte den Amphibrachys (⏑ – ⏑). Sein die freiere Übersetzung begünstigender Vorgang hatte großen Einfluß auf die Übersetzungskunst; die Entwickelung derselben vollzog sich in engem Zusammenhang mit allen jenen Bestrebungen, welchen wir das Aufblühen unserer Litteratur, wie unserer wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen verdanken. Seit Klopstock begann man ernstlich die Dichtwerke fremder Nationen zu übertragen. Einzelne übersetzten in Alexandrinern, andere (z. B. Heinse den Ariost 1782) in Prosa. Lessing scheint in seinen Litteraturbriefen (31. Brief) noch die Übersetzung in Prosa zu befürworten, indem er ausruft: „Da der Deutsche in seiner poetischen Prosa am treuesten sein kann, warum soll er sich das Joch des Silbenmaßes auflegen, wo er es nicht sein kann.“ Jn seinem Laokoon hält er es für unmöglich, die Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lasse, in eine andere Sprache zu übertragen. Herder hat sich in seinen Fragmenten für die metrische Form poetischer Übersetzungen entschieden, indem er dort ausspricht, daß er bei Übersetzung Homers nicht gerne Poesie und Hexameter vermissen möchte. Zum Zusatz: „ aber Hexameter und Pentameter im griechischen Geschmack “ haben ihn jedenfalls die stillosen, in der Prosodie prinziplosen Versuche Steinbrüchels (3. Buch der Jlias, 1763) oder die früheren von Joh. Sprenger (1610) veranlaßt, wie ihn ebenso wahrscheinlich Meinhards Versuche mit Homer bestimmten, in „Krit. Wälder“ (1. Wäldchen) wiederum die Prosa= Übersetzung zu empfehlen. Es folgten Übersetzungen auf Übersetzungen. Eine der ältesten scheint die (1757 zu Basel) in Hexametern erschienene: „Vier auserlesene Meisterwerke so vieler englischer Dichter“ &c. zu sein, über deren schlechten Ausfall sich Lessing in den Litteraturbriefen (39. Br.) ergötzt. Zachariä übersetzte den Milton im Maße der Messiade, um die im Deutschen bereits eingebürgerte antike Form zu haben. Dafür versuchte nun wieder Bürger, dem freilich die philologischen Kenntnisse eines Voß abgingen, den Homer in Miltons Blankvers zu übersetzen, wobei er seinen (spezifisch Bürgerschen) Jambus mit allen Fehlern jener Zeit anwandte. (Sein Vorgehen verteidigte er im Oktoberheft des deutschen Merkur 1776.) Männer der verschiedensten Geistesrichtung und Bildung vereinigten sich nunmehr in dem Bestreben, das homerische Epos unserer Sprache zu vermählen. Zwei Jahre nach Bürgers Versuch (1778) erschien Bodmers Übersetzung der Jlias im Hexameter, die allenthalben den lateinischen Ursprung verrät. (Der Verfasser unterdrückt die Verbindungspartikeln, gestattet sich syntaktische Abschlüsse, wo im Original die Rede fortfließt und hält sich nicht an den Periodenbau Homers.) Jugendlich frischer, wenn gleich noch ungenügend ist die Homerübersetzung der Gebrüder Stolberg, die mit Wiedergabe des Sinnes zufrieden ist, ohne sich pedantisch um das Einzelne zu kümmern. Sie ist wegen ihres Anschlusses an die „Griechheit“ (griechischen Sinn, Geist, Form) als Anfang deutscher Übersetzungskunst im eigentlichen Sinn anzusehen; sie veranlaßte das Unterbleiben der oben erwähnten, von Bürger geplanten Übersetzung. Voß als Begründer der deutschen Übersetzungskunst. Eine Epoche in der Übersetzungskunst bildete J. H. Voß mit seiner Homerübersetzung. (Odyssee 1781; Homers Werke 1793.) Dichter und Gelehrter zugleich erstrebte er vor allem Treue in der Übersetzung. Wort für Wort übertrug er das Original, und er suchte schöpferisch selbst den griechischen Wendungen und Wortbildungen gerecht zu werden. So wurde seine Versbildung charakteristisch, originell, freilich häufig ungelenk, steif, hölzern, undeutsch. (Jch erwähne u. a. nur der helmumflatterte Hektor (7, 234), hellumschiente Achaier (1, 17), der Vermischer (5, 903), mir nicht ist's anartend (5, 253) u. s. w.) Durch Einfügung von Trochäen und Spondeen gab er seinem Hexameter einen dem Original entsprechenden, nicht hastenden, epischen Gang. Den männlichen Gang des homerischen Hexameters, der im 4. Takt auch keine weibliche Cäsur hat, erreichte er durch die männliche (epische oder heroische) Cäsur im 3. oder 4. Takt. Auch die sogenannte bukolische Cäsur (die nach I . 350 dieser Poetik richtiger bukolische Diärese zu nennen ist) wendet er nach Homers Vorgang an u. s. w. So widerlegte er die Ansicht Lessings von der Unübersetzbarkeit des Homer; so wurde er der Begründer der deutschen Übersetzungskunst und ─ mit seinen weiter unten zu erwähnenden Übersetzungen aus dem Lateinischen ─ der hervorragendste Übersetzungsmeister aller Zeiten. Er war es, der den Deutschen erstmals einen deutschen Homer gab, und der eben damit der Bildung des Jahrhunderts den herrlichen Jnhalt des klassischen Altertums in würdiger Weise wie durch einen Zauberschlag erschloß. Er bewies durch die That, was unsere elastische Sprache zu leisten imstande ist. Goethe sagt daher mit Recht (im westöstlichen Divan): „Wer jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile dem geistreich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakespeare und Calderon, als eingedeutschte Fremde, uns doppelt und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Litteraturgeschichte unbewunden aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug!“ Schlegel (wie Voß ─ zugleich Dichter und Philologe) hat in Wiedergabe (Übersetzung) des Maßes weiter bewiesen, wie die Elegie und das elegische Distichon zu behandeln sind. Um das antike Prinzip durchzuführen, hat er mitunter eine wunderliche Prosodik beliebt, indem er trochäische oder jambische Satztakte (z. B. „wiewohl“) als Spondeen anwandte u. s. w. Seinem späteren Verbannungsedikt des von ihm ursprünglich angewandten Trochäus aus dem deutschen Hexameter neigten sich viele Philologen in ihren Übersetzungen freilich ohne endgültigen Erfolg zu. Sein kaum 500 Hexameter umfassendes Beispiel (die Elegie „Rom“) liefert noch nicht den praktischen vollgültigen Beweis für die Durchführbarkeit des antiken Spondeus, während der Übersetzer Voß in 70 000 Hexametern die Berechtigung des Trochäus im deutschen Hexameter praktisch und glanzvoll beweist. Hiezu kommt, daß Schlegels freie Bearbeitung mit Voßens Übersetzungen in Hinsicht auf Schwierigkeit gar nicht verglichen werden kann. Auch die ersten hundert Verse der Odyssee in trochäusfreien Versen, mit denen Fr. Aug. Wolf auf die Seite Schlegels trat, konnten höchstens den Versifikator beweisen. Jhnen mangelt Voßischer Fluß; sie vernachlässigen die Cäsur im 4. Takt, sie verschieben den Accent und sind in ihrer Summe geradezu unverdaulich &c. Doch waren sie von großem Einfluß auf viele Übersetzer bis in die Gegenwart. Goethe's Einfluß. Eine Steigerung der Anforderungen an den Übersetzer bewirkte die klassische Ausdrucksweise Goethe's und später die Formenschönheit Platens in deren Anerkennung seitens der Nation. Goethe, der viel von Voß gelernt hat und sich auch seine Prosodie aneignete, drang mehr als alle seitherigen Übersetzer in den griechischen Geist ein, den eigene Produktionen (z. B. Hermann und Dorothea) wie auch Übersetzungen atmen. Wie prächtig deutsch klangen seine antiken Maße im zweiten Teile des Faust, in der Pandora &c.! Man erkannte das Genie im Gegensatz zum Privatfleiß der philologischen und selbst der Voßischen Arbeitsstube. Goethe hatte gezeigt, welcher Behandlung die deutsche Sprache fähig sei. Was Wunder, daß er der Maßstab für die Übersetzer wurde! Nunmehr verlangte man in allen Übersetzungen ungezwungene, unverrückte, natürliche Sprachweise: ein ungekünsteltes schönes Deutsch. Es wuchs der Mut, die geschraubte konventionelle Übersetzungssprache geschmacklos zu finden und lieber einen weniger gesetzmäßigen Vers zu wünschen, wenn derselbe nur dem deutschen Accent entsprechend gebildet wurde. Ja, man forderte eine Umkehr zum Schönen, wodurch der Übersetzungskunst eine neue Aufgabe erblühte und sie in ein höheres Stadium gerückt wurde. Platens Einfluß. Den Einfluß Goethe's auf die Übersetzungskunst bestätigte und verstärkte später Platen durch Reinheit und Wohllaut des Verses, durch seine geniale Sprachbewältigung, durch seine Vornehmheit im Stil. Nach Goethe und Platen wurde die Zahl der handwerksmäßigen Übersetzer bedeutend geringer, da nur wenige solch hohem Maßstab zu entsprechen vermochten. Der Einfluß Goethe's und Platens wirkte wie Sonnenlicht belebend, befruchtend, verschönend auf die sämtlichen Übersetzungen unseres Jahrhunderts, was wir in einzelnen Gruppenbildchen in nachstehenden Kapiteln andeutend darthun wollen: I . Griechische Dichter. a . Epik. (Homerübersetzungen. Hesiod. Bukoliker .) b . Lyrik. (Elegiker. Anthologie. Pindar.) c . Drama. (Aristophanes' Lustspiele. Die Tragiker. Moderne Bearbeiter.) II . Römische Dichter. (Horatius. Martialis. Catullus. Ausonius . Tibullus. Plautus. Terentius. Propertius. Persius. Juvenalis. &c.) I . Griechische Dichter. a . Epik . ( Homerübersetzungen. ) Das Streben nach einem besseren Deutsch, als das Voßische ist, regte vor allem die Versuche neuer, deutsch lesbarer Homerübersetzungen an. 1822 erschien als Probe die Übersetzung des 10. Gesangs der Odyssee von Konrad Schwenk, sowie des I . Buchs derselben von Kannegießer. Beide schlossen den Trochäus aus, suchten aber das gespreizte Voßische Übersetzungsdeutsch zu vermeiden, was ihnen freilich am allerwenigsten an jenen Stellen gelang, wo es galt, zur Vermeidung eines Trochäus einen Daktylus zu bilden (z. B. beförderen, gesteueret &c.). Kannegießer suchte sich dem modernen Geschmack anzubequemen, indem er sich im Hexameter sogar Binnenreime gestattete (z. B. zog und bog es geschäftig). Voß Sohn veranstaltete 1837 eine neue Odysseeausgabe; aber er hat doch nicht größere Erhabenheit im Ton mit größerer Einfachheit und Schönheit zu einen vermocht. Spätere Homerübersetzer haben zum Teil wieder die höheren Ziele über dem Bestreben vergessen, trochäenfreie Hexameter herzustellen, (wobei sie häufig Spondeen bildeten, die nicht als solche zu betrachten sind). Weniger ist dies der Fall in der sehr verbreiteten Ausgabe des ganzen Homer von E. Wiedasch in der Metzlerschen Sammlung (13 Bändchen) als bei Jakob, welcher sogar das Gesetz der Cäsur im 3. und 4. Takt verletzt, halbierte Hexameter bietet u. a. m. Eine Art popularisierten Voß hat Monje (Frankfurt 1846) durch seine Jliasübersetzung geliefert, die sich das Ziel setzte, den gelehrten Anstrich zu vermeiden und die Einfachheit des Originals zu wahren. Sie wollte möglichst treu sein und die Wörtlichkeit nur verlassen, wo sich diese mit dem fließenden Versbau und dem lebensfrischen Ausdruck nicht vereinen läßt. Dadurch wurde sie eine eklektische Überarbeitung, welche die Voßische Übersetzung keineswegs überflüssig macht. ( Hesiod. ) Neben dem gewaltigen Homer fand auch der Epiker Hesiod seine Übersetzer. Bereits 1806 war die Hesiodübersetzung von Voß erschienen. Neben minderwertigen Versuchen sind sodann zu erwähnen: Gebhard und insbesondere Ed. Eyth, dessen im Versmaß der Urschrift erschienene Übersetzung (1858) große Anerkennung fand. Eyth setzte sich große Einfachheit und Treue zum Ziele. Die Rücksicht auf Treue gebot es ihm, die Feinheit und Abgeschliffenheit in der äußeren Form des Verses, welche er für Homer in Anspruch nimmt und diesem zu Teil werden läßt, weniger zu verlangen. ( Die griechischen Bukoliker. ) Theokrit, Bion, Moschus wurden in lesbarer, zuweilen an Goethe erinnernder Weise übertragen: vom halbvergessenen Bindemann (1797), Voß (1808), Naumann, ferner von Mörike und Notter. Besonders den letzteren war es um gefälligen, natürlichen Vortrag zu thun. Eine vollständige brauchbare Übersetzung der erwähnten Bukoliker lieferte F. Zimmermann. Die Jdyllen Theokrits übersetzte Fr. Rückert (1867) unter teilweiser Anlehnung an Bindemann, dessen feineren Sinn und reinstes Gefühl er rühmt, während er die übrigen Übersetzungen „harthörig“ und „ohrzerreißend“ nennt und die „gelehrten Verbesserer“ tadelt, die dem Theokrit „den Geist aus= und den eigenen einblasen“. b . Griechische Lyrik . Den Begriff der griechischen Lyrik, welche teilweise nur durch die, in Goethe's Vorbild begründete Ermutigung übersetzbar wurde, nehmen wir hier im weitesten Sinne. Die griechische Lyrik hat sich in der Stufenfolge von Elegie, Jambus und Melos entwickelt. Es ist daher auch der Jnhalt der Anthologie und des Epigramms hier zu erwähnen. ( Elegiker. ) Die elegischen Dichter der Hellenen ließ E. Weber bereits 1826 erscheinen, indem er Passows Vorarbeiten benützte, wobei er freilich weniger den künstlerischen Anforderungen Goethe's, als denen der Philologen genügte. 1827 machte R. Naumann (Prenzlau) einen Versuch, der geringe Beachtung fand u. s. w. ( Anthologie. ) Dichterisch schwungvoll und in Goethe'schem Deutsch hat uns Herder das griechische Epigramm übertragen (vgl. Deutsche Blumenlese 1785). Zwar zeigt er noch bedenkliche prosodische Mängel; auch hat er sogar die beiden Daktylen im letzten Hemistichium des Pentameters vernachlässigt; aber seine Epigramme verbinden griechischen Geist mit größerer Freiheit in der Form. An seine Weise sucht sich Fr. Jacobs (in „Tempe“ 1803, verbessert in „Leben und Kunst der Alten“ 1824) anzuschließen; er bedient sich mancher Freiheiten, indem er die Namen verändert, vom Satzbau abweicht u. a. m., doch ist er in seiner deutschen Prosodik, die nicht einmal die Länge der Stammsilben beachtet, hinter ihm zurückgeblieben. Herder blieb Muster für alle späteren Anthologie-Übersetzer bis in die Neuzeit: für Gottl. Regis (1856), wie für Weber und Thudichum, welche 1869 die vollständige Sammlung herausgaben. Stücke von Sappho, Alcäus u. s. w. finden wir auch in der Anthologie. Als neueste, glückliche Übersetzung der Lieder der Sappho verdient Geibels Klass. Liederbuch Erwähnung. (Bezüglich der lyrischen oder melischen Partien im Drama verweisen wir auf die betreffenden Abschnitte.) ( Pindar. ) Die Einbürgerung der durch Klopstock vermittelten Odenmaße stellte oft unüberwindliche Anforderungen an den Übersetzer und erinnerte unwillkürlich an Cicero's Ansicht, daß Maße von allzu großer Künstlichkeit dem Ohre als regellos und wieder wie bloße Prosa erscheinen. Bei Pindar, der sich häufig von der natürlichen Redeweise entfernt und sich nicht selten in Schnörkel und Zieraten verliert, waren die Schwierigkeiten in Hinsicht auf Metrum, Sprache, Charakter und Gegenstand früher kaum zu bewältigen, weshalb wohl die älteste Übersetzung (1771) und auch spätere Versuche die Prosa wählten. Man hielt ─ nicht mit Unrecht ─ Pindars Oden für ein Analogon zu dem, was man in der bildenden Kunst den hieratischen Stil nennt, und meinte, es herrsche in ihnen ein traditionelles Element vor, das ihnen eine Steifheit und Schwerfälligkeit auferlege, die zum würdevollen Charakter zu gehören scheine, die aber ─ weil sie das allgemein Gültige entbehre ─ keine Übertragung in eine andere Sprache zulasse. Trotzdem fand Pindar die bekannten Übersetzer Thiersch (1820), Mommsen (1846), Ludwig und L. F. Schnitzer (1860), welche zunächst eine getreue Nachbildung seiner kunstvollen Maße versuchten, deren Ausführungen aber den Gedichten nicht zum Vorteil gereichten. (Man kann behaupten, daß Thiersch ohne den griechischen Urtext kaum verständlich sei; auch seinen Nachfolgern, sogar Mommsen, geht es an vielen Stellen kaum besser, obwohl gerade der letztere sich viele Freiheiten gestattet, nur um das Metrum genau einhalten zu können. Wo die Übersetzer größere Deutlichkeit erstrebten, wurden sie nicht selten prosaisch.) Daß Pindar auch lesbar zu übertragen sei, beweist zunächst unser, Goethe so nahe stehender Wilhelm von Humboldt, der in seinem geistreichen Versuch einer Übersetzung mehrerer Gedichte (Ges. Werke II , 264─355) trotz mannigfacher Abweichungen vom Metrum, von der Gedankenverbindung &c. doch gerade genug zu erhalten wußte, um Pindars Bedeutung und Eigenart erkennen zu lassen. Vor allem aber zeigt Minckwitz, daß die dichterische Befähigung des Übersetzers auch einen lesbaren Pindar zu vermitteln vermag. Seine Übertragung liest sich nicht selten wie ein deutsches Original. Er ist bei seinen Übersetzungen Pindarscher Hymnen weiter vorgeschritten als sein Maßstab und Meister Platen: a . in der Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen Strophen als Dreigliederung anreihte und b . im freieren flüssigeren, deutsch anmutigen Stil u. s. w. c . Dramatische Dichtung . ( Griechisches Lustspiel. Aristophanes. ) Da es in der Natur der Sache liegt, daß bei unserer Darstellung der Übersetzungen des griechischen Drama wenig Raum für das Lustspiel bleibt, so wollen wir im Voraus bemerken, daß auch Aristophanes schon frühe die Übersetzer beschäftigte. Auf die steife Übertragung J. H. Voßens (1821) folgten die freieren, lesbaren Übersetzungen von Droysen (1838 und 1871), Seeger (1848), Minckwitz (1855) und Donner (1861); erwähnenswert ist noch die Schnitzersche Übertragung, sowie „ausgewählte Komödien“ von Schnitzer und Teuffel &c. ( Griechische Tragiker. ) Die Übersetzungen der griechischen Tragiker vor Goethe sind zum Teil vergessen. Jch erinnere nur an den ersten Versuch in moderner Reproduktion von Spangenberg (Sophokles' Ajax 1608), an Opitz (Antigone 1646), an die erste metrische Gesamtübersetzung eines griechischen Tragikers: nämlich an Christian Stolbergs Sophokles (1787), die für den Trimeter den Blankvers anwandte und für die Chormaße beliebige lyrische Strophenformen (alkäische, sapphische) beliebte &c., eine Willkür, welche Föhse (1804) zu seiner Übersetzung in Alexandrinern ermutigte; ich erinnere endlich an Asts Übersetzung, welche zum erstenmal des Trimeters sich bediente. Erst die in der Goethezeit entstandenen Übersetzungen erlangten Ansehen: zunächst Solgers Übersetzung des ganzen Sophokles (1808). W. v. Humboldt unternahm 1816 die Herausgabe von Äschylus' Agamemnon. Diese Arbeit unterscheidet sich von dem 1802 erschienenen Versuch Fr. Leop. v. Stolbergs vorteilhaft durch deutsche, freundliche Wiedergabe der einfach natürlichen Sprachweise des Äschylus in Anapästensystemen und im Trimeter. Humboldts Arbeit, welche die Möglichkeit einer Äschylus-Übersetzung beweist, ist insofern von größerer Bedeutung, als sie nachweisbaren Einfluß auf die Äschylus-Übersetzung von Heinr. Voß (dem Sohne) übte; ebenso auf Gust. Droysens moderne Übersetzung (1832), sowie auch auf die Sophokles-Übersetzung von Thudichum (1827/38). Übertroffen wurde Humboldt durch Ottfried Müllers Übersetzung: die Eumeniden des Äschylus (1833), die in Sprache und Vers ─ namentlich auch in den Chormaßen ─ vollendet ist. Ebenso wurde er überragt durch die Äschylus-Übersetzung von Donner, besonders aber durch die von Johannes Minckwitz (in der allen Bibliotheken warm zu empfehlenden, vollständigsten Metzlerschen Sammlung: „Griechische und römische Prosaiker und Dichter in deutschen Übersetzungen“). Minckwitz, Dichter und Philolog, also berufenster Übersetzer, hat die imponierende Aufgabe gelöst, die griechischen Tragiker im Geiste seines großen Vorbilds Platen zu übersetzen. Er bestrebte sich, wörtlich und wortgetreu zu sein, und dem Genius unserer Sprache gerecht zu werden. Er hielt es für die hohe Aufgabe des Übersetzers, den besonderen Ton jeder Versart zu treffen und die Schönheit des Versbaus doch nicht außer acht zu lassen. Seine Äschylus-Übersetzung steht noch über seiner Sophokles-Übertragung und sie übertrifft die Arbeiten Droysens, Voßens, ja selbst Donners, der doch sonst seine Muttersprache zu handhaben versteht und zum mindesten eine lesbare (wenn auch trochäusfeindliche) Homerübersetzung geboten hat. Verdienstlich ist es, daß sich Minckwitz der uneigennützigen Mühe unterzog, Ödipus, Antigone; die Phönizierinnen, den Kyklops und die Jphigenie auf Tauris des Euripides wiederholt ganz neu zu übertragen. Es genügte ihm keineswegs die bloße, redigierende Umänderung seiner Stücke. Obwohl seine Jugendversuche sogar die Anerkennung des übersetzungsfeindlichen Gottfr. Hermann gefunden hatten, so sah er sich doch zu einer völligen Neuproduktion veranlaßt. Ungerechten, ja unvernünftigen Tadel fand sein Euripides nur bei Hartung, der doch hätte anerkennen sollen, daß Euripides wegen seiner Kürze besondere Schwierigkeiten bietet, und Minckwitz durch Anwendung großer formeller Freiheit den Euripides lesbar zu machen wußte. Als gute Übersetzer des Euripides (der schon von Manso 1785, Jakobs 1805, Bothe 1800, 1822, Franz von Prevost 1782 &c. übertragen wurde) sind neben Minckwitz zu nennen: Donner (1841─52), Hartung (1848─53), Fritze (1856─69) u. a. Die Übersetzungen des Euripides hatten den Wunsch nach einem guten Sophokles angeregt. Thudichums Übersetzung erschien 1837. Bedeutender war die Übersetzung Donners, der das konventionelle Übersetzerdeutsch in einer Weise zu vermeiden strebte, daß Preußens König seine Antigone (im Herbst 1841) im Neuen Palais zu Potsdam aufführen ließ. Die neueste Übersetzung des Sophokles von C. Bruch (1880) in den Versmaßen der Urschrift giebt zwar das Metrische möglichst treu wieder, verfährt aber mit dem dichterischen Ausdruck ziemlich willkürlich. Moderne Bearbeitungen der griechischen Tragiker. Mehrere Übersetzer der griechischen Tragiker haben (nach Schillers Vorgang, der die Jphigenie in Aulis und Scenen aus den Phönizierinnen des Euripides übertragen hat) eine Reproduktion der antiken Tragödie in modernen Versformen versucht: im Dialog durch Einführung des Blankverses, in den lyrischen Partien durch die Wahl einfacherer, uns geläufiger Rhythmen teils mit, teils ohne Anwendung des Reims. Es läßt sich nicht leugnen, daß der langatmige, jambische Trimeter für unser Ohr, das sich an den leichten Fluß des englischen Verses gewöhnt hat, zumal in längerer Rede, etwas Schweres und Steifes, ja Unnatürliches hat, während durch die Vertauschung desselben mit dem kurzen jambischen Verse der Ton leichter und natürlicher wird. Ebenso bringen die in freierem Rhythmus nachgebildeten Chorgesänge einen ganz anderen Eindruck hervor, als die in das antike Versmaß gezwängten, den Worten des Originals mehr oder weniger sich nachschleppenden Verdolmetschungen, bei welchen wir nicht imstande sind, auch nur annähernd das zu fühlen, was die Griechen beim Anhören ihrer Chorgesänge empfunden haben mögen: schon deshalb nicht, weil uns Modernen die antike musikalische Begleitung fehlt. Um einen musikalischen Eindruck zu erzielen, muß man, wie Schiller gezeigt hat, den Reim zu Hilfe nehmen. Jn dieser Weise sind die griechischen Tragiker ganz oder teilweise von Wilh. Jordan, C. Th. Gravenhorst, Oswald Marbach, Adolf Wilbrandt, Theod. Kayser u. a. übertragen worden. W. Jordan (Sophokles) und Ad. Wilbrandt (Stücke aus Sophokles und Euripides) verzichten auf den Reim; letzterer hat überhaupt die Chorgesänge vielfach ganz frei umgestaltet. Oswald Marbach, der Übersetzer des Sophokles (1867), hat in neuester Zeit auch Äschylos' Tragödien meisterhaft übersetzt (1883). Nicht Worte, Verse und Vorstellungen, sondern Gedanken, Empfindungen und Charaktere suchte der gelehrte Dichter-Übersetzer treu wiederzugeben und neu zu beleben. Theodor Kayser hat die beiden Ödipus und die Antigone des Sophokles, sowie die taurische Jphigenie des Euripides ebenso mustergültig übersetzt (1878 ff.). Diese Übertragungen stehen auf der Höhe der Übersetzungskunst: sie lesen sich wie deutsche Original-Dichtungen und bleiben dabei doch dem griechischen Originale treu. Geradezu bewundernswert ist die Kunst, mit welcher es Kayser in den dichterische Kraft beanspruchenden lyrischen Partien wie keinem seiner Vorgänger gelang, durch gefällige Verschränkung der Reime, durch angemessenen Wechsel von längeren und kürzeren Versen, durch eine dem Jnhalt entsprechende Mannigfaltigkeit der rhythmischen Bewegung alle Einförmigkeit zu vermeiden und einen dem Original möglichst verwandten Eindruck hervorzurufen. II . Römische Dichter. Schon lange vor Voß und nachdem man die griechischen Maße übertragen und sich an griechischen Dichtern versucht hatte, wagte man sich auch an römische. Zu erwähnen ist zuerst und besonders der geniale Ramler. Dieser, von Lessing auch in Handhabung der Feile anerkannte Meister, hat zuerst die antiken Odenmaße des Horaz übertragen, wobei er freilich nur 20 der leichteren Oden auswählte, jedoch große Feinheit und Sauberkeit namentlich seinen Vorgängern gegenüber bekundete. Er läßt weg, setzt zu, wie es unsere Sprache verlangt, so daß sich seine Übersetzungen fast wie Originalgedichte ausnehmen. Er verschaffte den antiken Versmaßen große Geltung und half das Gefühl für Formbestimmtheit wecken. Seinen Übersetzungen im Auszug aus dem Martial (1787) und (1793) dem (neuestens auch von Alex. Berg übersetzten) Catull werden große Vorzüge auch in Beziehung auf Reinheit der Form nachgerühmt, wenn er auch im Hexameter ungeschickt ist und haarsträubende Pentameter enthält, welche unsere Längen als Kürzen behandeln z. B.: Sō mīt Hāusrăt vĕrsēhn, īst dĕin Hăus wōhlfĕil, Ŏpīn! so daß auch auf Ramler das erheiternde Xenion passen würde: Dīesĕr hĭer īst ēinēr vōn jēnĕn jŭgēndlĭchĕn Dīchtērn, Dēnēn Kīrchtŭrmsknŏpf Dākty̆lŭs īst ūnd Klōpstŏck Trŏchǟŭs. (Anm. Nach damaliger Meinung, welche die deutsche Sprache quantitierend messen wollte, mußten die Positionslängen das Wort „Klopstock“ zum Spondeus und „Kirchturmsknopf“ zum Molossos (– – –) stempeln. Nach unserem Standpunkt, der nach deutsch=musikalischem Accent- und Rhythmusgefühl über Schwere und Leichtigkeit der Silben entscheidet, ist Klopstock Trochäus (oder trochäischer Spondeus) und Kirchturmsknopf Daktylus, dessen Schwere noch dazu durch das darauf folgende Wort „Daktylus“ gemildert wird. „Denen“ ist uns trotz seiner Beziehung und trotz des Parallelismus zu „jenen“ accentgemäß eher Pyrrhichius (⏑ ⏑) als Trochäus). Nach Ramler war es der durch seine Homer-Übersetzung hochverdiente J. H. Voß, welcher auch in Übersetzung römischer Dichter Gewaltiges leistete, wobei er leider seine stereotype Behandlungsweise beibehielt. Sein pedantisches Erstreben der Treue führte ihn zu einer konventionellen Übersetzersprache, so daß sich seine Metamorphosen des Ovid, sein Horaz, sein Tibull, sein Vergil (gleich den Lukas Kranachschen bürgermeisterlich=wittenbergschen Typen in der Malerei) außerordentlich ähneln und dem Freunde deutscher anmutiger Poesie in ihrer Steifheit den Genuß stören. Sein bei Ovid, wie bei dem von ihm gut ausgeführten Vergil bewiesenes Bestreben, dem römischen Charakter die deutsche Sprache anzubequemen, rächte sich besonders in den Odenübersetzungen des fein urbanen, in Ton, Ausdruck und sprachlichem Gehalte wechselnden Horaz, indem bei Voß eine Beziehung der andern ähnlich sieht, und die hölzerne Übersetzungssprache Leben, Geist, Lieblichkeit, Schmelz und Duft verscheucht. Dies gilt auch mehr oder weniger von seiner Übersetzung einzelner Teile des Ovidschen Festkalenders, der später von Karl Geib (1828), sowie besonders von dem strengen E. Klußmann (1859) übertragen wurde, welch letzterer den rhetorischen Accent des Originals nachahmt und die Vertauschung des Spondeus mit dem Trochäus nicht gestattet. Nach Ovid erschienen viele zum Teil hochbedeutende oder für die Genesis der Übersetzungskunst erwähnenswerte lateinische Übersetzungen. Ludwig Trost, der noch mit der Metrik zu kämpfen hat, übersetzte 1824 des Ausonius Mosella; ebenso Böcking, der den Anforderungen der Zeit zu entsprechen sucht. Gruppe bot 1838 in dem trefflichen Buche „die römische Elegie“ Übersetzungen aus Catull. Den Catull übersetzte übrigens bereits 1829 Schwenk, sodann noch (1855) Th. Heyse. Beiden sind die lyrischen (erotischen) Stücke besser gelungen, als die an Voßische Geschraubtheiten erinnernden, trochäenfreien epischen. Jn die durch Goethe gewiesenen Bahnen trat Koreff mit seiner Tibull= Übersetzung (1810), ferner Günther und Strombeck (1825). (Letzterer hatte schon 1795 den Anfang mit der Ars amandi gemacht, die in neuester Zeit Hertzberg übersetzte, sowie in freierer Form J. F. Katsch-Stuttgart. Die neuesten Tibullübersetzer sind Teuffel und Binder.) Ebenso strebte in Ebenmaß und Natürlichkeit Neuffer (1816) in seiner Übersetzung der Äneis von Vergil dem Vorbilde Goethe's nach. Er läßt den Trochäus zu, giebt aber dafür an manchen Stellen den Charakter seines Originals auf. Köpke übersetzte (1809 und 1820) 9 Komödien aus den 20 erhaltenen des Plautus, wobei er den Anforderungen unserer Sprache gerecht zu werden versuchte, ohne den Geist der antiken Sprache zu verletzen. Plautus mit seiner eigenartigen Metrik liebt es besonders in Bacchien (⏑ – –) geschwätzig zu sein, was ihm Köpke prächtig nachmacht, wenn er auch hie und da einen Amphibrachys einmischt. Köpke hat auch 2 Lustspiele des Terenz übertragen, dessen älteste Übersetzung aus 1499 herrührt. Nach Köpke übersetzten den Terenz Fr. Jakob (1845), Th. Benfey und Joh. Herbst. Den Plautus übersetzten noch Donner, Geppert, Hertzberg und Wilh. Binder, der seine Lustspiele (von 1862 an) in mehreren Bändchen herausgab. Den Propertius übersetzte Hertzberg; desgleichen v. Knebel, besonders aber Binder, der 1868 auch den Lucretius übertrug, von welchem bereits die (der Meinekeschen Übersetzung von 1795 folgende gute) Übersetzung v. Knebels (1829, 1831) vorlag, die den naiven Ton des Lucretius noch besser trifft, als den oratorisch pathetischen. An Persius und Juvenalis, die wegen ihrer dunkeln Anspielungen und rätselhaften Verbindungen lange Zeit für unübersetzbar gehalten wurden, wagten sich Passow (1809), Donner (1821), Kaiser (1822), Weber (1838) &c. Hauthals Übersetzung enthält Verse mit Sünden gegen die Prosodie, gegen die Grammatik, gegen Logik und Geschmack. Teuffels Persius will keine Jnterlinearversion liefern, sondern ein Portrait (vgl. seine Grundsätze in Magers pädag. Revue. Febr. 1844). Übersetzungen des Juvenalis haben sonst noch geliefert: Hausmann (1839); Göckermann (1847); Siebold (1858), der den Trochäus meidet, Alex. Berg (1862) und insbesondere Hertzberg und Teuffel (1867), die in metrischer und prosodischer Beziehung übereinstimmen, von denen der eine (Teuffel) Weber und Siebold bei seiner Arbeit vergleicht, während der andere jede Vergleichung unterläßt. Stücke aus Martial bietet Gruppe im D. Musenalmanach 1855. Jn den Bahnen Platens wandelt Joh. Merkel, der 1841 die Horazischen Episteln übersetzte, dabei ebenso wie Platen den Trochäus zu vermeiden und Spondeen an seine Stelle zu setzen suchte, wobei er freilich (wie Platen) nicht selten die betonte Silbe in die Thesis des Verstaktes brachte. Neben ihm sind als Horaz-Übersetzer zu nennen: Ludwig, Teuffel, Weber, ferner Binder, Fritzsche &c. Überragt werden sämtliche durch die Übersetzungen von L. Döderlein (Satiren und Episteln, 1862) und von Th. Kayser (Oden, 1877), welche ─ ich möchte sagen ─ nach dem Vorbild eines Freiligrath Treue mit Wohllaut, Anmut und Eleganz zu vermählen wußten. (Bezüglich des letzteren ist geschichtlich zu konstatieren, daß seine Übersetzung des 1. Buchs der Oden bereits 1867 erschien und von sichtlichem Einfluß auf die viel später erschienene Bacmeistersche Übersetzung war, die sich zwar durch poetische Sprache auszeichnet, aber der philologischen Treue ermangelt und im Gegensatz zu Kayser vielfach mit den deutschen Betonungsgesetzen kollidiert. Vgl. z. B. Betonungen wie sŏrglōs, ălsō Nĕigūng u. s. w.) Eine Aufzählung aller minderwertigen Übersetzungen müssen wir in dieser Genesis unterlassen; ebenso die für die Geschichte der Übersetzungskunst wenig einschneidende Übersetzung neulateinischer Dichter, wenn gleich einzelne Übersetzer derselben Verdienstliches leisteten, z. B. Herder (Balde's Oden), Kraft (Lessings lateinische Epigramme in den Bl. f. bayr. Gymnasialschulw. 1883) u. s. w. Überblick. Überblicken wir die Übersetzungen unserer deutschen Litteratur in Bezug auf die in ihnen zu Tage tretenden Grundsätze, so finden wir, daß oft die berufensten Übersetzer die entgegengesetztesten Wege einschlugen und namentlich die verschiedensten Standpunkte in der Metrik einnahmen. Beispielsweise bekennt Teuffel, daß er lange geschwankt habe, bis er zu einem feststehenden Resultate gelangt sei. Aber dieses Resultat stand eben doch nur für ihn fest. Donners Grundsätze sind wesentlich von den seinigen verschieden. Es ist bei vielen Übersetzern soweit gekommen, daß einer dem andern Unkenntnis auf den Gebieten der Metrik vorwirft u. s. w. Jeder Übersetzer hält es für notwendig, seinen metrischen Standpunkt, von dem aus er allein beurteilt zu werden wünscht, des Weitläufigeren auseinanderzusetzen, da es eben bis jetzt keine allgemein gültige deutsche Metrik gab. Wir sehen uns zu dieser Schlußbemerkung deshalb veranlaßt, weil mancher weniger Eingeweihte sich wundern möchte, daß wir verschiedenen Übersetzern Beifall zollten oder versagten, auch wenn sie bezüglich ihrer metrischen Grundsätze von einander abweichen. Auch wollten wir es begreiflich erscheinen lassen, daß wir im Nachstehenden uns der großen Mühe unterzogen, die Übersetzungsgrundsätze nach dem Standpunke einer allverpflichtenden deutschen Metrik und Prosodik in der Absicht darzulegen, eine Einheit in der Übersetzungskunst anzubahnen. Moderne Sprachen und Litteraturen. Auf eine geschichtliche Entwickelung und Darstellung der Übersetzungen aus den neueren Sprachen müssen wir an dieser Stelle um so mehr verzichten, als wir es noch nicht an der Zeit halten, eine erschöpfende Darstellung derselben zu liefern, andererseits aber die bedeutendsten Vertreter (z. B. in Verdeutschung des Dante, Ariost, Tasso, Calderon, Shakespeare, Byron &c. &c.) schon im 2. Bande dieser Poetik bei den einzelnen Dichtungsgattungen erwähnt wurden. Selbstredend kann hier auch nur beispielsweise einiges aus den modernen Sprachen gegeben werden, was auch völlig genügen muß. Denn trotz der ethnologischen Verschiedenheit ist doch der moderne Sprachgeist im ganzen genommen so einheitlich, die Nationen einander so nahe gerückt, daß die allgemeinen Behandlungsregeln sich von der einen auf die andere Sprache leicht übertragen lassen. Wo dies aber nicht angeht, wie z. B. beim Magyarischen oder bei slavischen und orientalischen Sprachen, da sind die besonderen Regeln eben nur durch das Studium dieser Sprachen selbst zu gewinnen, und wir können natürlich nicht beabsichtigen, in deren Feinheiten hier einzugehen. Ebenso zwecklos wäre es, für die Übersetzung der ältesten oder älteren orientalischen Sprachen hier Regeln geben zu wollen, denn wer sich deren aufstellen will, wird seine Vorgänger (Gebr. Schlegel, Hammer-Purgstall, Herder, Bopp, Rückert &c.) zum vergleichenden Studium benützen müssen. Das Eine ist indes noch zu betonen, daß neben Goethe und Platen besonders Freiligrath als Ausgangspunkt der heutigen Übersetzungskunst aus modernen Sprachen insofern bezeichnet werden darf, als er durch unermüdliches Feilen und Redigieren Treue mit Lesbarkeit zu verbinden und Übertragungen herzustellen wußte, welche gleich den modernen Bearbeitungen der griechischen Tragiker wie deutsche Originalgedichte sich lesen. Mit großer Absichtlichkeit haben wir daher weiter unten einen Blick lediglich in die Freiligrathsche Übersetzerstube eröffnet, um dem Anfänger zu zeigen, wie selbst der Genius mühsam nach der Palme ringen muß, ferner wie man es zu beginnen hat, um das Ziel der Übersetzungskunst zu erreichen: Übersetzungen, welche bei aller Treue den Eindruck von Originalgedichten hervorrufen. § 79. Anforderungen und Grundsätze. Wo es sich nur um Jnhaltsangabe, um Kenntnis der Grundlagen des Umrisses handelt, genügt die Prosa-Übersetzung des dichterischen Kunstwerks. Jn allen andern Fällen ist dasselbe nach Stil und Ton, nach Anordnung des Maßes &c. nicht von seiner Form zu trennen. Somit ist als oberster Grundsatz aufzustellen: Ein dichterisches Kunstwerk darf nur künstlerisch übertragen werden und zwar wo möglich in der Form des Originals oder doch in einer solchen Form, welche vom Jnhalt nichts unter= schlägt und auch äußerlich dem Ton des Originals am nächsten kommt. Hierfür machen sich besondere Anforderungen geltend: a . an die metrische Übersetzung, b . an den Übersetzer. A . Anforderungen an die Übersetzung . Eine gute metrische Übersetzung, welche das Resultat von Verständnis und Begeisterung sein soll, muß beim Leser dieselbe Empfindung und Stimmung hervorrufen, wie dies beim Original der Fall ist. Die Rücksicht auf diese Forderung hat allein darüber zu entscheiden, was etwa vom Beiwerk (Ornament) wegbleiben kann, falls das deutsche Versmaß nicht für alles Raum haben sollte. Diese Rücksichtnahme hat auch abzuwägen, ob das Originalversmaß, die Originalreimstellung &c. &c. beizubehalten sei, ferner ob im Epischen oder Dramatischen &c. die Originalverszahl bleiben soll oder nicht &c. Die Übersetzung soll zunächst und vor allem das Original wahr und treu wiedergeben; sodann soll sie die Wohllautsgesetze unserer Sprache respektieren. Demnach stellen wir als Anforderungen an eine gute Übersetzung auf: a . Treue und b . Lesbarkeit. a . Treue. 1. Was ist eine treue Übersetzung? Diejenige ist es, welche mit keiner oder doch mit möglichst geringer Veränderung des Originals dem Jnhalt ihrer Arbeit dieselbe Farbe, denselben Ton, dieselbe Stimmung giebt, welche das Original hat. 2. Die Treue muß verlangen, daß unserer Sprache Gehalt und Charakter des Urbilds vermählt werden. Die Übersetzung soll den schönen Fluß der Rede, die ungezwungene Fügung der Wörter, sowie die tiefere Übereinstimmung zwischen Jnhalt, Form und innerem Rhythmus wiedergeben. 3. Zur Erreichung dieser Forderung ist in den meisten Fällen die Versart und die sprachliche Ausdrucksform des Originals beizubehalten, da ja die unmittelbare Eingebung und der künstlerische Hauch der Dichtung nicht gut von dem Maß und der Sprachweise des Dichters zu trennen sind. Die Herablassung, die Erhebung, die Kürze und Breite, die Naivetät oder das Pathos sind meist eng an das dichterische Versmaß, ja, an das schmückende Beiwort, an Satz- und Periodenbau des Urbilds &c. gebunden. Es ist für die Kenntnis eines Dichtwerks von Bedeutung, auch aus der Art der Wiedergabe in Versmaß und Sprache zu ersehen, wie der Dichter ernst oder scherzend einherschreitet, wie er die Schwierigkeit des Maßes spielend beherrscht &c. Dies kann eine, das Maß beiseite stellende Prosaübertragung (Paraphrase) nicht ausdrücken, weshalb wohl nur die Unfähigkeit metrische Kunstwerke in Prosa übersetzt sehen will. 4. Die Versart des Originals ist auch deshalb möglichst beizubehalten, weil jedes Maß seinen eigenartigen Charakter hat; besonders aber auch, weil ein anderes, neues Maß notwendig zur Umformung, Umdichtung, Modernisierung &c. hindrängt. Dies beweist schon das einzige Beispiel der Schillerschen sog. Übersetzung der Äneide, bei welcher die Stanzen zur Ausfüllung bald ein Hinzudichten, bald ein Weglassen verlangten, so daß die Stoffteile anders sich gliedern mußten als im Original. (Der bei Schiller hinzugekommene Reim ─ als schöne Eigentümlichkeit unserer Sprache ─ vollendet die Umdichtung und spottet einer sklavischen Übertragung.) 5. Die Treue sucht sich ohne Verletzung der Muttersprache und ihrer Formenlehre dem fremden Satzbau, der Wortstellung und der sprachlichen Wendung anzuschließen. (Der Originaldichter darf sich Abweichungen gestatten, nicht aber der Übersetzer.) 6. Sie nimmt Rücksicht auf Allitteration, auf die Paronomasie, sowie auf das Epitheton. Dieses letztere ist freilich häufig nur epitheton ornans , und in diesem Fall ist es zweifellos gestattet, ein ähnliches Epitheton zu substituieren, wenn dies aus irgend einem Grunde als wünschenswert erscheint. So wird es sicher in vielen Fällen erlaubt sein, einen geographischen Beinamen einer Gottheit durch einen andern zu ersetzen u. s. w. (Freilich ist Vorsicht nötig. Vgl. z. B. Stellen wie Ἴδηθεν μεδέων == Herrscher auf dem Jda.) 7. Um den feineren epischen und plastischen Stil und das Festgefügte im dichterischen Kunstwerke treu zu erreichen, hat u. a. J. H. Voß den Partikeln seine ganze Aufmerksamkeit zugewandt. Man sollte jedenfalls (selbst was die griechischen Dichter betrifft) die Forderung treuer Wiedergabe der Partikel, deren Behandlung ein feines, meist nur bei Philologen anzutreffendes Verständnis verlangt, nicht allzuhoch spannen. Die Partikel treu wiedergeben, sollte nicht heißen, sie mit einem besonderen Wort übersetzen, sondern ihre logische oder rhetorische Färbung, deren Exponent sie ist &c., zum Ausdruck bringen. b . Lesbarkeit. 1. Einer der größten Meister des Übersetzens in unsere Sprache, Luther, hielt die buchstäblich treue Übersetzung für die ungeschickteste. Dies zeigt sein Sendbrief vom Dolmetscher, in welchem er denen, die ihm vorwerfen, er habe hier das Wörtlein allein eingerückt, dort die Maria voll Gnaden, den Mann der Begierungen &c. nicht buchstäblich übersetzt, antwortet, ja, in welchem er es mit dem Bock Emser aufnimmt. Er sagt: „Jch habe deutsch, nicht lateinisch oder griechisch reden wollen ... Jch habe verdeutschet auf mein bestes Vermögen ... Jch weiß wohl, was für Kunst, Fleiß, Vernunft, Verstand zum guten Dolmetschen gehöret; es heißet, wer am Wege bauet, hat viel Meister; aber die Welt will Meister Kluglich bleiben und muß immer das Roß unter dem Schwanze zäumen, alles meistern und selbst nichts können. Das ist ihre Art.“ ─ (Vgl. übrigens W. Hopfs gekrönte Preisschrift über Luthers Bibelübersetzung.) 2. Herder sagt in der Nachschrift zu den Balde-Übersetzungen, daß er dem Geist seines Autors folgte (nicht jedem seiner Worte und Bilder), daß er bei den lyrischen Stücken den eigentümlichen Ton derselben im Ohr, den Sinn und Umriß aber im Auge behalten habe; Schönheiten habe er ihm nicht geliehen, wohl aber Flecken hinweggethan, da er Balde's Genius zu sehr ehre, als daß er mit kleinfügigem Stolz diesen zur Schau stellen wolle; wo dem Umriß eines Gedichts etwas zu fehlen schien, habe er mit leiser Hand ─ wie bei einer alten Zeichnung ─ die Linien zusammengezogen, damit er ihn seiner Zeit darstelle. Überhaupt sei ihm am Geist der Gedichte und am Jnhalt derselben mehr gelegen, als an der Einkleidung selbst. Diese die Worttreue geringer achtende Treue des Sinns war für Herder die Brücke, um zur Lesbarkeit zu gelangen. Herder unterscheidet zwischen den einzelnen Übersetzungen und meint, daß keine Art der Poesie in der Behandlung der andern völlig gleich sein dürfe; die lyrische Poesie der Alten und ihr Epigramm seien die eigensinnigsten unter allen; da sie nicht übersetzt sein wollen, so müsse man sie mit der gewissenhaftesten Treue täuschen, als ob sie nicht übersetzt würden. Wer hier keine Versuche gemacht habe, oder wem die Muse Gefühl, Ohr und Sprache versagte, sollte hierüber nicht richten, oder es sei ihm die Leier selbst zu reichen, daß er sich als Meister zeige. Um Herder zu verstehen, geben wir nachstehend ein einziges Beispiel eines antiken Epigramms: Grabschrift der Spartaner bei den Thermopylen von Simonides (500 v. Chr.). (Griechischer Urtext. Vgl. Th. Bergk Poet. Lyr. Graec. 3. p . 451.) Ὦ ξεῖν', ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις, ὅτι τῇδε κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι . Lateinische Übertragung bei Cicero. Dic, hospes, Spartae, nos te hic vidisse iacentes, dum sanctis patriae legibus obsequimur. Deutsche Übersetzung von Regis (Epigramme der griech. Anthologie 1856 S. 73). Wanderer, melde du denen in Lakedämon, daß hier wir Liegen, weil ihrem Gebot folgsam gewesen wir sind. Schillers deutsche Übersetzung. Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. Geibels Übertragung (Klassisches Liederbuch 2. Aufl. 1876). Wanderer, meld' es daheim Lakedämons Bürgern: erschlagen Liegen wir hier, noch im Tod ihrem Gebote getreu. 3. Goethe unterscheidet (in einer Note am Schlusse des westöstlichen Divans [ IV . 323.]) dreierlei Arten von Übersetzungen: a . eine schlicht prosaische, die uns ─ wie Luthers Bibelübersetzung ─ mit dem fremden Vortrefflichen mitten in unserer nationalen Häuslichkeit überrascht und ohne daß wir wissen, wie uns geschieht, eine höhere Stimmung verleiht und wahrhaft erbaut; b . eine parodistische, welche ─ wie Wielands Übersetzungen ─ das Fremde sich aneignet, um es mit eigenem Sinn wieder zu geben, welche also nach Art der Franzosen für jede fremde Frucht ein Surrogat fordert, das auf eigenem Grund und Boden gewachsen ist; c . eine treue, welche dem Original identisch ist und somit an seine Stelle treten kann. Der Übersetzer giebt hier die Originalität seiner Nation auf und bietet etwas, wozu sich der Geschmack der Menge erst heranbilden muß. Goethe hielt diese Form für die höchste (letzte), weil sie sich einer Jnterlinearversion nähere und das Verständnis des Originals höchlich erleichtere, an den Grundtext führe und den ganzen Zirkel abschließe, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewege. Aber Goethe hat übersehen, daß die Zeit noch einer vierten Form fähig sein müsse, nämlich der auf den Schultern seiner eigenen klassischen Sprachweise ruhenden, mit dem Urbild möglichst identischen, dabei aber die Lesbarkeit erstrebenden Form, bei welcher der Übersetzer nicht die Originalität seiner Nation aufgiebt, vielmehr seine deutsche Eigenart in der Prosodie, im Ausdruck, im Rhythmus und im Wohlklang mit allen Mitteln wahrt. 4. Bis zu Goethe und Herder galt bei allen Übersetzern der Grundsatz, daß die Übersetzung in ihrer peinlichen Worttreue den fremden Ursprung nicht verleugnen dürfe. Man erstrebte allzu pietätsvolle Abhängigkeit vom Original auch in Wortstellung und Satzbildung und erzielte daher steife, gegen den Sprachgenius verstoßende Übersetzungen, welche den einzigen, mitunter zweifelhaften Nutzen hatten, daß sie unsere Sprache fort=, manchmal auch verbildeten. Eine pedantisch genaue Wiedergabe des Wortsinns war selbst den besten philologischen Übersetzern das Höchste. Darüber vernachlässigten sie gar häufig Wortgeist und Sprachgeist; daher findet man in ihren Übersetzungen weder die Leichtigkeit des Originals, noch jenes liebliche Gepräge, welches dem Freunde deutscher Poesie Genuß bereitet. Diese Übersetzungen können nicht lesbar sein, weil sie der Sprache Gewalt anthun. Selbst der handwerksmäßige Gesetzesdienst Vossens hat in dieser Richtung recht oft dem Zufälligen das Wesentliche geopfert, namentlich in der Übersetzung der Verwandlungen des Ovid. Mit pedantischer Ängstlichkeit hat dieser große Übersetzer sein deutsches Wort dem griechischen oder lateinischen angekünstelt, angeschmiegt, angeschlossen, nachgeformt, dabei aber nicht selten Einfalt und Anmut geopfert, so daß man die allgemeine Äußerung von Jakobs, daß eine Übersetzung immer der Rückseite einer gewirkten Tapete gleiche, auf ihn anwenden möchte. 5. Wenn auch in einzelnen kürzeren Dichtungen eine wortgetreue Wiedergabe sich nicht schlecht lesen mag, so ist in anderen Dichtungen diese peinliche Treue weder ratsam noch möglich. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, so gesteht Gust. Zeller in seiner Übersetzung kleinerer Gedichte Tegners (1862), daß er nicht immer den Wortlaut beibehalten konnte, ja, daß eine kleine Unregelmäßigkeit im Rhythmus und Reim hie und da eintreten mußte, wenn der schöne Gedanke nicht verdorben werden sollte &c. 6. Es ist unbestrittene Thatsache, daß z. B. in einzelnen Chorgesängen des Äschylos mit ihrem musikalischen Gehalte, ferner in Pindarschen Rhythmen mit der Worttreue die Entfernung von Ton und Stil unserer Sprache zunimmt, daß somit das Resultat Steifheit und Verkünstelung wird. 7. Vollends kann Scherz und Komik bei einzelnen Dichtern (z. B. in den Komödien des Plautus) gar nicht wiedergegeben werden, wenn sich der Übersetzer nicht freiere Wortbildungen, Umschreibungen und Wendungen gestatten darf. (Am deutlichsten wird dies durch die Tieck-Schlegelsche Übersetzung des Shakespeare illustriert.) 8. Dies gilt auch von jenen Dichtungen, welche nur das Resultat von Verstand und Geschmack sind und bei denen der verstärkte, rhythmische Takt durchaus nicht den einfachen poetischen Hauch ersetzt. 9. Daraus folgt, daß zwar jede Übersetzung die Jndividualität des Schriftstellers und den besonderen Ton desselben wiedergeben soll, nicht aber sein Jdiom. Die absichtsvolle Kürze eines Tacitus, die Redefülle eines Cicero, die Schlichtheit eines Horaz (namentlich in den Episteln) sind wesentliche Momente, welche die Übersetzung beachten muß und kann, ohne der Sprache Gewalt anzuthun. 10. Jn England, Frankreich, Jtalien &c. hat man niemals dem Übersetzer ein größeres Recht über die Muttersprache eingeräumt, als dem nationalen Dichter. Mit Recht dürfen auch wir angesichts unserer nunmehr fertigen Sprache die Anmaßung jener Übersetzer der Neuzeit zurückweisen, welche mit unserer Sprache in einer Weise umgehen, wie sich dies seit Goethe kein einziger deutsch nationaler Dichter mehr gestattete. 11. Wer nur wortgetreu übersetzt, d. h. wer nur die im Worte ausgedrückten Begriffe wiedergiebt, ohne zugleich bestimmte Empfindungen mit anklingen zu lassen, wer nur einzelnes erfaßt, ohne das Ganze (die Hauptidee des Kunstwerks) zu berücksichtigen, wird nur unlesbare, stümperhafte Übersetzungen liefern. 12. Es muß daher Grundsatz für den Übersetzer werden, im Notfall einmal die wörtliche Treue der Verständlichkeit und dem Wohllaute zu opfern, also der allzustrengen Observanz eine etwas freiere Übersetzungsmethode gegenüber zu stellen. Es ist jedenfalls besser, den in seiner Treue steif und hölzern erscheinenden Vers lockerer und minder korrekt zu fügen, als ungelenk und unnatürlich, damit er sich vertraulich dem deutschen Ohre anschmiege und etwas vom Reiz und Gepräge des Freigeschaffenen erhalte. 13. Mit Recht haben nach Goethe's, Schiller's, Herder's und Platen's Dichter-Vorgang bereits namhafte Übersetzer von der traditionellen Übersetzersprache sich abgewandt und einer ungekünstelten, ungezwungenen, unverrenkten, natürlichen Sprache sich zugekehrt, welche schönen Fluß, Wohlklang, Anmut, Glätte mit Wärme des Rhythmus verbindet, ohne dem Geiste und der Empfindung des Urbilds untreu zu werden. Jch erinnere nur an die wirklich salonfähigen, durch ihre Lesbarkeit wohlthuend=anheimelnden Übersetzungen eines Geibel, Rückert, Freiligrath, Th. Kayser und Marbach. Diese dichterischen Übersetzungen geben uns nicht durchweg die Treue des Buchstabens, wohl aber mit Feinsinnigkeit und Ausprägung aller Schönheiten und des großen Stils ihrer Urbilder ─ die Treue der Sache. Sie zeichnen sich durch ihr gutes Deutsch aus, durch ihre Formenschönheit, durch Vornehmheit im Stil, durch Wohlklang im Rhythmus; sie erreichen den Ton der Versart, ohne dem Genius der Sprache untreu zu sein, ja, sie entsprechen unseren Anforderungen an gute Übersetzungen, d. h. sie sind elegant und populär, lesen sich wie deutsche Originalgedichte und befriedigen ebenso den metrischen Kunstrichter wie den gelehrten Philologen und den gebildeten Laien. 14. Nach diesen Leistungen ist es angezeigt, zwar die Treue zu empfehlen, aber neben ihr die Lesbarkeit im Sinne eines Goethe, Schiller, Uhland, Platen als das Höhere: als die erste Forderung aufzustellen. Der Übersetzer möge alles Undeutsche, Holprichte, Anstößige, Eckige in seinen Übersetzungen durch den Verzicht auf eine allzu originelle Behandlung (Mißhandlung) der deutschen Sprache im Sinne Vossens (namentlich in dessen Ovid) vermeiden und unter Beachtung der philologischen Anforderungen die lebendige Schönheit durch künstlerische Handhabung unserer Sprache erstreben, damit nicht die Kunst da den Dienst versage, wo das Original Wärme und dichterischen Schwung beansprucht. B . Anforderungen an den Übersetzer und Anleitung . 1. Wer ein tüchtiger Übersetzer werden will, muß sich selbstredend fleißig im Übersetzen üben. 2. Zunächst versuche er sich an unseren (weiter unten zu gebenden) Aufgaben, die er sich je nach seiner Fähigkeit auswählen kann. Er möge je einen Satz bis zum Endpunkt gründlich durchlesen, dabei das Einzelne genau erwägen, damit er: a . in den Sinn und Geist des Originals eindringe, b . die Affekte der Worte des Originals in ihrer Wiedergabe erfasse, c . deutlich und klar in seinem Ausdruck werde, d . den Wohllaut der Reinheit empfinde. 3. Bei schwierigen Stellen empfiehlt es sich, im Kopfe oder auch auf dem Papier das Original Wort um Wort, Satz um Satz, Vers um Vers zuerst in Prosa sorgfältig zu übertragen, vielleicht sogar zweimal: erst in wörtlicher, dann in flüssiger Form. Aus dieser flüssigen Übertragung muß der Übersetzer wo möglich mit den gleichen Ausdrücken ein Übersetzungs-Gedicht herstellen, nachdem er ausgerechnet hat, wo die Pointe der einzelnen Zeile und wo die der Strophe und endlich die des ganzen Gedichtes liegt. Dabei hat er zu beachten, was etwa im Original entbehrlicher Überfluß (bloßes Ornament) ist, um es im Notfall bei der Übersetzung weglassen zu können. Dies ist das Wichtigste: die Kunstgriffe des Originaldichters erkennen, damit man nichts Wesentliches von den wirklichen Schönheiten weglasse, sobald man genötigt ist wegen Verslänge oder Reimstellung etwas aufzugeben. Besonders achtsam muß man bei der Lyrik sein. Es handelt sich hier um die geistige und um die gemütliche Treue, die unter der bloß wörtlichen Treue nur zu häufig leidet. 4. Der Übersetzer wird gut daran thun, das Urbild im ganzen und großen sich geistig anzueignen, um es neu aus sich heraus entfalten zu können, und manches verändert zu geben, ohne gegen dessen Geist zu verstoßen. Wer das Urbild in sich aufgenommen hat, wird die Sprache nicht unterjochen, sondern dieselbe aus ihrer eigenen Fülle heraus entwickeln. Diejenigen, welche das Urbild nur als fremdes fühlen oder dasselbe allzu modisch umformen, sind in der Regel weder dem Urbilde noch der Sprache gewachsen. Jnneres Aneignen des Kunstwerks ermöglicht innere freie Reproduktion, die von dem großen Überblick und von dem Gefühl der Totalität ausgeht. 5. Kenntnis des Urbilds und der Sprache sind wesentlich für eine Darstellung, welche die Übersetzung wie ein deutsches Original erscheinen läßt. Wir verlangen nicht, daß die Übersetzung ganz und gar wie ein deutsches Original erscheine, weil sie sonst Charakter und Geist des Urbilds mehr oder weniger verlieren könnte; aber wir fordern, daß die Verschiedenheit keine solche sei, die dem Geist der deutschen Sprache Eintrag thut. 6. Es genügt zum Übersetzer nicht die nur oberflächliche Kenntnis der fremden Sprache, da ein wörtliches Übersetzen lediglich ein ungenießbares, schwerfälliges Machwerk ergeben würde und jeder oberflächlich Gebildete Anspruch erheben könnte, uns den Ariost, Byron, Camo ë ns &c. zu vermitteln. Vielmehr gehört zur Übersetzung eine gediegene Kenntnis der fremden Sprache, welche das Vorbild weder verhüllt noch entstellt erblickt. 7. Aber auch eine gründliche Kenntnis der deutschen Sprache und eine besondere Fähigkeit ihrer gewandten Handhabung muß für den deutschen Übersetzer gefordert werden. 8. Wesentlich ist ferner das Verständnis der deutschen Metrik und Prosodik. Der Übersetzer muß sich die Regeln und Gesetze der deutschen Poetik angeeignet haben, um dichterische Form und Technik beherrschen zu können. 9. Der Übersetzer muß endlich die Litteratur des betreffenden Landes seines Originals kennen, ferner dessen Dichtungen, Kriegsverfassung, Kultus und Geschichte, besonders aber Mythologie. 10. Es genügt aber keineswegs eine nur allgemeine Kenntnis der Mythologie. Jst doch jede Mythologie in den verschiedenen Entwickelungsstadien der Sprache und Litteratur in steter Weiterbildung und in fortwährendem Fluß begriffen, und gehen doch sogar einzelne Dichter (z. B. in Bezug auf Theogonie) ihre ganz besonderen Wege! Wer in diesen Jrrgängen nicht bewandert ist, wird beispielsweise die Ovidischen Metamorphosen nicht verstehen, geschweige übersetzen können. Ähnlich ist es mit der Odyssee und der Jlias, mit der Frithjofssage, mit der Kalewala, mit dem Mah â bh â rata &c. Somit fordern wir vom Übersetzer die entsprechende (hieratische, poetische, dogmatische, künstlerische) Behandlung der Mythologie. 11. Der Übersetzer muß auch mit dem Gegenstande des Originalgedichts auf vertrautem Fuße stehen. Wer würde z. B. die Georgica Vergils übersetzen können, wenn er von Landbau, Bienenzucht &c. keine Ahnung hat? Umfassende Sach- und Fachkenntnis ist unerläßliche Bedingung des Übersetzers. (Luther mußte sich z. B. um gewisse Stellen übersetzen zu können, in denen Edelsteine vorkommen, letztere entlehnen.) 12. Aber dies alles genügt noch nicht: der Übersetzer muß auch die Fähigkeit besitzen, sich in den Geist und den Gedankengang seines Autors, und in dessen Stellung inmitten seiner Zeit oder seines Volkes und der handelnden Jndividuen desselben hineinzudenken. 13. Weiter ist vom Übersetzer Kunstsinn, feiner Geschmack und Verständnis der Schönheiten des Originals zu verlangen. 14. Auch sollte er die Vorzüge seiner Vorgänger sich gewissenhaft aneignen. „Wenn jeder Übersetzer wieder mit Null anfängt, wird es ihm schwer werden, seine Vorgänger zu überholen, und jeder Arbeiter in Wissenschaft und Kunst läßt sich leichter spoliieren als ignorieren!“ 15. Jndes ist es nicht hinreichend, das von den Vorgängern Geleistete eklektisch (einfach äußerlich) sich anzueignen. Dies würde zum Handwerk, nicht aber zur Kunst führen; wir verlangen auch inneres Aneignen der vorhandenen, erprobten Vorteile, inneres Verdauen der Methode &c. 16. Jn gar vielen Stücken muß sich der heutige Übersetzer gegensätzlich zu den meisten seiner früheren Kollegen verhalten und von ihren Gepflogenheiten und Freiheiten geradezu abweichen. Dies ist besonders der Fall: a . in Beachtung des deutschen Accents (Prosodie), b . in der Apostrophierung, c . in der Wortstellung (Hyberbaton), d . in Anwendung der Ellipse, e . in der Ausschmückung, f . in der Nachahmung der Manier. 17. a . Accent. Mit Recht wurde der Accent ein Heiligtum in unserer accentuierenden deutschen Sprache genannt. Sind es doch nur wenige Wörter im Deutschen, die wie im Griechischen den Accent wechseln können! Unser deutscher Accent ist feststehend und hätte daher von den meisten philologischen Übersetzern etwas mehr geschont werden sollen. Niemals darf der Übersetzer Wörter wie mǖ́hsām, ū́mkēhrt, schwḗrschōlliges, Ḗichwāld, Klṓpstōck &c. im Vers so anwenden, daß die zweite Silbe den Jktus erhält und die erste (infolge des Versrhythmus) den Accent verliert, so daß Sprachton und Versrhythmus fortwährend in Kampf geraten (z. B. ἄριστον μὲν ὕδωρ == das fü̆rnĕhmḗst ist Wasser. Pindar). Nie sollte man vergessen, daß Beispiele wie diese: Dā́māls | wā́r Mārs | Rḗttĕr dĕr | Schlācht; Hḗrrschĕr ĭm | Dṓnnĕrgĕ | wȫ́lk Zēus &c. in ihrer Betonung ebenso gegen den Sprachgeist verstoßen als ein mit „ Kĕ̄́hr ūm “ beginnender Hexameter. Ebenso sollte man die Unzulässigkeit der Ausrede anerkennen, daß eine große Anzahl bacchischer Satztakte (wie Absichten, Bierfässer, Weintrinker, abfinden) die Versetzung der betonten Anfangssilbe in die Thesis gebieterisch fordern, um überhaupt im Hexameter Verwendung finden zu können, da ja unsere Sprache reich genug an sinnersetzenden Wörtern ist. (Die Wörter: Absichten, Bierfässer, Weintrinker, sind eben im Notfalle doch als Daktylen zu nehmen, wenn auch als recht klobige, schwere. Sie müssen ─ wenn auch ungern ─ zugelassen werden, ebenso wie zūlä̆ssĭg. Bei letzterem ist es auffällig, denn zūlǟ́ssīg würde sehr dem zŭ lǟ́ssĭg ähneln. ─ Bei „ Jm Donnergewölk Zeus “ ist wȫlk Zēus im Grund genommen ein guter Spondeus im antiken Sinn, da keine Silbe länger oder kürzer als die andere ist. Das Kennzeichen des deutschen Spondeus ist eine Atemholungs-Pause zwischen 2 langen Silben. Dies geht so weit, daß z. B. in „Damals schien Mars“, „damals gilt Mars“ jeder dieser Sätze ein Choriambus (– ⏑ ⏑– –) ist trotz pedantischen Einspruchs. Die Konsequenz wird sicher alle dem Accent huldigenden Dichter nach und nach in diese Richtung führen.) Der Übersetzer muß, was Prosodik betrifft, Mund und Ohr (auch von anderen) zu Rate ziehen. Nur auf diese Weise erfährt er, wo ein Monosyllabum lang oder kurz zu nehmen ist, oder wo Disyllaba (z. B. Artikel, wie eines, einem; Pronomina deines, seines &c.) als Thesen Verwendung finden dürfen. Das gebildete oder zu bildende Ohr muß auch darüber entscheiden, wo der von den deutschen Dichtern bereits mit Erfolg in ihrem Hexameter (Sechstakter) angewandte Trochäus zulässig ist; es wird bald herausfinden, wie derselbe der Schwerfälligkeit im Verse ebenso vorbeugt, als umgekehrt der Spondeus im Senar und Oktonar die fortrollende Beweglichkeit hemmt; es wird ihn aber auch nur etwa im 3. Takte zulässig finden, damit er nicht allzusehr abschwäche. 18. b . Apostrophierung. Die Aphäresen (Weglassung von Buchstaben am Anfang), welche namentlich Schlegel und Tieck in ihrem Shakespeare gebrauchen (z. B. 'nen für einen, ferner 's für es &c.), sind aus phonetischen Gründen wenig empfehlenswert. Allenfalls sind sie da zulässig, wo der Sprachgebrauch sie gestattet und dieser dargestellt werden soll. Die Synkopen (Auslassung der Vokale in der Mitte) hat derjenige Übersetzer nicht nötig, welcher weiß, daß im Deutschen eine Thesis nicht mehr Zeit wegnimmt, als deren zwei ( I , 256 d. Poetik). Jedenfalls wird der Übersetzer von der Synkope Umgang nehmen müssen, wo ihre Anwendung der gebildeten Sprache widerspricht, unschöne Konsonantenhäufungen erzeugen müßte &c. (z. B. fall'n für fallen, jetz'ge für jetzige &c.). Die Apokope (Ausstoßung des auslautenden e) vor Konsonanten sollte stets vermieden werden. 19. c . Wortstellung. Das sog. Hyperbaton (Abweichung von den Gesetzen der Wortstellung z. B. „und nach Haus zu retten mich“ statt „und mich nach Haus zu retten“ &c., oder: „und nur braun erschein' ich wieder dort “ statt: und nur dort erschein' ich &c.) sollte der Übersetzer wegen der Möglichkeit eines Mißverständnisses wie aus phonetischen Gründen niemals oder doch nur höchst ausnahmsweise gebrauchen, etwa da, wo ihn der Reim zwingt, ein charakteristisches Wort aus der Mitte der Verszeile an den Schluß derselben zu verlegen. 20. d . Ellipse. Von den Ellipsen ist am wenigsten deutsch die des Artikels (z. B. „Stier auch wünscht sich den Sattel“, statt: „der Stier &c.“, denn hier erscheint Stier als Eigenname; zulässig ist dieselbe in „Erlkönig hat mir ein Leids gethan“ &c.), weniger statthaft ist die Ellipse des Pronomens (z. B. „Bist ja von schöner Gestalt“, statt: „du bist“ &c.). Am häufigsten begegnen wir der Ellipse des Hilfsverbums (z. B. „daß jener sein Vertrauter“ statt: „daß jener sein Vertrauter ist“); diese Ellipse ist in der That am wenigsten sprachwidrig. 21. e . Ausschmückung. Der an sich schon durch das fremde Original gebundene Übersetzer kann sich jede Freiheit gönnen, sofern sie mit den Gesetzen des Wohllauts verträglich ist. Er darf also Flickwörter, wo sie zur Ausfüllung des Verses nötig sind, herbeiziehen. Ebenso sind ihm ausnahmsweise Archaismen, Neologismen, Provinzialismen, Fremdwörter &c. gestattet, wenn sie nämlich Zeit, Ton, Gehalt, Gestalt und Charakter des zu übersetzenden Begriffs treu zu illustrieren vermögen. Eine ─ freilich nur von dem gebildeten Geschmack und der Jndividualität des Übersetzers zu lösende ─ Hauptforderung ist, daß sich der Übersetzer vor Trivialität und Gespreiztheit hüte. Nimmermehr darf er sich auch verleiten lassen, Schmuck und Zierat anzuwenden, wo diese dem Original fremd sind. Er muß die zarte Linie des Erlaubten einzuhalten verstehen und alle jene Schönheiten verschmähen, die nicht auch zugleich Schönheiten des Originals sind. Jeder fremde Zierat entstellt das Urbild und ist daher mit Vorsicht anzuwenden. Auch keine neue, dem Urbild fremde Stimmung darf der Übersetzer hinzubringen. Hingabe an den Dichter des Originals muß auch bei der Ausschmückung leitendes Gesetz bleiben. 22. f . Nachahmung der Manier. Aus dem angegebenen Grunde ist es bedenklich, bei Übersetzungen eines fremden Dichters die Manier eines deutschen Dichters nachahmen zu wollen, und wenn es auch der höchste wäre. (Man vgl. als Beispiel von Leinburg [== Lüttgendorff-Leinburg], der in seiner sonst wertvollen Übersetzung der Frithjofsage die metaphorische Sprachweise Jean Pauls als Ziel sich vorsetzte.) Nichts häßlicher als eine affektierte, auf Stelzen einherschreitende, manierierte Übersetzungsweise! Hiermit ist natürlich nicht die Manier des Originaldichters gemeint. Diese ist in der Übersetzung allerdings zu berücksichtigen. Nicht bloß in den Worten, sondern in ihrer Behandlung liegt oft ein gewaltiger Unterschied bei derselben Versart und bei derselben Dichtungsart &c. 23. Außer den obigen wesentlichen Forderungen kommen bei einzelnen Übersetzungen noch verschiedene Momente und Fragen in Betracht, die der Übersetzer je nach dem einzelnen Fall sich beantworten muß und wofür allgemeine Vorschriften nur schwer zu abstrahieren sind. Solche Fragen sind beispielsweise: Was ist mit obscönen Stellen zu beginnen? Jn dem einen Zeitalter ist etwas anstößig, während ein anderes gewisse Dinge ohne Anstand passieren läßt. Dürfen Auslassungen obscöner Stellen, die doch vom pädagogischen wie vom ästhetischen Standpunkte dringend anzuraten sind, als Fälschungen betrachtet werden, oder sind jene Übersetzungen vorzuziehen, die schon auf dem Titel den Vermerk tragen: Omissis omnibus iis locis, qui aures castae iuventutis laedere possint ? (Deutsch: Mit Weglassung aller jener Stellen, welche die Ohren einer keuschen Jugend verletzen könnten?) Genügt es, zu sagen, man müsse Anstößiges z. B. bei einem Shakespeare mit in den Kauf nehmen? Jst es noch eine Übersetzung zu nennen, wenn man dergleichen Dinge verschleiert, oder sind Auslassungen gestattet, wie sie sich z. B. Katsch in seiner verdienstlichen Übersetzung der Ovidschen ars amandi erlaubte? Wie ist es mit den Metaphern zu halten? Wenn das betreffende Bild des Originals in der Übersetzersprache fehlt, dürfen wir zu dem prosaischen Auskunftsmittel greifen und den Sinn des Bildes umschreiben, oder sollen wir ─ was offenbar das Bessere sein möchte ─ zunächst zu einem verwandten Bilde greifen? u. s. w. u. s. w. 24. ( Exempla docent .) Man kann oft von Übersetzern sehr viel lernen, sofern man Einblick in ihr Thun gewinnt. Man lese z. B. Laube's „ Cato von Eisen “, der nach der Jdee eines spanischen Stückes geschrieben ist. Um zu beweisen, daß er nicht mehr als die Jdee benützte, ließ er von der Tochter des bekannten Romanisten Wolf in Wien das ganze Stück übersetzen und schloß es seiner Arbeit an. Auf Faust Pachlers Rat und mit Billigung Friedrich Halms, der diese Übersetzerin in Vorschlag gebracht hatte, entschloß sich dieselbe: 1. die poetische Stimmung durch Beibehaltung des Verses zu gewinnen; 2. die nationale Stimmung durch Beibehaltung des nationalen Verses der Spanier, des trochäischen Viertakters, wiederzugeben; 3. die Treue der Übersetzung dadurch sich (wohl allzu bequem!!) zu erleichtern, daß sie die Reimverschlingungen und viele Künsteleien des Originals beiseite ließ; 4. endlich in der langen Rede, wo das Spielhaus und die verschiedenen Spiele mit allerlei Wortwitzen beschrieben werden, alle ihr zugänglichen Spielbücher zu Rate zu ziehen und wo nötig die betreffenden Spiele durch andere zu ersetzen, damit die Wortwitze im Deutschen natürlich und verständlich seien. Es war eine Arbeit, welche viel Kopfzerbrechens kostete, aber sie gelang und liest sich fast wie ein Original. Für Erlernung der Übersetzungskunst ist die Anwendung gründlicher, gewissenhafter Feile, auf welche schon das Horazsche berühmte: Nonumque prematur in annum hinzudeuten scheint, unerläßlich. Wir sind in der einzigen Lage, im nachstehenden ihr Wesen praktisch klarstellen zu können. § 80. Einblick in die Geheimnisse der Übersetzerpraxis. (Handgriffe, Methode der Übersetzerfeile &c.) Durch gütige Überlassung eines Teiles des handschriftlichen Nachlasses von Ferd. Freiligrath sind wir imstande, zum erstenmal den authentischen Nachweis führen zu können, mit welch' beispielloser Sorgfalt einer der ersten Übersetzer der Neuzeit bei seinen Übersetzungen verfuhr, ja, mit welch' peinlicher Gewissenhaftigkeit er jedes Wort, jede Form, jeden Verstakt, jeden Reim &c. mit den Anforderungen des Wohllauts und den Gesetzen unserer Sprache und Metrik in Einklang zu bringen suchte. Er hat noch größeren Fleiß bewiesen als Voß, dessen Manuskript durch unglaubliche Korrekturen (vgl. das Autographon S. 1 vom Anhang der 1881 von M. Bernays neu herausgegebenen ersten Ausgabe der Odyssee) fast unleserlich geworden ist. Könnte man in sämtliche Übersetzerwerkstätten blicken, wie wir im nachstehenden einen wohl unschätzbaren Einblick in die geweihten Räume des Freiligrathschen Arbeitszimmers ermöglichen, so würde man bald einsehen, wie bei metrischen Übersetzungen die Schwierigkeiten oft bis ins Unendliche sich steigern, und wie noch keine einzige gute Übersetzung (wie überhaupt kein Kunstwerk) ohne gründliche Feile zustande kam. (Horaz, Goethe, Schiller &c., wie auch tüchtige Übersetzer lasen ihre Schöpfungen erst ihren Freunden vor &c.) Dies ergiebt für den Anfänger im Übersetzen die Aufforderung, nicht nur das Einzelne in Hinsicht auf Besserungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen, sondern das Gebesserte zum übrigen stimmend zu gestalten und überhaupt Sorge dafür zu tragen, daß die Übersetzung im Sinne des Originals wie aus einem einheitlichen Gusse erscheine. Wir beschränken uns hier darauf, der Prüfung und Feile Freiligraths nachzugehen, indem wir vier ebenso instruktive als charakteristische Übersetzungsproben dieses Dichters vorführen. I . Aus „ The Sunbeam “ von Felicia Hemans . (7. Strophe.) Thou tak'st through the dim church-aisle thy way, And its pillars from twilight flash forth to day, And its high, pale tombs, with their trophies old, Are bathed in a flood as of molten gold. Diese Strophe hat Freiligrath fünfmal geschrieben, bis er ihr die endgültige Gestalt verlieh. 1. Erste Übersetzung. (Entwurf Freiligraths.) Durch den dämmernden Kreuzgang nimmst du den Pfad, Seine Pfeiler erglühn, wenn dein Schimmer naht; Und der bleiche Marmor ... Umwallt eine Glorie, wie brennend Gold. NB . Viele Worte sind hier noch gar nicht und manche sogar ungenau übersetzt. 2. Veränderung des Entwurfs. (dämmernde Münster) Kirchendämmerung Durch (den dämmernden Kreuzgang) nimmst du den Pfad, Seine Pfeiler erglühn, wenn dein Schimmer naht, Und der bleiche Marmor .... Umwallt eine Glorie, wie brennend Gold. Freiligrath setzte zuerst für: „den dämmernden Kirchgang“ == dämmernde Münster. Aber diese Bezeichnung sagte ihm nicht ganz zu, und er verbesserte sie durch „Kirchendämmerung“. Jetzt gefiel ihm plötzlich auch der Reim nicht mehr; er strebte durch den Reim malerisch zu wirken. Dies übte Einfluß auf die weiteren Verse und es entstand folgender 3. Neuer Entwurf Freiligraths. Durch die Dämmrung des Münsters kommst du geflammt; Seine Pfeiler erglühn und des Betstuhls Sammt; Und die alten Trophä'n .... Zuckt, wie brennendes Gold, einer Glorie Schein. Das kritische Auge des Übersetzers merkte bald das Mißliche der Auseinanderrückung zweier Momente einer 2. und 3. Form. Ferner hatte er sich den Gedanken des Originals: „hohe bleiche Grabmäler mit ihren alten Trophäen“ im 1. und 2. Entwurf mit „bleicher Marmor“, im 3. Entwurf mit „alten Trophäen“ skizzenhaft vorgemerkt; jetzt versuchte er eine dichterische Verschmelzung, so daß folgendes Bild entstand: 4. Neue Änderung. 1. Durch die Dämmrung des Münsters kommst du geflammt; Da, wie Feuer, lodert 2. (Seine Pfeiler erglühn und) des Betstuhls Sammt; Um der alten Trophäen marmorne Reihn 3. (Und die alten Trophä'n) 4. Zuckt, wie brennendes Gold, einer Glorie Schein. 5. Letzte Abschrift. Vollendung der Übersetzung. Durch die Dämmrung des Münsters kommst du geflammt; Da, wie Feuer, lodert des Betstuhls Sammt; Um der alten Trophäen marmorne Reihn Zuckt, wie brennendes Gold, einer Glorie Schein. Vergleicht man die erste Übersetzung unter 1. mit der vollendeten Form unter 5., so erkennt man unschwer, wie es dem Übersetzer neben dem Wortsinn auf den Wortgeist ankam, wie er sich um den Ausdruck mühte, wie er die malerische, plastische Wirkung auch durch den Reim zu erreichen strebte und wie er schließlich mit kühnem Wurf die logische Verschmelzung des Wortgeistes mit dem ursprünglichen Wortsinn herstellte. Es läßt sich somit die Übersetzerthätigkeit in dieser Strophe folgendermaßen disponieren: a . Suchen nach dem richtigen Ausdruck, welcher über die Formen dämmernder Kreuzgang, Kirchendämmerung, dämmernder Münster hinüber plötzlich in „Dämmrung des Münsters“ erblüht. b . Veränderung des farblosen Reimes Pfad ─ naht in den farbenvollen Reim: flammt ─ Sammt, wodurch die dichterische Phantasie den Sammt mit malendem Licht übergießt. c . Zusammenguß der Form „bleicher Marmor“ in der wörtlichen Übersetzung (unter 1.) mit der Form (in 3. und 4.) „Und die alten Trophä'n“ zu einem Bilde. Überblick und Kritik. So lesbar, so wohlklingend, so dichterisch schwungvoll auch die Freiligrathsche Übersetzung ausgefallen ist, so ließe sich doch vom Standpunkt der Treue immerhin noch einiges bemerken. Wir fassen das Wesentliche in folgenden Punkten zusammen: a . Der „Chorgang“ der Kirche ist beseitigt und durch Münster ersetzt worden; der Ort wird dadurch zwar nicht verändert, aber das Bild erweitert. b . Die „Säulen“ sind ebenfalls weggefallen; statt derselben nennt der Übersetzer „sammtene Betstühle“. Er schafft sich dadurch Gelegenheit, den Sonnenstrahl durch Bild und Reim unvergleichlich zu malen. c . Die „Grabmäler“ des Originals mit ihren Trophäen sind etwas unklar durch Marmor gegeben: der alten Trophäen marmorne Reih'n; aber man wird bei dieser Stelle doch sofort an alte Grabmäler erinnert werden, auf welchen sich die Trophäen als Helm, Schild, Schwert &c. befinden. Wir machen diese nicht eben erheblichen Bemerkungen (die zudem nur die Architektur betreffen) lediglich in der Absicht, um dem Anfänger von vornherein klar zu machen, was alles der gewissenhafte Übersetzer zu beachten hat, wie unendlich viel zum Übersetzer gehört, und welch hohe Stellung der Übersetzungskunst einzuräumen ist. II . Aus „ Song composed in August “ von Robert Burns . (4. Strophe.) But, Peggy, dear, the evening's clear, Thick flies the skimming swallow; The sky is blue, the fields in view, All fading-green and yellow: Come let us stray our gladsome way, And view the charms of nature; The rustling corn, the fruited thorn, And every happy creature. Die wörtliche Übersetzung dieser Strophe würde etwa so lauten: Doch, teure Peggy, der Abend glänzt, | tief fliegt die schwebende Schwalbe; | die Luft ist blau, weithin leuchtet das Feld | so welklichgrün und gelb. | Komm laß uns schweifen unsern fröhlichen Weg, | und sehen den Zauber der Natur, | das rauschende Korn, den fruchttragenden Schwarzdorn, | und jede glückliche Kreatur. | Freiligrath hat diese Strophe nur dreimal umgeschrieben, dagegen bei der zweiten Bearbeitung so außerordentlich gefeilt, daß von der ursprünglich wörtlichen Übertragung wenig mehr übrig blieb. 1. Erste Übersetzung. (Entwurf Freiligraths.) Doch Mädchen komm! Der West erglomm; Vorüber wippt die Schwalbe. Die Luft ist blau, und frisch die Au, Die farbige, die falbe! O komm hinan, die laub'ge Bahn Hinan mit heißen Wangen! Empor durchs Korn zum Hagedorn, Und sieh mit Frucht ihn prangen. Diesen Entwurf hat der Übersetzer mit aller Kunst gefeilt, indem er zunächst den Provinzialismus wippt beseitigte, ferner plastisch=anschauliche, dem Wortsinn angemessene Tropen einwebte und schließlich farbenvolle Reime an Stelle der eintönigen, banalen setzte. Es entstand folgendes Bild: 2. Herstellung der Lesbarkeit durch Freiligrath. 1. Doch Mädchen, komm! der West erglomm! huscht 2. Vorüber (wippt) die Schwalbe. Der Himmel (wie glüht) die Flur im Tau. 3. (Die Luft ist) blau, (und frisch) die Au O sieh, wie glüht 4. (Die farbige,) die falbe! durchs Feld! sieh ruhn die Welt, 5. O komm (hinan,) (die laubge Bahn!) Die glückliche, die stille! 6. (Hinan mit heißen Wangen!) Und dort , o sieh den Dorn 7. (Empor) durchs Korn (zum Hagedorn;) Jn seiner Scharlachfülle. 8. (Und sieh mit Frucht ihn prangen.) 3. Reinschrift. Vollendung der Übersetzung durch Freiligrath. Doch Mädchen, komm! der West verglomm; Vorüber huscht die Schwalbe. Der Himmel blau, die Flur im Tau! O sieh, wie glüht die falbe! O komm, durchs Feld! sieh ruhn die Welt, Die glückliche, die stille! Und dort durchs Korn, o sieh den Dorn Jn seiner Scharlachfülle! Schlußkritik. Der aufmerksamen Vergleichung treten folgende Thätigkeiten bei Übersetzung dieser Strophe entgegen: a . Vertauschung des Provinzialismus wippt gegen das onomatopoetische huscht; b . Anwendung bezeichnender Bilder durch Ergänzung der Luft mit Himmel, wodurch ein freundlicher Gegensatz zur Au oder Flur entsteht; c . Tilgung des Widerspruchs von farbig und falb, und Umguß von Zeile 3 und 4 in ein einheitliches Bild; d . Klärung des Ausdrucks „laubge Bahn“ und Beseitigung der Wiederholungen: O komm hinan, hinan mit heißen Wangen, empor durchs Korn &c. e . Herstellung eines den künstlerischen Anforderungen entsprechenden Reims. Von 12 Reimworten hatten 6 den Vokal a, die übrigen 6 das malerische o und au. Freiligrath vermindert die a=Reime um 4, so daß nur 2 a bleiben; für die wegfallenden 4 a bringt er zwei e und zwei i in den Reim, wodurch die Strophe einschmeichelndes Gepräge erhält. III . Aus „ The lovely lass of Inverness “ von Allan Cunningham . (Letzte Strophe.) The hand of God hung heavy here, And lightly touch'd foul tyrannie; It struck the righteous to the ground, And lifted the destroyer hie. »But there's a day«, quo'my God in prayer; When righteousness shall bear the gree; I'll rake the wicked low i' the dust, And wauken, in bliss, the gude man's ee.!« 1. Erste Übersetzung Freiligraths. O schwer herab hing Gottes Hand Anrührend leis die Tyrannei. Die Guten warf sie in den Staub, Und ließ die Bösen groß und frei. Doch so spricht Gott: Ein Tag wird sein, Da tröst' ich sie, die heute bluten; Dann liegt, wer heute siegt, am Grund, Und selig wachen auf die Guten. Die den Wohllaut berücksichtigende dichterische Feile ließ folgendes Bild erstehen: 2. Herstellung der Lesbarkeit. (Feile Freiligraths.) 1. O schwer herab hing Gottes Hand Schwer allen, nur den Sündern nicht! (Leis treffend nur) 2. (Anrührend leis) (die Tyrannei,) 3. Die Guten warf sie in den Staub. hob empor den Bösewicht. 4. Und (ließ die Bösen groß und frei.) 5. Doch so spricht Gott: Ein Tag wird sein, werden meine Wege klar, (still' ich jeder Wunde Bluten;) 6. Da (tröst' ich sie, die heute bluten;) im Staube der Tyrann, 7. Dann liegt (wer heute siegt, am Grund,) hoch ersteht wer niedrig war! 8. Und (selig wachen auf die Guten). 3. Reinschrift der Übersetzung von Freiligrath. O, schwer herab hing Gottes Hand ─ Schwer allen, nur den Sündern nicht! Die Guten warf sie in den Staub, Und hob empor den Bösewicht. Doch so spricht Gott: Ein Tag wird sein, Da werden meine Wege klar, Dann liegt im Staube der Tyrann, Und hoch ersteht, wer niedrig war! Schlußkritik. Die Vergleichung der 2. Form mit der ersten zeigt, wie dem Dichter die Änderung in der 2. Zeile nicht genügte, weshalb er sie sofort einer neuen Redaktion unterzog. Die Änderung in der drittletzten Zeile läßt den Artikel in die Arsis kommen und ist unschön, weil ein unbetontes Überlesen dem Verse eine Arsis rauben würde. Die Übersetzerthätigkeit Freiligraths in dieser Strophe läßt sich auf folgende Momente zurückführen: a . Erstrebung schöner Bilder. „Anrührend leis die Tyrannei“ ist ebensowenig ein Bild, als „Leis treffend nur die Tyrannei“, weshalb geändert wurde. b . Herstellung einer dem Sinn entsprechenden Fassung. Das Bild der letzten 4 Verse ist in der neuen Fassung großartiger, dem rächenden Gott entsprechender, als die erste mattere Fassung, welche nur die Belohnung hervorkehrt &c. c . Bildung guter Reime. Durch die unter a erwähnte Änderung gewinnt nicht nur die Wucht des Reims, sondern durch den Reim fällt auch die geschraubte Wendung „groß und frei“ weg. Die Feile ergänzte auch die weiblichen Reime der ersten Übersetzung (in Vers 6 u. 8) durch männliche, welche sich ohnehin durch das ganze Gedicht hindurchziehen. IV. Vox populi von Longfellow . When Mazárvan the Magician, Journeyed westward through Cathay, Nothing heard he but the praises Of Badoura on his way. But the lessening rumor ended When he came to Khaledan, There the folk were talking only Of Prince Camaralzaman. So it happens with the poets: Every province has its own; Camaralzaman is famous, Das Übersetzungs-Brouillon Freiligraths läßt folgendes ersehen: A . Das Ringen um den Anfang, die Gewinnung des richtigen Ausgangspunktes, veranlaßt den Übersetzer zu den nachstehenden fünf Bearbeitungen der ersten Strophe. 1. Erste Übersetzung der 1. Strophe durch Freiligrath. Al s der Zauberer Maz á r van Seinen Weg durch China nahm, Nur Badoura's Lob empfing ihn Überall wohin er kam. NB . Der Übersetzer war mit der 1. und 3. von uns unterstrichenen Verszeile unzufrieden; jedenfalls war es aber die fehlerhafte Betonung des Wortes Zāubĕrēr, die ihn zur Umarbeitung veranlaßte. 2. Erste Überarbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath. Als Maz á rvan, jener Magus, Seinen Weg durch China nahm, Nur das Lob Badoura's hört' er Überall wohin er kam. Bei Überlesung dieser Überarbeitung war der Übersetzer mit der 2. und 4. Verszeile unzufrieden, weshalb er sofort eine dritte Bearbeitung vornahm, in welcher er für das trochäische Wort China (dem Original folgend) das jambische Wort Cathay einfügt. 3. Neue Bearbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath. Als Maz á rvan, jener Magus, Durch Cathay z u wandern kam, Nur das Lob Badoura's war es Überall, was er vernahm. Freiligrath ersetzte das Wort überall durch allwärts; er nahm es von dem 4. in den 3. Vers herauf; ferner veranlaßte ihn die 2. Verszeile, sowie die Aufsuchung des richtigen Ausdrucks und die gefällige präzise Fassung (behufs Hervorkehrung der Pointe) zur neuen Änderung: 4. Weitere Änderung der 1. Strophe durch Freiligrath. Als Maz á rvan, jener Magus, den Westweg nahm Durch Cathay (zum Westen kam) Allwärts nur das Lob Badoura's War es, was er da vernahm. Diese Änderung befriedigt den Übersetzer am allerwenigsten. Doch zeigt sie ihm den Weg zur endgültigen Ausfeile des Gewonnenen. Er ändert den Reim, indem er „westwärts“ wählt (damit das Durchwandern des Landes nach einer Richtung andeutend) und nimmt ferner die dritte Verszeile von der 3. Bearbeitung zurück. 5. Endgültige Bearbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath. Als Maz á rvan, jener Zaubrer, Westwärts durch Cathay sich schlug: Nur das Lob Badoura's hört' er Überall auf seinem Zug. 4. Nachdem dem Übersetzer der richtige Ausgangspunkt durch Feststellung der ersten lesbar gewordenen Strophe gelungen ist, schreibt er B . die 2. Strophe also hin: 1. Zweite Strophe. (Erste Übersetzung.) Doch das Loben, immer schwächer Schwieg zuletzt in Khaled á n, Alles dort pries nur den großen Prinzen Camar á lzam á n. 2. Überarbeitung der 2. Strophe. Doch das Loben, immer schwächer, Schwieg zuletzt in Khaled á n; Volk dort Alles (dort) pries (nur) den großen Fürsten (Prinzen) Camar á lzam á n. a . Es verdrießt den Dichterübersetzer, daß die unbedeutenden Wörtchen dort und nur in der Arsis stehen, während pries eine Thesis ist. Er ändert durch Einfügung des Wortes Volk und Streichung von nur. Dort hätte vielleicht in der Arsis bleiben sollen. b . Da unter Prinzen meist die jüngeren Glieder eines Herrscherhauses zu verstehen sind, fügt er das Wort Fürst ein, um die Macht und den Grund des Ruhmes anschaulicher zu machen und das im Original fehlende Attributiv große zu rechtfertigen. C . Die dritte Strophe bereitet größere Schwierigkeiten. Der Übersetzer entwirft erst eine möglichst treue Übertragung. 1. Dritte Strophe. (Erste Übersetzung Freiligraths.) Also ist es mit den Dichtern, Seinen lobt sich jedes Land, Camaralzaman nimmt Ruhm ein, Wo Badoura unbekannt. Um das inhaltlich vollwichtige Wort Badoura in die Reimstelle zu bekommen, ändert der Übersetzer Land in Flur um. ─ Zur Beseitigung des farblosen Bildes „ nimmt Ruhm an “ macht er sich eine ganze Reihe von Vorschlägen, die um so bequemer sind, als die Zeile keinen Reim verlangt. Es entsteht nun folgende Neubearbeitung: 2. Dritte Strophe. (Neubearbeitung Freiligraths. ) geht es den Poeten: Also (ist es mit den Dichtern:) Jhren lobt sich jede Flur. (Seinen lobt sich jedes Land) (trägt Kränze) (herrscht glorreich) (ist ruhmreich) (streicht Ruhm ein,) hat Namen Camar á lzam á n (nimmt Ruhm ein) kein Mensch kennt den Badour. Wo (Badoura unbekannt.) D . Reinschrift der Übersetzung des ganzen Gedichts. Als Maz á rvan, jener Zaubrer, Westwärts durch Cathay sich schlug: Nur das Lob Badoura's hört' er Überall auf seinem Zug. Doch das Loben, immer schwächer, Schwieg zuletzt in Khaled á n; Alles Volk dort pries den großen Fürsten Camar á lzam á n. Also geht es den Poeten; Jhren lobt sich jede Flur; Camar á lzam á n hat Namen, Wo kein Mensch kennt den Badour. Schlußkritik. Eine Vergleichung der ersten Übertragung mit der endgültigen Übersetzung läßt das Ringen des Dichter-Übersetzers mit dem Wortsinn, Wortgeist und Sprachgeist erkennen. Der Übersetzer erstrebt wörtliche Treue so ernst, wie ein Voß; aber ihm schwebt neben dieser Treue der Genius des Wohllauts und der deutsch=klassischen Sprachweise vor; Freiligrath übersetzt so, wie sein Freund Longfellow gedichtet haben würde, wenn er ein Deutscher gewesen wäre. Daher liest sich seine mühe=entsprossene Übersetzung aber auch wie ein Original, an welchem der Anfänger im Übersetzen sehr viel lernen kann. § 81. Ernste Mahnung an den angehenden Dichter. 1. Durch ähnliche Bearbeitungen, wie wir eine solche im § 80 mit aller Absicht und Sorgfalt gegeben haben, sowie durch eine gewissenhafte Kritik mehrerer Übersetzungen wird der Anfänger viel gewinnen. 2. Er wird bei verschiedenen Beispielen auch einsehen lernen, zu welch armseligen Behelfen mancher Translator seither gegriffen hat, der entweder das Original nicht richtig verstand oder das Deutsche nicht gründlich in der Gewalt hatte, oder dem der Sinn für die Form abging, oder der zu mangelhafte Kenntnis der deutschen Prosodik hatte u. s. w. 3. Der Anfänger soll die ganze Schwierigkeit ermessen, die ein jeder Übersetzer vorfindet. Wir heben daher an dieser Stelle (bevor wir zu den instruktiven Aufgaben übergehen) ausdrücklich hervor: a . Ein angehender Dichter soll (muß) so viel wie möglich übersetzen, weil er an den fremden Gedanken die fremde Empfindung und die fremde Form festgebunden findet und ihm jede Willkür unmöglich gemacht ist, wenn er seinen Zweck der treuen und natürlichen Wiedergabe des fremden Gedichtes erreichen will. b . Wenn er sich sodann daran wagt, eigene Gedanken und Gefühle poetisch gestalten zu wollen, so wird er von selbst zu den in früheren Hauptstücken dieses Bandes gegebenen strengen und kurzen Formen greifen und jene dilettantischen, leichteren Strophenformen vermeiden, welche die Neigung zur Willkür begünstigen. c . Jn dieser Richtung ist die Übersetzung eine Vorschule der eigenen Produktion. § 82. Methode und Technik der Übersetzungskunst. (An einem Beispiele nachgewiesen.) 1. Rechtfertigung der Wahl des Beispiels . Pestalozzi, der einflußreichste Pädagog des vorigen Jahrhunderts und der Begründer des heutigen Volksschul- und Erziehungswesens, lehrt, daß jede Lehrmethode ihre Ausgangspunkte im Bekannten haben müsse. Jm Hinblick auf diesen Erfahrungssatz wählen wir für unsere methodische Anleitung zu geistig freien, dabei treuen metrischen Übersetzungen mit großer Absichtlichkeit das bereits von Freiligrath übertragene Muster Longfellows: Vox populi . Jst doch dieses Beispiel durch die im vorletzten Paragraphen gebotene Darlegung der Erwägungen, Wendungen, Besserungsversuche und verschiedener durch den Geist des Urbilds bedingter Kreuz- und Quergänge Freiligraths ein Bekanntes im eminenten Sinn geworden! Und liegt es doch wie kein zweites klar und durchsichtig vor den Augen des Lernenden, der (nachdem er unabhängig vom Stoff geworden ist) unserer Führung in die Methode nunmehr leicht folgen kann. Es kann selbstverständlich nicht unsere Absicht sein, durch Wahl gerade des Longfellowschen Gedichtes den genialen Freiligrath (dem wir S. 196, 197 und 203 eine bedeutsame Stellung in der Geschichte der Übersetzungskunst einräumten) meistern zu wollen, wenn wir auch nicht alles an seiner Übersetzung gut heißen konnten und auch jetzt (etwa durch unsere Behandlungsweise dazu bestimmt) hie und da von ihm abweichen sollten. Unser Zweck ist hier ja nicht die Übersetzung an sich (d. h. als Selbstzweck), sondern einzig und allein das, worauf es beim praktischen Übersetzen zumeist ankommt, ─ Veranschaulichung und Klarlegung der Übersetzungsmethode. Aus diesem Grunde ist es an dieser Stelle durchaus unwesentlich, ob das am Schlusse sich ergebende, immerhin mit Umsicht herzustellende Übersetzungsgedicht allen von uns selbst aufgestellten Anforderungen bis ins einzelne entspricht, weshalb wir von vornherein gegen eine Vergleichung mit der Freiligrathschen Übersetzung in Bezug auf Gleichwertigkeit uns verwahren. Noch möchten wir ─ falls irgend welcher Einfluß Freiligraths auf die eine oder die andere unserer Formen wahrgenommen werden wollte ─ betonen, daß ein Anschluß von uns in keiner Weise beabsichtigt ist. Nur den Geist der Methode suchten wir dem großen Übersetzer abzulauschen, wie ja beispielsweise alle späteren Übersetzer von Longfellows Sang von Hiawatha bei Freiligrath in die Schule gingen, und wie auch die Nachvossischen Übersetzer Homers von den Vossischen Prinzipien sich leiten ließen. Wir erachten dies für einen Vorzug und glauben, daß ein Fortschritt in der Kunst nur dann möglich ist, wenn die Nachfolger jene von den Vorgängern errungenen Vorteile (vgl. S. 206 Ziffer 14) sich aneignen und auf dieser sicheren Grundlage weiter bauen. 2. Wörtliche Übersetzung . Longfellows Originalgedicht. 1. When Mazarvan the Magician, Journeyed westward through Cathay, Nothing heard he but the praises Of Badoura on his way. Prosaübertragung. Als Mazarvan der Magier Reiste westwärts durch China, Nichts hörte er außer (als nur) das Lob (den Ruhm) Von Badaura auf seinem Weg. 2. But the lessening rumor ended, When he came to Khaledan, There the folk were talking only Of Prince Camaralzaman. 3. So it happens with the poets: Every province has its own; Camaralzaman is famous, Where Badoura is unknown. Aber das sich verkleinernde (sich verringernde, abnehmende) (verbreitete) Gerücht endigte, Als er kam nach Khaledan, Dort redete (erzählte) das Volk nur Vom Prinzen Kamaralzaman. So ereignet es sich (trägt es sich zu) mit den Poeten: Jede Provinz hat ihren eigenen; Kamaralzaman ist berühmt (hat Ruf, Berühmtheit), Wo Badaura ist unbekannt. 3. Geist des Urbilds . Das Longfellowsche Gedicht zeigt sich als ein wirklich didaktisches Gedicht mit klar ausgeführter Exposition und Anwendung; es bedient sich bei seinem Aufbau der sogenannten poetischen Jnduktion, der poetischen Jndividualisation und der Analogie. Seine Didaxis beruht in Ausprägung der Wahrheit, daß jede Berühmtheit nur eine räumlich eingeschränkte Wirkungsweite und lokale Ausdehnung habe, daß ein Mann in einem Lande des größten Ruhmes, der höchsten Popularität, der weitestgehenden Ehren und Auszeichnungen sich erfreuen könne, ohne in einem anderen Lande auch nur dem Namen nach gekannt zu sein. Longfellow bietet diese Wahrheit in Form einer allegorisierenden Erzählung. Mit aller Berechnung wählt er zum Träger derselben einen Magier und zwar einen bestimmten (wie es scheint ─ allbekannten) Magier. Er begegnet dadurch von vornherein jedem Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Erzählung, denn ein Magier ist die zuverlässigste Person des Orients und nicht ─ wie im Occident ─ Taschenspieler und Wunderkünstler aller Art. Ein Magier ist ein Mitglied der Priesterkaste (namentlich bei den Persern), oder auch Mitglied jenes bevorzugten Standes (namentlich bei den Medern), welchem die Erhaltung der wissenschaftlichen Kenntnisse und die Ausübung der heiligen Gebräuche überlassen ist. Die Magier sind dort als Erklärer der Bilderschrift, als Astronomen, als Naturkundige und ─ infolge ihrer Naturkenntnisse ─ als Wahrsager, Astrologen und Nativitätssteller geachtet; sie unterrichten die königlichen Prinzen, sind die Richter und die Ratgeber der Könige und besitzen das unbedingteste Vertrauen des Volks. Ein solch hervorragender Mann, dessen große Glaubwürdigkeit (Autorität) der Name Mazarvan verbürgen soll, reist westwärts durch China und hört auf seinem Weg zuerst nur von Badaura reden; dann wird immer weniger von Badaura gesprochen, bis ihn in Khaledan niemand mehr erwähnt. Dafür rühmt man dort den Prinzen Kamaralzaman. Nach Erzählung dieser Wahrnehmung des Magiers macht Longfellow die Nutzanwendung ( conclusio ) auf die Dichter, deren Ruhm er ebenfalls auf die Provinz beschränkt erachtet. 4. Versifizierung. Metrische Übersetzung. Dichterische Feile. Vollendung des Gedichts . Um die zum Teil sich kreuzenden, zum Teil einander ablösenden Thätigkeiten der vorstehenden Überschrift dem Anfänger in ihrer Genesis und logischen Verknüpfung klar legen zu können, verzeichnen wir linksseitig den vorbereitenden Gedankengang, die Vorarbeiten und die wesentlichen Erwägungen der Übersetzungsthätigkeit, während wir rechts die Einzelteile der Übersetzung (gewissermaßen als Ergebnisse der Erwägungen) in immer mehr sich klärender, aufsteigender Folge fixieren. Vorbetrachtungen. Vorarbeiten. Erwägungen. Strophik. Jede vierzeilige Strophe des Urbilds besteht aus nur einem, in gebrochenen Zeilen geschriebenen, trochäischen Langzeilenreimpaar ohne Cäsurreim. Die Übersetzung hat ein gleiches Maß zu erstreben. Zu diesem Behufe, und um dem Anfänger den Weg zur Beweglichkeit und zur Übersetzerroutine zu zeigen, eröffnen wir nachstehende Versuche. Übersetzungsversuche und Ergebnisse der Feile. I . Strophe . 1. Zeile. Wir übersetzen, indem wir den demonstrativen Charakter des the ins Auge fassen: Da wir das Wort Magier nicht zweisilbig (Māgjĕr) lesen wollen, so müssen wir behufs Wegschaffung des 5. Taktes ändern. Besser wäre die Form: Aber Zaubrer deckt den Begriff Magier nicht. Wir ändern: Die schlechte (lediglich versrhythmische) Schlußlänge in Magier könnte beseitigt werden durch die Änderung: Das Wort Zaubermann deckt freilich den Begriff ebensowenig als Zauberer, wenn es auch versrhythmisch unantastbar ist. Zudem erscheint es aus Āls Ma | zārvan | jēner | Māgi | ēr Als Mazarvan jener Zaubrer Als der Māgĭēr Mazarvan Als der Zaubermann Mazarvan Gründen der Phonetik wenig empfehlenswert. Wir ändern im Hinblick auf das Urbild und den Geist des Wortes Magier: Oder: Oder noch besser mit jenem allbekannten, aus dem Pehlewi stammenden Worte magu für Magier (griech. μάγος , lat. magus ), das auch in Deutschland große Anwendung fand seit der rätselhafte, tiefsinnige Hamann sich den „Magus aus Norden“ nannte: Diese Form befriedigt, weshalb wir nunmehr die Versifikation der folgenden Zeilen der 1. Strophe versuchen: Die ästhetische Kritik, welche auch die (freilich sehr unzuverlässige englische) Aussprache des Wortes Badaura vorzieht, leitet zu den verschiedensten Erwägungen darüber, ob z. B. Cathay (== Kātăy == Kētăi für China) nicht englisch Cath é auszusprechen und trochäisch zu skandieren sei. Dem Anfänger ist zu raten, solch' zweifelhafte Namen zum Gegenstande seiner Studien zu machen. Versucht er dies bei dem Namen Catay, so wird er finden, daß folgende Schriftsteller Cathay mit China identifizieren, oder doch als einen Teil von China ansehen: 1. Sebastian Münster (Kosmographie 1628), der Cataia neben China nennt, dabei aber Cambala (Peckni) als Hauptstadt von Cataia bezeichnet; 2. Bruzer la Martinière (Leipzig 1746), welcher Bd. VI S. 727 bemerkt, daß Cathay (Kathay, Katai auch Kitay ) nichts anderes als China sei, indem er sich auch auf Herbelot bezieht, der Cambala (Peckni ) und Nanquin als Hauptstädte Cathays angiebt; 3. Henry Yule »Cathay and the way thither « (Lond. 1866), der China annimmt; 4. Derselbe: » The book of S. Marco Polo «. 2. Bd. London 1871. Vgl. S. 580. Als Mazarvan jener Priester Als Mazarvan jener Weise Als Mazarvan jener Magu Westwärts hinzog durch Cathay, Fand er allwärts, daß Badaura's Name rings zu hören sei. 5. Aug. Bürck „Die Reisen des Venezianers Marco Polo “. Nebst Zusätzen von K. F. Neumann. 2. Ausg. Leipzig. Vgl. S. 370. 6. Freih. Ferd. v. Richthofen » China «. Dieser berühmte Reisende, welcher 1868─72 sieben große Reisen nach China unternahm, widmet der Feststellung der Jdentität Catays mit China ein ganzes Kapitel seines berühmten Werks und ist namentlich S. 580 und 666 zu vergleichen u. s. w. Nach dieser Studie nehmen wir selbst für den Fall, daß Longfellow Catay und Khaledan nur als gleichgültige poetische Bezeichnungen gewählt haben sollte, das Wort China für Cathay und übersetzen demgemäß nunmehr: Wir betrachten das Übersetzte vom phonetischästhetischen Standpunkte und finden, daß zweimal „wärts“ unschön ist; wir ändern: Mißlich erscheint die Trennung des Possessiv= Genetivs von seinem Nominativ in 2 verschiedenen Zeilen. Wir versuchen die Änderung: Die 1. Zeile verlangt nunmehr eine Neuprüfung. „Zog“ geht allenfalls; der allverehrte Magier kann ja allein ziehen. „Auf seinem Zug“ ist anspruchsvoller. Aber „flog“ wäre zu viel, zu hoch. Die Formen „schlug“ (durchschlagen) und „drang“ (hindurchdringen) würden auf Hindernisse, Beschwerlichkeiten oder gar Widerstände deuten, welche der geheiligten Person des Magiers von Niemand entgegen gesetzt wurden und schon durch den Wortsinn von journeyed und way ausgeschlossen sein müssen. Wir versuchen die ganze Form der 1. Strophe herzustellen: Westwärts hin durch China zog. Fand er, daß allein Badaura's Name rings gefeiert sei. Fand er, daß Badaura's Name Allerwärts gefeiert sei. Als Mazarvan einst gen Westen Seinen Weg durch China nahm, War es nur Badaura's Name, Der ihm rings entgegen kam. Mit Rücksicht auf das in der 2. Strophe gemeldete Abnehmen des Gerüchts ändern wir die letzte Zeile: Jn der 2. und 3. Zeile stört noch Name und nahm. Wir ändern die 3. Zeile im Hinblick auf praise des Urbilds: Nun vermissen wir plötzlich die hochwichtige Bezeichnung Magu, weshalb wir lieber das Richtungswort Westwärts opfern, das ohnehin für die Didaxis gleichgültig ist, denn Mazarvan würde dieselbe Wahrheit entdeckt haben, wenn er von Chaledan ostwärts gereist wäre. Wesentlich ist through . Das ihm rings zu Ohren kam. War es nur das Lob Badaura's. Endgültige Form der 1. Strophe. Als Mazarvan, jener Magu, Seinen Weg durch China nahm, War es nur das Lob Badaura's, Das ihm rings zu Ohren kam. II . Strophe. Wir gestalten zunächst den Prosastoff metrisch: Die erste Zeile könnte auch heißen: Aber das substantivierte Verbum loben entspricht keineswegs dem Substantiv praise , ebensowenig dem deutschen Substantiv Lob. Die 3. und 4. Zeile befriedigen am wenigsten. Wir beginnen mit allen erdenklichen Besserungsvorschlägen und Versuchen in der Ausfeile. Doch das Lob ward immer schwächer, Bis es schwieg in Chaledan, Wo das Volk sich nur erzählte Von Prinz Kamaralzaman. Doch allmählich schwand das Loben 3. Zeile. Oder: Oder: Oder: Um die 3. Zeile endgültig zu ändern, ist auch die 4. Zeile in Betracht zu ziehen: Dorten pries das Volk nur einzig Einzig pries das Volk ja dorten Dort erzählte sich das Volk nur Wo das Volk nur sprach zu Ehren 4. Zeile. „Von Prinz“ ist undeutsch. Es muß heißen „ vom Prinzen “. Hierfür reicht nun aber der Zeilenraum nicht aus. Wir müssen daher „den Prinzen“ schon in die 3. Verszeile rücken und unter Berücksichtigung des Textes entsprechend abändern: Diese wenig glückliche Besserung würde auch das Reimgeschlecht alterieren. Wir ändern: „Namens Kamaralzaman“ ist nüchtern prosaisch, wenn auch treu. Wir suchen eine neue Form, in welcher wir zugleich das fatale Reimwort Kamaralzaman wegzubringen streben. Nach einiger Prüfung empfiehlt sich zum Reimwort der 2. Zeile das Begriffswort Lob ( praise ) aus der 1. Zeile, welches sofort an das bequeme Reim= Echo „erhob“ erinnert. Neubearbeitung: Die 3. Zeile könnte vielleicht hinsichtlich des Grundes des Schwächerwerdens auch lauten: Doch bietet das Urbild keinen genügenden Anhaltspunkt hierfür. Wo das Volk allein vom Prinzen Kamaralzaman erzählte. Wo das Volk nur pries den Prinzen Namens Kamaralzaman. Aber schwächer ward ─ und endlich Schwieg ─ in Chaledan das Lob, Wo das Volk allein den Prinzen Kamaralzaman erhob. Weil das Volk dort nur den Prinzen Endgültige Form der 2. Strophe. Aber schwächer ward ─ und endlich Schwieg in Chaledan das Lob, Wo das Volk allein den Prinzen Kamaralzaman erhob. III . Strophe. Wir ordnen den Prosastoff zunächst in trochäische Viertakter an: So ergeht es den Poeten, Jedes Land rühmt seinen an, Wo Badaura's Name fremd ist, Da gilt Kamaralzaman. Wir halten zunächst prüfende Umschau, ob nicht irgend eine Ausdrucksform freundlicher zu gestalten ist. 1. Zeile. Oder: Poeten ist jedenfalls durch das deutsche Wort Dichter gut zu ersetzen: Oder: Oder: So geschieht es den Poeten Also geht's mit den Poeten So geschieht es ja den Dichtern So geschieht es mit uns Dichtern Also geht es mit den Dichtern 2. Zeile. Wenn der in der vorigen Strophe mit Recht beseitigte Reim Kamaralzaman auch hier verschwinden soll, so ist eine Neuänderung der 2. Zeile geboten. Wir nehmen das Begriffswort Land in die Reimstelle, dem der Sinn der letzten (4.) Zeile ohne weiteres das Reim-Echo unbekannt ( unknown ) souffliert. Nunmehr übertragen wir: Oder: Oder: Seinen rühmt ein jedes Land Seinen rühmt jedwedes Land Seinen feiert jedes Land. 3. und 4. Zeile. Nach Maßgabe dieser 2. Zeile werden die beiden letzten Verse lauten müssen: Oder: Die Übersetzung „Ehren“ für famous ist deshalb zu empfehlen, weil sie mit praises (== Ehren) der 1. Strophe korrespondiert und nunmehr dem Kamaralzaman genau so viel gewährt, als Badaura in der 1. Strophe hatte. Wir erwägen nur noch das Formale und werden plötzlich durch den unreinen Reim fand ─ unbekannt gestört. Fehlerhaft ist dieser Reim nicht gerade, da er in den meisten Teilen Deutschlands klanglich sich deckt; er könnte daher zur Not passieren. Doch wollen wir dem Anfänger zeigen, daß bei einiger Ausdauer jede Klippe zu umschiffen ist. Um zu einer Änderung zu gelangen, erwägen wir, daß jedes Land den Namen seines Dichters mit Stolz nennt, während es den Dichter Kamaralzaman hat Ehren Wo Badaura nicht bekannt. Wo Badaura unbekannt. des andern Landes nicht kennt. So hätten wir mühelos eine Änderung gefunden, die dem Urbild entspricht, wenn auch die Reime nicht sehr farbenvoll sein mögen: Jedes Land nur seinen nennt, Kamaralzaman hat Ehren, Wo Badaura niemand kennt. Engültige Form der 3. Strophe. Also geht es mit den Dichtern: Jedes Land nur seinen nennt; Kamaralzaman hat Ehren, Wo Badaura niemand kennt. 5. Vorschlag zu ferneren Übersetzungen des gleichen Gedichts . Eine lohnende Erschwerung und Steigerung (wie solche andere Übersetzungen Freiligraths, Em. Geibels, Emil J. Jonas' &c., sowie einzelne freundliche Formen in den S. 196 erwähnten mustergültigen modernen Übertragungen der griechischen Tragiker durch Marbach, Kayser &c. ersehen lassen) würde der Versuch freierer Übersetzungen ergeben. Bei solchen könnte auch der Cäsurreim mit wechselndem Reimgeschlecht eingefügt werden, wodurch sich denn das Reimschema a b a b ergeben würde. Die obige Übersetzungsform der 1. Zeile („Als Mazarvan, jener Weise“), welche das einzig brauchbare, dem journeyed und way durchaus zusagende Wort Reise als Reim-Echo empfiehlt, könnte möglicherweise einen brauchbaren Cäsurreim in der 1. Strophe ergeben, wobei es sich selbstredend fragen müßte, ob der Jnhalt der 2. und 4. Zeile dies gestattet u. s. w. Wenn der Lernende nicht ermüdet in Versuchen, Änderungen, Wendungen, Umgestaltungen, Versetzungen &c. (wie wir diese unter Ziffer 4 anschaulich genug gezeigt haben), so wird ihm zweifelsohne auch eine freiere, dabei lesbare, in Bezug auf Treue dennoch befriedigende Übersetzung (noch dazu mit Cäsurreim) gelingen und ihn zu weiteren metrischen Übertragungen und Umbildungen ermutigen. 6. Schlußbemerkung . Man möge erkennen, daß ein ─ selbst von einem Meister übersetztes Gedicht immer noch weitere Übertragungen zuläßt, und daß unsere elastische Sprache die allermannigfaltigsten Ausdrucksformen und Wendungen gestattet, ohne daß sich der aus dem Handwerkertum des Reimsuchens emporringende Übersetzer vom Geiste des Urbilds auch nur um eine Linie zu entfernen genötigt sieht. Es ist selbstverständlich, daß dieses einzige Beispiel unsere S. 198 ff. aus den besten deutschen Übersetzungen abstrahierten Grundsätze nicht sämtlich zur Anschauung bringen konnte, ja, daß mancher der hier gezeigten Handgriffe nicht bei jeder metrischen Übersetzung zur Anwendung zu gelangen braucht. Je mehr die Übung wächst, desto kühner wird der Übersetzer verfahren. Er wird sich später die wörtliche Übersetzung nicht mehr notieren, wenn er auch immer erst lesend den Wortsinn sich herstellen und vor allem in den Geist des Urbilds dringen wird. Bei den einzelnen Übersetzungen werden ihm bald diese, bald jene unserer Grundsätze und Handgriffe willkommen sein; er wird sie anwenden und in seinen Arbeiten allmählich jenen Vorbildern in der Kunst der Übersetzung sich nähern, als deren erstes ─ auch was Selbstkritik betrifft ─ für lange Zeit am Übersetzerhimmel strahlen wird: Ferdinand Freiligrath! VI . Übersetzungsversuche aus verschiedenen Sprachen . Wir beschränken uns in den nachstehenden Aufgaben auf jene Sprachen, aus welchen bisher fast ausschließlich übersetzt wurde, also auf die altklassischen Sprachen, auf die französische und englische, sowie auf die italienische, spanische, portugiesische und schwedische Sprache. § 83. Griechische Sprache. A . Übersetzungen aus der griechischen Epik. Vorbemerkung. 1. Es ist selbstverständlich, daß ohne genaue Kenntnis der homerischen Formenlehre und Syntax an eine fruchtbare Übersetzung nicht zu denken ist. 2. Weitere Voraussetzung ist genaue Bekanntschaft mit den von Homer geschilderten, gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen, um den richtigen Ton treffen zu können. 3. Es darf nie vergessen werden, daß Homer urantik ist. 4. Wenn irgend ein Dichter, so muß Homer möglichst treu, ja, wortgetreu übersetzt werden, damit die Kraft und Energie, die Durchsichtigkeit und Plastik, die Naivetät und Einfachheit der homerischen Vorstellungen sowie seiner Redeweise nicht verloren gehe. Der ganze Umfang des Sinnlichen, von dem Homer seine Bilder nimmt, ist zu beachten. 5. Deshalb muß die Übersetzung ─ sozusagen ─ „homerische Färbung“ bekommen. 6. Es muß sogar, soweit möglich, Satzkonstruktion und Wortstellung beibehalten werden. 7. Man schenke den Gleichnissen Homers besondere Aufmerksamkeit. 8. Zur Übersetzung für die Anfänger empfehlen wir die ersten Gesänge der Jlias und das erste Buch der Odyssee. 9. Der Anfänger möge eine wortgetreue Übersetzung in Prosa versuchen. 10. Hierauf vergleiche er die Ausgabe von J. H. Voß und versuche Voßens Härten zu vermeiden. 11. Die korrekte Bildung von Accenthexametern muß erstes Erfordernis sein. 12. Die Einführung von Trochäen, namentlich in den 1. und 2. Takt, ist nach dem Vorgang Voßens gestattet. Aufgabe. Es sollen die Verse Jlias II , 246─264 (Die Strafrede des Odysseus gegen Thersites) übersetzt werden. Stoff: (Nach H. Düntzers Schulausgabe, Paderborn 1873.) Θερσῖτ' ἀκριτόμυθε, λιγύς περ ἐὼν ἀγορητής , ἴσχεο, μηδ' ἔθελ' οἶος ἐριζέμεναι βασιλεῦσιν . οὐ γὰρ ἐγὼ σέο φημὶ χερειότερον βροτὸν ἄλλον ἔμμεναι, ὅσσοι ἅμ' Ἀτρείδῃς ὑπὸ Ἴλιον ἦλθον· τῷ οὐκ \̓αν βασιλῆας ἀνὰ στόμ' ἔχων ἀγορεύοις , καί σφιν ὀνείδεά τε προφέροις, νόστον τε φυλάσσοις . οὐδέ τί πω σάφα ἴδμεν, ὅπως ἔσται τάδε ἔργα , \̓η εὖ ἦε κακῶς νοστήσομεν υἷες Ἀχαιῶν . ἀλλ' ἔκ τοι ἐρέω, τὸ δὲ καὶ τετελεσμένον ἔσται· εἴ κ' ἔτι σ' ἀφραίνοντα κιχήσομαι, ὥς νύ περ ὧδε , μηκέτ' ἔπειτ' Ὀδυσῆι κάρη ὤμοισιν ἐπείη , μηδ' ἔτι Τηλεμάχοιο πατὴρ κεκλημένος εἴην , εἰ μὴ ἐγώ σε λαβὼν ἀπὸ μὲν φίλα εἵματα δύσω , χλαῖνάν τ' ἠδὲ χιτῶνα, τά τ' αἰδῶ ἀμφικαλύπτει , αὐτὸν δὲ κλαίοντα θοὰς ἐπὶ νῆας ἀφήσω πεπληγὼς ἀγορῆθεν ἀεικέσσι πληγῇσιν . Wörtliche Übersetzung: Thersites, eitler Schwätzer, obgleich ja ein lauter Sprecher, halt an, und wolle nicht allein streiten mit den Königen. Denn ich sage, daß nicht ein anderer Sterblicher schlechter ist, als du von allen, welche zugleich mit den Atriden vor Jlion kamen; darum solltest du nicht wohl die Könige im Munde habend reden, und ihnen Schmähungen entgegentragen und auf die Rückkehr passen. Auch wissen wir nicht eben deutlich, wie diese Dinge werden sollen, ob gut oder schlimm wir Söhne der Achäer heimkehren werden. Aber traun, ich sage dir frei heraus, das wird aber auch vollendet sein; wenn ich noch ferner dich rasend treffen werde, wie nun ja hier, so möge sodann dem Odysseus nicht mehr der Kopf auf den Schultern sein, und nicht mehr möge ich des Telemach Vater genannt sein, wenn ich dich nicht packe und deine Gewänder abziehe, Mantel sowohl als Leibrock und was die Scham bedeckt; dich selbst aber werde ich heulend zu den schnellen Schiffen entsenden, schlagend aus der Versammlung mit schmählichen Schlägen. Übersetzung von J. H. Voß. Thörichter Schwätzer Thersites, obgleich hellstimmiger Redner, Schweig', und enthalte dich, immer allein mit den Fürsten zu hadern! Denn nicht mein' ich, daß hier ein schlechterer Mensch wie du selber Wandle, so viel herzogen mit Atreus' Söhnen vor Troja! Nie drum nenne dein Mund die Könige vor der Versammlung! Nicht mit Schmähungen fahre sie an, noch laur' auf die Heimfahrt! Denn noch wissen wir nicht, wohin sich wende die Sache: Ob wir zum Glück heimkehren, wir Danaer, oder zum Unglück. Aber ich sage dir an, und das wird wahrlich vollendet! Find' ich noch einmal dich vor Wahnsinn toben, wie jetzo; Dann soll nicht dem Odysseus das Haupt noch stehn auf den Schultern, Dann soll keiner hinfort des Telemachos Vater mich nennen: Wenn nicht schnell dich ergreifend ich jedes Gewand dir entreiße, Mantel sowohl als Rock, und was die Scham dir umhüllet, Und dich Heulenden fort zu den rüstigen Schiffen entsende, Aus der Versammlung gestäupt mit schmählichen Geißelhieben! Bemerkungen zu Voßens Übersetzung. Die Voßische Übersetzung ist im ganzen wörtlich und treu. ἴσχεο ist „halt an dich“, dem Sinne nach == schweige! „ enthalte dich “ eigentlich wolle nicht. φημὶ heißt eigentlich sagen. σάφα wir wissen es genau, ist ausgefallen. Vers 254 bis 256 haben wir ausgelassen, weil schon von Aristarch verworfen. Jch sage dir an: das an giebt die scharfe Drohung nicht genau wieder, welche in dieser konstanten Formel steckt. φίλα eigentlich deine lieben, gewohnten Gewänder ist zum reinen Possessiv geworden, kann daher auch in der wörtlichen Übertragung fallen. Dich Heulenden ist unpassend attributiv gegeben. Die „ rüstigen “ Schiffe können wir nicht gut heißen. Gestäupt ist im Texte drastischer, plastischer, weil aktiv gegeben. Der letzte Vers hat keinen Daktylus im vorletzten Takte. B . Übersetzungen aus der griechischen Lyrik. Vorbemerkung. An nachstehendem Beispiele zeigen wir die Übertragung lyrischer Maße ins Deutsche. Der Lernende möge zur weiteren Übung die Anthologie von Stoll als Stoff benutzen. Um sodann die eigenen Übungen in der griechischen Lyrik erfolgreich fortzusetzen und dieselben mit guten Übertragungsmustern lernend zu vergleichen, nennen wir zur Auswahl: 1. A. Baumstark, Blüten der griechischen Dichtkunst in deutscher Nachbildung. 6 Bändchen, 1841. 2. Friedr. Dörr, griechischer Liederschatz. Jn deutscher Nachdichtung ( NB . mit Endreimen), 1858. 3. Jakob Mähly, griechische Lyriker, übersetzt &c. 1883. Der Anfänger möge nicht zu schnell mit den Metren wechseln, späterhin freilich mag er dieselben promiscue (d. h. abwechselnd eins unter dem andern vermischt, in bunter Reihe) gebrauchen. Er vergesse aber auch hier nicht, daß die Grundlage seiner Arbeit die Philologie ist und bleiben muß. Hat er die Verse philologisch richtig erfaßt, dann möge er als Poesie= und Metrumverständiger, als Dichter auftreten. Aufgabe. Es soll das nachfolgende Anakreontikon übertragen werden! Besuch des Eros. Stoff: Anacreontis Teii συμποσιακα ημι- αμβια ed. Rose. Nr . 33. Μεσονυκτίοις ποθ' ὥραις , στρεφέτην ὅτ' ἄρκτος ἤδη κατὰ χεῖρα τὴν βοώτου· 4. μερόπων δὲ φῦλα πάντα κέαται κόπῳ δαμέντα· τότ' Ἔρως ἐπισταθείς μεν θυρέων ἔκοπτ' ὀχῆας . 8. τίς, ἔφην, θύρας ἀράσσει κατά μευ σχίσας ὀνείρους ; ὁ δ' Ἔρως, ἄνοιγε, φησίν· βρέφος εἰμί, μὴ φόβησαι , 12. βρέχομαι δὲ κἀσέληνον κατὰ νύκτα πεπλάνημαι . ἐλέησα ταῦτ' ἀκούσας , ἀνὰ δ' εὐθὺ λύχνον ἅψας 16. ἀνέῳξα . καὶ βρέφος μὲν ἐσορῶ, φέρον δὲ τόξον πτέρυγάς τε καὶ φαρέτρην . παρὰ δ' ἱστίην καθίξας 20. παλάμαισι χεῖρας αὐτοῦ ἀνέθαλπον, ἐκ δὲ χαίτης ἀπέθλιβον ὑγρὸν ὕδωρ . ὁ δ', ἐπεὶ κρύος μεθῆκε , 24. φέρε, φησί, πειράσωμεν τόδε τόξον, εἴ τι μοι νῦν βλάβεται βραχεῖσα νευρή . τανύει δὲ καί με τύπτει 28. μέσον ἧπαρ, ὥσπερ οἶστρος· ἀνὰ δ', ἅλλεται καχάζων , ξένε δ', εἶπε, συγχάρηθι· κέρας ἀβλαβὲς μὲν ἦν μοι , 32. σὺ δὲ καρδίην πονήσεις . Übersetzung. Von J. Fr. Degen. ─ Redigiert, ergänzt und erklärt von Ed. Mörike. Jüngst in mitternächt'ger Stunde, Als am Himmel schon der Wagen An Bootes' Hand sich drehte, Und, ermattet von der Arbeit, Schlafend lagen alle Menschen, Da kam Eros noch und pochte An der Thüre meines Hauses. Wer doch, rief ich, lärmt da draußen So? wer störet meine Träume? „Öffne!“ rief er mir dagegen: „Fürchte nichts. Jch bin ein Knabe, Habe mich verirrt in mondlos Finstrer Nacht, von Regen triefend.“ Mitleidsvoll vernahm ich dieses, Nahm in Eile meine Lampe, Öffnete, und sah ein Knäbchen, Welches Flügel an den Schultern Hatte, Pfeil und Bogen führte. Alsbald ließ ich ihn zum Feuer Sitzen, wärmte seine Hände Jn den meinen; aus den Locken Drückt' ich ihm die Regennässe. Drauf, als ihn der Frost verlassen, Sprach er: „Laß uns doch den Bogen Auch versuchen, ob die Sehne Nicht vom Regen schlaff geworden“ ─ Spannte, traf, und mir im Busen That es wie der Bremse Stachel. Er nun hüpfte auf und lachte: „Siehst du, guter Wirt, wie glücklich! Unbeschädigt ist mein Bogen, Doch dir wird das Herz erkranken.“ (Vgl. hier die abweichenden Lesarten in Th. Bergks poetae lyrici Graeci. Vol. III , S. 315 Nr. 31: 2. στρέφεθ' ἥνίκ' Ἄρκτος ἤδη . 9. σχίζεις . 17. φέροντα . 19. καθῖσα . 20. παλάμαις τε . 31. κέρας ἀβλαβὲς μὲν ἡμῖν .) Man beachte auch die unleidlichen Zerreißungen in der Versifikation, z. B. V. 8 zu 9, 12 zu 13 &c. C . Übersetzungen aus der griechischen Tragödie . Vorbemerkung. Bei der Reproduktion der Chorgesänge der antiken Tragödie in modernen Versformen ist hauptsächlich Folgendes zu beachten: 1. Die phraseologische und rhetorische Eigentümlichkeit des Originals ist möglichst genau festzuhalten. Die gereimten Übertragungen dürfen somit nicht bloße Paraphrasen sein, was u. a. Jordan in seiner Vorrede zur Sophokles= Übersetzung einem Übersetzer rügt. 2. Um in den Chorgesängen einen dem Original möglichst verwandten Eindruck hervorzubringen, ist es nicht bloß nötig, die für dieselben charakteristische antistrophische Responsion streng zu wahren; ─ es gilt auch, mit längeren und kürzeren Versen, mit verschiedenen Taktarten in ähnlicher Weise zu wechseln, wie es der griechische Dichter gethan hat. 3. Neben dem eben Gesagten trägt gefällige Verschränkung der Reime sehr viel dazu bei, den gereimten Strophen die Eintönigkeit zu benehmen und ihnen den Charakter größerer Freiheit und belebterer Mannigfaltigkeit zu verleihen. NB . Den Anforderungen 1─3 entsprechen in hervorragendster Weise die von uns mehrfach citierten, im Unterricht gut zu verwertenden Übersetzungen von Th. Kayser. Aufgabe. Es ist Strophe und Gegenstrophe des Chorgesangs V. 100 ff. aus Sophokles' Antigone zu übertragen. Stoff ( ed . Wecklein): Strophe I . Ἀκτὶς ἀελίου, τὸ κάλ- - λιστον ἑπταπύλῳ φανὲν Θήβᾳ τῶν προτέρων φάος , ἐφάνθης ποτ', ὦ χρυσέας ἁμέρας βλέφαρον, Διρκαί- - ων ὑπὲρ ῥεέθρων μολοῦσα , τὸν λεύκασπιν Ἀργόθεν φῶτα βάντα πανσαγίᾳ φυγάδα πρόδρομον ὀξυτέρῳ κινήσασα χαλινῷ . \̔ον ἐφ' ἡμετέρᾳ γῇ Πολυνείκης ἀρθεὶς νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων ἤγαγε· κεῖνος δ' ὀξέα κλάζων αἰετὸς \̔ως γῆν ὑπερέπτη , λευκῆς χιόνος πτέρυγι στεγανός , πολλῶν μεθ' ὅπλων ξύν θ' ἱπποκόμοις κορύθεσσιν . Wörtliche Übertragung. Strahl des Helios, am schönsten erschienenes Licht dem siebenthorigen Theben unter den früheren, du bist endlich erschienen, Auge des goldnen Tages, über die dirkeischen Fluten geschritten, und hast den weißbeschildeten Mann (Adrastos, den Oberfeldherrn, in dem das Heer mitbefaßt ist), der von Argos in voller Rüstung gekommen, den fliehend vorwärtseilenden mit rascherem Zügel in Bewegung gesetzt. Jhn hatte gegen unser Land Polyneikes infolge hadernden Streites herangeführt. Laut schreiend wie ein Adler überflog er das Land, bedeckt vom Flügel weißen Schnees, mit vielen Waffen und samt Roßschweifhelmen. Antistrophe I . στὰς δ' ὑπὲρ μελάθρων φονώ- - σαισιν ἀμφιχανὼν κύκλῳ λόγχαις ἑπτάπυλον στόμα ἔβα, πρίν ποθ' ἁμετέρων αἱμάτων γένυσιν πλησθῆ- - ναί τε καὶ στεφάνωμα πύργων πευκάενθ' Ἥφαιστον ἑλεῖν . τοῖος ἀμφὶ νῶτ' ἐτάθη πάταγος Ἄρεος, ἀντιπάλου δυσχείρωμα δράκοντος . Ζεὺς γὰρ μεγάλης γλώσσης κόμ- - πους ὑπερεχθαίρει, καί σφας ἐπιδὼν πολλῷ ῥεύματι προσνισσομέ- - νους , χρυσοῦ καναχῆς ὑπερόπτας , παλτῷ ῥίπτει πυρὶ βαλβίδων ἐπ' ἄκρων ἤδη νίκην ὁρμῶντ' ἀλαλάξαι . Stehend über den Wohnungen gähnte er mit tötlichen Lanzen ringsum den siebenthorigen Mund an, aber er zog ab, ehe er sich mit seinen Kinnbacken sättigte an unserem Blute und der Hephästos aus Fichtenholz (d. h. die Pechlohe des Feuers) den Kranz der Befestigungen nahm. Also erhob sich in seinem Rücken das Getöse des Ares (Schlachtgetümmel), der schwer (d. h. gar nicht) zu bewältigende Anprall des gegenringenden Drachen. (Dem Adler d. h. dem Argiver tritt der Drache d. h. der Thebaner entgegen.) Denn Zeus haßt sehr die Prahlereien einer hochfahrenden Zunge, und als er sie herannahen sah in gewaltigem Strome, stolz auf das Rauschen des Goldes (der goldenen Rüstung), da warf derselbe mit geschwungenem Feuer den nieder, welcher schon auf der Höhe der Zinnen das Siegesgeschrei zu erheben sich anschickte. Donners Übersetzung im Versmaße der Urschrift. Erste Strophe. Strahl des Helios, schönstes Licht, Wie's der siebenthorigen Stadt Thebe's nimmer zuvor erschien! Du strahlst endlich, des gold'nen Tags Aufblick, herrlich herauf, Über Dirka's Fluten herüberwandelnd; Und Jhn, der mit leuchtendem Schild Kam von Argos in voller Wehr, Triebest du flüchtig in eilendem Lauf Fort mit hastigem Zügel: Jhn, den Polyneikes' feindlicher Zwist Zu dem Kampfe geführt auf unsere Gau'n, Der kühn, wie der Aar, Hellkreischend herabflog über das Land, Von der Schwinge gedeckt weißglänzenden Schnee's, Mit der Rüstungen viel Und mähnenumflatterten Helmen. Erste Gegenstrophe. Über den Dächern stehend, umgähnt' Er den siebenthorigen Mund Mit blutlechzenden Speeren rings, Und floh, eh in unserem Blut Sich sein gieriger Schlund Schwelgend füllt', und ehe den Kranz der Türme Flammenglut des Hephästos fraß. Also braust' im Rücken umher Donner des Kriegs; schwer wurde der Kampf Dem anstürmenden Drachen. Denn schwer haßt Zeus der vermessenen Zung' Hochfahrenden Stolz; und als er ihr Heer, Den heranwogenden Strom, schimmernd in Gold, Jm Geräusch unbändigen Trotzes, ersah: Da traf er den Mann mit geschwungenem Strahl, Der schon an die Höh'n, Siegsruf anstimmend, empordrang. NB . Die Apostrophierung füllt' und braust' ist zu rügen. Theodor Kaysers Übersetzung. Erste Strophe. Licht des Helios, sei gegrüßt, Du, das wieder mit freundlichem Strahle Thebe die siebenthorige küßt! Hehr und herrlich wie nie zuvor Steigest du über Dirke's Thale, Auge des goldenen Tages, empor: Jhn der uns genaht von Argos' Gefild, Den Mann mit dem weißen, dem blitzenden Schild, Es scheuchte dein Blick Jn eilige hastige Flucht ihn zurück. Chorführer. Es rief von seines Hasses Grolle Getrieben Polyneikes ihn, Und über unsrer Heimat Scholle Flog er, ein Adler, kreischend hin: Es decken ihn schneeweiße Schwingen, Hellschimmernd reiht sich Schild an Schild, Die dichtgedrängten Waffen klingen, Der Helme Mähnen flattern wild. Erste Gegenstrophe. Schon umkreist er der Thore Mund Beutelechzend mit mordender Lanze, Aber er floh noch ehe sein Schlund Sich gesättigt mit unserm Blut, Ehe noch an der Türme Kranze Leckte der Flamme verzehrende Glut; Denn rings um ihn her wildbrausend erscholl Das Wetter des Ares wie Donnergeroll: Der Aar ─ er erlag Des ringenden Drachen gewaltigem Schlag. Chorführer. Vermessner Zunge keck Gebaren, Schwer haßt es Zeus: er schaute her: Gewaltig wogen ihre Scharen Umrauscht von goldgeschmückter Wehr: Da trifft er mit geschwungnem Blitze Den Prahler, der empor schon stieg, Um von der Zinnen höchster Spitze Laut auszujubeln seinen Sieg. ( NB . Der Lernende beachte die herrliche Strophenform Kaysers mit dem schönen strophischen Charakteristikum, sowie den verständnisvollen Rhythmuswechsel u. a.) Bemerkungen zu den Übersetzungen. Die Übertragung der Chorgesänge des Sophokles ist eine der schwierigsten Aufgaben der Übersetzungskunst. Es darf daher nicht wundernehmen, daß nicht nur die wörtliche Übertragung von den poetischen und insbesondere von den freien Übersetzungen sehr wesentlich abweicht, sondern auch die letzteren unter sich kaum mehr viele Ähnlichkeit zeigen. Eine Beurteilung der mitgeteilten Proben ohne genaue und eingehende Besprechung der betreffenden Stellen nach Lesart, Auffassung und Abteilung ist kaum möglich und fruchtbringend. Derartige philologische Erörterungen aber wird man hier nicht suchen; doch haben wir auf eine Probe nicht verzichten zu müssen geglaubt. Einige zum Verständnis notwendige Bemerkungen sind an den betreffenden Stellen eingereiht worden. Bezüglich der Übersetzungen von Donner und Kayser müssen wir auf die von den Verfassern benützten Textrecensionen verweisen. Was das Verfahren des angehenden Übersetzers betrifft, so genügt es, auf die Bemerkungen zu den lateinischen Aufgaben (S. 237) zu verweisen. § 84. Lateinische Sprache. Vorbemerkungen für das Übersetzen lateinischer Verse. Wer Verse aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen lernen will, bedarf genauer Kenntnis der Metrik und Prosodik. Man versuche sich zunächst am Hexameter und Pentameter, wobei man eine Anthologie, Chrestomathie oder palaestra musarum (z. B. von Gaupp oder Seyffert) wählen kann. Dort sind zunächst einzelne Hexameter oder Pentameter ohne Elisionen und sonstige Abweichungen geboten. Man achte besonders auf die Wortstellung, auf die Abweichungen der Dichter u. a. Es ist gerade nicht notwendig, daß man verstehe, eigene lateinische Verse zu bilden. Wohl aber halten wir es für unerläßlich, daß man sich im Retrovertieren von Versen übe, wobei man bald bemerken wird, daß es am leichtesten zum Ziele führt, wenn zuerst der Schluß des Verses gewonnen wird, (wenn man also die beiden Schlußtakte zuerst bildet); für das Griechische freilich ist letzteres Verfahren keine solch wesentliche Erleichterung. An die Anthologie reiht sich dann Ovid und Vergil. Hat man sich auf diese Art vorbereitet und jedesmal eine gute Übersetzung nachgelesen, dann wage man sich an den formenreichen Horaz, der nicht weniger als 26 sapphische und 37 alcäische Oden bietet. Für besonders fruchtbringend halten wir es, ein und dasselbe Thema in verschiedenen Maßen zu behandeln. Aufgabe 1. Es ist Vergils Aen. II , 3─20 ins Deutsche zu übertragen. Stoff. (Nach Wagners Ausgabe.) Infandum, regina, jubes renovare dolorem, Troianas ut opes et lamentabile regnum Eruerint Danai; quaeque ipse miserrima vidi, Et quorum pars magna fui. Quis talia fando Myrmidonum Dolopumve aut duri miles Ulixi Temperet a lacrimis! et jam nox humida caelo Praecipitat, suadentque cadentia sidera somnos. Sed si tantus amor casus cognoscere nostros Et breviter Troiae supremum audire laborem, Quamquam animus meminisse horret, luctuque refugit, Incipiam. Fracti bello fatisque repulsi Ductores Danaum, tot jam labentibus annis, Instar montis equum divina Palladis arte Aedificant, sectaque intexunt abiete costas; Votum pro reditu simulant; ea fama vagatur. Huc delecta virum sortiti corpora furtim Includunt caeco lateri, penitusque cavernas Ingentis uterumque armato milite complent. Wörtliche Übersetzung. Den unsäglichen Schmerz, o Königin, befiehlst du zu erneuern, wie die Trojanische Macht und das bejammernswerte Reich die Danaer zerstört haben, und was ich selbst so unglückliches gesehen habe, und dessen großer Teil ich gewesen bin (wobei ich selbst eine große Rolle spielte). Wer sollte bei solcher Erzählung unter den Myrmidonen oder Dolopern, oder sogar welcher Krieger des harten Ulixes sollte sich der Thränen enthalten! Und schon stürzt die feuchte Nacht vom Himmel nieder, und es raten die fallenden Gestirne den Schlummer. Aber wenn so groß das Verlangen ist, unsere Geschicke kennen zu lernen und kurz Troja's letzte Not zu hören, so will ich, obgleich das Herz sich zu erinnern schaudert und vor Kummer zurückbebte,* beginnen. Gebrochen vom Krieg und von den Schicksalssprüchen zurückgetrieben, bauen die Führer der Danaer im Umlaufe schon so vieler Jahre gleich einem Berg ein Pferd durch die göttliche Pallaskunst, und aus gehauener Tanne fügen sie die Rippen ein; als ein Weihgeschenk für die Rückkehr geben sie es aus; dieses Gerücht verbreitet sich. Darein schließen sie durchs Los ausgewählte Männergestalten heimlich ein in die dunkle Seite, und füllen gänzlich die großen Höhlungen und den Bauch mit bewaffnetem Krieger. * ( NB . Zurückbebte ist wörtliche Übersetzung, da refugit als Hexameterschluß langes u haben muß, was bloß im Perfekt der Fall ist. Vgl. auch die Bemerkung der Wagnerschen Ausgabe.) Übersetzung von Voß. Unaussprechlichen Gram, o Königin, soll ich erneuern; Wie die trojanische Macht und die mitleidswürdige Herrschaft Danaer warfen in Staub; was ich selbst anschaute des Elends, Wessen ich selbst nicht wenig ertrug! Wer, solches erzählend, Myrmidon' und Doloper sei's, und des harten Ulysses Kriegsfreund, hemmte die Thrän'? Auch eilt die tauige Nacht schon Himmelab, und es laden die sinkenden Sterne zu Schlummer. Aber verlangt dich so sehr, zu erkundigen unsere Leiden, Und ihn kurz zu vernehmen, den endenden Jammer von Troja; Wie auch der Geist vor des Grames Erinnerung schaudernd zurückfährt, Will ich gehorchen dem Wunsch. Kriegssatt und gehemmet vom Schicksal, Harrten die Danaerfürsten so viel hingleitende Jahre; Ein bergähnliches Roß, durch göttliche Kunst der Minerva, Bauen sie jetzt, und spünden mit tannener Bohle die Rippen; Als ein Weihegeschenk für die Heimkehr; solch ein Gerücht fliegt. Hierin bergen sie heimlich vom Los erkorene Männer, Eingesperrt in der Seite Verschloß; und die Höhlungen ringsum Durch den geräumigen Bauch sind voll des gewappneten Kriegers. Bemerkungen zu vorstehender Übersetzung. Die Voßsche Übersetzung ist etwas prosaisch und manchmal ungenau, beinahe unrichtig. „Was ich selbst anschaute: des Elends. “ Dieser partitive Genitiv steht nicht im Original. „Hemmte die Thrän'“ ist im Original Plural. Jn Vers 12 hat Voß die beiden Glieder in eines zusammengezogen. „Will ich gehorchen dem Wunsch.“ Für das wörtliche „ich will anfangen,“ ist diese Form zu weitläufig und zudem keineswegs schön poetisch gesagt. „Kriegssatt“ (für fracti == gebrochen): kriegsmatt entspräche wohl mehr. Labentibus annis hat Voß unnötiger Weise zu einem Hauptsatze gemacht und dadurch die Beziehung zwischen fracti und aedificant verrückt. (Die Not hat zu dem letzten Versuche mit dem Bau des Rosses geführt.) „Spünden mit tannener Bohle“ ist Prosa für das anschauliche, textliche „aus gehauener Tanne“. Das Gerücht „fliegt“ ist nicht wörtlich. „Sind voll des Kriegers“ ist nicht poetisch, nicht wörtlich, nicht deutsch. Eine Verbindung wie „des Gottes voll“ wäre nicht zu beanstanden. (Man vergleiche damit die freie Bearbeitung Schillers in: „Zerstörung von Troja“ Str. 1. 2. 3, welche kaum mehr als Übersetzung gelten kann.) Aufgabe 2. Nachbildung von Horaz Oden, Buch I , 10. Anleitung. 1. Diese leichte, an und für sich unbedeutende, wenn auch ansprechende Ode wurde mit Rücksicht auf unsern Zweck, für den Anfänger zunächst etwas Leichteres und Kürzeres zu bieten, gewählt. 2. Die Ode besteht aus sapphischen Strophen. 3. Dieselbe ist genau zu überdenken, um ihren Geist erfassen zu können. 4. Nunmehr versuche man die wörtliche oder wortgetreue Übersetzung. Man mache sich die Bedeutung jedes einzelnen Wortes klar; schreibe eine zusammenhängende Prosaübersetzung nieder, um schließlich die metrische Übertragung zu erreichen. Man werde sich klar, welche Abweichungen man sich gestattet hat, welche Unterschiede zwischen der Übersetzung und dem Originale bestehen; man frage sich, ob und warum man sich Abweichungen gestatten durfte, welche derselben man etwa zurücknehmen muß u. s. w. Jst man zu einem Schlusse gekommen, so möge man das Produkt laut vorlesen. Auf diese Weise mahnt das Ohr an prosodische Jnkorrektheiten u. s. w. 5. Zur Erreichung der Treue muß bei der sapphischen Strophe statt des Ditrochäus der von Horaz angewandte Trochäus-Spondeus am Anfang der Verse erstrebt werden. 6. Wesentlich ist die Beachtung des deutschen Accents. Es sind also nur betonte Stammsilben in die Arsis der Verstakte zu stellen. 7. Eine stehende Cäsur nach der Arsis des Daktylus ist nicht nötig, da sie auch bei Horaz nicht streng angewandt ist. Um so weniger ist diese Cäsur im Deutschen erforderlich, als der lateinischen, quantitierenden Sprache für Herstellung jener Cäsur spondeische und molossische Wörter vor, dagegen pyrrhichische und anapästische nach derselben in Menge zu Gebot stehen, während unserer accentuierenden deutschen Sprache die Wörter der letzteren Art fast ganz fehlen und die ersteren (zufolge unserer Betonungsgesetze) großenteils nicht verwendbar sind. Wir müßten zur Aufrechthaltung dieser Cäsur sonach vielfach zu einsilbigen bedeutungslosen Wörtern greifen, wodurch die Schönheit und Wirkung des horazischen Verses in der Übersetzung eine Schädigung erleiden würde. Sapphische Strophenform. Stoff: 1. Mercuri, facunde nepos Atlantis, Qui feros cultus hominum recentum Voce formasti catus et decorae More palaestrae, 2. Te canam, magni Jovis et deorum Nuntium curvaeque lyrae parentem, Callidum quidquid placuit iocoso Condere furto. 3. Te boves olim nisi reddidisses Per dolum amotas puerum minaci Voce dum terret, viduus pharetra Risit Apollo. 4. Quin et Atridas duce te superbos Ilio dives Priamus relicto Thessalosque ignes et iniqua Troiae Castra fefellit. 5. Tu pias laetis animas reponis Sedibus virgaque levem coerces Aurea turbam superis deorum Gratus et imis. Wörtliche Übersetzung. 1. Merkur, beredter Enkel des Atlas, der du die wilde (rohe) Lebensart der frischgeschaffenen Menschen (Urmenschen) durch das Wort gebildet hast klüglich und durch der zierenden (anständigen, d. h. anstandverleihenden, bildenden) Palästra Sitte (Weise). 2. Dich will ich besingen, des großen Jupiter und der Götter Boten und der krummen (gewölbten) Lyra Vater, der es verstand, was auch beliebte, in scherzhaftem Diebstahl zu bergen. 3. Dich schreckt einst, wenn du nicht würdest zurückgegeben haben die durch List weggebrachten Rinder, den Knaben mit drohender Stimme Apollo: bar (beraubt) des Köchers lachte er. 4. Sogar auch die übermütigen Atriden hat unter deiner Führung der reiche Priamus nach verlassenem Troja und die Thessalischen Wachtfeuer und das Troja feindliche Lager getäuscht. 5. Du setzest nieder die frommen Seelen auf angenehmen Sitzen und mit dem Stabe hältst du die leichte Schar ─ mit dem goldenen ─ zusammen den Oberen der Götter angenehm und den Untersten. An Merkurius. 1. Lösung von J. H. Voß. 1. Hermes, du wohlredender Sproß des Atlas, Der der Urwelt Menschen aus rohem Unfug Durch des Worts Weisheit und der Leibesübung Zierde gebildet: 2. Dir, dem Herold Jupiters und der Götter, Sing' ich, dir Anordner der krummen Lyra: Der du schlau, was auch dir gefiel, in leisem Scherze verheimlichst. 3. Dich, wofern du trüglich entwandte Rinder Nicht herausgäbst, schreckte vordem, den Knaben, Durch der Stimm' Androhn, und, beraubt des Köchers, Lächelt' Apollo. 4. Als von Troja Priamos kam der König, Deiner Obhut froh, hat er selbst des Atreus Stolze Söhn', auch Thessalerglut, und Feindes= Lager getäuschet. 5. Du verleihst, daß Seelen, die fromm gewandelt, Still in Wonn' ausruhn, mit dem Schwung des Goldstabs Leichte Schwärm' abführend, der Höhe Göttern Wert, und des Abgrunds. NB . Diese Übersetzung von Voß ist unleidlich und gegen alle wirklich deutsche Metrik. 2. Lösung von Th. Kayser. 1. O Merkur, des Atlas beredter Enkel, Der der Urwelt Sitte, die rohe, weislich, Durch das Wort und durch der Palästra feine Künste gebildet, 2. Dich, den Herold Jupiters und der Götter, Dich erhebt mein Lied, der gewölbten Lyra Vater, der, was immer er will, so schalkhaft Listig entwendet. 3. Als dich einst als Knaben Apollo drohend Schreckte: „Giebst du mir die gestohlnen Rinder Nicht, so“ .... mußt' er lachen, er sah, es war sein Köcher verschwunden. 4. Ja mit dir ging Priamus einst mit seinem Golde dort am grimmen Atridenpaare, An Thessalia's Wachen, am Feindeslager Sicher vorüber. 5. Du entrückst zum Sitze der Sel'gen fromme Seelen, treibst mit goldenem Stab den leichten Schwarm daher, der oberen Götter Liebling, Liebling der untern. Bemerkungen zur Übersetzung, und Methode der Prüfung. An der Voßschen Übersetzung wird man sofort verschiedene Härten bemerken. „Wohlredend“ geht ja wohl an, allein das Wort ist kaum poetisch verwendbar, ja, bei Homer hätten wir nichts gegen ein Participium Präsens. Daß nepos , Enkel, wie es Apollo in der That war, mit dem allgemeinen „Sproß“ wiedergegeben ist, wollen wir nicht allzu sehr betonen. Kayser hat das Richtige und dabei Wörtliche. „Aus rohem Unfug“ ist prosaisch, ja kaum edel schriftdeutsch. Kayser hat „die Sitte, die rohe“; recentum der frischen, frischgeborenen, oder nach Sat. I . 3, 99 ff. der eben aus der Erde hervorgewachsenen Menschen. Beide Übersetzer haben „Urwelt“ dem Sinne nach richtig gewählt; es wird wohl kaum wörtlich zu geben sein. Das Voßsche „Wortes Weisheit“ scheint gesuchter Gleichklang, und ist im Grundtext nicht begründet. Kaysers „weislich durch das Wort“ (eigentlich Stimme) ist wörtlich und nicht zu beanstanden. „Anordner“ ist geschmacklos und nicht einmal wörtlich. „Krumm“ kann nicht stehen bleiben; es weckt bei uns falsche Vorstellungen, wenn freilich das entschieden bessere „gewölbt“ auch noch nicht allen Anforderungen genügt. „Jn leisem Scherze verheimlichst.“ Das ist zu leise, wenn der Scherz zum Rinderdiebstahl wird. Kayser hat „entwendet“; das ist sinnrichtig und giebt furtum begrifflich wieder. „Wofern“ bei Voß wäre zu billigen als drohender Amtsstil, wenn die Sache in oratio recta gegeben wäre; hier hat Kayser die drohende Apostrophe, die sich in Lachen auflöst, fein wiedergegeben. „Durch der Stimme Androhn“ soll das „An“ den Anfang der Drohung ausdrücken, die aus Mangel an Vorrat nicht durchgeführt werden kann? Kayser übersetzt „drohend“. Dives giebt Voß mit „König“; nun ist allerdings „reich“ ein beliebtes Prädikat der Könige; ob diese Substituierung aber angeht oder nötig ist, bezweifeln wir. „Mit seinem Golde“ trifft den Sinn der Situation gemäß. Bei Voß geht dies verloren, abgesehen von dem oben angedeuteten Bedenken. „Deiner Obhut froh“ soll wohl poetisch sein; „froh“ legt etwas hinein, was nicht da steht. Kayser übersetzt einfach „mit dir“, was vollständig genügt. „Thessalerglut“ ist unverständlich; oder sollte Voß eine andere Auffassung der Stelle haben? Kayser hat richtig „Wachen“, wenn auch ignes bezeichnender, plastischer, konkreter ist. Das „ging sicher vorüber“ ist für fefellit vielleicht nicht ganz malerisch genug. „Getäuscht“ ist wörtlich richtig. Den Sinn giebt Kayser besser wieder. „Seelen, die fromm gewandelt“ ist Exegese und nicht Übersetzung, zudem langweiliger Pastoralton. Die letzte Voßsche Strophe ist überhaupt schleppend. (Jn ähnlicher Weise prüfe man die verschiedenen Übersetzungen in metrischer und prosodischer Hinsicht und suche sich ein Urteil zu bilden!) Aufgabe 2. Nachbildung der folgenden Ode des Q. Horatius Flaccus (Od. I , 9). Alcäische Strophe. Ad Thaliarchum . Stoff. 1. Vides, ut alta stet nive candidum Soracte nec jam sustineant onus Silvae laborantes geluque Flumina constiterint acuto? 2. Dissolve frigus, ligna super foco Large reponens atque benignius Deprome quadrimum Sabina, O Thaliarche, merum diota. 3. Permitte divis cetera, qui simul Stravere ventos aequore fervido Deproeliantes, nec cupressi Nec veteres agitantur orni. 4. Quid sit futurum cras, fuge quaerere, et Quem fors dierum cunque dabit, lucro Appone, nec dulces amores Sperne puer neque tu choreas, 5. Donec virenti canities abest Morosa: nunc et campus et areae Lenesque sub noctem susurri Composita repetantur hora, 6. Nunc et latentis proditor intimo Gratus puellae risus ab angulo Pignusque dereptum lacertis Aut digito male pertinaci. Wörtliche Übersetzung. 1. Siehst du, wie von tiefem Schnee weiß der Soracte steht, und (wie) nachgerade nicht mehr die Last ertragen die Wälder, die notleidenden, und vor Kälte die Flüsse erstarrt sind ─ vor der scharfen? 2. Löse auf (mildre) die Kälte, Scheite über dem Herde reichlich niederlegend, und freigebiger nimm herab vierjährigen Lautern, o Thaliarchus, aus sabinischem Kruge. 3. Überlaß den Göttern das Übrige. Sobald diese die auf der brausenden Meeresfläche kämpfenden Winde niedergeworfen haben, werden weder Cypressen noch die alten Eschen bewegt. 4. Was morgen sein werde, fliehe es zu erfragen; welchen der Tage auch das Schicksal geben wird, setz als Gewinn an (rechne zum ─) und süße Liebesspiele verschmähe nicht als Knabe (Jüngling) noch auch die Reigentänze, 5. Solange dir in der (Jugend) blüte (dem blühenden) das grämliche Grau fern ist. Jetzt sollen das (Mars)feld und (andere) freie Plätze und gegen Abend sanftes Geflüster zu festgesetzter Stunde wiederholt (d. h. allabendlich) aufgesucht werden; ─ 6. Jetzt angenehmes Lachen, der Verräter des verborgenen Mädchens vom innersten Winkel (d. i. das Lachen, welches ... verrät), und das den Armen entrissene Pfand oder dem nur schlecht (d. i. zum Scheine) festhaltenden (sich sträubenden) Finger. Übersetzung von Theodor Kayser. 1. Sieh wie Soracte's Gipfel im Glanz des Schnees, Des tiefen, strahlt, der seufzende Wald erträgt Die schwere Last nicht mehr, die Flüsse 2. Den Frost zu mildern lege zur Flamme Holz Auf Holz vollauf, und reichlicher spendend geuß Vierjährgen Wein, o Thaliarchus, Aus dem sabinischen Henkelkruge. 3. Das andre stell den Göttern anheim: ein Wink, Und siehe, alsbald legt sich der Stürme Kampf Auf wildem Meer und nimmer regen Sich die Cypressen und alten Eschen. 4. Was morgen sein wird, frage du nicht, und nimm Der Tage jeden, den das Geschick dir schenkt, Hin als Gewinn; der süßen Liebe Freue du dich und der Reigentänze, 5. Solang du grünst und grämlichen Alters Grau Noch ferne steht: jetzt suche den Campus auf, Den freien Plan, das leise Flüstern Jn der versprochenen Abendstunde; 6. Jetzt auch des Mädchens liebliches Lachen, das Verrätrisch tönt vom trauten Verstecke her, Und Pfänder, die dem Arm du raubest Oder, er wehrt sich nur schwach, dem Finger. NB . Der Lernende möge sich nun an weiteren Beispielen versuchen. Wir empfehlen hierzu die Oden und Epoden des Horatius Flaccus, Text und Übersetzung mit Erläuterungen von Theodor Kayser. (Außerdem etwa noch Mähly's römische Lyriker.) § 85. Übersetzungsversuche aus dem Französischen. Vorbemerkungen für das Übersetzen französischer Verse. 1. Die Auffassung des französischen Verses, wie der französischen Metrik überhaupt ist keine feststehende. Von der Strenge eines antiken Metrums kann hier nicht entfernt gesprochen werden. Man pflegt in der Regel nur zu sagen: Diesem Gedicht liegt jambisches oder trochäisches Versmaß zu Grunde. Will man weiter gehen, so wird man gut thun, nicht von Verstakten, sondern von der Silbenzahl zu sprechen. Jrrig ist freilich die Meinung, als ob die französischen Dichter beim Bau ihrer Verse keine anderen metrischen Regeln zu befolgen hätten, als die, eine gewisse Silbenzahl abzumessen, und außerdem etwa noch an gewissen Stellen Cäsuren eintreten zu lassen. Vielmehr liegt einem jeden französischen Gedicht irgend ein bestimmter Rhythmus zu Grunde; und wer etwa ein Gedicht in gebundener Rede schön vortragen wollte, der hätte dies wohl zu beachten. Dies ist auch für den Übersetzer wichtig. 2. Vorherrschend ist der jambische und der jambisch=anapästische Rhythmus, daneben macht sich auch der Trochäus geltend. 3. Da der Alexandriner der Nationalvers der Franzosen ist, bei uns aber der jambische Quinar, so wird am häufigsten aus dem Alexandriner in unseren jambischen Quinar übersetzt. Es empfiehlt sich, Versuche anzustellen. 4. Die Übertragung ist nicht so leicht, da der Alexandriner länger ist, als der Quinar. Es muß somit in der Übersetzung um je einen Takt gekürzt werden. 5. Geht dies nicht an, so kommt der letzte (6.) Takt des Alexandriners bei der Übersetzung in den ersten Takt des 2. Quinars zu stehen, und dieser hat nun (mit den noch folgenden 4 Takten) den 2. Alexandriner des Urbilds zu bieten. Geht auch dies nicht, so müssen vier weitere Alexandriner unverkürzt gegeben werden, um durch die überschüssigen Takte einen Quinar mehr zu erhalten. Oder aber muß der Übersetzer die vier leeren Takte jedes zweiten Übersetzungsquinars durch einen willkürlichen Zusatz ausfüllen. 6. Schiller, der uns Racine's Phèdre im jambischen Quinar übertrug, sagt in einem Briefe (vom 25. Oktober 1799) an Goethe: „Wie die Geige des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenkelichte Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüts und die Gedanken. Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert, und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form, wie in das Bett des Prokrustes, gezwängt. Wird nun in der Übersetzung mit Aufhebung des alexandrinischen Metrums die ganze Basis weggenommen, worauf diese Stücke erbaut wurden, so können nur Trümmer übrig bleiben.“ Schiller hat aber durch seine Übersetzung gezeigt, daß aus den Trümmern etwas zu machen war, und daß somit seine Klage ebenso unmotiviert war, als die Goethe's über unsere Sprache. (Vgl. I , 134 dieser Poetik.) 7. Es handelt sich in der Übersetzung weniger um die gleiche Taktzahl im ganzen, als um vernünftige Benützung der Freiheit, vom Originalvers abzuweichen. 8. Der Lernende wird gut thun, zuerst eine treue Prosaübersetzung herzustellen, bei welcher er die einzelnen Alexandriner durch Striche abgrenzt, um sodann die Übertragung in Blankverse zu versuchen. 9. Er wähle z. B. Racine's Phèdre , präge sich immer eine Scene ein und beginne seine Übersetzung, indem er zuletzt Schillers Übertragung vergleicht. 10. Leichter ist die Übersetzung von Alexandrinern in Alexandriner. Wir empfehlen für einen Versuch das bekannte Moli è re'sche Lustspiel „Die gelehrten Frauen“, wobei die leicht zugängliche Übersetzung von Laun verglichen werden kann. Hierbei ist freilich zu beachten, daß Laun von der französischen Grundregel abweicht, die stets ein männliches auf ein weibliches Reimpaar folgen läßt und umgekehrt. Er hat auch vieles nichts weniger als treu wiedergegeben. So übersetzt er den Schluß des 7. Auftritts vom 2. Akt also: O schrecklich, daß mit dir ich eines Ursprungs bin! Daß du mein Bruder seist, ich will's nicht länger leiden, Drum such' ich schamerglüht dein Angesicht zu meiden. während der Sinn etwa so wiederzugeben gewesen wäre: „Jst's möglich, daß mit dir ich Eines Blutes bin? Es kränkt mich bis zu Tod, mich gleichen Stamms zu sehen, Und ganz verwirrt von Scham treibt's mich hinwegzugehen.“ 11. Zur Übung in den Reimstrophen dürfte nicht ungeeignet sein: » Recueil de Poésies fugitives et d'Essais ─ traductions en vers libres et métriques par G. Bernard . Hamburg 1853.« Das Retrovertieren von Übersetzungen unserer hervorragendsten Dichter zeigt dem Lernenden am besten die Handgriffe, deren sich der Übersetzer bediente und die umgekehrt (bei Übersetzungen aus dem Französischen) von Wert sind. 12. Jnstruktiv wirkt es, ein und dasselbe Reimgedicht in verschiedene Formen zu übertragen. Wir bieten zwei Proben, die der Lernende mehrfach übersetzen möge, bevor er die Lösungen vergleicht: a . Stoff. (Von Beaumarchais. ) Le vin et la paresse Se disputent mon coeur. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Le vin et la paresse Se partagent mon coeur .. Si l'une est ma maîtresse, L'autre est mon serviteur. Erste Lösung. (Von W. Baudissin in Viertaktern. ) Die Faulheit zankte mit dem Weine Sich um mein Herz .. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Der Faulheit halb, und halb dem Weine Schenkt' ich mein Herz, und so war's recht! Jst meine Herrin doch die eine, Der andre mein ergebner Knecht. Zweite Lösung. (Von E. Geibel in Dreitaktern. ) Es streitet mit dem Weine Die Trägheit um mein Herz .. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Mein Herz ist, wie dem Weine Der Trägheit zugethan. Mein Liebchen sei die eine, Der andre mein Kumpan. b . Stoff. (Von Malherbe. ) Elle était du monde où les plus belles choses Ont le pire destin; Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses, L'espace d'un matin. Erste Lösung. (Von Faust Pachler. ) Sie war aus einer Welt, wo auf das Fleckenlose Stets harrt der Untergang, Als Rose lebte sie ganz so wie jede Rose Nur einen Morgen lang. Zweite Lösung. (Von M. Fatkin. ) Es traf, o Kind, dich das erbarmungslose Geschick, das stets die schönsten Blüten brach: Du lebtest, unter Rosen eine Rose, Wie sie ─ nur einen kurzen Sommertag. Aufgabe. Les Hirondelles von Béranger . Captif au rivage du Maure, Un guerrier, courbé sous ses fers, Disait: Je vous revois encore, Oiseaux ennemis des hivers. Hirondelles, que l'espérance Suit jusqu'en ces brûlants climats, Sans doute vous quittez la France: De mon pays ne me parlez-vous pas? Depuis trois ans, je vous conjure De m'apporter un souvenir Du vallon, où ma vie obscure Se berçait d'un doux avenir. Au détour d'une eau qui chemine A flots purs, sous de frais lilas, Vous avez vu notre chaumine: De ce vallon ne me parlez-vous pas? L'une de vous peut-être est née Au toit où j'ai reçu le jour; Là, d'une mère infortunée Vous avez dû plaindre l'amour; Mourante, elle croit à toute heure Entendre le bruit de mes pas; Elle écoute, et puis elle pleure. De son amour ne me parlez-vous pas? Ma soeur est-elle mariée? Avez-vous vu de nos garçons La foule, aux noces conviée, La célébrer dans leurs chansons? Et ces compagnons du jeune âge Qui m'ont suivi dans les combats, Ont-ils revu tous le village? De tant d'amis ne me parlez-vous pas ? Sur leurs corps l'étranger, peut-être, Du vallon reprend le chemin; Sous mon chaume il commande en maître, De ma soeur il trouble l'hymen. Pour moi, plus de mère qui prie, Et partout des fers ici-bas. Hirondelles de ma patrie, De ces malheurs ne me parlez-vous pas? Die Schwalben. 1. Lösung. Von Metromanus. Gefangen an der Mauren Strande, Ein Krieger unter Kettenlast, 2. Lösung. (Von H. Leuthold. ) Jn Fesseln sang am Mohrenstrande Ein junger Kriegsmann, Frankreichs Sohn: Sprach: Wieder seh ich das bekannte Gefieder, das den Winter haßt. O Schwalben, die ihr Trieb gezogen Jn dieses heiße Klima fort, Aus Frankreich kommt ihr ja geflogen; Sagt ihr von meinem Lande mir kein Wort? Ein Liebeszeichen mir zu geben, Beschwör' ich seit drei Jahren euch; Vom Thale, wo mein stilles Leben Sich einst gewieget hoffnungsreich. Wo eines Bächleins Wellen gehen Klar unter den Syringen fort, Habt unser Hüttchen ihr gesehen; Sagt ihr von jenem Thale mir kein Wort? Vielleicht ist euer Ein's geboren An meinem elterlichen Dach; Und hörte mit gerührten Ohren Der armen Mutter Schmerzens-Ach. Hinsterbend, glaubt sie stündlich, meinen Gewohnten Tritt zu hören dort: Sie horcht, um bitter dann zu weinen. Sagt ihr von ihrer Liebe mir kein Wort? Mein Schwesterchen, ist es beraten? Habt uns're Jungen ihr gesehn, Zur Hochzeit allesamt geladen, Jn ihren Liedern sie erhöhn? Und meine jungen Waffenbrüder, Die mir gefolgt in Tod und Mord, Sah'n alle sie das Dörflein wieder? Sagt ihr von so viel Freunden mir kein Wort? Vielleicht der Fremdling nimmt die Schritte Durchs Thal, wohl über sie, zurück; Befiehlt als Herr in meiner Hütte, Stört meiner Schwester Eheglück. Für mich giebt's keiner Mutter Flehen, Nur Sklaverei noch hier und dort; O, Schwalben, aus der Heimat Höhen, Sagt ihr von diesem Jammer mir kein Wort? „Seid mir gegrüßt im fremden Lande, Jhr Vögel, die dem Frost entflohn, Jhr Schwalben, die ein hold Vertrauen Meerüber trieb ins Sonnenlicht! Gewiß, ihr kommt von Frankreichs Auen, Und sprecht ihr mir von meiner Heimat nicht? O wollt mir endlich Kunde geben Vom Thal, wo unsre Hütte liegt, Wo sich zuerst mein dunkles Leben Jn goldnem Zukunftstraum gewiegt! Am klaren Bach, um dessen Blinken Sich blühender Hollunder flicht, Saht ihr das graue Strohdach winken, Und sprecht ihr mir von diesem Thale nicht? Vielleicht fand Eine Nest und Futter Am Herd, wo ich zur Welt einst kam; Jhr saht die Sehnsucht meiner Mutter, Saht ihre Lieb' und ihren Gram; Oft wird sie mich zu hören meinen, Da strahlt vor Freuden ihr Gesicht; Sie horcht; dann fängt sie an zu weinen ─ Und sprecht ihr mir von ihrer Liebe nicht? Ging meine Schwester zum Altare? Saht ihr den muntern Hochzeitreihn Sie führen mit der Myrt' im Haare? Und klang der Burschen Weise drein? Und die mit mir als Waffenbrüder Jns Feld gerufen Ehr' und Pflicht, Sah'n sie das Dörflein alle wieder? Und sprecht ihr mir von so viel Freunden nicht? Vielleicht ist rot von ihrem Blute Der Feind gestürmt an unsern Herd; Er praßt als Herr von meinem Gute Und hat die Schwester mir entehrt. Die Mutter starb in Gram und Schande, Und Keiner, der die Fesseln bricht! Jhr Schwalben aus dem Vaterlande, Und sprecht ihr mir von solchem Jammer nicht?“ NB . 1. Der Lernende übersetze die Aufgabe zuerst wörtlich. Sodann suche er eine metrische Übertragung herzustellen; endlich vergleiche er die dichterisch schöne Übersetzung Heinr. Leutholds Strophe für Strophe mit der zum Teil recht mangelhaften Übertragung des Metromanus, um dessen Fehler zu erkennen und sich die Vorteile beider Übersetzer anzueignen. 2. Die Behandlung bei den weiteren, unter Ziffer 9, 10 und 11 dieses Paragraphen genannten Stoffen ist die gleiche, weshalb wir auf weitere Beispiele verzichten. § 86. Übersetzungsversuche aus dem Englischen. Vorbemerkungen für das Übersetzen englischer Verse. 1. Wer seine Übersetzungsversuche mit dem jambischen Quinar beginnt, hat mit Rücksicht auf den Ausgang unserer Satztakte mit Miltonschen und Shakespeareschen Quinaren abzuwechseln und all dasjenige zu beachten, was wir weiter oben (S. 6) über den jambischen Quinar gelehrt haben. 2. Für den Übergang zu den Reimstrophen empfehlen wir: » Translations from the German Poets by Edward Stanhope Pearson . 1879.« Die Retrovertierung zeigt die Wege der Übersetzung besser, als viele Versuche und Jrrwege dies vermögen. Jn der richtigen Erkenntnis, daß die Form eines Gedichts als Körper desselben nicht ohne Nachteil für dasselbe zerstört werden darf, hat Pearson das Versmaß der von ihm ins Englische übertragenen Gedichte sorgfältig beibehalten, so daß die Rückübersetzung verhältnismäßig leicht erscheint. Z. B. (S. 178): (Vgl. Mörike:) The while I sleeping lay, An hour before the day, Sang at the window on a tree A swallow, but scarce marked by me ─ An hour before the day ; u. s. w. Derweil ich schlafend lag, Ein Stündlein wohl vor Tag, Sang vor dem Fenster auf dem Baum, Ein Schwälblein mir, ich hört' es kaum, 3. Da wir den Übersetzungen aus dem Englischen schon oben Raum gewidmet haben, so beschränken wir uns hier auf ein einziges Beispiel, um dem Lernenden Gelegenheit zur Anwendung zu geben. 4. Selbstverständlich muß zur Vermeidung der Monotonie mit den Cäsuren gewechselt werden. 5. Um die Einerleiheit der Musik zu vermeiden, sind hie und da Anapäste einzufügen, wie dies das Original ebenfalls gethan hat. The better land von Felicia Hemans . „I hear thee speak of the better land Thou call'st its children a happy band; Mother! O where is that radiant shore, Schall we not seek it, and weep no more? Is it where the flower of the orange blows, And the fire-flies dance through the myrthe boughs?“ „Not there, not there, my child!“ Is it where the feathery palm-trees rise, And the date grows ripe under sunny skies? Or midst the green island on glittering seas, Where fragrant forests perfume the breeze, And strange bright birds, on their starry wings, Bear the rich hues ofall glorious things?“ „Not there, not there, my child!“ „Is it far away in some region old, Where the rivers wander o'er sands of gold? Where the burning rays of the ruby shine, And the diamond lights up the secret mine, And the pearl gleams forth from the coral strand, Is it there sweet mother, that better land?“ „Not there, not there, my child!“ „Eye hath not seen it, my gentle boy! Ear hath not heard its deep songs of joy! Dreams cannot picture a world so fair ─ Sorrow and death may not enter there: Time doth not breathe on its fadeless bloom, For beyond the clouds ond beyond the tomb, It is there, it is there, my child!“ 1. Übersetzung. Von Gisbert Freiherrn von Vincke. Jch hör' dich erzählen vom besseren Land, Du hast seine Kinder glücklich genannt: Mutter, o wo ist das helle Gestad? Weine nicht mehr, wir suchen den Pfad! Jst's wo die Blüte zur Goldfrucht reift, Durch Myrtenhecken der Glühwurm streift? ─ „Dort nicht, dort nicht, mein Kind!“ Jst's, wo die gefiederten Palmen ragen, Die Dattel sich rötet in sonnigen Tagen, Auf grüner Jnsel an spiegelnden See'n Die würzigen Waldesdüfte weh'n? Wo fremde Vögel auf sternigen Schwingen Der Sonne die prächtigen Farben bringen? ─ „Dort nicht, dort nicht, mein Kind!“ Jst's weit, weit fort, wo das glänzende Band Des Stromes sich schlingt durch goldenen Sand? 2. Übersetzung. Von Ferd. Freiligrath. Ein besseres Land nennst du entzückt? Seine Kinder, sagst du, sind reich und beglückt? Mutter, wo mag sein Ufer scheinen? Laß es uns suchen und nicht mehr weinen. Jst's, wo im Myrtenhain rastet der Hirt, Wo die Feuerfliege das Laub durchschwirrt? ─ Da nicht, da nicht, mein Kind! Jst es, wo schlank die Palme steht, Das Haupt von gefiederten Büscheln umweht? Auf Jnseln in ewig heitern Zonen, Wo duftende Wälder die Blütenkronen Schütteln, wo Weihrauch die Staude schwitzt, Wo der Vogel des Paradieses blitzt? ─ Da nicht, da nicht, mein Kind! Jst es, wo über Geschiebe von Gold Brausend die Welle der Ströme rollt? Wo feurig im tiefen Dunkel der Minen Diamanten funkeln und rote Rubinen? Wo der Rubinen strahlende Pracht Und der Demant funkelt im dunkeln Schacht? Wo die Perlen schimmern an rosigem Strand, Jst's dort, o Mutter, das bessere Land? ─ „Dort nicht, dort nicht, mein Kind!“ „Mein Sohn, kein Auge noch sah es zuvor, Seiner Lieder Jauchzen vernahm kein Ohr, Nicht Träume malen die Welt voll Licht, Und Sarg' und Tod, dort weilen sie nicht, Seine Blumen streifet die Zeit nicht ab ─ Denn jenseit der Wolken und jenseit dem Grab Dort ist's, dort ist's, mein Kind!“ Wo die Perle glänzt am Korallenstrand? O Mutter, ist dort das bess're Land? Kein Auge sah es, mein Sohn! kein Ohr Vernahm seiner Stimmen jauchzenden Chor. Seine Pracht ─ kein Träumender sah im Schlummer Solch Leuchten! ─ fern bleiben ihm Tod und Kummer; Nie zerstört die Zeit seinen Glanz, seinen Duft; Jenseits der Wolken, jenseits der Gruft ─ Da ist's, da ist's, mein Kind! NB . 1. Auch bei der vorstehenden Aufgabe ist zunächst wörtlich zu übersetzen, bevor die metrische Übertragung versucht wird. Den Schluß bildet die Vergleichung der 1. Übersetzung mit der zweiten von Freiligrath. Diese Vergleichung wird die Übersetzungsfehler des Anfängers, wie die Vorzüge der beiden Übertragungen (namentlich der Freiligrathschen) ersehen lassen; sie wird instruktiver wirken als eine ins Detail eingehende Belehrung. 2. Ähnlich sind die weiteren Übersetzungsstoffe zu behandeln, auf welche wir unter Ziffer 2 S. 249 verweisen konnten. § 87. Übersetzungsversuch aus dem Jtalienischen. Vorbemerkungen. 1. Jn keiner Sprache wird es leichter, gute Verse in jedem Versmaß und über jeden beliebigen Gegenstand zu schreiben, als in der italienischen. Sie steht in dieser Richtung allen übrigen Sprachen voran. Jhre Sangbarkeit und ihr Überfluß an Mitteln befähigt sie, all das leichthin zu sagen, was Dichter in anderen Sprachen nur nach langem Studium und Nachdenken recht mühsam zu bilden vermögen, weshalb Jtalien von jeher die berühmtesten Jmprovisatoren besaß. 2. Es ist daher gerade bei Übersetzungen aus der italienischen Sprache höchster Wohllaut, Gefälligkeit, Sangbarkeit, Melodie, Modulation des Tons, Weichheit und Anschmiegen des Ausdrucks zu erstreben. 3. Der Lernende möge das im Bd. I , 531 ff. Gesagte beachten. 4. Ferner möge er nach der im § 40 dieses Bandes gegebenen Praxis verfahren. Aufgabe. Das nachstehende berühmteste, bei seiner Entstehung wahrhaft vergötterte, Sonett von Tasso auf Lucrezia, Herzogin von Urbino, ist zu übertragen. Stoff. Negli anni acerbi tuoi purpurea rosa Sembravi tu, che a ̓ rai tepidi all' ôra Non apre il sen, ma nel suo verde ancora Verginella s'asconde e vergognosa: O piuttosto parei (chè mortal cosa Non s'assomiglia a te) celeste Aurora, Che le campagne imperla e i monti indora, Lucida in ciel sereno e rugiadosa. Or la men verde età nulla a te toglie; Ne te, benchè negletta, in manto adorno Giovinetta beltà vince o pareggia. Così più vago è il fior poi che le foglie Spiega odorate; e il sol nel mezzogiorno, Vie più che nel mattin, luce e fiammeggia. 1. Übersetzung. Von Karl Förster. (Vgl. Auserlesene lyrische Gedichte von Torquato Tasso. Leipzig 1844. S. 64.) Der Purpurrose warst in deinem Maie Du gleich, die ihren Busen nie den lauen Strahlen eröffnet, nur sich zu umbauen Mit Blättern sinnt in jungfräulicher Scheue. Oder (daß ich kein irdisch Bild dir leihe) Warst himmlischer Aurora gleich zu schauen, Die Höhen goldet und beperlt die Auen Und tauig niederstrahlt aus lichter Bläue. Durch Lenzesflucht hast du nichts eingebüßet; Und, wie verabsäumt du, ─ im schönsten Kranze Kann Jugend nicht obsiegen dir, noch gleichen. So wächst die Blum' an Pracht, wenn sie erschließet Den duftgen Kelch, und immer muß am Glanze Dem Mittagslicht die Morgensonne weichen. 2. Übersetzung. Von Ph. L. Krafft. (Vgl. Bl. f. bayr. Gymn. Schulw. 1883.) Jn deinem Frühling eine Purpurrose Erschienst du, die noch nicht dem lauen Strahl Den Kelch erschloß, nein jungfräulich zumal Und keusch sich barg im grünen Blätterschoße: Vielmehr du schienst (denn keinem irdschen Lose Vergleicht man dich) wie Frührot, das im Thal Tauperlt und Berge färbt in Goldopal, Am Himmel leuchtend, feuchtend niedre Moose. Nun hat die Sommerzeit dir nichts benommen,* Noch kann dich, ungeschmückt, im Prachtgewande Die schönste Maid besiegen, noch erreichen. So ist die Blume schöner, wenn entkommen Jhr Duft dem Blatt; und Mittagssonnenbrande Jst Morgen-Licht und =Glut nicht zu vergleichen. * Die Fürstin war 40 Jahre, als ihr Tasso das Sonett widmete. NB . Zu weiteren Übersetzungsübungen empfehlen sich in aufsteigender Schwierigkeit: a . die lyrischen Gedichte von Torquato Tasso (von Gries wie von Förster übertragen); b. Petrarca, Rime (Übersetzt von Krigar); c. Ariosto, Orlando furioso (Übersetzt von Gildemeister); d. Dante Alighieri (Übers. von König Johann v. S., sowie von K. G. v. Berneck) &c. Die Anfänger werden durch Vergleichen ihrer Arbeit mit den erwähnten Übersetzungen wie von selbst auf die leitenden Gesichtspunkte und Feinheiten des Ausdrucks &c. gebracht werden und Nutzen ziehen. § 88. Übersetzungsversuch aus dem Spanischen. Vorbemerkung. 1. Die spanische Sprache, deren Grundlage das Lateinische bildet, gehört zu den schönsten romanischen Sprachen, weshalb von jeher gern aus derselben übersetzt wurde. Sie zeichnet sich durch Wohlklang, Umfang (Reichtum), Kraft und Majestät des Ausdrucks aus. Sie läßt jeden geschriebenen Laut hören. Sie ist (namentlich seit der verständnisvollen Reform der Orthographie durch die Akademie im Jahre 1815) die gleichmäßigste und leichteste unter den modernen Sprachen. 2. Da der Accent bei konsonantisch auslautenden Wörtern auf der Ultima liegt, sonst aber in der Regel auf der Penultima (jede Ausnahme wird durch den Akut bezeichnet), so ist die spanische Sprache ungemein leicht zu lesen und namentlich die Prosodie von Eigennamen bei der Übersetzung keinem Zweifel unterworfen. 3. Die Erreichung der Treue macht in Hinblick auf den schon durch Luis de Gongora begründeten sogenannten geschmückten Stil ( estilo culto ), der sich nicht selten durch Schwülstigkeit und übertriebene Eleganz breit macht, große Anforderungen an den Übersetzer, der sich den Geist des Urbilds vermählen muß, um beurteilen zu können, was wesentlich und was möglicherweise wegzulassendes Ornament ist. 4. Der Reichtum der spanischen Poesie besteht in Romanzen und in Liedern. Es giebt viele nationale Sammlungen von Romanzen ( Romances ), die man Romanceros nennt. Die Sammlung des Duran ist die klassische Ausgabe der Romanzen. Das Lied ( Cancion ) unterscheidet sich von der Romanze durch seine Strophen ( Coplas ), desgleichen die Seguidilla . Alle diese Formen werden unter dem gemeinschaftlichen Namen Versos de arte menor begriffen. Man besitzt mehrfache Sammlungen derselben unter dem Namen Cancioneros . Sie sind wie alle lyrischen Dichtungen der Spanier von einer Tiefe und Glut der Empfindung, die man nur bei den Südländern trifft. Sie empfehlen sich daher sehr für die Übertragung in unsere gemütinnige Sprache. Jn neuester Zeit danken wir die Vermittlung mehrerer derselben Johannes Fastenrath in seinem Calderonbuch. 5. Als lohnenden Stoff zu Übersetzungsversuchen empfehlen wir den mehrfach bearbeiteten Romancero del Cid , wobei der Anfänger die bekannte Ausgabe von Keller mit der Übersetzung von Regis benützen mag. Letztere Übersetzung fordert mehrfach die Kritik heraus, denn: a . bietet sie Reime statt Assonanzen, b . gestattet sie sich unnatürliche Zerreißungen und falsche Trennungen, c . ist sie hie und da trocken und prosaisch, d . bietet sie zuweilen prosodische Jnkorrektheiten, z. B.: Mīch dăß īch Rĕcht sōlltĕ sprēchĕn &c. Aufgabe. Stoff. Aus Todas las obras de Don Luis de Gongora . NB . Die Orthographie hat der Herausgeber nach dem gegenwärtig in Spanien herrschenden Gebrauch abgeändert. 1. Aprended, flores, de mí Lo que va de ayer á hoy, Que ayer maravilla fuí, Y hoy sombra mia aun no soy. 2. La Aurora ayer me dió cuna, La noche ataud me dió, Sin luz muriera, si no Me la prestara la Luna, Pues de vosotras ninguna Dejad de morir así, Aprended etc. Wörtliche Übersetzung. Lernet, ihr Blumen, von mir Das, was geht (dauert) von gestern auf heute, Denn gestern ein Wunder war ich, Und heute nicht mehr mein Schatten bin ich. Das Morgenrot schenkte mir gestern die Wiege (Leben), Die Nacht den Sarg mir gab, Ohne Licht stürbe ich, wenn nicht Mir dasselbe liehe der Mond. Drum von Euch keine Entgeht so zu sterben. 3. Consuelo dulce el clavel Es á la brevedad mia, Pues quien me concedió un dia Dos á penas le dió á él, Efímeras de un vergel, Yo cardena él carmesí, Aprended etc. 4. Flor es el jazmin, y bella, No de las más vividoras, Pues vive pocas más horas, Que rayos tiene de estrella. Si el ambar florece, es ella La flor que contiene en sí, Aprended etc. 5. El alelí aunque grosero En fragrancia, y en olor, Más dias ve que otra flor, Pues ve los de Mayo entero, Morir maravilla quiero Y no morir alelí, Aprended etc. 6. A ninguna flor mayores Términos concede el Sol, Que al fecundo Girasol Matusalen de las flores, Ojos son aduladores Cuantas en él joyas ví, Aprended etc. Süßer Trost ist die Nelke Für mein kurzes Dasein, Denn der, welcher mir gewährte einen Tag, Zwei kaum ihr gewährte er. Eintagsblüten aus einem Garten, Jch hell=violett, sie karmoisin. Eine Blume ist der Jasmin und eine schöne, Keine von den langdauernden (langlebigen); Denn er lebt wenig mehr Stunden, Als Strahlen er hat an seinem Stern! Wenn die Ambra blüht, so ist er (der Jasmin) Die Blume, welche er enthält in sich. Der Goldlack (auch die Levkoje) wenngleich grob An Wohlgeruch und an Duft, Mehr Tage sieht er als eine andere Blume; Denn er sieht die des ganzen Mai, Sterben als Maravilla will ich, Und nicht sterben als Goldlack. Keiner Blume längeres Leben gewährt die Sonne, Als der fruchtbaren Sonnenblume, Methusalem unter den Blumen, Soviel schmeichlerische Augen Giebt es, als ich sah an ihr. Übersetzung. Von Em. Geibel. Ein Eintagsglöckchen spricht: 1. Lernt, ihr Blumen, lernt von mir, Wie sich heut und gestern zweit; Gestern noch des Gartens Zier, Bin ich kaum mein Schatten heut. 2. Gestern mit dem ersten Funkeln Wiegte mich das Morgenrot; Doch die Nacht schon gab mir Tod, Und gewelkt wär' ich im Dunkeln, Hätte nicht des Mondes Schimmer Sich ergossen durchs Revier. Gleichem Los entgeht ihr nimmer; Lernt, ihr Blumen, lernt von mir. 3. Süßer Trost sind mir die Nelken Für mein gar so frühes Grab, Denn der Einen Tag mir gab, Läßt auch sie nach zweien welken. So in Einem Garten blühend Kommen, gehn zusammen wir, Bläulich ich, sie purpurglühend; Lernt, ihr Blumen, lernt von mir. 4. Schön ist Blüte vom Jasmin; Doch auch sie ist bald entschwunden, Denn kaum lebt sie so viel Stunden, Als am Stern ihr Strahlen blühn. Wenn der Ambra wüchs' als Pflanze, Sicher blüht' er dann in ihr, Lebt' und stürb' in ihrem Glanze; Lernt, ihr Blumen, lernt von mir. 5. Nur der Goldlack nebenbei, Grob von Blättern, grob von Düften, Hält sich länger in den Lüften, Denn er sieht den ganzen Mai. Doch als Tausendschön zu sterben, Trag' ich wahrlich mehr Begier, Denn als Lack Heil zu erwerben: Lernt, ihr Blumen, lernt von mir. Zur Beurteilung des Originalgedichts und der Übersetzung. 1. Dieses Gedicht ist eine Art Zadschal (Klanggedicht) oder Muwaschaha, welche beide freundliche, sich gleichende, arabisch=spanische Volksliedformen wir unseren Dichtern zur Einführung in die deutsche Litteratur sehr empfehlen möchten. Das unterscheidende Kennzeichen ist, daß ein Reim oder ein Reimkomplex in einer Einleitungsstrophe, welche man auch das Thema nennen könnte, auftritt, dann von andern Reimen unterbrochen wird, aber am Ende jeder Strophe wiederkehrt und den Schluß des Ganzen bildet; die Anordnung im einzelnen und die Wahl des Metrums bleibt dem Belieben des Dichters anheimgegeben. (Vgl. für Näheres v. Schack „Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sicilien“ 1865. Bd. II , S. 52 und 128 ff.) 2. Geibels Strophen weichen vom Original ab, dessen didaktische, die Pointe des Ganzen enthaltende kurze Eingangsstrophe gekreuzte Reime hat, während die übrigen Strophen Zehnzeilen sind mit dem Schema: a b b a a c c b c b , oder (falls nur die 1. Zeile der Einleitungsstrophe wiederholt wird) Siebenzeilen mit dem Schema: a b b a a c c . 3. Geibel giebt in der Einleitungsstrophe 2 Reimpaare; an Stelle der Zehn= (oder Sieben=) Zeilen bietet er Achtzeilen. 4. Bei den letzteren nimmt er vom Strophenschema des Originals die erste Hälfte a b b a und bildet die 2. Hälfte nach der kurzen Einleitungsstrophe des Originalgedichts mit gekreuzten Reimen. 5. Wie das Original, wechselt auch die Übersetzung in den einzelnen Strophen das Reimgeschlecht. 6. Um sein Maß (die Achtzeile) zu füllen, muß der Übersetzer häufig den Stoff strecken. So ergeben ihm: in der 1. Strophe die 1. und 4. Zeile; in der 4. und 5. Strophe je die 6. Zeile den Stoff zu je 2 Zeilen; in der 3. Strophe umschreibt er die 5. Zeile sogar durch 3 Verse. 7. Zu Strophe 1 und 5 des Urbilds. Maravilla bedeutet (in der 1. Strophe) das Wunder. Es ist aber auch ein Blumenname mit verschiedenen Bedeutungen. Jn der fünften Strophe scheint es „ die peruanische Wunderblume “ (lat. mirabilis jalappa ) zu bedeuten, eine hell=violette nur wenige Stunden blühende Zierpflanze. Geibel übersetzt Tausendschön, worunter wir ebenso eine unter dem Namen Amarantus beliebte Fuchsschwanz-Spezies verstehen könnten, wie unser allbekanntes Gänseblümchen. Aber beide kann der Dichter nicht gemeint haben, da ihnen die Merkmale violett, kurze Dauer &c. fehlen. 8. Zu Strophe 6. Joyas heißt Geschmeide, ferner bedeutet es Belohnung, Kampfpreis, sowie endlich auch die Garderobe, welche eine Frau mit in die Ehe bringt. Es wird uns schwer, einen eigentlichen, dem Ganzen logisch entsprechenden Sinn in die beiden letzten Zeilen dieser Strophe zu bringen. Vielleicht ist es unserem Geibel ebenso gegangen, weshalb er bei seiner Übersetzung des obigen Gedichts die letzte Strophe ganz und gar weggelassen hat. 9. Auf den unreinen Reim in der 1. Strophe, auf die Thesisstellung von „der“ in der 3. Zeile der 3. Strophe u. a. brauchen wir den Lernenden auf dieser Stufe nicht mehr aufmerksam zu machen. Weitere Stoffe zur Übersetzung. Der Anfänger im Übersetzen möge sich aus irgend einer Bibliothek die im Register des spanischen Liederbuchs von Geibel und Heyse verzeichneten spanischen Originalgedichte verschaffen, und seine Übertragungen mit den Musterübersetzungen Geibel's und Heyse's vergleichen, um zunächst deren Vorteile sich anzueignen. Um sodann zur Höhe der Übersetzungskunst aus dem Spanischen vorzuschreiten, empfiehlt sich besonders die Übertragung der vielen herrlichen Oktaven, Sonette und Terzinen des Lope de Vega Carpio , welche sich im 4. Bande der Coleccion de las obras sueltas &c. Madrid 1776─79 finden und in jeder größeren Bibliothek anzutreffen sind u. a. § 89. Übersetzungsversuch aus dem Portugiesischen. Vorbemerkung. 1. Die aus einem römischen Provinzialdialekt ( lingua Romana rustica ) entstandene portugiesische Sprache ist eine der schwierigsten modernen Sprachen, was Bau und Aussprache betrifft, weshalb sie besonders hohe Anforderungen an den Übersetzer stellt. 2. Es ist ungemein erschwerend, daß z. B. einige Präpositionen mit dem darauf folgenden Artikel verschmolzen sind, daß Adjektive (ähnlich wie im Französischen) bald vor bald nach dem Substantiv stehen, daß die persönlichen Fürwörter dem Zeitwort, von dem sie regiert sind, oft angehängt werden, daß die Possessiva den Artikel vor sich haben, daß der Gebrauch der Zeitformen ein ganz freier ist u. a. m. 3. Durch ihre überreichen weichen und süßen Klänge erhält die Sprache ein unmännliches, kraftloses Gepräge, was der deutsche Übersetzer sehr beachten muß, um bei der Übertragung keine Fehlgriffe zu thun. 4. Dem Anfänger raten wir zur Übersetzung: die Lusiaden des Camo ë ns, welche alle Vorzüge der portugiesischen Sprache vereinen, dabei durch ihren Jnhalt, durch ihre glühende Vaterlandsliebe, durch ihre fesselnden Bilder löwenkühnen Mutes im Kampfe gegen die Mauren und zur See in Sturm und Schiffbruch, wie durch ihre Verehrung alles Schönen (also auch der Frauenschönheit) eine ungemein lohnende Übersetzungsaufgabe ergeben. 5. Als Probe bieten wir eine Strophe, welche zu den schönsten unter allen Lusiaden-Strophen gehört und in der That durch ihre Malerei, Musik und Lebensweisheit als die beste, echteste Camo ë nsstrophe für alle Zeiten gerühmt werden kann. Aufgabe. Eröffnungsstrophe des 4. Gesangs der Lusiaden des Camo ë ns. Stoff. Despois de procellosa tempestade, Nocturna sombra, e sibilante vento, Traz a manhã serena claridade, Esperança de porto e salvamento: Aparta o sol a negra escuridade, Removendo o temor do pensamento: Assi no reino forte aconteceu, Despois que o rei Fernando falleceu. 1. Übersetzung. Von Booch-Arkossy. Nach wilden Stürmen und nach grausen Nächten Ruht aus das Meer am hellen heitern Morgen; Der neue Tag trotzt all' den finstern Mächten, Des Hafens Hoffnung scheucht des Schiffers Sorgen, Und die von Kampf und Angst und Not Geschwächten Begrüßt das Licht der Sonne wohlgeborgen: So kam denn auch das tapfre Reich zum Frieden, Als König Fernand aus der Welt geschieden. 2. Übersetzung. Von R. Av é =Lallemant. Nach wilder, schwerer Ungewitter Toben Die uns in dunkler Nacht, im Sturm getroffen, Bringt schon der Morgen heitres Licht von oben, Er läßt den Hafen, läßt die Rettung hoffen. Durch Finsternis schon bricht die Sonne droben Die Brust ist frischem Mute wieder offen! So ging es auch im starken Königreiche, Als Ferdinand geworden war zur Leiche. Zur Würdigung dieser Strophe schreiben wir aus Os Luisiadas von Fonseca S. 472 her: Despois de procellosa tempestade, Nocturna sombra, e sibilante vento, Traz a manhã serena claridade, Esperança de porto e salvamento. » Os dous primeiros versos são tam sonoros, que parece se estão ouvindo os brados de uma tempestade, no final do primeiro, e um surdo estrondo, que succede aos bramidos do vento, no final do segundo: seguese depois uma pintura a mais cheia de alegria e amenidade: ella faz com a precedente um maravilhoso contraste, e gradação de côres: n'isto é que se conhece o grande homem, o verdadeiro poeta: onde falta esta preciosa qualidade, não ha poesia .« Francisco Dias Gomes , Analyse, p . 136. Removendo o temor do pensamento . » Removendo o temor ao pensamento, como lêem a maior parte das edições, não me parece boa syntaxe; por isso corrigimos como vai no texto. A troca de um a por um d em caracteres italicos, como são os das duas primeiras edições, e tam imperfeitas, era muito facil de ser commettida pelos typographos. Esta mesma lição é tambem da edição de 1651, ja per nós indicada como de todas a menos incorrecta.« (Nota do editor da ediçao Rollandiana de 1843.) NB . 1. Da die ganze portugiesische Litteratur kein zweites Werk von dem Werte und der Bedeutung der Lusiaden hat und die vor mehr als 300 Jahren geschriebenen Strophen auch heute noch der mustergültige und unübertroffene Schatz der portugiesischen Sprache sind, so möge der Anfänger versuchen, die Lusiaden vollständig nach der Ausgabe von José de Fonseca (Paris 1846) zu übersetzen und dabei zu vergleichen neben den Übersetzungen von Kuhn und Winkler (1802), Heyse (1807), Donner (1834) &c., besonders die Übersetzungen von Booch-Arkossy (1854, 2. Aufl. 1857) und von Eitner (1872). 2. Auch die von Arentschildt (1852) gut übertragenen Sonette des Camo ë ns ergeben ein wertvolles Material, um zur Übersetzungskunst zu führen. Desgleichen Bellermann, portugiesische Volkslieder und Romanzen (1864) mit gegenübergestelltem Urtexte. § 90. Übersetzungsversuch aus dem Schwedischen. Vorbemerkung. 1. Die mit dem Dänischen, Norwegischen (und durch dieses mit dem heutigen Jsländischen) verwandte schwedische Sprache ist uns wegen ihres nordgermanischen Ursprungs sympathischer, als jede andere Sprache. Viele Wurzeln, Formen, Ausdrucksweisen, Wendungen &c. tragen noch ihre Abstammung auf die Stirn geschrieben. Mehrere Vokale lauten wie im Deutschen. Ferner sind die 3 Geschlechter des Substantivs, die Tempora und Modi und der Gebrauch der Hilfszeitwörter dem Deutschen entsprechend geblieben u. s. w. 2. Für den jüngeren deutschen Dichter wird sich die Übertragung der auch in Deutschland vielverbreiteten, wirklich formenschönen Lyriken König Oscars II . empfehlen, die sich durch ungekünstelten, fließenden Ausdruck und naturwahre Bilder, durch verständnisvollen Vers- und Strophenbau, sowie durch eine, dem gut deutsch sprechenden fürstlichen Autor eigene, dem deutschen Gefühlsleben verwandte Tiefe der Empfindungsweise auszeichnen, und für welche zur Vergleichung die gute Übersetzung von Emil J. Jonas (Berlin 1877) vorliegt. Aufgabe. Nachstehendes, durch sein strophisches Charakteristikum sich auszeichnende Gedicht soll ins Deutsche übertragen werden. Stoff. Bilden . Gud sade: varde ljus! Och det vardt ljus. Utöfver djupen tidens morgon grydde, Men jorden af beundran stum Förnam de rika under, som hon bar, Och glädjetaͦrar saͦgos paͦ dess kinder glimma. Fraͦn höjden dagens härold blickar ned, Ur natten träda fram de sköna former Bestraͦlade af solens glans; Sjelf tronar han i en omätlig rymd, Ett herrligt segertecken i den högstes tempel . Lösung. (Vergleiche Gedichte von Oscar II ., König von Schweden und Norwegen.) Das Bild. Gott sprach: Es werde Licht! Da ward es Licht, Und aus der Zeiten Urgrund strahlte Morgen. Die Erde, von Bewund'rung stumm, Nahm hochbeglückt des Schöpfers Wunder wahr: Der Freuden Thränen schmückten ihre frischen Wangen. Des Tages Herold blickt von Himmelshöh', Die Nacht umhüllt nicht mehr der Schönheit Formen, Sie strahlen in der Sonne Glanz, Die selber thront im unermeßnen Raum: Ein herrlich Siegeszeichen in des Höchsten Tempel. Det blaͦa fästet, trohetens symbol, Nu öfver haf och land sin kupa sträcker; Och rodnaden vid österns bryn Mot fjellens moln i vester bryter sig, I vaͦrens milda grönska hoppet ler saͦ vänligt. Paͦ hällens brant och i den gömda bädd, Som faͦras djupt af forsens yra hvirflar Den ädla malmen skymtar fram, Och yppig sädesskörds fullmogna guld Vid arlafläktens smekning synes bäfva. Orangen glöder vid Astræas kyss Och kokar sina ljufva safter samman, Ett söderns skötebarn den är. Ej mindre skön, men mera blyg och mild, En nordisk juniqväll i knopp staͦr violetten. Mot ljuset vänder rosen daggstänkt kalk, Och gräset spirar fram i dalens sköte Vid foten af en löfrik höjd, Ifraͦn hvars topp den silfverklara bäck Mot insjöns svala famn bland tufvor smaͦ sig kröker. Paͦ andra stranden, mer i fjerran, syns Den dunkla barrskog resa sig ur vaͦgen; Hur högväxt, allvarsam den staͦr Och sluter tyst sin dunkla krans omkring Det djerfva fjell, hvars spets bland skyarne försvinner. Die blaue Veste, das Symbol der Treu', Dehnt über Land und Meer die kühne Wölbung. Die Röte aus dem fernen Ost Leiht Schmelz dem Wolkenfelsen dort im West: Des Lenzes mildes Grün verkündet frohe Hoffnung. Aus Stromesbett, von Wassern tief gefurcht, Wie aus dem Felsen, der dem Zeitstrom trotzet, Strahlt mild des Erzes goldner Blick. Doch milder glänzt der Saat vollreifes Gold: Den Schatten drüber haucht des Morgenwindes Schmeicheln. Asträa's Kuß macht die Orange blühn, Sie heißt die edlen Früchte glühen, reifen. Doch liebt sie Südens Lieblingskind Nicht mehr, als sie des Nordens Günstling hegt: Das Veilchen lauscht mit Wonnedank am Juniabend. Zum Lichte tauschwer strebt der Rose Kelch, Und Gräser sprießen aus dem Schoß des Thales. Vom Fuß der laubgekrönten Höh' Entsprudelt frisch ein silberklarer Bach: Durch Blumen führt sein Silberpfad zum weiten Meere. Tiefsinnend kühn am fernen Strand erhebt Der dunkle Tannenwald sich aus den Wogen; Wie ragt er hoch empor so ernst, Umrankt des Berges Brust mit dunklem Kranz: Das Felsenhaupt hoch oben im Gewölk verschwindet. Naturen sinnrikt tecknat hvar gestalt För den, som vill dess höga inskrift känna, Som ej blott skaͦdar slumpens nyck, Men vishet, hopp och kärlek skymta fram Paͦ dunkla grunden af förgänglighetens tafla! Ej strax ditt öga genomtränger allt, En töckenslöja ofta täcker tingen: Sjelf himlen sveper sig i moln; Betrakta dock sjufärgad baͦges bild, Ett naͦdens tecken: ljusets seger öfver mörkret. Betrakta blomman, kastad för din fot, Den höga ekens kamp med vilda stormen; De tala om ett fängsladt lif, Hvars frö fraͦn himlen föll till jorden ned Att gro och spira upp i skiftande gestalter. En vingad blomma, fjäriln fladdrar kring, Det stolta lejon majestätiskt skrider; Hvad rikedom, hvad rörlighet I oceanens djup och i den rymd, Dit djerft sig svingar upp den konungsliga örnen! Till ständigt högre former lifvet gaͦr; Men ack, den stora taflan är ej färdig, Och sjelfva kronan fattas än, Erhaben, sinnreich zeigt sich die Natur Nur dem, der ihre hohe Schrift versteh'n will, Der nicht des Zufalls Launen nur Erkennt im Bilde der Vergänglichkeit: Doch Weisheit, Lieb' und Hoffnung im Vergehn und Werden. Nur langsam sich der Menschen Wissen mehrt, Nur langsam sprengt der Blick die Nebelhüllen; Doch mahnt symbolisch stets aufs neu Des siebenfarb'gen Bogens strahlend Bild: Halt aufrecht stets die Hoffnung auf den Sieg des Lichtes. Die zarte Blume, die im Moose lauscht, Der hehren Eiche Kampf mit Sturmestosen, Sie künden laut die ew'ge Kraft Der Saat des Himmels, die zur Erde fiel: Zu keimen und empor zu sprossen vielgestaltig. Beschwingte Blume schwebt der Schmetterling, Beredte Urkraft brüllt der stolze Löwe, Belebtes Regen wunderbar Bewegt ein Wesenmeer den Meeresgrund: Und kühn durchmißt der königliche Aar den Luftraum. Zu edlen Formen stieg die Schöpfung auf. Vom Chaos rang sich los so Tier wie Pflanze, Zuletzt als Ziel, als Jdeal, Till dess ditt öga skaͦdat menniskan, Som andens prägel bär uti de ljufva dragen. Hur maͦnga seklers skiften vexlat om Paͦ tidens bana, hvälfvande sig framaͦt, Alltsedan hon fraͦn Eden gick, Och fjerran fraͦn den ljusa morgonstund, Daͦ oskuldsfull och ren hon stod för Herrans aͦsyn. Ännu, ännu hon kan dock skaͦda upp Mot fadersögat, som i himlen vakar, Och än med kärlek bedja den, Som henne straffat, ej förskjutit har, Och saͦ hon kan sin första ursprungshöghet röja ! Der Schönheit Preis, der Gottheit hehres Bild: Der Mensch, des Züge das Gepräg' des Geistes tragen. Nun eilt die Zeit im ew'gen Kreislauf fort, Schon manch Jahrhundert rasch entschwand dem Menschen, Seit Edens Garten er verließ ─ Und vor dem Schöpfer unschuldsvoll er stand: Doch zeigt sein Antlitz noch, o Schöpfer, Dein Gepräge. Noch hofft der Mensch, hebt seinen Blick zum Licht, Zum Vaterauge, im urew'gen Himmel, Noch betet liebend er zu dem, Der ihn gestraft, doch nicht verstoßen hat: O, mög' sein Bild des Ursprungs Hoheit ewig wahren! NB . Der Anfänger, welcher sich durch Übersetzungen der instruktiven Gedichte König Oskars II . in die Geheimnisse der Übertragung aus dem Schwedischen eingeführt hat, möge nunmehr einzelne bekannt gewordene lyrische Stücke der sog. Phosphoristen Atterbom und Dahlgren, oder vom großen schwedischen Romantiker Almqvist wählen. Sodann versuche er die Verdeutschung von Tegners Frithjofsage. Um sich zum Übersetzer auszubilden, vergleiche er Vers für Vers die Verdeutschungen von Amalie von Helwig, Mohnike, Leinburg, Simrock, Zoller u. a. Wenn er peinlich genaue Kritik übt, so wird er bald die Schwächen der einzelnen Übersetzer erkennen, die Vorteile der anderen sich aneignen und zweifelsohne zu jener Übersetzer-Tüchtigkeit und Routine gelangen, die in ihrer der Form wie dem Geist des Urbilds Rechnung tragenden Vollendung Anspruch auf Anerkennung zu machen berechtigt ist. (Beispiele für noch weitere Sprachen zu geben, kann nach der Ausführung S 198 dieses Bandes nicht unsere Absicht sein. Wer uns folgte, wird bei Anwendung der von uns zum erstenmal [in ihrer Vereinigung] entwickelten Übersetzungsgrundsätze imstande sein, mit Erfolg die Übertragung aus jeder ihm geläufigen fremden Sprache zu versuchen!) Neuntes Hauptstück. Selbstkritik und dichterische Feile . ────── § 91. Angeborenes Genie. Die Selbstkritik der namhaftesten Dichter. 1. Man teilt in vielen Kreisen immer noch die von der sog. Jdentitätsphilosophie ererbte Ansicht, daß dem dichterischen Jngenium die Verse ohne weiteres in vollendeter, glatter Form mühelos entquellen, daß der Dichter sie infolge höherer Jnspiration improvisatorisch ─ so zu sagen ─ aus dem Ärmel schüttle u. s. w. 2. Aber wir haben schon mehrfach (z. B. I . 2, 27─32 dieser Poetik, sowie S. 22 der 3. Aufl. unserer „Erziehung zur Vernunft“) darauf hingewiesen, daß die größten Dichter den angestrengtesten Fleiß auf ihre Schöpfungen verwenden, wenn sie es auch für überflüssig finden, von ihren stillen Mühen zu sprechen. 3. Wir vermögen die Behauptung zu erhärten, daß Lieder von leichten, geringen Formen, oder auch scheinbar flüchtig hingeworfene größere Dichtwerke der gefeiertsten Dichter aller Zeiten unendlich sorgfältig gefeilt und überarbeitet wurden. (Vgl. S. 275.) 4. Jhr Beispiel möge genügen, dem Anfänger die Notwendigkeit der Selbstkritik und der dichterischen Feile zu illustrieren. 5. Dasselbe möge auch das Verlangen nach festen Normen für die Selbstkritik begründen, wie wir solche auf Grund gewissenhafter Vergleichung dichterischen Materials im Nachstehenden lehren und praktisch nachweisen wollen. § 92. Normen, Grundsätze, Ratschläge für Selbstkritik und Feile. 1. Man entwerfe und schreibe („schleudre“) das Gedicht hin, wie es nach Maßgabe seiner Veranlassung kommen mag. Je geübter oder talentvoller der Dichter ist, desto weniger wird er zu fürchten brauchen, daß er etwas im Bau verfehle. 2. Man lasse dieses flüchtig hingeworfene Gedicht einige Zeit ruhen. 3. Sodann prüfe man es zuerst auf den Bau: ob es architektonisch richtig sei, ob es nicht an Mißverhältnis seiner Teile leide, hier zu lang, dort zu kurz sei &c. 4. Man schneide weder zu viel weg, noch setze man zu viel an. 5. Man sehe vor allem darauf, daß der Gedanke klar heraustrete, und daß die Empfindung sich steigere. 6. Man streiche schonungslos alle falschen Bilder oder die allzureiche Fülle der guten. 7. Dann gehe man an die Verbesserung der Worte, der Verse, der Reime, der Strophen &c. (Vgl. Ziffer 1 des folgenden §.) 8. Man vergesse nicht, daß die kleinste Änderung nach vorne und nach rückwärts wirkt, nicht bloß auf die geänderte Stelle. Man halte sich also immer den Bezug des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze gegenwärtig. Exempla docent ! Der bekannte österreichische Dichter Faust Pachler versichert uns, daß er bei seiner Ausgabe von Halms Gedichten im Nachlaß vier Bearbeitungen eines und desselben Gedichts vorgefunden habe, darunter eine, die offenbar Halms Liebling gewesen sei, in einem neuen Versmaß. Pachler gab sich Mühe, das Gedicht zu retten. Es war sehr lang und unklar. Pachler schnitt vorne und hinten ab und ließ in der Mitte weg. Sein Mitherausgeber war einverstanden; nur Pachler selbst war mit seiner Thätigkeit noch unzufrieden. Er nahm daher einige weggelassene Strophen wieder auf. Dann stellte er in dieser 2. Textgestaltung eine andere Strophenfolge her und jetzt war das Gedicht plötzlich gut, ohne daß er ein Wort zu ändern brauchte. Auch bei seiner schönen poetischen Erzählung Anahid, die so eben im Deutschen Dichterbuch aus Österreich (herausgegeben von Franzos 1883) erschien, hat Pachler nach dem uns vorgezeigten Material rücksichtslos gearbeitet, bis sie ihre ergreifende Gestalt erhielt. Er schuf mehrere Strophen um, fügte eine ganz neue Strophe ein, stimmte das Ganze im Ausdruck poetischer, änderte den Titel und neuerdings sogar den Namen der Heldin. Lehrreich für jeden Überarbeiter ist es hierbei, daß der sorgsame Dichter doch noch (und zwar gleich in der 1. Strophe) einen zu langen Vers übersah. § 93. Praktische Nachweise der Selbstkritik und der dichterischen Feile. 1. Jm Folgenden suchen wir den Nachweis zu liefern, wie die namhaftesten Dichter die Feile anwandten, wie sie ─ nachdem der Gedanke in die rhythmische Form gegossen war ─ mit der Selbstkritik begannen, um nunmehr entweder einzelne Bilder zu ergänzen, zu klären, durch malende Worte zu verschönen, oder den Versbau, die Strophenform, den Reim zu verändern, und ihr Gedicht auf eine möglichst hohe Stufe der Vollendung zu heben. 2. Zugleich suchen wir die Methode der Feile zu zeigen und die praktische Anleitung zu derselben zu bieten. 3. Jn systematischer Folge führen wir demnach an den besten Beispielen vor: I . Die Feile an einzelnen Versen und Strophen; II . Die Feile in Überarbeitung ganzer eigener Gedichte; III . Die Feile in Überarbeitung fremder Schöpfungen. § 94. I . Feile einzelner Verse und Strophen. a . Schiller. Aus: „ Die Jdeale “. Ursprüngliche Fassung. Erloschen sind die heitern Sonnen Die meiner Jugend Pfad erhellt, Die Jdeale sind zerronnen Die einst das trunkne Herz geschwellt; Die schöne Frucht, die kaum zu keimen Begann, da liegt sie schon erstarrt. Mich weckt aus meinen frohen Träumen Mit rauhem Arm die Gegenwart. Die Wirklichkeit mit ihren Schranken Umlagert den gebundnen Geist; Sie stürzt, die Schöpfung der Gedanken, Der Dichtung schöner Flor zerreißt. So schlang ich mich mit Liebesarmen Um die Natur mit Jugendlust, Bis sie zu atmen, zu erwarmen Begann an meiner Dichterbrust. Verbesserung und Feile Schillers. Er ist dahin, der süße Glaube An Wesen, die mein Traum gebar, Der rauhen Wirklichkeit zum Raube Was einst so schön, so göttlich war. Wie einst mit flehendem Verlangen Pygmalion den Stein umschloß, Bis in des Marmors kalte Wangen Empfindung glühend sich ergoß, Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Durch die bessernde Feile haben diese Strophen viel gewonnen. Wenn in der ersten Fassung die beiden Bilder der Verse 5─8 auseinanderfallen und die Verse 9─12 wenig mehr sind als die Erklärung der vorhergehenden 4 Verse, so nimmt der Dichter in der zweiten Bearbeitung die Verse 5─12 der ersten Fassung in 4 Verse zusammen, um hierdurch die erste Strophe inhaltlich abzuschließen. Sodann beginnt er die zweite Strophe mit einem neuen Bilde, welches die Schlußverse der 2. Strophe zur schönen Geltung kommen läßt und der Strophe selbst durch die Einheit des Bildes einen harmonischen Abschluß verleiht. b . Wieland. Aus: „ Oberon “ (Zehnter Gesang, Stanze 2). Ursprüngliche Fassung. Jhn hört Titania, in ein Gewölk verhüllt, Tief aus dem Wald herauf in langen Pausen ächzen, Sieht den Unglücklichen in stummer Angst verlechzen, Und weint und flieht. Denn ach! vergebens schwillt Jhr Herz von Mitgefühl! Ein eisernes Geschicke Stößt sie, so bald sie sich ihm nähern will, zurücke, Sie flieht, und wie sie nach dem einst geliebten Strand Noch einmal umschaut, blinkt ein Goldring aus dem Sand. Verbesserung und Feile Wielands. Und wendet sich von ihm. Denn auch vergebens schwillt Jhr zartes Herz von innigem Erbarmen. Ein stärkrer Zauber stößt mit unaufhaltbarn Armen Sie weg von ihm; und wie sie über'm Strand Dahin schwebt, blinkt vor ihr ein Goldreif aus dem Sand. Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Jn der ersten Fassung sagt der Dichter: „Ein eisernes Geschick stößt sie (Titania), sobald sie sich ihm (dem an den Baum Gebundenen) nähern will, zurück“; aber es stört ihn sodann, bei einer Elfenkönigin von Geschick zu sprechen. Er empfindet etwas wie unrichtige Auffassung und begründet in richtiger Erkenntnis die Situation durch die Worte: „ Ein stärkrer Zauber. “ Diese Verbesserung zwingt ihn, auf den früheren Reim zu verzichten; er wählt ein neues Reimpaar und ändert zur Erreichung des Anschlusses auch die vorhergehenden Worte. Und wie er nun auch hier überlegend anhält, empfindet er gegenüber dem Ausdruck „schwellen“ die Bezeichnung „von Mitgefühl“ als matt. Sofort greift er eine ganze Tonlage tiefer, indem er ein „inniges Erbarmen“ obwalten läßt, das durch das „zarte“ (Herz) noch wirkungsvoller hervortritt. Dadurch gelangt der poetische Gedanke in reinerer und natürlicherer Form zum schönen Ausdruck. Zum Schluß wird wohl der Hinweis nicht überflüssig sein, wie verständnisvoll der Dichter durch seine Besserung auch die Lautmalerei übte, um Wohllaut wie Klangschönheit zu erzielen (Poetik I , 119). Während die ursprüngliche Fassung vier i, zwei ä und zwei dumpfe a (mit darauffolgendem n) aufweist, vermindert die Änderung die Zahl der farblosen i und führt zwei offene, volle, klare a (mit darauffolgendem r) ein. Man erkennt, daß Wieland zwischen ar und an denselben Unterschied macht, wie er in Wirklichkeit z. B. im schwäbischen Dialekt besteht &c. c . Lessing. Die Küsse. Nach dem Druck von 1751. 1. Ein Küßchen, das ein Kind mir schenket, Das mit dem Küssen nur noch spielt, Das bei dem Küssen noch nichts denket, Jst nun so was, das man nicht fühlt. 2. Ein Kuß, den mir ein Freund verehret, Jst nun so was, das eigentlich, Zum wahren Küssen nicht gehöret: Hier heißt es nur, so schickt es sich. 3. Ein Kuß, den mir mein Vater giebet, Ein wohlgemeinter Segenskuß, Wenn er mich lobt und lobend liebet, Jst was, das ich verehren muß. 4. Ein Kuß von meiner Schwester Liebe Geht in so ferne wohl noch an, Als ich dabei mit reinem Triebe An andre Mädchen denken kann. 5. Ein Kuß, den mir die Phyllis reichet, Aus meiner Klagen Überdruß, Und dann beschämt zurücke weichet, Ja ─ so ein Kuß, das ist ein Kuß. Verbesserungen von 1753. Und Das ist ein Kuß, den man nicht fühlt. Das ist ein Gruß, der eigentlich Aus kalter Mode küßt er mich. Wenn er sein Söhnchen lobt und liebet, Jst etwas, das ich ehren muß. Steht mir als Kuß nur so weit an, heißerm Triebe Ein Kuß, den Lesbia mir reichet, Den kein Verräther sehen muß, Und der dem Kuß der Tauben gleichet, Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Man beachte, wie die wenig belangreichen Änderungen Lessings durchweg nur die Bestimmung haben, tonlose Wörter durch gefällige zu ersetzen, oder prosaischen Wendungen eine bessere Form zu geben. Uns erscheint „lobt und lobend liebet“ besser als die Änderung: ein deutliches Beispiel, daß man bei der Feile auch verschlechtern kann. „Lobt und liebet“ sagt nichts; zum mindesten ist es matt. „Lobend liebet“ hat eine Zärtlichkeit, die dem andern Ausdruck fehlt. Die Form giebet ist heutzutage fehlerhaft. (Sie war in der damaligen Zeit gebräuchlich und kommt bei Lessing auch in der Prosa vor.) Jn der 3. Strophe schiebt der Dichter zur Vermeidung des zweimaligen Wortes loben („lobt und lobend &c.“) die Worte „sein Söhnchen“ ein. Jn der 5. Strophe ist insbesondere die Änderung des Namens auffallend. Lessing hatte im ersten Entwurf von 1747 „Doris“ stehen; 1751 änderte er dies ab und schrieb „Phyllis“; 1753 endlich finden wir „Lesbia“. Die beiden ersten Namen sind jedenfalls nur solche, die in den Gedichten jener Periode jeweilig die beliebtesten waren; der letztere („Lesbia“) aber scheint hauptsächlich deshalb gewählt worden zu sein, um den störenden Artikel („ die Phyllis“) zu vermeiden &c. d . Klopstock. Aus: „ Der jetzige Krieg “. Erste Fassung. Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg sei Das zischendste tiefste Brandmal der Menschheit! Mit welcher Hoheit Blick wird, wen die Heitre Des goldenen Tags labt, auf uns herabsehn! Bist du wahrer Zukunft Weissagerin, Leier, gewesen? hat der Geist, der dich umschwebt, Göttermenschen? oder hat er Vernichtungsscheue Gottesleugner gesehn? Verbesserung und Feile Klopstocks. Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg Sei das zischendste, tiefste Brandmal der Menschheit! Mit welcher Hoheit Blick wird auf uns herabsehn Wen die Heitre labt des goldenen Tages! Warest du, Saite, wirklicher Zukunft Weissagerin? Sahe der Geist, welcher dich umschwebt, Göttermenschen? oder hat er vernichtungsscheue Gottesleugner gesehn? Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Das Gedicht ist in freien, antikisierenden Versen (vgl. Poetik I , 524) geschrieben und gestattet daher beliebige Änderungen. Um den vollen Nachdruck auf das dem Dichter verhaßte Wort „Krieg“ zu legen, kürzt er im ersten Verse und schlägt das weggenommene Stück zum folgenden Verse. Jn umgekehrter Weise verlängert er Vers 7, um dadurch das Wort „Gottesleugner“ in seiner ganzen Wucht wirken zu lassen und auch einen knapperen, schöneren Abschluß zu erzielen. Jm Vers 3 und 4 verarbeitet er den störenden Zwischensatz („wen die Heitre des goldenen Tages labt“), um die zweite Strophenhälfte aus einem Gusse zu gestalten. e . Theodor Körner. Aus „ Männer und Buben “. Ursprüngliche Fassung. Strophe 7. Und schlägt unser Stündlein im Schlachtenrot Willkommen dann, sel'ger Soldatentod! Du mußt dann unter seidenen Decken, Unter Merkur und Latwergen verrecken. Stirbst als ein ehrlos erbärmlicher Wicht. Ein deutsches Mädchen beweint dich nicht, Ein deutsches Lied besingt dich nicht, Und deutsche Becher klingen dir nicht. ─ Stoßt mit an Mann für Mann Wer den Flamberg schwingen kann. Verbesserung Körners. Du verkriechst dich in seidene Decken, Winselnd vor der Vernichtung Schrecken. Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Zum Verständnis der ursprünglichen Lesart ist zu bemerken, daß das Gedicht „Männer und Buben“ dem Nachlasse des Dichters entstammt. Wie Körner in patriotischer Begeisterung die Worte etwas zu stark gewählt hat und sich zu einem unschönen Bilde hinreißen ließ, so hat er in ruhiger, objektiver Würdigung die unästhetische Wirkung seines Ausdrucks warm empfunden. Aus diesem Grunde erfolgte seine Änderung, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß er nur die redigierte Form der Nachwelt überliefert haben würde, wenn die Übergabe des Gedichtes zum Druck vom Schicksal ihm vergönnt worden wäre. f . E. Mörike. Scheiden von Jhr. Erste Fassung. Ein Jrrsal kam in die Mondscheingärten Einer einst heiligen Liebe. Schaudernd entdeckt' ich verjährten Betrug; Und mit weinendem Blick, doch grausam Verbesserte Fassung Mörike's. Ein Jrrsal kam in die Mondscheingärten Einer einst heiligen Liebe. Schaudernd entdeckt' ich verjährten Betrug. Und mit weinendem Blick, doch grausam, Hieß ich das schlanke, 5 Hieß ich das schlanke, Zauberhafte Mädchen Ferne gehen von mir. Ach, ihre hohe Stirn, Drin ein schöner, sündhafter Wahnsinn 10 Aus dem dunkelen Auge blickte, War gesenkt, denn sie liebte mich. Aber sie zog mit Schweigen Fort in die graue Stille Welt hinaus. 15 Von der Zeit an Kamen mir Träume voll schöner Trübe. Wie gesponnen auf Nebelgrund, Wußte nimmer, wie mir geschah; War nur schmachtend, seliger Krankheit voll. 20 Oft in den Träumen zog sich ein Vorhang Finster und groß ins Unendliche, Zwischen mich und die dunkle Welt. Hinter ihm ahnt' ich ein Heideland, Hinter ihm hört' ich's wie Nachtwind sausen; 25 Auch die Falten des Vorhangs Fingen bald an, sich im Sturm zu regen, Gleich einer Ahnung strich er dahinten, Ruhig blieb ich und bange doch, Jmmer leiser wurde der Heidesturm ─ 30 Siehe, da kam's! Aus einer Spalte des Vorhangs guckte Plötzlich der Kopf des Zaubermädchens, Lieblich war er und doch so beängstend. Sollt' ich die Hand ihr nicht geben 35 Jn ihre liebe Hand? Bat denn ihr Auge nicht, Sagend: da bin ich wieder Hergekommen aus weiter Welt! Zauberhafte Mädchen Ferne gehen von mir. Ach, ihre hohe Stirn, War gesenkt, denn sie liebte mich; Aber sie zog mit Schweigen Fort in die graue Welt hinaus. Krank seitdem, Wund ist und wehe mein Herz. Nimmer wird es genesen! Als ginge, luftgesponnen, ein Zauberfaden Von ihr zu mir, ein ängstig Band, So zieht es, zieht mich schmachtend ihr nach! ─ Wie? wenn ich eines Tags auf meiner Schwelle Sie sitzen fände, wie einst, im Morgen= Zwielicht, Das Wanderbündel neben ihr, Und ihr Auge, treuherzig zu mir aufschauend, Sagte, da bin ich wieder Hergekommen aus weiter Welt! Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Man bemerke bei diesen Accentversen Mörike's, wie der Dichter das Wort (V. 14) „stille“ getilgt hat, um einen schönen Abschluß zu erzielen. Durch Verkürzung des 14. Verses um einen Takt wird der Tonfall ein reinerer, auch wird der traurige Auszug durch die rascher abfallende Kürze besser hervorgehoben. Die folgenden Verse (15 ff.) sind in der ersten Fassung mit vielen mosaikartigen, kleinlichen Bildern überladen, die den eigentlichen Gedanken verschlingen oder nur mangelhaft zu Tage treten lassen; schön, einfach und edel ist dagegen die vereinfachte Form der Änderung gehalten, durch welche nunmehr Sehnsucht und Heimweh ergreifend ausgedrückt werden. Man beachte noch den Grund verschiedener Streichungen, besonders auf Zeile 9 und 10. g . Friedrich Rückert. Aus der Terzinendichtung: „ Die treuen Blumen “. Ursprüngliche Fassung in Cornelia 1816. Des Todes Sicheln kann kein Mensch entrinnen. Und auch die Blumen haben ihre Frist; Dem läßt sich noch ein Trostgrund abgewinnen. Und besser ist es, daß man nützlich ist Durch seinen Tod, als nutzlos hinzusterben, Zu Spott und Spiele dienend falscher List. Jetzt kommt, was keinen Trost uns läßt erwerben. Jetzt kommt, was uns allein zu Thränen zwingt. Jetzt kommt, was uns allein mehr schmerzt als Sterben. Änderung und Feile Fr. Rückerts. Des Todes Sicheln kann kein Mensch entrinnen. Und auch die Blumen haben ihre Frist; Wie sollten darum unsre Thränen rinnen? Jetzt aber kommt die Klag' um falsche List, Jetzt kommt, was uns allein zu Thränen zwingt, Was uns viel schmerzlicher denn Sterben ist. Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Rückert ändert und wirft mit kühner Hand eine ganze Strophe weg. Was er von derselben verwenden kann (den Terzinenreim) nimmt er in die dritte Strophe mit hinüber, um dieselbe mit der ersten zu verketten. Der sachliche Grund der Änderung liegt auf der Hand. Rückert hat hunderte solcher Änderungen, Streichungen &c. in Ausübung einer schonungslosen Selbstkritik und Feile angebracht. Dieselben finden sich in des Verfassers Werk „Neue Mitteilungen Fr. Rückerts und kritische Gänge und Studien“ Bd. II , S. 122─209 in ihrem ganzen Umfang für eine zu erhoffende textkritische Ges.=Ausg. unter der Überschrift verzeichnet: „Kritischer Nachweis zu Fr. Rückerts ges. Gedichten; bearbeitet nach der Reihenfolge der Erlanger und Frankfurter Ausgabe.“ Für Handhabung der Feile läßt sich aus diesem Kapitel ungemein viel lernen, weshalb wir den jungen Dichter angelegentlichst darauf verweisen. § 95. II . Feile oder Umarbeitung ganzer Gedichte. Nicht immer gelingt dem Dichter ein einzelnes Gedicht derart, daß es ihn vollständig befriedigt. Trotz aller Verbesserungen stört ihn ein unnennbares Etwas, das er im Augenblick des Schaffens nicht zu beseitigen weiß. Oft scheint ihm der Gedanke zu weit ausgesponnen, oder er hält mit einem Male das Bild nicht mehr treffend genug aufgefaßt; oder es stört ihn der Rhythmus, oder sein gewähltes Schema, bis ihn zu guter Stunde der selbstkritisierende Geist der Erleuchtung überkommt. Wir erhärten dies an einem Beispiele Lessings. Der Schwur von Lessing. Erste Fassung. 1753. Jch schwör' es Lauren nicht zu lieben, Das ungetreue Kind! Jch schwör' es, nie ein Kind zu lieben, Weil alle treulos sind! Jch schwör' es und vor Amors Ohren Sei, was ich willig schwur, geschworen. Jch schwör' es, Laura, dich zu hassen! Den Haß schwör' ich dir zu! Jch schwör' es, jedes Kind zu hassen; Denn jedes ist wie du. Jch schwör' es dir vor Amors Ohren, Daß ich .. ach! daß ich falsch geschworen! Der schwörende Liebhaber. Lessings verbesserte Fassung. 1771. Jch schwör' es dir, o Laura, dich zu hassen; Gerechten Haß schwör' ich dir zu. Jch schwör' es allen Schönen, sie zu hassen; Weil alle treulos sind, wie du. Jch schwör' es dir, vor Amors Ohren, Daß ich ... ach! daß ich falsch geschworen. Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Die erste Strophe sagt inhaltlich wenig mehr, als die zweite. Lessing konnte leicht auf sie verzichten, da er ihr neues (das einzige Wort treulos ) der zweiten Strophe leicht einzuverleiben vermochte. Während er nämlich in der 2. Strophe ursprünglich sagt: „Jch schwör' es jedes Kind zu hassen; denn jedes ist wie du“, wird er jetzt deutlicher, indem er für „jedes Kind“ „jede Schöne“ einfügt und als Grund des Hasses die Treulosigkeit nennt. Zu bemerken ist, daß der späteren Fassung die witzige Antithese der ersten abgeht. § 96. III . Die Feile in Überarbeitung fremder Schöpfungen. Es kommt nicht selten vor, daß spätere Dichter die Gebilde früherer Dichter überarbeiten und sich zu eigen machen. Dem Anfänger ist davon abzuraten; nur ein anerkannter Meister mag sich dies erlauben. Um aber zu zeigen, auf welche Weise dies geschehen kann, bringen wir unter Verweisung auf Rückerts Parabel (vgl. Poetik II , S. 169), auf Goethe's Heideröslein, auf die Königskinder (Poetik II , S. 86) noch eine instruktive Überarbeitung zum Abdruck. Aus: „ Abschied von der ungetreuen Liebsten. “ Von J. Chr. Günther († 1723). Wie gedacht, Vor geliebt, jetzt ausgelacht: Gestern in den Schoß gerissen, Heute von der Brust geschmissen, Morgen in die Gruft gebracht. Bin ich arm, Dieses macht mir wenig Harm: Tugend steckt nicht in dem Beutel, Gold und Schmuck macht nur den Scheitel, Aber nicht die Liebe warm. Und wie bald Mißt die Schönheit die Gestalt? Rühmst du gleich von deiner Farbe, Daß sie ihresgleichen darbe, Ach die Rosen werden alt. ( NB . Das ganze Gedicht hat 9 Strophen.) Reiters Morgengesang. Von W. Hauff († 1827). Morgenrot, Leuchtest mir zum frühen Tod? Bald wird die Trompete blasen, Dann muß ich mein Leben lassen, Jch und mancher Kamerad! Kaum gedacht, War der Lust ein End gemacht. Gestern noch auf stolzen Rossen, Heute durch die Brust geschossen, Morgen in das kühle Grab! Ach, wie bald Schwindet Schönheit und Gestalt! Thust du stolz mit deinen Wangen, Die wie Milch und Purpur prangen? Ach, die Rosen welken all! Darum still, Füg ich mich, wie Gott es will. Nun so will ich wacker streiten, Und sollt' ich den Tod erleiden, Stirbt ein braver Reitersmann. Beleuchtung einzelner Momente der Feile. Das Original ist künstlicher gereimt. Die Schlußzeile jeder Strophe reimt mit der 1. Zeile. Diesen Reim schenkt sich Hauff. Der unreine Reim streiten ─ erleiden kann passieren, nicht aber blasen ─ lassen. § 97. Schlußbemerkungen. Es dürfte nicht schwer werden, die Zahl der im Vorstehenden gegebenen Beispiele um ein Bedeutendes zu vermehren und nachzuweisen, welch gewaltige Arbeitskraft unsere hervorragendsten Dichter auf die Selbstkritik und Bethätigung dichterischer Feile verwandten. Beispielsweise sei nur noch folgendes erwähnt: Heine hat nachweislich manche seiner kleinen Lieder drei- und viermal umgearbeitet. Schiller hat an seinem „Liede an die Freude“ drei Tage lang herumgefeilt, wobei er es dem (in unseren „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ näher charakterisierten) Fr. Schimper noch nicht einmal recht machte. Goethe hat manche Dichtung mehrfach überarbeitet. Den Götz hat er z. B. dreimal umgestaltet (vgl. die Bächtoldsche Ausg. in 3facher Gestalt 1882); die Jphigenie schrieb er sogar viermal um. (Der erste in der Berl. k. Bibliothek als Nr. 634 aufbewahrte Prosaentwurf, den Goethe vom 14. Febr. bis 28. März 1779 herstellte, war ihm lediglich „ eine Skizze, bei welcher zu sehen sei, welche Farben man auflege “. Der Dichter suchte zu erweitern, indem er im Frühling 1780 eine zweite, in der Dessauer Bibliothek als Nr. 121 aufbewahrte Bearbeitung in freien Jamben lieferte. Das Streben, „ mehr Harmonie im Stil herzustellen “, veranlaßte die vom April bis Nov. 1781 entstandene dritte Bearbeitung [in Prosa], welche 1839 von Stahr herausgegeben wurde und 1842 in Goethe's nachgelassenen Werken erschien. Goethe nennt dieselbe Lavater gegenüber nur eine flüchtige, obwohl sie wesentliche Erweiterungen und sorgfältige Verbesserungen enthält. Die endgültige, vollendete Gestalt im jambischen Quinar gab Goethe der Jphigenie vom September bis Dezember 1786 während der italienischen Reise. „Sie quillt“ ─ so schreibt er an Karl August ─ „auf, das stockende Silbenmaß wird in fortgehende Harmonie verwandelt.“ Diese letzte Redaktion, welche Goethe mit dem Namen „Schmerzenskind“ belegte [ein Beweis der ihm durch sie erwachsenen Mühen], wurde ─ wahrscheinlich mit Herders Verbesserungen ─ zum erstenmal an der Spitze des 3. Bandes seiner Schriften [Leipzig, Göschens Verlag 1787 S. 1─136] veröffentlicht.) Johannes Minckwitz, der die „nachhinkende“ Feile sehr lobenswert findet, sofern sie nur geschickt angewandt wird, meint (in seiner, nur in 100 Ex. gedruckten verdienstlichen Schrift „Die höhere Lyrik“), daß Horaz an seinen im Stil so vollendeten Oden ─ hier den Text ausfüllend, dort manche Strophe wegstreichend ─ gefeilt und gemeißelt habe, so lange er lebte. Auch die Kolonnen der Rhapsoden hätten im Laufe so langer Jahrhunderte an den Hexametern des Homer, welche doch als die volkstümlichsten aller Volksweisen dastehen, fort und fort geschliffen. Von Ariost ist bekannt, daß er die wundervolle Sprache seines Weltepos unermüdlich gefeilt und verbessert hat. Und von Metastasio wird durch seinen Landsmann Casanova mitgeteilt, daß er als Antwort auf die Frage, ob ihm seine schönen Verse viel Mühe gekostet hätten, vier bis fünf stark radierte Seiten gezeigt habe, welche er gebraucht hätte, um vierzehn gute Verse ─ das höchste Pensum eines Tages ─ zu vollenden. „Dadurch“ ─ so versichert Casanova ─ „bestätigte Metastasio eine Wahrheit, welche mir schon bekannt war: daß nämlich diejenigen Verse, welche einem Dichter die meiste Mühe kosten, gerade diejenigen sind, welche die Mehrzahl der Leser leicht hingeworfen hält. “ Den Jnhalt und Geist all dieser hervorragenden Muster der Selbstkritik und der Feile enthält Lessings klassischer, in seiner Nutzanwendung unschätzbarer Ausspruch, den wir ─ einem Motto ähnlich ─ über jeder Dichterthüre in goldenen Lettern erblicken möchten, und mit dem wir daher das letzte Hauptstück dieses Bandes wie unser ganzes System einer Deutschen Poetik abschließen: „ Veränderungen und Verbesserungen, die ein Dichter in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studiert zu werden. Man studiert in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln!“ ──────