Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. ────── Inhalt: Vischer, Widmung. Helmholtz, Zählen und Messen. Eucken, Zur Würdigung Comte's und des Positivismus. Freudenthal, Spinoza und die Scholastik. Gomperz, Die herkulanische Biographie des Polemon. Vischer, Das Symbol. Erdmann, Zur Theorie des Syllogismus und der Induktion. Diels, Ueber die ältesten Philosophenschulen der Griechen. Kronecker, Ueber den Zahlbegriff. Usener, Alte Bittgänge. Dilthey, Das Schaffen des Dichters, Bausteine zu einer Poetik. Leipzig, Fues's Verlag (R. Reisland ). 1887. X. Die Einbildungskraft des Dichters Bausteine für eine Poetik von Wilhelm Dilthey. ──────   Die von Aristoteles geschaffene Poetik war in allen Zeitaltern bewussten kunstmässigen Dichtens bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts das Werkzeug der Poeten bei ihrer Arbeit und das gefürchtete Richtmaass der Kritiker bis auf Boileau, Gottsched und Lessing. Sie war das wirksamste Hilfsmittel der Philologie für Auslegung, Kritik und Werthbestimmung griechischer Dichtung. Sie war zugleich neben Grammatik, Rhetorik und Logik ein Bestandtheil des höheren Bildungswesens. Dann hat die aus dem deutschen Geiste geborene Aesthetik in der grossen Zeit unsrer Dichtung Goethe und Schiller bei ihrem Schaffen geleitet, Humboldt, Körner und die Schlegel in ihrem Verständniss gesteigert sowie in ihrem Urtheil gefestigt. Sie hat durch diese beiden Fürsten der deutschen Poesie das ganze Reich derselben beherrscht, unter Mitwirkung von Humboldt, Moritz, Körner, Schelling, den Schlegel, endlich Hegel, als den unter ihnen wirkenden Ministern der schönen Künste. Sie hat die Philologie umgestaltet; denn sie hat die rationale Hermeneutik, wie sie im Streit zwischen dem tridentinischen Katholicismus und den Protestanten geschaffen und von Ernesti durchgeführt worden war, ergänzt durch jene aesthetisch begründete hermeneutische Kunst, deren Regeln Schleiermacher nach dem Vorgange Friedrich Schlegels aus dem Princip der Form eines schriftstellerischen Werkes abgeleitet hat. Sie hat eine Werthabmessung und Kritik, welche den Verstand, die Regel sowie die grammatische, metrische und rhetorische Technik zu Grunde legte, ergänzt durch jene ästhetische Kritik, welche von der Zergliederung der Form ausging und deren bedeutende Ergebnisse bei Wolf, Lachmann und ihren Nachfolgern vorliegen. Ja diese deutsche Aesthetik hat in Frankreich und England den Fall der alten Formen beschleunigt und die ersten ihrer selbst noch ungewissen Bildungen eines neuen poetischen Zeitalters beeinflusst.   Heute herrscht Anarchie auf dem weiten Gebiete der Dichtung in allen Ländern. Die von Aristoteles geschaffene Poetik ist todt. Ihre Formen und ihre Regeln waren schon gegenüber den schönen, poetischen Ungeheuern eines Fielding und Sterne, eines Rousseau und Diderot kraftlose Schatten von etwas Unwirklichem geworden, Schablonen, von einer vergangenen Kunstweise abgezogen. Unsere Aesthetik lebt wohl hier und da noch auf einem Katheder, aber nicht mehr in dem Bewusstsein der leitenden Künstler oder Kritiker, und da allein wäre doch ihr Leben. Als in der französischen bildenden Kunst David seine Geltung verlor und Delaroche sowie Gallait emporkamen, als in der deutschen die Cartonmalerei des Cornelius in den Schatten der Museen verschwand und dem wirklichen Menschen von Schadow und Menzel Platz machte, da war das einst von Goethe, Meyer und den anderen Weimarer Kunstfreunden vereinbarte Gesetzbuch der idealen Schönheit in den bildenden Künsten ausser Kraft gesetzt. Als seit der französischen Revolution immer stärker die ungeheuren Wirklichkeiten London und Paris, in deren Seele eine neue Art von Poesie circulirt, die Augen der Dichter wie des Publicums auf sich zogen, als Dickens und Balzac das Epos des in diesen Städten kreisenden modernen Lebens zu schreiben begannen, da war es auch vorbei mit den Grundsätzen der Poetik, wie sie einst in dem idyllischen Weimar zwischen Schiller, Goethe und Humboldt berathen worden waren. Aus allen Zeiten und Völkern dringt eine bunte Formenmenge auf uns ein und scheint jede Abgrenzung von Dichtungsarten und jede Regel aufzulösen. Zumal aus dem Osten überfluthet uns elementare, formlose Dichtung, Musik und Malerei, halb barbarisch, aber von der herzensrohen Energie solcher Völker, die noch die Kämpfe des Geistes in Romanen und zwanzig Fuss breiten Gemälden auskämpfen. ─ In dieser Anarchie ist der Künstler von der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten den Namen der Künstler.   Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.   Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie. Der Künstler und der Dichter fühlen heute, dass eine wahre und grosse Kunst der Gegenwart einen Inhalt und ein Geheimniss dieser Zeit auszusprechen hätte, so gewaltig als das, welches aus den Madonnen oder den Teppichfiguren Raphaels auf uns blickt, aus den Iphigenien zu uns redet, und er empfindet leidenschaftlich, um so leidenschaftlicher, je dunkler ihm das Ziel seiner Kunst vorschwebt, seinen Widerspruch gegen jene Aesthetik mit rückwärts gewandtem Antlitz, die aus den Werken jener Vergangenheit oder aus abstracten Gedanken einen Begriff der idealschönen Formen ableitet und an diesem die productive Arbeit des ringenden Künstlers misst. Unter denselben Einflüssen ist die Poesie ganz umgestaltet, aber auch herabgezogen worden. Grosse Genies der erzählenden Dichtung wie Dickens und Balzac haben sich dem Bedürfniss eines lesehungrigen Publicums nur allzusehr angepasst. Die Tragödie krankt am Mangel eines Publicums, in welchem die ästhetische Reflexion das Bewusstsein von der höchsten Aufgabe der Poesie wach erhalten hätte. Die Sittencomödie hat unter denselben Umständen die Feinheit in der Führung der Handlung und den Adel des Abschlusses verloren; jenes Moment des Tragischen, das der grossen Comödie des Molière beigemischt war und ihr die Tiefe gab, wird nach dem Geschmack der Masse durch eine flache Sentimentalität ersetzt. In der deutschen bildenden Kunst ist mit dem Widerstreit gegen die unproductiv gewordene Aesthetik ─ denn unproductiv ist nur die Aesthetik, welche am Ideal eines Zeitalters nicht mehr mitarbeitet ─ eine Misologie entstanden, Hass der Künstler gegen das Denken über die Kunst, ja theilweise gegen jede Art von höherer geistiger Bildung, und die Folgen dieses Hasses liegen heute den Künstlern selber so gut als dem Publicum vor Augen.   Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen, dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden Publicum wieder hergestellt werden. Die ästhetische Erörterung steigert die Stellung der Kunst in der Gesellschaft, und sie belebt den arbeitenden Künstler. In einem solchen lebendigen Milieu arbeiteten die Künstler der griechischen Zeit und der Renaissance, Corneille, Racine und Molière, Schiller und Goethe. In der Zeit ihrer höchsten künstlerischen Anstrengungen finden wir Schiller und Goethe ganz umgeben von einer solchen sie tragenden ästhetischen Lebendigkeit der Nation, von Kritik, ästhetischem Urtheil und lebhafter Debatte. Die ganze Geschichte der Kunst und der Dichtung zeigt, wie das nachdenkliche Erfassen von Functionen und Gesetzen der Kunst die Bedeutung und die idealen Ziele derselben im Bewusstsein erhält, während die niederen Instincte der menschlichen Natur sie beständig herabziehen möchten. Insbesondere die deutsche Aesthetik hat den Glauben, dass die Kunst eine unsterbliche Angelegenheit der Menschheit ist, tiefsinnig begründet. Nur indem das Dauernde in dieser Aesthetik, insbesondere die Einsicht in die Function der Kunst für das Leben der Gesellschaft, tiefer begründet wird, kann auch der Künstler, der Dichter die hohe Stellung in der Schätzung der Gesellschaft behaupten, die er in den hundert Jahren von dem verkommenen armen Günther bis zur Bestattung Goethe's in einer Fürstengruft errungen hat. Aesthetisches Nachdenken über Ziel und Technik der einzelnen Kunstübung hat in jeder Blüthezeit der bildenden Kunst oder der Dichtung die Ausbildung eines festen Styls und einer zusammenhängenden Tradition in der Kunst wesentlich unterstützt. So sehen wir aus den Resten von Poetik und Rhetorik der Griechen, wie sich dort der feste Styl der Dichter und Redner überall Hand in Hand mit Regelgebung ausgebildet hat. Wir bemerken, wie die lange Blüthe des französischen Theaters durch das an der cartesianischen Philosophie genährte ästhetische Raisonnement gefördert wurde. Und Lessing, Schiller und Goethe bereiteten ihre Dichtungen durch tiefes ästhetisches und technisches Nachdenken vor; Wallenstein, Hermann, Meister, Faust wurden unter der lebendigen Betheiligung dieses Nachdenkens ausgebildet; ebendasselbe Raisonnement sicherte dann diesen Werken Verständniss und Aufnahme im Publicum. Kurz, die Kunst bedarf durchgängig einer Schulung der Künstler und einer Erziehung des Publicums durch die ästhetische Besinnung, soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse gegenüber ausgebildet, gewürdigt und vertheidigt werden. Ist nicht der grosse Styl unsrer Dichtung nur aufrecht erhalten worden durch die königliche Gewalt unsrer beiden Dichter, die in Weimar residirten? Vermittelst einer von Weimar aus geleiteten umfassenden ästhetischen Beeinflussung, unterstützt von verfügbaren Zeitschriften, nicht ohne den Terrorismus der Xenien haben sie Kotzebue, Iffland, Nicolai niedergehalten und das liebe deutsche Publicum in seinem Glauben an Hermann und Dorothea und die Braut von Messina gehoben und bestärkt. Dieser Glaube ist demselben nicht natürlich gewesen.   Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus dieser ihrer lebendigen Beziehung zur Kunstübung selber ergiebt, ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind? Die alte Aufgabe der Poetik tritt hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises zur Verfügung stellt, gelöst werden könne. Und zwar gestatten die empirischen und technischen Gesichtspunkte der Gegenwart, dass wir von der Poetik und den nebengeordneten ästhetischen Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Aesthetik aufsteigen.   Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Causalerkenntniss und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werthe nach taxirt und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte ausgenutzt werden. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn neben die Geschichte der schönen Litteratur eine generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze tritt, auf deren Grundlage sich Dichtungen aufbauen. „Das Material ist für beide dasselbe, und kein Fehler der Methode greift tiefer als der Verzicht auf die Breite der historischen, unter ihnen der biographischen Thatsachen für den Aufbau der generellen Wissenschaft menschlicher Natur und ihrer Leistungen, die nun einmal nur inmitten der Gesellschaft für uns da sind und studirt werden können. Es ist dasselbe Verhältniss, welches zwischen der generellen Wissenschaft und der Analyse der geschichtlichen Erscheinungen in Bezug auf alle anderen grossen Lebensäusserungen der Gesellschaft stattfindet.“ Der Ausgangspunkt einer solchen Theorie muss in der Analysis des schaffenden Vermögens liegen, dessen Vorgänge die Dichtung bedingen. „Die Phantasie des Dichters in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den nothwendigen Ausgangspunkt für jede Theorie, welche die mannigfaltige Welt der Dichtungen in der Aufeinanderfolge ihrer Erscheinungen wirklich erklären will. Die Poetik in diesem Sinne ist die wahre Einleitung in die Geschichte der schönen Litteratur, wie die Wissenschaftslehre in die Geschichte der geistigen Bewegungen.“ So begründete ich 1877, Zeitschrift für Völker-Psychologie, in dem Aufsatz über die Einbildungskraft der Dichter das Bedürfniss, die alte Aufgabe der Poetik wieder in Angriff zu nehmen. Künstler und Publicum bedürfen einer solchen Werthbestimmung der Dichtungen aus einem möglichst sichern Maassstab. Wir sind in ein geschichtliches Zeitalter eingetreten. Die ganze Vergangenheit umgiebt uns auch auf dem Felde der Dichtung. Der Dichter muss sich mit ihr auseinandersetzen und nur die geschichtliche Ansicht, durchgeführt in einer Poetik, kann ihn freimachen. Die Philologie ferner, welche den Zusammenhang der Dichtungen eines Volkes untereinander und mit der Lebendigkeit des Nationalgeistes zuerst zum Verständniss gebracht hat, findet sich dabei stets einer historisch begrenzten poetischen Technik gegenüber, und das Problem des Verhältnisses derselben zu den allgemeinen Gesetzen der Dichtung führt sie nothwendig zu den Principien der Poetik.   So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer Wendung. Können wir erkennen, wie die in der Natur des Menschen gegründeten, sonach überall wirkenden Vorgänge diese verschiedenen Gruppen von Poesie, getrennt nach Völkern und Zeiten, hervorbringen? Hier berühren wir die tiefste Thatsache der Geisteswissenschaften: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens, sich äussernd in jedem System der Kultur, das die Menschheit hervorbringt. Wie ist die hier in den Gleichförmigkeiten sich äussernde Selbigkeit unseres menschlichen Wesens verknüpft mit seiner Variabilität, seinem geschichtlichen Wesen?   Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium dieser Grundthatsache der Geisteswissenschaften, der Geschichtlichkeit der freien Menschennatur, einen grossen Vorzug vor den Theorien der Religion oder Sittlichkeit etc. voraus. Auf keinem anderen Gebiet, ausser dem der Wissenschaft, haben sich so vollständig die Erzeugnisse der Vorgänge erhalten; sie liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugniss zu pulsiren. Die Vorgänge vollziehen sich heute, wie zu jeder früheren Zeit; der Dichter lebt vor unseren Augen, Zeugnisse über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische Bilden, seine psychologische Structur und seine geschichtliche Variabilität besonders gut studirt werden. Die Hoffnung entsteht, dass durch die Poetik das Wirken der psychologischen Vorgänge in den geschichtlichen Producten besonders genau aufgeklärt werden könne. An der Litteraturgeschichte entfaltete sich bei uns die philosophische Geschichtsbetrachtung. Die Poetik hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für das systematische Studium der geschichtlichen Lebensäusserungen.   Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine nicht zu unterschätzende practische Bedeutung für unser höheres Unterrichtswesen haben. Die älteren Gelehrtenschulen vor der Umwälzung unserer Philologie durch Humboldts und Wolfs Auffassung der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Humanitätsideals wollte aus der Lectüre der Schriftsteller ein rationales Bewusstsein von den Regeln der Sprachen, des Denkens, des rednerischen und dichterischen Styls sowie eine darauf gegründete Sicherheit der Technik gewinnen. Dieser berechtigte Gedanke wurde in der Blüthezeit unseres griechischen Humanismus durch einen anderen verdrängt, dessen Geltung doch beschränkter ist. Die geschichtliche Erkenntniss des griechischen Geistes in seiner Idealität sollte nun zur schönen Menschlichkeit erziehen. Kehrt die Gelehrtenschule zu ihrem alten Grundgedanken in einer reiferen, mit unserem geschichtlichen Bewusstsein ausgeglichenen Form zurück, dann wird sie auch einer erneuerten Poetik bedürfen, wie einer erneuerten Rhetorik und einer fortgebildeten Logik. Die erworbenen Einsichten und die neuen Aufgaben der Poetik. 1. Die Poetik als Formenlehre und Technik.   Die Poetik, wie sie Aristoteles begründet und die Folgezeit bis in das 18. Jahrhundert benutzt und bereichert hat, war eine Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik.   Aristoteles hat überall das Verfahren von Verallgemeinerung, welche die Formen aus den Einzelthatsachen ableitet und sie coordinirt, sowie von Zergliederung, welche die Zusammensetzung dieser Formen aus Einheiten aufzeigt, angewandt: seine Methode ist descriptiv, nicht ächte Causalerklärung. Und zwar haben seine Grammatik, Logik, Rhetorik und Poetik augenscheinlich zur Grundlage die Beobachtungen, Zergliederungen, Formbegriffe und Regeln, welche in der Kunstübung selber entstanden und in der schulmässigen Bearbeitung der Sophisten durchgebildet worden waren. Indem er constante Formen nachweist, ordnet und so zergliedert, dass man Einheiten zu ersten Verbindungen und diese zu höheren Systemen zusammentreten sieht, vermag er überall das Erbgut des Handwerks selbst und das schulmässige von den Sophisten ausgebildete technische Wissen zu verwenden. Lehrte doch ein grosser Theil des griechischen Unterrichts, die Sprache zergliedern bis zu Lauten als letzten Einheiten, ein metrisch-musikalisches Ganze bis zu den Grundzeiten, die Beweisführung bis zu den Terminis, alsdann die Formen, wie sie aus den Zusammensetzungen entstehen, rubriciren, endlich die Regeln, nach denen in solchen Formen die verfügbaren Mittel zum Zweck verbunden werden müssen, erkennen und anwenden. Die Poetik des Aristoteles war eine Formenlehre und Technik in diesem Verstande; durch ihre Bruchstücke geht die Auseinandersetzung mit dem Erbgut der im dichterischen und schulmässigen Betrieb erworbenen Technik, und dem Verhältniss zu dieser verdankt sie ihre regelhafte Abgeschlossenheit, ihre lehrhafte Vollendung.   Wie unzusammenhängend auch der erhaltene Text der Poetik ist, wie einsilbig über das Verhältniss zu den Vorgängern und den andern aristotelischen Schriften: die logische Verknüpfung in dem Erhaltenen gestattet den Schluss, dass diese Formenlehre und Technik der Poesie nicht von Aristoteles aus allgemeinen ästhetischen Principien, wie dem der Schönheit oder des künstlerischen Vermögens abgeleitet, sondern nur durch Abstraction aus den Dichtungen und deren Eindruck und durch Schluss aus den technischen Beziehungen zwischen den Mitteln der Nachbildung, dem Gegenstande derselben und ihren möglichen Weisen begründet worden ist.   Die Regeln dieser Poetik sind durchgängig zurückgeführt auf die Eigenschaften der Dichtung, Nachahmung von handelnden Menschen im Darstellungsmittel der Rede (zu welchem Rhythmus und qualitative Tonordnung treten können) in verschiedenen Weisen der Darstellung zu sein. Dieses Princip der Nachahmung ist objectivistisch wie das der Logik und Erkenntnisslehre des Aristoteles, nach welchem Wahrnehmen und Denken einerseits, Sein andrerseits sich entsprechen und das Sein im Denken dargestellt wird. Und dieses objectivistische Princip ist der Ausdruck der natürlichen Auffassung sowohl der Erkenntniss als der Kunst. Einerseits ist also dies Princip der Nachahmung der einfachste Ausdruck eines freilich nur in der bildenden Kunst und Poesie, nicht in Musik, decorativer und architectonischer Kunst bestehenden einfachsten Thatbestandes von Kunstübung und Kunstgenuss. Andrerseits ordnet es im Sinne dieser objectivistischen Weltbetrachtung die Lust an der Dichtung der an allem Lernen und Schauen unter. Ist so das Princip nicht ohne weiter zurückreichende Beziehungen, so überwiegt doch durchaus der Gesichtspunkt des Technikers dabei, wenn diese Poetik sich daran genügen lässt, als Ursache in der menschlichen Natur, welche die Entstehung der Poesie bewirkte, die Freude am Nachbilden und der Wahrnehmung der Nachbildungen, verbunden mit der an Harmonie und Rhythmus, zu bezeichnen.   Alle weiteren Wirkungen, welche die Dichtung hervorzubringen hat, fliessen dann nach ihr aus der Natur des Gegenstandes, der nachgebildet wird: des handelnden Menschen. In diesem Zusammenhang geht die Poetik auf die psychologischethische Natur des nachzubildenden Vorgangs an bedeutenden Stellen zurück. So begründet sie die Lehre, welche doch nur die abstracte Formel für eine Eigenthümlichkeit der griechischen Tragödie ist, dass die Fabel das Princip und gleichsam die Seele der Tragödie sei, das Zweite erst die Charaktere, aus dem ethischen Satze, dass das Ziel des Menschen und seine Eudämonie im Handeln liegt. Daher können nach ihr in der concentrirten Nachbildung des Lebens durch die Tragödie die Handlungen nicht um der Charakterzeichnung willen auftreten. So sieht ferner diese Poetik das Eigenthümliche der Tragödie in der besonderen Art von Wirkung, welche der nachzubildende Gegenstand hervorbringt: der Furcht und dem Mitleid; sie bemerkt ausdrücklich, dass die Definition, welcher diese Angabe über das Merkmal der tragischen Wirkung angehört, in vorher Gesagtem begründet war. Auch diese uns leider verlorene Begründung muss ethisch-psychologisch aus der Natur des nachzubildenden Vorgangs dessen Wirkung abgeleitet haben. So darf endlich wol angenommen werden: wie eine bekannte Stelle des Aristoteles mannigfache ganz verschiedene Wirkungen der musikalischen Kunst, Unterhaltung (und zwar verschiedenen Charakters und Werthes), sittliche Bildung, Reinigung empirisch aufzählt, so hat auch die Poetik ein Mannigfaches solcher Wirkungen für die Dichtung, dem Wechsel der von ihr nachgebildeten Gegenstände entsprechend, angenommen. Die Poetik erkannte also in empirischer Unbefangenheit das Mannigfache der poetischen Wirkung an. Aber der Grund dieser Wirkung lag ihr nur in dem Verhältniss zwischen dem Nachbilden, den Gegenständen desselben und den Mitteln. Allein aus diesem Verhältniss wurden von ihr die Formen und Regeln der Dichtung abgeleitet. In diesem Verhältniss hat sie ihr einheitliches Princip. Sie denkt den Dichter als nach Regeln zum Zweck bestimmter Wirkung sein Werk hervorbringend. Sie ist eine Technik, und in ihr herrscht der Verstand. Von ihrem einfachen Grundgedanken aus hat sie mit unübertroffener Klarheit die Formen der Dichtung definirt, deren Theile zergliedert und die Regeln festgestellt, nach denen diese Theile gebildet und zusammengefügt werden müssen.   So ist eine Elementarlehre und Technik der Poesie entstanden, welche durch die Begrenzung des angegebenen Princips sowie der benutzten schönen Literatur eingeschränkt, aber innerhalb dieser Einschränkung mustergültig und höchst wirksam ist. Das Schema ihrer Ableitungen ist folgendes: jede Kunst Nachahmung; die Künste, welche durch Farben und Form abbildlich darstellen, werden von denen unterschieden, welche in Rede, Rhythmus und Harmonie ihre Darstellungsmittel haben. Unter diesen letzteren wird der Dichtung ihr Rang bestimmt. In der Weise der Nachbildung ist dann der Unterschied von erzählender und dramatischer Dichtung begründet. Insbesondere eine technische Betrachtung der Tragödie wurde nun durch die Lehre von der Einheit der Handlung, der Schürzung und Lösung des Knotens, der Peripetie und der Erkennung begründet, wenn auch die Erörterung der Möglichkeiten öfters in Casuistik ausartet.   Auch sofern diese Technik des Dramas, als abstrahirt aus dem beschränkten griechischen Kreis theatralischer Kunst, bestritten worden ist, diente sie doch, bei den neueren Dramatikern das ästhetische Bewusstsein von einer Technik der Bühne auszubilden. Der Schöpfer des spanischen Theaters Lope de Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare'schen Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut, im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing'scher Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden, in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.   Goethe schrieb am 28. April 1797: „ich habe die Dichtkunst des Aristoteles wieder mit dem grössten Vergnügen durchgelesen, es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu materiell wird, dabei aber auch meistens desto solider auftritt.“ Und Schiller in seiner Antwort vom 5. Mai 1797 ist ebenfalls mit Aristoteles sehr zufrieden und freut sich seines Einverständnisses mit demselben. Er bemerkt mit feinem Spürsinn, wie hier keine Philosophie der Dichtkunst nach Art moderner Aesthetiker vorliege, sondern Auffassung „der Elemente, aus welchen ein Dichtwerk zusammengesetzt wird“, wie sie entstehen müsste, wenn man „eine individuelle Tragödie vor sich hätte und sich um alle Momente befragte, die an ihr in Betrachtung kommen“. „Ganz kann er aber sicherlich nie verstanden oder gewürdigt werden. Seine ganze Ansicht des Trauerspiels beruhte auf empirischen Gründen: er hat eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen, die wir nicht mehr vor Augen haben; aus dieser Erfahrung heraus raisonnirt er; uns fehlt grösstentheils die ganze Basis seines Urtheils.“ Das ist richtig gesehen und hätte Schiller dahin führen können, hinter Aristoteles den technischen Erwerb des griechischen Künstlers, Erklärers und Kunstrichters zu erblicken. Liest man weiter, so bemerkt man, wie Schiller hier Parthei ist und sein Urtheil über Aristoteles günstiger, als unser heutiges lauten muss. „Und wenn seine Urtheile .. ächte Kunstgesetzte sind, so haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es damals Kunstwerke gab, die .. ihre Gattung in einem individuellen Fall vorstellig machten.“ Das ist ganz die bekannte ungeschichtliche Vorstellung von der Idee, die sich in einem Falle realisirt, der Gattung, die in einem Exemplar zur Darstellung kommt!   Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, sondern auch durch Goethe und Schiller erheblich vergrössert worden. Lessing hatte mit Aristoteles aus dem Verhältniss der Darstellungsmittel zu der durch sie bedingten Technik die obersten Gesetze der bildenden Kunst und weit glücklicher die der Poesie abgeleitet. Er hatte gegenüber den Franzosen die wahre Einheit der dramatischen Handlung in mustergültiger Analysis dargestellt, einstimmig mit dem Aristotelischen Text, aber zugleich von seinem dramatischen Lebensgefühl getragen. Goethe hat dann aus der Verschiedenheit der ganzen Position des epischen und des dramatischen Dichters gegenüber seinem Stoff die Grundunterschiede ihrer Kunstübung höchst geistvoll abgeleitet, indem er so die technischen Betrachtungen, die sein und Schillers Schaffen begleitet hatten, unter Einem Gesichtspunkte sammelte (über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller, Beilage zum Brief an Schiller vom 23. Decbr. 1797). „Der Epiker und der Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung, ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr grosser wesentlicher Unterschied beruht aber darin, dass der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig vorstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen ableiten, so müsste man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden Kreise umgeben, vergegenwärtigen.“ Schiller fügt folgende Unterschiede hinzu. Wie der Erzähler seinen Stoff als ein Vergangenes vor sich stellt, kann er die Handlung gleichsam als stillestehend denken; er weiss schon Anfang, Mitte und Ende; er bewegt sich frei um sie, kann ungleichen Schritt halten, Vorgriffe und Rückgriffe thun. „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, so bin ich streng an die Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit; es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir“ (Schiller zwischen 23. und 27. Decbr. 1797). Diese Hauptsätze sind bei Schiller und Goethe mit den werthvollsten technischen Einzelbeobachtungen verbunden, in denen nur das, was allgemeingültig aus der Beziehung zwischen dem Hervorbringen, dem Gegenstand und den Darstellungsmitteln folgt, von dem, was an ihrem Formideal zeitlich bedingt war, abgesondert werden muss. Ich hebe nach den Seiten der 2. Ausgabe 1856 hervor Bd. I, 159. 248. 285. 288. 289. 294. 295. 297. 298. 300. 331. 396. 405. 414. II, 100. 117. 118. 179. 194. 258. 282. 338. Mitbedingt durch Herder und Fr. A. Wolf, traten dann fruchtbare Betrachtungen über die epische Poesie hervor, von Friedrich Schlegel in seiner Poesie der Griechen und Römer (1797), von A. W. Schlegel in der von Friedrich abhängigen Recension des Hermann, von Humboldt in seiner bekannten Schrift, die ebenfalls an Hermann anknüpft (1798). Stand bei Aristoteles das Epos im Schatten der von ihm vorgezogenen, zu seiner Zeit noch lebendigen Tragödie, so haben diese Analysen den durchgreifenden Unterschied beider Dichtungsarten über die Aristotelische Poetik hinaus erforscht. Auch hat damals Friedrich Schlegel die Form der Prosadichtung zuerst mit ästhetischer Genialität untersucht. 2. Untersuchungen über das schaffende Vermögen, aus welchem die Kunstwerke, darunter auch die Dichtungen entspringen.   Diese Poetik als Formenlehre und Technik musste sich unzureichend erweisen. Die Technik, die so von den griechischen Dichtern durch Abstraction abgeleitet war, stiess mit der zusammen, die im spanischen und englischen Theater sowie in dem neueren Roman steckte, und so musste die Allgemeingültigkeit dieser griechischen Poetik in Frage gestellt und in den so entstehenden Streitigkeiten eine Entscheidung aus Principien gesucht werden. Lange hatte die Mustergültigkeit der griechischen Kunst dem ästhetischen Raisonnement einen festen Halt gewährt. Wurde diese zweifelhaft, so musste nun ein solcher Halt in den Principien aufgesucht werden; er wurde schliesslich in der Natur des Menschen gefunden. Das Aristotelische Princip der Nachahmung war objectivistisch, analog der Aristotelischen Erkenntnisstheorie; seitdem die Untersuchung sich überall in das subjective Vermögen der Menschennatur vertiefte und die selbständige Kraft desselben erfasste, die das in den Sinnen Gegebene umgestaltet, wurde auch in der Aesthetik das Princip der Nachahmung unhaltbar. Derselbe veränderte Stand des Bewusstseins, der in der Erkenntnisstheorie seit Descartes und Locke sich äussert, machte sich auch in einer neuen Aesthetik geltend. Die causale oder virtuelle Untersuchung suchte auch hier, wie auf dem Gebiete der Religion, des Rechts, des Wissens, die Kraft oder Function zu bestimmen, aus welcher Kunst und Dichtung entspringen. Schon Baco und Hobbes, darin ächte Zeitgenossen Shakespeares und seiner Schule, erblickten diese Kraft in der Phantasie. Addison erkannte in der Einbildungskraft das Vermögen, welches den besonderen Grund dichterischer Gebilde enthält: eine Art von erweitertem Gesichtssinn, der Ungegenwärtiges vergegenwärtigt. David Young, Shaftesbury, Dubos, der lange nicht genug Gewürdigte, haben aus diesem schaffenden Vermögen die Grundzüge einer neuen Aesthetik abgeleitet. In Deutschland wurde diese Aesthetik dann ein systematisches Ganzes. Sie ging aus vom schaffenden Vermögen im Menschen, ja in der ganzen Natur, dessen Hervorbringung die Schönheit ist. Was die deutsche Aesthetik, als die höchste Leistung auf diesem Standort, für den Fortschritt der Poetik gewesen ist, wiefern sie aber doch auch der Ergänzung bedarf, ist nun kurz zu beschreiben.   Die Leistungen dieser deutschen Aesthetik können aber nur richtig geschätzt werden, wenn sie nicht allein in den abstracten Systemen, sondern auch in der lebendigen Beobachtung und Discussion, in Herders früheren Schriften, in Goethes und Schillers ganzer Lebensarbeit, in den literarischen und kritischen Leistungen der Schlegel u. s. w. aufgesucht werden. Die historisch-kritischen Arbeiten von Zimmermann und Lotze suchen die Förderung des ästhetischen Wissens auf diesem Höhepunkte unsrer Dichtung in den Theorien, die am meisten abstract und am meisten streitig sind. Die wirkliche Bedeutung dieser Aesthetik für die Interessen der Dichtung bestand doch darin, dass hier auf der Höhe unserer Poesie die Dichter und die Philosophen sich über die hervorbringende Kraft, das Ziel und die Mittel der Dichtung besannen. Die deutsche Poetik dieser Zeit muss als ein Zusammenhang erkannt werden, der von den allgemeinsten ästhetischen Principien bis in die technischen Feststellungen zwischen Goethe und Schiller sowie in die Analysen von Form und Composition bei den Schlegel und Schleiermacher reichte, Sie war ein lebendiges, wirkendes Denken, wirkend auf die Dichtung, die Kritik, das Verständniss und die literarhistorische oder philologische Erkenntniss. Und nur sofern philosophisches Denken wirkt, hat es ein Recht, zu existiren.   Die erste Errungenschaft dieser deutschen Aesthetik ist ein wichtiger Satz, abstrahirt aus der Entwicklung, welche die Poesie in der modernen Zeit durchlaufen hatte und die nun in der Epoche Goethes und Schillers deutlich überschaut werden konnte. In dem Vorgang von Differenzirung, in welchem die einzelnen Systeme der Cultur bei den neueren Völkern seit dem Ausgang des Mittelalters sich immer entschiedener trennten, hat sich auch die Kunst als eine selbständige Lebensäusserung von eigenem Gehalt entwickelt. Und indem nun im 18. Jahrhundert in Deutschland die Poesie zur herrschenden Macht wurde, indem sie, durch Selbstbesinnung über die in ihr wirkende seelische Kraft, ihres genialen Vermögens eine eigene Welt hervorzubringen inne wurde, indem man die Verkörperung dieses genialen Vermögens in Goethe genoss, entstand die für die Poesie grundlegende Erkenntniss: die Poesie ist nicht die Nachahmung einer Wirklichkeit, welche ebenso schon vor ihr bestände; sie ist nicht eine Einkleidung von Wahrheiten, von einem geistigen Gehalt, der gleichsam vor ihr da wäre; das ästhetische Vermögen ist eine schöpferische Kraft zur Erzeugung eines die Wirklichkeit überschreitenden und in keinem abstracten Denken gegebenen Gehaltes, ja einer Art und Weise, die Welt zu betrachten. So wurde der Poesie ein selbständiges Vermögen, Leben und Welt zu schauen, zuerkannt; sie wurde zu einem Organ des Weltverständnisses erhoben und trat neben Wissenschaft und Religion. Wahrheiten und Ueberspannungen waren in diesem Satze gemischt, und man darf sagen, dass eine künftige Poetik grosse Mühe haben wird, Beides zu scheiden.   Der Erste, welcher die Natur dieser ästhetischen Genialität in einer Formel zu entwickeln unternahm, war Schiller. Man sehe von der unvollkommenen Begründung durch eine Trieblehre ab: für Schiller ist Schönheit lebende, athmende Gestalt. Diese wird da hervorgebracht, wo die Anschauung im Bilde das Leben auffasst, oder wo die Gestalt zum Leben beseelt wird. Die Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt. „Ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass seine Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sei. So lange wir über seine Gestalt bloss denken, ist sie leblos, blosse Abstraction; so lange wir sein Leben bloss fühlen, ist es gestaltlos, blosse Impression. Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein Leben in unsrem Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön bebeurtheilen“ (Schiller ästh. Briefe. Bf. 15).   Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, dass also Uebersetzung von Erlebniss in Gestalt und von Gestalt in Erlebniss hier beständig stattfindet, als das Schiller'sche Gesetz bezeichnen und dasselbe später psychologisch genauer zu formuliren und zu begründen suchen. Dem Satze Schillers sind die Aeusserungen Herders in der Kalligone verwandt, nach welchen Schönheit gewahrt wird, wenn die im Gefühl als Wohlsein empfundene Vollkommenheit der Dinge wiederklingt in unsrem eignen Wohlsein.   Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit und Gestalt ist dann bekanntlich zum Vehikel der Weltansicht, ja des Philosophirens geworden. Die ästhetische Weltansicht entstand, angeregt durch die Besinnung auf die poetischen Vorgänge, insbesondere auf das in Goethe gewaltig Wirkende, vermittelt durch Schillers Energie der Reflexion, und durch Schelling in Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Speculation gebracht. Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältniss von Innen und Aussen zu lebendiger Energie und verbreitet es auch über die dem Denken todte Natur. Dies erlebte Verhältniss wird nun im Identitätssystem zur Formel für den Grund und Zusammenhang der Welt; so konnte dann natürlich diese Formel rückwärts wieder als objectives Princip für die Ableitung der Schönheit in der Natur und des sie heraushebenden und steigernden Schaffens im Künstler benutzt werden.   Zunächst entstand die ästhetische Weltansicht Schellings in der Darstellung des Systems seiner Philosophie von 1801, Zeitschrift für speculative Physik II 2. 1801 S. W. IV 105 ff. welche die Welt als das Product des Genius, d. h. der absoluten Vernunft auffasst, in der Natur und Geist eins sind. Das schaffende Vermögen Schillers ist hier Grund der Welt geworden. Dann eröffnete A. W. Schlegel im November 1801 seine Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, welche nun eine durchgeführte Aesthetik in unsrem Verstande sind und das Schöne unter einer verwandten Formel als die symbolische Darstellung des Unendlichen bestimmen. Darauf begann Schelling mit Hilfe dieser Vorlesungen Schlegels 1802 seine Vorlesungen über Kunst, welche aus der „Kunst an sich“, der Wurzel der Kunst im Absoluten, das Schaffen des Künstlers ableiten, ohne doch zu dem Reichthum A. W. Schlegels etwas Erhebliches hinzuzufügen. Die vollkommenste Darstellung dieses metaphysischen Prinzips der Kunst enthält Schellings spätere Rede über das Verhältniss der bildenden Künste zur Natur von 1807; der Künstler muss „dem im Inneren der Dinge schaffenden Naturgeist nacheifern“. Und die Aesthetik Hegels und seiner Schüler hat dieses metaphysische Princip durch alle Erscheinungen der Kunst durchgeführt. Negativ hat diese ästhetische Philosophie das Verdienst, das Princip der Nachahmung abgethan zu haben. Dagegen hat ihre positive, Schiller überschreitende Aufstellung die Grenzen verwischt, welche die ästhetische Lebendigkeit des Anschauens von dem wissenschaftlichen Denken, dem philosophischen Erkennen trennen.   Der zweite Satz dieser Aesthetik enthält die elementare Begründung des Schiller'schen Gesetzes. Er ist schon von Kant einleuchtend aus einer Analyse des Geschmacks und des Gefallens entwickelt worden und kann vermittelst des Satzes, dass im ästhetischen Eindruck nur gemindert derselbe zusammengesetzte Vorgang vorliegt wie im ästhetischen Schaffen, auch auf dieses letztere ausgedehnt werden. Das Geschmacksurtheil ist ästhetisch, d. h. es hat seinen Bestimmungsgrund in der Beziehung der Objecte zu den Gefühlen der Lust und Unlust, Kant, Kritik der Urtheilskraft I § 1. jedoch ohne dass eine Beziehung zum Begehrungsvermögen hinzuträte; „die blosse Vorstellung des Gegenstandes in mir ist von Wohlgefallen begleitet, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag“; „das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist ohne alles Interesse“, Vergl. § 2. im Gegensatz zu dem Wohlgefallen am Angenehmen oder Guten; das Geschmacksurtheil ist bloss contemplativ. „Geschmack ist das Beurtheilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heisst schön“. Vergl. § 5 Ende. Und da es keinen Uebergang in Begriffen zu Lust oder Unlust giebt, so tritt als weitere Bestimmung hinzu, dass das ästhetische Wohlgefallen nicht durch Vermittlung von Begriffen entsteht. So hebt die Kant'sche Analyse in der Wurzel die Betrachtung auf, nach welcher das Schöne das Wahre oder ein Inbegriff von Vorstellungen vollkommener Art in sinnlicher Einkleidung wäre und rückt die Bedeutung der Gefühle für die ästhetischen Vorgänge in den Mittelpunkt. Dieser zweite Satz unserer Aesthetik ist besonders glänzend von Schopenhauer dargestellt worden. Die Aufgabe ist, Ergänzung und tiefere Begründung hinzuzufügen, indem die Bedeutung der Gefühle für die Vorgänge des Schaffens, der Metamorphose der Bilder, der Composition erforscht wird. Dann erst erhält dieser sicherste Theil der bisherigen ästhetischen Grundlegung die erforderliche Verallgemeinerung und psychologische Begründung.   Ein dritter Satz der deutschen Aesthetik liegt in der Linie, welche von dem Schiller'schen Gesetz rückwärts zu den Bedingungen geht, denen die äussere Wirklichkeit entsprechen muss, um als ein Lebendiges ästhetisch angeschaut werden zu können. Er liegt also auch in der Linie zur Identitätsphilosophie, zu einer ästhetischen Metaphysik hin. Hieraus ergiebt sich schon, dass es sehr schwer sein wird, ihn angemessen zu formuliren. Von der Plastik Herders, der „Nachahmung des Schönen“ von Ph. Moritz, die bekanntlich Goethe in Italien beeinflusst hat, durch Kant, Schiller, Goethe bis auf Schelling, Hegel u. a. haben sehr verschiedene Formeln für dieses Verhältniss des künstlerischen Schaffens zur äusseren Wirklichkeit sich entwickelt. Sie sind entweder sehr dünn und inhaltlos oder dem Zweifel ausgesetzt. Die Kunst löst beständig eine Aufgabe, für deren Lösung die Bedingungen in der äusseren Wirklichkeit liegen müssen. Zwischen der äusseren Wirklichkeit und dem Auge, das in ihr die Schönheit gewahrt, muss ein Verhältniss bestehen, welches das Erblicken der Schönheit in der Welt ermöglicht. Das Schaffen des Künstlers steigert Eigenschaften, die im Wirklichen schon liegen. Die Aufgabe entspringt, diese Eigenschaften sowie das hier stattfindende Verhältniss zu erkennen, und erst die moderne Entwicklungslehre, verbunden mit der Psychologie, scheinen das zu ermöglichen.   Ein vierter Satz kann empirisch in unbestimmter Fassung aus den ästhetischen Eindrücken abstrahirt werden, aber seine genauere Bestimmung von den entwickelten Sätzen aus bietet erhebliche Schwierigkeiten.   Die Aristotelische Technik beanspruchte Allgemeingültigkeit, und die spätere Poetik hat diesen Anspruch festgehalten. Kant formulirte diese Voraussetzung eines natürlichen Systems der Kunst folgendermassen. „Das Geschmacksurtheil sinnet das Wohlgefallen an einem Gegenstande Jedermann an, und dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit gehört so wesentlich zu einem Urtheil, dadurch wir etwas für schön erklären, dass ohne dieselbe dabei zu denken, es Niemandem in die Gedanken kommen würde, diesen Ausdruck zu brauchen, sondern Alles, was ohne Begriff gefällt, würde zum Angenehmen gezählt werden.“ Dieser Satz ist eine Uebertragung des Begriffs von Allgemeingültigkeit aus dem Gebiet der Erkenntniss auf das des Geschmackes. Hier wie dort schwebt Kant ein zeitlos gültiges System von Bestimmungen vor. Und nicht hier allein, sondern ebenso auf dem Gebiet des Rechts, der Religion, der Sittlichkeit hat Kant ein natürliches oder rationales System angenommen, welches zeitlos gültig in seinen Bestimmungen sei. Daher darf auch die Hypothese Kants über Ursprung und Entwicklung des Planetensystems so wenig als seine Ansicht von der geschichtlichen Entwicklung zur vollkommenen bürgerlichen Verfassung uns bestimmen, seinen Standpunkt als eine Entwicklungslehre aufzufassen. Im Einverständniss mit Kant haben Goethe und Schiller eine allgemeingültige Technik aller Poesie auf der Grundlage der ästhetischen Begriffe abzuleiten unternommen. Im selben Zuge lag Schillers idealischer Mensch, der vermittelst des Schönen in sich die höchste Freiheit herstellt. Und dieser idealische Mensch ist dann auch bei Goethe, nicht ohne Schillers Mitwirkung, als Ziel der Entwicklung in seinen beiden grossen, das Leben umspannenden Dichtungen, dem Faust und Meister, aufgetreten. Der wunderbare Zauber dieser beiden Werke entspringt theilweise aus dem Heraufheben eines Strebens im Engen, Wirklichen, thatsächlich Bedingten, wie es Goethes realistischer Natur zusagte, zu dieser reinen Idealität. Dieses allgemeingültige Ideal der Humanität ist, historisch angesehen, der tiefste Gehalt unserer deutschen Dichtung.   Diesem Standpunkte gegenüber hat Herder, der Begründer unserer historischen Schule, die geschichtliche Mannigfaltigkeit des nationalen Geschmacks nicht minder einseitig geltend gemacht. Er nahm seinen Ausgangspunkt in dichterischen Werken, die ganz ausserhalb des Gesichtskreises der technischen Poetik gelegen hatten. Diese hatte aus den Dichtungen der Alten Formen und Regeln abstrahirt. Er fand gleichsam die Urzelle der Poesie in dem Naturlaut und lyrischen Gang des Volkslieds, der hebräischen Poesie, der Dichtung von Naturvölkern. Er sah den Keim der Dichtung in dem Musicalischen, Lyrischen. So erfasste er die dem Anschaulichen gegenüberliegende andere Seite aller Dichtung, die bisher nicht beachtet worden war. Und hier hat er mit einziger Zartheit des Gefühls nachempfunden, wie aus der Sprache eines Volkes naturgewachsen nationale Poesie entspringt. Hamann schon hatte gesagt: „Das Gebiet der Sprache erstreckt sich vom Buchstabiren bis auf die Meisterstücke der Dichtkunst und feinsten Philosophie, des Geschmacks und der Kritik“; Hamann Schr. II 128. Herder sprach aus: „Der Genius der Sprache ist auch der Genius der Literatur einer Nation“. Herder Suphan I 148. Wie aus der Sprache als ältester Ausdruck seelischer Lebendigkeit die Poesie hervorgegangen sei, war früher auch beobachtet worden. Die Alten haben gesehen, dass die Ausbildung der Poesie der Entfaltung der Prosa vorausgegangen ist. Blackwell in seinem Leben Homers hatte ausgesprochen, dass die ältesten Menschen die Töne weit stärker hören liessen als wir in unsrer jetzigen Rede: ihr Sprechen war ein Singen: die Ursprache war voll von Metaphern, und die Regel der Poesie, in Metaphern zu reden, war ursprüngliche Natur der Sprache. Blackwell: Leben Homers http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10233539_00005.html Diese Beobachtungen hatte Hamann in Sätze der Aesthetica in nuce zusammengefasst: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie Gesang älter als Declamation, Tausch als Handel. Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.“ Herder hat von seinem Aufsatz über die Lebensalter der Sprache ab diesen geschichtlichen Causalzusammenhang, in welchem die Dichtung naturwüchsig auf der Grundlage der Sprache in jeder Nation entsteht, entwickelt. Er hat mit genialer Lebendigkeit übersetzend, nachbildend, analysirend sich in die alte Poesie der verschiedensten Völker vertieft. Er ist der Begründer einer geschichtlichen Erkenntniss der Dichtung in ihrem Verhältniss zur Sprache und zum nationalen Leben geworden, weil er in Sprache und Dichtung den Athem nationalen Lebens empfand. So beginnt mit Herder der Gesichtspunkt einer geschichtlichen Poetik aufzugehen. Die unendlich wandelbare sinnlich geistige Organisation des Menschen in ihrem Verhältniss zur Aussenwelt ist ihm die Bedingung der Schönheit wie des Geschmacks und diese wandeln sich mit ihr.   Herder ist im geschichtlichen Rechte, nicht nur gegen Aristoteles, sondern auch gegen Kant und Schiller. Aber er erlag diesen Gegnern, da ihm die Klarheit der Begriffe und die Festigkeit der Begründung fehlten. Das embryonische Denken des genialen Mannes hat das Problem, das im Verhältniss der allgemeingültigen zu den geschichtlich veränderlichen Elementen der Dichtung gelegen ist, nicht aufgelöst, ja nicht einmal ganz erkannt, da er in einseitiger Polemik gegen dies rationale System und die Lehre von der Allgemeingültigkeit sich verloren hat. Auch die wichtigen Arbeiten Schillers und der Schlegel, welche in der naiven und sentimentalischen, der classischen und romantischen Poesie geschichtliche Gestalten der Dichtung erkannten und schieden, sind von ihnen selbst und den folgenden Aesthetikern für die Auflösung dieser Frage nicht benutzt worden.   Auf der Grundlage dieser noch unvollkommen formulirten und begründeten, ja zum Theil durch einseitige Fassung zu Behauptung und Gegenbehauptung auseinandergerissenen Sätze hat nun die deutsche Aesthetik einen sehr grossen Reichthum tiefer und feiner Einsichten über den ganzen Zusammenhang der Poesie, von dem Begriff der Schönheit bis zu den Formen der einzelnen Dichtungsarten, entwickelt. Den dargelegten Sätzen gemäss hat sie überall den Seelenzustand, der ein Dichtungswerk hervorbringt, zu der Form, die ihm eigen ist, in causales Verhältniss gesetzt. Dies war im Ganzen der Fortschritt, der unzweifelhaft überhaupt die Betrachtung von Werken in dieser Epoche auszeichnet: man mag daher Philologie und Kritik dieser Zeit als die ästhetische bezeichnen. Die Analysis der Form ist dann nach dieser aus dem inneren Seelenleben erklärenden Methode auf die Mannichfaltigkeit der europäischen Literatur angewandt worden. Humboldt hat das Epos analysirt und diese ästhetische Betrachtungsweise in dem Begriff der inneren Sprachform auch auf die Sprache übertragen. Goethe und Schiller wechseln beständig zwischen ästhetischer Reflexion und eigenem Schaffen. Die Schlegel haben zuerst die Form des spanischen und altenglischen Theaterstücks erkannt sowie die Form des Prosawerks an Lessing, Boccaccio und Goethe untersucht. Schleiermacher hat den Plato als philosophischen Künstler von diesem Verfahren aus verstanden und von ihm aus die Hermeneutik umgestaltet. Indem Kant, für welchen die Absonderung der Form vom Stoff und die Beziehung der Form auf die im Geiste wirkende Kraft überall ein Theil seiner kritischen Methode war, sich mit dieser Richtung der ästhetischen und philologischen Analyse begegnete, entstand die grosse Zeit unsrer deutschen Philologie, Kritik und Aesthetik.   Doch entstand zugleich in unsrer Dichtung und Poetik Ueberschätzung der Form, die Schiller'sche Verehrung eines von der Wirklichkeit getrennten Bezirkes reiner und idealischer Gestalten, als eines Reiches der Freiheit und Schönheit. Schiller wurde schliesslich dahin geführt, einen Vorzug der griechischen Tragödie darin zu sehen, dass ihre Personen „idealische Masken“ seien, eine Schranke des Wilhelm Meister in der Prosaform desselben zu erblicken, ja Goethe auszusprechen, er werde künftig den schönen Gehalt auch nur in metrischer Form darstellen dürfen. Die romantische Welt des schönen Scheins stellte sich ein. Otto Ludwig sagt: „Die unnatürliche Scheidung, die Goethe und Schiller und auf ihren Spuren die Romantiker in Kunst und Leben gebracht, indem sie das Aesthetische, das Schöne vom Guten und vom Wahren trennten und aus der Poesie eine Fata morgana machten, eine geträumte Insel voll Traumes, die den Menschen mit der Welt und sich selbst entzweit und ihm mit dem Heimathsgefühle in dieser zugleich die Thatkraft raubt, die unnatürliche Scheidung, die unserer Bildung den weiblichen Charakter aufprägte, habe ich für mich durch das Verständniss Shakespeares überwunden, und mein ganzes Streben ist, meine Heilung auch auf andere Kranke zu übertragen.“ Otto Ludwig, Skizzen und Fragmente S. 84. Auch in der Theorie machte sich die metaphysische Methode höchst nachtheilig geltend. Hatte man jetzt die Aufgabe, die Seelenzustände, welche die Formen erwirken und in ihnen sich darstellen, aufzufassen, so hätte hier nur eine Psychologie, welche das geschichtliche Wesen des Menschen zu erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte. 3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen Poetik.   Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen, den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns dazu zur Verfügung?   Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss wie sie ist, wird zunächst von den verwandten Wissenschaften in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu lernen suchen.   Die nächstverwandte Wissenschaft, die Rhetorik, ist leider auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik. Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung festgestellt werden müssen, in welchem Umfang und welchen Verhältnissen die Elemente des Styls innerhalb eines Individuums variiren. Damit würde für gewisse Fragen der niederen und höheren Kritik eine systematische Grundlage der Untersuchung geschaffen. ─ Nahe verwandt ist dann die Hermeneutik; aber diese ist zwar von Schleiermacher auf den Standpunkt ästhetischer Formbetrachtung erhoben worden, jedoch seitdem hat sie diesen Standpunkt so wenig überschritten als die Poetik.   Dagegen sind Grammatik und Metrik Grundlagen der Poetik und Vorbilder für eine vergleichende Behandlungsweise derselben, welche zunächst einzelne Causalverhältnisse in ihrer Gleichförmigkeit feststellt und sich so allmählig einer durchgreifenden Erkenntniss des ursächlichen Zusammenhangs annähert.   Doch darf der Unterschied nicht verkannt werden, der zur Zeit zwischen den Methoden der Grammatik und denen der Poetik stattfinden muss. Der Grammatiker hat innerhalb der Lautlehre sehr elementare Veränderungen vor sich, und er vermag Reihen derselben innerhalb der verschiedenen Sprachen herzustellen und miteinander zu vergleichen. Er kann das genealogische Verhältniss zwischen den Sprachen zu Hilfe nehmen. Er kann die physiologischen Bedingungen für die Gleichförmigkeiten dieser elementaren lautlichen Veränderungen erkennen. Die Poetik kann nicht eine genealogische Gliederung der dichterischen Schulen benutzen. Sie vermag auch nicht die Veränderungen, die mit einem Typus oder einem Motiv vor sich gehen, in feste Reihen zu bringen. Die physiologische Seite des dichterischen Vorganges ist nicht in derselben Weise für die elementare Begründung der Poetik zu benutzen, als die des Sprachvorgangs es für die der Grammatik ist. Wohl durchdringt der Wechsel in Laut, Betonung und Zeitmass alle Poesie bis hinab in die dichterische Prosa, aber diese Seite der Poesie ist augenscheinlich weniger zur elementaren Begründung der Poetik geeignet als die Lautlehre für die der Grammatik. Versuche, die physiologischen Begleiterscheinungen für höhere dichterische Vorgänge aufzufinden, wie sie die Franzosen in ihren Theorien der Hallucination gemacht haben, finden wir vorläufig noch ergebnisslos. So würde kaum innerhalb der Poetik ein gleich günstiges Ergebniss als innerhalb der Grammatik erreicht werden können, wollte man an das Muster der Letzteren sich halten und bei der äusseren empirischen Beobachtung und der gegenseitigen Erhellung eines ursächlichen Zusammenhangs durch einen anderen verwandten, der Verallgemeinerung durch Vergleichung und der physiologischen Begründung stehen bleiben. Wir müssen versuchen, durch solche Hilfsmittel soweit als möglich zu kommen; aber die folgenden Gründe bestimmen uns, den Kreis dieser Hilfsmittel und Methoden zu überschreiten.   Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System vor, in welchem so langsam die Veränderungen stattfinden, dass sie sich der directen Auffassung durch Beobachtung entziehen. Die hervorbringenden Kräfte in dem sprachbildenden Vorgang sind zwar dieselben, welche im Seelenleben überhaupt aufgefasst werden können, aber ihre Beziehung zu dem Sprachvorgang wird durchweg nicht erlebt, sondern durch Schlüsse gewonnen; hierin ist die Verwandtschaft der Methode der Sprachforschung mit der Methode der Naturwissenschaft begründet. Dagegen der lebendige Vorgang, in welchem die Dichtung entspringt, kann von dem Keim einer solchen bis zu ihrer vollendeten Gestalt an dem heute lebenden Dichter beobachtet werden. Und jeder Mensch von grösserer dichterischer Lebendigkeit ist im Stande, ihn ganz nachzufühlen. Hierzu kommen die Selbstzeugnisse der Dichter über den Vorgang des Schaffens in ihnen, die literarischen Denkmale, welche uns gleichsam die Lebensgeschichte, in welcher hervorragende Dichtungen sich entfalteten, festzustellen gestatten. Weiter aber sind dann die Erzeugnisse dieser Vorgänge in einer ungeheuren, beinahe unübersehbaren Literaturmasse erhalten und sie tragen eine Eigenschaft an sich, welche sie neben den Werken der Prosa besonders für die Causaluntersuchung geeignet macht. Durchsichtig pulsirt gleichsam das schaffende Leben, das sie hervorbrachte, in den dichterischen Werken. Vielfach kann noch in ihrer Gestalt das Gesetz ihrer Bildung erfasst werden. Indem nun unsre Beobachtungen über dichterisches Schaffen und die ihm verwandte ästhetische Empfänglichkeit, sowie die Zeugnisse über diese Vorgänge uns gegenwärtig sind, indem wir die so erlangten psychologischen Einsichten alsdann in die äussere Geschichte der Ausbildung von Dichtungen übertragen, indem wir endlich die fertige durchsichtige Gestalt der Dichtungen zergliedern und hierdurch die Einsicht in die Genesis vervollständigen und bestätigen: eröffnet sich auf diesem Gebiet eine hinreissende Aussicht; hier vielleicht wird es zuerst gelingen, eine Causalerklärung aus den erzeugenden Vorgängen durchzuführen; die Poetik scheint unter Bedingungen zu stehen, welche vielleicht ihr zuerst die innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach causaler Methode ermöglichen.   Auch kann allein von einem solchen Verfahren gehofft werden, dass es die centralen Fragen der Poetik, mit denen wir die ästhetische Speculation ringen sahen, zur Entscheidung bringe und die Poetik so gestalte, dass sie zur Verwerthung befähigt wird. Der Zusammenhang zwischen dieser inneren oder psychologischen Methode, den centralen Fragen der Poetik und ihrer thatsächlichen Verwerthbarkeit kann hier nur an folgenden drei Problemen angedeutet werden.   Der selbständige Werth der Dichtung, die Function, welche sie in der Gesellschaft hat, kann nach jener äusseren empirischen Methode niemals aufgezeigt werden. Wollte der Geist sich seine eigenen Schöpfungen nur als ein objectiv Empirisches gegenüberstellen und nach der äusseren naturwissenschaftlichen Methode analysiren: dann träte eine Selbstentfremdung des Geistes seinen eigenen Schöpfungen gegenüber ein. Die sokratische Selbsterkenntniss würde einer äusseren descriptiven Methode Platz machen. Die Poetik wäre ausser Stande, die lebendige Function der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen und ihr hierdurch ihren Platz und ihre Würde in derselben zu sichern.   Die centrale Frage aller Poetik: Allgemeingültigkeit oder geschichtlicher Wechsel der Geschmacksurtheile, des Schönheitsbegriffs, der Technik und ihrer Regeln muss beantwortet werden, soll die Poetik dem schaffenden Dichter nützen, das Urtheil des Publicums leiten, der ästhetischen Kritik und Philologie einen festen Halt gewähren. Aber jedes empirische, vergleichende Verfahren kann nur aus dem Vergangenen eine Regel abziehen, deren Gültigkeit also geschichtlich beschränkt ist, sie kann nie das Neue, Zukunftvolle binden oder beurtheilen. Diese Regel ist nur rückwärts gewandt, enthält aber nicht das Gesetz der Zukunft. Seitdem die Voraussetzung vom mustergültigen Werth der antiken Dichtung gefallen ist, können also nur aus der menschlichen Natur das Gesetz des Schönen und die Regeln der Poesie abgeleitet werden. Die Poetik hatte zuerst einen festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahirte, dann in irgend einem metaphysischen Begriff des Schönen: nun muss sie diesen im Seelenleben suchen.   Ein allgemeines Verhältniss zwischen dem Psychologischen und dem Geschichtlichen erweist sich hier, welches durch alle Gebiete hindurchgeht. Aus dem dichterischen Vorgang, den Darstellungsmitteln, deren er sich bedient, den Gegenständen, die er hinstellt, entspringen die gleichförmigen Bedingungen, unter denen alles Dichten steht, die allgemein gültigen Regeln, an die es gebunden ist. Dann treten für die einzelnen Formen der Poesie besondere Bedingungen hinzu, und so entstehen die allgemeingültigen Normen der lyrischen, epischen, dramatischen Dichtung. In diesen Formen, nach diesen Regeln bildet sich eine poetische Technik aus: Technik der griechischen, der spanischen oder der altenglischen Bühne. Sie kann ebenfalls in einer Formen- und Regellehre entwickelt werden. Aber dieselbe ist historisch bedingt, nicht allgemein menschlich. Ihre Unterlage bilden Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens, des ganzen Gemüthsstandes, weiterhin Darstellungsgewohnheiten: so entsteht eine national und zeitlich bestimmte Art, Personen hinzustellen, Handlungen zu verknüpfen: die Technik, welche nun in der grossen Poesie von schöpferischen Genies entwickelt wird, bleibt an dies Alles gebunden und vermag nur in die Züge dieses thatsächlichen und geschichtlichen Charakters der Poesie Einheit, Nothwendigkeit und erhöhte Kunstwirkung zu bringen. Daher ist die Phantasie des Dichters nicht nur in ihrem Stoff, sondern auch in ihrer Technik geschichtlich bedingt. Als allgemeingültig betrachtet sich die poetische Technik nur, weil ihr das historische Bewusstsein fehlt. Auch die altenglischen Dichter, besonders Shakespeare, haben ohne Zweifel so gut als die spanischen oder französischen ein langes Nachdenken auf die von ihnen geschaffene meisterhafte Technik verwandt, und Otto Ludwig hat sich das grosse Verdienst erworben, diese Technik mit dem congenialen Tiefsinn eines ächten dramatischen Dichters zu analysiren; nur dass er ihren geschichtlichen Ursprung und ihre geschichtliche Begrenzung nicht erkannt hat.   Auch können die Einzelformen der Dichtung nicht durch die Methode äusserer Beobachtung und Vergleichung in ihren inneren Antrieben erklärt und unter allgemeingültige Regeln gebracht werden. Ein tiefer psychologischer Grundunterschied, Aussprache des eigenen bewegten Inneren und Hingabe an das Gegenständliche, geht von den primären Gebilden der Poesie aufwärts.   So wird die Poetik den Vorzug nutzen müssen, mit den Hilfsmitteln äusserer Beobachtung, gegenseitiger Erhellung, Verallgemeinerung durch Vergleichung, Herstellung von Reihen zusammengehöriger Momente einer Entwicklung und Ergänzung derselben etc. das psychologische Studium des dichterischen Schaffens zu verbinden. Wenn in dem Folgenden das Psychologische überwiegt, weil es sich um die Grundlegung handelt: so würde bei einer Durchführung der Poetik ersichtlich werden, welchen Gewinn jene andere Seite der modernen Methode zu gewähren vermag, insbesondere, wenn die älteste erreichbare Kunde und die primitiven dichterischen Leistungen der Naturvölker die Unterlage des vergleichenden Verfahrens bilden. Beschreibung der Organisation des Dichters. 1. Die Vorgänge in seinem Seelenleben, abgesehen von seiner besonderen Organisation.   Als das Einfachste und Nächste erscheint, nach literarischer oder biographischer Methode die Züge, welche an den Dichtern gemeinsam hervortreten, zu beobachten, zu sammeln und zu vereinigen. Sie heben sich auf dem Grunde desjenigen ab, was in dem Poeten ganz ebenso wie in dem Philosophen, Naturforscher oder Politiker auftritt. Es wäre überflüssig, hiervon zu sprechen, wenn nicht sowohl die gräcisirende als die romantische Richtung diese Thatsache verkannt und den Dichter in die Wolken idealer Formen oder einer vom Wirklichen abgetrennten Scheinwelt versetzt hätte.   Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung von solchen mit einem Erlebniss und seiner Darstellung in Verhältniss steht, kann es ein Bestandtheil der Dichtung sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebniss, lebendige Erfahrung, seelische Bestandtheile aller Art, die mit ihr in Beziehung stehen. Alle Bilder der Aussenwelt können durch ein solches Verhältniss mittelbar Material für das Schaffen des Poeten sein. Jede Operation des Verstandes, welche die Erfahrungen verallgemeinert, ordnet und ihre Benutzbarkeit verstärkt, dient so ebenfalls der Arbeit des Dichters. Dieser Erfahrungskreis, in dem der Dichter wirkt, ist nicht von dem unterschieden, aus dem der Philosoph oder der Politiker schöpft. Die Jugendbriefe Friedrichs des Grossen wie die eines heutigen Staatsmanns sind voll von Elementen, welche ebenso in der Seele eines grossen Dichters gefunden werden, und viele Gedanken Schillers könnten die eines politischen Redners sein. Eine mächtige Lebendigkeit der Seele, Energie der Erfahrungen vom Herzen und der Welt, Kraft der Verallgemeinerung und des Beweises bilden den gemeinsamen mütterlichen Boden geistiger Leistungen von sehr verschiedener Art, darunter auch derer der Poeten. Unter dem Wenigen, was wir von Shakespeares Lectüre aus seinen Werken schliessen können, ist, dass er Montaigne geliebt haben muss. Dieses urwüchsige Verhältniss eines elementaren mächtigen Intellects zu Lebenserfahrung und Verallgemeinerung derselben muss bei jedem grossen Dichter bestanden haben. Goethe erklärt: „Darauf kommt Alles an: man muss etwas sein, um etwas zu machen.“ „Der persönliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publicum hervor, nicht die Künste seines Talents.“   Lebensvorstellungen sind so überall der Boden, aus welchem Dichtung die wesentlichen Bestandtheile ihrer Nahrung zieht. Die Elemente der Poesie: Motiv, Fabel, Charaktere und Handlung sind Transformationen von Lebensvorstellungen. Man unterscheidet sofort die Helden, welche aus Bühnenmaterial, Pappe, Papier und Flittergold angefertigt sind, wie auch ihre Rüstungen schimmern mögen, von denen, deren Bestandtheile Realität sind. Die Einzel- oder Allgemeinvorstellungen von Charakteren, deren Elemente in uns oder in Wirklichem ausser uns sind, erfahren nur eine Umwandlung, durch welche die Person des Drama oder des Romans entsteht. Der Nexus der Vorgänge, den die Erfahrungen des Lebens darbieten, erfährt ebenso nur eine Umwandlung, um zur ästhetischen Handlung zu werden. Es giebt keine Theatermoral, keine Auflösungen, die im Roman befriedigen, doch nicht im Leben; das eben ist das mächtig Ergreifende an einer grossen Dichtung, dass sie aus einer uns ähnlichen, nur grösseren und lebendigeren Seele entspringt, als unsre ist, und so unser Herz erweitert, so wie wir einmal sind, uns aber nicht in die dünnere, höhere Atmosphäre einer uns fremden Welt versetzt. Die Leistungen der Einbildungskraft entwickeln sich nicht in einem leeren Raum; in einer gesunden, von Realität erfüllten mächtigen Seele sollen sie entspringen und so das Beste im Leser oder Hörer stählen und stärken, ihn lehren, sein eigenes Herz besser verstehn, auf einförmigen Strecken seines Weges verborgenes Leben, gleichsam bescheidenes Grün zu beachten, und dann auch wieder dem Ausserordentlichen auf demselben gewachsen zu sein.   So ist schon der mütterliche Boden aller ächten Poesie ein geschichtlich Thatsächliches. Eine bestimmte Weise, Menschen zu sehen, feste Typen, Verwicklung der Handlung und Lösung in einer vom sittlichen Gefühle der Zeit und des Volkes bedingten Art, Contraste und Verhältnisse von Bildern, wie eben die Zeit sie besonders stark empfindet. Alle Technik der Dichtung kann nur dies natürlich Wirkende in ein Nothwendiges, Einheitliches, in der Wirkung Concentrirtes umbilden. Die dichterische Technik ist historisch bedingt. 2. Die elementare Function des Dichters.   Wie erwächst auf diesem mütterlichen Boden das dichterische Schaffen? Soll die Antwort auf diese Frage aus den Thatsachen der Literatur abgeleitet werden, so muss zunächst eine Description der eigenthümlichen Leistung des Dichters, gleichsam seiner Function, aus den biographischen und literarischen Thatsachen gegeben werden, dann können wir die einzelnen Vorgänge, aus denen diese Leistung sich zusammensetzt, nach ihren besonderen Merkmalen beobachten und schildern.   Das Wesen und die Function der Kunst können nicht mit der idealistischen Aesthetik an dem höchsten Ideal derselben, das wir heute zu fassen im Stande sind, erkannt werden. Die meisten Theorien der geistigen Welt aus der Zeit der deutschen Speculation zeigen diesen Fehler. Was sich unter den günstigsten Bedingungen entwickelt hat, darf nicht als Antrieb in die ganze Reihe von Erscheinungen verlegt werden, in denen dieser Lebenskreis sich entfaltet. Die Kunst ist überall, wo etwas, sei es in Tönen oder einem festeren Material, hingestellt wird, das weder der Erkenntniss des Wirklichen dienen noch selbst in Wirklichkeit übergeführt werden soll, sondern für sich das Interesse des Anschauenden befriedigt. Von den Umrissen von Rennthieren und Walfischen, mit denen der Eskimo seine Waffe bedeckt, von den Götzenbildern der Neger bis zu den Schöpfungen von Goethe und Raphael ist ein umfassendes Reich sich fortbildender, umwandelnder Darstellung, welcher Ein Merkmal jedenfalls gemeinsam ist, dass eben Darstellung als solche und Betrachtung derselben Befriedigung gewährt. Dies Merkmal, Befriedigung in der Anschauung des Dargestellten, ist an jedem Kunstwerk zu bemerken. Wir müssen uns aber hüten, das Wesen der Kunst in diesem einfachen Merkmal erblicken zu wollen: eine Gefahr, der Aristoteles nicht entging. Wir müssen uns auch hüten, was im Kunstwerk mehr sei, in Bausch und Bogen hier kurzweg aussprechen zu wollen.   Der Dichter bildet in einer Folge von Worten ab. Man könnte denken, die Natur dieses Darstellungsmittels hätte im Laufe der Zeit bewirkt, dass die Gegenstände, welche besser durch eine andere Kunst dargestellt werden konnten, derselben überlassen wurden, die aber, welche dem Darstellungsmittel der Rede am besten entsprachen, der Dichtung zufielen und deren Objecte bildeten. So könnte man erklären, dass die Schilderung der Natur als solche bis hinauf zum vollendet schönen Körper nicht ein ausreichender Gegenstand der Dichtung ist, obwohl sie ja im Gemälde das Gemüth aufs Tiefste ergreifen oder im Marmor das Auge entzücken kann. Gewiss hat der Wettstreit der Künste in solcher Richtung gewirkt. Aber nicht das Darstellungsmittel der Rede hat die Poesie von den anderen Künsten getrennt und ihre Funktion unter diesen inmitten der Gesellschaft bestimmt, sondern ein ihr eigener kernhafter Inhalt.   Das vergleichende Verfahren kann gleichsam zu Urzellen, zu primären und einfachen Lebensformen der Poesie aufsteigen; indem ich hier diese Untersuchung zurückschiebe, versuche ich doch diesen kernhaften Inhalt zu beschreiben, wie er von den einfachen Formen ab aller Dichtung gemeinsam ist. Das Schaffen des Dichters beruht überall auf der Energie des Erlebens. In seiner Organisation, die eine starke Resonanz für die Töne des Lebens hat, wird die todte Notiz eines Zeitungsblatts, unter der Rubrik „aus der Verbrecherwelt“, der dürre Bericht des Chronisten oder die groteske Sage zum Erlebniss. Wie unser Leib athmet, so verlangt unsre Seele nach Erfüllung und Erweiterung ihrer Existenz in den Schwingungen des Gemüthslebens. Das Lebensgefühl will austönen in Klang und Wort und Bild; die Anschauung befriedigt uns nur ganz, sofern sie mit solchem Gehalt des Lebens und den Schwingungen des Gefühls erfüllt ist; dies Ineinander, unser ursprüngliches, volles, ganzes Leben, Anschauung vom Gefühl verinnerlicht und gesättigt, Lebensgefühl ausstrahlend in der Helle des Bildes: das ist das inhaltliche, wesenhafte Merkmal aller Poesie. Solches Erlebniss wird dann erst ganz zum Besitz gebracht, indem es zu anderen Erlebnissen in innere Beziehung gesetzt und so seine Bedeutung erfasst wird. Es kann nie in Gedanken oder Idee aufgelöst werden; aber es kann nun durch Nachdenklichkeit, insbesondere durch Verallgemeinerung und Herstellung der Beziehungen, mit dem Ganzen des menschlichen Daseins in Verhältniss gesetzt und so in seinem Wesen, d. h. seiner Bedeutung verstanden werden. Erlebniss in diesem Verstande ─ aus ihm setzt sich alle Poesie zusammen, aus demselben bestehen die Elemente derselben wie ihre Verbindungsformen. In jeder äusseren Anschauung des Poeten wirkt lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende Stimmung; er besitzt und geniesst sein eigenes Dasein in starkem Lebensgefühl, in den Schwankungen von Lust und Leid, auf dem klaren, reinen Hintergrunde der Situation, der Bilder des Daseins. Daher nennen wir eine Natur poetisch, welche, auch ohne zu schaffen, uns diese schöne Lebendigkeit immer geniessen lässt. Daher nennen wir das Werk einer anderen Kunst poetisch, dessen Seele Erlebniss, Lebendigkeit ist, die in Farben oder Linien, in plastischen Formen oder Accorden als ihren Mitteln zu uns spricht.   Die Function der Poesie ist daher zunächst, nur auf das Primäre angesehen, dass sie diese Lebendigkeit in uns erhält, stärkt und wachruft. Zu dieser Energie des Lebensgefühls, die uns in den schönsten Augenblicken erfüllt, dieser Innigkeit des Blicks, durch welche wir die Welt geniessen, führt uns die Poesie beständig zurück. Während wir in unsrer wirklichen Existenz zwischen Begehren und Genuss in unruhigem Wechsel sind und das sich ausathmende Glück nur ein seltener Festtag dieser Existenz ist: erscheint der Dichter, bringt uns diese Gesundheit des Lebens, gewährt uns durch seine Gebilde solche lang dauernde Befriedigung, ohne bitteren Nachgeschmack, und lehrt uns, so zu fühlen und so die ganze Welt als Erlebniss zu geniessen: in allem Diesem der volle, ganze, gesunde Mensch. 3. Diese Function ist durch die grössere Energie gewisser seelischer Vorgänge bedingt.   Diese wie jede andere Function eines Menschen oder einer Classe von Menschen in der Gesellschaft ist nicht das Ergebniss eines Vorgangs oder ineinandergreifender Vorgänge, welche nur in dieser Klasse stattfinden, vielmehr wirken hier dieselben Vorgänge, welche in jedem Seelenleben auftreten, nur in besonderen Massverhältnissen ihrer Intensität. Die schöpferische Phantasie des Dichters tritt uns als ein das Alltagsleben der Menschen ganz überschreitendes Phänomen gegenüber. Dennoch ist sie nur eine mächtigere Organisation gewisser Menschen, die aus der ungewöhnlichen Intensität und Dauer bestimmter elementarer Vorgänge in denselben entspringt. Dasselbe geistige Leben baut sich aus denselben Vorgängen und nach den gleichen Gesetzen zu weit von einander abliegenden Gestalten und Leistungen vermittelst dieser blossen Unterschiede von Intensität, Dauer und Verkettung auf. So entsteht auch der grosse Dichter, ein Wesen, das von allen anderen Classen der Menschen in viel höherem Grade abweicht, als man in der Regel annimmt. Der biedere dichterische Handwerker zeigt uns freilich nichts von dieser dämonischen Mächtigkeit und unberechenbaren leidenschaftlichen Gewalt, mit welcher ein Rousseau, Alfieri, Byron, Dickens durchs Leben gegangen sind. Die Psychologie hat zunächst mit der Untersuchung der Gleichförmigkeiten so viel zu thun gehabt, dass die Erklärung der geistigen Typen wohl zurückbleiben musste. Und die Literaturgeschichte musste auf die Mitwirkung des psychologischen Aesthetikers warten; erst mit seiner Hilfe, nach der Erforschung der poetischen Phantasie, wird sie gründliche und genaue Bilder der besonderen Art des Lebens und Dichtens von den Poeten, über die wir ausreichende Quellen haben, entwerfen können.   Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität und Genauigkeit der Wahrnehmungsbilder, die Mannichfaltigkeit derselben und das Interesse, das sie begleitet. Das ist der erste Bestandtheil des Erlebnisses, und er tritt in dem Dichter mit einer ungewöhnlichen Energie auf. Hiervon liegt der nächste Grund in der sinnlichen Organisation des Dichters, in dem Auge, mit dem er in die Welt blickt, dem feinen Ohr, mit dem er sie vernimmt. Wollen wir den Reichthum genauer Bilder, der im Dichter sich anhäuft, überzählen, so können wir ihr Auftreten nicht von ihrem Haften im Gedächtniss trennen. Shakespeare hat etwa 15000 Wörter, nach M. Müllers Berechnung, zur Verfügung; ebenso königlich beherrscht Goethe unsere Muttersprache. Shakespeares Kenntniss von Rechtsgeschäften hat man auf die Fachkenntniss des Advocatenschreibers zurückgeführt, und von seinen Schilderungen des Wahnsinns glauben Psychiatriker wie von der Natur selber lernen zu können. Wir sehen Goethe heute mit einem Anatomen wie ein Fachmann verhandeln, morgen mit einem Botaniker, dann mit einem Kunsthistoriker oder Philosophen. Zu der Anlage kommt die besondere Art des Interesses. Für den Menschen, dem die Bilder in Verhältniss zu seinen beabsichtigten Handlungen oder seinen herzustellenden Erkenntnissen stehen, sind diese Bilder Zeichen für etwas, das in der Rechnung der Absichten oder in den Relationen zu dem Erkennbaren eine bestimmte Stelle einnimmt. Das dichterische Genie ist dem Erlebniss, dem Bilde hingegeben, mit einem selbständigen Interesse an ihnen, mit ruhiger Befriedigung in der Anschauung, so oft es auch durch das äussere Leben oder die Wissenschaft abgelenkt wird. Es ist wie ein Reisender in einem fremden Lande, der sich den Eindrücken desselben absichtslos, mit tiefem Behagen und in völliger Freiheit überlässt. Dies verleiht ihm den Charakter von Naivität und Kindlichkeit, der an Mozart, Goethe und vielen anderen grossen Künstlern hervorgehoben wird und sich sehr wohl mit einem nebenhergehenden System von zielbewussten Handlungen verträgt.   Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit der Zeichnung, die Stärke der Empfindung und die Energie der Projection, welche seinen Erinnerungsbildern und den Gebilden aus ihnen eigen sind. Wenn der Reiz aufhört, kann im Sinnesorgan die Erregung fortdauern; dann geht die Wahrnehmung in ein Nachbild über. Wo auch diese Erregung der Sinnesnerven nicht mehr fortbesteht, kann der Inhalt der Wahrnehmung als Vorstellung fortdauern oder reproducirt werden. Die Vorstellung, die ohne Zwischeneintreten einer anderen sich an die Wahrnehmung anschliesst, steht derselben in Bezug auf ihre Beschaffenheit am nächsten. Fechner nennt sie das Erinnerungsnachbild. Treten andere Vorstellungen zwischen den Eindruck und seine Reproduction, so nimmt die Vorstellung an Sinnfälligkeit, Deutlichkeit und Vollständigkeit ab. Aber bei verschiedenen Personen ist nun dieser Unterschied zwischen der Sinneswahrnehmung und der Vorstellung sehr verschieden gross, wie dies Fechner durch Befragung festgestellt hat. Von beinahe farblosen und formunsicheren Erinnerungsbildern, in der That blossen Schatten von Wirklichkeiten, führen Uebergänge hinauf zu den bestimmt gezeichneten, intensiv gefärbten und in den Sinnesraum projicirten Gestalten, deren die Künstler und zumeist auch die Dichter fähig sind. Balzac sprach von den Personen seiner Comédie humaine, als lebten sie, und er tadelte, lobte, analysirte ihre Handlungen, als gehörten sie mit ihm zu derselben guten Gesellschaft. Dies hatte seinen Grund in seiner sinnlichen Organisation. Von Kindesbeinen an sah er Erinnerungsbilder umrissen und farbig wie Wirklichkeit und war so photographischer Treue in seinen Schilderungen fähig. Zugleich fand er mit Erstaunen in sich das Vermögen, „wie der Derwisch in Tausend und eine Nacht Körper und Seele der Personen anzunehmen, die er darstellen wollte,“ ja er vergleicht dieses ihn selber erschreckende Vermögen, „seine eigenen moralischen Gewohnheiten zu verlassen und sich ganz in ein anderes Wesen zu verwandeln, mit dem Traum eines wachen Menschen oder mit dem zweiten Gesicht.“ Vergl. Théophile Gautier, Honoré de Balzac, sowie Balzac's poetische Darstellung davon in seinem Louis Lambert, sowie Boismont hallucinations 461 ff. Hieran erinnert Goethes Aeusserung: „wenn ich Jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwei Stunden reden lassen.“ Eckermann I 127 f. Turgenjeff erzählte Freunden, er lebe so in der Rolle seiner Helden, dass er eine Zeit hindurch denke, spreche, gehe wie sie; so habe er, als er Väter und Söhne schrieb, lange wie Basarof gesprochen. Und über solche angeborenen Befähigungen überhaupt sagte Goethe: „das ist das Angeborene eines grossen Talents. Napoleon behandelte die Welt wie Hummel seinen Flügel. Das ist die Facilität, die sich überall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden ist.“ Ebend. II 41 ff. Flaubert erzählt ─ und warum sollte man hier Zweifel in ihn setzen? ─ „Die Gestalten meiner Einbildungskraft afficiren mich, verfolgen mich, oder vielmehr ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich beschrieb, wie Emma Bovary vergiftet wird, hatte ich einen so deutlichen Arsenikgeschmack auf der Zunge, dass ich zwei Indigestionen davontrug.“ Flaubert Mittheilung an Taine l'intelligence II 1. Und die Biographie von Dickens ist voll von Beweisen darüber, wie seine Figuren sich in seiner Einbildungskraft mit einer unvergleichlichen sinnlichen Deutlichkeit bewegten, zugleich wie sie seinem Herzen nahe standen.   Der Dichter unterscheidet sich mehr noch als durch die Energie seiner Erinnerungsbilder von sinnlichen Wahrnehmungen durch die Kraft, mit welcher seelische Zustände, selbsterfahrene, an anderen aufgefasste, folgerecht ganze Begebenheiten und Charaktere, wie sie in der Verknüpfung solcher Zustände bestehen, von ihm nachgebildet werden. Dem Unterschied der äusseren Wahrnehmung und der Vorstellung entspricht auf dem Gebiet der inneren Erfahrung der von Erlebniss und Nachbildung desselben. In dieser Nachbildung wird auch der eigene Zustand zum Gegenstand. Zunächst gehen die äusseren Wahrnehmungen, welche mit einem Gefühls- oder Willenszustande verbunden sind, in Vorstellungen über; die Bilder der Personen, der Umgebung, der Situation werden reproducirt, die Vorstellungen, die mit der Lage verbunden waren: und nun wird von diesem Vorstellungsinbegriff aus die Nachbildung von Gefühlen und Willensvorgängen eingeleitet. Selbstverständlich treten zunächst, wo die Folgen eines Thatbestandes für das Gefühl und den Willen fortdauern, bei lebhafter Reproduction dieses Thatbestandes von Neuem die aus der Situation entspringenden Gefühls- und Willensacte auf. Aber es giebt ferner eine Nachbildung des Gefühls- oder Willensvorgangs, die sich von dem Erlebniss so specifisch unterscheidet, als die Vorstellung von der Wahrnehmung. Freilich mischen sich in sie in der Regel Neubildungen von Gefühlen oder von Spannungen des Willens und verleihen diesen Nachbildungen Lebendigkeit, stören aber andrerseits ihre Reinheit, besonders bei dichterischen Werken. Solche Einmischungen sind es, welche in dem bürgerlichen Schauspiel Mitleid und Furcht verfälschen, indem sie Erinnerung eigener schmerzlicher Lagen oder Befürchtung derselben aufrufen, und nicht am wenigsten aus diesem Grunde bedarf die Tragödie der königlichen Helden, welche in reiner Ferne vom Beschauer sich befinden. Hier treten wir in das eigenste Gebiet des Dichters: Erlebniss und seine Nachbildung in der Phantasie. Zunächst ist die Energie dieser Nachbildungen abhängig von der ursprünglichen Kraft der Gefühle, Affecte und Willensvorgänge. Alsdann bleiben Nachbildungen derselben in ganz verschiedenem Grade nach Deutlichkeit, Energie und Mitschwingung des eigenen Inneren hinter den ursprünglichen Vorgängen zurück. Da sie von der Erinnerung der äusseren Wahrnehmungen nirgend getrennt sind, haben wir schon in die Beispiele von der Energie der Erinnerungsbilder Angaben über die Stärke dieser Nachbildungen verwoben. Ich füge eine Aeusserung von Dickens hinzu. Als er sich dem Ende seiner Erzählung Sylvesterglocken näherte, schrieb er: „seit ich das ausdachte, was im dritten Theile geschehen muss, habe ich so viel Kummer und Gemüthsbewegungen ausgestanden, als wäre die Sache etwas Wirkliches, und bin bei Nacht davon aufgewacht. Ich musste mich einschliessen, als ich gestern damit fertig war; denn mein Gesicht war zu dem Doppelten seiner gewöhnlichen Grösse angeschwollen und gewaltig lächerlich.“ Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134. Goethe erzählt am 18. October 1786, wie er, zwischen Schlaf und Wachen, den Plan zur Iphigenie in Delphi gefunden, darin eine Wiedererkennungsscene: „ich habe selber darüber geweint wie ein Kind.“ Und Goethe äusserte an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre Tragödie schreiben könne, doch erschrecke er schon vor dem Unternehmen und sei beinahe überzeugt, dass er sich durch den blossen Versuch zerstören könne. Aus der Lebendigkeit der Nachbildungen entspringt in den Kinderjahren der Dichter die Verwebung poetischer Figuren aus Märchen, Romanen, Schauspielen in die Wirklichkeit, die wir von Goethe und Dickens kennen. Die Grenzen der Phantasie in Bezug auf Nachbildung hat Goethe, offenbar aus eigener Erfahrung, hervorgehoben. „Die Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, neblichter, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie, aber niemals in der charakteristischen Vollständigkeit der Wirklichkeit.“ Goethe, Unterhaltungen mit Müller, S. 81.   Der Dichter unterscheidet sich auch durch die energische Beseelung der Bilder und die so entstehende Befriedigung in einer von Gefühlen gesättigten Anschauung. Die Energie seines Lebensgefühls lässt Zustandsbilder vieler Lagen seines Lebens entstehen und ihm gegenwärtig bleiben. Goethe sagt: „Claude Lorrain kannte die reale Welt bis in ihr kleinstes Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität.“ Dasselbe findet im Dichter statt. "Eckermann II 126. Als man Chamisso nach der Bedeutung seines Peter Schlemihl fragte, lehnte er eine Aeusserung darüber ab und bemerkte: „er wolle mit der Poesie selten etwas; wenn eine Anekdote, ein Wort, ein Bild (in diesem Fall eine scherzhafte Unterredung mit Fouqué) ihn selber von der Seite der linken Pfote bewege, denke er, es müsse auch Anderen so gehen, und nun ringe er mühsam mit der Sprache, bis es herauskomme.“   Aus dem Dargelegten erklärt sich, dass die grossen Dichter von einem unwiderstehlichen Drange vorangetrieben werden, Erlebniss irgend einer mächtigen Art, das ihrer Natur gemäss ist, zu erfahren, zu wiederholen und in sich zu sammeln. So hat Shakespeare mit dem fieberhaften Puls seiner Helden ein Leben voll Erfahrungen durchstürmt. Sohn eines wohlhabenden Landbesitzers, dann Lehrling eines Advocaten, mit achtzehn Jahren verheirathet, das Jahr darauf mit einer Familie belastet, fast noch ein Knabe, hinter sich die Erfahrungen von Liebe und Ehe, in das Meer des Londoner Lebens geworfen, von da ab in höchst zusammengesetzten Lebenslagen als Schauspieler, Dichter, Theaterbesitzer, in schwierigen Verhältnissen zu Hof und Adel Englands, als ein Dreissiger auf der Höhe von Ruhm und Wohlstand, dann schon als ein Vierziger wohlhabender Landgentleman in Stratford und ausruhend in seinem stattlichen Hause von dem Sturm seines Lebens; das Alles im Zeitalter der Elisabeth, in jener heroischen Epoche Englands, die voll von mächtigen Charakteren und blutigen Staatsactionen war, durch welche alle hindurch England zum ersten Seestaate aufstieg; und zwar ereigneten sich diese Staatsactionen auf den Strassen Londons; das Auge des Betrachters aber war durch die Schriftsteller der Renaissance ganz unbefangen, hell und heiter geworden. So finden wir Cervantes in einer wechselvollen und von Abenteuern erfüllten Laufbahn als Secretair eines päpstlichen Legaten, als Soldaten in den verschiedensten Feldzügen, dann in Gefangenschaft. Aeschylos und Sophokles so gut als die grossen englischen Dichter haben im thätigen Leben ihr Verständniss der Welt erworben, und Corneille und Racine lernten am mächtigsten und glänzendsten Hofe der Welt, heroische Gesinnung und tragische Schicksale von Königen und Fürsten so zu schildern, dass dies Zeitalter des Königthums darin seinen Spiegel sah. Auf typische Weise hat Goethe in Weimar die Freude eines wahren Dichters über die Erweiterung seiner Erfahrungen im thätigen Leben ausgesprochen. Und Dickens, der Schöpfer unseres gegenwärtigen Romans, hat als Lehrjunge, Advocatenschreiber, Reporter im Parlament und auf allen Strassen Englands, endlich auf weiten Reisen in zwei Welttheilen, die Gesellschaft und den Menschen überall von Schulen und Gefängnissen aufwärts bis zu den Palästen Italiens studirend, jene ungeheure Menge von Bildern und Erlebnissen angehäuft, über welche er dann so souverän verfügt hat, wie Rubens über die Farben seiner Palette.   Andere Dichter haben in der Fülle innerer Erlebnisse ihre Existenz gehabt, das Auge nach innen gerichtet, auf eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber, wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens, aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete. Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft, den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante; seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen, philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt, und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden.   Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die Bilder und deren Verbindungen frei über die Grenzen des Wirklichen hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge selber verborgen bleiben. 4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft mit dem Traum, dem Wahnsinn und anderen Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.   Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose des Wirklichen sich vollzieht, beobachten, beschreiben, ihre Aehnlichkeit mit den nächstverwandten Vorgängen und die Unterschiede von denselben auffassen. Diese nächstverwandten Vorgänge aber treten im Traum, im Wahnsinn auf, überhaupt in Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.   Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört zu haben, dass das dichterische Schaffen eine Art von Verrückung sei; Demokrit, Plato, Aristoteles, Horaz sprechen das übereinstimmend aus. Von den Romantikern ist dann die Verwandtschaft des Genies mit Wahnsinn, Traum und jeder Art von ekstatischem Zustande mehrfach hervorgehoben worden, und Schopenhauer hat auch hier eine romantische Idee mit naturwissenschaftlichen Belegen ausgestattet. Er giebt eine vollständige Personalbeschreibung des Genies; dieselbe ist freilich sehr subjectiv; er hat sich selber dabei als Modell benutzt. Hoher, breiter Schädel, energischer Herzschlag, kleine Statur, kurzer Hals ─ diese Merkmale findet er besonders günstig. Selbst einen guten Magen muss nach ihm das Genie haben. Indem die durch ein übermächtiges Cerebralleben bedingte sehr grosse Intelligenz in dem Genie sich von dem Dienste des Willens loslöst, entsteht die abnorme Beschaffenheit desselben. Insbesondere erhebt es sich über die Zeit und die in ihr gegebenen Relationen, und so entstehen Erscheinungen, die dem Wahnsinn verwandt sind, da dieser nach ihm eine Erkrankung des Gedächtnisses ist und daher ebenfalls den Zusammenhang des Zeitverlaufs aufhebt. Dazu kommt gesteigerte Reizbarkeit des Gehirnlebens, völlige Fremdheit gegenüber der Denkart der Welt und der Durchschnittsmenschen. So entsteht die melancholische Einsamkeit des Genies. Diese trübselige Verherrlichung des Genies berührt sich, wie man sieht, vielfach mit Byron wie Alfieri. Dann hat Richard Wagner, im Anschluss an Schopenhauer, den „Wahn“ glorificirt und so alle höchsten Leistungen und Opfer in die Nachbarschaft des Pathologischen gebracht. Die französische Psychiatrie hat aber diese Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn zum Gegenstande einer ganzen Literatur von psychiatrischen Phantasien gemacht. Ich übergehe, was über die Aehnlichkeit des Genies mit dem Wahnsinn überhaupt gesagt werden kann, und hebe nur hervor, worin das Schaffen des Dichters sich mit den Wahnideen, den Träumen und den Phantasiebildern in anderen abnormen Zuständen berührt. In allen diesen Zuständen entstehen Bilder, welche die Erfahrung überschreiten. Das ist das Merkmal des grossen Dichters, dass seine constructive Phantasie aus Erfahrungselementen, getragen von den Analogien der Erfahrung, einen Typus von Person oder Handlung hervorbringt, der über die Erfahrung hinausgeht und durch den wir diese doch besser begreifen. Und zwar ist auch darin der Dichter dem Träumenden oder dem Irren verwandt, dass er seine Situationen, Gestalten und Vorgänge in einer Sinnfälligkeit erblickt, welche sie der Hallucination annähert. Er verkehrt mit den Gestalten, die in seiner Einbildungskraft allein Heimathrecht besitzen, wie mit wirklichen Personen, liebt sie, fürchtet für sie. Eine weitere Analogie liegt in der Fähigkeit, das eigene Ich in das des Helden umzuwandeln, aus ihm heraus zu reden, ähnlich wie der Schauspieler thut. In diesem Allem verbirgt sich eins der interessantesten Probleme der Psychologie. Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens.   Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen Grössen ausgegangen. Sie lässt deren Veränderungen von aussen durch Association, Verschmelzung, Apperception eintreten. Ich behaupte nun, dass das Leben der Bilder in dem Träumenden, dem Irren, dem Künstler von dieser Psychologie nicht erklärt werden kann. Denkt man sich durch eine Abstraction blosse Verhältnisse von Vorstellungen in einem rein vorstellenden Wesen, so kann kein Mensch sagen, nach welchen Gesetzen diese sich verhalten würden. Wie die Wahrnehmungen oder Vorstellungen in dem wirklichen Zusammenhang des Seelenlebens auftreten, sind sie von Gefühlen durchdrungen, gefärbt, belebt; die Vertheilung der Gefühle, der Interessen, der so bedingten Aufmerksamkeit erwirkt mit anderen Ursachen ihr Auftreten, den Grad ihrer Entfaltung, ihr Erlöschen; Spannungen der Aufmerksamkeit, die von den Gefühlen her sich bilden und Formen von Willensthätigkeit sind, ertheilen den einzelnen Bildern eine triebartige Energie oder lassen dieselben wieder versinken. Daher ist jede Vorstellung in der wirklichen Seele Vorgang; die Empfindungen selber, die in einem Bilde verknüpft sind, wie die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, unterliegen inneren Veränderungen; auch die Wahrnehmung, das Bild ist lebendiger veränderlicher Vorgang. Eigenschaften treten an ihr auf, die hieraus fliessen und die aus der Vorstellung als solcher nicht verstanden werden können. 1. Elementare Vorgänge zwischen einzelnen Vorstellungen.   Unter solchen Umständen treten in der wirklichen, lebendigen Seele zunächst zwischen den einzelnen Vorstellungen elementare Vorgänge auf, welche ohne Berücksichtigung der inneren Veränderungen in diesen Vorstellungen entwickelt werden können.   Die erste Classe dieser Vorgänge entsteht zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen, welche schon im Bewusstsein sind, in Folge ihres Zusammenbestehens in der Einheit desselben, sofern die Bedingungen von Interesse und Aufmerksamkeit in einer bestimmten Richtung wirken. Vorstellungen, welche so die Aufmerksamkeit aneinanderhält, werden von einander unterschieden; ihr Abstand wird nach Graden empfunden, ihre Verwandtschaft, Aehnlichkeit oder Gleichheit. Dies scheint ebenso eine Art von Empfindung, von Innewerden zu sein, als das Auftreten der Sinnesinhalte selber, die so zusammengehalten werden. Und ein solches Innewerden in der Empfindung erfasst dann weiter elementare Beziehungen zwischen diesen Wahrnehmungen und Vorstellungen, wie sie in der Angrenzung im Raum oder dem Aneinanderhaften in der Zeit vorliegen.   Die zweite Classe dieser Vorgänge ist da wirksam, wo Wahrnehmungen und Vorstellungen oder deren Bestandtheile von einander in das Bewusstsein gerufen werden. Hier regieren das Gesetz der Verschmelzung und das der Association. Die durchgreifende Bedeutung dieser beiden Gesetze für das Seelenleben kann mit der verglichen werden, welche die Bewegungsgesetze für unsere Erklärung der äusseren Natur haben. Sie bezeichnen elementare Eigenschaften des Seelenlebens, welche dasselbe durchgreifend von dem Lauf der Natur unterscheiden. Daher wird jeder Versuch missglücken, diese Gesetze durch die Analogien der Mechanik näher bestimmbar zu machen. Wohl müssen von der Aussenwelt Bilder zur Bezeichnung seelischer Vorgänge entlehnt werden, da diese letzteren spät erst zur Beobachtung kamen und unter dem Eindruck der schon ausgebildeten Naturerkenntniss zur Auffassung gelangt sind. Aber dies darf nicht darüber täuschen, wie ungeeignet im Grunde diese von dem Räumlichen und seinen Bewegungen entnommenen Bilder zur Erfassung von Gesetzen sind, deren charakteristische Merkmale eben durch die ganz abweichende Natur der seelischen Vorgänge bedingt sind.   Erstes Gesetz. Wahrnehmungen und Vorstellungen oder deren Bestandtheile, welche einander gleich oder ähnlich sind, treten, unabhängig von der Stelle, welche sie im seelischen Zusammenhang einnehmen, in einander und bilden Einen Inhalt, der in der Regel mit dem Bewusstsein der verschiedenen Acte verbunden ist und Verschiedenheiten zwischen den Inhalten, sofern diese nicht vernachlässigt werden, einschliesst. Im Unterschied von dem Causalzusammenhang der Aussenwelt sind für diesen seelischen Vorgang alle Vorstellungen gleich nahe und gleich fern von einander; auch die am weitesten im seelischen Zusammenhang von einander abstehenden Vorstellungen treten in einander, einfach weil sie verwandt sind. Indem dann die Bewusstseinserregung von dem Gleichen zum Ungleichen nach den Bedingungen von Interesse und Aufmerksamkeit geleitet wird, entstehen von einer gegenwärtigen Wahrnehmung oder Vorstellung aus Reproductionen des Aehnlichen, Verwandten, Ungleichen, ja Entgegengesetzten.   Zweites Gesetz. Wahrnehmungen und Vorstellungen oder deren Bestandtheile, welche in der Einheit eines Bewusstseinsvorganges vereinigt waren, können sich unter gegebenen Bedingungen von Interesse und Aufmerksamkeit gegenseitig reproduciren. Wir bezeichnen dieses Grundverhältniss als Association, gebrauchen aber diesen Ausdruck in einem engeren Sinne, da Hume und seine englischen Nachfolger auch die Verkettung, welche durch Aehnlichkeit oder Contrast eine Reproduction ermöglicht, einschliessen. Auch dieses Gesetz darf nicht mechanisch oder atomistisch aufgefasst werden. Denn wir sehen, wie auf Grund desselben Inhalte auf die verschiedenste Weise in Wahrnehmung und Denken mit einander verkettet werden und ein Zusammenhang des Seelenlebens sich bildet, zu welchem das, was im Bewusstsein vorgeht, jederzeit gleichsam orientirt ist. So vollziehen sich auch die Reproductionen nicht von Einer angrenzenden Vorstellung oder Wahrnehmung aus, sondern sie sind durch diesen ganzen seelischen Zusammenhang bedingt, in dem zwar die Theile nicht klar und deutlich gesondert, die Beziehungen nicht zu vollem Bewusstsein gebracht werden, dennoch aber wirken. Hieraus entspringen Folgen für die Art der Reproduction zusammengesetzter Bilder, welche auch für das künstlerische Schaffen wichtig sind. Ferner sind die Faktoren sehr complicirt, aus deren Zusammenwirken die Reproduktion entspringt. Die Vorgänge, durch welche sie bedingt ist, sind folgende: der constituirende Erfahrungsvorgang, in welchem der Verband von Inhalten gestiftet wurde, dann die späteren Akte, in denen er ganz oder theilweise wieder vorkam, aufgefasst mit Berücksichtigung der Zwischenräume zwischen ihnen, endlich der gegenwärtige Bewusstseinsstand, von dem aus die Reproduktion stattfand, wieder miteingeschlossen den Zwischenraum, der ihn vom letzten Vorgang der Reproduktion trennt. Und an diesen Vorgängen unterscheiden wir als Eigenschaften, welche die Reproduktion beeinflussen: den Charakter der Inhalte und Verbindungsweisen, das Interesse, das die Seele diesen in den einzelnen Akten zuwendet, sowie die dadurch bedingte Bewusstseinserregung, die Zahl der Wiederholungen und endlich die Abstände der Zeiten, welche diese einzelnen Akte von einander trennen. In dem Interesse und der Aufmerksamkeit sind so Gefühle und Willensspannungen wirksam, Vorstellungen in das Bewusstsein zu heben. 2. Der Zusammenhang des Seelenlebens und die von ihm aus erwirkten Bildungsprocesse.   Wir sehen nun nicht mehr von dem umfassenderen und feineren Zusammenhang ab, in welchem die einzelnen zunächst wirkenden Vorstellungen stehen. Nur vermöge dieser Abstraktion konnten wir die eben dargelegten elementaren Vorgänge aus dem Seelenleben herausheben. Wir sehen auch nicht mehr von den inneren Veränderungen ab, welche in den Wahrnehmungen oder Vorstellungen oder ihren Bestandtheilen stattfinden. Allein vermöge derselben Abstraktion konnten wir diese Wahrnehmungen etc. als feste, für sich bestehende Elemente auffassen, die nur unterschieden, ineinsgesetzt, bezogen, zum Bewusstsein gebracht oder aus ihm verdrängt werden. In Wirklichkeit ist zumeist, ich sage nicht immer, ein Vorgang in der Seele zugleich ein Bildungsprocess; er ist bedingt vom ganzen Zusammenhang des Seelenlebens, und er enthält, von diesem aus erwirkt, auch innere Veränderungen an der Wahrnehmung oder Vorstellung oder einem Bestandtheil derselben.    Bildungsprocesse sind also alle die zusammengesetzteren Vorgänge in der Seele, sofern sie vom Zusammenhang des Seelenlebens aus erwirkt werden und nicht nur feste Vorstellungen unterscheiden, ineinssetzen, beziehen, in das Bewusstsein heben oder aus ihm verdrängen, sondern Veränderungen in diesen Wahrnehmungen oder Vorstellungen zur Folge haben. Und zwar besteht eine solche Veränderung nie in der Neuschöpfung von Inhalten, die nirgend erfahren wurden, sondern nur im Ausfallen einzelner Inhalte oder Verbindungen, in der Verstärkung oder Verminderung solcher oder in ihrer Ergänzung durch Inhalte oder Verbindungen, welche nun aus dem Material der Erfahrung zu einer Wahrnehmung oder Vorstellung hinzutreten. Hierzu kommen dann noch ein beständiger Wechsel in der Stärke von Interesse und Bewusstseinserregung, die den einzelnen Bestandtheilen in einem gegebenen Augenblick zu Theil wird, die Vertheilung des Gefühlsantheils, welche hiermit in Zusammenhang steht, sowie die Beziehungen zum Willen.   Der ganze erworbene Zusammenhang des Seelenlebens wirkt auf diese Bildungsvorgänge. Er verändert und gestaltet an den Wahrnehmungen, Vorstellungen und Zuständen, die sich gerade im Blickpunkte der Aufmerksamkeit befinden, denen also die stärkste Bewusstseinserregung zu Theil wird. Dieser erworbene Zusammenhang unseres Seelenlebens umfasst nicht nur unsere Vorstellungen, sondern auch die aus unsren Gefühlen entsprungenen Werthbestimmungen und die aus unsren Willenshandlungen entstandenen Zweckideen, ja die Gewöhnungen unsres Gefühls und unsres Willens. Er besteht nicht nur in den Inhalten, sondern auch in den Verbindungen, die zwischen diesen Inhalten hergestellt sind. Denn diese Verbindungen sind gerade so wirklich, als die Inhalte es sind. Als Beziehungen zwischen Vorstellungsinhalten, als Verhältnisse von Werthen zu einander, als Gefüge von Zwecken und Mitteln sind diese Verbindungen erlebt und erfahren.   Und zwar geht durch diesen so verwickelten Zusammenhang eine Gliederung, welche in der Structur des Seelenlebens angelegt ist. Aus der Aussenwelt stammt das Spiel der Reize, das sich im Seelenleben als Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung projicirt; die so entstehenden Veränderungen werden nach ihrem Werthe für das Eigenleben im Mannigfachen der Gefühle erlebt und gemessen; dann werden von den Gefühlen aus Triebe, Begehrungen und Willensvorgänge in Bewegung gesetzt; entweder wird nun die Wirklichkeit dem Eigenleben angepasst und so rückwärts vom Selbst aus die äussere Wirklichkeit beeinflusst, oder das Eigenleben fügt sich der harten und spröden Wirklichkeit. So besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Selbst und dem Milieu äusserer Wirklichkeit, in dem es sich findet, und in ihr ist unser Leben. Die Wirklichkeit der Wahrnehmungen, die Wahrheit der Vorstellungen ist in diesem Leben mit einer Werthabstufung verwebt, welche von den Gefühlen her über die ganze Wirklichkeit ausgebreitet ist, und von diesen geht dann die Verkettung zu der Energie und Richtigkeit der Willensäusserungen, die das System der Zwecke und Mittel bilden.   So höchst zusammengesetzt nun dieser Zusammenhang des Seelenlebens ist: er wirkt als ein Ganzes auf die im Blickpunkte der Aufmerksamkeit befindlichen Vorstellungen oder Zustände; seine einzelnen Bestandtheile sind nicht klar gedacht und nicht deutlich unterschieden, die Beziehungen zwischen ihnen sind nicht zu hellem Bewusstsein erhoben, und doch wird er besessen und wirkt; das im Bewusstsein Befindliche ist zu ihm orientirt; es ist von ihm begrenzt, bestimmt und begründet. Sätze haben in ihm ihre Gewissheit; Begriffe haben durch ihn ihre scharfe Begrenzung; unsere Lage im Raum und in der Zeit hat an ihm ihre Orientirung. Ebenso empfangen aus ihm die Gefühle ihr Mass für den Zusammenhang unseres Lebens. Unser Wille, welcher zumeist mit Mitteln beschäftigt ist, bleibt vermittelst desselben Zusammenhangs beständig des Gefüges der Zwecke gewiss, in welchem die Mittel begründet sind. So wirkt dieser Zusammenhang in uns, dunkel wie wir ihn besitzen. Er regulirt und beherrscht glühende Wünsche des Augenblicks, die das Bewusstsein ganz zu erfüllen scheinen, und neue Begriffe oder Thatsachen, die noch fremd, ja feindlich ihm gegenüberstehen. 3. Die drei Hauptformen der Bildungsvorgänge und die Stellung des künstlerischen Schaffens im Zusammenhang des Seelenlebens.   Wir nehmen den Unterschied von Vorstellung, Fühlen und Wollen hier als einen Thatbestand der inneren Erfahrung hin. Wie wir uns hier bei der Grundlegung der Poetik beschreibend verhalten und erklärende Hypothesen ausschliessen, dürfen wir bei diesen empirisch gegebenen Unterschieden stehen bleiben. Und zwar sind diese drei Classen von Vorgängen in der Structur des Seelenlebens, die eben dargestellt wurde, mit einander verknüpft. Aus dieser entsteht nun die Trennung in drei grosse Gebiete der Bildungsprocesse.   Die Bildungsprocesse des Denkens und Erkennens verlaufen zunächst in den dargestellten Vorgängen. Geht man über das Unterscheiden, Ineinssetzen, Beziehen, Reproduciren der Vorstellungen und die Verdrängung derselben hinaus, so trifft man unter diesen Bildungsvorgängen zunächst auf die Apperception. Sie bildet den einfachsten Fall, in welchem der Zusammenhang des Seelenlebens auf einen Einzelvorgang wirkt und von diesem eine Rückwirkung empfängt. Wir verstehen unter Apperception die durch die Richtung der Aufmerksamkeit vermittelte Aufnahme von Erfahrungsinhalten, Sinnesempfindungen oder inneren Zuständen, in den Zusammenhang des Bewusstseins. Zunächst ist sie also durch ganzes oder theilweises Ineinandertreten der neuen Erfahrungsinhalte und einer bereits vorhandenen Vorstellung bedingt. Hierdurch wird die Aufnahme der so entstandenen Wahrnehmung-Vorstellung in den Zusammenhang, in welchem sich die Vorstellung schon befand, vermittelt. Und so kann entweder eine Aenderung in den Erfahrungsinhalten oder in dem Zusammenhang des Seelenlebens bewirkt werden. Andere Bildungsprocesse werden von inneren Antrieben aus, die im Spiel der Vorstellungen liegen, eingeleitet, bemächtigen sich der Wahrnehmungen und gestalten sie um. Denn eben in dem beständigen Wechsel äusserer Anstösse von den Wahrnehmungsinhalten her und innerer Antriebe vollzieht sich die Ausarbeitung unseres Seelenlebens. Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus, Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper- ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere Sprachgebrauch beibehalten worden. Ferner finden zwischen bloss reproducirten Vorstellungen Bildungsvorgänge statt. So charakterisirt ein Dichter eine erfundene Gestalt durch weitere Züge, welche er der Erinnerung entnimmt, oder ein Forscher leitet aus Daten, in deren Besitz er schon war, die Erklärung einer Thatsache ab, die ihm längst bekannt gewesen.   Indem nun der Wille diese elementaren Vorgänge und Bildungsprocesse in energischer Spannung, mit dem Bewusstsein seines Zieles, lenkt, entsteht jene tiefgreifende Verschiedenheit, welche von dem Spiel unserer Vorstellungen das logische Denken trennt. Wenn die Psychologie von der Totalität des Lebens ausgeht, wenn sie das Ineinandergreifen von Willens- und Vorstellungsvorgängen erfasst, dann braucht sie nicht das Spiel der Vorstellungen von dem beziehenden Denken zu trennen und über den unwillkürlichen Processen eine höhere Form des geistigen Lebens anzunehmen. Sonderbare Vorstellung! Ein Vorgang der Verschmelzung und über ihm, ganz in der Wurzel von ihm getrennt, der logische Vorgang der Gleichsetzung; ein Vorgang der Ideenassociation und über ihm, aber unabhängig, logische Verknüpfung der Vorstellungen. In Wirklichkeit ist es nur gleichsam eine höhere Lage der dargelegten Vorgänge, eine Zusammensetzung höheren Grades, besonders aber der Antheil des Willens, was in den Vorgängen des Denkens hinzutritt. So entspringt zunächst der einfache logische Operationenkreis; von ihm sind dann die zusammengesetzten logischen Vorgänge, Denkformen, Denkgesetze, bedingt; diese Entwicklung wird von der Sprache getragen, welche die Erwerbungen des Seelenlebens festhält, in Formen fixirt und von einer Generation auf die andere überliefert. Es entspringen die Wissenschaften, als die mächtigen Organe der Bildungsprocesse, welche die Vorstellungen zur Darstellung und Erklärung der Wirklichkeit geeignet machen. Und hier entstehen auch die Hypothesen: Begriffe und Verbindungen von Begriffen, welche zum Zweck dieser Erklärung den Kreis der Erfahrungen überschreiten. Wenn man den Begriff der Einbildungskraft anwenden will, so würden die Hypothesen dem Begriff der wissenschaftlichen Einbildungskraft unterzuordnen sein.   Wenn so von den Eindrücken der Aussenwelt her Veränderungen im Vorstellungsleben entstehen, Bildungsprocesse des Wahrnehmens oder Denkens in ihm angeregt werden und natürlich auch der Stand der Gefühle sich ändert, so entspringen hieraus Antriebe, die auf die Aussenwelt zurückwirken. Denn die Gefühle rufen unter bestimmten Bedingungen des seelischen Zusammenhangs Willensvorgänge hervor. So entsteht eine andere Classe von Bildungsprocessen von den Willensvorgängen aus. Der Willensvorgang entspringt nicht aus den Vorstellungen und dem Gefühl durch den blossen Hinzutritt des physiologischen Vorgangs im motorischen System; das beweist die innere Willenshandlung. Er ist vielmehr für unsere innere Erfahrung eine ebenso primäre Thatsache als der Gefühlsvorgang. Dies genügt uns bei unserem beschreibenden Verfahren. Wir unterscheiden nun äussere Willenshandlungen, welche unserem Innenleben und seinen Bedürfnissen die Aussenwelt anpassen, und Vorgänge der Natur beherrschen oder solche der Gesellschaft leiten wollen, von inneren Willenshandlungen, welche den Gang unserer Vorstellungen, Gefühle und Leidenschaften lenken. Unsere äusseren Willenshandlungen bringen das wirthschaftliche Leben, die Rechts- und Staatsordnung, die Naturbeherrschung hervor. Aus den inneren Willenshandlungen entspringen unter Anderem die innere sittliche Bildung und der von dieser getragene religiöse Vorgang. Denn der religiöse Vorgang ist zwar zunächst auch mit den äusseren Willenshandlungen verflochten: der Mensch möchte sich durch seine religiösen Acte das Gelingen seiner äusseren Handlungen sichern. Er ist auch mit den primitiven Erkenntnissproblemen verwebt: der Mensch möchte das Dunkel um ihn, das ihn bedingt und auf ihm lastet, durchdringen. Aber die inneren Willenshandlungen werden zum eigentlichen Kern des religiösen Vorgangs bei entwickelterer Cultur. Und nun stehen mit den Willenshandlungen mannigfache Bildungsprocesse der Vorstellungen in Zusammenhang. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass die Inhalte des Willens und die Verhältnisse in ihm in den Vorstellungen ihren Ausdruck gewinnen. Zunächst ist ja in jedem Willensact eine Beziehung eines vorschwebenden Effectbildes zu dem Willen, welche durch die Gefühle bedingt ist, und dieses Effectbild ist naturgemäss vom Willen aus in einer die Wirklichkeit überschreitenden Weise geformt. Alsdann stehen diese Zwecke zu einander in Verhältnissen, welche in dem Gefüge des Willens von seinen elementaren Antrieben ab ihren Grund haben. In den Verhältnissen dieser Zwecke zu dem Mannigfachen der Mittel, sowie andrerseits den Beziehungen der Willen zu einander in Herrschaft und Abhängigkeit schliesst der Inbegriff dieser practischen Vorstellungsinhalte und ihrer Beziehungen ab. Durch Abstraction entstehen practische Kategorien wie Gut, Zweck, Mittel, Abhängigkeit, und sie werden auch über unsere menschliche Willenssphäre hinaus angewandt. Innerhalb der inneren Willenshandlungen entsteht das Ideal. So entspringen in den Bildungsprocessen dieser Classe ebenfalls Vorstellungen, welche die Wirklichkeit überschreiten. Wenn man sie unter den Begriff der Einbildungskraft ordnete, müsste man von einer practischen Phantasie reden.   Zwischen diesen beiden Sphären erstreckt sich das weite Gebiet derjenigen Bildungsprocesse, in denen Vorstellungsinhalte und deren Verbindungen von den Gefühlen aus bestimmt und geformt werden, ohne dass aus der Gefühlslage ein Antrieb zur Anpassung der äusseren Wirklichkeit an den Willen oder des Willens an diese hervorginge. Dies kann nur in zwei Fällen eintreten. Vorübergehend wird eine Gleichgewichtslage des Gefühls erreicht, in welcher gleichsam ein Feiertag des Lebens eintritt. Festliche Freude, Geselligkeit, Spiel und Kunst erweitern, steigern und formen solche Gefühlslage. In diesem Fall strebt die Stimmung, alle Vorstellungen sich zu unterwerfen, soweit die Gemüthslage ein Verhältniss zur Wirklichkeit mit einschliesst. Oder eine Gefühlslage enthält zwar eine Spannung in sich, diese kann aber durch keine äussere oder innere Willenshandlung aufgehoben werden. Erschütternde unaufhebbare Thatsachen theilen ihre dunkle Farbe allen Dingen mit und in schwermüthigem Grübeln entstehen Bilder, die ihnen gemäss sind.   Die Bildungsprocesse, welche unter solchen Umständen unter der Einwirkung der Gefühle innerhalb unserer Vorstellungen eintreten, beschreiben ebenfalls einen weit ausgedehnten Kreis. Er reicht von dem Bilde, das der Hypochonder sich von seinem Augenleiden oder der Tiefgekränkte von seinem Quälgeist entwirft, bis zu der Venus von Milo, den Madonnen Raphaels und dem Faust. Hier waltet überall das Grundgesetz, dass Vorstellungen, die von einer Gefühlslage aus geformt sind, wiederum diese regelmässig hervorrufen können. Insbesondere suchen die gesteigerten Gefühlslagen gleichsam eine Entladung in Geberden, Lauten und Vorstellungsverbindungen, die dann als Symbole dieses Gefühlsgehalts im Betrachter oder Hörer das Gefühl wieder anregen. So ruft ein Sinken oder Heben der Stimme, ein bestimmtes Tempo, Wechsel in Stärke oder Tonhöhe oder Geschwindigkeit, wie sie aus der Gefühlslage hervorgehen, auch wieder ein entsprechendes Gefühl hervor; die Schemata entstehen, deren sich die Musik bedient.   Diese Bildungsvorgänge ermöglichen, in die Ausbildung der höheren Gefühle, sowohl innerhalb der Individualexistenz als innerhalb der Entwicklung der Menschheit, eine Continuität zu bringen. Auch hier, wie in der Sphäre des Vorstellens und Denkens, vermag die Willensbetheiligung solche Gestaltung der Bilder folgerecht zu vollbringen. So entstehen die festen Formen der Geselligkeit, der Festesfreude und der Kunst. Und auch hier überschreiten die so entstehenden Bilder die Grenze der Wirklichkeit; bezeichnen wir das Vermögen zu solchen Vorgängen in einem Begriff, so ist es die künstlerische, die dichterische Einbildungskraft, welche hier waltet, und sie ist nun unser Problem. 4. Die Gefühlskreise und die aus ihnen stammenden ästhetischen Elementargesetze.   Da diese Bildungsvorgänge von dem Spiel der Gefühle aus erwirkt werden, so muss in einer Analyse des Gefühls die Unterlage für ihre Erklärung gesucht werden. Die Bedeutung des Gefühlslebens für das künstlerische Schaffen hat sich nie der Betrachtung entziehen können. Aus der Erfahrung von den Verhältnissen der Formen zu unseren Gefühlen entspringt die Bedeutung, welche die Verhältnisse der Linien, die Vertheilung von Kraft und Last und die Symmetrie im architektonischen und bildlichen Aufbau haben. Aus der Wahrnehmung von den Beziehungen unserer Gefühle zu dem Wechsel der Stimme nach Höhe und Tiefe, Rhythmus und Stärke entsteht der Aufbau der betonten Rede und der Melodie. Aus den erworbenen Einsichten über die Wirkung von Charakteren, Schicksalen und Handlungen auf unsere Gefühle bildet sich die ideale Gestaltung der Charaktere und die Führung der Handlung. Aus den geheimnissvollen Beziehungen zwischen den gefühlten Unterschieden des Seelenlebens und dem Mannigfachen der Körperformen erwächst das Ideal in der bildenden Kunst. So wird die Analysis des Gefühls den Schlüssel für die Erklärung des künstlerischen Schaffens enthalten.   Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle überall in einer sehr grossen Verwicklung gegenüber. Wie ein Wahrnehmungsbild sich aus einer grossen Mannigfaltigkeit von Empfindungsinhalten zusammensetzt, so ist auch ein Gefühlszustand, aus elementaren Gefühlen entstanden, welche die Analysis aufzusuchen hat. Ich stehe vor einem Gemälde; die einzelnen Farben haben ihren Gefühlston; dann tritt das Gefühl der Farbenharmonie, der Contraste in den Farben, der Schönheit in den Linien, des Ausdrucks in den Personen hinzu: aus solchem Allem entsteht das Gefühl, mit welchem Raphaels Schule von Athen mich ganz erfüllt und befriedigt. Und zwar treten die Gefühle in Formen auf, welche durch eine bestimmte Art von Zusammensetzung aus Elementargefühlen gebildet sind. Solche Formen sind Freude, Wehmuth, Hass. Aber diese Formen stehen untereinander in keinem ersichtlichen Zweckzusammenhang und lassen sich nicht in einem System ordnen.   Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede des Erregungsgrades. Die Gefühle können in einer Reihe von Intensitäten geordnet werden, die sich von einem Nullpunkt der Indifferenz aus in der einen Richtung nach Intensitätsgraden von Lust, Gefallen und Billigung, in der anderen nach Graden der Unlust, des Missfallens und der Missbilligung darstellen. Aber die Gefühle zeigen auch qualitative Unterschiede. Zur Zeit ist die Frage unauflösbar, ob diese qualitativen Unterschiede ausschliesslich aus dem Vorstellungsgehalt und dem Willen entspringen, oder ob unabhängig hiervon in den Functionen des Gefühlslebens solche Unterschiede ausser denen des Grades von Lust oder Unlust bestehen. Denn eben in dem Ineinander dieser Seiten der Seele ist das Leben; wir vermöchten nicht zu sagen, welche Vorgänge im Vorstellen übrig blieben, hinweggedacht den Antheil von Gefühl und Wille in Interesse und Aufmerksamkeit; wir können ebenso wenig sagen, ob die im Gefühlsvorgang auftretende Leistung für sich genommen nur eintönig in Graden von Lust und Schmerz bestehen würde. Innerhalb der gegebenen qualitativen Mannigfaltigkeit der Gefühle suchen wir die elementaren Vorgänge.   Die einfacheren Bestandtheile, aus denen sich unsere Gefühle zusammensetzen, wiederholen sich in ähnlicher Weise, als es die Bestandtheile der Wahrnehmung, also die Empfindungen thun, und zwar finden wir, dass im Causalzusammenhang des Seelenlebens regelmässig aus einer bestimmten Classe von Antecedenzien eine bestimmte elementare Classe von Gefühlsvorgängen entsteht. Wie einer Reizclasse ein Kreis von Sinnesqualitäten entspricht, so entspricht einer bestimmten Classe von Antecedenzien des Gefühls ein bestimmter Gefühlskreis. So kann ich die elementaren Gefühle nach Kreisen ordnen, und sie bilden in diesem Sinne eine übersehbare Mannigfaltigkeit.   Reizvorgänge ohne die Vermittlung dadurch angeregter Vorstellungen sind nur Antecedenzien der sinnlichen Lust- und Schmerzgefühle. Der Zusammenhang ist hier ein Problem der Psychophysik. Diese sucht die Vermittlungen auf, welche innerhalb des Körpers von dem Reiz hinüberführen zu dem Gefühl. Der Uebergang von dem letzten Glied des physiologischen Vorgangs zum Gefühl selber kann natürlich so wenig fassbar gemacht werden als der zur Empfindung. ─ In allen anderen Fällen aber sind seelische Vorgänge die Antecedenzien der Gefühle. Wohl hat der Uebergang aus einem seelischen Vorgang als Antecedens zu dem Gefühle als der Folge die Selbstverständlichkeit, welche immer das innere Gewahren des Erwirkens begleitet; wohl kommt diesem Zusammenhang der innere Zwang zu, den wir als Nothwendigkeit bezeichnen; wohl besteht endlich eine Constanz, mit welcher unter sonst gleichen Umständen stets ein gegebener Empfindungs- oder Vorstellungsbestand ein bestimmtes Gefühl erwirkt; aber wie das geschehe und warum eine bestimmte Classe von Vorgängen gerade mit einer solchen von elementaren Gefühlen verknüpft sei, darüber wissen wir nichts; auch klärt dieses Verhältniss die Formel nicht auf, nach der im Gefühl der Werth eines Zustandes oder einer Veränderung erlebt wird. Denn Werth ist ja nur der vorstellungsmässige Ausdruck für das im Gefühl Erfahrene. Aber eben darum ist uns, da bestimmte Vorgänge mit ähnlicher Constanz Gefühle erwirken, als bestimmte Reize Empfindungen, in den elementaren Gefühlen ein Erfahrungskreis aufgeschlossen, als dessen Gegenstand wir die Werthbestimmungen bezeichnen können. Wir geniessen in der Lust theils die Beschaffenheit der Gegenstände: ihre Schönheit und ihre Bedeutung, theils die Steigerungen unsres eignen Daseins: Beschaffenheiten unsrer Person, die unsrem Dasein Werth geben. Diese zwiefache Beziehung ist in der Wechselwirkung zwischen unsrem Selbst und der Aussenwelt angelegt. Wie wir in den Empfindungen die äussere Wirklichkeit erfahren, so in den Gefühlen Werth, Bedeutung, Steigerung oder Minderung des Daseins in uns oder in Etwas ausser uns.   Wir durchlaufen die Gefühlskreise, indem wir gleichsam von aussen nach innen vordringen.   Den ersten Kreis elementarer Gefühle bilden diejenigen, welche das Gemeingefühl und die sinnlichen Gefühle zusammensetzen. Das Charakteristische derselben ist, dass der physiologische Vorgang ohne Mittelglied von Vorstellungen Schmerz oder Lust hervorruft. Meynert hat über die einzelnen Glieder in diesem Causalzusammenhang ansprechende Vermuthungen geäussert. Meynert, Psychiatrie 1884 S. 176 ff. ─ Der zweite Gefühlskreis wird durch die elementaren Gefühle gebildet, welche aus den Empfindungsinhalten unter der Bedingung eines concentrirten Interesses hervorgehen. Schon der Intensitätsgrad der Empfindung steht in einem gesetzmässigen Verhältniss zu Lust und Unlust. Zu hohe oder zu geringe Intensitätsgrade wirken unangenehm, mittlere an sich erfreulich. Alsdann stehen aber auch die Qualitäten der Empfindung in einem gesetzmässigen Verhältniss zu einem Gefühlston, der im Fall einer dieser Empfindung zugewandten concentrirten Aufmerksamkeit sie begleitet. Goethe hat über die Wirkung einfacher Farben in diesem Sinne Versuche angestellt. Ebenso besteht eine solche Wirkung der in der Empfindung einfachen Töne. Die Feststellung, welche Empfindungen hier elementar, welche aus einer Verschmelzung mehrerer Empfindungen entstanden, aber durch die Aufmerksamkeit und Uebung dabei trennbar seien, bietet die bekannten Schwierigkeiten, welche die Elementartheorie der Musik umgeben. In der Poesie bedingen diese Gefühle die ästhetische Wirkung, insofern schon das Vorwiegen weicher Laute in dem Tonmaterial manchen lyrischen Gedichten, vor Allen Goethes, einen ungesuchten Reiz giebt. Wir können das ästhetische Prinzip, nach welchem die einfachen Empfindungselemente, die in der Kunst verwandt werden, für sich eine solche Wirkung hervorzurufen geeignet sind, als das des sinnlichen Reizes bezeichnen.   Der dritte Gefühlskreis umfasst die Gefühle, welche in Wahrnehmungen entspringen, also durch Beziehungen von Sinnesinhalten auf einander hervorgerufen werden. So wirken in Ton und Farbe Harmonie oder Contrast; unter den Raumgefühlen ist das am meisten durchgreifende das Wohlgefallen an der Symmetrie und unter den Zeitgefühlen das am Rhythmus; aber auch die unermessliche Weite des eintönig blauen Himmels oder des Meeres ruft ein starkes ästhetisches Gefühl hervor. Die Poesie bringt durch die Beziehungen der Töne zu einander in ihrem sprachlichen Material, ganz abgesehen von der Bedeutung der einzelnen Worte, eine sinnliche Freude von grosser Mannigfaltigkeit und Stärke hervor. In der Untersuchung dieser elementaren Gefühle hat die Poetik eine ihrer wichtigsten Grundlagen. Sie muss insbesondere das rhythmische Gefühl in seinem Ursprung, vermöge dessen es im Lebensgefühl selber wurzelt, aufsuchen. Denn wie unser Körper aussen überall Symmetrie zeigt, so geht durch seine inneren Functionen der Rhythmus. Der Herzschlag wie die Athmung verlaufen in Rhythmen, das Gehen in einer regelmässigen Pendelbewegung. In langsamerem, doch auch regelmässigem Wechsel folgen einander Wachen und Schlaf, Hunger und Mahlzeit. Die Arbeit wird durch den Rhythmus der Bewegungen erleichtert. Gleichmässig fallende Tropfen, rhythmisch rückkehrende Wellen, der einförmige Tact, den die Wärterin dem Kinde hören lässt, wirken beschwichtigend auf die Gefühle und erregen so den Schlaf. Die Erklärung dieser umfassenden psychischen Bedeutung der Rhythmik ist ein noch ungelöstes Problem. Denn dass wir vermittelst des Rhythmus leichter das Ganze des Empfindungswechsels einheitlich auffassen, erklärt augenscheinlich nicht die elementare Gewalt des Rhythmus. Erwägt man das Verhältniss einer einfach auftretenden Empfindung zu dem Rhythmischen der Bewegungen, wie sie für Gesicht und Gehör den Reiz bilden, und betrachtet nun die Freude am Rhythmus als die Wiederkehr eines ähnlichen Verhältnisses in höherer Ordnung, da die Theile dieses rhythmischen Verlaufs Empfindungen sind, so bleibt das doch vorläufig eine unbeweisbare Hypothese. Gerade die Poetik hat hier die Aufgabe, zunächst empirisch die Thatsachen ihres weiten Gebietes, vom Lied, der Melodie und dem Tanz der Naturvölker bis zu der Gliederung des griechischen Chorliedes vergleichend zu bearbeiten. Dann erst wird die Rhythmik und Metrik, wie sie von den hochgebildeten Literaturen abstrahirt ist, in den weiteren Zusammenhang treten, welcher die Mittel zur Entscheidung über die streitigen psychologischen Hypothesen liefert.   Wir bezeichnen das Prinzip, nach welchem die Empfindungselemente des Kunstwerks in Verhältnissen, die das Gefühl wohlthätig erregen, stehen müssen, als das der wohlgefälligen Verhältnisse der Empfindungen. Die Lust am Rhythmischen wie die an Lautverbindungen ist allerdings in der Poesie nicht nur durch diese elementaren Verhältnisse bedingt, sondern auch durch die Associationen, die vom Inhalt her dem Rhythmischen und den Lautverbindungen eine Bedeutung geben.   Der vierte Gefühlskreis wird gebildet von der grossen Mannigfaltigkeit der Gefühle, welche aus der denkenden Verknüpfung unserer Vorstellungen entspringen und abgesehen von dem Verhältniss ihres Gehaltes zu unserem Wesen durch die blossen Formen der Vorstellungs- und Denkvorgänge angeregt werden. In den weiten Umkreis dieser Gefühle fallen die Abstufungen im Gefühl des Gelingens, welche unser Vorstellen und Denken begleiten, das angenehme Gefühl von Evidenz und das störende des Widerspruchs, die Freude an dem einheitlichen Zusammenhang des Mannigfaltigen, die Unterhaltung, die aus einem überschaubaren Wechsel entspringt und das Gefühl der Langeweile, die Freude am Witz und dem Komischen und die Ueberraschung, welche scharfsinniges Urtheil hervorruft etc.   Man bemerkt, wie die Zergliederung in Elementargefühle dadurch für die Poetik bedeutend wird, dass sie die grosse Verflechtung derselben zeigt, welche im poetischen Eindruck stattfindet. Indem sich so ein Gefühlskreis an den anderen schliesst, erklärt sich, wie Elementargefühle, die noch gar nicht durch den Gehalt der Poesie beeinflusst sind, sich zu einem Effect verknüpfen können, durch welchen auch ein leidvoller Inhalt in ein Medium von Wohlklang, Harmonie, Rhythmik, unterhaltenden und erhebenden Formen des Vorstellens und Denkens tritt. Und nun erkennt man, wie die Form in der Poesie ein Zusammengesetztes und gerade vermöge der Zusammensetzung der Gefühle höchst Wirksames ist.   Daher ist dieser Gefühlskreis sehr wichtig, und die Poetik trifft hier wieder auf Probleme von grosser Tragweite. Denn aus der Beziehung der Vorstellungen auf einander im Denken entspringen die für die Poesie so wichtigen Formen und Formbestandtheile: der Witz, das Komische, das Gleichniss, die Antithese sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten Befriedigung zu finden. Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner, Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als Princip der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen. Ebenso entspringt hier das folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende Gefühl: „wenn von einander abweichende Anlässe, sich eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung führen.“ So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der Widerspruchslosigkeit, Einstimmigkeit oder Wahrheit. Natürlich müssen hierbei die Beziehungen zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied, Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das ästhetische Gefühl möglich wird. Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der Klarheit bezeichnet. Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die „drei obersten Formalprincipe“. Fassen wir dies Alles zusammen, so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs- und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet sind. Ich bezeichne dies als das Princip des Wohlgefälligen aus der denkenden Verknüpfung der Vorstellungen. Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten: Einheit des Interesses, „Viel aus Einem und in Einem“ von Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit. Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu Grunde gelegt. Damals kam seine Bedeutung für das Kunstwerk durch die in ihm enthaltenen Formeln vollständig, obwohl einseitig zum Bewusstsein. Man versteht aus dem Geiste dieser Zeit das von Montesquieu formulirte Geheimniss ihrer Poesie, in Einem Worte Viel zu sagen. Ein grosser Gedanke ist nach ihm ein vielumfassender, der mit Einem Schlage eine Fülle von Vorstellungen zum Bewusstsein bringt. Hier ist das Grosse in die Form des denkenden Auffassens aufgelöst. Das war der Geist der Poesie von Voltaire und Friedrich dem Grossen.   Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der Form der Dichtung, welche natürlich zum Gehalt in Beziehung steht, zusammen wirkt und auch das grausamste und bitterste Schicksal in eine Sphäre von Wohllaut und Harmonie erhebt ─ was in so manchen Versen des Homer oder Shakespeare oder auch in der Prosa der Wahlverwandtschaften erfahren werden mag ─: so treten wir jetzt in die Gefühlskreise ein, in welchen die aus dem Gehalt der Dichtung stammenden ästhetischen Wirkungen liegen. Der fünfte Gefühlskreis entsteht von den einzelnen, durch das ganze Leben hindurchgreifenden materialen Antrieben aus, deren wir in Gefühlen nach ihrem ganzen Inhalt inne werden. Diese Gefühle treten hervor, wenn die elementaren Triebe von dem sie umgebenden Milieu oder auch von inneren Zuständen aus Hemmungen oder Förderungen erfahren. Verwoben mit unseren Instincten, aus den Wurzeln der sinnlichen Gefühle aufsteigend, durchziehen sie die ganze moralische Welt. Aus den Tiefen des sinnlichen Gefühls reichen aufwärts der Nahrungstrieb, der Trieb der sinnlichen Selbsterhaltung oder Wille zu leben, der Trieb der Fortpflanzung und die Liebe zur Descendenz. Diese sind die starken Federn in der Uhr des Lebens, die Muskeln, welche die Fortbewegung des ungeheuren Geschöpfes: Gesellschaft erwirken. Nahe an die sinnliche Gewalt dieser Antriebe reicht die Macht von Triebfedern heran, die einer höheren Region angehören. Was sich als Selbstbewusstsein darstellt, ist, nach der practischen Seite angesehen, Streben nach Erhaltung und Vervollkommnung der Person sowie Selbstschätzung; dies sind nur verschiedene Seiten desselben Thatbestandes, und Gefühle der mächtigsten Art knüpfen sich an denselben. Indem Hemmungen und Förderungen hinzutreten und Relationen aufgefasst werden, entstehen die meist sehr zusammengesetzten Einzelgefühle von Eitelkeit, Ehrgefühl, Stolz, Scham, Missgunst etc. Und ebenso mächtig durchherrscht die Gesellschaft die andere Gruppe von Gefühlen, in denen wir Leid und Lust Anderer als unsere empfinden und das Leben Anderer gleichsam in unser eigenes Ich aufnehmen: Sympathie, Mitleid, Liebe. Die ganze feinere Beweglichkeit und Empfindbarkeit der Gesellschaft beruht zunächst auf diesen beiden grossen Zügen des menschlichen Fühlens.   Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis. Je tiefer Motiv und Handlung in diese Wurzeln des Lebens hinabreichen, desto sinnlich gewaltiger bewegen sie. Das Erleben der grossen elementaren Antriebe der menschlichen Existenz, der aus ihnen entspringenden Leidenschaften und der Schicksale derselben in der Welt, nach ihrer kernhaften psychologischen Mächtigkeit, ist die eigentliche Basis alles dichterischen Vermögens. Es macht zunächst der Grundlage nach den grossen Dichter, dass in seiner viel mächtigeren Seele diese Antriebe breiter, massiver wirken als in den Seelen seiner Leser oder Zuhörer; von da entsteht die Erweiterung und Steigerung der ganzen Lebendigkeit, welche die am meisten elementare Wirkung aller Poesie auf diesen Leser oder Hörer ist. Wenn man mit Fechner Principe (Gesetze) formulirt, welche das Schaffen regeln und in dem Schönen verwirklicht sind, dann muss hier ein Princip der Wahrhaftigkeit, im Sinne einer mächtigen Wirklichkeit der dichterischen Person und der elementaren Antriebe in ihr, aufgestellt werden. Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt, die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen. Dasselbe wird in allen Künsten Gültigkeit haben. Denn auch wo gar keine äussere Wahrheit im Sinne von Abbildung eines Wirklichen angestrebt wird, wie in Architektur und Musik, ist die Abstammung der Formen aus dieser Mächtigkeit eines kernhaften Menschen, nicht aus blosser Nachahmung des Lebens Anderer oder gar der von ihnen geschaffenen Formen, das, was einem Tonwerk oder einem Kirchenbau seine Wahrhaftigkeit giebt.   Aber der Wille, in welchem diese Triebe sich auswirken und Leidenschaften hervorrufen, hat allgemeine in diesen Trieben und Leidenschaften sich äussernde Eigenschaften, deren wir nun auch innewerden. Die Eindrücke, in denen wir sie fühlen, sind von dem eben geschilderten Gefühlskreis verschieden, so nahe vielfach die Verwandtschaft ist. Der letzte Gefühlskreis entsteht also, indem wir der allgemeinen Eigenschaften der Willensregungen innewerden und ihren Werth erfahren. Die sehr grosse Mannigfaltigkeit in diesem Gefühlskreis entspringt aus dem Mehrfachen dieser Eigenschaften, aus den Relationen, in welche sie gleichsam zersplittern, aus den Verschiedenheiten des Erfahrens, je nachdem wir uns nur dieser Eigenschaften mächtig fühlen oder ihren Werth im Urtheil über uns selbst erfahren oder im Urtheil über Andere den Werth des fremden Willens bestimmen. Wir zählen nun äusserlich auf. Das frohe Gefühl unserer Kraft. Innewerden des folgerichtigen Festhaltens an dem unserem Willen Wesenhaften im Wechsel der Umstände, hindurchgreifend durch die Zeit und sie für den Willen vernichtend: also Charakter oder Consequenz. Daran sich anschliessend: Treue, Muth, Nichtachtung der Gefahr oder des Leidens, verglichen mit dem vom Charakter Erfassten. Reichthum des in den Willen aufgenommenen Lebensgehaltes, der in der Einheit desselben geordnet und in freudiger Erweiterung des Lebensgefühls genossen wird. Die Folgerichtigkeit, für die auch die Bindung einem anderen Willen gegenüber, unabhängig von der Zeit, fest bleibt und welche diese Bindung anerkennt, durch was für Acte von Empfangen, Geniessen oder Festsetzen sie auch entstanden sein mag: also die Rechtschaffenheit und Pflichttreue. An sie schliesst sich Dankbarkeit, Verehrung etc. Und wie ich selbst mich als Person schätze und die Sphäre meines Rechtes behüte, so finde ich mich auch gezwungen, Personalität mir gegenüber als Selbstwerth anzuerkennen und in ihrer Sphäre zu schützen: so entstehen Recht und Gerechtigkeit. Mannigfache Gefühle schliessen sich hieran, von dem Antrieb zur Ahndung des Unrechts bis zu dem der Billigkeit. Endlich ist in der Kraft des Willens, als das Höchste, angelegt, dass die Person sich hingeben und aufopfern kann für die Sache oder die Menschen, mit denen sie durch starke Triebe verbunden ist: die höchste Eigenschaft des Willens, seine eigentliche Transcendenz, da er dem Gesetze der Erhaltung durch diese Eigenschaft entnommen und über den ganzen Naturlauf durch sie erhoben ist.   Die von Herbart aufgestellten sittlichen Ideen sind nur schattenhafte Abstracta, welche aus der Auffassung der Eigenschaften und ihres Werthes an dieser dem Verstande nie ganz durchdringlichen Lebendigkeit unseres Willens entspringen. Da wir diese Lebendigkeit nur in solchen einzelnen Eigenschaften auffassen und in ihrem Werthe schätzen können, da die innere Structur, in welcher diese Eigenschaften verwebt sind, sehr schwer und vielleicht nie ganz erkennbar ist: konnte bei Herbart die Darstellung in elementaren Ideen entstehen, wie er sie am sittlichen Urtheil aufgefasst hatte.   Die Gefühle, welche hier entstehen und in vielfachen Brechungen bald als Bewusstsein eigenen Werthes, bald als Urtheil über andere Personen, bald als Genuss der Anschauung solcher Vollkommenheiten in reinen Typen auftreten, sind nun für das dichterische Auffassen von sehr hervorragender Bedeutung. Indem in dem Dichter die Bilder dieser grossen Eigenschaften des Willens und die aus ihnen stammenden Gefühle wirksam sind, wird ein Lebensideal die Seele seiner Dichtung Die Bedeutung des Lebensideals für den Dichter, wie von ihm aus erst dessen Weltansicht sich bildet, habe ich zuerst auseinandergesetzt: Lessing, pr. Jahrbücher 1867 S. 117─161, dazu: Scherer zum persönlichen Gedächtniss, Rundschau 1886 October. . Dieser Vorgang der Idealisirung gestaltet Charaktere und Fabel. Zugleich geht von hier eine Idealität in der Führung der Handlung aus, die in dem Willen gegründet ist: sie giebt besonders den Dramen Schillers den grossen gehaltenen Athem in der Handlung. Und da diese Idealität sich durch nun zu erörternde Vorgänge auch den Formelementen mittheilt, die in anderen Künsten frei verknüpft werden, so stammt aus diesem Gefühlskreis ein allgemeines Princip aller Kunstwirkung, welches man als das der Idealität bezeichnen mag.   So gehen von all' diesen Gefühlskreisen elementare ästhetische Wirkungen aus und jede Kunstwirkung ist zunächst auf eine Zusammensetzung derselben gebaut. Ein Theil der Principien (Gesetze), welche Fechner aus der empirischen Betrachtung der ästhetischen Wirkungen abstrahirt hat, ist in dem Vorigen psychologisch abgeleitet worden, aber diese Ableitung hat zugleich gezeigt, dass neben sie andere Principien mit demselben Rechte hätten gestellt werden können. Hiermit fassen wir zuerst festen Fuss in dem Umkreis der ästhetischen Gesetze, die, unabhängig vom Wechsel des Geschmacks und der Technik, aus der immer gleichen menschlichen Natur ihre beständige Gültigkeit empfangen. Wir erkennen jetzt, dass das Problem, welches die moderne Poetik sich stellte und das zuerst in dem Gegensatz von Herder und Kant hervortrat, lösbar ist. Aus der Analysis der menschlichen Natur ergeben sich Gesetze, welche unabhängig vom Wechsel der Zeit den ästhetischen Eindruck wie das dichterische Schaffen bestimmen. Die Bewusstseinslage in einem Volke zu einer gegebenen Zeit bedingt eine poetische Technik, welche sich in Regeln darstellen lässt, deren Gültigkeit durch diese Bewusstseinslage begrenzt ist; aber aus der menschlichen Natur entspringen Principien, die so allgemein gültig und nothwendig den Geschmack und das Schaffen beherrschen, wie die logischen das Denken und die Wissenschaft. Die Zahl dieser Principien, Normen oder Gesetze ist unbestimmt; sind sie doch nur Formeln, welche die Bedingungen der einzelnen ästhetischen Wirkungselemente verzeichnen, und nun ist die Zahl dieser Wirkungselemente unbegrenzt, schon wegen der unbegrenzten Theilbarkeit des Ganzen der ästhetischen Wirkung. Einige elementare Gesetze waren in den Gefühlskreisen gegeben; indem nun aber die elementaren Gefühle in höhere Verbindungen eintreten, entstehen auch höhere Gesetze der Poetik. 5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang des Gefühlslebens und einige aus ihnen stammende höhere Gesetze der Poetik.   Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind.   Die Art, wie elementare Gefühle sich verbinden, ist von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren. Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) „Aus dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen für sich entspricht, ein grösseres, als dass es als Summe der Einzelwirkungen erklärt werden könnte; ja es kann selbst durch ein Zusammentreffen dieser Art ein positives Lustergebniss erzielt, die Schwelle der Lust überstiegen werden, wo die einzelnen Factoren zu schwach dazu sind; nur dass sie vergleichungsweise mit anderen einen Vortheil der Wohlgefälligkeit spürbar werden lassen müssen.“   Das obige vom lyrischen Gedicht hergenommene Beispiel Fechners kann ohne die Annahme dieses auffälligen Gesetzes daraus erklärt werden, dass die Abwesenheit der mit dem Gefühlsausdruck im Gedicht regelmässig verbundenen Hilfsmittel von Rhythmus und Reim auf Grund unserer Gewöhnung ein Gefühl des Mangels, sonach ein Unlustgefühl hervorbringt, welches die Lust an dem Gefühlsgehalt mindert oder aufhebt. Man kann das an den bekannten Streckversen Jean Pauls beobachten. Ebenso verhält es sich in dem anderen von Fechner erwähnten Falle, in welchem Versmass, Rhythmus und Reim ohne für uns fassbaren Gefühlsgehalt eine geringe Wirkung hervorbringen. Dazu kommt, dass aus der Beziehung des Gefühlsgehalts zu der ihm angemessenen Form ein neues Gefühl entspringt, das die Luststärke erhöht. So möchte vorsichtiger das Princip Fechners ersetzt werden durch ein anderes der Totalwirkung, nach welchem ein mannigfaches elementares Gefühl sich zu einer Totalstärke summirt, welche durch die Beziehungen dieser elementaren Gefühle aufeinander noch erhöht wird, da aus diesen ein die Totalsumme des Gefallens vermehrendes Gefühl hinzuwächst.   Auf der Unterlage des so entstandenen Gefühlszustandes hebt sich die Veränderung unserer Bewusstseinslage in einem neuen Gefühl ab. Tritt ein Lebensreiz auf, so wird eben der Uebergang aus der bestehenden Gefühlslage von uns in einem neuen Gefühl erlebt. Hieraus ergiebt sich zunächst die Bedingung, unter welcher ganz allgemein der ästhetische Eindruck auftritt. Fechner bezeichnet das Verhältniss, welches diese Bedingung ausdrückt, als Princip der ästhetischen Schwelle. „Für jeden bestimmten Grad der Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit wird es einen bestimmten Grad der äusseren Einwirkung geben, der dazu überstiegen werden muss, hiemit eine zugehörige bestimmte äussere Schwelle; aber wie sich jene innern Bedingungen ändern, wird eine grössere oder geringere äussere Einwirkung dazu nöthig werden, mithin die äussere Schwelle steigen oder fallen“ etc. Fechner I 49 f. Und wenn nach diesem Verhältniss der Reiz ein Gefühl hervorzurufen vermag, so ist dieses dann in Stärke und Art von den Relationen zu der vorhandenen Gefühlslage sowie zu anderen gleichzeitig auftretenden Reizen bedingt. Man kann dies Princip als das der Relativität der Gefühle bezeichnen. Fechner leitet folgende ästhetische Einzelprincipe ab. Das des ästhetischen Contrastes, nach dem „das Lustgebende um so mehr Lust giebt, je mehr es in Contrast mit Unlustgebendem oder weniger Lustgebendem tritt und das Unlustgebende um so mehr“ etc. Fechner II 231 ff. Das der ästhetischen Folge, nach welchem bei der (positiven) Fortschrittsrichtung von der kleineren zur grösseren Lust oder von grösserer zu kleinerer Unlust das gesammte Lustresultat grösser oder das Unlustresultat kleiner ist, als bei der umgekehrten (negativen) Fortschrittsrichtung II 234 ff. . So kann das den Genesenden begleitende Gefühl der Besserung, so viel Unlust auch noch in seiner Lage sein mag, doch dieselbe compensiren oder überbieten. Und da die Kunst vielfach nur im Zusammenhang mit Unlustreizen die Lustreize ins Spiel setzen kann, wirkt dasselbe Verhältniss in dem Princip der ästhetischen Versöhnung dahin, dass bei richtiger Anordnung Unlustreize durch nachfolgende Lustreize compensirt werden können; so wird ein disharmonischer Accord in einen harmonischen aufgelöst, und eine Lage voll Gefahr und Noth wird in der Dichtung zu glücklichem Ende geführt: in dieser nachfolgenden Lust schwindet die Unlust Fechner II 238. In den darauf folgenden Abschnitten mag man dann bei Fechner die Verhältnisse der Summirung ästhetischer Eindrücke, der Abstumpfung, Gewöhnung, Uebersättigung, des Wechsels, Masses etc. überblicken, deren psychologischen Ort der nächste Satz andeutet. . Endlich bestehen Eigenschaften der Gefühle in Bezug auf ihre Dauer, ihr Wachsen und Abnehmen, welche ebenfalls die ästhetische Wirkung regeln und von Fechner im Princip der Summirung, Abstumpfung, Ue bersättigung, Gewöhnung wie des Wechsels behandelt worden sind.   Wir gehen weiter. Von der Verbindung und Abfolge der elementaren Gefühle und den so entstehenden Verhältnissen wenden wir uns zu dem Problem ihrer Reproduction oder Erneuerung. Wir betreten hier ein sehr dunkles Gebiet. Der Reproduction auf Grund von Association, die zwischen Vorstellungen obwaltet, entsprechen hier Vorgänge, die doch zugleich auf eine andere Art des Verhaltens von Gefühlen zu einander und zu Vorstellungen hinweisen. Hier halten wir uns an das Einfache und Sichere. Gefühle werden von den Bedingungen aus, welche sie ehemals hervorgebracht haben, so lange diese Bedingungen zu den Lebensbedürfnissen des Individuums dasselbe Verhältniss behalten, erneuert, mag man diese Erneuerung als Reproduction oder als eine wiederholte Entstehung aus denselben Antecedenzien auffassen. Die Thatsache eines Verlustes ruft so lange ein Schmerzgefühl bei der Wiederholung der Vorstellung hervor, als mit diesem Verlust eine Verminderung des Selbst verbunden bleibt; ist dies nicht mehr der Fall, so wird der Verlust gleichgültig vorgestellt. Indem nun aber eine Vorstellung mit einer anderen, welche einen Reiz für das Gefühl bildet, nach den Gesetzen der Association und Verschmelzung in Beziehung steht, wird diese erste Vorstellung durch ein Princip der Association Träger eines Gefühlsgehaltes. Jedes Ding, das durch das Leben uns verbunden ist, ist ja für uns wie erfüllt mit Allem, was wir über dasselbe erfahren haben oder was über ein ihm ähnliches Ding erfahren worden ist. Was kann nicht ein Duft, den wir einathmen, ein wehendes Blatt im Herbstwinde uns sagen! Dies dürre Blatt, das langsam zum Boden getragen wird, enthält als sinnliches Bild wenig, das einen ästhetischen Eindruck hervorrufen könnte; aber all die Gedanken, die von ihm aufgerufen werden, erneuern in uns Gefühle, die sich zu einem starken ästhetischen Eindruck vereinigen. Hierzu kommt, dass durch eine Art von Uebertragung der Gefühlsgehalt von einem Theil des Vorstellungsgefüges in einem Bilde, innerhalb dessen er entstand, sich auch auf die anderen Theile verbreitet, die zu ihm in keinem Verhältniss standen. Ein grosser Theil aller ästhetischen Wirkungen ist durch diesen Vorgang bedingt. Sofern der ästhetische Eindruck wie das Schaffen von diesem Vorgang der Erregung ästhetischen Gefallens durch Association (und Verschmelzung) abhängt, kann hierauf ein Princip der Association begründet werden; dies formulirt Fechner: „nach Massgabe, als uns das gefällt oder missfällt, woran wir uns bei einer Sache erinnern, trägt auch die Erinnerung ein Moment des Gefallens oder Missfallens zum ästhetischen Eindrucke der Sache bei, was mit anderen Momenten der Erinnerung und dem directen Eindruck der Sache in Einstimmung oder Conflict treten kann“ Fechner I 94. .   Dies Princip ist für alle ästhetischen Eindrücke ungemein wichtig. Die unmittelbaren, mit Empfindungen verknüpften Gefühlseindrücke erhalten durch Association eine beständige Unterstützung. Zum sinnlichen Wohlgefallen an den Tönen kommt von hier aus in der Musik das Princip der Bedeutung von Tönen und Rhythmen, da der Wechsel in Stärke und Höhe der Töne oder in Schnelligkeit ihrer Abfolge psychologisch zu dem Wechsel der Gefühle in gesetzmässiger Beziehung steht. Dies kann schon am Kinde wie am Thiere wahrgenommen werden. Ein sehr fruchtbares Gebiet experimenteller Psychologie und Aesthetik eröffnet sich hier. Auch für die Poetik ist dieses Princip von grosser Bedeutung. Denn das Erlebniss, welches den kernhaften Gehalt aller Dichtung bildet, enthält immer einen Gemüthszustand als ein Inneres und ein Bild oder einen Bildzusammenhang, Ort, Situation, Personen, als ein Aeusseres: in der ungelösten Einheit beider liegt die lebendige Kraft der Poesie. Daher repräsentirt nun das Bild selber oder ein ihm verwandtes einen Gemüthsgehalt; der Gemüthsgehalt versinnlicht sich in diesem oder einem verwandten Bilde. Jede Art von dichterischem Gleichniss, von dichterischer Symbolik läuft an diesem Faden. Wenn Shakespeare die innere Gebundenheit der Seele Hamlets an den Schatten seines Vaters und an seine Pflicht gegen ihn vorstellen will, rufen diese inneren Zuständlichkeiten ihm machtvolle äussere Bilder vor die Seele, welche zu ihnen gehören.   Wir gehen wieder weiter. Eine fernere Ursache des Wechsels unserer Gefühle ist diesen ganz eigenthümlich und in den Beziehungen derselben zu den Antrieben begründet, die über das Innewerden des Trieblebens, des Willens und der Hemmungen und Förderungen desselben hinausreichen. Dies Innewerden der Zustände des Willens in Gefühlszuständen hat, wie wir sahen, die elementaren Gefühle der beiden letzten Kreise zur Folge. Nun wird andererseits der Willensvorgang stets von Gefühlen in Bewegung gesetzt, und diese gehen beständig in Antriebe, Begehrungen und Willensakte über. Wie in manchen Zuständen vom Empfinden, vom Innewerden ein unmerklicher Uebergang in Gefühle stattfindet, so auch von diesen, in dem Umkreis von Verlangen und Regung gar verschiedener Art, in Willensvorgänge. Wir lehnen auch hier Hypothesen ab, und uns genügt, um das Recht der Sonderung für die empirische Betrachtung zu begründen, die innere Erfahrung von der Verschiedenheit der Vorgänge und die Thatsache, dass das Mass der Gefühlsstärke keineswegs das der Willenskraft ist; können doch starke Gefühle mit sehr schwachen Willensvorgängen verbunden sein. Der Uebergang unserer Gefühle in unsere Willensvorgänge steht nun unter dem Gesetz: wir streben, die Lustgefühle festzuhalten und von den Unlustgefühlen aus mindestens in eine Gleichgewichtslage zu gelangen. Der nächste Weg aus den Unlustgefühlen in die Gleichgewichtslage, wie ihn der Wille sucht, besteht in der Anpassung der Bedingungen des Lebens an die Bedürfnisse des Inneren: so entstehen die äusseren Willenshandlungen. Auf einem anderen aber sucht der Wille sich selber einer Wirklichkeit anzupassen, die er nicht ändern kann. Das Innere strebt, sich mit unverrückbaren äusseren Bedingungen in Einklang zu setzen. Dies geschieht durch innere Willenshandlungen. So ist Anfangs der religiöse Vorgang vorwiegend eine Weise, bei den räthselhaften umgebenden Mächten Entfernung des Schweren und Drohenden oder Erreichung des Erwünschten zu erwirken, also eine äussere Willenshandlung; darin aber liegt eben die Entwicklung der Religion zum Höheren, dass dann im Gemüth selber, in den sittlichen Kräften, in der inneren Willenshandlung der Umkehr die Versöhnung mit dem Unbezwinglichen gesucht wird. Daher muss der Aberglaube Platz machen, soll wahre innerliche Religiosität sich mächtig entfalten. Durch das tiefste Ringen des Willens werden so beständig die aufgedrungenen Unlustempfindungen der Gleichgewichtslage oder Lust entgegengeführt.   Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen aus in dem ästhetischen Schaffen, im ästhetischen Eindruck! Hier, wo sich Alles in der Phantasie abspielt, hindert nichts, von der Unlust in die Gleichgewichtslage frei überzugehen, wie alle Disharmonien im Musikstück in Harmonien aufgelöst werden. Aus dem Princip der Wahrhaftigkeit folgt, dass die Dichtung, als Abbild der Welt, den Schmerz nicht entbehren kann, ja dass eben die höchsten Lebensäusserungen der Menschennatur, ihre Verklärung, nur im Leid sichtbar gemacht werden kann. Hierin ist doch schliesslich das Recht der Tragödie gegründet, dass nur in ihr die höchste Macht und Verklärung des Willens zum Ausdruck gelangen kann. Aber aus der dargestellten Tendenz der Unlustzustände, in die Gleichgewichtslage oder in Lust überzugehen, ergiebt sich nun das ästhetische Princip der Versöhnung, nach welchem jedes Dichtwerk, das nicht nur vorübergehende Empfindungen ausdrücken, sondern eine andauernde Befriedigung hervorbringen will, in der Gleichgewichtslage oder in einem Lustzustande, jedenfalls also in einem versöhnenden Endzustande schliessen muss, läge auch dieser Endzustand nur in dem Gedanken, der über das Leben erhebt. Selbst das Schema des metaphysischen Mythos, wie Plotin oder Spinoza oder Schopenhauer ihn gedichtet haben, zeigt diese Rückkehr in den Frieden und die versöhnte Einheit. Das lyrische Gedicht, sofern es nicht Einen Ton erklingen, sondern einen inneren Vorgang sich ausleben lässt, strebt einer solchen Gleichgewichtslage zu, am schönsten das Goethes. Von der Tragödie Shakespeares ist oft genug gründlich gezeigt worden, dass sie diesem ästhetischen Princip entspricht, und es ist in dem so untechnischen Bau des Faust doch ein einziger Vortheil, dass er ganz und voll diesem Schema des Gefühlsvorgangs entsprechend verläuft. Auch die epische Dichtung grosser Form, als welche in irgend einer Art die ganze Welt und deren Ordnung erblicken lässt, muss einer Sinfonie gleichen, in welcher eine Disharmonie nach der anderen sich auflöst und schliesslich in mächtigen harmonischen Accorden das Ganze ausklingt Auch dieses ästhetische Princip ist von Fechner erwähnt worden, als Princip der ästhetischen Versöhnung II 238. .   In diesem Verhältniss ist zugleich das wichtige ästhetische Princip der Spannung mitbegründet. Freilich ist die Spannung etwas sehr Mannichfaches. In ihr ist auch die innere Nachbildung vorandrängender Antriebe, der Angst, der Erwartung etc. wirksam. Ebenso kann ein Denkvorgang, in welchem eine gestellte Frage zur Antwort strebt, Spannung bewirken, besonders in demjenigen Roman, dessen Knoten in einer Thatsache vor seinem Beginn liegt, wo dann die Erkenntniss dieser Thatsache die Auflösung herbeiführt. Wie von dem Motiv eines solchen Fortgangs die Erfindung ausgehen kann, zeigt eine Aeusserung Goethes, Manzoni führe durch Angst zur Rührung; wäre er jünger, so würde er Etwas schreiben, wobei er den Affect der Angst in Bewegung setzen, durch die vortreffliche Art, wie der Held sich benehme, Bewunderung damit verbinden und die Angst in Bewunderung sich auflösen liesse Goethe bei Eckermann I 377. . Uebrigens wäre das Motiv manchen Ritterromans dann von Goethe wieder zur Wirkung gebracht worden. 6. Die Gesetze, nach denen sich unter dem Einfluss des Gefühlslebens die Vorstellungen frei über die Grenzen des Wirklichen hinaus umwandeln. Das Schaffen des Dichters. Die Hilfsmittel der poetischen Technik.   So entstehen elementare Gefühle, verbinden, verstärken und erneuern sich, die Unlust ruft Antriebe hervor, in die Gleichgewichtslage oder die Lust überzugehen; die Lust strebt, sich zu erhalten: und dies ganze Gewebe der Gefühle, wie es von Vorstellungen und Antrieben bedingt ist, wirkt wieder auf die Bildung der Vorstellungen, auf die Kraft der Antriebe zurück. Haben wir hieraus ästhetische Principien elementarer Natur und dann solche zweiten Grades ableiten können, so blicken wir nun tiefer in die Entstehung eines poetischen Werkes und seines Eindrucks, wenn wir die Veränderungen betrachten, welche Vorstellungen und Vorstellungselemente unter dem Einfluss der Gefühle erleiden und durch welche sie über die Grenzen des Wirklichen hinaus umgebildet werden. Denn zunächst knüpft sich an Bewusstseinsbestandtheile, wie sie sind, ein ästhetischer Eindruck; diese Eindrücke summiren, verknüpfen und verstärken sich: die Principien, nach denen das geschieht, haben wir abgeleitet. Nun aber beruht die mächtige Wirkung der Kunst, der Dichtung eben darauf, dass nicht nur die Bestandtheile unseres Bewusstseins, die der Lauf des Lebens bringt und die von ästhetischer Wirkung sind, von uns genossen, sondern Bilder geformt werden, die in noch reinerer Art ästhetische Lust hervorbringen, unbekümmert um ihr Verhältniss zur Wirklichkeit, allein hervorgebracht, um diesem Bedürfniss nach gefühlter Lebendigkeit genugzuthun. Hier entsteht das am meisten schwierige Problem der psychologischen Grundlegung einer Poetik. Wir versuchen es aufzulösen.   Hierbei versetzen wir uns, entsprechend dem Dargelegten, in die Wirklichkeit einer von Lebenserfahrungen und Nachdenken über diese erfüllte Seele ─ denn so ist auch die des Dichters. Alle Gebilde des Seelenlebens setzen sich aus Wahrnehmungen als ihren Elementen zusammen; auch Dichtungen.   Der Beweis dieses Satzes liegt darin: auch wo Willensregungen, wissenschaftliche Erfindungen oder künstlerische Bilder das Wirkliche überschreiten, werden wir doch in ihnen keinen Bestandtheil finden, der nicht aus einer Wahrnehmung gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu umständlich, um hier geführt werden zu können.   Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen, kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu reden sein wird.   Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie, dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische Dichter.   Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem Wahnsinn verwandt.   Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine freie Gestaltung der Bilder, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt.   Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt. Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem 9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von La Chevrette bezog und „anfing zu leben“, bis zu seinem Tod, der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden. Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen, welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person stattfinden.   Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände ein merkwürdiges Problem. Die Natur selbst macht uns in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus zeigen. Wir finden uns gezwungen, in diesen so verschiedenen Fällen Ursachen für die Abwesenheit der Bedingungen aufzusuchen, welche sonst Vorstellungen reguliren und in klaren richtigen Verhältnissen zur Wirklichkeit erhalten.   Diese Verwandtschaft entsteht aus der Abwesenheit der Bedingungen, die sonst Vorstellungen reguliren; jedoch wird sie in dem Träumenden, dem Irren oder Hypnotischen durch Ursachen ganz andrer Art hervorgebracht, als in dem Künstler oder Dichter; dort ist der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens gemindert, hier wird seine ganze Energie in der Richtung freien Schaffens verwandt.   Es giebt eine Structur des Seelenlebens, so deutlich erkennbar als die des thierischen Körpers. Leben besteht überall in der Wechselwirkung eines beseelten Körpers mit einer Aussenwelt, die das Milieu desselben bildet. Aus dem Spiel der äusseren Reize entspringen beständig Empfindungen, Wahrnehmungen und Denken. Hierdurch werden auf der Grundlage des Allgemeingefühls Aenderungen in der Gefühlslage angeregt. Die Gefühle rufen dann Triebhandlungen, Spannungen des Begehrens und des Willens hervor. Die einen derselben erwirken äussere Willenshandlungen, und unter diesen sind die in den Zuständen des Körpers dauernd angelegten die mächtigsten: die grossen Antriebe der Selbsterhaltung, des Nahrungsbedürfnisses, der Fortpflanzung und Kinderliebe; nicht viel weniger mächtig sind dann, im Willen angelegt, das Ehrbedürfniss, die geselligen Triebe. Die andern erwirken innere Veränderungen im Bewusstsein. In dieser Structur ist die Steigerung des Lebens in der Thierreihe begründet. Die einfachste, nackte Form des Lebens gewahren wir, wo im Thier die Reizung, in der Gefühl und Empfindung ungetrennt sind, eine Bewegung hervorbringt. Im Kinde sehen wir den Uebergang von Reizen durch Empfindungen, und, von ihnen getrennt, doch an sie angeschlossen, durch Gefühle, zu Begehrungen, von da zu Bewegungen, noch ohne ein Einschalten im Gedächtniss gesammelter Vorstellungen. Aber die Empfindungen lassen Spuren zurück; im Gefühl und Begehren bilden sich Gewöhnungen aus: allmälig entsteht in dem sich entfaltenden Seelenleben zwischen der Empfindung und der Bewegung ein erworbener Zusammenhang des Seelenlebens.   In der Erfahrung sind uns nur Vorgänge sowie das Erwirken, das zwischen ihnen stattfindet und ebenfalls in die unmittelbare Erfahrung fällt, gegeben. Ist doch in der Art, wie ein Vorgang von anderen aus erwirkt wird, unser Begriff von Freiheit wie von Nothwendigkeit begründet. Zusammenhang der Vorgänge: das ist also der umfassendste Thatbestand, welcher in unsre psychische Erfahrung fällt oder durch sichere Combinationen aus ihr abgeleitet werden kann. Mag man behaupten, dass dieser Zusammenhang von Vorgängen durch hinter ihm liegende Kräfte oder eine hinter ihm wirkende seelische Einheit zusammengehalten werde, oder mag man es leugnen: im einen wie im anderen Falle überschreitet man den Kreis empirischer Psychologie und flüchtet in transscendente Hypothesen. Dieser methodischen Einsicht entspricht nun der an der Erfahrung aufzeigbare Begriff vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens und seinen Wirkungen auf die einzelnen im Bewusstsein verlaufenden Processe. Wir haben schon oben dargelegt, wie dieser Zusammenhang als ein Ganzes auf die Veränderungen, die innerhalb des Bewusstseins stattfinden, wirkt. Obwohl seine Bestandtheile nicht klar und deutlich vorgestellt und ihre Verbindungen nicht unterscheidbar herausgehoben werden, regulirt doch das in ihm erworbene Bild der Wirklichkeit unser Verständniss des gerade unser Bewusstsein beschäftigenden Eindrucks; die in ihm erworbene Abmessung der Werthbestimmungen bestimmt das Gefühl des Moments; das in ihm erworbene System der Zwecke unseres Willens, ihrer Verhältnisse und der für sie erforderlichen Mittel beherrscht die Leidenschaften des Augenblicks.   Es ist natürlich, dass das Wirken dieses ganzen Zusammenhangs in seiner so grossen Zusammensetzung auf die Veränderungen im Bewusstsein die schwierigste und damit höchste Leistung des Seelenlebens ist. Sie fordert auch die grösste Energie und Gesundheit der Gehirnfunctionen; in der Grosshirnrinde sind die Bedingungen für die Reproduction von Vorstellungen und ihren Verbindungen angesammelt; nur die höchste Energie des Gehirnlebens vermag eine so breite Wirksamkeit dieses ganzen Apparats zu ermöglichen, dass die entlegensten Vorstellungen in Berührung und Benutzung treten können. Es ist auch natürlich, dass das logische Schliessen eine viel geringere Energie des Bewusstseins verlangt, als diese Wirksamkeit des erworbenen seelischen Zusammenhangs; denn in ihm treten nur wenige Begriffe, dazu unter der Mitwirkung der auf sie concentrirten Aufmerksamkeit, in Beziehung zu einander. Die grossen Leistungen der Genialität so gut als die Selbstbeherrschung einer mächtigen Seele sind hier begründet; gerade wenn nach langer, tiefer Erregung dieses ganzen Zusammenhangs in angestrengter Arbeit dann das Gehirn geruht hat, entspringen plötzlich aus der Tiefe dieses erworbenen Zusammenhangs schöpferische Combinationen.   Dieser Apparat wirkt wie absichtslos dahin, dass unsere Vorstellungen und Begierden dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, in welchem die Wirklichkeit repräsentirt ist, angepasst bleiben. Es sind nun ganz entgegengesetzte Ursachen, durch welche diese Wirkung des regulirenden Apparates in jenen Zuständen versagt, die von der Norm des wachen Lebens abweichen, und durch welche diese regulirende Wirkung da wegfällt, wenn der Dichter seine die Wirklichkeit überschreitenden Gestalten und Situationen schafft. In dem ersteren Falle haben wir es mit einer Minderung der Wirksamkeit dieses erworbenen Zusammenhangs zu thun, in dem andern mit einer Verwerthung desselben, welche doch zugleich über die in ihm repräsentirte Wirklichkeit absichtlich hinausgeht.   Eine solche Minderung in der Wirksamkeit des erworbenen seelischen Zusammenhangs liegt zunächst im Wahnsinn vor. Gegenüber den einzelnen Reizungen, welche die subcorticalen Centren in die Hemisphären werfen, wirkt die Grosshirnrinde wie ein Ordnungs-, Hemmungs- und Regulirungsapparat. Nun versagt in Folge von Schwäche und krankhafter Erregung in der Geistesstörung die normale Leistung dieses Apparats. Reizungserscheinungen, wie die Hallucinationen, die an sich vom Bewusstsein ihres subjectiven Ursprungs begleitet sein können, erhalten nun, da jener grosse Regulirungsapparat versagt, den Charakter der Wirklichkeit und werden die Unterlage von Wahnideen. Pathologische Veränderungen des Gemeingefühls, krankhafte Minderungen oder Steigerungen desselben, welche sonst von dem erworbenen Zusammenhang der Werthbestimmungen aus regulirt und in ihrem subjectiven Ursprung erkannt werden, treten jetzt aus dieser Controle heraus und werden ebenfalls Unterlage von Wahnideen. Und nun entstehen, zumal wenn das Gedächtniss lückenhaft wird, jene Deutungen und Schlüsse, die von den pathologischen Veränderungen des Gemeingefühls eingegeben und von Hallucinationen gestützt sind, und die nun nicht mehr vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, wie er die Wirklichkeit repräsentirt und mit ihr in Harmonie ist, regulirt werden. Wer kennt nicht den grübelnden Scharfsinn des Irren, der auf solchen Grundlagen in logisch richtigen Formen seine Wahnideen beweist? Man hat sich gewöhnt, das Denken in dem Sinne logischen Schliessens als höchste Leistung der Intelligenz zu betrachten. Die metaphysische Philosophie mit ihrem Cultus der Vernunft im Sinne des abstracten Denkens hat auch hier ihren Einfluss geübt. Es nimmt dann Wunder, so viel Fähigkeit des Schliessens in einem zerrütteten Seelenleben erhalten zu sehen. Der Schluss ist ein Vorgang, durch welchen ich das, was direct nicht mit einander verglichen oder auf einander bezogen werden kann, mittelbar durch ein Zwischenglied zur Vergleichung oder Beziehung bringe. Rechnet man in die Leistung des Schlusses die Auffindung des Zwischengliedes, so kann ein materiell richtiger Schluss die höchste Leistung des Seelenlebens, die Wirksamkeit des ganzen erworbenen Zusammenhangs beanspruchen. Aber das ist gerade am Irren bemerkbar, dass er stoffarme Schlüsse bildet, dass also weder die Verknüpfung von Subject und Prädicat im Schlusssatz der Controle des erworbenen seelischen Zusammenhangs unterworfen ist, noch der Vorgang der Auffindung des Zwischengliedes. Seine Schlüsse sind daher materiell oft falsch, ja nicht selten lächerlich. Sie sind es, weil die Benutzung von Thatsachen, die seine Erfahrung ebenfalls umfasst hat, fehlt. Er muss dann, wenn ihm dieser Fehler entgegengehalten wird, um denselben zu verbessern, zu Einwendungen greifen, welche ihrerseits denselben Fehler enthalten. Die Berichtigung des Irren ist aus diesem Grunde in den meisten Fällen aussichtslos. Aber seine Schlüsse sind dabei in Rücksicht des äusseren Verhältnisses der gewählten Glieder zu einander unanstössig; er denkt formell richtig.   Niemand kann bestreiten, dass es Uebergänge giebt, welche continuirlich aus dem gesunden Leben zu dieser Aufhebung der Regulirung durch den erworbenen Zusammenhang, der die Wirklichkeit repräsentirt, hinführen. Schon wo im gewöhnlichen Leben eine sehr grosse Reizbarkeit des Gefühls an einer bestimmten Stelle des Seelenlebens sich mit einer geringeren Energie des zusammenfassenden Bewusstseins verbindet, entsteht eine Verschiebung der wahren Werthe der Dinge, daher stammend eine einseitige Reizbarkeit und gleichsam eine Willkürherrschaft eines Vorstellungsinbegriffs. Tadelt Jemand einem Gartenliebhaber solcher Art seine Tulpen, so kann derselbe ihn hassen. Wir sind dann geneigt, dies als eine gelinde Verrücktheit zu betrachten. Die Grenze ist eben allein der pathologische Zustand des Gehirns, und nur ihr äusseres Merkmal, an das die gerichtliche Medicin sich doch beim Lebendigen halten muss, liegt in einer solchen Minderung der Gehirnleistung, die den erworbenen seelischen Zusammenhang, wie er die erarbeitete Auffassung der Wirklichkeit sowie die Harmonie des Fühlens und Handelns mit ihr repräsentirt, nicht mehr ausreichend für die Verantwortlichkeit des Handelns wirken lässt; dies tritt dann ein, wenn in Folge solcher Minderung der Energie des Zusammenhangs die Handlungen des Betreffenden eine Präsenz der erforderlichen Beweggründe nicht mehr in solchem Grade voraussetzen lassen, dass dadurch die sittliche Verantwortlichkeit ermöglicht wird.   Der Traum zeigt ebenfalls Bilder, welche die Grenzen der Wirklichkeit überschreiten, doch aber vom Glauben an ihre Realität begleitet sind, und auch hier ist eine solche Herabminderung der Energie des seelischen Zusammenhangs und eine begleitende Veränderung der Gehirnleistung die Bedingung. Mit dem Eintritt und während der Dauer des Schlafes findet eine Veränderung der Blutbewegung im Gehirn statt So nach den Untersuchungen von Donders, von Rählmann und Wittkowski, sowie von Mosso. . Die Leistung der Grosshirnrinde wird modificirt. Zugleich treten durch die Sinnesorgane nur vereinzelte und unbestimmte Eindrücke. An diese wie an die innerhalb des Organismus selbst angeregten Veränderungen knüpfen sich nun Associationen und Schlüsse, welche nicht durch den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens bestimmt und regulirt sind. So treten z. B. Organgefühle, welche im Wachen fest bezogen sind, nun unbestimmt in ihrer Extension auf, ohne die ursächlichen Beziehungen, die sonst zu Gebote stehen, und daher rufen nun etwa Athembeschwerden Bilder eines lastenden Körpers hervor. Ebenso sind die Verbindungen, welche jetzt zwischen den einzelnen Traumbildern durch das Denken hergestellt werden, unregulirt und daher oft sonderbar. Vom Traum führt das Schlafwandeln, als die Durchführung der Traumhandlung in einem vollständigen Drama ─ vielleicht das merkwürdigste Beispiel einer der dichterischen verwandten Einbildungskraft in den von der Norm des wachen Lebens abweichenden Zuständen ─ hinüber zum hypnotischen Zustande. Auch hier ist der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens herabgesezt. Die so zur Herrschaft gelangende Traumhandlung hat hier das charakteristische Merkmal der Abhängigkeit vom hypnotisirenden Willen. Der Hypnotisirte ist gleichsam ein Nachahmungsautomat.   Die Ueberschreitung der Wirklichkeit im Schaffen des Dichters stammt aus Ursachen von ganz entgegengesetzter Art. Die ganze Energie einer gesunden und mächtigen Seele ist hier wirksam; eine reiche und weite Erfahrung wird benutzt; das Denken hat sie geordnet und verallgemeinert. Die Umgestaltung der Bilder vollzieht sich also in einer Seele, in welcher der ganze erworbene Zusammenhang, der die Wirklichkeit repräsentirt, gegenwärtig und wirksam ist. Zweckbewusster Wille wandelt die Bilder über die Grenzen des Wirklichen hinaus, daher bestehen auch erhebliche Unterschiede zwischen der Metamorphose der Bilder im Schaffen des Dichters und in den Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Dem Dichter ist der Zusammenhang der Wirklichkeit gegenwärtig, und er trennt seine Bilder von diesem Zusammenhang; er unterscheidet die Wirklichkeit und das Reich des schönen Scheins. So sehr diese Bilder dem Charakter von Wirklichkeit sich annähern können, sie bleiben doch stets durch irgend eine feine Grenze von dieser geschieden. Der Dichter lebt in einer Traumsphäre während seines Schaffens, in welcher diese Bilder Realität empfangen; aber sie erhalten dieselbe nicht durch die dunkle Naturgewalt von Hallucinationen, sondern durch die Freiheit des schöpferischen Vermögens, welches sich selber besitzt. Und wie der Zusammenhang des Seelenlebens auf die Gestaltung dieser Bilder energisch wirkt, wird durch ihn ein dem Zweck des Kunstwerks entsprechendes Verhältniss derselben zur Wirklichkeit erhalten; wenn die Bilder dieses verlieren, hören sie auf, das Gemüth zu bewegen. Das Typische, das Idealische in der Dichtung ist eine solche Art, vermittelst der Erfahrung dieselbe so zu überschreiten, dass sie doch mächtiger gefühlt und tiefer verstanden wird als in den treuesten Copien des Wirklichen.   Diese Art des Glaubens an Bilder von Unwirklichem und die so entstehende Illusion können am besten verglichen werden mit dem, was im spielenden Kinde stattfindet. Die Dichtung ist dem Spiel verwandt, wie Schiller ausgeführt hat. Die Energie des Seelenlebens im Kinde wird im Spiel wirksam und frei, da sie einen anderen Spielraum noch nicht besitzt; der Wille, welchem noch nicht von der Wirklichkeit ernstliche Zwecke gegeben sind, setzt sich selber solche, die ausserhalb des Zusammenhangs der Wirklichkeit liegen. Das Kennzeichen des Spiels ist dann in dem späteren Leben, dass die in ihm stattfindenden Handlungen keine Causalität für den Zweckzusammenhang dieses Lebens haben. So trennt sich das Spiel von dem Ernst des wirklichen Lebens, und darin stimmt es mit der Kunst, mit der Dichtung überein. Die Illusion, die so entsteht, ist in den willkürlichen Seelenvorgängen gegründet und hat daher an dem Bewusstsein dieses Ursprungs ihre Grenze.   Auch die Gesetze, nach denen nun in so verschiedenen Zuständen Bilder und deren Verbindungen sich frei über die Grenzen des Wirklichen hinaus entfalten, werden leichter aufgefasst, wenn wir die Vergleichung dieser Zustände zu Grunde legen. Die Natur selber lässt uns hier, unter sonst ganz wechselnden Umständen, überall freie Entfaltung der Bilder gewahren.   Diese Vorgänge sind von denen des Gedächtnisses nicht so getrennt, als in der Regel angenommen wird. Jedes Erinnerungsbild wird aus erworbenen Bestandtheilen aufgebaut, aber die augenblickliche Bewusstseinslage entscheidet darüber, welche dieser Bestandtheile zum Aufbau des Bildes benutzt werden. Denn dasselbe Bild kehrt so wenig wieder als an einem Baum im neuen Frühling dieselben Blätter. Vergegenwärtige ich mir eine abwesende Person, so entscheidet die Bewusstseinslage, in der dies geschieht, über die Stellung der Gestalt, den Ausdruck des Antlitzes.   Bilder verändern sich, indem Bestandtheile ausfallen oder ausgeschaltet werden.   Im Traum und in der geistigen Störung fallen Eigenschaften der Bilder aus, welche in der Wirklichkeit von denselben unzertrennlich sind, weil sie in dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, der doch den der Wirklichkeit repräsentirt, gegeben und durch ihn gleichsam befestigt sind. So bindet sich der Traum nicht an die Bedingungen der Zeit und des Raums oder an das Gesetz der Schwere. Der Tobsüchtige verbindet, in scheinbarer Steigerung des Combinationsvermögens, Bildbestandtheile, ohne dass ihm dabei die Widersprüche zwischen ihren Eigenschaften bewusst werden. Dagegen das Schaffen des Künstlers, des Dichters wirkt durch absichtliche Ausschaltung widerspenstiger Züge, es erstrebt eine Klarheit und Uebereinstimmung der Bildbestandtheile, welche freilich für sich nur die flache Harmonie des leeren Ideals wäre, wirkten nicht andere Gesetze noch auf die Umgestaltung der Bilder.   Bilder verändern sich, indem sie sich dehnen oder zusammenschrumpfen, indem die Intensität der Empfindungen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sich verstärkt oder vermindert.   Der Traum lässt die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle sich ausdehnen und verstärken. Abgesehen von der directen Einwirkung der physiologischen Bedingungen auf die Empfindungen, sind in ihm die Vorstellungen von der Concurrenz der Aussenbilder befreit und der Einwirkung des erworbenen Zusammenhangs der Wirklichkeit in einem gewissen Grade entnommen. So, dazu noch unter dem Einfluss der Gefühle, glühen nun in ihm die Farben intensiver, die Klänge, die er zurückführt, tönen mächtiger oder bestrickender: leise Schallreize vergrössern sich ins Ungeheure und die Gestalten wachsen vor unsern Augen ins Weite, oder während des Traums vermehrt sich die Zahl gleichartiger Bilder. Hoffnung und Furcht geben ebenfalls den Bildern ein die Beschaffenheit der Dinge Ueberschreitendes. Melancholie lässt die Farben der Wirklichkeit verblassen. Die Hypochondrie steigert die Bilder, in denen die Ursachen der Gemüthsbelastung angeschaut werden, über das Thatsächliche hinaus. Aber noch enthält im Hypochondrischen der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ein Correctiv, insbesondere durch die Werthbestimmungen. Der Hypochondrische muss unter Menschen. Die Regulirung seiner Gefühle findet hier immer wieder statt. Er ist schon kränker, wenn er die Einsamkeit sucht, um solche Störungen seiner Einbildung zu vermeiden. Die Geisteskrankheit hat solche Controle nicht mehr. Nun steigert und erweitert sich im Verfolgungswahn das Bild der Handlung einer Person, die dem Kranken den Willen kreuzt, zur Carricatur einer feindlichen Macht etc.   Derselbe Vorgang von Veränderung der Elemente nach ihrer Intensität und Ausdehnung unter dem Einfluss der Gefühle kann nun in dem Dichter beobachtet werden. Insbesondere gewahrt man an den englischen Dichtern, ja an Geschichtsschreibern wie Macaulay und Carlyle, wie ihnen das Gefühl gleichsam in das Auge tritt: schon ein einfacher Brief von Dickens oder Carlyle oder Kingsley enthält diese nervöse Steigerung der Wirklichkeit, wie in einem vergrösserenden Spiegel; die Felsen werden schroffer, die Wiesen saftiger, wenn ihr Auge darüber hingeht. Und diese Gefühlsgewalt in den Bildern entlädt sich dann in jenem eigenthümlich englischen Humor, der ebenfalls durch Steigerungen wirkt und bald das Feine fast verflüchtigt zu Schatten, bald das Starke launenhaft und bizarr dem Aeussersten von Kraft oder Wildheit annähert. Bei Shakespeare und Dickens steigert sich dies zu einer Art von künstlichem Lichte: die Bilder stehen unter elektrischer Beleuchtung und Vergrösserungsgläser wirken. Die Verklärung in den Erinnerungsbildern und die Steigerung in den Zukunftsvorstellungen ist dadurch bedingt, dass Vorstellungsinhalte sich wie im freien Raum ausbreiten und umbilden. So bewirkt eine innere Verwandtschaft, dass das Erinnerungsbild und der Zukunftstraum dem Dichter seine Vorstellungen vorbereiten.    Ausschaltung und Steigerung bewirken überall in der Kunst die Idealisirung der Bilder. Und zwar geschieht das schon bei den absichtslosen Vorgängen der Erinnerung in einer erregbaren Seele. Da wird das Bild einer Landschaft oder einer Person nicht in einem todten Gedächtnissvorgang zurückgerufen, sondern von unserer Gefühlslage aus baut es sich von Neuem auf. Nicht alle Bestandtheile der früheren Wahrnehmung gehen in das neue Gebilde ein, sondern nur was in der gegenwärtigen Bewusstseinslage interessant ist. Und nicht genau in derselben Stärke und Ausdehnung, welche dem Wahrnehmungsbilde eigneten, treten nun die Elemente auf; sie werden vielmehr auch in dieser Rücksicht einigermassen von ihrem Verhältniss zu der gegenwärtigen Lage bestimmt. Indem nun in dem Dichter die Absicht einer getreuen Nachbildung, welche die Erinnerungsbilder regulirt, wegfällt, dagegen der Wille hinzutritt, diese Bilder für das Gefühl befriedigend zu gestalten, erzeugen solche Ausschaltungen, Steigerungen, Minderungen eine fortschreitende Idealisirung der Bilder. Auch in den höchsten Leistungen der Einbildungskraft bewirken diese Ausschaltungen die Harmonie in Charakteren sowie in Handlungen, und die Verstärkungen steigern den Gefühlsgehalt. Doch beide Hilfsmittel würden nicht ausreichen, eine Dichtung mit befriedigendem Leben zu erfüllen: das wichtigste tritt nun hinzu.   Bilder und ihre Verbindungen ändern sich, indem in ihren innersten Kern neue Bestandtheile und Verbindungen eintreten und so diesen ergänzen.   Eine Phantasie, die nur auslässt, verstärkt oder vermindert, vergrössert oder verkleinert, ist schwächlich und erreicht nur flache Idealität oder Carricatur des Wirklichen. Ueberall wo ein wahres Kunstwerk entsteht, findet eine kernhafte Entfaltung der Bilder durch positive Ergänzung statt. Dieser Vorgang ist sehr schwer verständlich. Zunächst wird nach den Gesetzen der Association und Verschmelzung eine Wahrnehmung oder Vorstellung dadurch umgebildet, dass eine andere in sie eintritt oder mit ihr associirt wird. Aber die Association enthält kein Princip, welches über das Wirken der thatsächlichen Angrenzung hinausführt, und die Verschmelzung stellt nur Ineinssetzung her. Erst indem der ganze erworbene Zusammenhang des Seelenlebens wirkt, können nun von ihm aus die Bilder sich umgestalten: unzählbare, unmessbare, geringmerkliche Veränderungen in ihrem Kern finden statt, und aus der Fülle des Seelenlebens entspringt so die Ergänzung des Einzelnen. So wird aus Bildern und ihren Verbindungen das Wesenhafte eines Thatbestandes, welches im Zusammenhang der Wirklichkeit demselben seine Bedeutung giebt, gewonnen. Selbst der Styl des Künstlers ist auf diese Weise beeinflusst.   Für die Dichtung, die vom Erlebniss ausgeht, ist derjenige Vorgang der Ergänzung besonders wichtig, in welchem ein Aeusseres durch das Innere beseelt oder ein Inneres durch das Aeussere sichtbar und anschaulich gemacht wird. Inhalte und Beziehungen, die in der inneren Erfahrung erworben sind, werden in die äussere getragen. Hierauf beruht schon das metaphysische Bilden innerhalb des natürlichen Denkens. So entstehen die Beziehungen von Ding und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung, von Wesen oder Essenz zu dem, was für das Wesen zufällig ist. Die Erstreckung solcher Beziehungsformen durch unsere Erfahrungen beruht überall auf der Ergänzung des Aeusseren durch ein oftmals mit ihm verbundenes Innere, auf Grund der primären Thatsache, dass wir selber Inneres und Aeusseres zusammen sind. Aus dieser Belebung der Empfindungsaggregate treten allmälig in einer Entwicklungsreihe, welche durch Sprache und wissenschaftliches Denken hindurchgeht, die Kategorien in ihrem abstracten begrifflichen Charakter hervor.   Dies Verhältniss des Inneren zum Aeusseren ist überhaupt die am meisten kernhafte und centrale Verbindung, durch welche wir unsere Erfahrungen zu einem Ganzen verknüpfen. Die Art, wie hier Zustand und Bild als Inneres und Aeusseres sich verweben, wird nicht erworben, sondern ist in dem psychophysischen Wesen des Menschen angelegt; gleichsam eine Erweiterung oder Projection des eigenen Lebensbefundes findet hier statt; diese Anlage wird dann durch das Leben entwickelt. Hier liegt der tiefste Grund der Sprache, des Mythos, der Metaphysik, der Begriffe, durch welche wir die Welt concipiren, ja selbst elementarer Rechtsvorstellungen; so ist die Vorstellung des Eigenthums der nothwendige äussere Ausdruck für ein Erlebniss des Willens. Hier liegt nun auch der Grund dafür, dass der Dichter Bilder zum Ausdruck einer inneren Zuständlichkeit gestaltet, so dass sie dasselbe innere Leben in Anderen hervorrufen.   Wir gelangen nun zu einer allgemeineren Betrachtung. Die Umbildungen, die auf Grund der Gefühle und Antriebe vom gesammten erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus durch die drei eben angegebenen Arten von Veränderung erwirkt werden, sind lebendiger Vorgang. Denn das Bild, das so hervorgebracht wird, entsteht nicht wie durch Einen Griff, sondern nach dem Gesetz der Aufmerksamkeit als eines begrenzten Quantums von Kraft vermag das Seelenleben diese Gebilde nur in einer Zeitreihe hervorzubringen. In dieser verknüpft es bekannte Elemente, aber in der Art, wie es sie fügt, die gesuchten festhält und neue anschliesst, liegt das Constructive, das dem Künstler, wie dem Mathematiker eigen ist. Da nun im Künstler diese Construction von der Stimmung, der Gefühlslage ausgeht, hat der Vorgang in ihm etwas Triebartiges; die Art und Weise, in welcher die Veränderungen stattfinden, ist Entfaltung. Trieb und Entfaltung entsprechen einander. An dieser Stelle erkennen wir, dass nicht todte Verhältnisse von Association und Reproduction das ganze geistige Leben beherrschen. Das Auftreten eines Bildes ist lebendiger Vorgang; Bilder kehren nicht einfach wieder. Es giebt ferner eine Eingewöhnung in bestimmte Beziehungen zwischen Vorgängen. Wie Bilder die Leichtigkeit der Reproduction gewinnen, so entstehen auch Gewöhnungen an gewisse Beziehungen, an den Fortgang von einem Element zum andern. Der Styl eines Künstlers ist eine solche, in seinem Wesen gegründete Gewöhnung, Gewänder in Holz oder anderem Material sich vorzustellen und danach zu bilden, die Körper in das Schlanke zu strecken.   Wir nennen das gesetzliche Verhältniss, nach welchem an einen Thatbestand eine befriedigende Erregung des Gefühls oder ein Bestandtheil einer solchen gebunden ist und entsprechend das künstlerische Schaffen in der Herstellung eines solchen Thatbestandes Befriedigung sucht, ein ästhetisches Princip. Ein solches Princip wirkt im inneren Bilden einer künstlerischen, einer dichterischen Seele zunächst schon unwillkürlich, ohne die Absicht, Anderen einen Eindruck zu machen. Sofern ein solches Princip, wie wir später näher sehen werden, zugleich als Grund eines befriedigenden Eindruckes auf Andere erscheint, welchem sich kein Leser oder Hörer zu entziehen vermag, kann die Formel desselben auch die Gestalt einer Regel annehmen, an welche allgemein der Eindruck geknüpft ist. So kann das Princip als allgemeingültige Norm bezeichnet werden. Indem die dargelegten Principien nun von dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus in einer dichterischen Seele Transformationen der Bilder erwirken, welche den Gefühlen eine Befriedigung gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren Ordnung.   Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der poetische Eindruck eine aufsteigende Entwicklung der Poesie fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip, dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden, sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen. Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang, von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen Begründung haben wir die vollständigere psychologische Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe. Bestätigende Selbstzeugnisse der Dichter.   Wir verdeutlichen nun das Zusammenwirken dieser Vorgänge von Ausschaltung, Steigerung und Ergänzung, indem wir das Gebiet durchmustern, in welchem Bilder frei werden und sich wie im leeren Raume ungehindert entfalten. Wir schreiten dabei vom Einfachen zum Zusammengesetzten voran. So gelangen wir zu den Selbstzeugnissen des ästhetischen Schaffens, welche wir von Dichtern besitzen. Ich gebe die folgenden; Andere mögen deren Zahl vermehren, damit eine vollständige Sammlung derselben entsteht.   Der einfachste Fall solcher Entfaltung liegt in den Schlummerbildern. Diese können, mit Goethe zu reden, als Urphänomene des dichterischen Schaffens betrachtet werden. Auf die Vorgänge von Unterscheiden, Vergleichen, Verschmelzung, Association, Apperception etc. können sie augenscheinlich nicht zurückgeführt werden. Goethe beschreibt sie so Goethe, G. W. Ausgabe Hempel Bd. 34 S. 124 ff. : „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich aus einander, und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmässig, wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixiren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnt' ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe dachte, welche denn ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte.“ Vergleiche ich diese und andere Schilderungen der Schlummerbilder, wie besonders die classische von Joh. Müller (phantast. Gesichtserscheinungen, S. 20), mit meinen eigenen Erfahrungen, dann muss ich zur Erklärung von der stillen Aufmerksamkeit auf das ganze Sehfeld mit seinen farbigen Nebeln ausgehn; die Vertheilung der Empfindungselemente in demselben lässt uns unter diesem Einfluss des Aufmerkens irgend eine gewohnte Verbindung dieser Elemente in sie verlegen, oder die so angeregte Verbindungsweise macht sich freier gemäss den eben dargelegten Gesetzen geltend (Goethe S. 127). Und zwar findet nach unseren psychologischen Darlegungen hier ein Vorgang statt, der etwas Triebartiges hat und als Entfaltung der Bilder sich darstellt. Diese Entfaltung über das Wirkliche hinaus in den Schlummerbildern ist die Verification unsrer psychologischen Darstellung. In den Wahlverwandtschaften, welche im Geiste unseres Jahrhunderts die physiologische Bedingtheit der höchsten Offenbarungen des Gemüthslebens aufzeigen, wird diese Kraft der Goethe'schen Phantasie auf Ottilien übertragen: zwischen Schlaf und Wachen erblickt sie in einem erleuchteten Raum den abwesenden Geliebten in wechselnden Stellungen und Situationen.   Zunächst erweitern wir den Umkreis der Betrachtung durch die angrenzenden Thatsachen. Dem Vorgang in den Schlummerbildern ist der verwandt, in welchem Arabeske oder Ornament entstehen. Jedoch ist hier die Willensbetheiligung wirksam, und so entsteht hier willkürliches Bilden und Schaffen in künstlerischer Absicht. Die Gewöhnungen des Vorstellens wirken, Symmetrie und Einheit in der Mannigfaltigkeit herzustellen. Erfahrungen über mechanische Beziehungen zwischen den Massen, zwischen Kraft und Last üben ihren Einfluss. Schliesslich überschreitet aber der Vorgang des Schaffens, wie vielfach er auch in den Erfahrungen bedingt ist, Alles in diesen Gegebene.   Diesen Erscheinungen auf dem Gebiet der Gesichtsvorstellungen entspricht eine andere Reihe aus dem der Gehörsvorstellungen: das Spielen des Kindes mit dem Tonwechsel. Wie dasselbe der Ausdruck überschüssiger Kraft ist, ist es in der Morgenfrühe beim Kinde am stärksten. Höhe und Tiefe der Töne, Stärke und Schnelligkeit in ihrer Abfolge und selbst der Vocalwechsel stehen zu den Stimmungen des Kindes in gesetzmässigen Beziehungen. Auf diesem Verhältniss sind dann der Ausdruck in der Musik, gewisse natürliche Elemente aller Sprachen (nämlich das Symbolische im Tonmaterial, das zu geistigen Vorgängen in festen Beziehungen steht), sowie Betonung und Rhythmus in der Rede begründet.   Das beständige Bilden und Umbilden, welches im Dichter stattfindet, wird fassbarer, wenn man es an diese einfacheren Thatsachen der Einbildungskraft hält. Wo wir in ein Dichterleben blicken können, sehen wir, wie von diesem unablässigen inneren Gestalten und Versuchen nur Weniges zur Ausführung kommt. Auch das ist im Tasso ergreifend ausgesprochen. Und es hat sein Analogon in dem unablässigen Wechsel der Gestalten, welchen der Traum, dieser verborgene Poet in uns, hervorbringt.   An die Schlummerbilder schliessen sich einerseits die Gestalten des Traumes, andrerseits die Schöpfungen des Dichters an. Johannes Müller selber hebt hervor, wie diese Bilder unmerklich „in die Traumbilder des Schlafes übergehen.“ Die allgemeine Form des Geschehens im Traum ist die an den Schlummerbildern beobachtete; die in den Sinnesfeldern gegebenen Elemente reproduciren die Bilder oder die Gewöhnungen von Verbindungen zwischen Bildelementen; Transformationen nach den dargelegten Gesetzen finden statt, und nun führt die Aufmerksamkeit in dem Zeitverlauf, dessen sie zur Herstellung der Bilder bedarf, ein triebartiges Entfalten, Umwandlung eines Bildes in das andere herbei. Ueber das Verhältniss der Schlummerbilder zu dem Schaffen des Dichters sagt Goethe in einer an die mitgetheilte Beschreibung angeschlossenen Betrachtung (S. 127): „man sieht deutlicher ein, was es heissen wolle, dass Dichter und alle eigentlichen Künstler geboren sein müssen. Es muss nämlich ihre innere productive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervorthun, sie müssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehn, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche Wesen zu werden.“   Hiermit steht das Traumartige in Verbindung, das zuweilen im dichterischen Schaffen bemerkbar ist. So erzählt Goethe Eckermann, III 304. von einigen Balladen: „Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf; sie beschäftigten meinen Geist als anmuthige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen.“ Er fügt dann hinzu: „zu anderen Zeiten ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, so dass ich sie auf der Stelle instinctmässig und traumartig niederzuschreiben mich gedrungen fühlte.“ Dieses Unwillkürliche, ja dies Traumbilden im dichterischen Schaffen, doch auf der Unterlage ehrlicher Arbeit, die voraufgegangen, schildert auch Carlyle an Shakespeare: „Shakespeare ist, was ich einen unbewussten Verstand nennen möchte. Die Werke eines solchen Mannes wachsen, soviel er auch durch den höchsten Aufwand bewusster und vorbedachter Thätigkeit erreichen mag, unbewusst, aus unbekannter Tiefe in ihm hervor.“    Jean Paul sagt in einer Stelle seiner Vorschule, Vorschule der Aesthetik. Ausgabe Hempel S. 222. die doch auch in der Form eines ästhetischen Satzes ein Selbstbekenntniss des Dichters enthält: „der Charakter selber muss lebendig vor Euch in der begeisterten Stunde fest thronen, Ihr müsst ihn hören, nicht bloss sehen; er muss Euch, wie ja im Traume geschieht, eingeben, nicht Ihr ihm, und das so sehr, dass Ihr in der kalten Stunde vorher zwar ungefähr das Was, aber nicht das Wie voraussagen könntet. Ein Dichter, der überlegen muss, ob er einen Charakter in einem gegebenen Falle Ja oder Nein sagen zu lassen habe, werf' ihn weg, es ist eine dumme Leiche.“ Dazu kommt dann in der Anmerkung aus seinen Briefen S. 147. Hempel Bd. 38 S. 54: „der echte Dichter ist ebenso (wie der Träumende) im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere, er schaut sie, wie im Traum, lebendig an, und dann hört er sie. Viktors Bemerkung, dass ihm ein geträumter Gegner oft schwerere Einwürfe vorlege, als ein leibhafter, wird auch vom Schauspieldichter gemacht, der vor der Begeisterung auf keine Art der Wortführer der Truppe sein könnte, deren Rollenschreiber er in derselben so leicht ist.“ Von Richard Wagner wird mir (durch H. von Stein) die mündliche Aeusserung mitgetheilt, er habe in Paris, mit den deutschen Sagen beschäftigt, alle seine Stoffe zugleich vor sich gesehen. Siegfried, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Parzival, auch die Meistersänger, und zwar in ganz bestimmten Einzelanschauungen, so eine Scene aus den Meistersängern, eine bestimmte sagenhafte Begegnung.   Mit den Aeusserungen Goethe's und den verwandten Selbstzeugnissen ist zunächst das Selbstzeugniss eines russischen Dichters Gontscharof ganz im Einklang: „immer schwebt mir eine bestimmte Gestalt und dabei ein Hauptmotiv vor: an seiner Hand schreite ich vorwärts und ergreife unterwegs, was mir zufällig in die Hände fällt, d. h. nur was sich darauf näher bezieht. Dann arbeite ich emsig, fleissig, so rasch, dass die Feder kaum den Gedanken folgen kann, bis ich wieder auf eine Mauer stosse. Unterdess arbeitet mein Kopf weiter; die Personen lassen mir keine Ruhe, erscheinen in verschiedenen Scenen; ich glaube Bruchstücke ihrer Gespräche zu hören, und schon oft ist es mir vorgekommen, als seien das nicht meine Gedanken, sondern als schwebe dies Alles um mich her, und ich brauche nur hinzusehen, um mich hineinzuversetzen.“   Andere Selbstzeugnisse gestatten einen noch tieferen Blick in den Vorgang. Sie erläutern, was wir über den Einfluss der Gefühle auf das dichterische Schaffen erörtert haben. Stimmung, Gefühlslage werden in diesen Zeugnissen als Ausgangspunkt des Vorgangs herausgehoben. Ich beginne mit Schiller an Körner, 25. Mai 1792. : „Ich glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur ein Bedürfniss nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergiessung strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt. Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ Bei Entstehung des Wallenstein Schiller an Goethe, 18. März 1796. : „Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.“ Alfieri erzählt von sich in seiner Selbstbiographie, die meisten seiner Tragödien seien ihm während oder nach dem Anhören von Musik aufgegangen. Und Kleist bemerkt: „Ich betrachte die Musik als die Wurzel oder vielmehr, um mich schulgerecht auszusprechen, als die algebraische Formel aller übrigen Künste, und so wie wir schon einen Dichter haben (Goethe), der alle seine Gedanken über die Kunst, die er übt, auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner frühesten Jugend an alles Allgemeine, was ich über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, dass im Generalbass die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind.“ „Wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos des menschlichen Gemüths hervorgeht, so muss es auch nothwendig der ganzen Menschheit angehören.“   Fügt man das in diesen Bekenntnissen über das Verhältniss der Gefühle und Stimmungen zu den dichterischen Bildern Enthaltene an die vorhergehenden über die Entfaltung der Bilder und ihrer Beziehungen, dann erscheinen mir die öfters schon herausgehobenen Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs nicht mehr so paradox, obwohl ja Ueberreizung seines Nervensystems nicht ohne Einfluss auf die von ihm dargelegten Vorgänge dichterischen Schaffens in seiner Seele gewesen ist. Von den drei Berichten, welche er darüber gegeben hat In den Skizzen und Fragmenten ein Bericht aus dem Tagebuch des Dichters März 1840, (Nachlass I 45), Shakespearestudien (II 303), und aus dem Nachlasse „zum Verständniss der eigentümlichen Methode von O. Ludwig's Schaffen“, I 134. , ist der vollständigste und klarste der folgende: „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in irgend einer Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander, und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin: bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such' ich ebenso die Gelenke der Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr aus, wie ein Hebbel'sches Stück, Alles ist abstract ausgesprochen, jede Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterentwicklung gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr wirkliches Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen und charakteristischen Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte es nun so lassen, und vor dem Verstande würde es so besser bestehen als nachher. Auch an zeitgemässen Stellen fehlt es nicht, die dem Publicum gefallen könnten. Aber ich kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir kein poetisches Kunstwerk, auch die Hebbel'schen Stücke kommen mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem Kunstwerk, nicht wie ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es ist ein Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung noch anmerkt.“   Schliesslich mag solchen Selbstzeugnissen wahrer Dichter das eines unterhaltenden Fabulanten folgen, wie ein Satyrspiel auf den Ernst der tragischen Trilogie. Es zeigt, wie die Gestaltung der Bilder von den Trieben und Begierden aus, die uns als Wünsche und Hoffnungen umgaukeln, in der Jugend zumal, der Ausgangspunkt einer geringeren Dichtungsweise werden könne. Antony Trollope schreibt in seiner Selbstbiographie: An Autobiography by Anthony Trollope, vol. I, p. 56. „Hier gedenke ich nun einer anderen Gewohnheit, mit mir von ganz frühen Jahren erwachsen, welche ich selbst oft mit Missvergnügen betrachtete, gedachte ich der darauf verschwendeten Stunden, welche jedoch, wie ich vermuthe, dahin wirkte, mich zu dem zu machen, was ich bin. Als ein Knabe, ja schon als ein Kind war ich viel auf mich selbst angewiesen. Ich habe schon, als ich von meiner Schulzeit sprach, erwähnt, wie es kam, dass andere Knaben nicht mit mir spielen wollten. So war ich allein und hatte meine Spiele mir selbst zu schaffen. Irgend ein Spiel war mir nothwendig, damals wie immer. Studiren war nicht meine Neigung, und ganz müssig zu sein konnte mir nicht gefallen. So kam es, dass ich immer umherging mit einem Luftschloss, das sich in meinem Innern fest aufbaute. Weder war diese Bauarbeit krampfhaft festgehalten, noch beständigem Wechsel unterworfen von Tag zu Tag. Wochenlang, monatelang, wenn ich mich recht erinnere, von Jahr zu Jahr, pflegte ich dasselbe Märchen auszuspinnen, indem ich mich an gewisse Gesetze, gewisse Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Einheiten band. Niemals ward etwas Unmögliches eingeführt, noch irgend etwas, das den äusseren Umständen nach ganz unwahrscheinlich schien. Natürlich war ich mein eigener Held. Das versteht sich von selbst beim Bauen von Luftschlössern. Aber ich wurde nie ein König, ein Herzog, noch weniger konnte ich ein Antinous oder sechs Fuss hoch sein, da meine Grösse und persönliche Erscheinung feststanden. Ich war niemals ein Gelehrter, nicht einmal ein Philosoph. Aber ich war ein gewandter Bursche, und schöne junge Frauen pflegten verliebt in mich zu sein. Ich strebte, gütigen Herzens, freigebig zu sein, vornehmer Gesinnung, geringe Dinge verachtend. Alles zusammen war ich ein viel besserer Geselle, als ich je erreicht habe. Dies war sechs oder sieben Jahre lang die Beschäftigung meines Lebens, ehe ich in den Postdienst trat, und wurde durchaus nicht aufgegeben, als ich meinen Beruf begann. Schwerlich, denke ich, kann es eine gefährlichere innere Gewohnheit geben; aber ich habe oft gezweifelt, ob, wäre es meine Gewohnheit nicht gewesen, ich je eine Novelle geschrieben hätte. Ich lernte auf diese Weise, ein Interesse für eine erdichtete Geschichte aufrecht zu erhalten, über einem von meiner Einbildungskraft geschaffenen Werke zu brüten und in einer Welt zu leben, ganz und gar ausserhalb der Welt meines eigenen materiellen Lebens. In späteren Jahren habe ich dasselbe gethan mit dem Unterschied, dass ich den Helden meiner früheren Träume abdankte und im Stande war, meine eigene Identität aus dem Spiel zu lassen.“ Das Typische in der Dichtung.   Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre der Poesie hinzugefügt werden. Bilder und ihre Verbindungen werden von den Gefühlen aus transformirt; aber nicht in einem leeren Raume, sondern inmitten des Getriebes von all den psychischen Processen, welche beständig an unserem Erfahrungskreis wirken, ja von dem ganzen erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus, welcher das unwillkürliche Schaffen beeinflusst. Bilder und ihre Verbindungen überschreiten daher wohl die gemeinen Erfahrungen des Lebens; aber was so entsteht, das repräsentirt doch diese Erfahrungen, lehrt sie tiefer begreifen und näher ans Herz ziehn.   Dies ergiebt sich schon aus den früheren Darlegungen, nach welchen die Unterlage des poetischen Schaffens in den Vorgängen aufzusuchen ist, die unseren Erfahrungskreis entwickeln. Der Dichter hat diese Unterlage seines Schaffens gemein mit dem Philosophen oder dem Staatsmann. Erfahrung des Menschlichen ist hier überall die Grundlage, und besonders Verallgemeinerung, Schlussverfahren werden angewandt, diese Erfahrung auszubilden. Das naturwüchsige Verhältniss einer mächtigen Intelligenz zu den Lebenserfahrungen muss auch in jedem grossen Dichter bestanden haben. Aus Lebensvorstellungen mussten sich Charaktere, Handlung, Form und Technik bei ihm bilden. Dies kann nicht energisch genug gegenüber aller Künstelei betont werden, welche das Schöne von den Erfahrungen des Lebens absondern möchte. Selbst Schiller, obwohl er auf dieser abschüssigen Bahn sich befand, hat den Wunsch ausgesprochen, die Aesthetik möchte dem Begriff des Schönen den des Wahren substituiren.   Die Willensbetheiligung, durch welche die Metamorphose von Vorstellungen erst zu künstlerischer Verwendung kommt und aus innerlich gehegten Phantasiebildern eine Dichtung hervorgeht, vermag dem Dichtwerk den Gehalt, der dauernde Befriedigung gewährt, nur zu geben, indem sie diese Arbeit an den Lebenserfahrungen in die Phantasiebilder hineinträgt. Nur in dem Grade, als es gelingt, das Erlebniss so zu gestalten, dass es viele Erfahrungen in höchster Steigerung enthält, kann es den welterfahrenen, denkenden Mann beschäftigen und erfüllen. Zugleich soll das Dargestellte das Gemüth des Lesers oder Hörers bewegen. Auch dies wird es als blosse Particularität nicht vermögen. Otto Ludwig empfand ganz den Durst nach Einzelthatsächlichkeit und Wirklichkeit; dennoch wurde er zu der Einsicht gedrängt, dass das Singulare als solches nicht das Packende ist; denn als solches ist es noch mit Zügen vermischt, welche vom Leser oder Hörer nicht ohne Anstoss nachgebildet werden können und daher abstossen. Der Realismus, wenn er ergreifen will, muss durch Verallgemeinerung, durch Aussonderung des Zufälligen, durch Herausheben des für das Lebensgefühl Wesentlichen und Bedeutenden wirken; dann haften Sinn und Herz der Leser an den Bildern, welche er hinstellt, weil diese Leser den eigenen Herzschlag hier voller empfinden, weil der tiefste Gehalt ihres eigenen Wesens von diesen Bildern mit umfasst ist und Alles, was als particular ihnen selber fremd sein könnte, ausgestossen.   So haben auch die Werke des Dichters Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit. Aber diese bedeuten hier etwas Anderes als in den Sätzen der Wissenschaft. Die Allgemeingültigkeit bedeutet, dass jedes fühlende Herz das Werk nachbilden und geniessen kann. Was so von der eigenen Lebendigkeit aus als für den Zusammenhang eines Lebendigen erforderlich herausgehoben und verknüpft wird, nennen wir das Wesenhafte. Die Nothwendigkeit bedeutet, dass der in einer Dichtung bestehende Zusammenhang so zwingend für den Auffassenden ist, wie er für den schaffenden Künstler war. Indem diesen Anforderungen genügt wird, tritt an dem Wirklichen das Wesenhafte hervor.   Wir bezeichnen das so aus dem Wirklichen herausgehobene Wesenhafte als das Typische. Das Denken bringt Begriffe hervor, das künstlerische Schaffen Typen. Diese enthalten also zunächst in sich eine Steigerung des Erfahrenen, aber nicht in der Richtung einer leeren Idealität, sondern in der einer Repräsentation des Mannigfaltigen in Einem Bildlichen, dessen mächtige und klare Structur die geringeren und gemischten Erfahrungen des Lebens nach ihrer Bedeutung verständlich macht. Und zwar ist in dem dichterischen Werke Alles typisch. Typisch sind die Charaktere; das heisst, das Wesenhafte in ihrer Structur, gleichsam ihr Bildungsgesetz ist herausgehoben; aber mit einer Mächtigkeit der Darstellung, auch wo die Schwäche ihr Gegenstand ist, mit einem über jede Aeusserung sich verbreitenden Glanze, als ob Niemand vorher diesen Menschen wirklich gesehen hätte. Typisch sind die Leidenschaften; so ohne Particularität, aus dem innersten Gesetz der Affecte erwachsen, erscheint hier der innere Zusammenhang der Momente, in denen eine Leidenschaft sich in einem Menschen auslebt und ihn verzehrt, dass das Wesenhafte, siegreich Grosse, das in der Leidenschaft als Erweiterung der Seele gefühlt wird, vom Zuschauer oder Hörer ganz nachgebildet und erfahren werden kann. Typisch ist der Nexus der Handlung in sich und mit dem Schicksal; Alles, was die Durchsichtigkeit der Causalverbindung stört, wird entfernt; die nothwendigen Glieder werden auf ihre geringste Zahl und ihre einfachste Form gebracht; wie die Weltweisheit der Fabel oder des Sprichworts eine Regel des Geschehens, einen inneren Nexus der Glieder desselben ausspricht, so wird in der Dichtung dies richtige Verhältniss der Glieder, die in einer Handlung nach dem Gesetz derselben verkettet sind, in grösster Mächtigkeit und Simplicität ausgesprochen. In der Wirklichkeit ist dieses Alles nirgend in seiner grössten Energie und unvermischt mit dem Zufälligen; hier dagegen ist das dem Typus Gleichgültige ausgeschieden und jedes Glied in seiner höchsten Realität und Leistungskraft herausgestellt. Typisch ist selbst die Darstellungsweise; denn der Athem, der den Helden, seine Leidenschaft wie sein Schicksal beseelt, muss von da aus das ganze Werk bis in seine Rhythmen und seine Bilder beleben. So wird das Werk ein Individuum. Die rohe Grösse der Zeit ist im Lear jeder Gestalt und jedem Satze aufgeprägt, und Cordelia selber ist aus demselben Geschlechte: sie beugt sich nicht.   Und da in der Poesie überall Erlebniss, überall ein Innen, das in einem Aeusseren sich darstellt, oder ein äusseres Bildliches, das durch eine Innerlichkeit beseelt ist, Stoff und Ziel der Darstellung bildet, so ist alle Dichtung symbolisch. Ihre Urform ist das Bildliche, das Gedicht, das einen innerlichen Vorgang in einer Situation zeigt, das Gleichniss. In diesem Verstande ist das Symbolische die Grundeigenschaft, die aller Poesie von ihrem Stoffe her eigen ist. Goethe sagte einmal Eckermann: „Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den Poeten.“   So zeigt sich nun als das Problem jeder Technik eines Dichters, dies Typische hervorzubringen. In der Induction der Wissenschaft ist das Durchlaufen der Fälle nur das Hilfsmittel, um die Nothwendigkeit des Causalzusammenhangs, die schon im ersten Falle lag und nur nicht rein ausgesondert werden konnte, darzustellen. Die unbewusste Arbeit der Lebenserfahrung, die in dem Dichter vollbracht ist, ehe ihm noch sein Stoff gegenübertritt, lässt ihn die todte Facticität desselben in einer nothwendigen Folge von Momenten mit höchster Lebendigkeit und Einfachheit nachbilden. Auch hier liegt das Nothwendige in der zwingenden Verknüpfung, welche Hörer oder Leser überzeugend mit sich zieht, und das Allgemeingültige ist die Art, wie das Nothwendige dann für Alle da ist.   Die Personen handeln nothwendig, wenn der Leser oder Zuschauer fühlt, dass er auch so handeln würde. Die Nothwendigkeit widerspricht daher nicht dem Eindruck der Freiheit. Vielmehr wird dieser insbesondere bei Shakespeare echt protestantisch dadurch gesteigert, dass selbst seine Bösewichter die Forderung des Sittengesetzes sich vorhalten und wissentlich, willentlich verletzen. Diese Nothwendigkeit ist also im Einklang mit der Freiheit; jede wahre und grosse Dichtung lässt uns Beides zugleich fühlen. Wir fühlen und bilden in uns eine Verkettung der Gemüthszustände nach, in welcher einer von dem anderen erwirkt wird und Ein Zug folgerichtiger Leidenschaft durch das Ganze hindurchgeht. Aber die Art des Erwirkens ist ganz von der unterschieden, mit welcher Prämissen einen Schlusssatz erzwingen; das Innewerden dieses anderen Charakters der Verknüpfung der Glieder ist die Thatsache, die wir als Freiheit ausdrücken. Aeusserlich stellt sich dies in den Monologen dar, in welchen ein Entschluss sich vorbereitet. Niemand hat anhaltender gerungen, dies Zusammen von Nothwendigkeit und Freiheit in der Tragödie zum Ausdruck zu bringen, als der edle Schiller, auch darin Kant's bester Schüler, im Wallenstein.   Die Kategorie des Wesenhaften wird wie die von Substanz und Ursache, aus der inneren Erfahrung in die äussere übertragen und bezeichnet zunächst den Inbegriff der Züge, in dem innere Lebendigkeit die Bedeutung eines Gegenstandes erfasst. So bringt der Dichter vom Gefühle aus das Wesenhafte im Singularen oder das Typische hervor. Wie er es aus den oft krausen Zügen der Wirklichkeit aussondern kann, das ist eben das grosse Problem, welches nur behandelt werden kann, indem man von der Natur des Menschenlebens und seiner psychologischen Analysis ausgeht. Die Fragen nach den Typen der Menschennatur, der Zahl der poetischen Motive, den Grundformen der Verkettung der Glieder in der Handlung etc., welche die Technik bisher nur äusserlich anzufassen vermochte, können dann einer Auflösung angenähert werden. Ausblicke auf die Theorie der poetischen Technik, welche auf diese psychologische Grundlegung gebaut werden kann. 1. Allgemeingültigkeit und geschichtliche Begrenztheit der poetischen Technik.   Wir haben den dichterischen Vorgang zergliedert, und die Principien abgeleitet, die aus der Natur dieses Vorgangs allgemeingültig sich ergeben. Ihre Zahl ist unbestimmt. Der Ausdruck „Princip“, in dessen Wahl wir uns an Fechner anschliessen, kann auch ersetzt werden durch die Bezeichnungen: Norm oder Regel oder Gesetz, weil an das im Princip ausgedrückte gesetzliche Verhältniss das Eintreten des ästhetischen Eindrucks gebunden ist. Da der Charakter der gegenwärtigen Psychologie, soweit sie beweisbar ist, der von empirischer Sammlung, Beschreibung, Vergleichung, partialer Causalverbindung ist, so kann von einer Ableitung genau definirter und abgeleiteter Formeln in einer begrenzten Zahl noch nicht die Rede sein. Der Fall ist derselbe auf den Nachbargebieten der logischen, ethischen, rechtlichen und pädagogischen Normen, obwohl die erstgenannten der Erkenntniss offener liegen. Noch weniger ist es möglich, nach der Methode Fechner's durch Abstraction aus Kunstwerken und deren Eindrücken diese Principien oder Normen vollständig in die Hand zu bekommen. Sieht man nun aber von der Unvollkommenheit in der Auffindung dieser Principien ab, welche durch den heutigen Zustand der Psychologie bedingt ist, so entsteht doch auch die weitere Frage, ob auf diese Principien eine vollständige Technik der Poesie würde gebaut werden können, welche die poetischen Bestandtheile und die Regeln ihrer Zusammensetzung feststellte und die Fragen, die Dichter und Publicum interessiren, entschiede. Könnten wir diese Fragen bejahen, so würden für die Aufgabe, die wir am Anfang gestellt haben, die Principien der Auflösung entweder jetzt schon vollständig beisammen sein, oder von einer künftigen Psychologie zusammengebracht werden können.   Es ist die tiefste Frage, die an alles geschichtliche Leben überhaupt zu richten ist, um die es sich hier handelt. Die Pädagogik so gut als die Ethik, die Aesthetik so gut als die Logik suchen Principien oder Normen, welche das Leben in ausreichender Weise zu regeln im Stande seien; sie wollen sie aus den Thatsachen, die sich durch die Geschichte der Menschheit erstrecken, ableiten. Aber die unergründliche Mannigfaltigkeit und Singularität der geschichtlichen Erscheinungen spottet jedes Versuchs, solche Regeln abzuleiten, ausgenommen auf dem einen Gebiet der Logik; denn hier durchschaut das Denken sich selbst und ist sich ohne Rückstand klar. Andrerseits haben wir jetzt schon das Ergebniss gewonnen, dass es allgemein gültige Principien oder Normen giebt, welche allem Schaffen und allem ästhetischen Eindruck zu Grunde liegen. Die Betrachtungsweise der historischen Schule, welche nur beschreiben wollte und die verstandesmässige Leitung durch wissenschaftliche Principien ausschloss, ist damit für uns abgethan. Glücklicherweise! denn das Leben verlangt gebieterisch eine Leitung durch den Gedanken; kann eine solche auf metaphysischem Wege nicht hergestellt werden, so sucht es einen andern festen Punkt. Dürfen wir diesen nicht mit der veralteten poetischen Technik in den Musterbildern einer classischen Epoche suchen, dann bleibt nur übrig, in der Tiefe der menschlichen Natur selber und in dem Zusammenhang des geschichtlichen Lebens solche Nachforschungen anzustellen. Und hier in der That konnten solche allgemeingültige Normen aufgefunden werden. Durchsichtig, wie die Natur des poetischen Vorgangs ist, durften wir hier mit grösserer Klarheit, als auf einem anderen Gebiete bisher geschehen konnte (das der Logik natürlich ausgenommen), den Vorgang des Schaffens beschreiben und die Normen desselben ableiten.   So bestätigt sich die ausserordentliche Bedeutung der Poetik, überhaupt der Aesthetik für das gesammte Studium der geschichtlichen Erscheinungen. Sie liegt darin, dass die Bedingungen für eine causale Erklärung hier günstiger sind und die grossen Principienfragen daher hier zuerst zur Entscheidung gebracht werden können. Aber die Analyse, die hinter uns liegt, gestattet, einen weiteren Schritt zu thun. Das Verhältniss der geschichtlichen Mannigfaltigkeit dichterischer Werke zu den allgemeingültigen Principien, das Problem der Geschichtlichkeit und doch zugleich Allgemeingültigkeit der poetischen Technik kann bis auf einen gewissen Punkt aufgelöst werden. 2. Das dichterische Schaffen und der ästhetische Eindruck.   Die Aesthetik, und innerhalb ihrer die Poetik, kann unter einem doppelten Gesichtspunkt aufgebaut werden. Das Schöne ist als ästhetisches Gefallen und als künstlerisches Hervorbringen gegeben. Das Vermögen jenes Gefallens nennen wir Geschmack und das dieses Hervorbringens Einbildungskraft. Wenn die Aesthetik mit Fechner und der Herbart'schen Schule von dem Studium der ästhetischen Eindrücke aus erbaut wird, scheint sie eine andere werden zu müssen, als wenn sie in unsrer Darstellung von der Analyse des Schaffens ausgeht. Durchweg hat bisher jenes erste, der technischen Betrachtung günstigere Verfahren vorgeherrscht. Indem wir uns das Problem einer technischen Theorie stellen, muss zunächst über das Verhältniss dieser beiden Ausgangspunkte einer solchen entschieden werden.   Diese Doppelseitigkeit besteht in allen Systemen der Cultur. Denn sie entspringt aus dem Verhältniss von Schöpfung und Aneignung, in welchem alles geschichtliche Leben verläuft. So ergänzen einander die logische Erfindung und die Evidenz, der sittliche Beweggrund und das Urtheil des Zuschauers, die inneren Strebungen der sich bildenden Person und die Forderungen der Gesellschaft an ihre Ausbildung, Production und Consumtion. Die einen Aesthetiker gehen von dem Aeusseren zum Inneren und leiten aus dem ästhetischen Eindruck die Absicht des Künstlers ab, ihn hervorzurufen, dann hieraus die Entstehung einer Technik, die ihn bestimmt. Sie gleichen den Ethikern, welche aus dem Urtheil des unparteiischen Zuschauers die Entstehung des sittlichen Gesetzes erklären. Die anderen Aesthetiker gehen von innen nach aussen; sie finden in dem schaffenden Vermögen des Menschen den Ursprung der Regel, und sie müssen dann folgerichtig in dem ästhetischen Eindruck das abgeblasste Abbild jenes schöpferischen Vorganges sehen. Wie entscheiden wir diese Streitfrage?   Die Beziehung zwischen Gefühl und Bild, zwischen Bedeutung und Erscheinung tritt weder in dem Geschmack des Hörers noch in der Phantasie des Künstlers ursprünglich auf, sondern in der Lebendigkeit des Gemüthes, welches seinen Gehalt in Geberde und Laut äussert, die Macht seiner Regungen in eine geliebte Gestalt oder in die Natur verlegt, und die Steigerung seines Daseins in den Bildern der Bedingungen geniesst, von denen sie hervorgebracht ist. In solchen Augenblicken ist die Schönheit im Leben selbst gegenwärtig, das Dasein wird zum Fest, die Wirklichkeit zur Poesie; Geschmack wie Einbildungskraft empfangen die elementaren Inhalte und Beziehungen aus dieser Wirklichkeit des Schönen im Leben selber. Die hier gestifteten Beziehungen zwischen Gefühl und Bild, Bedeutung und Erscheinung, Innen und Aussen bringen, wo sie in freien Verhältnissen benutzt werden, auf dem Gebiet der Gehörsvorstellungen die Musik, auf dem der Gesichtsvorstellungen Arabeske, Schmuck, Decoration und Architektur hervor. Sofern dagegen das Gesetz der Nachbildung herrscht, entsteht auf dem einen Gebiete die Poesie, auf dem anderen die bildende Kunst. Die Eine selbige Menschennatur lässt nach denselben Gesetzen schaffende Kunst und nachfühlenden Geschmack entstehen, und beide einander entsprechen. Zwar ist der Vorgang im Schaffenden viel mächtiger als im Geniessenden, dazu vom Willen geleitet, aber er ist nach seinen Bestandtheilen vorwiegend derselbe.   Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der Poesie näher zu entwickeln und zu begründen.   Der Vorgang, in welchem ich eine Tragödie oder ein episches Werk aufnehme, ist ein lange dauernder und ausserordentlich zusammengesetzter: Aggregat aus all den ästhetischen Bestandtheilen, welche wir durchlaufen haben. Die Gefühle, welche hier verbunden sind, gehören allen Gefühlskreisen an. Und zwar enthält dieses Aggregat von Erregungszuständen jedesmal neben den Gefühlen von Gefallen und Lust auch solche von Unlust. Dies ist in allen ästhetischen Zusammensetzungen grösseren Umfangs nothwendig. Denn eine Reihe von reinen Lusteindrücken macht bald Langeweile. Und da die Poesie das Leben abbildet, entsteht eine armselige Verwässerung desselben, wenn man das grosse Agens der Lebens- und Willensbewegung, den Schmerz, ausschaltet. Jedoch muss die Lust in diesem Aggregat überwiegen und aus der schmerzlichen Erregung soll der Hörer oder Leser schliesslich in eine Gleichgewichtslage oder einen Lustzustand übergeführt werden. Alle Energien der reichen menschlichen Natur müssen befriedigt sein. Unsere Sinne sollen ausgefüllt werden durch den Gefühlsgehalt der Empfindungen, sowie durch die aus ihren Beziehungen entspringenden Stimmungen. Unsere höheren Gefühle müssen durch die Bedeutsamkeit des Objects sich mächtig erweitert finden und harmonisch ausklingen. Und unsere denkende Betrachtung soll durch die Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit des Gegenstandes, die Beziehungen desselben zu dem ganzen erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens und die so entstehende Unendlichkeit des Horizontes, der das bedeutsame Object umgiebt, ganz beschäftigt und festgehalten sein. Alsdann wird in dem Werk kein Mangel empfunden. Jedes Bedürfniss ist ihm gegenüber zum Schweigen gebracht. Das sind die grossen, die classischen Künstler, welche so eine anhaltende totale Befriedigung in den Menschen ganz verschiedener Epochen und Völker hervorbringen. Anderenfalls vermissen wir bald den sinnlichen Reiz, bald die Macht des Gefühls, bald die Gedankentiefe.   Doch hat der Eindruck eines dichterischen Werkes, höchst zusammengesetzt wie er ist, eine bestimmte Structur, welche durch Wesen und Mittel der Dichtung bedingt ist. Die Dichtung entspringt, indem ein Erlebniss drängt, in Worten, sonach in einem Zeitverlauf ausgesprochen zu werden. Dieser Vorgang ist von einer starken Erregung begleitet und ruft eine solche im Hörer hervor. Aus den Worten bildet die Phantasie des Hörers das Erlebniss nach und wird nun ebenfalls, obwohl schwächer, erschüttert. Hier entsteht also aus dem Stoff von Worten, in einem gleichsam luftigen und durchsichtigen Elemente, ein Anschauungsganzes, dessen Theile zu einer Erregung zusammenwirken; in dieser aber herrscht das Lustvolle vor, und auch das Schmerzliche wird im Zeitverlauf dem Gleichgewicht oder der Befriedigung entgegengeführt, wie wir es vom Leben selber wünschen. Die Zusammensetzung der Lust- und Unlustbestandtheile ist von der Structur des Vorgangs im Schaffenden bedingt; dieser ist das Ursprüngliche. Sonach nicht ein kunstvoll arrangirtes Aggregat von Lustbestandtheilen ist der poetische Eindruck, sondern er hat seine nothwendige Form.   Auch können wir weder den Vorgang im Dichter noch den im Hörer aus der Aufgabe ableiten, möglichst viele Bestandtheile von Lust oder Gefallen zu vereinigen. Wohl fallen in unsere directe Erfahrung nur Vorgänge sowie das Erwirken eines Vorgangs vom anderen her, aber wir können Thatsachen des Seelenlebens nicht leugnen, welche hieraus zur Zeit nicht erklärbar sind. Es besteht in uns ein Bedürfniss nach starken Erregungen, welche unsere Energie steigern. Die Menschen erscheinen unersättlich, innere Zuständlichkeit andrer Menschen oder Völker zu erkunden, Charaktere nacherlebend aufzufassen, Leid und Freude zu theilen, Geschichten zu vernehmen: gegenwärtige oder vergangene, oder auch solche, die nur hätten geschehen können. Dieser innere Drang ist den Naturvölkern so gut eigen als dem heutigen Europäer. In ihm haben die Arbeit des Dichters, des Geschichtschreibers und Biographen sowie der Genuss seiner Hörer und Leser ihre elementare Grundlage. Und wie an das Grosse in unsrer Natur auch das Fehlerhafte sich hängt: selbst die verderbliche Herrschaft der Romanlectüre beruht darauf. Wie in Hauffs Parodie der Verehrer Claurens bei trocknem Brode die Beschreibung von Champagnerfrühstücken liest: so würzen sich Viele die dürftige Suppe ihres Lebens durch die grossen Emotionen, welche mit geringem Aufwand aus der Leihbibliothek zu beziehen sind. Das Grausenhafte selbst wird rohen Naturen eine Quelle der Lust durch einen hässlichen Zug der Menschennatur, gegenüber von Gefahr und Schmerz Andrer die eigne Sicherheit hinter dem warmen Ofen verstärkt, verdoppelt zu fühlen. In diesem Allen liegt zugleich etwas Irrationales, das nicht aus unserem Wesen wegraisonnirt werden kann. Wir sind nun einmal kein Apparat, der regelmässig Lust herzustellen und Unlust auszuschalten sucht, Lustwerthe gegen einander abwägt und so die Willensantriebe der erreichbaren Lustsumme entgegenlenkt. Für einen solchen würde freilich das Leben rational, ja ein Rechenexempel. Aber das ist es nicht. Ja die Irrationalität des menschlichen Charakters kann an jedem heroischen Menschen, in jeder wahren Tragödie, an Verbrechern ohne Zahl gesehen werden. Die tägliche Erfahrung selber zeigt uns dieselbe; wir suchen nicht die Unlust zu vermeiden, sondern vertiefen uns in sie, grübelnd, misanthropisch; wir setzen Glück, Gesundheit und Leben daran, Affecte der Abneigung zu befriedigen, unangesehen den Lustertrag, von dunklen Trieben gezwungen. Und dieses Bedürfniss der Menschennatur nach mächtigen, wenn auch mit starker Unlust vermischten Erregungen, welches nicht auf einen Apparat für Erzeugung eines Maximums von Lust zurückgeführt werden kann, wirkt auch in der Zusammensetzung eines mächtigen poetischen Eindrucks. In dieser muss dann die schmerzliche Erregung durch die Erweiterung der Seele, welche die Grösse des leidenden Menschen hervorruft, überboten und ein befriedigender Endzustand herbeigeführt werden. Daher dienen in der Tragödie Schmerz und Tod nur, Seelengrösse zu offenbaren.   Dieses Alles wird aber nur dadurch erreicht, dass aus diesen beweglichsten, flüchtigsten, durchsichtigsten Stoffen von Lauten und mit ihnen verknüpften Vorstellungen in der Einbildungskraft des Auffassenden ein Bildzusammenhang sich aufbaut. Die grosse Regel des Poeten ist daher, die Einbildungskraft in einer von ihm beabsichtigten Richtung in Thätigkeit zu setzen. Der so entstehende Bildzusammenhang muss aber in seiner Sinnfälligkeit auch Glauben hervorrufen. Denn nur wo wir an die Wirklichkeit desselben glauben, erlebt unsere Seele.   Dieser so zusammengesetzte poetische Eindruck muss nun mit dem Schaffen des Dichters verglichen werden, wie wir es analysirt haben. So ergiebt sich folgendes Verhältniss. Der primäre Vorgang ist das Schaffen. Die Poesie entstand aus dem Drang, Erlebniss auszusprechen, nicht aus dem Bedürfniss, den poetischen Eindruck zu ermöglichen. Was nun vom Gefühl aus gestaltet ist, erregt das Gefühl wieder, und zwar in derselben, nur geminderten Weise. So ist der Vorgang im Dichter dem verwandt in seinem Hörer oder Leser. Die Verbindung von einzelnen Seelenvorgängen, in welchen eine Dichtung geboren wurde, ist nach Bestandtheilen und Structur derjenigen ähnlich, welche sie dann bei dem Hören oder Lesen hervorruft. Wer ein Gedicht beurtheilen will, muss nach Voltaire ein starkes Gefühl haben und mit einigen Funken von dem Feuer geboren sein, welches den Dichter belebt hat, dessen Kritiker er sein will. Dieselbe Zusammensetzung von bildlichen Elementen ruft hier wie dort dieselbe Zusammensetzung von Gefühlen hervor. Die Beziehung zwischen dem Sinnfällig-Bildlichen, dem gedankenmässig Allgemeinen und dem Erregungsgehalt bestimmt dort wie hier die Structur, zu welcher die Bestandtheile verbunden sind. Die Unterschiede zwischen Schaffen und Empfangen sind ebenfalls unverkennbar. Das dichterische Schaffen ist viel zusammengesetzter, seine Bestandtheile mächtiger, die Willensbetheiligung stärker, und eine viel längere Zeit wird von ihm ausgefüllt, verglichen mit dem Lesen oder Hören des vollendeten Werkes.   Hieraus folgt die Zweiseitigkeit der poetischen Technik. In ihr wirkt unwillkürliches unablässiges Bilden und zugleich die Berechnung des Eindrucks sowie der Mittel, ihn herbeizuführen. Beides ist im Dichter vereinbar; denn die verstandesmässige Technik, welche den poetischen Eindruck hervorrufen will, muss dieselbe Metamorphose der Bilder anstreben, welche aus dem unwillkürlichen und nicht vollbewussten Bilden von selber hervorgeht; sie kann dabei die Wirkungen klarer berechnen und schärfer zuspitzen. Daher finden wir in Dichtern, die auf der Bühne zu Hause waren, wie die griechischen Tragiker, Shakespeare oder Molière, den berechnenden Verstand untrennbar mit dem unwillkürlichen Schaffen verbunden. So ergiebt sich das technische Gesetz: die Absicht, welche für den Eindruck die Mittel berechnet, muss hinter dem Scheine ganz unwillkürlichen Gestaltens und freier Wirklichkeit verschwinden. Bei den grossen Dramatikern wie Shakespeare und Molière ist der Kunstverstand allgegenwärtig, doch möglichst verborgen, und auf dieser gänzlichen Durchdringung des Theatralischen und des Poetischen beruhen ihre wunderbaren Wirkungen auf dem Theater. Dagegen Goethe suchte für jedes neue Problem eine entsprechende Form. Er tadelte dies selbst in Italien an sich als einen Zug von Dilettantismus. Auch hat er die neuen von ihm geschaffenen Formen nicht seiner erstaunlichen poetischen Intention entsprechend rein und völlig ausbilden können, weder im Faust noch im Meister. Um so reiner und machtvoller tritt bei ihm die poetisch bildende Phantasie heraus. Schiller hat dies Verfahren Goethe's richtig so geschildert: „Ihre eigene Art, zwischen Reflexion und Production zu alterniren, ist wirklich beneidens- und bewundernswerth. Beide Geschäfte trennen sich in Ihnen ganz, und das eben macht, dass beide als Geschäft so rein ausgeführt werden. Sie sind wirklich, solange Sie arbeiten, im Dunkeln, und das Licht ist bloss in Ihnen: und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt das innere Licht aus Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände, Ihnen und Anderen.“   Die technische Theorie muss sonach von beiden Seelenvorgängen und deren innerem Verhältniss im Dichter ausgehen. Wenn die Poetik vom Eindruck ausgeht, macht sie die Dichtung mehr oder weniger zum Werk des Verstandes, welcher Wirkungen berechnet, und das geschah der von Aristoteles abhängigen Poetik. Erscheint dagegen unbewusstes Schaffen als die Quelle der dichterischen Form, dann werden Regeln, erworbene Einsichten sowie verstandesmässige Gliederung verachtet, und das geschah der zweiten Periode unserer Romantik, den Arnim und Brentano. Die Poetik öffne beide Thore ihrer Erfahrungen soweit als möglich, damit keine Art von Thatsache oder Verfahren ausgeschlossen werde! Indem sie die Eindrücke untersucht, geniesst sie des Vortheils, den Wechsel derselben willkürlich vom Wechsel der Objecte aus hervorrufen und das Complexe des Vorgangs in seine Bestandtheile zerlegen zu können; hier wird experimentelle Aesthetik möglich, wie sie jetzt Fechner in Angriff genommen hat. Indem sie vom Schaffen ausgeht, kann endlich die Fülle des literarhistorischen Stoffes verwerthbar gemacht werden; jahraus jahrein arbeiten unzählige Philologen und Literarhistoriker, die Poeten benützbar und verständlich zu machen; nun trete die Poetik hinzu, nicht die Boileaus, welche sich die Dichtung unterwerfen will, sondern die neue, welche sie erklären möchte und in vergleichender Betrachtung, von den Urzellen der Poesie in den Aeusserungen der Naturvölker ab, alle Erscheinungen derselben umfasst! Dann wird in gesunder Wechselwirkung die literarhistorische Empirie und Vergleichung benutzt werden, die Natur des Schaffens aufzuklären, seine unveränderlichen Normen zu entwerfen, die Geschichtlichkeit der Technik zu zeigen und solchergestalt die Vergangenheit zu begreifen und der Zukunft den Weg zu weisen. Die aus solcher Arbeitsvereinigung entsprungene Poetik wird der Literaturgeschichte die Mittel für eine viel feinere Charakteristik der Dichter schaffen. Möchte dann auch das Uebermass des persönlichen Klatschs wieder schwinden, in welchem zur Zeit die Literarhistorie schwelgt!   Das Ergebniss dieser psychologischen Betrachtungen kann wieder in Principien oder Regeln dargestellt werden. ─ Wenn man die Gesetze der Metamorphose isolirt auffasst, so entspricht dem Vorgang der Verstärkung oder Minderung ein Princip der verschiedenen Betonung der Bestandtheile im Verhältniss ihres Gewichtes für das Ganze und der höchsten Energie der herrschenden unter ihnen. Dem Gesetz der Ausschaltung entspricht ein Princip der möglichsten Annäherung an reine Befriedigung durch Aussonderung des solcher Wirkung Widersprechenden. Dem Gesetz der Ergänzung entspricht das Princip der Herausbildung des Wesenhaften und Bedeutenden nach der Beziehung von Zustand und Bild. ─ Hält man die Leistungen dieser Gesetze an die Aufgabe, so entstehen zwei sich ergänzende Principien. Glaubhaftigkeit und Illusion bildet die Bedingung, unter welcher allein der Dichter seine Aufgabe lösen kann; so bezeichnet sie eine Grenze, an die sein Schaffen gebunden ist. Aesthetische Freiheit, die ein von den Zweckhandlungen des Lebens abgetrenntes, beglückendes Reich von Gestalten und Handlungen hervorbringt, wirkt in diesen Grenzen und nach diesen Gesetzen. Wohl wird der Dichter von dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens und den in ihm gegebenen Gesetzen, Werthverhältnissen und Zwecken der Wirklichkeit bestimmt. Er ist um der Befriedigung seines Lesers oder Hörers willen an sie gebunden. Aber er ist der Uebereinstimmung seiner Bilder mit dem Wirklichen nicht bedürftig. Auf dies Princip der ästhetischen Freiheit hat Schleiermacher seine Aesthetik gegründet. „Es gehört zur Natur des Geistes, dass wir diejenigen Thätigkeiten, die durch die Affection von aussen gebunden werden und in dieser Bestimmtheit ein äusserlich Gegebenes darstellen, von dieser Gebundenheit befreien und sie zu einer selbständigen Darstellung erheben, und dies ist die Kunst Schleiermacher Aesthetik, herausgegeben von Lommatzsch, S. 116. .“ Einseitig betont, begründet dies Princip die Verherrlichung der Phantasie in der romantischen Aesthetik Ludwig Tieck's und seiner Genossen. ─ Betrachtet man endlich die Anordnung der Bestandtheile, die in der Structur des dichterischen Schaffens und des poetischen Eindrucks angelegt ist, so entstehen für dichterische Werke grösseren Umfangs Regeln, welche öfter am Drama entwickelt worden sind. Die Eindruckskraft der einzelnen Bestandtheile muss zu der Ausdehnung des ganzen Werkes im Verhältniss stehen. So muss die Handlung der Tragödie Wichtigkeit und Grösse haben, und selbst das Komische muss im Lustspiel eine andere Wucht haben als in einem Witzblatt oder geselligen Scherz. Die Bestandtheile müssen ferner eine in sich abgegrenzte und geschlossene Einheit bilden. Hiervon ist eine Anwendung die berühmte Regel von der Einheit der Handlung im Drama. Endlich müssen die Bestandtheile so geordnet sein, dass eine Steigerung ihrer Wirkungskraft bis zuletzt stattfindet Diese drei Principien sind von Gustav Freytag in seiner Technik des Drama 1863, S. 24 ff. als Regeln des Dramas zusammen mit dem Princip der Wahrscheinlichkeit entwickelt worden. . 3. Die Technik des Dichters.   In den bisherigen Entwicklungen herrschte die Psychologie vor. Nachdem nun eine Grundlegung der Poetik gewonnen ist, ändert sich die Methode. Die literarhistorische Empirie hat jetzt die Führung. Sie muss, dem Geiste der modernen Forschung entsprechend, das ganze Gebiet der Dichtung umfassen und gerade bei den Naturvölkern die elementaren Gebilde aufsuchen. Sie muss zwischen diesen Gebilden und Formen Causalverhältnisse herstellen und findet sich dabei überall auf entwicklungsgeschichtliche Auffassung angewiesen. So kann sie die Grenzen der bisherigen Literaturgeschichte nirgend respectiren, sondern muss auf dem weiten Gebiet menschlicher Cultur Erklärungen nehmen, wo sie sie findet. Diese muss sie dann durch die Methode „der wechselseitigen Erhellung“, wie sie Scherer bezeichnet hat, unterstützen und so durch das Nahe und Zugängliche das Zeitferne und Dunkle erleuchten. Sie muss die Vergleichung zur Verallgemeinerung benutzen und Gleichförmigkeiten ableiten. Hierbei wird sie überall von den Ergebnissen der psychologischen Grundlegung getragen und kann in keinem Punkte der psychologischen Erklärung entbehren. Denn eine Poetik ohne Psychologie benutzt eben populäre und unhaltbare Classenbegriffe und Sätze, anstatt der wissenschaftlichen und bewiesenen. Doch fällt der Psychologie von nun ab nur die zweite begleitende Stimme zu. Da diese Abhandlung den ihr zugemessenen Raum längst überschritten hat, so beschränken wir uns auf einige besonders wichtige Anwendungen der psychologischen Grundlegung. Die Fruchtbarkeit der psychologischen Betrachtung könnte freilich erst ganz sichtbar werden, wenn es uns vergönnt wäre, von ihr aus die einzelnen Probleme anzufassen, welche die literarhistorische Empirie der Poetik aufgiebt und zugleich aufzulösen ermöglicht. Dürfen wir das später versuchen, so werden wir dann die Last nicht allein zu heben haben. Die Poetik des unvergesslichen Scherer wird aus seinen Vorlesungen veröffentlicht werden, und wie er die Grammatik mit der Poetik verknüpfte und gerade die für die primären Gebilde und Formen so belehrende germanische Literatur in einziger Weise bis zur Gegenwart umspannte, wird uns gewiss von diesem reichen und energischen Geiste die wichtigste Förderung zu Theil werden. Wie anders wäre es gewesen, gemeinsam mit dem Lebenden zu arbeiten!   1. Unser Gegensatz zur bisherigen Poetik ist immer klarer geworden. Wir verwarfen jeden allgemeingültigen Begriff des Schönen, aber in der Natur des Menschen fanden wir einen Vorgang des Bildens. Indem dieser von dem Kern des Erlebnisses aus in dem Mittel der Sprache wirksam ist, entsteht bei allen Völkern rhythmische Aeusserung der Gefühle, für die Seele so nöthig als für den Körper, zu athmen, freie Darstellung und Umbildung des Erlebten und lebendige persönliche Action in einer die Seele bewegenden Handlung. Dies schon in der Wurzel nach Arten geschiedene dichterische Schaffen hat zunächst sein Maass und unterscheidendes Merkmal darin, dass der so entstehende Bildzusammenhang dem Schaffenden selber Befriedigung gewährt; doch wird zugleich dauernde Befriedigung in dem Hörer oder Leser zum Ziel des Dichters und zum Maassstab seiner Leistung. Hierdurch erst wird seine Arbeit zielbewusst und erzeugt wie jede andere zielbewusste Thätigkeit ihre Technik. Unter poetischer Technik verstehen wir das seines Ziels wie seiner Mittel bewusste und deren sichere Schaffen des Dichters.   Die Technik des Dichters ist Transformation des Erlebten zu einem nur im Vorstellen des Hörers oder Lesers bestehenden Ganzen, welches Illusion erzeugt und durch sinnliche Energie des Bildzusammenhangs, mächtigen Gefühlsgehalt, Bedeutsamkeit für das Denken, sowie durch andere geringere Mittel eine dauernde Befriedigung hervorbringt.   Es macht den Charakter des Künstlers aus, dass sein Werk nicht in den Zweckzusammenhang des wirklichen Lebens eingreift und nicht von ihm beschränkt ist. Der gewöhnliche Mensch geht durch das Leben, nur in dem einen grossen Geschäft begriffen, seine Bedürfnisse zu befriedigen oder sein Glück zu machen. Alle Gegenstände und Personen haben ihm ein Verhältniss zu dieser Lebensaufgabe. Das Genie ist den Objecten ohne Nützlichkeitsrücksichten, daher interesselos hingegeben. Das Auffassen selber ist sein Geschäft. Der theoretische Kopf ordnet sein Vorstellen der Wirklichkeit unter, und der praktische setzt es zu ihr in ein angemessenes Zweckverhältniss. Interesselosigkeit, daher stammende tiefe Besonnenheit, welcher Alles Erlebniss wird und die mit stillem und sinnendem Auge auf den Gegenständen ruht, bilden eine idealere Wirklichkeit, die Glauben hervorruft und zugleich das Herz und den Kopf befriedigt: das sind die Merkmale des Dichters.   Dem entspricht der Vorgang im Hörer oder Leser. Der Bildzusammenhang, der in ihrem Vorstellen entsteht, enthält Personen und Handlungen, welche zu denen des wirklichen Lebens in keinem Verhältniss der Ursache oder Wirkung stehen. So werden diese Hörer aus der Sphäre ihrer directen Interessen herausgehoben. Die Kunst ist ein Spiel. In der gegenwärtigen und dauernden Befriedigung liegt die ganze Wirkung, welche es hervorbringen möchte. Dass dies Spiel noch andere Wirkungen übe, darf sich dem Hörer nicht aufdrängen. Solche Befriedigung ist aber an die Illusion gebunden, welche die Nachbildung zum Erlebniss der Wirklichkeit macht. Uebereinstimmung des Phantasiegebildes mit den im erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens enthaltenen Gesetzen und Werthbestimmungen des Wirklichen, daraus stammende Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit, sinnliche Kraft: das ist also die Basis aller echten Kunst. Daher ist die moderne Technik, welche diese Grundlage gediegen und tüchtig herzustellen strebt, in vollem Rechte gegenüber den Gedankenmalern und Ideendichtern. Wie entstünde sonst die Bewegung des Herzens, welche uns fremde Schicksale wie die eigenen, erdichtete wie wirkliche erleben lässt? Dann muss freilich der Gegenstand das Herz wirklich bewegen und durch seine im Denken erfassbaren Beziehungen bedeutend sein; das vergessen unsere heutigen Künstler zu oft. ─ Aus diesen Grundeigenschaften des poetischen Genusses entspringen bemerkenswerthe Folgen. Die dargestellten Vorgänge rufen nie von unserer Seite äussere Willenshandlungen hervor. Man erzählt von Personen, welche das Schauspiel unterbrachen, um den Bühnenbösewicht zu züchtigen oder die leidende Unschuld zu retten. Dies setzt immer einen Irrthum über das thatsächliche Verhältniss der Personen, die spielen, zu denen, welche von ihnen repräsentirt werden, voraus. Wie sehr auch ein Vorgang als Wirklichkeit erschüttere: wir verlieren nie das Bewusstsein der Illusion. Auch können wir, so das Dargestellte nachlebend, viel schneller aus einem Zustande in den anderen übergehen als im wirklichen Leben. In wenigen Stunden verfolgen wir durch erstaunliche Contraste hindurch die Schicksale einer Romanheldin. In einen einzigen Theaterabend kann ein blutgieriger Dichter ein halbes Dutzend Todesfälle zusammendrängen. Dies erklärt sich daraus, dass keiner dieser Vorgänge uns in allen Gedanken und Gefühlen so fest bindet und nach den realen Beziehungen unsrer Existenz so mächtig erregt, als die Vorfälle des natürlichen Lebens thun. Schon die Sympathie mit dem Zahnweh eines Anderen ist von eigenen Zahnschmerzen sehr verschieden; kommt das Bewusstsein der Illusion hinzu, dann wird Schmerz und Lust im Zuschauer dem fremden Schicksal gegenüber zwar reiner, aber noch schwächer.   Zu Dichter und Publicum tritt der Kritiker als dritte Person. Der Vorgang in ihm ist derselbe, als in einem idealen Leser oder Hörer. Er sollte es wenigstens sein! Wie kommt es nun, dass der Kritiker den Fehler in einem Charakter bemerkt? Von einer Lage aus wird ein Gefühlszustand im Helden erwirkt, von dem Gefühl aus ein Willensvorgang; das liest der Kritiker in dem Gedichte; wie er es aber nachzubilden strebt, entsteht ein stiller unbezwinglicher Widerstand. Derselbe stammt aus der Tiefe des erworbenen Zusammenhangs seines Seelenlebens, welcher an diesem Punkte dem des Dichters überlegen ist. Oder wie erkennt er das Fehlerhafte einer Lösung? Die versöhnte Stille der erregten Gefühle will sich nicht einstellen. Wieder wirken aus dem erworbenen Zusammenhang seines Seelenlebens Einsichten in die Beziehungen der Werthe sowie der Zwecke, ohne dass er dessen sich ausdrücklich bewusst ist, und sind den Einsichten des Dichters überlegen. Nicht nachträgliche Reflection, sondern dieses starke Erleben macht den Kritiker so gut als den Dichter. Daher ist tiefes Urtheil über einen Dichter etwas dem schöpferischen Vermögen Verwandtes. Lessing war nicht darum ein grosser Dichter, weil er der grösste Kritiker war, sondern die Energie des schaffenden Vermögens und die Schärfe des analysirenden Verstandes bildeten zusammen den grössten Kritiker, und der Dichter in ihm nützte dann die Kunstgriffe, die dem Kritiker klar geworden waren: so verstärkte er durch bewusste Technik das schöpferische Vermögen.   Dass eine solche Transformation des Erlebnisses möglich ist, hat seinen Grund darin, dass die Wirklichkeit dem schaffenden Vermögen Stoffe, nämlich Lebenswendungen oder Charaktere, darbietet, in denen es, wenn auch noch mit Unbrauchbarem gemischt, die Mittel zu solchen Wirkungen findet. Nach Goethe und Schelling ist auch der vollkommenste menschliche Körper nur in einem vorübergehenden Momente schön und eben diesen verewigt die bildende Kunst. So tritt auch das poetisch Bedeutende nur selten und flüchtig auf, aber der Dichter wird es belauschen und festhalten. Das für das Gefühl Allgemeingültige ist nirgend frei von den Störungen des Zufalls; Lebensfülle ist in Zeit, Raum und Causalzusammenhang eingeengt und gepresst: der Dichter muss aus seiner mächtigen Lebendigkeit ergänzen, erhöhen und reinigen.   Als Bestätigung dieser Auffassung der Poesie können zwei Stellen von Schiller und Goethe dienen. Schiller definirt den Dichter. „Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand in ein Object zu legen, sodass dieses Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter.“ Ist diese Definition zu eng, weil sie den von der eignen Subjectivität ausgehenden Dichter nicht einschliesst, so sagt Goethe vollständiger: „Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit es auszudrücken, macht den Poeten.“   2. Auch das Verfahren, durch welches die Technik zur Erkenntniss gebracht wird, muss sich in der modernen Poetik ändern. So viel die heutige Poetik den beiden älteren Methoden verdankt, und so lebhaft wir dies im ersten Capitel hervorgehoben haben: sie muss den entscheidenden Schritt thun, eine moderne Wissenschaft zu werden; sie muss die hervorbringenden Factoren erkennen, ihr Wirken unter wechselnden Bedingungen studiren und vermittelst dieser Causalerkenntniss ihre praktischen Aufgaben lösen.   Die Erkenntniss der Technik gründet sich auf eine Causalbetrachtung, welche die Zusammensetzung der poetischen Gebilde und Formen nicht nur beschreibt, sondern wirklich erklärt. Sie leitet aus dieser die allgemeingültigen Principien der poetischen Wirkung in unbestimmter Zahl ab und stellt sie als Regeln oder Normen dar. Sie zeigt, wie in diesem ursächlichen Zusammenhang von Vorgängen, nach Gesetzen des Seelenlebens, den poetischen Normen entsprechend, erst unter den Bedingungen eines bestimmten Zeitalters und eines Volkes eine poetische Technik entsteht und sonach nur eine relative und geschichtliche Geltung hat. So begründet die Poetik die Literaturgeschichte und findet erst in dieser ihren Abschluss.   Wir bilden einen Begriff, welcher die Causalbetrachtung der gegenwärtigen Poetik mit der Formzergliederung der älteren verknüpft. Ein von Humboldt geprägtes Wort in eigenem Sinne nützend, nennen wir die Vertheilung der Veränderungen, welche an Erlebnissen nach den dargestellten Gesetzen stattfinden, sonach Neubildungen der Bestandtheile, entstehende Verhältnisse von Betonung, Stärke und Ausdehnung sowie umgeschaffene Beziehungen die innere dichterische Form. Diese ist in jedem einzelnen Falle ein Singulares. Verbindet man das Verwandte in Gruppen, so tritt diejenige innere dichterische Form hervor, welche einer Anzahl poetischer Individuen gemeinsam ist, und das Problem entspringt, sie aus dem Gemeinsamen der Bedingungen zu erklären. Andrerseits ergiebt die Vergleichung einzelne elementare Gleichförmigkeiten, welche sich in einem Kreise constant erhalten, und hier entsteht, aus den einfachsten erreichbaren Thatsachen, die Aufgabe, das regelmässige Antecedens einer solcher Gleichförmigkeit aufzusuchen oder auch regelmässig gleichzeitige Erscheinungen zu beobachten und den Zusammenhang hiervon zu erforschen.   Die Vorgänge im Dichter gestalten die Bilder in der Richtung dauernder Befriedigung um, und dann sind die so entstandenen Bildelemente Träger von poetischen Wirkungen auf Andere. Diese constanten Ursachen, aus welchen poetische Wirkungen entspringen, haben wir als Principien entwickelt. Dieselben können auch in Regeln oder Normen umgewandelt werden. Ihre Zahl ist unbestimmt: denn jede constante Ursache poetischer Wirkungen kann in die Formel eines solchen Princips gebracht werden. Wir haben bei der Darstellung solcher Formeln darauf Rücksicht genommen, den schon von der Aesthetik entwickelten und unter diesen besonders den historisch bedeutsamen ihre Stelle anzuweisen.   Liessen sich nun aus der Verbindung dieser Regeln Ziele und Mittel der Dichtungsarten vollständig ableiten, dann entstünde eine allgemeingültige poetische Technik. Doch schon die Unterschiede der drei Dichtungsarten lassen sich nur empirisch an den uns erreichbaren ursprünglichen Unterschieden aufzeigen, die wir bei den Naturvölkern antreffen. Die Lebensäusserungen, in denen Lyrik, Epos und Drama hier zuerst auftreten, sind psychologisch betrachtet so zusammengesetzt, und ihre psychologische Deutung ist noch so unsicher, dass zur Zeit keine Hoffnung einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen, Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten, welche die einzelnen Momente der inneren Form, Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten, die wir besitzen. Otto Ludwig hat mit dichterischem Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu demselben unfruchtbar bleiben. Gustav Freytag hat in seiner Technik des Dramas die Form der geschlossenen Handlung wieder zur Geltung gebracht, die in dramatischem Unwesen verloren gegangen war. Sein Buch ist in der schneidigen Consequenz seines Grundgedankens ein wahres Handbuch dramatischer Dichtung und Kritik. Er entwickelt aus den Anforderungen an die wirkungsvollste Form der Handlung die Regeln des Dramas. Diesem Körper der Handlung setzt er dann erst nachträglich die tragische Seele ein. So hat er nur eine bestimmte, begrenzte Form des Dramas abgeleitet, in der eine einheitlich geschlossene Handlung durch ihre Stadien regelrecht hindurchgeführt wird. In diesen Grenzen hat Freytag schöne Bemerkungen über die fünf Theile des Dramas und die zwischen ihnen befindlichen drei dramatischen Momente gemacht. Aber schon die verwickelteren Formen der Tragödie Shakespeares lassen sich nicht auf Freytags Schema der geschlossenen Handlung zurückführen. Denn geht man der Linie nach, die von dem einfachen straffen Bau des Macbeth zu dem verwickelten und scheinbar auseinanderfallenden des Lear hinführt, so tritt ein merkwürdiger Unterschied der tragischen Form hervor. Lear und Hamlet zeigen einen Reichthum von Episoden und scharf aufgesetzten Contrasten gegen die tragische Grundstimmung, der sich keineswegs zureichend aus der Absicht erklärt, die Haupthandlung durch den Gegensatz zu erleuchten. Ja sie enthalten vollkommen durchgeführte zweite Handlungen, die den Zusammenhang durchbrechen und ebenfalls um einer blossen Contrastwirkung willen nicht da sein können. Man sieht bald, dass diese Stücke als Seelengemälde eine strenge causale Verkettung weder bedürfen noch zulassen. Man bemerkt zwischen den causal nicht miteinander verbundenen Vorgängen ein inneres Verhältniss besonderer Art. In Hegels Idee ist für dasselbe nur ein Vergleich und dazu ein unangemessener Vergleich, nicht ein wirkliches Verständniss gefunden. Schon Herder macht darauf aufmerksam, wie hier jeder Charakter, ja jede Scene in so eigner Färbung erscheint, dass man sie in kein anderes Stück versetzt denken könnte. Die geheimnissvolle Seele des Dramas, welche in solchen Thatsachen sich kundgiebt, tritt nicht etwa aus der Individualität des Dichters in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern relativ und geschichtlich.   3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt.   Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude, an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die ganze Literaturgeschichte.   Die Lyrik ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben. Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können. Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen. „Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter meinen Füssen“, oder „das Haupt des Feindes ist abgeschnitten und fällt mir zu Füssen“. Eine beliebte poetische Figur ihrer Lieder ist die Antiphrase, an der ja auch Kinder sich regelmässig ergötzen; der Dakota lobt einen Tapferen mit den Worten: „Freund, Du hast Dich von den Ojibway schlagen lassen“. Die Danakil und Somali haben in der grossen Fülle ihrer Gesänge einen bestimmten Rhythmus mit einer unvollkommenen Cadenz und einem unvollkommenen Reim Angaben über die Quellen unsrer Erkenntniss finden sich zunächst in Waitz, Anthropologie der Naturvölker II 236 ff., 524, III 231 ff., IV 476, Beispiele II 240 ff., III 232. .    Epischer Sang geht schon bei den Naturvölkern von den Thierfabeln bis zu dem epischen Lied als dem Element des heroischen Epos. In Senegambien besteht ein besonderer erblicher Stand der Sänger, Griots. Dass ihr epischer Sang auch nach seinem Inhalt dem des griechischen Rhapsoden verwandt ist, zeigt ein Bericht über die Weigerung der Königssöhne von Kaarta, zu fliehen, weil sonst die Sänger Schande über sie bringen würden. Und am Hofe des Königs von Dahomey wie in Sulimana haben diese Sänger zugleich das Amt, die Geschichten der Vergangenheit im Gedächtniss zu bewahren. Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges erhalten in der epischen Sage die Erinnerung an ihre Stammesgeschichte, entwerfen aber auch frei erfundene epische Erzählungen, die unserer Romanze oder Ballade vergleichbar sind. So verlässt in einer solchen Erzählung die Seele eines Kriegers das Schlachtfeld, zu sehen, wie tief man ihn betraure, oder ein geliebtes Weib kehrt aus dem Jenseits zur Erde, die Trauer über ihren frühen Tod zu erproben Angaben über die Quellen bei Waitz II 237 ff., III 234. .   Die Völker niederster Civilisation zeigen auch auf dem Gebiet des Dramas Keime und erste Gebilde, welche ganz mit unseren Nachrichten und Schlüssen über Ursprung und Entfaltung der dramatischen Kunst bei den höher stehenden Völkern in Uebereinstimmung sind. Freude und Trauer, Liebe und Zorn, die grösste Leidenschaftlichkeit, selbst die Religion und ihr feierlicher Ernst äussern sich bei den Naturvölkern nicht nur in Laut und Sang, sondern auch in Geberde, rhythmischer Bewegung und Tanz. So stellen sie die Annäherungen der Liebe, wie das Zusammentreffen im Kriege dar. Der Tanz geht in Pantomime über. Dann steigern besonders die indianischen Stämme die Wirkung durch Anlegung von Masken. Die religiösen und politischen Handlungen der Indianer finden wir von solchen Pantomimen begleitet. Soll eine Unterhandlung zwischen zwei Indianerstämmen stattfinden, so nähern sich die Botschafter der einen Horde in feierlichem Tanz; sie überreichen die Pfeife oder das Zeichen des Friedens, und die Sachems des andern Lagers erwidern dies. Soll die Geburt eines Kindes gefeiert oder der Tod eines Freundes betrauert werden, so geschieht auch das hier in pantomimischen Tänzen, welche die Empfindung des Augenblicks wiedergeben. Ja solche Pantomimen machen einen Haupttheil des Cultus der Indianer aus. Sie werden vielfach in Masken und Verkleidungen aufgeführt, und diese Aufführungen kehren alljährlich wieder. Einundzwanzig solcher pantomimischen Festtänze haben heute noch die Irokesen. Ein Bär kommt so aus seiner Höhle hervor, dreimal muss er sich, nachdem auf ihn Jagd gemacht worden ist, in dieselbe wieder zurückziehen. Gerade die Thiermaske mit ihrer starken erschreckenden oder auch komischen Wirkung ist besonders beliebt, und sie ist der primitive Ausdruck jener Mischung des Furchterregenden oder Lächerlichen mit dem Hässlichen, die wir später als eines der wirksamsten poetischen Recepte kennen lernen werden. Zwischen dem Tanz und der mimischen Darstellung ist auf dieser niederen Stufe der Civilisation nirgend eine Grenze. Ich möchte sagen, der Tanz wird hier allmälig zur Kunstform für die dramatische Pantomime, wie es Metrum und Reim für die poetische Sprache sind. Bei den Negern von Akra tritt schon die lustige Person auf, deren Streiche mimisch dargestellt werden Angaben über die Quellen bei Tylor, Anfänge der Cultur II 133, 421, Anthropologie 354 ff. Lubbock, Entstehung der Civilisation 445. Waitz, Anthropologie der Naturvölker II 243; III 137, 210; IV 123, 476. .   4. Im Folgenden werden wir durchweg die Technik grösserer dichterischer Gebilde, epischer oder dramatischer, erörtern.   Jedes lebendige Werk grösseren Umfangs hat seinen Stoff in einem Erlebten, Thatsächlichen und drückt in letzter Instanz nur Erlebtes, gefühlsmässig umgestaltet und verallgemeinert, aus. Daher darf in der Dichtung keine Idee gesucht werden.   Goethe bemerkt über die Wahlverwandtschaften, dass sie keinen Strich enthalten, der nicht erlebt ist, aber auch keinen, so wie er erlebt wurde. Aehnliche Mittheilungen von ihm über andere Werke sind vorhanden. Die heutige Litteraturgeschichte hat sich das Verdienst erworben, überall nach der stofflichen Grundlage zu suchen. Sie fand bald persönliche Erfahrung, bald Erzählung aus Vergangenheit oder Gegenwart, bald schon dichterische Bearbeitung, zumal in der Novelle. Zuweilen ergab sich ein einfacher Stoff, in anderen Fällen eine Combination von solchen als Grundlage. Ueberall zeigte sich Thatsächlichkeit als der letzte süsse und feste Kern jedes poetischen Werkes.   Daher enthält ein dichterisches Werk jederzeit mehr, als in einem allgemeinen Satz ausgedrückt werden kann, und gerade aus diesem Ueberschuss fliesst seine packende Kraft. Jeder Versuch, die Idee einer Dichtung von Goethe aufzusuchen, setzt sich mit den ausdrücklichen Erklärungen Goethes selber in Widerspruch. „Die Deutschen machen sich mit ihren Ideen, die sie in Alles hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, erheben, belehren, zu etwas Grossem entflammen, aber denkt nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend ein abstracter Gedanke oder Idee wäre.“ „Wenn durch die Phantasie nicht Sachen entstünden, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre an der Phantasie nicht viel.“ „Je incommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Production, desto besser.“ Er erfreut sich an dieser Unfassbarkeit seiner grössten Werke und bemerkt richtig, wie sich in den bedeutendsten derselben verschiedene Zustände seines Lebens und wechselnde Ideen über diese zusammengeschoben haben und so ihre Unfasslichkeit für den Verstand noch gewachsen ist. Schon aus diesem Grunde ist für ihn selber der Meister „eine der incalculabelsten Productionen“; „ja, um sie zu beurtheilen, fehle ihm beinahe selber der Massstab.“ Und den Faust nennt er ausdrücklich etwas ganz „Incommensurables“ und findet alle Versuche vergeblich, ihn dem Verstand näher zu bringen. In welchem Sinne das Erlebte in der Dichtung dennoch zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben wird, spricht er in Bezug auf Wilhelm Meister aus. „Die Anfänge entsprangen aus einem dunklen Gefühl der grossen Wahrheit, dass der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.“   Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten werden, wie sie noch gegenwärtig unter dem Einfluss der Aesthetik Hegels herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder gemacht worden. Doch kann nur die ganz incommensurable Thatsächlichkeit, dem Dichter nachstammelnd, beschrieben werden, welche er in seinem Drama zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben hat. Da er nämlich ein feines und starkes sittliches Gefühl, im Zusammenhang mit der protestantischen Religiosität seiner Tage, in sich ausgebildet hatte, gerieth dasselbe vielfach in widrige Berührung mit den zweifelhaften moralischen Verhältnissen, in denen er sich emporarbeitete. Hieraus entsprang ihm neben der Freude einer grossen Natur an der heroischen Leidenschaft, an dem Glück und Glanz dieser Welt ein sehr tiefes Gefühl ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Schadhaftigkeit. Das englische Drama vor ihm hat durch die stärksten Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer und komische Situationen, durch sinnliche Lebensmacht und tragischen Tod gewirkt. Shakespeares Energie der sittlichen Gefühle brachte in dasselbe den inneren Zusammenhang von Charakter, Leidenschaft, tragischer Schuld und Untergang, sowie die Nebenordnung verwandter Handlungen, und schuf so die Technik der classischen englischen Tragödie. Aber dieselbe Stärke seiner moralischen Gefühle hatte früh Erfahrungen und Urtheile über den Charakter der Welt, wie sie in seinen Sonetten vorliegen, zur Folge. Als er nun die Hamletsage kennen lernte, fand er hier das furchtbarste Symbol für die moralische Gebrechlichkeit der Welt. Ein zartbesaitetes sittliches Gemüth muss die eigene Mutter schuldig finden, ja verachten, und den Vater an ihrem Gemahl, dem König, rächen. Er verknüpfte nun hiermit Bilder der ihm nur allzu bekannten höfischen Corruption. Hatte das Problem des Wahnsinns ihn immer beschäftigt, so wob er dann in die Fabel ein weiteres Symbol menschlicher Gebrechlichkeit; er liess die schreckliche Verwandtschaft zwischen den sinnlichen Kräften einer reinen Mädchenseele und den Bildern, die im Wahnsinn über sie hereinbrechen, in Ophelien gewahren. Die auf dieser Grundlage in Spiel und Gegenspiel entworfene Handlung gestattet eine verschiedene Interpretation. Aber soviel sieht man doch deutlich, wie hier im Erlebniss des Dichters und in den erschütternden Symbolen für dasselbe ein Kern des Dramas liegt, der in keinem Satze ausgesprochen werden kann. In der Seele des erschütterten Zuschauers geht dann Alles zu einer nur bildmässigen und gefühlten Einheit der tiefsten Lebenserfahrungen zusammen, und das ist eben, was Poesie ihm sagen will.   In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann Grenzen der dichterischen Einbildungskraft. Die Abhängigkeit der epischen Poesie von Mythos und Sage während der heroischen Zeit der Völker ist von der Philologie im Einzelnen festgestellt worden. Aber auch von der Tragödie kann der Satz aufgestellt werden:   Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen Schaffen eine äussere Thatsächlichkeit, Bericht, Novelle etc. wie unerbittliche Wirklichkeit gegenübertritt. Nun strebt die Einbildung, diesem Wirklichen Einheit, Innerlichkeit und Bedeutung zu geben. In dem Maasse, in welchem die Sprödigkeit des Factischen sich als unbezwinglich erweist, entspringt der Handlung und den Personen hieraus eine besondere Art von Illusion und Wirkungskraft.   5. Die Transformation des Stoffes zu dem dichterischen Werke hat überall mit dem Mittel zu rechnen, in welchem der Bildzusammenhang erscheint. Von diesem findet sie sich überall bedingt. Aber hier ist nun entscheidend, dass dies Mittel nicht einfach in dem sprachlichen Ausdruck, in der Folge der Worte gesehen werden darf.   Das Mittel, in welchem der Bildzusammenhang erscheint, ist nach seinem ersten Momente die Folge der Worte in der Zeit. Die dichterische Formation dieses Mittels für das Gefühl ist in der Anordnung der Tonqualitäten, in dem Rhythmus und in der Periodisirung gegeben. Da die Energie des Gefühls die metrischen Verhältnisse bedingt, hat die vergleichende Metrik nicht von den Beziehungen der Zeitdauer, sondern von denen zwischen der Energie des vom Gefühl angeregten Stimmvorgangs, den Widerständen, die er zu überwinden hat, der steigenden und sinkenden Bewegung etc. auszugehen. Das andere Moment des Mittels, in welchem der Bildzusammenhang sich aufbaut und als Ganzes besteht, ist der durch die Erinnerung ermöglichte Zusammenhang der Vorgänge in der Phantasie des Hörers oder Lesers.   Wir fanden Principien poetischer Wirkung im einzelnen Ton, in den Verhältnissen der Töne, in dem wechselnden Rhythmus und den Beziehungen dieser sinnlichen Eigenschaften der Wortfolge zu dem Spiel seelischer Zustände. Hier gewahren wir das erste Moment des Mittels, in welchem poetische Bilder, die doch zunächst ein innerlicher Besitz des Dichters sind, auch für einen Leser oder Hörer sichtbar werden. Die psychologische Interpretation dieses Moments ist von dem empirischen, vergleichenden Studium solcher dichterischen Darstellungsmittel abhängig. Aristoteles hat das Band zwischen dem Gegenstande der Poesie und ihrer metrischen Form noch nicht gesehen. Ihm stehen als die beiden αἰτίαι φυσικαί der Dichtkunst der Nachahmungstrieb und der uns gleichfalls angeborene Sinn für Tact und Harmonie (worin der Sinn für metrische Form eingeschlossen ist) unvermittelt neben einander Vahlen, Beiträge zu Aristoteles Poetik I 11. . Hiervon lag der Grund in seinem einseitigen Princip der Nachahmung. Unsere psychologische Grundlegung hat den Zusammenhang aufgezeigt. Das Gefühlsmässige der Handlungen und Charaktere tritt auch in dem Darstellungsmittel der Sprache, und zwar durch die Einbildungskraft gesteigert, hervor. Es besteht ein ursprüngliches Verhältniss zwischen den Bewegungen der Gefühle, den Spannungen des Willens, dem schnelleren oder langsameren Ablauf der Vorstellungen und dem Ton, seiner Stärke, Höhe, schnellen oder feierlichen Abfolge, seinem Steigen oder Fallen. Die Stärke und Beschaffenheit der Gefühle, die Energie der Willensspannung, der leichte, ja sich überstürzende Fluss der Vorstellungen in gehobener Stimmung, das Stocken derselben im Schmerz stehen in festen physiologisch bedingten Verhältnissen zur Höhe, Stärke und Geschwindigkeit der Töne. Diese werden erfahren in der betonten Rede. Wir dürfen annehmen, dass in den primitiven Zeiten bei grösserer Stärke des Gefühlsgehaltes die Rede dem Recitativischen näher stand. Von hier entnahm die Musik die Schemata der Melodieen, wie sich deutlich aus der nationalen Verschiedenheit derselben nachweisen lässt. Hier war auch der Ursprung des Metrums, welches ja zunächst mit dem Recitativischen oder Gesangsmässigen sowie mit dem Tanze noch verbunden war. So ergiebt sich, dass nicht die Verhältnisse der Zeitdauer für sich als primäre metrische Thatsachen zu betrachten sind, sondern die Verhältnisse von Energie, Widerstand, steigender und sinkender Bewegung etc. Aber der Versuch, Principien der metrischen Form zu finden, ist hoffnungslos, so lange mit der feineren Kenntniss der Sprachen der Naturvölker auch die ihrer metrischen Formen uns fehlt. Wir unterscheiden mit Mühe die metrische Wirkung der Wiederholung von Worten, den Refrain, die einfache Abzählung von Silben etc. (Tylor, Anthrop. S. 343 ff. Waitz IV 476).   Das andere Moment des Mittels, in welchem ein Bild als Ganzes auffassbar wird, ist der durch das Gedächtniss hergestellte Zusammenhang. Nicht in den verklingenden Worten, deren eines das andere verdrängt, sondern in dem, was vermittelst ihrer im Hörer sich aufbaut, ist die Handlung, der Charakter als Ganzes ausserhalb des Dichters wirklich. In diesem Mittel stellt sich nun der Verlauf des Seelenlebens auf die angemessenste Weise dar. Handlung, Seelenvorgang sind das der Poesie entsprechende Object. Dagegen muss das Simultane des Bildes erst durch eine Abfolge hergestellt werden, in welcher die einzelnen Bildbestandtheile festgehalten, erinnert, auf einander bezogen und an einander gesetzt werden. Da nun nach der Natur des ästhetischen Eindrucks jeder Moment für sich Befriedigung gewähren soll, eine längere Schilderung aber durch unfertige Bestandtheile ermüdet, so muss der Kunstgriff angewandt werden, durch Handlungen, welche schon in ihren einzelnen Gliedern das Auffassen befriedigend beschäftigen, den Bildzusammenhang herzustellen. So wird das Lessing'sche Gesetz in Bezug auf seine Fassung und Begründung eine Fortbildung erfahren müssen. Daraus, dass die Worte einander in der Zeit folgen, ergiebt sich noch nicht, dass der in der Seele entstehende Bildzusammenhang auf das Successive einzuschränken sei.   Der Folge der Worte entspricht am besten die Handlung, da deren einzelne Glieder schon, jedes für sich, eine Befriedigung gewähren, während zugleich jedes zum Aufbau des Ganzen in der Seele etwas beiträgt. Daher ist die Darstellung des Simultanen nur in dem Verhältniss Gegenstand der Poesie, als sie entweder naturgemäss durch Handlungen bewirkt wird (Charakter) oder durch einen Kunstgriff in die Form der Handlung gebracht werden kann (äusseres Object, körperliche Schönheit).   6. Wir erörtern nun die Verfahrungsweise, durch welche das dichterische Schaffen unter den Bedingungen seines Mittels Werke hervorbringt, und hier tritt uns eine doppelte Richtung des Verfahrens entgegen, welche in der Natur des Erlebnisses angelegt ist.   Wie in der Wissenschaft inductives und deductives Verfahren sich trennen und mannigfach zusammenwirken, so sind im Erlebniss zwei Arten des Phantasievorgangs angelegt: der subjective Zustand wird in dem Symbol eines äusseren Vorgangs versinnlicht, die äussere Thatsächlichkeit wird verinnerlicht. Hiernach scheiden sich subjective und objective Dichter.   Ich habe dieses Grundverhältniss in der Phantasie zuerst in einer Abhandlung „Ueber die Einbildungskraft der Dichter“ Zeitschrift für Völkerpsychologie Bd. X 42 ff. Ich füge hinzu, dass ich in dem Vortrag über dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, 1886, einige Hauptpunkte der jetzt in dieser Abhandlung vorgelegten psychologischen Grundlegung allgemeinverständlich dargestellt habe; in meinen literarhistorischen Abhandlungen über Lessing, Novalis, Dickens, Alfieri etc. habe ich, der hier gegebenen Grundlegung entsprechend, vielfach psychologische Gesichtspunkte für die literarhistorische Charakteristik zu verwerthen gesucht. So enthalten auch sie Ergänzungen des hier Dargelegten. entwickelt und auf literarhistorischem Wege zu begründen unternommen. Schon Schiller stellte zwei Grundstimmungen der Phantasie, die naive und sentimentalische, einander gegenüber. Er bezeichnete so nicht Epochen der Literatur, sondern Grundverfassungen der Dichter. Ich versuchte nun den am meisten elementaren Unterschied in dem Verfahren der Phantasie an dem literarhistorischen Material zu erkennen, da der von Schiller aufgestellte ein sehr zusammengesetzter und historisch bedingter ist. Die vorliegende Untersuchung bestätigt psychologisch den durch literarische Methode aufgefundenen Unterschied.   Jede zusammengesetzte Untersuchung verknüpft inductive und deductive Verfahrungsweise. So muss auch jedes grössere dichterische Werk beide Richtungen des Phantasievorgangs vereinigen. Doch überwiegt in Dichtern wie Shakespeare und Dickens ganz die dichterische Belebung der Bilder, welche die Aussenwelt ihnen bietet. Shakespeare scheint mit den Augen aller Menschenarten in die Welt zu blicken. Er lebt mit seinem Montaigne in der Analyse menschlicher Charaktere und Leidenschaften. Er liefert in seinen grossen Dramen gleichsam Präparate der Hauptaffecte. So scheint er ganz in solcher Hingabe an die ihm gegenübertretende Wirklichkeit aufgegangen zu sein. Wenn wir das in ihm nur aus seinen Werken schliessen, so sehen wir es in Dickens. Dieser lebte in derselben Gesellschaft mit Carlyle und Stuart Mill. Er liebte Carlyle. Aber in ihm war nichts von dessen tiefsinniger Grübelei über die letzten Fragen des Lebens. Auffassung der Gesellschaft um ihn, in Liebe und Hass, unermüdliche Beobachtung der Menschennatur, mit dem tiefen Blick, den der Glaube an die Menschheit giebt, und die Ausbildung aller denkbaren Kunstgriffe des modernen Romans, durch welche er der wahre Schöpfer dieser Kunstform wurde: das erfüllte sein Leben. Dagegen ist der Faust Goethes aus Lebensmomenten des Dichters selber zusammengesetzt. So ist überhaupt in der Regel sein Verfahren. Für ein inneres Erlebniss findet sich ein allgemein interessirender Vorgang. Mit einem Schlage, durch Inspiration vollzieht sich eine Verschmelzung, nud nun beginnt. ein Process langsamer Metamorphose und Ergänzung an dem gefundenen Symbol. Jahrelang trägt er in dies Gefäss einer vorgefundenen oder ersonnenen Geschichte seine Leiden und Freuden, die Conflicte seines Herzens, die tiefsten Erschütterungen seines Gemüthes. Manchmal ein halbes Leben hindurch. „Auch bildet Faust keine Ausnahme in Bezug auf Charakteristik, er ist nur der Gipfelpunkt dieser Kunst. In Goethe's flüchtigsten Zetteln, in seinen lyrischen Gedichten erscheint sein wunderbares Vermögen, Zustände auf ihrem thatsächlichen Hintergrund als Bilder hinzustellen, auf das zarteste auszudrücken und in Tropen zu veranschaulichen. Dann stellt er, was ihn bewegt, in dem grossen Tropus einer Handlung dar, welche in schöner Verkleidung das innerste Erleben auszusprechen gestattet. Lauter und rein, wie die Natur selber, stellt er dies Alles hin; nie ist Jemand wahrer gewesen. So wird Goethe, in seinen Selbst-Darstellungen aufgefasst, das verkörperte Ideal seines Zeitalters, und Faust ist der umfassende Tropus, in welchem er sein ganzes Leben erblicken liess.“ Wie ich in solchen Sätzen in der bezeichneten Abhandlung die poetische Technik Goethes zu entwickeln gesucht habe, so könnte auch die der beiden grossen pathologischen Dichter, Rousseau und Byron, aus solcher Verfahrungsart der Phantasie anschaulich erklärt werden. In seiner ersten Epoche hat ebenso Schiller vorwiegend aus seinen eigenen persönlichen Zuständen das innere Leben seiner Helden geschöpft.   7. Die Transformation des Stoffes vollzieht sich von den Gefühlen aus, diese aber sind sehr zusammengesetzt. Wir nennen ein Aggregat von Gefühlen, dessen Bestandtheile nicht heftig und stark auftreten, aber längere Dauer und grosse Expansivkraft haben, eine Stimmung. Gefühlsverbindungen solcher Art sind nach ihren Eigenschaften für poetisches Schaffen und poetischen Eindruck geeignet. Wir nennen sie dann poetische Stimmungen. Die Stimmung, die in der Hervorbringung eines Werkes wirkt, wird auch durch das Auffassen desselben hervorgerufen.   Poetische Stimmungen, Aggregate von Gefühlen, die nicht heftig wirken, aber andauern und sich allen Vorgängen mittheilen, bewirken die Veränderungen in den Bildern nach den dargestellten Gesetzen. Die Mannigfaltigkeit solcher Gefühlsaggregate ist unbegrenzt. Aber die geschichtliche Continuität in der dichterischen Technik hat zur Folge, dass an bevorzugten Punkten dieser Mannigfaltigkeit, welche für dichterisches Schaffen und Geniessen besonders günstig sind, poetische Stimmungen festgehalten, ausgebildet und durch Werke überliefert werden. Sie stellen sich in den ästhetischen Kategorien des Ideal-Schönen, Erhabenen, Tragischen, in welches dann das Hässliche gemischt sein kann, andrerseits des Rührenden, des Komischen und des Anmuthigen oder Zierlichen dar.   Psychologie und Literaturgeschichte werden gemeinsam die Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende Seelenleben, ohne Störung und Unlustgefühl, die Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte das Idealschöne bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas Uebergrosses in der Bedeutung des Objectes zu überwinden, im andern Falle etwas Geringes.   Die Stimmung, in welcher ein Object erhaben erscheint, enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen: entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen. In dem Tragischen ist die Zusammensetzung der Gefühle eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. „Das grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“ So entsteht eine Steigerung derjenigen Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende Handlung mit einem reinen Schluss, dabei drückt es den Charakter des Wirklichen aus (wie man denn in ihm ein Gesetz der wirklichen Welt hat finden wollen) und befriedigt so den Verstand. In das Tragische kann als ein weiterer Bestandtheil das Unlustgefühl eintreten, welches durch die ästhetische Kategorie der Hässlichkeit bezeichnet wird. Die Frage, ob das Hässliche Gegenstand der Kunst sein könne, entsteht nur aus einer unglücklichen abstracten Ausdrucksweise. Denn die Eigenschaft des Hässlichen ist immer ein untergeordneter Bestandtheil an dem ästhetischen Gegenstande, welchen die Poesie hinstellt; sie wirkt stets nur indirect ästhetisch, und die in ihr enthaltene Unlust muss in dem Aggregat der Gefühle überwogen und in der Abfolge derselben in Befriedigung übergeführt werden. Es giebt sonach bestimmte ästhetische Orte, an denen das Hässliche auftreten darf. Einen solchen Ort bezeichnet die Verbindung des Erhabenen als eines Furchtbaren mit dem Hässlichen. So steigern schon Bemalungen und Masken der Wilden durch die Hässlichkeit den Eindruck des Furchtbaren. Dieselbe Steigerung des Schreckens wird durch Dantes Zeichnung des Cerberus oder des Höllenrichters Minos und durch die Missgestalt Richards III hervorgebracht. Von demselben starken Recept haben Victor Hugo sowie die französischen Romantiker einen übermässigen Gebrauch gemacht, und Dickens bedient sich desselben für seine schlimmsten Bösewichter. Die Erhabenheit des Bösen ist das Dämonische. Auch das furchtbare Böse ist schliesslich erhaben. Es ist erhaben, wenn Adah, Kains Weib, von Lucifer sagt: „In seinem Blick liegt eine Macht, die mein unstetes Auge auf seines heftet.“ Der Mensch, für dessen Willen keine Schranken sind, wird der Naturgewalt selber ähnlich. Er wirkt Schrecken um sich. Er ist einsam mitten in der Gesellschaft, wie das Raubthier. Zu dieser Mischung des Erhabenen, Tragischen und Bösen kann sich dann noch das Hässliche gesellen. Die Grenzen des ästhetischen Eindrucks werden hier berührt.   Wir dachten das Schöne als die Mitte auf einer Linie von poetischen Stimmungen. Die andere der beiden Seiten wird nun durch die Stimmungen gebildet, in denen das Gefühl etwas Geringes an dem Gegenstand überwinden muss. Dem Rührenden fehlt schon das Siegreiche der Schönheit und so ist ihm ein leises Unlustgefühl der angegebenen Art beigemischt. Das Komische entsteht und wird genossen in einer poetischen Stimmung, die auf derselben Seite liegt. Zwar wird das Lachen durch ausserordentlich verschiedene Vorstellungen oder Beziehungen derselben hervorgerufen. Das Lachen, welches das Unfassbare, das unüberwindlich Plagende oder das Verächtliche erregt, hat mit dem Lachen, welches die witzigen Gedankenverbindungen hervorrufen, nur einen schwer errathbaren Grundzug in dem seelischen Vorgang und den uns unbekannten Zusammenhang von diesem Seelenvorgang bis zu der erfolgenden plötzlichen Explosion gemein. In jedem dieser Fälle ruft ein Contrast eine seelische Erschütterung hervor, welche sich auf dem Gebiete der Respiration entladet, auf welchem auch andere Seelenzustände sich in Seufzen, Schluchzen, zornigem Schnauben äussern. Aber die poetische Stimmung, in welcher das Komische als Situation, Vorgang oder Charakter entsteht und genossen wird, beruht auf einer besonderen Art des lachenerregenden Contrastes. Geringes, Niedriges oder Thörichtes macht sich hier irgendwie dem Idealen, Schicklichen oder auch nur äusserlich Würdigen gegenüber geltend. Die bevorzugte Stelle dieser poetischen Stimmung ist dadurch bedingt, dass sich nur vermittelst ihrer auf dem Standpunkte des vollen wirklichkeitsdurstigen Realismus die Discrepanzen des Aeusseren und Inneren, der Ansprüche und des Werthes, des Ideals und der Erscheinungen durch ein indirectes Verfahren in einen ästhetischen Seelenzustand auflösen lassen. Hier ist dann wieder ein Ort, an welchem die Beimischung des Hässlichen ästhetisch wirksam ist, ja eine Dosis Unanständigkeit kann in das Recept aufgenommen werden. Jean Pauls Katzenberger und gar manche Figuren von Dickens bezeugen das Eine, Situationen bei Sterne und Swift beweisen das Andere. Wir gleiten auf der Linie des Geringen weiter, indem wir die Stimmungen betrachten, in denen das zierlich Anmuthige, das Naive, das Kleine poetisch hingestellt oder genossen wird.   Die poetischen Stimmungen stehen zu den dargestellten Gesetzen der Umbildung des Stoffes in Verhältnissen, welche eine fruchtbare Causalbetrachtung zulassen. Die idealische Stimmung erwirkt Ausschaltungen, die erhabene Steigerungen, das Zierliche geniessen wir, indem wir es noch herabmindern: ein weites Feld psychologisch ästhetischer Forschung thut sich hier auf.   8. Wie wir an einem Naturkörper Dichtigkeit, Schwere, Wärmezustand trennen und nun diese allgemeinen Eigenschaften aller Körper isolirt untersuchen, wie wir die Functionen des thierischen Stoffwechsels, der Empfindung und der willkürlichen Bewegung in der Physiologie des thierischen Körpers sondern und studiren: so trennen wir an dem dichterischen Werke Stoff, poetische Stimmung, Motiv, Fabel, Charaktere, Handlung und Darstellungsmittel. Die Causalbeziehung innerhalb eines jeden dieser Momente einer Dichtung wird studirt werden müssen; auf diesem Wege erst wird eine Causalerklärung dieser Geschöpfe der Einbildungskraft möglich. Wir erörtern nun das Motiv.   An dem Stoff der Wirklichkeit wird durch den dichterischen Vorgang ein Lebensverhältniss in seiner Bedeutsamkeit aufgefasst; was so entsteht, ist eine Triebkraft, durch welche Transformation in das poetisch Bewegende erwirkt wird. Das Lebensverhältniss, so erfasst, gefühlt, verallgemeinert und dadurch Wirkungskraft dieser Art geworden, wird Motiv genannt. In einer grösseren Dichtung wirkt eine Anzahl von Motiven zusammen. Unter ihnen muss ein herrschendes die Triebkraft haben, die Einheit der ganzen Dichtung herzustellen. Die Zahl möglicher Motive ist begrenzt, und es ist eine Aufgabe der vergleichenden Literaturgeschichte, die Entwicklung der einzelnen Motive darzustellen.   Die Transformation eines Stoffes unter der Einwirkung der poetischen Stimmungen, deren der Stoff mannigfache und contrastirende erregen kann, ist nun weiter davon abhängig, dass die im Stoff enthaltenen Lebensverhältnisse nach ihrer Bedeutsamkeit, d. h. in ihrem allgemeingültigen Werthe für das menschliche Gefühlsleben ergriffen werden. Sofern ein Lebensverhältniss in dieser Bedeutsamkeit aufgefasst wird und folgerecht seine Vorstellung die Triebkraft empfängt, dichterische Transformation zu erwirken, nennen wir es Motiv. Sowohl Goethe als Schiller bedienen sich dieses Begriffes, und Goethe giebt in seinen Sprüchen wenigstens für das engere Gebiet der tragischen Dichtung eine Begriffsbestimmung. Dieselbe ist mit der eben entworfenen in Uebereinstimmung. „Des tragischen Dichters Aufgabe und Thun ist nichts Anderes als ein psychisch-sittliches Phänomen, in einem fasslichen Experiment dargestellt, in der Vergangenheit nachzuweisen“ (Sprüche in Prosa, Ausg. Löper 772). „Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist“ (773). Ein solches Motiv ist die Anziehungskraft des Wassers, insbesondere der dunklen Wassermassen in der Nacht: Undine ist seine Verkörperung.   Motive sind in der Wirklichkeit nur in einer begrenzten Zahl gegeben. Das hob schon Gozzi hervor; er hatte behauptet, es gebe nur 36 (herrschende) Motive zu einem Trauerspiel, und diese Frage bildete ein Lieblingsproblem Goethes im Gespräch: mit Eckermann, Schiller und dem Kanzler Müller ist darüber verhandelt worden. Die so begrenzte Gliederung der Motive kann nur durch die Verknüpfung eines vergleichenden literar-historischen Verfahrens mit psychologischer Analyse bestimmt werden, und ein solches Verfahren vermöchte denn auch die Entwicklungsgeschichte solcher Motive zu erfassen.   In einem grösseren dichterischen Werke wird ein Mannigfaches solcher Motive verknüpft, doch muss eines derselben vorherrschen. Vermöge der Heraushebung und bewussten Handhabung der Motive erhellt sich gleichsam der an sich dunkle Grund des Erlebnisses, dessen Bedeutsamkeit so wenigstens theilweise durchsichtig gemacht wird. Ich erläutere dies wichtige Verhältniss am Faust. Goethe lebte sammt seinen Genossen in dem Glauben Rousseaus an die Autonomie der Person in der Totalität ihrer Gemüthskräfte. So fand er in sich als Erlebniss das Streben des Individuums nach unbegrenzter Entfaltung in Erkenntniss, Genuss und Thätigkeit. Dies Streben war von dem muthigen Glauben getragen, dass sich der Mensch „in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst“ sei. Da dieser Zustand aus der geistigen Lage der Zeit entsprungen war, hatte er eine ausserordentlich starke Erregungskraft und etwas Allgemeingültiges. Nun fand Goethe das Symbol für ihn in der Faustsage: ein Gefäss, das allen Drang und Sturm, alle Leiden und Freuden jener Tage in sich aufnehmen konnte. Dieser dunkelhelle, partikular-allgemeine Gehalt entfaltete sich nur mit Goethes Leben selber, da ja das Leben den Gegenstand ausmachte. Der Dichter erfuhr nach einander den ungestümen Drang der Jugendtage sowie die in ihm liegenden furchtbaren Gefahren; dann in Weimar die Reinigung des Herzens durch die Anschauung und durch den Besitz der Welt im Anschauen allein: jene cognitio intuitiva und jenen amor dei intellectualis Spinozas auf dem Grunde der Resignation, welche in dem Poeten zugleich künstlerisches Betrachten waren. Aus der ästhetischen Erziehung erhob sich ihm dann die Kraft zu einer reinen ins Ganze gehenden Thätigkeit. Es ist sein und Schillers Ideal menschlicher Entfaltung, aus den tiefsten Erfahrungen des eigenen Herzens geschöpft, was so den Gang des Faustgedichtes bestimmt hat. Nun sind mannigfache Motive in der Faustsage enthalten gewesen, und andere wurden von Goethe hinzugedichtet. So erhält die Bedeutsamkeit des Erlebnisses gleichsam ihre Articulation. Aber wieder sehen wir an diesem Punkte, dass eine grosse Dichtung in ihrem Kern irrational, incommensurabel ist wie das Leben selber, welches sie darstellt. Und das hat Goethe vom Faust ausdrücklich gesagt.   9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken, entsteht in beständigen Umbildungen ein Gefüge der Dichtung, welches gleichsam vor den Augen des Poeten steht, ehe er die Einzelausführung beginnen kann. Die aristotelische Poetik bezeichnet es als μῦθος Ueber den doppelten Gebrauch des Ausdruckes μῦθος in der Poetik für den Stoff, der dem epischen oder dramatischen Dichter vorliegt (die zu bearbeitenden πράγματα ) und für dieses ausgebildete Grundgefüge ( σύνθεσις τῶν πραγμάτων ) handelt Vahlen Beiträge zu Aristoteles Poetik I 31 ff. , die unsere hat aus der Fabula der Römer die Bezeichnung Fabel dafür gebildet. In ihr sind Charaktere und Handlungen mit einander verflochten. Denn die Person und ihr Thun oder Leiden, der Held und seine Handlungen sind nur zwei Seiten desselben Thatbestandes. Ohne die Gestalt des Mörders ist der Vorgang des Mordes eine Abstraction. Die Einbildungskraft aber lebt nur in Bildern.   Die Fabel, das ausgebildete Grundgefüge einer Dichtung von grösserem Umfang steht vor dem epischen oder dramatischen Dichter fertig da, bevor die Ausführung beginnt. Sie wird in der Regel von ihm aufgezeichnet. Die Literaturgeschichte besitzt ein zureichendes Material, dieses Stadium des Schaffens an solchen Fabeln festzustellen und deren Grundeigenschaften und Hauptformen durch vergleichendes Verfahren zu entwickeln.   Wie überall in der Natur gelangen auch innerhalb des dichterischen Schaffens nur wenige der vorhandenen Keime zur Reife. So bewahrt die Literaturgeschichte eine erhebliche Zahl dramatischer Entwürfe auf, die nicht zur Ausführung gelangten. Belehrender ist doch die Vergleichung ausgeführter Dramen mit ihrem Entwurf. Wir können in die Werkstatt von Schiller, Lessing, Goethe, Kleist, Otto Ludwig so hineinsehen und einiges von ihren Atelier-Geheimnissen erlauschen. Schiller hat manchen Entwürfen eine Darstellung der historischen und socialen Situation vorausgeschickt. Andere Dichter eilen in solcher Darstellung der Fabel sofort zu den Schlagscenen hin, die den Kern der dramatischen Wirkung enthalten.   Der epische Dichter bedarf nicht einer so strengen Führung der Handlung als der dramatische. Die ihm vorschwebende Fabel der Handlung scheint daher nicht so nothwendig eine Aufzeichnung zu fordern. Dass Walter Scott seine Fabel aufzuschreiben pflegte, scheint aus folgender Stelle in der Einleitung zu the fortunes of Nigel hervorzugehen. „Hauptmann: Wenigstens sollen Sie sich Zeit nehmen, Ihre Geschichte zu ordnen. Verfasser: Das ist ein harter Punkt für mich, mein Sohn. Glauben Sie mir, ich bin nicht so thöricht gewesen, die gewöhnliche Vorsicht zu vernachlässigen. Ich habe mein künftiges Werk zu wiederholten Malen abgewogen, es in Bände und Capitel eingetheilt und mich bemüht, eine Geschichte zusammenzufügen, welche sich stufenweise und schlagend entwickelte, die Spannung erhielt und die Neugier reizte und zuletzt in einer packenden Katastrophe endigte. Aber ich glaube, ein böser Geist setzt sich mir auf die Feder, wenn ich anfange zu schreiben und lenkt sie anders, als ich will. Die Charaktere dehnen sich unter der Hand, die Vorfälle mehren sich, die Geschichte stockt, während der Stoff anschwillt; mein regelrechtes Haus wird zu verschnörkelter Gothik und das Werk ist geschlossen, ehe ich das Ziel erreiche, das ich mir vorgesteckt.“ ─ Balzac schrieb nicht nur ein Scenarium nieder, sondern liess es in schmalen Colonnen auf breiten Fahnen drucken. Aus den Erweiterungen dieses Scenariums bildete sich in mindestens einem halben Dutzend Drucken sein Roman (Gautier p. 73). ─ Spielhagen erzählt Folgendes in seiner Technik des Romans (S. 26), welche so reich an technischen Einsichten ist, wie eben nur Mittheilungen eines Dichters es sein können. Vor der Ausarbeitung fertigt er eine Liste der Personen an, soweit er sie schon kennt, und zwar mit ihrem Signalement; ebenso entwirft er einen Aufriss des Planes. Eine detaillirte Aufzeichnung wird dann bald durch den unwiderstehlichen Drang, zur Ausführung selber überzugehen, unterbrochen. Die Fabel der epischen Erzählung erfährt während der Ausführung öfter Veränderungen, als die des Dramas, weil ihre Glieder nicht so fest gefügt sind. ─ Da nun die Fabel aus Charakteren und aus Handlungen oder Begebenheiten zusammengefügt ist, entstehen zwei Grundformen ihrer Structur. Wir stellen den Satz auf: entweder hat die Structur der Fabel den Mittelpunkt der ästhetischen Wirkung und demgemäss des Gefüges in dem Vorgang innerhalb der Seele des Helden, oder in der nach Spiel und Gegenspiel vertheilten Handlung. In Drama wie Roman haben die romanischen Völker die zweite Form besonders ausgebildet. Die erste ist bei den germanischen vorwiegend vertreten.   Schon bei den Griechen herrscht die Führung der Handlung im Spiel und Gegenspiel vor. Sie ist zu einem eigenthümlichen Gleichgewicht von Rede und Gegenrede in der halbmusikalischen Form ihres Dramas ausgebildet. Die Spanier haben einen erstaunlichen Scharfsinn aufgewandt, sinnlich mächtige Situationen zu einer spannenden, in Spiel und Gegenspiel durch immer neue Theaterstreiche überraschenden Handlung zu verketten. Eines der glänzendsten Beispiele hiervon ist der „Weber von Segovia“ von Juan Ruiz de Alarcon. Dagegen sind ihre Personen vielfach nur Masken. Die klassische französische Tragödie hat nur die spanische Technik simplificirt, und die französische Komödie seit Molière hat dieser Form die höchste Vollendung gegeben: als der am meisten dichterische Ausdruck des französischen Geistes überhaupt. Auch der Roman der Franzosen ist in der Regel von einer Krisis aus construirt. Ebenso sind die Wahlverwandtschaften gewiss nicht eine Novelle, sondern ein Roman von dieser Structurform. Das Drama und der Roman der Deutschen und Engländer haben eine Form ausgebildet, welche zwar vielfach die Kunstgriffe des Spiels und des Gegenspiels benutzt, aber den inneren Vorgang im Helden zum Mittelpunkt der poetischen Wirkung macht. Das giebt dem Helden Shakespeares die wuchtige Ueberlegenheit über die ihn umgebenden Personen, dass er allein mit sich zu Rathe geht, mit seinem Gewissen ringt und sich in seiner Verantwortlichkeit und seinem Wesen fühlt und monologisch ausspricht. Dieselbe Grundform der Fabel bildet sich in dem neueren Roman aus. Das erfahrungslose Herz, das in die Welt tritt, der optimistische, noch mit den Untiefen der Menschennatur unbekannte und der Zukunft fröhlich entgegeneilende Geist, ihm gegenüber aber die Welt, ─ wer verlangt, dass ich sie charakterisire? ─ auf diesem Gegensatz baut sich das Epos unserer individualistischen Epoche auf. Das ist unsere Ilias und Odyssee. Es ist, was immer neu geschieht, wo ein jugendfrisches Gemüth in die Welt tritt. Es ist, was wir Alle als unsere verlorene Jugend in dem Wilhelm Meister oder Copperfield wiederfinden. Schon der Roderich Random von Smollet ist die Entwicklungsgeschichte eines Knaben, der sich den eigenen Weg durch das Leben bahnen muss. Dickens gab dann dem Roman die vollkommenste Form, welche er bisher erreicht hat. Seine technisch besten Arbeiten haben in die Entwicklung eines Helden Spiel und Gegenspiel, Spannung und Krisis eingeführt. So verknüpfen sie die Hilfsmittel beider Verfahrungsweisen miteinander.   10. Alle weiteren Vorgänge im Dichter sind Umsetzungen der Erfahrung von den dargelegten Unterlagen aus und nach den entwickelten Gesetzen. Sie heben Bilder empor, welche ganz von Gefühlskraft erfüllt und allgemeingültig bedeutsam sind. Indem sie diese aber der Phantasie eines Hörers oder Lesers einzuprägen streben, müssen sie die Einbildungskraft in lebendiges Spiel setzen. Auch darum muss der Zusammenhang der Dichtung in Charakteren, Handlung und Darstellung der vom Ge fühl beflügelten Phantasie angemessen sein. Zeit, Raum und Causalzusammenhang müssen so behandelt werden, dass die Gestalten sich leicht und ohne Widerstand in der Phantasie aufbauen und bewegen. Die Worte und Sätze einer Dichtung gleichen den Farbenklexen auf einem späten Rembrandt: erst die mitwirkende Einbildungskraft des Hörers oder Lesers gestaltet daraus Figuren. Der Gehalt einer Dichtung erwächst aus der Transformation der gefühlsarmen Bestandtheile des Lebens und ihrer mechanisch unbiegsamen Beziehungen nach Raum, Zeit und Causalität in eine poetische Welt. Diese ist dann möglichst aus lauter gefühlswirksamen Bestandtheilen zusammengesetzt. Die Zeit, welche dieselben trennt und zusammenhält, wird nicht durch Uhren gemessen, sondern durch das, was geschieht. So liegt hier nur eine der Poesie eigene freie Verwendung der natürlichen Zeitbestimmung nach dem Ablauf innerer Zustände vor. Daher gehört die französische Einheit der Zeit in eine nüchterne, nach Uhren regulirte Welt, aber nicht in die der Affecte: sie ist mathematische Prosa. Diese Zeitmessung der Phantasie wird kunstvoll dadurch unterstützt, dass ausdrückliche und äusserliche Zeitbestimmungen thunlichst umgangen werden. In ähnlicher Weise werden die Orte durch die unsinnlichen, aber starken Beziehungen der Personen und Handlungen auf einander sich nahe gebracht. Hier wird der Tiefsinn des Dichters die geographische Bestimmtheit vermeiden und lieber mit Shakespeare in die Geographie der Märchenwelt zurückkehren. Der Zusammenhang nach Ursache und Wirkung wird auf wenige nothwendige Glieder eingeschränkt. Er könnte so in der Wirklichkeit nicht functioniren, und er soll auch nur den Schein der Wirklichkeit hervorrufen. Daher konnten scharfe ästhetische Kritiker die Lücken in dem Causalzusammenhang des Wilhelm Meister, des Faust, ja der Shakespeare'schen Dramen leicht aufweisen, aber sie haben damit weder Goethe noch Shakespeare getroffen, sondern nur gezeigt, dass sie den Unterschied von Poesie und Prosa nicht verstanden. Wir sollen nur daran glauben, Folgerichtigkeit zu sehen. Nur der Schein von Wirklichkeit soll erweckt werden. Und dies geschieht nicht durch sorgfältige lückenlose Motivirung, sondern durch jene schlanke Art von Führung der Handlung, welche diese auf wenige Glieder zurückbringt, dann aber dieselben in breiten, lebenswahren Scenen ausgestaltet. Eine solche ganz ausgebildete Scene führt dann von einem Ruhezustand aufwärts zum höchsten Affect.   Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen und Schicksalen in ihr sich nur in der Phantasie eines Hörers oder Lesers aufbaut und dort ihre Existenz hat, steht sie zugleich unter dem Gesetz der Seele, in welche sie tritt; der erworbene Zusammenhang des ganzen Seelenlebens muss zu ihrer Auffassung mitwirken. So muss sie den Gesetzen gemäss sein, welche unser Erkennen an der Wirklichkeit gefunden hat. Sie muss die Gefühlswerthe der Menschen und Dinge richtig ausdrücken, wie sie ein reifer Geist am Leben entwickelt hat. Sie muss ein Verhältniss der Willen und einen Zusammenhang der Zwecke zeigen, wie ihn männlicher Sinn an seiner Arbeit erworben hat. Dann entsteht die Glaubhaftigkeit, die Wahrscheinlichkeit, das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen, deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und Furcht zu erschüttern.   Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen Bildern und Beziehungen. Der Nexus der Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert, die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet.   11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die Technik der Handlung, dass sie nicht eine Abbildung der Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung oder Begebenheit das allgemeinste Gesetz, dass dieselbe Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der Krisis entgegen, und dann von da abwärts zum versöhnten Ende. So dachte sich auch die vom religiösen Gemüth beherrschte metaphysische Begriffsdichtung der untergehenden alten Welt die Handlung in dem Weltganzen. Selige Ruhe, auftretende gegeneinander wirkende Kräfte, Schuld und Schmerz, Wiederbringung aller Dinge in die urerste Seligkeit. Nun ist aber die Art, wie die Versöhnung herbeigeführt wird, geschichtlich bedingt. Sonach ist die Form der Handlung oder Begebenheit nicht allgemeingültig, sondern von dem geschichtlichen Inhalt abhängig.   Die Technik der Handlung im Drama ist seit Aristoteles mit grosser Genauigkeit erkannt worden, und Freytag hat sie zuletzt mit feinem Formensinn behandelt. Er hat zwei Grundgestalten der dramatischen Form aufgefunden, und dies war eine der seltenen wirklichen ästhetischen Entdeckungen. Die Handlung verläuft in Spiel und Gegenspiel. Denn der Held der Handlung bedarf einer gegenspielenden Gewalt. Diese soll das Interesse für den Helden nicht paralysiren, sondern ihn nur in Handlung setzen. Für die so entstehende Handlung ist die Mitte oder der Höhepunkt des Dramas die entscheidende Stelle. Bis zu ihm steigt, von ihm ab fällt die Handlung. Und zwar können sich von dieser entscheidenden Stelle der Construction ab Spiel und Gegenspiel auf zwiefache Weise vertheilen. Entweder das Spiel herrscht im ersten Theile vor: dann steigert sich in dieser ersten Hälfte des Dramas die leidenschaftliche Spannung des Helden aus den inneren Impulsen seines Charakters bis zur That; von da ab beginnt die Umkehr; was er that, wirkt nun auf ihn zurück; indem er der auf ihn eindringenden Reaction der Aussenwelt allmälig unterliegt, fällt die Leitung der Handlung von der Umkehr ab dem Gegenspiel zu. Oder das Gegenspiel überwiegt im ersten Theil: dann wird der Held von der sich steigernden Thätigkeit ihm gegenüberstehender Gewalten bis zum Höhepunkt fortgetrieben; von der Umkehr ab, die damit beginnt, herrscht nun erst die Leidenschaft des Helden Für die nähere Erörterung der dramatischen Handlung, insbesondere den Nachweis der Verschiedenheit ihres Baues, welche durch den ge- schichtlichen Wechsel ihres Gehalts bedingt ist, verweise ich auf meine Erörterung der Schrift von Freytag, Berliner Allgem. Zt. 26. März, 29. März, 3. April, 9. April 1863. .   Die epische Form des Gefüges von Vorgängen ist Begebenheit. Diese Begebenheit repräsentirt den ganzen Zusammenhang der Welt. Ihre allgemeinsten Eigenschaften, wie sie hieraus folgen, sind von Humboldt tiefblickend, wenn auch mit idealistischer Einseitigkeit dargestellt worden. Die Anwendung seiner Principien auf den modernen Roman, welcher der legitime Erbe des Epos und einer strengen Kunstform fähig ist, hat zuerst Spielhagen in seinen Aufsätzen über die Technik des Romans unternommen. Hier liegt eine der Hauptaufgaben der künftigen Poetik.   12. Die Charaktere erhalten zunächst selbständiges Leben im Dichter aus einer noch dunkeln Eigenschaft des Seelenlebens, die wir am Traum beobachten können. Dann erhalten sie eine zweite Existenz in der auffassenden Phantasie. Diese bildet aus einem Nexus von Vorgängen, der für sich nicht lebensfähig wäre, einen Charakter, indem von den energisch betonten Punkten stärksten Gefühlsinteresses aus die wesentlichen Züge anschiessen, die übrigen aber sich in der Dämmerung verlieren. So entsteht der poetische Schein einer ganzen Wirklichkeit. Die vergleichende Literaturgeschichte soll die begrenzte Gliederung typischer Charaktere, die Entwicklung der einzelnen Typen und die verschiedenen Verfahrungsweisen der Einbildungskraft im Bilden und Darstellen derselben entwickeln.   Im Traum stellen wir unserem eignen Ich andere Personen gegenüber, erschrecken vor ihnen oder schämen uns vor ihrem überlegenen Verstande. Eine Wahnsinnige fand sich unaufhörlich im Streit mit einem Richter, dem sie den Verlust eines Processes Schuld gab. Dieser Richter war, wie sie sagte, stärker als sie. Er brachte Argumente und juristische Ausdrücke vor, die sie nicht zu widerlegen, ja nicht einmal zu verstehen vermochte. Solche Trennung unseres Seelenlebens und theilweise Verlegung unseres geistigen Gehaltes in eine fingirte Person enthält unaufgelöste Schwierigkeiten. Doch ist sie die Grundlage der Pantomime, des Dramas sowie der selbständigen Lebendigkeit von Charakteren in der epischen Darstellung. Sie kann am Schauspieler studirt werden. Dieser versetzt sich so in fremde Personen, dass für die Zeit seines Spiels theilweise sein gesondertes Selbstbewusstsein schwindet. Es ist wohl nicht zufällig, dass zwei Schauspieler, Shakespeare und Molière, ihren Personen die grösste selbständige Lebendigkeit verliehen haben.   Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger Gefühlswirkung erhoben, indem Bestandtheile der menschlichen Natur, welche in Jedem stark anklingen, in den wesenhaften Beziehungen, durch welche sie einen Causalzusammenhang bilden, verknüpft werden. Jeder wahrhaft poetische Charakter ist daher ein Unwirkliches und Typisches. So sind gerade die wirksamsten Charaktere Shakespeares blosse Präparate von dem Verlauf einer Leidenschaft in einer für ihre Entfaltung geeigneten Seele. Die Hauptcharaktere Goethes, insbesondere Faust, haben in den einzelnen Lebensmomenten die volle Realität des persönlichen Erlebnisses, aber diese Zustandsbilder sind nur aneinander gesetzt. Die epische oder dramatische Darstellung eines Charakters besteht nur in der sinnfälligen Vergegenwärtigung einzelner Scenen, dagegen existirt der ganze Charakter nirgend in dem Werke, sondern zunächst im Kopf des Dichters, dann in der Einbildungskraft des Hörers oder Lesers. Während er etwas Unwirkliches ist, empfängt er doch den Schein der Wirklichkeit durch einen Kunstgriff, welcher das Gewahren desselben dem von wirklichen Personen ähnlich macht. Das hellste, schärfste Licht des Interesses fällt auf einzelne gefühlswirksame Lebensmomente: diese stehen in fassbaren Beziehungen zu einander und lassen eine Einheit des Charakters ahnen. Wie in der Wirklichkeit werden diese Momente von weniger betonten aus vorbereitet und so entsteht gleichsam die Rundung des Lebens. Denn ein Drama wie Emilia Galotti, das aus lauter affectiven Momenten zusammengesetzt ist, entbehrt der heiteren Gesundheit des Daseins. Das Wesenhafte, Typische des Charakters ist hell beleuchtet und alles Andere scheint mälig in der Dämmerung zu verschwinden. So handelt der Dichter wie der Maler. Auch er stellt nur hin, was in den Umkreis des Interesses, der Aufmerksamkeit und der so bedingten betonten Wahrnehmung fällt. Gerade dadurch wetteifert er mit dem Gewahren des Wirklichen selber. Ein Maler, der Alles sehen lassen will, bringt keine Illusion hervor. Solche Wirkung wird noch verstärkt, wenn, wie in dem Leben selber, in dem Kern der Charaktere etwas Undurchdringliches zurückbleibt. Dies ist allemal der Fall, wenn die Phantasie des Dichters zugleich so mächtig und so realistisch ist, dass sie die Ecken des Stoffes nicht abschleift und das Unregelmässige in ihm nicht ausgleicht. Die so entstehende Irrationalität wirkt äusserst lebendig. Die Gesichtszüge treten dann, halbbeleuchtet nur, theilweise, räthselhaft und nicht zueinander ausgeglichen, aus einer geheimnissvollen Dämmerung hervor, wie in einem Gemälde Rembrandts.   Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters wird immer nur durch eine sehr grosse Lebendigkeit der inneren Vorgänge im Dichter ermöglicht, welche unter angenommenen einfacheren Bedingungen von der blossen Imagination aus diese Vorgänge ins Spiel zu setzen gestattet. Alsdann erwirkt ein Vorgang den anderen in einer Folgerichtigkeit, welche dies Traumbild der Natur selber ähnlich macht. So erklären sich die wiederholten merkwürdigen Aeusserungen Goethes, dass er „die Kenntnisse mannigfaltiger menschlicher Zustände durch Anticipation besessen habe.“ „Ueberhaupt hatte ich meine Freude an der Darstellung meiner inneren Welt, ehe ich die äussere kannte. Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, dass die Welt so war, wie ich sie mir gedacht hatte, war sie mir verdriesslich, und ich hatte keine Lust mehr, sie darzustellen, ja ich möchte sagen: hätte ich mit der Darstellung der Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung Persiflage geworden.“ „Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weiss wie. Meine Frauencharaktere sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.“ Er bemerkte sehr wohl, wie die Auffassung der Structur oder typischen Wesenheit eines Charakters in dieser inneren Nothwendigkeit begründet ist, mit welcher seine Züge einander bedingen, und nur den Grund unsrer Kenntniss hiervon durchschaute er nicht. „Es liegt in den Charakteren eine gewisse Nothwendigkeit, eine gewisse Consequenz, vermöge welcher bei diesem oder jenem Grundzug des Charakters gewisse secundäre Züge stattfinden. Dies lehrt die Empirie genugsam; es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniss davon angeboren sein.“   13. Die Mittel der poetischen Darstellung entstehen, indem die Ziele der Dichtung: sinnliche Energie, welche Illusion hervorbringt, Gefühlswirkung, welche dauernde Befriedigung erregt, und Verallgemeinerung sowie Orientirung des Einzelnen am Denkzusammenhang, welche dem Erlebten Bedeutsamkeit giebt, den ganzen Körper der Dichtung beleben und bis in das einzelne Wort hinein, gleichsam bis in die Fingerspitzen dieses Körpers wirken. So entstehen sinnliche Veranschaulichung, bildlicher Ausdruck, Figur, Tropus, Metrum, Reim. Die Poetik hat zu zeigen, wie die im Kern der Fabel wirksame Natur des dichterischen Schaffens sich zuletzt in diesen Darstellungsmitteln kundgiebt. Daher äussert sich die gefühlskräftige Bewegung, welche die Handlung hervorgebracht hat, schliesslich auch in den Figuren der Rede. Und daher ist zugleich das im Kern des Erlebnisses enthaltene Verhältniss von innerem Zustand und Bildzusammenhang, durch welches die Fabel zu einem Symbol wird, in grossen Dichtern so sehr geistige Form ihres Schaffens, dass hieraus vielfache Mittel der Darstellung entstehen.   Die Lehre von den Darstellungsmitteln ist in der Rhetorik und Poetik der Alten von dem Standpunkte der Formbetrachtung aus mustergültig entwickelt worden. Noch die Poetik Scaligers verhält sich in ihrer ausserordentlich spitzfindigen Durcharbeitung dieser Formen zu der Lehre der Alten wie die classische französische Theorie von der tragischen Handlung zu Aristoteles.   So entsteht die schöne Aufgabe, in diesem Gebiete auf der Grundlage der Sprachwissenschaft Causalerkenntniss, gleichsam eine dynamische Betrachtungsweise, durchzuführen. Die Principien für die Lösung dieser Aufgabe wurden in der psychologischen Grundlegung entwickelt. Ihre Anwendung wird von dem Satz geregelt: Die Natur des dichterischen Schaffens, die Motive, Fabel, Personen und Handlung aus dem Stoff gestaltet, wirkt auch in den einzelnen Mitteln der Darstellung, ja bis in jeden Laut derselben, und aus ihr müssen die Formen, welche die classische Rhetorik und Poetik aufzählt, interpretirt werden.   Wir erläutern dies zunächst an den Tropen. Der reale Kern der Poesie, das Erlebniss, enthält eine Beziehung des Innen und Aussen. „Geist und Kleid“, Beseelung und Versinnlichung, die Bedeutsamkeit der Gestalt oder Lautfolge und die bildliche Sichtbarkeit für das flüchtige Seelische: so sieht überall ein Künstlerauge. Im Stein, in der Blume gewahrt und liebt es das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst.   Liegt doch das oberste Princip des Weltverständnisses in der psychophysischen Natur des Menschen, welche er auf die ganze Welt überträgt. Und zwar bestehen im Traum und Wahnsinn so gut als in Sprache, Mythos und metaphysischer Begriffsdichtung feste gesetzmässige Beziehungen zwischen inneren Zuständen und äusseren Bildern. Versteht man unter einem natürlichen Symbol das Bildliche, das in fester, gesetzlicher Beziehung zu einem inneren Zustande steht, so zeigt die vergleichende Betrachtung, dass auf Grund unseres psychophysischen Wesens ein Kreis natürlicher Symbole für Traum und Wahnsinn, wie für Sprache, Mythos und Dichtung besteht. Wenn eine Seite durch Druck beim Liegen taub geworden ist, so stellt der Träumer sich einen neben ihm Liegenden vor, oder wenn der Druck eine Hand während des Schlafes in lähmungsartigen Zustand versetzt hat, erscheint dieselbe dem Träumenden als ein fremder Körper. Griesinger hat hervorgehoben, wie sich bestimmte innere Zustände und Gefühle des Irren in der Vorstellung ausdrücken, dass dem Kranken seine Ideen von Andern „gemacht“ oder „abgezogen“ würden, und Lazarus hat darauf aufmerksam gemacht, dass bei Naturvölkern entsprechende Vorstellungen auftreten. So drückt sich in einem Kreis armer, verkümmerter Symbole der Kreis der inneren Zustände des Irren aus. Reicher, freier entfaltet sich diese Beziehung in Sprache, Mythos und Poesie, aber dennoch gesetzmässig. So ist auch die Zahl der Grundmythen, in welchen aus den Erlebnissen des eignen Innern das Aeussere, Ferne und Jenseitige fassbar gemacht wird, begrenzt.   Dieses Versinnlichen und Beseelen wirkt nun mit der grössten Energie und Freiheit in der Seele des Dichters. Jeder Zettel Goethes an Frau von Stein zeigt das: überall Situation, Gefühl des Zustandes, Tropus, in dem er sich darstellt. Hieraus ergiebt sich, dass das Bild, die Vergleichung, der Tropus nicht in der Darstellung hinzutreten, wie Gewand, das über einen Körper geworfen wird, vielmehr sind sie dessen natürliche Haut. Das Symbolbilden, das die Seele des dichterischen Vorgangs ist, erstreckt sich so durch den ganzen Körper der Dichtung bis in die Personification und Metapher, die Synecdoche und Metonymie. Der unsern Geschmack oft verletzende Bilderreichthum Shakespeares oder Calderons ist ungehemmtes Fluthen und Strömen dieser beständigen, in Glanz und Licht getauchten Bewegung in einer dichterischen Phantasie. Phantasie als vorsprachlicher Aspekt, Sprachliches als natürliche Haut Einer solchen Causalbetrachtung können die Formbestimmungen über den Tropus, welche uns die Alten hinterlassen haben, Ausgangspunkte einer tieferen Erkenntniss werden.   Wir erläutern dann an den rhetorisch-poetischen Figuren. Durch das ganze Schaffen des Dichters geht die Wirkung der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung. Der fiebernde Puls in den Charakteren und der Handlung von Shakespeare, der grosse Athem in Schillers dramatischer Handlung sind die natürlichen Aeusserungen der Gefühlsweise und Willensform dieser grossen Menschen. Aus dieser natürlichen Bewegung der Seele entspringt die Stellung der Worte im Satz und schliesslich auch die Redefigur. So ist die Hyperbel wie die Verkleinerung nur die letzte sinnfälligste Aeusserung jener Gesetze der Verstärkung und Minderung von Bildern, ihrer Erweiterung und Zusammenziehung unter dem Einfluss der Gefühle. Das Streben, den Gefühlseindruck durch den Gegensatz zu steigern, bringt die Contrastirung der Handlungen oder der Charaktere hervor, welche der inneren Construction eines Werkes angehört, aber sie klingt dann schliesslich in der Redefigur der Antithese aus. Bezeichnet man die innere Form eines Werkes von dem ersten Herausarbeiten der Motive aus dem Stoff bis zu Tropen, Figuren, Metrum und Sprache als Styl, so sind verschiedene Versuche gemacht worden, die Grundunterschiede desselben aufzufinden; Vischers Unterscheidung der directen und indirecten Idealisirung muss als eine wirkliche ästhetische Entdeckung bezeichnet werden. 4. Die Geschichtlichkeit der poetischen Technik.   1. Wir bemerkten immer wieder, wie sich aus der Verbindung der Principien des poetischen Eindrucks die Ziele und Mittel der Dichtungsarten nicht ableiten lassen. Daher ist eine allgemeingültige Technik in ihnen nicht enthalten. Man nehme die Principien des poetischen Eindrucks, man suche nach ihnen Eindrücke in einer möglichst vollkommenen Art anzuordnen, man wähle unter den Möglichkeiten, welche die einzelnen Momente der inneren Form, Stimmung, Motiv, Fabel etc. enthalten, die am meisten günstigen und einander entsprechenden: aus diesen formalen Verhältnissen entspringt nirgend eine wirkliche Entscheidung über eine vollkommenste Art der Verknüpfung in einem Drama oder Roman; nur Schatten, vorüberschwebende Möglichkeiten, weder in sich noch in ihren Beziehungen eindeutig bestimmt. Man zerlege den Eindruck, den ein Kunstwerk hervorbringt; die Principien desselben sind höchst zusammengesetzt, die Momente der inneren Form, nach welchen ihre Zusammenfügung stattfindet, sind sehr mannigfach; Reinheit und Grösse des Eindrucks sind von diesem Allen bedingt: aber schliesslich ist derselbe abhängig von dem inneren Zusammenhang, welcher zwischen einem geschichtlich erwachsenen Gehalt und der ihm zugehörigen Form besteht. Die Principien des Eindrucks und ihre regelrechte Verknüpfung zur inneren Form durchwirken das ganze Werk: aber den Charakter der grossen Kunst giebt ihm der Zusammenhang, in welchem diese Form sich als untrennbar zugehörig zu einem geschichtlich erwachsenen, mächtigen Gehalt erweist.   So ergiebt sich der erste Satz, welcher die Geschichtlichkeit der Technik entwickelt. Er drückt unseren Gegensatz gegen jede formalistische, aber auch gegen jede im Sinne Fechner's aus Wirkungselementen summirende Aesthetik aus.   Aus den Principien des poetischen Eindrucks und aus den wirksamen Möglichkeiten der Verknüpfung eindrucksvoller Bestandtheile zu einer inneren Form entsteht der technische Zusammenhang des dichterischen Werkes, indem ein geschichtlich erwachsener Gehalt mit diesen Mitteln die ihm zugehörige Form ausbildet.   2. Wir möchten in das Wesen dieser Geschichtlichkeit der poetischen Technik eindringen und die Beziehung zwischen dem historisch erwachsenen Gehalt und seiner Form genauer erfassen.   Dieser Gehalt stellt sich als eine Einheit dar. Daher konnte der Gedanke entstehen, der Zusammenhang der Geschichte könne in logischen Beziehungen zwischen einheitlichen Standpunkten entwickelt werden. So haben die Hegelianer das Verständniss der neueren Philosophie durch die Fiction der logischen Entfaltung eines Standpunktes aus dem andern verdorben. In Wirklichkeit enthält eine geschichtliche Lage zunächst ein Mannigfaches von particularen Thatsachen. Sie stehen spröde nebeneinander und lassen sich nicht aufeinander zurückführen. Sind sie doch die Folgen von Gegebenheiten in der ursprünglichen Vertheilung von Wasser und Land, Gebirge und Ebene, Klima, vielleicht von ursprünglichen Verschiedenheiten der über die Erde verbreiteten Menschen. In dem so entstandenen Spiel und Gegenspiel der geschichtlichen Kräfte summiren sich die Wirkungen zu undurchdringlichen Thatsachen. Ihre Coordination in einer gegebenen Zeit bildet zunächst die geschichtliche Lage.   Zwischen Gruppen dieser Thatsachen stellt der Causalzusammenhang ein Verhältniss von gegenseitiger Abhängigkeit und somit von innerer Zusammengehörigkeit her. So stehen Verfassung und Erziehung eines Volkes zu einer gegebenen Zeit in solchem Verhältniss wechselseitiger Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit. Dann bringt jedesmal ein intensiv und breit wirkender Factor in einer grossen Zahl dieser coordinirten Thatsachen Effecte hervor, welche diesen allen ein gemeinsames Gepräge, einen Zug von Verwandtschaft mittheilen. So hat der rationale und mechanische Geist des 17. Jahrhunderts der Poesie desselben wie der Staatspraxis und Kriegsführung sein Gepräge gegeben. Ferner setzt die Arbeit des Menschen überall Thatsachen in der Einheit eines Zweckganzen in Beziehung zu einander, und wo ein solches Zweckganze gelungen ist, ruft es viele Nachbildungen hervor. Diese Ursachen und eine grosse Zahl von anderen erzeugen in der Coordination von Thatsachen, welche ein Zeitalter ausmachen, Wechselwirkungen und Verwandtschaften, in Folge deren diese Coordination mit einem System verglichen werden kann. Dies Alles ist in dem von Comte entworfenen Begriff des sozialen Consensus enthalten, welcher freilich noch weiter reicht.   Aber die Einheit in einem Zeitalter und Volke, welche wir als den geschichtlichen Geist einer Zeit bezeichnen, entsteht doch auf diesen Grundlagen erst durch die schöpferische Macht und Selbstherrlichkeit des Genies. Das Erkennen oder das künstlerische Bilden stellen in, unter und zwischen diesen spröden Thatsachen eine nach dieser Coordination der Thatsachen in einem gegebenen Zeitalter mögliche Einheit her. Das geschieht durch das am meisten umfassende und schöpferische Verfahren von Combination, dessen das Genie des Menschen überhaupt auf dem Gebiete des Sinnens, Betrachtens und Denkens fähig ist. Das Genie des Herrschers oder des Staatsmanns bringt die spröden Thatsachen selber in eine nach ihrer Coordination mögliche Zweckeinheit. Es ist dem des Künstlers oder Philosophen der Richtung nach entgegengesetzt, aber dem Umfang und der Grösse nach verwandt.   Wie in der Religion und Philosophie wird auch in der Kunst, insbesondere in der Poesie durch einen geschichtlich schöpferischen Vorgang die Coordination von Bestandtheilen, die in einer Zeit besteht und in sich schon Causalverknüpfung und Verwandtschaft enthält, zu einer das Vorhandene überschreitenden Einheit verknüpft. So baut sich aus einem ursprünglich Mannigfachen, Bestandtheilen und deren einzelnen Beziehungen, durch die Leistung des Genies erst die Einheit auf, welche wir als Geist eines Zeitalters bezeichnen.   3. An dieser Stelle können wir nun das Historische mit dem Psychologischen zusammenschliessen. Wir entwickelten einen psychologischen Begriff vom erworbenen Zusammenhang unseres Seelenlebens und setzten ihn zu dem Schaffen des Dichters in Beziehung. Dieser erworbene Zusammenhang repräsentirt in dem grossen Menschen das vorhandene Gefüge der coordinirten Thatsachen: Sätze, Werthbestimmungen und Zwecke in einer feinen, richtigen Weise. Er wirkt dann auf die Processe, welche im Bewusstsein stattfinden. So wird das dichterische Werk zum Spiegel der Zeit. Shakespeare hat diese Leistung der Poesie mit künstlerischem Bewusstsein, zunächst in Bezug auf das Drama, im Hamlet formulirt. „Der Zweck des Schauspiels war sowohl Anfangs als er jetzt ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten; der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhunderte und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“ Hier löst sich das Räthsel, wie ein Zeitalter in Fabeln, Handlungen und Charakteren seiner Poeten sich selber und uns gegenständlich werden kann. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens in einem grossen Menschen ist causal bedingt und repräsentirt daher die Coordination der Bestandtheile des Lebens, Denkens, Fühlens, Strebens einer Zeit. Wie derselbe sich in den dargelegten Processen aufgebaut hat, wurde das Verwandte in den Thatsachen, die causale Structur derselben schon in diesem Zusammenhang erfasst und so hebt derselbe bereits das Wesenhafte an den Erscheinungen des Lebens heraus. Dieser Zusammenhang bedingt dann als ein Ganzes, nicht klar und deutlich nach Bestandtheilen und Beziehungen unterschieden, und doch wirksam, die Vorgänge im Dichter, durch welche Lebensvorstellungen emporgehoben werden zu poetischen Bildern. Wie dies geschieht, haben wir im Einzelnen beschrieben. So repräsentiren Fabel, Handlung, Charaktere diesen Zusammenhang. Die Gestalten der Dichtung umgiebt, bedeutsam wie sie sind, ein geistiger Hauch, der aus dem Zusammenhang des Weltverständnisses herstammt. Denn durch diesen Zusammenhang ist bedingt, wie das Wesenhafte in der Structur der Charaktere herausgehoben ist, wie sie zu einander gestellt sind. Das ist, was Goethe an den Gestalten seines grossen Gedichts selber empfand, der „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert.“ Es ist immer der Athem eines geschichtlichen Zeitalters.   Psychologisch ist diese Leistung des dichterischen Genies dadurch ermöglicht, dass durch die Coordination der Bestandtheile eines Zeitalters der erworbene Zusammenhang des genialen Seelenlebens bedingt ist und derselbe daher diese Coordination repräsentirt. Dann sind von diesem erworbenen Zusammenhang die im Bewusstsein verlaufenden dichterischen Processe und deren Ergebnisse, Fabel, Handlung, Charaktere, Darstellungsmittel bedingt und repräsentiren daher ihrerseits diesen Zusammenhang.   4. Die Geschichtlichkeit der poetischen Technik ergab sich schon aus der psychologischen Grundlegung. Denn darin lag doch ihr bedeutsamstes Ergebniss: die Principien des poetischen Schaffens wie der poetischen Wirkung sind durchgreifende Eigenschaften sehr zusammengesetzter Vorgänge, an welche bei dem Schaffenden und Geniessenden dauernde Befriedigung gebunden ist; so entspringen sie als eine der Zahl nach unbestimmte Mannigfaltigkeit, innerhalb deren der Gedanke die Beziehungen eines logischen Systems nicht herstellen kann. In diesem Satze ergab sich uns gegenüber der idealistischen Aesthetik, die im Grunde eine metaphysische ist, das Princip einer empirischen und darum psychologischen. Wir gewannen in diesem Satze andrerseits, indem wir vom Schaffen des Dichters ausgingen, gegenüber der blossen Aufzählung von beziehungslosen, ästhetischen Ideen bei Herbart, oder von beziehungslosen Principien der Lustwirkung bei Fechner, für die Aesthetik in der psychologischen Analysis des Schaffens und Verstehens eine tieferreichende Einheit zurück. Aber das nothwendige Correlat des obigen Satzes ist: Auf Grund der Normen des dichterischen Schaffens sowie der Principien des poetischen Eindrucks wird aus dem thatsächlich Mannigfachen des gegebenen Lebens einer Zeit und nur durch die Leistung des dichterischen Genies eine Form, sonach die Technik einer Dichtungsart hergestellt; so ist diese geschichtlich bedingt und relativ.   Ein Durchblick in letzte Fragen thut sich auf. Läge es in den Kräften des Erkennens und seiner Stellung zur Welt, ein allgemeingültiges Weltverständniss zu gewinnen, dann würde sich dieses in den Werken der Dichter wie in unvollkommneren oder vollkommneren Spiegeln tausendfältig abbilden. Wohl giebt es Züge allgemeingültiger Art in unserer Erfahrung, die über uns hinaus in einen inneren Zusammenhang der Welt weisen. Der Blick in den unermesslichen Raum der Gestirne zeigt uns die Gedankenmässigkeit des Kosmos. Und wenden wir uns dann zurück in uns selber, so ist auch da überall, wo ein Mensch in seinem Willen den Zusammenhang von Wahrnehmung, Lust, Antrieb und Genuss durchbricht, wo er nicht mehr sich nur will, die Erfahrung vorhanden, welche ich als metaphysisches Bewusstsein bezeichnet habe, im Gegensatz zu den wechselnden metaphysischen Systemen. Hiervon ist auch die Folge, dass alle grosse und wahre Poesie gemeinsame Züge zeigt. Sie bedarf ebensowohl des Bewusstseins von der Freiheit und Verantwortlichkeit unserer Handlungen als dessen von dem Zusammenhang derselben nach Ursache und Wirkung. Die Lehre, dass wir in unseren Handlungen von aussen mechanisch bestimmt seien, wird nie bei einem grossen Dichter dauernde Ueberzeugung hervorrufen. Aber aus diesen dunklen, unverbundenen Zügen können weder philosophisches Denken noch dichterisches Bilden ein allgemeingültiges Weltverständniss ableiten. Das Weltverständniss, dessen sie fähig sind, ist durch die geschichtliche Bewusstseinslage bedingt und relativ. Von diesem ist dann aber die dichterische Form abhängig.   Denn die dichterische Form entsteht nur durch eine Umbildung von Lebensvorstellungen in ästhetische Bestandtheile und Beziehungen. Sie ist also schon durch die Coordination von Lebensthatsachen und Lebensvorstellungen bedingt, welche den Charakter eines Zeitalters ausmachen. Wahl wie Ausschaltung der Bestandtheile, Umbildung derselben, Betonung und Verbindung im Ganzen sind geschichtlich bedingt. Das Weltverständniss der Zeit entscheidet, welche Lebensvorstellungen das Gefühl emporhebt, sowie in welcher Richtung es sie zu poetischen Bestandtheilen und Beziehungen ausbildet. Es hebt ein Wesenhaftes in den Charakteren heraus. Es giebt der Handlung Bedeutsamkeit. Es eröffnet durch Verwandtschaft und Contrast zwischen den Charakteren weite Perspectiven. Es schafft eine bestimmte Art von Einheit der Handlung im Drama. Und dies Alles thut es eben auf Grund der Thatsachen von Verwandtschaft, Contrast, Structureinheit, Wechselwirkung, welche ihm das Leben des Zeitalters zur Verfügung stellt.   So entsteht der wichtige Begriff von geschichtlichen Typen der Technik in einer Dichtungsart. Friedrich Schlegel hat diese Typen als Schulen bezeichnet, indem er unter dem Einfluss Winkelmanns aus der bildenden Kunst die Bezeichnung übertrug. Ich erläutere diesen Begriff am Drama.   Gustav Freytag hat aus den blossen Beziehungen der Erregungen innerhalb einer einheitlichen Handlung, die durch Leidenschaft einem tragischen Ende entgegeneilt, das folgende Schema der dramatischen Form abgeleitet. Das Drama hat einen pyramidalen Bau: es steigt von der Einleitung ab durch die wachsende Wirksamkeit des erregenden Moments bis zum Höhepunkt und fällt von diesem ab bis zur Katastrophe. So treten zwischen die drei ursprünglichen Theile, das Aufsteigen, den Höhepunkt und die Katastrophe, zwei andere, Steigerung und Fallen. Diese fünf Theile gliedern sich wieder in Scenen und Scenengruppen, nur dass der Höhepunkt gewöhnlich in eine Hauptscene gefasst ist. Zwischen diese fünf Theile treten sondernd und verbindend drei wichtige scenische Punkte: nämlich zwischen Einleitung und Steigerung das erregende Moment, zwischen Höhepunkt und Umkehr das tragische Moment, endlich zwischen Umkehr und Katastrophe als Hülfsmittel des Baus das Moment der letzten Spannung. So sind acht Stellen des Dramas zu unterscheiden. Und zwar hat eine jede dieser acht Stellen wiederum nach ihrer Lage in dem Ganzen der dramatischen Structur ihre besondere Gestaltung. Mit dem Behagen des bühnenerfahrenen Technikers und des scharfen Kopfes hat Gustav Freytag in diesem Formgesetz die dynamischen Verhältnisse in einer Handlung entwickelt, welche von einer Leidenschaft aufwärts getrieben wird, dann eine Gegenwirkung erfährt und so einer Katastrophe entgegeneilt. Das sind aber nicht die Bedingungen des grossen Dramas überhaupt, sondern nur eines bestimmten Typus desselben.   Die Technik des griechischen Dramas ist ebenso von einem geschichtlichen Lebensgehalt bestimmt, als die des spanischen oder des englischen. Von dem Dithyrambos der Dionysosfeste her ist der ergreifende Gehalt der attischen Tragödie, dass der innerste heilige Kern des Glaubens einem damaligen attischen Menschen hier plötzlich in sinnlicher Wirklichkeit und Gefühlsmacht gegenübertrat. Und da nun Stammes- und Göttersagen ihre Handlung durch mehrere Geschlechter hindurchführten, entstand auf der Grundlage der Bühneneinrichtung, der Mitwirkung des Musikalischen, der Gewohnheiten der Redekunst, aus diesem Allen in dem schöpferischen Kopfe des Aeschylos die Form und Technik der tragischen Trilogie. Als das Verständniss für deren Voraussetzungen nach dem Untergang der alten Geschlechterverfassung und des alten Glaubens allmälig geschwunden war, löste sich auch ihre Form auf. Entfaltete sich die attische Trilogie aus einem einfachen Keim zu massvollen, rhythmischen Verhältnissen, so ist das spanische und englische Theater umgekehrt von den bunten, rohen und ungeregelten Abenteuern der Volksbühne zur Schöpfung eines einheitlichen dramatischen Typus fortgegangen. Diese Entwicklung vollzog sich bei beiden Völkern durch manche geniale Experimente hindurch, in der Auseinandersetzung mit der von den Griechen stammenden Form und Theorie. Und hier wie dort gelang es einem schöpferischen Kopfe, den Typus einer neuen Form zu finden. Aber so verschieden wie der Lebensgehalt eines spanischen Menschen jener Tage und der eines damaligen Engländers, war die Bühne, welcher Lope und welcher Shakespeare das Gesetz ihrer Form gab. „In der glücklichen Zeit, da das glorreiche Königspaar Ferdinand und Isabella Granada eroberte, da Columbus Amerika entdeckte, da begann die Inquisition und zugleich unsere Comödie, damit Alle angespornt würden, gute und heroische Handlungen zu vollbringen, indem sie Thaten grosser Männer dargestellt sehen.“ In diesem Sinne bezeichnet Lope in seinem Gedicht „Neue Kunst, in jetziger Zeit Comödien zu verfassen“ Angelegenheiten der Ehre und tugendhafte Handlungen als den am meisten geeigneten Stoff des Schauspiels. Der Typus dieses Dramas ist also nicht durch einen tragischen Ausgang charakterisirt, sondern geht von einem Conflict aus durch Spiel und Gegenspiel meist zu einer Krisis, in welcher die Ehre hergestellt oder die tugendhafte Handlung belohnt wird. Nicht selten erscheint da katholisch absolutistisch und äusserlich der Monarch oder sein Vertreter als Theatergott, die übrig bleibenden Schäden der Ehre zu heilen, oder die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Das ganze Genie des Dichters concentrirt sich darauf, die Handlung durch immer neue Theaterstreiche zu verwickeln, die buntesten Contraste des Lebens zu verknüpfen und die Spannung bis zum Ziel zu erhalten. Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt werden. „Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne dadurch das Ganze derselben zu verletzen.“ Zwischen der englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche, die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet.   Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt. Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln.   5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf, welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert. Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb einer Dichtungsart, so lassen sich zwei Arten von Reihen bilden, welche constante Beziehungen zeigen. Innerhalb derselben Nation besteht ein gesetzlicher Fortgang von der religiösen Erhabenheit des Styls zu einem Gleichgewichtszustande und von da zu dem Bewegt-Leidenschaftlichen, technisch Effectvollen, Zusammengesetzten, wie Scaliger, Winckelmann, Fr. Schlegel gefunden haben. Bildet man aus den Formtypen einer Dichtungsart eine Reihe, mit Uebergehung der Glieder, welche durch unvollkommene Aufnahme der früheren Cultur bezeichnet sind, durch die ganze Continuität unsrer Cultur hindurch, so tritt auch hier ein sehr wichtiges gesetzliches Verhältniss hervor. In dem Maasse, in welchem das Leben zusammengesetzter wird, die Mannigfaltigkeit der Lebensbestandtheile und ihrer Beziehungen zunimmt, insbesondere immer mehr technische, gefühlsarme Momente zwischen die gefühlskräftigen eintreten, bedarf es einer grösseren Kraft zur Hebung des Lebensgehaltes in die poetische Form. Entsprechend muss die Form wenigstens innerlich complicirter werden, welche die Aufgabe lösen soll. Die Unterhaltungsliteratur, welche mit diesem Mannigfachen formlos spielt, nimmt immer zu. Die dichterischen Werke, welche durch kunstmässige Simplification zu einer in sich geschlossenen Form gelangen, bedürfen einer immer grösseren genialen Leistungskraft.   Gesetzliche Verhältnisse zwischen diesen dichterischen Formtypen können durch die Verknüpfung der Poetik mit der vergleichenden Literaturgeschichte erkannt werden. Innerhalb eines Volkes besteht eine gesetzmässige Abfolge der Stylformen. In demselben Verhältniss, in welchem in der Menschheit die Mannigfaltigkeit der Lebensbestandtheile zunimmt und technische, gefühlsarme Momente sich mehren, bedarf es einer zunehmenden Kraft zur Hebung des Lebensgehaltes in die poetische Form.   6. Die Zukunft der Poesie kann nicht aus ihrer Vergangenheit vorausberechnet werden. Aber die Poetik lehrt uns, die lebendigen Kräfte der Gegenwart und das Werden einer auf sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen und werthhalten. Denn classisch ist eben nicht, was gewissen Regeln entspricht, sondern classisch ist ein Werk in dem Maasse, als es den Menschen der Gegenwart eine vollständige Befriedigung gewährt und seine Wirkung sich in Raum und Zeit ausdehnt.   Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem, die Function der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen, und auf dieser Erkenntniss beruht das Gefühl der Würde des dichterischen Berufs. Die Poesie war in der älteren Menschheit von Sprache, Religion, Mythos und metaphysischem Denken noch nicht getrennt. Eine geschichtliche Gemüthsstellung des Menschen kann nie ganz in Begriffen ausgedrückt werden. Der Drang, das Unaussprechliche mitzutheilen, lässt Symbole entstehen. Insbesondere die Mythen erfassen von einer religiösen Gemüthsstellung aus die wichtigsten Verhältnisse der Wirklichkeit. Da diese Verhältnisse überall verwandt sind und das Herz des Menschen überall dasselbe, gehen Grundmythen durch die Menschheit. Solche Symbole sind: das Verhältniss des Vaters zu seinen Kindern, die Beziehung der Geschlechter, Kampf, Raub und Sieg, Bilder vom Lande der Seligen und dem Paradiese. Das Aeussere, Ferne und Jenseitige wird hier überall aus dem Erlebniss des eignen Inneren fassbar gemacht. Verhältnisse, die durch das Wirkliche hindurch in das Jenseitige reichen, werden aus solchen Verhältnissen, die dem Gefühlsleben vertraut sind, gedeutet. Wie die Zahl der Grundmythen begrenzt ist, so ist es auch die der elementaren Symbole, die in den Cultushandlungen aller Völker wiederkehren. Beispiele von solchen Cultsymbolen sind die Cultusbilder, Opfer, Begräbnisshandlungen, Mahlzeiten und Lichter. Wie durch eine elementare Gewalt werden so von Sprache, Religion, mythischem Denken die Erlebnisse emporgehoben zu poetischer Bedeutsamkeit, die Natur wird beseelt, das Geistige versinnlicht und die Wirklichkeit idealisirt. Nur allmälig löst sich die Poesie aus diesem Zusammenhang los. Von dieser Zeit ab bis zur Gegenwart ist die Poesie immer selbständiger geworden. Die Einheit des geistigen Haushaltes, die im Mittelalter durch die Verbindung von Theologie und Metaphysik bestand, ist seit dem fünfzehnten Jahrhundert allmälig aufgelöst worden. Der weite Raum, der bis dahin von metaphysischen Constructionen erfüllt war, wird nun von der Religion und der Kunst eingenommen. Shakespeare, Cervantes oder Ariosto sprachen die Bedeutung des Lebens anspruchslos und naiv aus, ohne einen Wettstreit mit Theologie oder Philosophie zu wagen. Richardson, Sterne und Swift, Rousseau und Diderot, Goethe und Schiller fühlten das Recht des genialen Menschen, aus seinem Gefühl die Bedeutung des Lebens in Bildern zu entwickeln, aber sie suchten noch ein Verhältniss zum metaphysischen Denken. In unseren Tagen ist dem dichterischen Genie die Bahn ganz frei gemacht. Da die Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes und der Seele verloren hat, ist für eine grosse Anzahl gegenwärtiger Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden. Das Gefühl durchdringt die Poesie, dass sie die authentische Interpretation des Lebens selber zu geben habe, ja selbst die Ausschreitungen des mit der Socialwissenschaft wetteifernden französischen Romans sind in diesem Bewusstsein begründet. Derselbe occupirt einstweilen zwischen Sümpfen ein Terrain: wir wollen hoffen, dass auf diesem einst das blühende Leben echter Dichtung entstehen werde.   So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen Menschen der Poesie ihre Stelle. Dieser heutige Mensch will aus dem Leben machen, was sich durch die Kunst des Lebens aus ihm machen lässt. Denn der Glaube der denkenden Erfahrung an ihre grenzenlose Leistungsfähigkeit scheint täglich neu bestätigt. Der moderne Mensch kann das aber nur, sofern er Causalzusammenhang und Bedeutung des Lebens erkennt. Die Wissenschaften der Natur und der Gesellschaft haben den ursächlichen Zusammenhang aller Erscheinungen zum Gegenstand. Dagegen die Bedeutung des Lebens, wie die der äusseren Wirklichkeit ist für sie nicht erreichbar. Diese ist in der Lebenserfahrung individuell und subjectiv enthalten. Die Dichtung giebt den Erfahrungen des Lebens und des Herzens einen gesteigerten Ausdruck. Sie stellt die Schönheit des Lebens inmitten seiner Bitternisse, die Würde der Person inmitten ihrer Bedingtheit dar. Hier erreichen wir in der von uns betrachteten Stufenfolge von Leistungen der Poesie deren höchste Function. Die Verbindungsglieder, welche von der früher dargelegten allgemeinsten und elementaren Function aller Dichtung zu dieser ihrer höchsten Leistung führen, sind überall angedeutet; der Leser wird uns ergänzen.   Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche Natur der Technik erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur des Menschen fliessenden Regeln und den in geschichtlicher Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht, dagegen ihn von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit. Noch die Poetik unserer grossen Dichter hat die epische Poesie an die Grundgesetze der homerischen Form binden wollen, und noch die Poetik von Freytag und Otto Ludwig hat unser Drama der Form Shakespeares unterworfen. Die Poetik, deren Umrisse wir gaben, hat dem heutigen Dichter die Principien, an welche der Eindruck geknüpft ist, und die Normen, durch welche sein Schaffen gebunden ist, dargelegt. Aber sie hat zugleich die geschichtliche Relativität auch der vollkommensten Form erwiesen. Sie will den gegenwärtigen Dichter bestimmen, für den Gehalt der Zeit eine neue Form und Technik zu suchen und in der dauernden, allgemein befriedigenden Wirkung sein höchstes Gesetz zu sehen.   Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die neuen Formen, in denen der dichterische Gehalt unserer Zeit und unseres Volkes seinen Ausdruck finden kann.   Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine Krisis, sondern ein Held im Mittelpunkt der Dichtung stehen. Nun überschreiten schon Nathan, Iphigenie und Faust gänzlich den Nexus von Leidenschaft, Schuld und Katastrophe. Hier ist breite, freie Darstellung eines heldenhaften Seelenlebens, das mannigfach bedingt, schuldig-unschuldig, mit der Wirklichkeit ringt, allerletzt aber sie bezwingt. Auch in den Tondichtungen Richard Wagners ist dies vor Allem das dramatisch Ergreifende, dass sie Heldenbilder hinstellen und den Zauber des Heldenthums auszudrücken vermögen. Auf den modernen Menschen wird die mächtig, realistisch hingestellte ganze Person, der heldenhafte Mensch, der mit sich und der Wirklichkeit ringt und Sieger bleibt, wie arg zugerichtet er auch aus dem Kampf hervorgehe, allein so erhebend und innerlich erlösend wirken können als die tragische Trilogie auf Zeitgenossen des Aeschylos.   Und die Welt dieses Helden? Die neueren Völker haben von der Zeit ab, in welcher uns breitere Massen ihrer Dichtung erhalten sind, zwei grosse Ordnungen der Gesellschaft hervorgebracht und deren Gefühlsgehalt in zwei Blüthezeiten ihrer Dichtung dargestellt. In der Morgendämmerung des dritten Zeitalters leben wir. Die feudale Gesellschaftsordnung gründete sich auf den permanenten kleinen und grossen Krieg, die Kraft des Soldaten und die so entspringende Besitzvertheilung. Kriegerischer Muth, feudale Treue, ritterliche Liebe und Ehre und katholischer Glaube waren die Triebfedern, die das Leben eines damaligen Mannes in Bewegung erhielten. Und das Epos war Schöpfung und Spiegel dieser Zeit. Dann schuf das Königthum Einheitsstaaten mit einer sich die Feudalherren unterwerfenden Verwaltung und bereitete in diesen Einheitsstaaten dem Handel, der Industrie und dem wissenschaftlichen Denken weiteren Raum und freiere Bewegung. Schöpfung und Spiegel dieser Zeit ist das neuere Theater. Man vernimmt auf der Bühne des Shakespeare und Lope noch den kriegerischen Lärm der letzten Kämpfe zwischen dem Königthum und den feudalen Herren. Das französische Theater repräsentirt die Epoche der absoluten Monarchie in ihren stärksten und zartesten Gefühlen. Der grösste König, den das neuere Europa sah, unser Friedrich II., fand auf den Schlachtfeldern des siebenjährigen Krieges, in den Krisen seiner Existenz den Ausdruck seines heroischen Lebensgefühls in den Versen von Racine. Denn diese Personen redeten und geberdeten sich königlich. Und er liebte in den Versen Voltaires das siegreiche Spiel des Verstandes mit dem Leben und mit der Liebe. Die französische Poesie der classischen Zeit hatte daher einen geschichtlichen Werth, den die Literaturgeschichte erkennen muss. Mit der französischen Revolution ist ein neues Zeitalter angebrochen. Eine das Leben umgestaltende Wissenschaft, Weltindustrie und Maschinen, Arbeit als ausschliessliche Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, Krieg gegen die Parasiten der Gesellschaft, für deren müssigen Genuss Andere die Kosten bezahlen, ein neues, stolzes Herrschaftsgefühl des Menschen, der sich die Natur unterwarf und nun auch die blinden Wirkungen der Leidenschaften in der Gesellschaft mindern wird: das sind Grundzüge eines Weltalters, deren dunkele, erschreckend grosse Umrisse vor uns aufzutauchen beginnen. Doch hat sich zugleich im Gegensatze zu solcher rationalen Regelung aller Angelegenheiten dieses schliesslich so irrationalen und unvernünftigen Erdballs ein geschichtliches und das Erarbeitete wahrendes Bewusstsein in der Gesellschaft entwickelt. Die nationalen Einheiten fühlen sich gerade durch die Wirkungen von Parlament und Presse als eigne Wesenheiten. In den Kämpfen, die so entspringen, wurzelt das Heldenthum unseres Jahrhunderts.   Langsam hat nun die Poesie ihr schweres Werk begonnen, die Formen zu finden, in denen ein so ungeheurer Gehalt sich ausdrücken kann. Das Drama Shakespeares ist von Schiller und Goethe umgestaltet worden. Goethe erfand den Helden, der sich nach seiner ganzen machtvollen Wirklichkeit siegreich im Drama auslebt. Schiller erfasste mit dem Griff des Genies die weltgeschichtlichen Gegensätze der absoluten Monarchie und der Freiheit, der katholischen Kirche und des protestantischen Geistes: so entstand ihm die Tragödie der gleichen geschichtlichen Berechtigungen. Die deutsche Tragödie ging bis heute in Shakespeares und Schillers Spuren. Wer kann ahnen, wie und wann auf den von Goethe und Schiller gelegten Grundlagen ein Genie das neue Drama findet, in welchem der heroische Mensch unseres Zeitalters zu uns von der Bühne redet, uns erschüttert und versöhnt?   In der epischen Dichtung haben die gefühlsarmen technischen Bestandtheile unseres Lebens die metrische Form gesprengt. Der Roman hat die Herrschaft angetreten. Er allein vermag, unter den Bedingungen unsrer Zeit die alte Aufgabe der epischen Dichtung zu lösen, einen freien, betrachtenden Blick über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren. Einfachen, der Natur nahen Zuständen, wie sie Goethe im Hermann wählte, lässt sich ein reiner Zusammenhang ganz poetischer Situationen abgewinnen, deren angemessene Form metrisch ist. Uns aber drängt es heute, die grossen Centren des Lebens in ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen. So hat der französische Roman die Seele von Paris zu erfassen gesucht, und Dickens hat London, in allen Contrasten doch ein einziges ungeheures Wesen, dargestellt. Seitdem wir Deutsche eine Hauptstadt haben, ist dem deutschen Roman eine neue Aufgabe erwachsen, und wer sie löst, wird der gelesenste Schriftsteller unsres Volkes sein. Aber auch hier ist uns der mit der Wirklichkeit des heutigen Lebens, wie es nun einmal ist, ringende Mensch der Mittelpunkt. Freilich muss sich erst die Einsicht Bahn brechen, dass die Prosa ebenso eine strenge Kunstform ermöglicht als die metrische Form. Es war ein grosses Verdienst Friedrich Schlegels, dass er zuerst die Prosaform gleichsam ästhetisch courfähig gemacht hat, insbesondere durch seine Erörterungen über Boccaccio und Lessing. Die Theorie des Romans ist die uns heute zunächst liegende, die praktisch weitaus bedeutendste Einzelaufgabe der Poetik. Der materialistische Roman aus der Schule der Comédie humaine ist bis auf Flaubert und Zola Poesie ohne einen siegreichen Helden, Krisis ohne wirkliche Versöhnung. Erst aus dem tiefen Herzen des herrlichen Dickens, der mit dem Kinde, dem Gedankenschwachen, dem Armen mitempfand, ist der sociale Roman hervorgegangen. Und erst aus der Tiefe des deutschen geschichtlichen Bewusstseins entstand in Arnims Kronenwächtern der erste ächte geschichtliche Roman. Konrad Ferdinand Meyer ist schöpferisch in Erfindungen, geschichtliche Menschen aus dem Dunkel der Zeiten sinnlich sichtbar hervortreten zu lassen. Alles werdend, aufsteigend, einem Unbekannten entgegenschreitend, wie die Gesellschaft selber, die der Roman der Zukunft erfassen möchte!   Es giebt einen Kern, in welchem die Bedeutung des Lebens, wie sie der Dichter darstellen möchte, für alle Zeiten dieselbe ist. Daher haben die grossen Dichter etwas Ewiges. Aber der Mensch ist zugleich ein geschichtliches Wesen. Wenn die Ordnung der Gesellschaft und die Bedeutung des Lebens eine andere geworden ist, bewegen uns die Dichter des dann vergangenen Zeitalters nicht mehr, wie sie einstmals ihre Zeitgenossen bewegt haben. So ist es heute. Wir harren des Dichters, der uns sage, wie wir leiden, geniessen und mit dem Leben ringen! Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel &Co. in Altenburg.