J. J. ENGELS SCHRIF TEN. ELFTER BAND. POETIK. BERLIN 1806. IN DER MYLIUSSISCHEN BUCHHANDLUNG. D iese Poetik, oder „Theorie der Dichtungsarten,“ erschien zum erstenmal 1783, Berlin und Stettin, bei Fr. Nicolai. Sie hatte damal eine Zueignungsschrift an den Herzog Peter von Curland, unterzeichnet: Berlin am 13 Jänner 1783. Daß der Verfasser nie Musse oder Laune fand, diesem Ersten Theile den versprochenen Zweiten folgen zu lassen, wird Jeder schmerzlich bedauern, der auch nur dessen „Vorrede“ liest. ─ Zum andernmal erschien dieses Werk nach des Verfassers Tode, ebendaselbst 1804, mit einer hinzugefügten Vorrede des Verlegers Hrn Nicolai. ─ Bei dem gegenwärtigen Abdruck ist so verfahren worden, wie überall in dieser Sammlung von Engels Schriften. Die vielleicht itzt minder bekannten, gar zu kursen Anführungen sind geuauer nachgewiesen. Aber die aus den Dichtern eingerückten Stellen hat man nicht verändern wollen; weil Manchen es lieb sein dürfte die älteren Lesearten wieder zu finden, auch Engel selbst zum Theil die neuern Ausgaben der Verfasser vor sich hatte und dennoch jene frühern Lesarten wählte.   Da der gegenwärtige Band so sehr viel stärker, als jeder andere der Schriften, werden mußte: so ist, um die Gleichheit beim Einbinden möglich zu machen, eine Abtheilung getroffen worden. Von den zu dem Ende beiliegenden kleinern (sogenannten Schmutz-) Titeln kömmt der erste gleich hinter dieser Nachricht; der andere, vor Seite 223. Der Haupttitel vor der Vorrede des Verfassers ist von dem Titelblatt der ersten Auflage von 1783 genommen. ENGEL'S THEORIE DER DICHTUNGSARTEN. ERSTE ABTHEILUNG: HAUPTSTÜCK 1─5. ANFANGSGRÜNDE EINER THEORIE DER DICHTUNGSARTEN AUS DEUTSCHEN MUSTERN ENTWICKELT. ERSTER THEIL. VORREDE. E s wird vielleicht sonderbar scheinen, dass ich die Theorie der Dichtungsarten, wovon ich hier einen nur so unvollkommnen Anfang liefere, nicht lieber aus Griechischen und Römischen, als aus Deutschen, Mustern habe entwickeln wollen. Denn jene Muster sind doch immer die frühern, und werden einhellig von allen Nationen als vortrefflich erkannt; auch ist das was wieder unter ihnen das Vortrefflichste ist, schon so ausgesondert, dass ich mir fast alle Mühe des Sammelns und Auswählens hätte ersparen können. In der That hätte ich mir diese Mühe äußerst gern erspart; denn Werke der Dichtkunst, wenn ich die vortrefflichen eines Wieland und weniger Andern ausnehme, haben schon lange aufgehört meine Lieblingslectüre zu seyn.   Allein die Veranlassung dieses Werks, die ich kürzlich erzählen will, ließ mir in diesem Stücke keine Wahl übrig: ich mußte mich allein auf deutsche Dichter einschränken. Ich erhielt nehmlich den Auftrag, außer dem philosophischen Unterricht, der mir zugetheilt war, auch eine Anleitung zur geschmackvollen Lesung der besten vaterländischen Dichter zu geben; denn man erkannte sehr wohl, wie wichtig die Bildung des Geistes und Geschmacks durch Werke der Muttersprache sei; da die künftige Nützlichkeit des Studirenden für sein Vaterland hauptsächlich davon abhängt, wie richtig und kräftig und fein er in der Sprache seines eigenen Volkes denke und sich ausdrückt. Ich sah mich also nach einer Sammlung von auserlesenen Stücken aus deutschen Dichtern um; allein ich fand keine, die mir zu meiner Absicht gefallen hätte. Einige der Sammler hatten sich bloß auf gewisse Gattungen der Dichtkunst, oder auch auf gewisse Zeiten und Provinzen eingeschränkt; Andre hatten bloß für Kinder, wieder Andre nicht mit genug, oder auch mit zu viel Geschmack gesammelt. Denn ich wünschte eine Sammlung nicht bloß von Beispielen des Guten, die ich loben, sondern auch des Schlechten, die ich tadeln könnte. Ich erinnerte mich des Ismenias von Theben, der seine Schüler nicht immer nur vortreffliche, sondern mitunter auch schlechte Flötenspieler hören ließ, um sie für die Schönheit des Vortrags durch das Fehlerhafte desto empfindlicher zu machen, und wenn er ihnen gesagt hatte: So muß man spielen! ihnen auch sagen zu können: So muß man nicht spielen! Man s. Plutarch im Leben des Demetrius, zu Anfange. ─   Mein erster Gedanke war also bloß, eine eigne Sammlung herauszugeben, die meinen Absichten mehr als die schon vorhandenen entspräche. Die Ordnung, nach welcher ich die gewählten Stücke reihen wollte, war leicht gefunden: ich beschloß, sie nach den verschiednen Dichtungsarten zu reihen. Aber, außer dem Ekel den ich bald bei dieser Arbeit empfand, ward es mir, während des Sammelns, immer einleuchtender: wie unphilosophisch man bisher bei Bestimmung der Dichtungsarten verfahren; wie man ganz verschiedne Gründe der Eintheilung durch einander geworfen, zufällige für wesentliche gegriffen, sich bei Bestimmung der Gattungen bloß auf das eingeschränkt wovon man bei den Alten Beispiele fand, Manieren einzelner Dichter zu Regeln gemacht, nirgend bis zu allgemeinen deutlichen Begriffen hinaufgestiegen, wichtige Untersuchungen fast gar nicht berührt, und durch alle diese Fehler zur Verachtung der Theorie und Kritik nur allzuviel Grund gegeben. Ich faßte den Entschluß, diesen Hauptmängeln der Kritik durch einen fortlaufenden, zwischen die Beispiele eingestreuten, Discurs, nach meiner besten Einsicht, abzuhelfen; allein ich fand es unmöglich, diesen speciellern Theil der Dichtkunst zu bearbeiten, ohne zugleich von dem allgemeinern Theile, der das Wesen des Gedichts überhaupt und Alles was dem anhängt entwickelt, wenigstens das Vornehmste mitzunehmen. Doch wollt' ich das nur gelegentlich einstreuen, und es weniger vollständig vortragen, weil ich den Zuhörer, wenn er künftig einst tiefer in die Materien eindringen wollte, schon auf Schriften verweisen konnte, in denen Licht und Bestimmtheit herrschte. Auch hielt ich diese allgemeinere Theorie für zu schwer, und den Fähigkeiten meiner in die Philosophie noch nicht eingeweihten Schüler zu wenig angemessen. Eben deswegen habe ich mich fürs erste in dem was ich davon beigebracht, noch nicht mit aller Genauigkeit und Schärfe ausgedrückt; ich habe z. B. lieber „Lebhaftigkeit“ als sinnliche Vollkommenheit gesagt, weil mir dieser Begriff, wenigstens bis nach gewissen Entwickelungen, die erst im zweiten Theile folgen sollen, noch allzufein schien. Jene speciellere Theorie, glaubte ich, würde sich klarer und faßlicher vortragen lassen; aber meine Hoffnung, wie ich mitten in der Arbeit gewahr ward, betrog mich.   Es war nur noch die Art des Vortrags zu wählen; und ich wählte die analytische: theils, weil ich in ihr die Gründe meiner Erklärungen und Eintheilungen am besten vorlegen konnte; theils, weil ich sie bei allem Unterricht in der Philosophie ─ und was ist Dichtkunst anders, als ein abgerissener Theil der Seelenlehre? ─ für besser und bildender als die gewöhnliche halte. Man hat mir gegen das Lob, das ich schon sonst dieser Lehrart ertheilt, eine Einwendung gemacht, von der ich gestehen muß, daß ich sie nicht begreife. Man glaubt, daß die Wahrheiten sich bei dieser Lehrart dem Gedächtniß nicht so gut, wie bei der gewöhnlichen einprägen. Ich sollte denken: besser; eben weil sie hier mehr mit dem Verstande gefaßt werden, und der Lehrling um so größeres Interesse an ihnen gewinnt, je länger und je mühsamer er sie hat suchen müssen. Allein gesetzt auch, sie entfielen dem Gedächtniß wieder; ist denn der eigentliche Hauptzweck des philosophischen Unterrichts der, daß man das Gedächtniß fülle, oder der, daß man den Scharfsinn erhöhe? Der Schüler der Philosophie ist ein junger Künstler, nicht ein angehender Kaufmann, und der philosophische Hörsaal ist ein Übungs-, nicht ein Marktplatz wo Waaren verhandelt werden. Alles was man daraus mitnehmen soll, ist Fertigkeit in der Kunst zu entwickeln. Oder, wie ich einst einem Freunde diesen Einwurf beantwortete: der junge Schüler der Philosophie ist ein angehender Virtuose; und die Schule oder Universität, sein Italien. Er reist nicht hin um Musikstücke einzukaufen: das überläßt er Breitkopf, dem Notenhändler; er reist hin, um berühmte Meister zu hören, und Geschmack und Manier zu bilden. Dieses und jenes vortreffliche Stück sucht er freilich wohl gelegentlich zu erhaschen; aber wenn er auch keines erhascht, oder wenn ihm auch sein Coffer voll Musikalien auf den Alpen verloren geht, so hat er darum nicht den Zweck seiner Reise verfehlt.   Ich behielt also meine Lehrart, mit der Überzeugung von ihrer Zweckmäßigkeit und ihren überwiegenden Vortheilen, auch in der Dichtkunst bei, entwickelte alle Begriffe aus gewählten Beispielen, fing mit den gewöhnlichen unvollkommnern Begriffen an, und suchte sie, nach und nach, sowie sich die Gelegenheit darbot, immer mehr aufzuklären und zu berichtigen. Man vergleiche z. B. die beiden letzten Hauptstücke dieses ersten Theils, mit dem zweiten Hauptstück. Die Begriffe von Materie und Form, die in diesem zweiten Hauptstück nur noch verwirrt hingeworfen wurden, werden hier in größeres Licht gesetzt, und, wie ich mir schmeichle, bis zur völligen Deutlichkeit entwickelt.   Wenn man glaubt, daß die Vortheile die ich von der analytischen Methode rühme, vielleicht nur Vorwand sind, und daß ich wohl eigentlich nur das Leichtere und Bequemere gesucht habe; so thut man mir Unrecht. Wahrlich! ich hätte für meine Trägheit nicht ärger, als eben durch meine Wahl, bestraft werden können. Was man aus seinem Nachdenken am leichtesten mitbringt, und also am leichtesten wiedergiebt, sind die Resultate mit ihren hauptsächlichsten Gründen; was beim Wiedererinnern Mühe und beim Aufschreiben Noth macht, ist die ganze Reihe der oft so feinen, oft so schnellen Operationen, wodurch die Seele die Gründe fand und die Resultate entwickelte. Ja, wenn es nur noch genug wäre, der treue Geschichtschreiber seines eigenen Denkens zu seyn! Man ermüdet den Leser unausbleiblich, wenn man sich hier zu genau an die Wahrheit hält; wenn man ihn auch diejenigen Wege durchführt, von denen man selbst wieder umkehren mußte; oder da wo man durch einen weitläuftigen beschwerlichen Umweg zum Ziel gekommen war, ihn diesen ganzen Umweg mitmachen läßt, ohne seitwärts in kürzere und angenehmere Fußsteige auszubeugen. Der analytische Schriftsteller, wenn er sich der ausdaurenden Aufmerksamkeit des Lesers versichern will, muß mitten im Philosophiren ein wenig den Dichter spielen: er muß die wahre Folge seines Räsonnements wie eine Natur behandeln, die bei der Nachahmung nicht immer nur copirt, auch verschönert seyn will; er muß sehr oft einen künstlichen Gang dem wahren substituiren, und doch diesen Gang so ebnen, so sanft sich schlängeln lassen, so treffend zum Ziele hinrichten, daß wir der Kunst nicht gewahr werden. Ob ich in dem Bestreben dieses zu thun, überall oder auch nur meistens glücklich war, müssen mir meine Leser sagen; ich selbst kann nichts weiter sagen, als daß ichs gewollt habe: und wie sehr ich dadurch meine Arbeit erschwert und verlängert, läßt sich begreifen.   Da meine Schrift noch nicht vollendet ist; so finden sich in diesem ersten Theile, eben um der gewählten Methode willen, noch manche mangelhafte und verworrne Begriffe, über die man mich hoffentlich nicht zur Rede setzen wird, weil es sich fragt, ob ich nicht künftig auf sie zurückkommen, und sie von den Fehlern die ihnen itzt noch ankleben, reinigen werde. So werd' ich z. B. erst künftig den falschen Eintheilungsgrund rügen, dessen bei Gelegenheit des Hirtengedichts gedacht wird: ich werde zeigen, daß Gegenstand, Classe von Gegenständen, Welt, wie man sich ausdrücken will, ganz und gar nicht in die Theorie der Dichtkunst gehöre, weil sie schlechterdings keine Gränzen haben würde, wenn man das Besondre aller der Arten von Gegenständen, die sich poetisch bearbeiten lassen, mit hineinziehen wollte. An die Stelle dieses falschen Eintheilungsgrundes aber wird ein anderer treten, und erst da werden die wichtigen Lehren von dichterischer Wirkung, Natur, Wahrheit, Moralität u. s. w. ihre Stelle finden.   Einen der beträchtlichsten Fehler meines Buchs, den ich schon oben undeutlich angab, will ich lieber ganz frei heraus bekennen, und mich eben dadurch der Verzeihung meiner Leser versichern. Dieser Fehler ist die Ungleichheit des Tons, der in den erstern, und (wie ich hoffe) auch hie und da in den mittlern und letztern Hauptstücken leicht und faßlich, und dann mitunter wieder so schwer ist, daß er selbst spitzfindig scheinen könnte. Oft schreibe ich die ersten Anfangsgründe für Jünglinge, und dann wieder Subtilitäten für Männer. Eben weil ich diese Unschicklichkeit mitten im Werke gewahr ward, lagen die ersten elf Bogen, die ich nach und nach abdrucken ließ, schon seit fünf Jahren unvollendet, und ich würde gern das ganze Buch unterdrückt haben, wenn ich es vor dem Verleger hätte verantworten können. Doch ist die Schuld weniger mein, als der Materie; mein nur insofern, daß ich den zu feinen und für Anfänger zu schweren Materien nicht lieber auswich. Allein ich hätte in diesem Fall zwei Bücher schreiben müssen, wozu ich mich wenig aufgelegt fühlte: denn, wie ich schon berührt habe, so sind alle zum speciellern Theil der Dichtkunst gehörige Grundbegriffe, und auch einige Puncte des allgemeinern Theils, noch in keinem mir bekannten Werke deutlich entwickelt, und ich hätte nicht gewußt, worauf ich Lehrer und Leser, zur Rechtfertigung meiner Änderungen im Gebäude der Theorie, oder worauf ich auch den bessern Schüler, zu weiterm Unterricht, hätte hinweisen sollen.   Mag doch der Lehrer, der sich des Werkchens etwa bedienen will, Untersuchungen, wie die allgemeinen über Materie und Form, überschlagen, und sich desto länger bei den Kritiken der gegebenen Beispiele und bei den besondern Regeln jeder Dichtungsart verweilen, die ich in einigen Hauptstücken nur ganz kurz zusammengedrängt, und wovon ich nur die Principien umständlicher entwickelt habe Da diese Vorrede schon zum Drucke fertig ist, lese ich die Ankündigung eines neuen Lehrgebäudes der schönen Wissenschaften von Hrn Professor Eschenburg in Braunschweig. Die bekannte Geschicklichkeit und Gelehrsamkeit dieses Mannes verspricht uns etwas vorzüglich Gutes; und so wird ohne Zweifel der Lehrer Recht haben, wenn er das Buch meines Freundes dem meinigen vorzieht. ─ (Diese „Theorie und Literatur der schönen Redekünste“ von Hrn Eschenburg ist im gegenwärtigen Jahr 1805 zum drittenmal erschienen. Auch hat der nehmliche Verfasser, was Engel 1783 ─ man s. vorher S. vii ─ wünschte, von 1788 bis 1795 geliefert, nehmlich eine „Beispielsammlung“ zu seiner Theorie, aber freilich nicht bloß aus deutschen Dichtern. D. H. ) . Das Nehmliche wird sich mit einigen Puncten aus dem allgemeinen Theile der Dichtkunst thun lassen, in deren Untersuchung ich mich deswegen einließ, weil ich in den besten theoretischen Werken die wir haben, noch keine völlige Befriedigung darüber fand. Dahin gehört vornehmlich die Untersuchung über das was sich mit der Sprache zur Anschauung bringen läßt, und was also der Dichter einzig soll beschreiben wollen. Ich fand hierüber nicht das Wahre im Laokoon, und nicht das Vollständige im Ersten kritischen Wäldchen: einem Buche, das ich übrigens für eins der trefflichsten Stücke Kritik halte, die je sind geschrieben worden.   Eine ähnliche Ursache hat mich hie und da auch über einige ganz specielle Puncte, die bei den verschiedenen Dichtungsarten vorkommen, ein wenig schwatzhaft gemacht. So z. B. in dem Hauptstück von dem Hirtengedichte. Der Schlegelsche so unbedeutende Einwurf gegen die Erklärung in den Literaturbriefen war bereits in der N. Bibl. der Schönen Wissensch. beantwortet Mendelsohns Erklärung des Schäfergedichts steht in den Literaturbriefen, Th. 5, Br. 86. Hier kam der Ausdruck: „kleine Gesellschaften“ vor; wofür Engel itzt (S. 111) bestimmter sagt: „gesittete Menschen, die noch in keinen Staat zusammengetreten sind.“ ─ Joh. Adol. Schlegel, gegen dessen Anmerkungen zum Batteux (2te Auflage, 1759) die Erinnerungen in den Literaturbriefen gerichtet waren, bestritt nun wiederum (in seinem Batteux, 3te Auflage, 1770) die dort gegebene Erklärung; welche dagegen der Rezensent in der Leipziger N. Bibl. d. Sch. Wissenschaften, Bd 12 St. 1 S. 77 folgg., vertheidigte. D. H. . Allein es war noch ein anderer mehr scheinbarer Einwurf übrig; dieser nehmlich: wie die moralische Güte der Empfindungen und Leidenschaften, die doch Jeder von dem Hirtengedicht fordert, aus dem Begriff des verschönerten Gemäldes der kleinen Gesellschaften fließe. Ich fand diese Frage bei einem unserer kritischen Schriftsteller; allein die Antwort darauf fand ich nirgend: und doch schien mir die Frage der Beantwortung nicht unwerth, weil sie, auch bei der richtigsten Bestimmung des Begriffs der kleinen Gesellschaften, übrig zu bleiben scheint, und man nicht so unmittelbar einsieht: warum selbst der Erfinder der bestrittenen Erklärung einen sanften und ruhigen Ton von dem Hirtendichter fordert. Ich schmeichle mir, alle Schwierigkeit gehoben, und die Regel aus der Erklärung selbst bis zur Befriedigung entwickelt zu haben.   Das was ich oben den Lehrer der Jugend zu überschlagen bat, bitte ich jetzt den Kenner, in meinem Werkchen ausdrücklich aufzusuchen; es ist das Einzige, was ihn darin vielleicht interessiren kann. Wenigstens mich interessirt es unendlich, sein Urtheil zu hören, und wo ich geirrt habe, Zurechtweisung von ihm zu erhalten. ─ Einen andern angenehmen Dienst würde man mir erzeigen, wenn man mir hie und da bessere Beispiele des Guten und Schlechten nachwiese, als mir mein Gedächtniß oder eine oft mit Unmuth abgebrochene Lectüre an die Hand geben wollte. Bei einer neuen Auflage, die ja so manches, vielleicht noch mittelmäßigere, Buch erlebt, würd' ich sicher Gebrauch davon machen. Nur bitte ich, mich nicht in dem Verdacht zu haben, als ob ich wirklich schlechte Stücke für schön hielte, weil ich sie als Beispiele zu den gegebenen Begriffen hingesetzt, und ihrer Fehler mit keiner Sylbe gedacht habe. Es war mir genug, wenn sie nur das zeigten was sie zeigen sollten; und übrigens konnt' es mir zuweilen lieb seyn, wenn ich den Schüler zu eigner Beurtheilung veranlaßte, und seinen Geschmack auf die Probe stellte. So ist die Schlegelsche Fabel S. 60 in der That eine zusammengesetzte Fabel, und zum Beispiele um so geschickter, da hier Bild und Gegenbild in allen einzelnen Zügen einander genau entsprechen, und sogar in beiden Erzählungen einerlei Reime beibehalten worden. Übrigens ist sie freilich äußerst matt und langweilig erzählt, aber sie steht hier auch nur als Beispiel einer zusammengesetzten, nicht einer schönen Fabel.   Indem ich von der Fabel rede, erinnere ich mich an das was ich meinen Freunden zu danken habe. Dem jetzt verewigten Lessing, wie ein Jeder leicht wahrnehmen wird, das ganze Hauptstück von der Fabel; einem der Mitarbeiter an den Literaturbriefen ─ oder warum sollt' ich den würdigen vortrefflichen Mann nicht lieber mit Namen nennen? ─ Hrn Mendelssohn den Begriff der Idylle, und was für mich noch weit wichtiger war, den Begriff des lyrischen Gedichts. Indem ich über das was er von dem besondern Ideengange in diesem Gedichte sagt Von der Idylle sehe man den in voriger Note angeführten Br. 86 der Literaturbriefe. Von der Ordnung in welcher die Gedanken bei der Ode folgen, spricht Mendelssohn: Bd 17, Br. 275 zu Anfang. , weiter nachsann, entdeckte ich, daß überhaupt die Ideenordnung der wahre Begriff der Materie, als des ersten Eintheilungsgrundes der Dichtungsarten, wäre; und indem ich noch weiter nachsann, fand ich, wie viel auch die allgemeine Theorie von den Formen durch diese Lehre gewönne. Gespinnst und Gewebe selbst sind also zwar mein; aber die Flocke, aus der ich spann, gehört meinem Freunde: und wer weiß, ob ihm nicht Manches auch noch von dem Übrigen zukäme, wenn wir nicht das Unsrige, bei verschiednen über diesen Gegenstand gepflogenen Gesprächen, so durch einander geworfen hätten, daß wir es schwerlich wieder herausfinden mögten. Es ist mit den Wahrheiten, wie mit den Münzen: sie lassen sich nur am Gepräge erkennen; und wo also dieses abgegriffen ist ─ wie es sich denn an den Wahrheiten im Gespräch so leicht abgreift ─ da weiß man nicht mehr, von wem sie geschlagen worden. Die Materie ist überall die nehmliche, wenn anders die Münze echt ist: Gold oder Silber.   Wie bald der zweite Theil diesem ersten folgen mögte, kann ich nicht sagen. Ich habe der poetischen Lectüre fürs erste satt, und weiß noch nicht, wie bald ich genug Entschließung haben werde mich von neuem darauf einzulassen. Der wichtigen Materien sind freilich noch die Menge zurück; aber einen großen Vortheil muß ich doch in diesem ersten Theil schon einigermaßen erreicht haben, oder ich habe meine vornehmste Absicht verfehlt. Sie war nehmlich die: der Verwirrung in den Haupteintheilungen abzuhelfen, überall bis zu allgemeinen Grundbegriffen hinaufzusteigen, das Genie mit seiner Arbeit nicht bloß auf gewisse Fächer einzuschränken, und noch vielweniger ihm die eigenthümliche Manier dieses oder jenes alten Meisters zum Gesetz zu machen. Eine solche Erweiterung der Theorie war schon ehemal meine Absicht, als ich die Gedanken über Handlung Gespräch und Erzählung für die Neue Bibliothek der Schönen Wissenschaften schrieb Bibl. Bd 16; itzt ─ und noch weiter ausgeführt, und anders geordnet ─ im 4ten Bande dieser Schriften gedruckt: von Seite ror an. ; doch hatte ich damal die wesentlichsten Begriffe noch nicht hinlänglich entwickelt. ─ Wenn man mich zuweilen auf Ideen ertappen sollte, die aus jenem Journale entlehnt sind Z. B. aus der Rezension von Ramlers Lyrischen Gedichten (in der Bibl. Bd 14. 15), von Diderot's Contes moraux (Bd 15. 16): welche Ideen theils in diese Poetik verwebt ; so halte man mich darum für keinen Plagiarius: ich habe meines Wissens Niemand anders damit beraubt, als mich selbst. sind, theils in andere Abhandlungen, namentlich Bd 4 u. s. w. INHALT DES ERSTEN THEILS. Seite E rstes Hauptstück. Von dem Gedicht überhaupt. 1 Zweites Hauptstück. Von den verschiedenen Dichtungsarten. 25 Drittes Hauptstück. Von der Fabel. 43 Viertes Hauptstück. Von der Idylle. 94 Fünftes Hauptstück. Von dem Lehrgedicht. 146 Sechstes Hauptstück. Von dem beschreibenden Gedicht. 223 Seite Siebentes Hauptstück. Von der Handlung. 307 Achtes Hauptstück. Von dem lyrischen Gedicht. 443 Neuntes Hauptstück. Von den Formen des Gedichts. 533 ERSTES HAUPTSTÜCK. Von dem Gedicht überhaupt. D er beste Weg, sich von einer Sache einen bestimmten Begriff zu machen, ist der, dass man sie mit ihrem Gegentheil vergleiche. Der Poesie steht die Prosa entgegen; und um also einen richtigen Begriff von jener herauszubringen, müssen wir sie mit dieser zusammenhalten. ─ Jedermann fühlt, daß es Poesie ist, wenn Gleim singt: Vom sternenvollen Himmel sahn   Schwerin und Winterfeld, Bewundernd den gemachten Plan,  Gedankenvoll den Held. Gott aber wog, bei Sternenklang,   Der beiden Heere Krieg; Er wog, und Preußens Schale sank,  Und Östreichs Schale stieg. Und daß es Prosa ist, wenn der Geschichtschreiber erzählt: „Der König nahm so weise Maßregeln, und griff die Feinde so vortheilhaft an, daß er, ungeachtet ihrer großen Überlegenheit, einen vollkommenen Sieg erhielt.“   Was macht nun aber jenes zur Poesie und dieses zur Prosa? Kein Unterschied zwischen beiden Stellen fällt sichtbarer in die Augen, als daß in der einen ein bestimmtes Sylbenmaß ist, in der andern nicht; daß die eine gereimt ist, die andere nicht. ─ Sollten denn aber Sylbenmaß und Reim wirklich den einzigen, oder nur den Hauptunterschied machen? Wir wollen sehen. ─ Der sonst vortreffliche Hagedorn singt: Was ist die Weisheit denn, die Wenigen gemein? Es ist die Wissenschaft, in sich beglückt zu seyn. Was aber ist das Glück? Was alle Thoren meiden: Der Zustand wahrer Lust und dauerhafter Freuden; Empfindung, Kenntniß, Wahl der Vollenkommenheit, Ein Wandel ohne Reu, und stete Fertigkeit, Nach den natürlichen und wesentlichen Pflichten Die freien Handlungen auf Einen Zweck zu richten. Hier ist auch Sylbenmaß und Reim; und doch wird jeder Leser von Geschmack die Stelle tadeln: er wird die Verse zu prosaisch finden. Hingegen, wenn Gerstenberg sagt: „Trage mich auf deinen kühlenden Flügeln, schneller Boreas, nach Cypern hin, wo Bacchus neue nektarische Reben pflanzt!“ so ist hier zwar mehr als gewöhnlicher Wohlklang, aber es findet sich weder Sylbenmaß noch Reim; und gleichwohl ist die Stelle poetisch. Auch führt die Sammlung, woraus sie genommen ist, den Titel: Prosaische Gedichte.   Wir werden also noch andere Merkmaale aufsuchen müssen: und da fällt nun wieder kein Unterschied deutlicher in die Augen, als daß die poetischen Stellen Erdichtung, die prosaischen lauter Wahrheit enthalten. In der Gerstenbergischen finden wir Wesen genannt, die nirgend als in der Einbildung der Dichter existitiren: Bacchus und den beflügelten Boreas; in der Gleimischen sind zwar die aufgeführten Wesen alle wirklich, aber die ihnen beigelegten Handlungen sind erfunden. Die Hagedornische Stelle dagegen enthält nichts als philosophische, sowie die andere, die wir der Gleimischen entgegensetzten, nichts als historische Wahrheit. ─ Das Wesen der Poesie scheint demnach in der Erdichtung, der Prosa in der Wahrheit zu liegen; und die griechische sowohl als die deutsche Etymologie der Wörter Poesie und Gedicht scheint diesen Begriff zu bestätigen.   Aber auch dieses Merkmaal kann noch nicht hinlänglich seyn; denn wenn nun ein falscher Zeuge vor Gericht eine ganze Erzählung ohne allen Grund der Wahrheit ersinnet: ist er darum ein Dichter? Oder ist jede Heiligenlegende, jedes Koboldmährchen ein Gedicht, weil Wesen der Einbildung darin vorkommen? ─ Und wie, wenn es Poesie gäbe, die ein jeder dafür erkennte, und die gleichwohl nichts als wahre Empfindungen in wahren wirklichen Situationen ausdrückte? Haller singt bei dem Tode seiner Mariane: Wie oft, wenn ich dich innig küßte,   Erzitterte mein Herz und sprach: Wie, wenn ich sie verlassen müßte?   Und heimlich folgten Thränen nach. Diese so empfindungvolle Stelle ist gewiß nicht prosaisch; und doch enthält sie, wie man dem Dichter leicht glauben kann, nichts als Wahrheit.    Also zum dritten Unterschiede, der in den obigen Stellen sichtbar ist! Dieser besteht darin: daß die poetischen ungewöhnlichere Wörter, wie: Sternenklang, nektarische Reben; fremde und eigene Wortfügungen: Bewundernd den gemachten Plan,   Gedankenvoll den Held; kühnere Metaphern: Gott wog den Krieg beider Heere; häufigere Epithete, wie: kühlender Flügel, schneller Boreas, sternenvoller Himmel, enthalten; mit einem Worte, daß sie im Ausdrucke weit voller, glänzender, enthusiastischer sind, als die ganz simpeln und schmucklosen prosaischen. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach https://textgridrep.org/browse/-/browse/ng6s_0 ─ Aber auch dieses Merkmaal kann wohl nicht hinlänglich seyn; denn die zuletzt angeführte Hallerische Stelle ist im Ausdruck desto ungeschmückter und einfältiger, und ist gleichwohl poetisch.   Demungeachtet fühlt man, daß in jedem dieser Merkmaale, obgleich keines den Begriff erschöpft, ja obgleich jedes einzeln wegseyn kann, etwas zur Poesie Gehöriges liege. Reim und Sylbenmaß machen noch kein Gedicht aus; aber gleichwohl gehören beide nur für den Dichter. Nicht zu jedem Gedichte wird Erdichtung erfordert, und nicht jede Erdichtung ist Poesie; aber gleichwohl ist es unläugbar etwas Poetisches, zu erdichten. Nicht in jedem Gedichte darf der Ausdruck glänzend und prächtig seyn; aber gleichwohl ist ohne Zweifel so ein Ausdruck poetisch. ─ Alles kömmt also darauf an, daß wir das Allgemeinere finden, das in jedem dieser Merkmaale begriffen ist: denn dieses Allgemeinere muß das Wesen der Poesie enthalten. Am besten, daß wir zu dieser Untersuchung das Merkmaal des Reims und des Sylbenmaßes wählen, weil diese dem Gedicht allein eigen sind, und schlechterdings nicht für die Prosa gehören.   Aber der Reim findet sich nur in den neuern, und auch bei weitem nicht in allen neuern Gedichten. Die Römer und Griechen reimten nie, und auch Kleists Frühling, Klopstocks Messias, viele Oden von Ramler, sind ohne Reim geschrieben. Wir lassen daher auch den Reim lieber weg, und bleiben bloß bei dem Sylbenmaß.   Was kann man also davon gehabt haben, daß man sich den Zwang auferlegt, lange und kurze Sylben, bald mit der genauesten Regelmäßigkeit, bald mit etwas freierer Wahl, abwechseln zu lassen? Das erste z. B., wenn man in lauter Iamben schreibt; das andere, wenn man Hexameter macht? Was ferner davon, daß man diese regelmäßig abwechselnden Sylben insgemein wieder in Zeilen von gleich viel Füßen, oder wenigstens in regelmäßig abwechselnde Zeilen von ungleichen Füßen eingeschlossen hat? Ja oft noch überdies sich das Gesetz auferlegt, ganze Reihen von solchen Zeilen wiederum einander gleich zu machen? Mit einem Worte: daß man sich an Sylben-Zeilen- und Strophenmaße gebunden hat?   Zuerst merkt ein jeder, daß die Art von Tact und von Rhythmus, die hiedurch in die Rede kömmt, etwas sehr Schmeichelhaftes für das Gehör habe, und daß durch dieses Schmeichelhafte, welches sich mit dem Reiz des Neuen und Ungewöhnlichen vereinigt, die Aufmerksamkeit mehr erweckt, der Eindruck mehr verstärkt werde, als durch die freiere prosaische Art zu reden. ─ Wenn man den Kindern das Lernen historischer Namen, grammatikalischer Regeln u. s. f. erleichtern und angenehmer machen will, so bringt man sie ihnen in Verse.   Ferner hat die Poesie schon durch das bloße Sylbenmaß einen Vortheil, den die Prosa nie so ganz erreichen kann: diesen nehmlich, daß es manche in den Worten liegende Vorstellungen durch Nachahmung sinnlicher macht, daß es malt. In folgender Gleimischen Stelle wird die Geschwindigkeit mehr noch durch die Daktylen und die Kürze der Zeilen, als durch das Gleichniß, ausgedrückt: Den flüchtigen Tagen   Wehrt keine Gewalt; Die Räder am Wagen Entfliehn nicht so bald. Und so haben andre Sylben- und Zeilenmaße etwas Langsames, Feierliches, Prächtiges, Sanftes, das schon in dem bloßen Falle liegt, und wenn es mit dem Inhalt der Worte gehörig harmonirt, die Vorstellungen bei richtiger Declamation sehr zu unterstützen dient. ─ Selbst Unregelmäßigkeiten des Sylbenmaßes haben oft viel Ausdrückendes und Malerisches. Wie z. B. die unvollendete Zeile in Kleists Frühling: ─ ─ ─ Verstummt dann, bebende Saiten! So preist ihr würdger den Herrn! Oder der Mangel des Einschnitts in folgender Ramlerischen Zeile: Solang' in dieses Hafens Arme Segel wallen. Oder Spondeen, statt der Daktylen, in dem vorletzten Fuße des Hexameters, wie manchmal bei Klopstock. Oder die Verschlingung einer Zeile und einer Strophe in die andre, wie bei Ramler: O weiche Söhne tapfrer Franken! Sprechet   Helvetien um Männer an! O plündert unbewährte Fürstenthümer! Brechet   Mit Wagen, Roß und Mann In eurer Väter alte Sitze! Schreitet  Kühn über den gehörnten Rhein u. s. w. Wer sieht nicht, wie vortrefflich hier der Dichter, bloß durch seinen kunstvollen Versbau, die Gedanken gemalt hat? Überhaupt hat Niemand das Mechanische der Poesie, wie man es nennt, so sehr in seiner Gewalt gehabt, und es mit solcher Klugheit zu nutzen gewußt, als Ramler.   Mit diesem Vortheile ist ein dritter verbunden, der von allen der wichtigste ist, und sich besonders bei gewissen Sylbenmaßen äußert: daß nehmlich die Sprache dadurch der Musik fähig wird, als zu welcher Tact und Rhythmus gehören. Auch ist schon das Sylbenmaß selbst, wenn auch die Worte noch nicht gesungen, sondern nur gut recitirt werden, eine Art von Musik. Musik aber ist lebendiger Ausdruck der Empfindung, und eben dadurch auch Mittel, bei Andern Empfindung hervorzubringen. Die Erklärung dieser Sache, wenn sie überhaupt befriedigend kann gegeben werden, würde uns hier zu weit führen; genug, daß ihre Wahrheit durch eines Jeden mannichsaltige Erfahrungen an sich und an Andern bestätiget wird. Nicht allein aber macht das Musikalische des Sylbenmaßes die Sprache zum Ausdruck und zur Erweckung der Empfindung überhaupt bequemer; sondern auch die eigene Art der Empfindung die der Dichter jedesmal ausdrücken und erwecken will, wird durch das Eigenthümliche eines klüglich gewählten Sylbenmaßes ungemein unterstützt. In der ersten der folgenden Stellen ist das Sylbenmaß schmeichelnd und sanft; in der zweiten, munter und fröhlich; in der dritten, feierlich ernst: der Natur der Empfindungen gemäß, die den Inhalt einer jeden ausmachen. Liebe, die du Götter oft um Schäfer tauschest, Lieber unter Lauben und auf Blumen lauschest, Als Palläste suchest, und aus Golde trinkst, Und auf Cedern tanzest und auf Sammet sinkst! Einen Prinzen höre u. s. w. Ramler. Da auf rauschendem Gefieder Zephyr uns den Frühling bringt, So erwacht die Freude wieder; Alles lacht, und alles singt. Tanzt, o tanzet, junge Schönen, Meiner sanften Leier nach, Die noch nie mit leichtern Tönen Unter meinen Händen sprach! Uz. Zu lang' ists schon, Elise, daß ich schweige,   Und bringe dir nur stumme Thränen dar. Nimm hin ein Lied, nicht daß ichs Menschen zeige;  Nein, still und treu, wie unsre Liebe war. Was! schilt die Welt zuletzt noch, wenn ich weine?   Wer starb mir denn? Wes ist Elisens Grab? O nennet mir ein Elend, wie das meine,   Und sprecht mir dann das Recht der Thränen ab! Haller.   Die Summe von diesem allen ist: daß das Sylbenmaß dem Ohre schmeichelt, der Einbildungskraft die Ideen mehr gegenwärtig zu machen dient, und die Absicht, das Herz in alle Arten von Empfindung zu setzen, mit erreichen hilft. Diese verschiednen Vortheile lassen sich aber wieder auf einen allgemeinern Begriff bringen: das Sylbenmaß nehmlich ist ein Hülfsmittel, lebhaftere Vorstellungen zu erzeugen. Und wie, wenn nun der ganze Zweck des Dichters und das ganze Wesen seiner Kunst darauf hinausliefe, durch den Gebrauch der Rede, als die sein einziges Instrument ist, lebhaftere Vorstellungen auszudrücken und zu erzeugen? Oder welches einerlei sagt: diejenigen Seelenkräfte die allein zur Empfängniß solcher Vorstellungen geschickt sind, die Sinne, die Einbildungskraft, den Witz, das sympathetische Gefühl, in Übung zu setzen, und sie durch diese Übung zu erhöhen und zu schärfen?   Die Prosa würde dann der Poesie so entgegengesetzt seyn, daß jene mehr auf richtige Vorstellungen der Dinge, zur Erweiterung nützlicher Kenntnisse, auf Überzeugung des Verstandes von allgemeinen oder besondern Wahrheiten, an denen gelegen ist, auf Lenkung und Überredung des Willens, vermittelst aufrichtiger Darstellung oder hinterlistiger Vorspiegelung des Wahren, ginge.   Um die Richtigkeit unsrer Erklärung zu prüfen, müssen wir sehen, ob auch die andern oben bemerkten Unterschiede zwischen Poesie und Prosa in ihr gegründet sind. Und wie erklären wirs denn zuerst, daß der Poet erdichtet? daß er aber nicht immer erdichtet? und daß nicht Jeder der erdichtet, Poet ist?   Der Poet, werden wir sagen, erdichtet, weil ihm die bloße Wahrheit zu seinem Zwecke nicht Genüge leistet, weil sie für ihn zu kalt, zu verwickelt, zu leer ist. Bald versteckt er also die Wahrheit in Erdichtungen, um den Eindruck zu verstärken und zu erhöhen; bald läßt er nur einen Theil des Wahren wie er ist, und nimmt mit dem andern beträchtliche Veränderungen vor; bald erdichtet er ganze Geschichten ohne allen Grund der Wahrheit, weil er nichts Wahres kennt oder weil ihm jetzt nichts Wahres vorschwebt, das seine Seele und die Seele seiner Zuhörer gleich lebhaft beschäftigen könnte. ─ Er erdichtet aber nicht immer, weil nehmlich manches Wahre zur Erreichung seiner Absicht, Einbildungskraft und Herz zu erwärmen, schon hinlänglich geschickt ist. ─ Und nicht Jeder der erdichtet, ist Dichter, weil nehmlich nicht Jeder auf die Wirkungen des Dichters damit abzielt; weil ihm an der Lebhaftigkeit der Vorstellungen weniger, als an ihrer geglaubten Richtigkeit liegt.   Wie erklären wirs ferner, daß sich der Poet in seinen Ausdrücken oft so weit über den Prosaisten erhebt, und oft wieder die simpelste ungeschmückteste Sprache redet? Denn in manchen Liedern, in Elegieen, in Lustspielen; wie einfach ist da die Sprache! Und wie erhaben und prächtig wieder in der hohen Ode, in Epopöen, und heroischen Trauerspielen?   Alle oben angeführte und nicht angeführte Unterschiede im Ausdruck, der Gebrauch neuer, fremder, veralteter Wörter und Redensarten, die ungewöhnlichern Wortfügungen, die häufigern Epithete, die kühnern Metaphern, die Figuren aller Arten in Gedanken und Worten, dienen zum Ausdruck und zur Erweckung lebhafter Vorstellungen. Sie müssen also vor allen dem Dichter zugehören, der auf lebhafte Vorstellungen, als auf den letzten Zweck seiner Kunst, arbeitet. ─ Sobald aber der Fall eintritt, daß die Natur der lebhaften Vorstellungen keinen Glanz des Ausdrucks verträgt, so muß auch die Sprache zu der gewöhnlichen sich mehr herablassen, und nur durch Präcision, Energie, Naivetät sich empfehlen. Traurigkeit z. B. verwirft allen gesuchten Schmuck, und wer in klagenden Elegieen Klopstocks Odensprache reden wollte, würde durch die auffallende Disharmonie zwischen Empfindung und Ausdruck alle Wirkung vernichten. Fröhlichkeit ist, ihrer Natur nach, leicht und sorglos; wer sie singt, muß keine hochtrabende Wörter brauchen, keine künstliche Perioden flechten, u. s. w. Wir sehen, daß in unsrer Erklärung Alles liegt was darin liegen sollte, und schließen daher, daß sie die richtige ist.   Die Gattungen fließen freilich, in Werken der Kunst, wie der Natur, überall in einander; indeß wird unsre Erklärung dienen, die Gränzen so genau als möglich zu berichtigen. Sie führt nehmlich auf den Grundsatz: So oft in einem Werke die Lebhaftigkeit der Vorstellungen der hervorstechende höhere Zweck ist, dem die andern untergeordnet worden, so ist das Werk mehr zur Poesie gehörig; sobald jene nur Mittel oder untergeordneter Zweck ist, so ist es mehr zur Prosa gehörig Man muß bei Anwendung dieses Grundsatzes nur folgende Erinnerungen merken: 1) Ein Werk kann so unverträgliche Eigenschaften verbinden, daß von der Gattung gar nicht die Frage seyn kann, weil es ein abgeschmacktes und widersinniges Werk ist. Dies würde z. B. der Fall seyn, wenn eine Rede nach allen Regeln einer ängstlichen Homiletik genau disponirt, und dann gleichwohl in den prachtvollsten Hexametern geschrieben wäre. Hier würden Plan und Vortrag auf ganz verschiedene Endzwecke .   Poetisches Genie ist nun, nach unsrer Erklärung des Gedichts, die Fähigkeit, gehen, deren einer durch den andern gehindert würde, und das Ding würde eher Unding als Mittelding seyn. 2) Die verschiedenen Theile können einander so unähnlich, so heterogen seyn, daß das Werk in Absicht des einen etwas ganz anders als in Absicht des andern ist, und dann läßt es sich freilich unter keine bestimmte Gattung bringen. 3) Wenn in einem Werke nicht Alles geschehen ist was zur Erreichung des Endzwecks geschehen konnte, so macht dieser Umstand das Werk insofern mangelhaft, aber wirft es noch nicht aus der Gattung heraus. An Geßners Idyllen z. B. mangelt Etwas, weil sie nicht versificirt sind; aber sie bleiben dennoch Gedichte. 4) Wenn in einem Werke für den Endzweck zu viel geschehen ist; so hat das Werk insoweit einen Fehler, aber hört darum noch nicht auf, von der und der Gattung zu seyn, Ein Geschichtschreiber kann sich in seiner Sprache etwas zu sehr dem poetischen Tone nähern; er bleibt darum doch ein Geschichtschreiber. ─ Die weitere Entwickelung des Begriffs der Lebhaftigkeit wird sich unten beim Lehrgedichte finden. Ideen von einem hohen Grade der Lebhaftigkeit hervorzubringen. Mithin liegt es in einer vorzüglichen Stärke der obenbenannten Seelenkräfte.   Die Vortrefflichkeit der poetischen Kunst erhellet aus der Schätzbarkeit eben dieser Seelenkräfte, als auf deren Übung und Erhöhung sie abzweckt.   Poetische Begeisterung ist die jedesmalige wirkliche Äußerung des Genies, oder derjenige Zustand der Seele, in welchem sie Ideen von einem vorzüglichen Grade der Lebhaftigkeit aus ihrer eigenen Kraft hervorbringt.   Das Genie aber ist nicht immer und nicht in jedem Augenblicke Genie. Nicht alle seine Ideen haben den gehörigen Grad von Lebhaftigkeit; nicht alle harmoniren gleich richtig mit der Reihe der übrigen Ideen; nicht alle erhalten im ersten Augenblicke den treffendsten und glücklichsten Ausdruck; nicht jede Anordnung der Theile bringt gleich gut die abgezweckte Wirkung hervor; nicht alle Ideen sind der Seele gleich angenehm, es sei nun daß sie sinnlichen Widerwillen erregen, oder das moralische Gefühl beleidigen. Um es kurz zu fassen: nicht alle Ideen, Ausdrücke, und Anordnungen der Theile, sind schön. Es muß also noch der Geschmack hinzukommen, der in dem undeutlichen Urtheile über die Schönheit besteht. Kritik ist eben dieses Urtheil, entwickelt und deutlich gemacht; oder kürzer: der räsonnirte Geschmack. ZWEITES HAUPTSTÜCK. Von den verschiedenen Dichtungsarten. W ir haben, in dem vorhergehenden Hauptstück, verschiedener Dichtungsarten erwähnen hören. Von diesen Dichtungsarten hat schon ein Jeder der nur nicht ganz unbelesen ist, einen ungefähren Begriff, welcher bloß etwas mehr braucht aufgeklärt und genauer bestimmt zu werden. Wir wollen also nun ausdrücklich fragen: Worin besteht der Unterschied unter ihnen? Lassen sie sich alle unter Eine Eintheilung bringen? Oder sind sie Glieder mehrerer Eintheilungen, die aus verschiedenen Gründen gemacht sind? Und wenn das letztere ist; welches sind diese Gründe? ─ Um hierauf zu antworten, müssen wir auf gut Glück einige Dichtungsarten herausnehmen, sie vergleichen, und uns Rechenschaft von ihrem Unterschiede geben.   Worin mag also z. B. der Unterschied zwischen einem lyrischen Gedichte und einem Lehrgedichte liegen? Das Lehrgedicht, finden wir, ist eigentlich nur zur Declamation eingerichtet, es ist in einer einförmigen Versart, mit weniger Abwechselung des Sylbenmaßes, weniger Schwung, weniger merkbarem Rhythmus geschrieben, als das lyrische mehr sangbare Gedicht. Man vergleiche z. B. die erste Hallersche Stelle mit der zweiten von Uz: Wohlangebrachte Müh! Gelehrte Sterbliche! Euch selbst mißkennet Ihr, sonst Alles wißt Ihr eh. Ach! eure Wissenschaft ist noch der Weisheit Kindheit, Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit. Allein, was wahr und falsch, was Tugend, Prahlerei, Was falsches Gut, was echt, was Gott und jeder sei: Das überlegt Ihr nicht; Ihr dreht die feigen Blicke Vom wahren Gute weg, und sucht ein träumend Glücke.   Mit sonnenrothem Angesichte, Flieg' ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem Lichte Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner klang! Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang, Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen, Sich strömend fort, und braust von meinen Lippen?   Sollte denn aber der ganze Unterschied nur hierin, nur in der äußern Einrichtung, liegen? ─ Dann müßte dieser Unterschied aufhören, sobald man beide Werke, in Ansehung dieser äußern Einrichtung, einander ähnlich machte. Aber wir finden, daß ein lyrisches Stück und ein Lehrgedicht auch dann noch ihre Namen behalten, wenn in der Versart kein Unterschied mehr zu machen ist. Folgende Stellen sind beide in Hexametern geschrieben; und doch nennt ein Jeder die erste lyrisch, die andre didaktisch. Eva singt beim Kreuze des Messias: Du, mein Herr und mein Gott! wie kann ich, du Liebe! dir danken? Ewigkeiten, sie sind zu kurz, genug dir zu danken! Hier will ich liegen und beten, bis du dein göttliches Haupt nun Neigst im Tode! Nur vor dem Fürchterlichsten der Engel, Nur vor seiner Stimme soll meine Stimme verstummen, Wenn er kommt, und es nun von deinem Vater verkündigt, Der dich verlassen hat. ─ Hör um dieser Todesangst willen, Die für Sünder du fühlst, hör, Gottverlaßner, mein Flehen! Herr! für deine Versöhnte, für meine Kinder, für alle, Die das weite, das furchtbare Grab, die Erde, (doch hats auch Deine Gnade mit Blumen bestreut) noch künftig bewohnen, Und, mit jedem vor deiner Versöhnung entschlafnen Jahrhundert, An dem Tage der großen Entscheidung, auferstehn werden! Meine zahllosen Kinder, für diese fleh' ich dich, Herr, an! Weinend, mit dürftigem Leibe, mit weit mehr dürftiger Seele Werden sie auf die Erde geboren u. s. w. Klopstock (Ges. 10). Willst du die Ursach erforschen, warum in der Reihe der Wesen Gott nicht zum Seraph dich schuf? Entdeck erst, Stolzer, weswegen Er nicht zur Milbe dich schuf! Soll deiner Thorheit zum Vortheil Die große Weltkette brechen, und tausend Planeten und Sonnen, Aus ihren Kreisen gerückt, in einen Klumpen zerfallen? Soll bis zum Throne des Höchsten des Himmels Vorhang zerreißen, Und endlich die ganze Natur, erschüttert zum Innersten, seufzen? Dies willst du, wenn du verlangst, was mit der Weltordnung streitet. Sei deiner Neigungen Herr, so wirst du das Unglück beherrschen; Der Schöpfer ist Liebe und Huld, nur die sind deine Tyrannen. Kleist.   Wenn wir diese Stellen vergleichen, in welchen uns nun keine äußere Verschiedenheiten mehr aufhalten, so finden wir leicht, worin der Hauptunterschied liegt: in der erstern nehmlich wird mehr das Herz, in der andern mehr der Verstand beschäftigt; in jener schüttet der Dichter Empfindungen aus, in dieser trägt er allgemeine Wahrheiten vor, argumentirt, widerlegt. Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt also hauptsächlich im Inhalte, in der Materie. Und wenn es sonst noch Unterschiede giebt, in der Sprache, der Versart, der Folge und Verbindung der Gedanken: so scheinen diese eben durch jenen Hauptunterschied schon mit angegeben zu werden.   Worin liegt, wollen wir ferner fragen, der Unterschied zwischen dem epischen Gedichte und dem Drama? Schwerlich, wie bei dem vorigen, in der Materie; denn wie hätte dann Horaz dem tragischen Dichter rathen können, seinen Stoff aus einem epischen, dem Homer, zu nehmen? Es muß möglich seyn, daß eben dieselbe Handlung von dem epischen Dichter erzählt, und von dem dramatischen wirklich vorgestellt werde. Hierin also selbst wird der Unterschied liegen: daß nehmlich das einemal nur ein Zeuge spricht; das andremal die Personen selbst reden, unter denen die Handlung vorfällt. Mithin finden wir nun einen zweiten Eintheilungsgrund, der von dem vorigen ganz verschieden ist; nicht der behandelte Stoff oder die Materie macht den Unterschied, sondern die Art der Behandlung, die Form. Damit besteht dann noch immer, daß nicht jede Form sich zu jeder Materie schickt, oder daß manche Gegenstände nur die epische, manche nur die dramatische Behandlung vertragen.   Ehe wir weiter suchen, wollen wir sehen, wie weit wir mit diesen beiden Eintheilungsgründen ausreichen? ob nicht vielleicht schon alle, oder doch die meisten Dichtungsarten durch sie angegeben und unterschieden werden? ─ Wir fragen also zuerst: wie viel sind im Allgemeinen Unterschiede möglich, die aus der Materie entstehen?   Es scheint Alles erschöpft zu seyn, wenn wir sagen: Der Dichter stellt entweder eine Sache vor, wie sie ist oder geschieht, es sei nun eine wirkliche oder eine erdichtete Sache; oder er stellt allgemeine Betrachtungen an, trägt allgemeine Wahrheiten vor; oder er bricht in Empfindungen aus. Im ersten Falle ist wieder zweierlei möglich: denn entweder will er uns nur schlechtweg mit der Beschaffenheit eines Gegenstandes bekannt machen, uns nur zeigen, was Alles an einer Sache zu bemerken ist, was sich Alles nach einander begiebt; oder er will uns zeigen (was er allein bei moralischen Wesen zeigen kann), wie eins das andere hervorbringt, wie sich eins aus dem andern entwickelt. In jenem Falle beschreibt er bloß; in diesem läßt er uns Handlung sehen. ─ Wenn dieses, so allgemein gesagt, zu dunkel ist, so sehe man hier Beispiele, die es erläutern können.   In folgender Stelle beschreibt Haller einen natürlichen Gegenstand, wie er ist: Im Mittel eines Thals von himmelhohem Eise, Wohin der wilde Nord den kalten Thron gesetzt, Entsprießt ein reicher Brunn mit siedendem Gebräuse, Raucht durch das welke Gras, und senget was er netzt. Sein lautres Wasser rinnt voll flüssiger Metallen; Ein heilsam Eisensalz vergüldet seinen Lauf; Ihn wärmt der Erde Gruft, und seine Fluthen wallen Von innerlichem Streit vermischter Salze auf. Umsonst schlägt Wind und Schnee um seine Fluth zusammen; Sein Wesen selbst ist Feu'r, und seine Wellen Flammen.   Kleist beschreibt in seinem Frühlinge Verschiedenes, was nach einander geschieht: ─ ─ ─ Aus seinem Gezelte geht lachend Das gelbe Täubchen, und kratzt mit röthlichen Füßen den Nacken, Und rupft mit dem Schnabel die Brust, und untergräbet den Flügel, Und eilt zum Liebling aufs Dach. Der Eifersüchtige zürnet, Und dreht sich um sich und schilt. Bald rührt ihn die schmeichelnde Schöne, Dann tritt er näher und girrt. Viel Küsse werden verschwendet. Jetzt schwingen sie lachend die Flügel und säuseln über den Garten.   Ganz etwas anders findet man in folgendem kleinen Stücke: denn hier hängt Alles innig zusammen; eins wird Ursache des andern. Wir sehen freie, mit Absicht wirkende Wesen, die eins das andre bestimmen; mit einem Worte, es ist Handlung in dem Gedichte. Philippus war bemüht in Thracien zu dringen, Und in dem Hinzug noch Methone zu bezwingen; Als Aster, den man dort den besten Schützen hieß, Sich diesem Könige zum Dienst entbieten ließ. Ihn rühmten Hof und Land; von Allen ward erzählet, Nur dieser habe nie des Schusses Ziel verfehlet, Weil sein geschwinder Pfeil, dem er die Kraft ertheilt, Die Vögel in der Luft im schnellsten Flug ereilt. Wohl! sprach Amyntas Sohn: wenn wir mit Staaren streiten, So soll er ganz gewiß beim Angriff uns begleiten. Das scheint vortrefflich schön. Denn wer bewundert nicht Den göttlichen Verstand, so oft ein König spricht?   Der Schütze, seine Kunst nicht mehr verhöhnt zu sehen, Eilt, den Belagerten rachsüchtig beizustehen. Er flieht in ihre Stadt, verstärkt die Gegenwehr, Und machet Sturm und Sieg dem stolzen Heere schwer, Das plötzlich sich gescheucht und voll Bestürzung fühlet, Weil Asters scharfer Pfeil, der auf den König zielet, Den ihm bestimmten Flug mit dieser Aufschrift nimmt: Philippus rechtem Aug' ist dieser Schuß bestimmt.   Der König, der ihn nicht so fürchterlich geglaubet, Bereut nunmehr den Scherz, der ihm sein Auge raubet; Und schießt den Pfeil zurück mit dieser Gegenschrift: Du, Aster, kömmst ans Kreuz, sobald man dich betrifft. Kaum ward der Friede drauf der frohen Stadt versprochen, So ward auch Asters Scherz durch seinen Tod gerochen. Hagedorn.   Vorausgesetzt nun, daß sich die vier angegebenen Arten von Materie alle poetisch behandeln lassen, alle an lebhaften Vorstellungen fruchtbar werden können ─ und das muß doch seyn, da wir von allen Beispiele gesehen ─; so ergeben sich nun viererlei verschiedene Dichtungsarten. Zuerst die malerische oder beschreibende; zweitens, diejenige welche Handlung enthält, und für die wir im Allgemeinen keinen besondern Namen haben; drittens, die didaktische oder lehrende; viertens, die lyrische Gattung.   Wir haben nun noch zweitens zu fragen: Was für neue Dichtungsarten ergeben sich, wenn wir auf die Art der Behandlung, die Form, sehen? ─ Der eine Unterschied ist, in Ansehung derjenigen Gattung die Handlung enthält, schon angegeben: entweder erzählte nur ein Zeuge; oder die Personen selbst traten auf, zwischen denen die Handlung vorfiel. Um dieses ganz allgemein zu machen, werden wir sagen: das Gedicht ist entweder fortgehende Rede Einer Person, oder Gespräch zwischen mehrern Personen. Im ersten Falle hat wiederum die Person welche spricht, entweder mit dem Publicum überhaupt zu thun; oder besonders, wie in der poetischen Epistel, mit einer bestimmten andern Person, an die sie die ganze Rede richtet, auf die sie immer vorzüglich Rücksicht nimmt.   Ein andrer Unterschied ist, daß man dem Gedichte entweder die Einrichtung giebt, wie es am bequemsten mit einer andern verschwisterten Kunst, der Musik, kann verbunden werden; oder daß man das nicht thut. Aus der bloßen Erzählung kann auf diese Art Romanze, aus dem bloßen Drama Oper werden. Freilich aber muß man dann die besondere Materie, die man zu so einer Erzählung oder zu so einem Drama nimmt, so auswählen daß die Verbindung mit der Musik nicht unschicklich sei.   Wir sehen schon, auch die Sache nur ganz leicht überdacht, daß sich durch die beiden angegebenen Gründe der Eintheilung, Materie und Form, wenn wir die verschiedenen Glieder derselben mit einander verbinden, und hie und da noch etwas nähere Bestimmungen hinzuthun, alle uns bekannte Dichtungsarten werden erklären lassen: Satire, Lied, Epigramm, Cantate, Trauerspiel, Lustspiel, oder wie sie sonst Namen haben. Nur bei zwei Dichtungsarten mögten wir etwa zweifeln können, wo wir sie hinbringen sollten: bei der Fabel, und der Idylle.   Denn, wenn ohne eine allgemeine Lehre eine Fabel keine Fabel seyn kann, so scheint es ja, daß sie zur didaktischen Gattung gehöre? Wiederum aber, wenn zu einer jeden Fabel nothwendig erfordert wird, daß uns darin ein bestimmtes Factum vorgetragen werde; so scheint es ja, daß sie zu einer ganz andern Gattung zu zählen sei, zu der nehmlich welche beschreibt oder erzählt? Sollten sich denn etwa mehrere Gattungen von Materie auf gewisse Weise verbinden lassen, sodaß hie und da eine Mittelgattung entstände?   Ferner, die Idylle: wenn in der alle Arten von Materie können behandelt, alle Formen können angebracht werden, wie uns das Geßner gezeigt hat; so scheint es ja, daß es noch einen dritten Grund der Eintheilung geben müsse, der von den bisher angeführten verschieden ist? ─ Wir wollen diese Fragen sogleich zu beantworten suchen, indem wir beide Dichtungsarten nach einander besonders vornehmen. DRITTES HAUPTSTÜCK. Von der Fabel. F abel heisst zuweilen die Reihe der hauptsächlichsten Begebenheiten, die in einer Erzählung oder einem Drama zum Grunde liegen. In diesem allgemeinern Sinne nehmen wir das Wort hier nicht, sondern wir reden von der kleinen äsopischen Fabel; dergleichen folgende ist. Der Tanzbär. Ein Bär, der lange Zeit sein Brot ertanzen müssen, Entrann, und wählte sich den ersten Aufenthalt. Die Bären grüssten ihn mit brüderlichen Küssen, Und brummten freudig durch den Wald; Und wo ein Bär den andern sah, So hieß es: Petz ist wieder da! Der Bär erzählte drauf, was er in fremden Landen Für Abenteuer ausgestanden, Was er gesehn, gehört, gethan; Und fing, da er vom Tanzen redte, Als ging' er noch an seiner Kette, Auf polnisch schön zu tanzen an.   Die Brüder, die ihn tanzen sahn, Bewunderten die Wendung seiner Glieder; Und gleich versuchten es die Brüder. Allein, anstatt wie er zu gehn, So konnten sie kaum aufrecht stehn, Und mancher fiel der Länge lang danieder. Um desto mehr ließ sich der Tänzer sehn; Doch seine Kunst verdroß den ganzen Hausen. Fort, schrieen Alle: fort mit dir! Du, Narr, willst klüger seyn, als wir? Man zwang den Petz, davon zu laufen.   Sei nicht geschickt! man wird dich wenig hassen, Weil dir dann Jeder ähnlich ist. Doch je geschickter du vor vielen Andern bist, Je mehr nimm dich in Acht, dich prahlend sehn zu lassen. Wahr ists, man wird auf kurze Zeit Von deinen Künsten rühmlich sprechen; Doch traue nicht! bald folgt der Neid, Und macht aus der Geschicklichkeit Ein unvergebliches Verbrechen. Gellert.   Wir finden in dieser Fabel folgende Merkmaale: eine nützliche Lebensregel; ein Bild, worin sie uns vorgehalten wird; die Form des Ganzen erzählend; Thiere als menschliche Wesen aufgeführt; und endlich nur Eine Regel und nur Ein Bild. ─ Welche von diesen Merkmaalen sind der Fabel wesentlich? welche sind zufällig?    Zuerst: Muß jede Fabel nothwendig eine Lebensregel enthalten? Eine Lebensregel wohl eben nicht; denn Folgendes ist ja auch eine Fabel, und führt doch zunächst nur auf eine Wahrheit, auf eine Bemerkung. Der Esel mit dem Löwen.    Als der Esel mit dem Löwen des Äsopus, der ihn statt seines Jägerhorns brauchte, nach dem Walde ging, begegnete ihm ein anderer Esel von seiner Bekanntschaft und rief ihm zu: Guten Tag, mein Bruder! ─ Unverschämter! war die Antwort.    Und warum das? fuhr jener Esel fort. Bist du deswegen, weil du mit einem Löwen gehst, besser als ich? mehr, als ein Esel? Lessing.   Vielleicht aber, dass auch die Wahrheit zur Fabel nicht schlechterdings erforderlich ist; denn man sehe folgendes Stück: Die Turteltaube und der Wanderer. Wanderer. Was machst du da, du kleine Turteltaube? Taube. Ich seufze. Mein getreuer Mann Ward einem Jäger hier zum Raube, Dem er doch nichts gethan. Wanderer.    Ei so flieg weg! Wie wenn er wiederkäme Mit dem Geschütz, das ihm das Leben nahm, Und gleichfalls dir das Leben nähme? Taube. Thut er es nicht, so thut es doch der Gram. Gleim.   In diesem Stücke ist freilich das nicht was wir unter Wahrheit verstanden; aber ist auch das Stück eine Fabel? Es ist, finden wir, bloß ein rührendes Geschichtchen, dessen ganzes Verdienst in einer feinen, zärtlichen Empfindung besteht, und das sich in die Sammlung worin wir es antreffen, bloß scheint verirrt zu haben. Die Wahrheit ist also allerdings wesentlich; und um allen Mißverstand zu vermeiden, wollen wir uns noch deutlicher ausdrücken, und zur Fabel eine allgemeine Wahrheit fordern. ─ Doch wie, wenn auch dieses noch nicht hinlänglich wäre? Wie, wenn dann auch folgendes Mährchen eine Fabel seyn müßte, was es sicher nicht ist? Die Ziegen.    Die Mutter des Teufels übergab ihm einsmals vier Ziegen, um sie in ihrer Abwesenheit zu bewachen, Aber diese machten ihm so viel zu thun, dass er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in Zucht halten konnte. Deshalb sagte er zu seiner Mutter, nach ihrer Zurückkunft: Liebe Mutter! hier sind eure Ziegen. Ich will lieber eine ganze Kompanie Reuter bewachen, als eine einzige Ziege. ─ Diese Fabel zeigt, dass keine Creatur weniger in der Zucht zu halten ist, als eine Ziege. Holberg.   Gesetzt, dass diese Bemerkung ihre Richtigkeit hätte, und dass sie sich aus dem Mährchen wirklich ergäbe; wäre darum das Stück eine Fabel? Wir sehen, dass wir noch eine Bestimmung vergessen haben, und dass wir nicht bloss sagen müssen: eine allgemeine, sondern auch: eine moralische Wahrheit. ─ Lebensregel braucht zwar die Bemerkung nicht zu seyn; aber doch muß sie die moralische Seite des Menschen treffen, sie muß für ihn lehrreich und heilsam werden können.    Zweitens: Muß uns die Wahrheit nothwendig in einem Bilde gegeben werden? Nothwendig! Denn die bloße Wahrheit, trocken hingeschrieben, wäre nur Sentenz, Maxime, Reflexion, weiter nichts. ─ Aber sollte auch wohl der unbestimmte Ausdruck: Bild, schon genug sagen? Merops.    Ich muss dich doch etwas fragen, sprach ein junger Adler zu einem tiefsinnigen, grundgelehrten Uhu. Man sagt, es gäbe einen Vogel mit Namen Merops, der, wenn er in die Luft steige, mit dem Schwanze voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt, fliege. Ist das wahr?    Ei nicht doch! antwortete der Uhu; das ist eine alberne Erdichtung des Menschen. Er mag selbst ein solcher Merops seyn: weil er nur gar zu gern den Himmel erfliegen mögte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick aus dem Gesichte zu verlieren. [Ist von Lessing. ]   Hier haben wir ganz gewiß ein Bild; aber haben wir eine Fabel? In den vorigen Stücken ward uns das Erdichtete als wirklich geschehen erzählt; hier hingegen giebt man es für nichts als Erdichtung. Dieses, empfinden wir, sollte nicht seyn; die Wirklichkeit ist zur Fabel nothwendig, und wir wollen also statt Bild lieber Factum sagen. ─ Doch gesetzt nun auch, daß wir dem Merops die Wirklichkeit gäben, und den Uhu für: Ei nicht doch! sagen ließen: „Ei ja doch!“ würde das Stück dann zur Fabel? Es bliebe noch immer ein bloßes Gleichniß, in welches der Dichter durch seinen Witz und Scharfsinn die Wahrheit erst hineintrüge, anstatt daß sie von selbst aus dem Factum hervorfallen, sich uns gleichsam freiwillig darbieten sollte. Also auch nicht Factum wollen wir sagen, sondern: ein für wirkliche Geschichte gegebenes Beispiel. ─ Daß es Handlung sey, ist so nothwendig nicht; denn folgende Fabel ist gewiß eine echte und gute Fabel, ob sie gleich nur eine bloße Folge von Begebenheiten enthält, die der Dichter unter Einen Gesichtspunct sammelt. Der Hirsch, der sich im Wasser besieht. Ein Hirsch bewunderte sein prächtiges Geweih Im Spiegel einer klaren Quelle. Wie schön es steht! sprach er. Recht auf derselben Stelle Wo Königskronen stehn! und wie so stolz! so frei!   Vollkommen ist mein ganzer Leib; ─ allein Die Beine sind es nicht, die sollten stärker seyn.   Indem er sie besieht mit ernstlichem Gesicht. Hört er im nahen Busch ein Jägerhorn erschallen, Merkt auf, sieht eine Jagd von dem Gebirge fallen, Erschrickt und flieht davon. Nun aber hilft ihm nicht Sein kronentragend Haupt, dem nahen Tod' entfliehn. Nicht sein vollkommner Leib, die Füße retten ihn. Sie reißen, wie ein Pfeil, die prächtige Gestalt Mit sich durch flaches Feld, und fliehen in den Wald.   Da aber halten ihn, im vogelschnellen Lauf, An starken Zweigen oft die vierzehn Enden auf. Er reißt sich los, er flucht darauf, Lobt seine Beine nun; und lernet noch im Fliehn Das Nützliche dem Schönen vorzuziehn. Gleim.    Drittens: Muß eine jede Fabel nothwendig in erzählender Form seyn? Man sehe hier gleich eine in dialogischer Form. Die Katze; die alte Maus; die junge Maus. Katze. Du allerliebstes kleines Thier! Komm doch ein wenig her zn mir. Ich bin dir gar zu gut. Komm, dass ich dich nur küsse. Alte Maus. Ich rathe dirs, Kind, gehe nicht! Katze. So komm doch! Siehe, diese Nüsse Sind alle dein, wenn ich dich einmal küsse. Junge Maus. O Mutter, höre doch, wie sie so freundlich spricht! Ich geh ─ ─ Alte Maus. Kind, gehe nicht! Katze. Auch dieses Zuckerbrot und andre schöne Sachen Geb' ich dir, wenn du kömmst. Junge Maus. Was soll ich machen? O Mutter, lass mich gehn! Alte Maus. Kind, sag' ich, gehe nicht! Junge Maus. Was wird sie mir denn thun? Welch ehrliches Gesicht! Katze. Komm, kleines Närrchen, komm! ─ Junge Maus. Ach Mutter, hilf! Ach weh! Sie würgt mich. Ach die Garstige! Alte Maus. Nun ists zu spät, nun dich das Unglück schon betroffen. Wer sich nicht rathen lässt, hat Hülfe nicht zu hoffen. Willamov.    Viertens: Müssen die Personen, die in der Fabel auftreten, nothwendig Thiere seyn? Wir finden, daß die Dichter auch andere Wesen: Bänme, Pflanzen, Steine, selbst menschliche Kunstwerke, nehmen, und sie, ihrer Absicht gemäß, zu vernünftigen und moralischen Wesen erhöhen. Der wilde Apfelbaum.    In dem hohlen Stamm eines wilden Apfelbaums liess sich ein Schwarm Bienen nieder. Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum ward so stolz darauf, dass er alle andere Bäume gegen sich verachtete. Da rief ihm ein Rosenstock zu: Elender Stolz auf geliehene Süssigkeiten! Ist deine Frucht darum weniger herbe? In diese treibe den Honig herauf, wenn du es vermagst; und dann erst wird der Mensch dich segnen. Lessing. Der Demant und der Bergkrystall. Ein heller Bergkrystall, und roher Diamant, Die ein verfolgter Dieb verloren, Geriethen auf ein Häufchen Sand, Und warteten, für wen das Schicksal sie erkoren.  Der Demant war getrost. Ich denke, sprach er, hier Gewiss nicht allzualt zu werden; Ich habe meinen Werth in mir: Der erste, der mich sieht, der nimmt mich von der Erden.   Ja, sagte der Krystall, den Werth räum' ich dir ein, Allein dabei befürcht' ich immer, Du werdest niemand sichtbar seyn; Denn, unter uns geredt, es fehlt dir noch der Schimmer.   Jetzt fiel der Bergkrystall schon einem ins Gesicht, Der ihn mit Sorgfalt zu sich steckte; Den guten Demant sah er nicht, Den kurz darauf der Sand bedeckte.   Der Weltmann steigt empor und der Pedant bleibt sitzen. Die Sitten können mehr, als die Gelahrtheit nützen. Lichtwehr.   Doch warum sollten es auch immer nur Wesen seyn, die der Dichter erst zu vernünftigen macht? Warum nicht auch solche, die es schon sind? Oder warum nicht auch dann und wann höhere Wesen der Phantasie? Der Blinde und der Lahme. Von ungefähr muss einen Blinden Ein Lahmer auf der Strasse finden, Und jener hofft schon freudenvoll, Daß ihn der Andre leiten soll.   Dir, spricht der Lahme, beizustehen? Ich armer Mann kann selbst nicht gehen; Doch scheints, daß du zu einer Last Noch sehr gesunde Schultern hast.   Entschließe dich, mich fortzutragen, So will ich dir die Stege sagen: So wird dein starker Fuß mein Bein, Mein helles Auge deines seyn.   Der Lahme hängt, mit seinen Krücken, Sich auf des Blinden breiten Rücken. Vereint wirkt also dieses Paar, Was einzeln keinem möglich war. Gellert. Minerva.    Lass sie doch, Freund, lass sie, die kleinen hämischen Neider deines wachsenden Ruhmes! Warum will dein Witz ihre der Vergessenheit bestimmte Namen verewigen?    In dem unsinnigen Kriege, welchen die Riesen wider die Götter führten, stellten die Riesen der Minerva einen schrecklichen Drachen entgegen. Minerva aber ergriff den Drachen, und schleuderte ihn mit gewaltiger Hand an das Firmament. Da glänzt er noch; und was so oft großer Thaten Belohnung war, ward des Drachen beneidenswürdige Strafe. Lessing.   Sonderbar aber scheint es doch, daß die Fabulisten Thiere, Bäume u. s. w. genommen haben. Warum nicht gleich lieber Menschen? ─ Vielleicht deswegen nicht, weil bei Erzählungen aus der menschlichen Welt sich sogleich unsre Leidenschaften mit ins Spiel mischen und die Überzeugung von der Wahrheit verhindern. Und dann ist auch das ein sehr großer Vortheil, daß die Charaktere und Verhältnisse, auf die der Dichter seine Erzählung gründet, in der thierischen Welt schon bestimmt und Jedermann bekannt sind, ohnedaß er sie erst lange schildern dürfte. Diese Welt giebt ihm lebhaftere, deutlicher abstechende Bilder, die weniger Verwirrung und Mißdeutung erlauben.    Fünftens: Muß es immer nur Eine Wahrheit seyn, die der Dichter lehrt, und nur Ein Beispiel, wodurch er sie lehrt? ─ Wir finden Fabeln, worin zwei Beispiele aufgestellt werden, die aber beide nur auf Eine Wahrheit führen. Diese heißen, zum Unterschiede von den einfachen, zusammengesetzte Fabeln. Der Dichter hat uns, wie dort Nathan den David, durch den erdichteten Fall schon zur Überzeugung gebracht, ehe er den wirklichen dagegen hält, bei dem uns vielleicht Leidenschaft und Interesse nicht so leicht zur Überzeugung hätten kommen lassen. Oder er will auch die Moral nicht so ganz trocken hinschreiben, und macht also zu dem Bilde ein Gegenbild, welches die nähere Anwendung auf den Menschen enthält. Die Krähe. Als eine Kräh' einst ihr Gefieder Mit Pfauenfedern ausgeschmückt, Besah sie sich, von sich entzückt, Und hiess die Pfauen ihre Brüder, Und mischte stolz in ihre Schaar sich ein, Und glaubte schon der Juno Pfau zu seyn. Die Pfauen sahen dies, beraubten ihr Gefieder Des Schmucks, den sie geborgt, und mit ihm aller Pracht. Der kaum gewordne Pfau ward eine Krähe wieder, Und selbst von Schwalben ausgelacht.   Als einst ein Reimer seine Lieder Mit fremder Kühnheit ausgeschmückt, Besang er sich, von sich entzückt, Und hiess die Dichter seine Brüder; Er drängte stolz in ihre Zunft sich ein, Und dünkte sich ein Haller schon zu seyn. Die Dichter sahen dies, beraubten seine Lieder Des Witzes, den er stahl. Wo war nun seine Pracht? Der neue Haller ward ein seichter Reimer wieder, Und selbst von Dunsen ausgelacht. J. Ad. Schlegel. So lassen sich auch unter den Fabeln „in Burcard Waldis Manier“ die beiden Elstern und der alte Spanier als Eine Fabel betrachten; denn die letztere ist nur die Anwendung der erstern.   Was die Wahrheit betrifft, so giebt es wohl wenig Fabeln, bei welchen man nicht, während der Erzählung, zu mehr als einer Betrachtung einen Übergang fände, und weitschweifige Erzähler pflegen dergleichen auch gern nebenher anzubringen. Aber aus der ganzen Fabel muß sich denn doch zunächst nur Eine Wahrheit ergeben, oder die Fabel ist unausbleiblich schlecht. Man sieht dies an einigen Stücken beim Holberg. Unmöglich kann auch ein Beispiel, das zu einer ganzen Menge Wahrheiten gleich gut paßt, zu irgend einer vollkommen passen.   Wenn wir nun die wesentlichen Merkmaale, sowie wir sie hier näher bestimmt haben, von den zufälligen absondern; was bleibt uns da zur Erklärung der Fabel übrig? Nur Folgendes: Eine moralische Wahrheit, und ein als wirkliches Factum gegebenes Beispiel zu dieser Wahrheit. Die Wahrheit, senen wir, ist der Zweck, die Seele der Fabel. Auf die Geschichte, als Geschichte, kömmts dem Dichter nicht an, sondern bloß als auf Beispiel, als auf poetisches Mittel, die Erkenntniß der Wahrheit anschauend zu machen. Daher bricht er denn auch die Erzählung ab, wenn sie gleich an sich selbst noch nicht geendigt ist, sobald er sich bei der abgezweckten Wahrheit befindet. ─ Ohne Zweifel ist also die Fabel ein didaktisches Gedicht: die Wahrheit ist die eigentliche Materie, die der Dichter behandelt; er verbindet sie nur mit einer andern Gattung von Materie, die er als Form gebraucht, in welcher er jene vorträgt. ─ Wenn wir Acht geben, so werden wir vielleicht der Beispiele von solchen Mischungen der verschiedenen Dichtungsarten noch mehrere finden.   Mit den hier gegebenen Begriffen beurtheile man nun folgende Stücke, ob es wahre Fabeln sind oder nicht? Momus und Asträa. Dort, als des Titus Königsstab Das Glück der goldnen Zeit den Römern wiedergab, Sprach Momus höhnisch zu Asträen: Du trägst dein Schwert wohl nur zur Pracht? Der Kaiser lässt dich müssig stehen; Er herrscht mit Gnade, nicht mit Macht.  Thor! rief die Göttinn aus, der du nicht weiter siehst! Mein Schwert mag müssig seyn, wenn es nur schrecklich ist. Eberlein. Der Fuchs und die Larve.    Vor alten Zeiten fand ein Fuchs die hohle, einen weiten Mund aufreissende Larve eines Schauspielers. Welch ein Kopf! sagte der betrachtende Fuchs. Ohne Gehirn, und mit einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen seyn?    Dieser Fuchs kannte euch, ihr ewigen Redner, ihr Strafgerichte des unschuldigsten unserer Sinne. Lessing.   Wir haben den Begriff der Fabel festgesetzt, und müssen nun noch von ihren Regeln reden. An einer jeden Fabel ist dreierlei zu bemerken: die allgemeine moralische Wahrheit; die Geschichte, in welcher sie liegt; und das Verhältniss der Geschichte zur Wahrheit. Für jedes dieser Stücke giebt es besondere Regeln, die sich leicht werden erkennen lassen.   Zuerst für die Wahrheit: Die Fabel ist schlecht, wenn das was sie lehrt, nicht wirkliche Wahrheit ist. Man beurtheile hienach folgendes Stück: Der Zuhörer und der Lautenschläger. Zuhörer. Du hast auch nur sehr liederlich gespielt. Willst oder kannst du es nicht besser machen? Lautenschläger. Um dir nur einen Zeitvertreib zu machen, Hab' ich schon gut genug gespielt. Willamov. Also dürfen Künstler schlecht arbeiten, weil sie nur zu unserm Vergnügen arbeiten? Die Lehre ist offenbar falsch.   Die Fabel hat, wenn das übrige gleich ist, um desto mehr Werth, je eine wichtigere und interessantere Wahrheit sie uns vorhält. Darum ist unter den drei folgenden Fabeln die erste die unbedeutendste, die dritte die vortrefflichste. Der junge Hase und der Esel. Ein junges Häschen, das, incognito, ein Schwager Von manchem alten Rammler war, Fuhr wählig, lustig, wandelbar, Wie Meister Proteus, aus dem Lager, Und schnitt der Männchen vielerlei. Ein alter Esel, der vorbei Mit leerem Sacke zog, plump, stoisch, krumm und mager, Und kurz, dafür bekannt, dass er ein Esel sei; Der sah, mit weidlich ausgehohltem Lachen, Dem Männchenmacher zu, und hatt' auf einmal Lust Die schönen Künste nachzumachen. Er bäumte seinen Schwanz, er warf sich in die Brust, Er spitzte seine langen breiten Ohren, Er schrie, er wälzte sich, er stiess. Doch Schade nur, er war zum Esel bloss geboren; Und was dem jungen Herrn zur Noth noch artig liess, Das kleidete den Hans mit langen Ohren So dumm, so dumm! ─ ich weiss nicht, wie? Ein Stutzer wird als Stutzer schon geboren; Durch Kunst und Lernen wird mans nie! Ein Ungenannter. Der Wiedehopf und die Nachtigall. Ein Wiedehopf pries sich Und sein gekröntes Haupt Der Nachtigall. ─ Mein Weibchen, sprach er, glaubt, Du seist recht hässlich gegen mich. Das könnte seyn, erwiederte Die Nachtigall, und flog auf eine Höh', Und sang. Und alle Wandrer blieben stehn, Und sagten: Wie singt sie so schön! Ei, welch ein Klang!   Der Wiedehopf hört' es, flog hin und her; Doch keiner sprach: Wie schön ist er! Denn für die kleine Philomele War alles Ohr. Man zieht gemeiniglich doch eine schöne Seele Dem schönsten Körper vor. Gleim. Das Schaf.    Als Jupiter das Fest seiner Vermählung feierte, und alle Thiere ihm Geschenke brachten, vermißte Juno das Schaf.    Wo bleibt das Schaf? fragte die Göttinn: Warum versäumt das fromme Schaf, uns sein wohlmeinendes Geschenk zu bringen?    Und der Hund nahm das Wort und sprach: Zürne nicht, Göttinn! Ich habe das Schaf noch heute gesehen; es war sehr betrübt und jammerte laut.    Und warum jammerte das Schaf? fragte die schon gerührte Göttinn.    Ich ärmste! so sprach es. Ich habe itzt weder Wolle noch Milch; was werde ich dem Jupiter schenken? Soll ich, ich allein, leer vor ihm erscheinen? Lieber will ich hingehen, und den Hirten bitten, daß er mich ihm opfere!    Indem drang, mit des Hirten Gebet, der Rauch des geopferten Schafes, dem Jupiter ein süßer Geruch, durch die Wolken. Und itzt hätte Juno die erste Thräne geweint, wenn Thränen ein unsterbliches Auge benetzten. Lessing. Welche vortreffliche Lehre, daß die Aufopferung unsrer selbst der Gottheit das angenehmste Geschenk ist, und ein Geschenk, welches auch der Ärmste und Schwächste in seiner Gewalt hat!   Zweitens für die Geschichte: Sie muß nichts enthalten, was ein feines Gefühl beleidigt. Der größte Fehler eines Gedichts, welches zur Verbesserung der Sitten bestimmt ist, wäre wohl Unsittlichkeit; aber auch das Ekelhafte, das Schmutzige, das zu Possierliche und Pöbelhafte muß der Dichter zu vermeiden suchen. Wer kann es ausstehn, wenn Hagedorn eine Fabel anfängt: Ein Esel schleppt sich aus dem Luder ─? oder wenn Holberg den Storch mit langem Schnabel zum Hofchirurgus macht, der dem Leoparden Klystiere beibringt? oder wenn der obige Ungenannte erzählt: Auf einer von den Felsenspitzen Des Tartarus sah ich den Krittler Rappus sitzen, In Pech und Schwefel halb verkappt! Und vor ihm stand ein Stück von Kannibalen; Der schlug ein Loch in seine Stirn, Und fraß ihm das Gehirn So rein heraus, als aus den Schalen Ein Domherr baß die ersten Austern frißt.   Eine zweite Hauptregel für die Geschichte ist Wahrscheinlichkeit. Ohne diese verfehlt die Fabel ganz ihres Endzwecks; denn der Verstand nimmt schlechterdings nichts Widersprechendes und Ungegründetes an. Vor allen Dingen muß also der Dichter nichts vortragen, was mit seinen eigenen Voraussetzungen der Charaktere, der Verhältnisse, der Zeit, des Orts, einen innern Widerspruch macht. Aber auch, das was er voraussetzt, muß nicht den einmal festgesetzten Begriffen, die wir von den Dingen haben, zuwiderlaufen. Man beurtheile hienach die obige Fabel von Holberg: die Ziegen. Oder auch die achtundzwanzigste Fabel eben dieses Schriftstellers.   Doch bloße Möglichkeit ist zur Wahrscheinlichkeit noch nicht hinlänglich; man will auch von der Wahl der Personen, und von allem und jedem was ist und geschieht, zulänglichen Grund sehn. Und dann erst, wenn nichts ohne Ursache da ist, wenn Alles in vollkommener Harmonie steht, wenn, wie Batteux sehr wohl sagt, Zeit, Gelegenheit, Ort, Zustand und Charakter der Personen die Handlung hervorgebracht zu haben scheinen; dann erst überlassen wir uns dem Vergnügen der Täuschung, und nehmen willig den Eindruck an, den das Werk auf uns machen sollte. Feinere Fehler wider diese Regel sind in den obigen Fabeln schon da gewesen.   Wenn nun aber in den meisten Fabeln Thiere, in einigen selbst Bäume u. s. w. reden, wenn sie oft mit menschlicher Geschicklichkeit Anschläge schmieden, wenn sie zuweilen in menschlichen Verbindungen, als Richter, Kläger, Könige erscheinen; sündigen da nicht viele und die meisten Fabeln wider die Wahrscheinlichkeit? ─ Wir sehen, daß es nur gewisse Voraussetzungen seyn müssen, die dem Dichter nicht erlaubt sind, und daß es andere geben müsse, die ihm sehr wohl erlaubt sind. Wie unterscheiden wir nun diese Voraussetzungen? ─ So viel sehn wir sogleich, daß alle Freiheiten die sich der Dichter nimmt, nur die innern moralischen Eigenschaften betreffen; die äußerlichen läßt er so wie er sie findet. Was erlauben wir ihm nun in Ansehung dieser moralischen Eigenschaften? Daß er den Thieren die entgegengesetzten von denen gebe, die wir an ihnen kennen? Durchaus nicht! Er darf uns weder den Fuchs als dumm, noch den Esel als klug, noch den Löwen als zaghaft, noch den Hasen als tapfer zeigen. Wenn er aber Wesen einführt, die eigentlich gar keine moralische Eigenschaften haben; erlauben wir ihm da, daß er ihnen dergleichen gebe? Sehr gern! Nur zeige er uns den Dornbusch nicht als gütig, die Eiche nicht als kriechend und schmeichelhaft; lieber jenen als hämisch, und diese als trotzig, als stolz. Warum aber das? Offenbar, weil die äußern sinnlichen Eigenschaften dieser Dinge gerade auf solche und keine andere moralische führen; weil zwischen beiderlei Eigenschaften eine gewisse Analogie herrscht, deren Vernachlässigung eine Art von Widerspruch seyn würde. Wenn nun aber die eingeführten Wesen schon gewisse moralische Eigenschaften besitzen, darf der Dichter dann diese Eigenschaften in einem höhern Grade annehmen? Allerdings! Aber nur in keinem höhern, als es sich mit dem ganzen Charakter verträgt. Der Esel hat, wie alle Thiere, ein sinnliches Erkenntnißvermögen: dieses erhöhe man, wenn man will, zur Vernunft; aber, auch mit seiner Vernunft, bleibe der Esel noch Esel.   Das eigentliche Interesse der Fabel liegt, wie wir ausgemacht haben, in der Wahrheit; und die höchste Vollkommenheit der Erdichtung wird also die seyn, die sie als Beispiel zur Wahrheit hat. Wenn nun aber in dieser Absicht zwei Erdichtungen ungefähr gleichen Werth hätten; sollte da nicht die schönere, interessantere Erfindung auch die schönere interessantere Fabel geben? ─ Wer daran zweifeln wollte, der vergleiche folgende Stücke, in welchen beiden einerlei Wahrheit gelehrt wird. Das Gelübde. Nichts pflegt der Rachbegier an Thorheit gleich zu seyn. Ein Mann, der unverhofft sein feistes Kalb vermisste, Schwur, wenn er seinen Dieb nur zu entdecken wüsste, So wollt' er einen Bock dem Pan zum Opfer weihn.   Sein Wunsch ward ihm gewährt. Es kam ein Pantherthier; Das gafft' und bleckt' ihn an, und droht' ihn zu verschlingen. Da seufzt' er: Ich will gern mein Opfer zehnfach bringen; Nur treib, o starker Pan! den nahen Feind von hier!   Betrogne Sterbliche, wer kennt sein wahres Wohl, So oft Gelübd' und Wunsch den Rath der Allmacht störet? Wenn uns des Himmels Zorn zu unsrer Straf' erhöret, So lernt man allererst, warum man bitten soll. Hagedorn. Zevs und das Pferd.    Vater der Thiere und Menschen, so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des Zevs: man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heisst mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiednes an mir zu bessern seyn? ─    Und was meinst du denn, dass an dir zu bessern sei? Rede; ich nehme Lehre an: sprach der gute Gott, und lächelte.    Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde ich flüchtiger seyn, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; sine breitere Brust würde meine Stärke vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen seyn, den mir der wohlthätige Reuter auflegt.    Gut, versetzte Zevs, gedulde dich einen Augenblick! Zevs, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisirter Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne ─ das häßliche Kamel.    Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.    Hier sind höhere und schmächtigere Beine, sprach Zevs; hier ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffne Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll?    Das Pferd zitterte noch.    Geh, fuhr Zevs fort; diesesmal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf ─ Zevs warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel ─ und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern! Lessing.   Drittens für das Verhältniß der Geschichte zur Wahrheit: die Wahrheit sei nicht nur überhaupt in der Geschichte enthalten, sondern auch klar und richtig darin enthalten. Diese Regel fließt unmittelbar aus dem Wesen der Fabel; sie betrifft den Zweck zu welchem die ganze Erdichtung da ist. Welche von den folgenden Lichtwehrschen Fabeln ist hienach die schönste? Der Hänfling. Ein Hänfling, den der erste Flug Aus seiner Eltern Neste trug, Hob an, die Wälder zu beschauen, Und kriegte Lust sich anzubauen. Ein edler Trieb; denn eigner Herd Ist, sagt das Sprichwort, Goldes werth.   Die stolze Gluth der jungen Brust Macht' ihm zu einem Eichbaum Lust. Hier wohn' ich, sprach er, wie ein König; Dergleichen Nester giebt es wenig. Kaum stand das Nest, so wards verheert, Und durch den Donnerstrahl verzehrt. Es war ein Glück bei der Gefahr, Daß unser Hänfling auswärts war. Er kam, nachdem es aus gewittert, Und fand die Eiche halb zersplittert. Da sah er mit Bestürzung ein, Er könne hier nicht sicher seyn.   Mit umgekehrtem Eigensinn Begab er sich zur Erde hin, Und baut' in niedriges Gesträuche; So scheu macht' ihn der Fall der Eiche! Doch Staub und Würmer zwangen ihn, Zum andernmal davon zu ziehn.   Da baut' er sich das dritte Haus, Und las ein dunkles Büschchen aus, Wo er den Wolken nicht so nahe, Doch nicht die Erde vor sich sahe; Ein Ort, der in der Ruhe liegt. Hier lebt er noch, und lebt vergnügt. Der Fuchs und der Adler. Es lebt' aus Reinekens Geschlechte Ein jung' und eitler Abkömmling, Der oft mit mehrerm Glück als Rechte Der schnellen Hunde Spur entging. Da lag er nun vor seinem Loche, Und lachte bei sich der Gefahr, Der er noch in vergangner Woche Durch einen Sprung entronnen war.   Sagt, rief er, Höfe, Wiesen, Ställe, Ihr Zeugen meiner Tapferkeit! Wer stiehlt, wie ich? Wer sieht so helle? Wer läuft so schnell? Wer riecht so weit?   Vertieft in solchen Wunderdingen, Bemerkt' er eines Adlers Flug, Wie ihn mit ausgestreckten Schwingen Das stille Meer der Lüfte trug.   O könnt' ich fliegen, wie die Vögel! Den Neid, erseufzt er, macht' ich stumm, Euch aber kahl, ihr Bauerflegel; Mit Lust gäb' ich ein Ohr darum.   Itzt legt ein Schuß den Adler nieder. Der Fuchs nimmt es mit Schrecken wahr; Zu fliegen wünscht er nimmer wieder. ─── Je höher Stand, je mehr Gefahr.   Liegt dieser Satz wirklich in der Fabel? Oder, mögte ich fragen, liegt irgend ein Satz in ihr, wie sie da ist? Bei einer andern Bearbeitung hätte vielleicht eine nützliche Wahrheit hineingebracht werden können; diese nehmlich: daß man beim aufmerksamen Gebrauch geringerer Vortheile sich besser befinde, als beim nachläßigen Gebrauche der größern.   Damit aber die Wahrheit aus der Geschichte deutlich hervorscheine: so muß man besonders auf die Einheit der Fabel sehen. Und diese Einheit wird durch den Zweck der Fabel, durch die Eine Wahrheit bestimmt. Alles Fremde, nicht Hingehörige muß vermieden werden; alle einzelnen Theile müssen zur Erreichung des Zweckes mitwirken; alle müssen so gestellt und verbunden seyn, daß der wahre Gesichtspunct, aus welchem man die Geschichte ansehen soll, niemal verrückt werde. ─ Ist die Fabel zusammengesetzt, so müssen Bild und Gegenbild in der genauesten Übereinstimmung stehen. Vielleicht fehlt diese genaueste Übereinstimmung in folgender kleinen Fabel. Der Esel und das Jagdpferd.    Ein Esel vermass sich, mit einem Jagdpferde in die Wette zu laufen. Die Probe fiel erbärmlich aus, und der Esel ward ausgelacht. ─ Ich merke nun wohl, sagte der Esel, woran es gelegen hat: ich trat mir vor einigen Monaten einen Dorn in den Fuss, und der schmerzt mich noch.    Entschuldigen Sie mich, sagte der Kanzelredner Liederhold, wenn meine heutige Predigt so gründlich und erbaulich nicht gewesen, als man sie von dem glücklichen Nachahmer eines Mosheim erwartet hätte. Ich habe, wie Sie hören, einen heisern Hals, und den schon seit acht Tagen. Lessing.   In die Kritik des Einzelnen wollen wir uns nicht einlassen, um nicht zu weitläuftig zu werden. Man lese die sämmtlichen angeführten Stücke noch einmal, und beantworte sich im Lesen folgende Fragen: Hat der Dichter nie zu weit ausgeholt? nie die Erzählung mit unnützen Umständen erweitert? hat er sie nie mit falschem Schmuck überladen? Hat er überall den kürzesten, treffendsten, eigentlichsten Ausdruck gewählt? Ist seine Sprache nirgend zu kostbar? oder zu niedrig? zu poetisch, oder zu matt? Hat er den Charakter getroffen? Ist er nirgend durch Zweideutigkeiten, oder durch unrichtige Verbindungen, oder durch verwickelte Wortfügungen dunkel geworden? ─ Am besten thut man, wenn man sich in der Kritik üben will, man nehme den Lichtwehr zur Hand.   Statt hier Beispiele von Fehlern zu häufen, die man nur allzuhäufig antrifft, wollen wir lieber noch eine kleine Auswahl von vortrefflichen Stücken aus unsern besten Fabeldichtern machen. Der Affe. Eis mals ein Affe kam gerant, Da er viel guoter nuisse fand; Die het er geessen gerne. Im was geseit ) gesagt. , der kerne Wer sueßlich unde guot. Besweret betrübt. was sien tumber muot, Da er die bitterkeit bevand Der praetschen grüne Schalen. , und darnach ze hand Begreiff der schalen hertikeit. Von nuissen ist mir viel geseit, Sprach er, das ist mir nit wohl kunt; Sie hand verhönet verdorben. mir den mund. Hin warf er uf derselben vart Weg. Die nuss, der kerne im nit wart. Demselben Affen sint gelich, Sie sigent jung, alt, arm, ald oder. rich, Die dur wegen, um ─ willen. kurze bitterkeit Verschmachent lange sueßigkeit. Boners Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger. Der Hahn und der Fuchs. Ein alter Haushahn hielt auf einer Scheune Wache. Da kömmt ein Fuchs mit schnellem Schritt, Und ruft: O krähe, Freund! nun ich dich fröhlich mache; Ich bringe gute Zeitung mit. Der Thiere Krieg hört auf; man ist der Zwietracht müde. In unserm Reich ist Ruh und Friede! Ich selber trag' ihn dir von allen Füchsen an. O Freund, komm bald herab, dass ich dich herzen kann! Wie guckst du so herum? ─ Greif, Halt und Bellart kommen, Die Hunde, die du kennst: versetzt der alte Hahn; Und als der Fuchs entläuft: Was, fragt er, ficht dich an? Nichts, Bruder! spricht der Fuchs: der Streit ist abgethan; Allein ich zweifle noch, ob die es schon vernommen. Hagedorn. Die Nachtigall und der Kukuk. Die Nachtigall sang einst ihr göttliches Gedicht, Zu sehn ob es die Menschen fühlten. Die Knaben die ihm Thale spielten, Die spielten fort, und hörten nicht. Indem liess sich der Kukuk lustig hören, Und der erhielt ein freudig Ach! Die Knaben lachten laut, und machten, ihm zu Ehren, Das schöne Kukuk zehnmal nach. ─ Hörst du? sprach er zu Philomelen, Den Herren fall' ich recht ins Ohr. Ich denk', es wird mir nicht viel fehlen, Sie ziehn mein Lied dem deinen vor.   Drauf kam Damöt mit seiner Schöne. Der Kukuk schrie sein Lied; sie gingen stolz vorbei. Nun sang die Meisterinn der zauberischen Töne Vor dem Damöt und seiner Schöne In einer sanften Melodei. Sie fühlten die Gewalt der Lieder: Damöt steht still, und Phyllis setzt sich nieder, Und hört ihr ehrerbietig zu. Ihr zärtlich Blut fängt an zu wallen; Ihr Auge läßt vergnügte Zähren fallen. O! rief die Nachtigall: da, Schwätzer, lerne du, Was man erhält, wenn man den Klugen singt. Der Ausbruch einer stummen Zähre Bringt Nachtigallen weit mehr Ehre, Als dir der laute Beifall bringt. Gellert. Zevs und das Schaf.    Das Schaf musste von allen Thieren vieles leiden. Da trat es vor den Zevs, und bat, sein Elend zu mindern.    Zevs schien willig, und sprach zu dem Schafe: Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich allzuwehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll, Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen und deine Füsse mit Krallen rüsten? ─    O nein, sagte das Schaf; ich will nichts mit den reißenden Thieren gemein haben.    Oder, fuhr Zevs, fort, soll ich Gift in deinen Speichel legen?    Ach! versetzte das Schaf; die giftigen Schlangen werden ja so sehr gehasset.    Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen, und Stärke deinem Nacken geben.    Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig werden, als der Bock.    Und gleichwohl, sprach Zevs, mußt du selbst schaden können, wenn sich Andere, dir zu schaden, fürchten sollen.    Müßt' ich das? seufzte das Schaf. O so laß mich, gütiger Vater! wie ich bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser, Unrecht leiden, als Unrecht thun.    Zevs segneto das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an, zu klagen. Lessing. Die Berathschlagung der Pferde. Ha! sprach ein junger Hengst: wir Sklaven sind es werth, Dass wir im Joche sind. Wo lebt ein edles Pferd, Das frei seyn will? O wie glückselig war In jener Zeit der Väter Schaar! Die waren Helden, edel, frei, Und tapfer. In die Sklaverei Bog da noch keiner seinen Nacken, Engländer nicht, auch nicht Polacken. Der weite Wald War ihr geraumer Aufenthalt. Auch scheuten sie kein offnes Feld; Sie gras'ten in der ganzen Welt Nach freiem Willen. Ach! und wir? ─ Sind Sklaven, gehn im Joch, arbeiten, wie der Stier. Dem schwachen Menschen sind wir Starken unterthan; Dem Menschen! ─ Brüder! seht es an, Das unvollkommne Thier! Was ist es? Was sind wir? Solch ein Geschöpf bestimmte die Natur Uns prächtigen Geschöpfen nicht zum Herrn. Pfui, auf zwei Beinen nur! Riecht er den Streit von fern? Bebt unter ihm die Erde, wenn er stampft? Sieht man, daß seine Nase dampft? Ist er großmüthiger, als wir? Ist er ein schöner Thier? Hat er die Mähne, die uns ziert? Und doch ist er, ihr Brüder, ach! Der Herr, der uns regiert. Wir tragen ihn; wir fürchten seine Macht; Wir führen seinen Krieg, und liefern seine Schlacht. Er siegt, und höret Lobgesang; Die Schlacht indeß, die er gewann, War unser Werk; wir hatten es gethan. Was aber ist der Dank? Wir dienen ihm zur Pracht Vor seinem Siegeswagen; Und ach! vielleicht nach dreien Tagen Spannt er den Rappen der ihn trug. Vor einen Pflug. Entreißet, Brüder, euch der niedern Sklaverei! Entreißet euch dem Joch, und werdet wieder frei! Wie leicht ists doch, wenn wir Nur einig sind! Was meinet Ihr? Er schwieg. Ein wüthendes Geschrei, Ein wilder Lärm entstand, und jeder fiel ihm bei. Ein einziger erfahrner Schimmel nur, Ein zweiter Nestor sprach: Wahr ist es, die Natur Gab uns die prächtige Gestalt, Die keiner hat, als wir; auch gab sie une Gewalt In unsern Huf: jedoch aus milder Hand Bekam der Mensch Verstand. Wer bauete den Stall, worin wir sicher sind Vor Tiger und vor Wolf, vor Regen, Frost und Wind? Wer macht, daß wir auch dann dem Hunger widerstehn, Wenn wir der Auen Grün mit Jammer sterben sehn? Wenn Eis vom Himmel fällt, und alles wüst und todt Auf allen Fluren ist? Wer wendet alle Noth Und allen Kummer dann von unsern Krippen ab? Der Mensch, der gute Mensch, den uns der Himmel gab. Er streuet Haber aus und ärntet siebenfach; Er trocknet süßes Gras und bringt es unters Dach, Zwar helfen wir dabei; doch thun wir keinen Schritt Und keinen Zug umsonst: er macht uns täglich satt Mit Speisen und Getränk, und wann er Sonntag hat, So haben wir ihn mit. Wir dienen ihm; er uns: wir leben mit einander; Sind mit einander frei. Der Rappe Bucephal, Ein Grieche, welcher einst den Menschen Alexander Auf seinem Rücken trug, war König in dem Stall, Wie jener auf dem Thron. Und kam er in ein Feld, Wo Ruhm zu ärnten war, so war er auch ein Held; Und beide, Pferd und Mensch, eroberten die Welt, Und theileten den Ruhm des Sieges. Würden wir Vom Bucephal sonst Nachricht haben? Er läg' in tiefe Nacht begraben, Das edle Thier!   Niemal besänftigte der Redner Cicero Die aufgebrachten Römer so, Als dieser Nestor seine Brüder. Denn er voran, und hinter ihm die Schaar Der muthigen Rebellen alle, Nebst dem der ihr Worthalter war, Begaben flugs sich wieder nach dem Stalle. Gleim. VIERTES HAUPTSTÜCK. Von der Idylle. D ie Idylle, haben wir schon gesagt, steht den oben angeführten Dichtungsarten so wenig entgegen, dass sie vielmehr alle mit in sich begreift. Wir haben in ihr beschreibende, lyrische, erzählende, dramatische Stücke. Wenn wir sie also erklären wollen, so müssen wir einen neuen Grund der Eintheilung suchen. Und wie finden wir diesen?   Der deutsche Namen Hirtengedicht hilft uns sogleich auf die Spur: denn er zeigt uns, daß es nur ein gewisser Cirkel von Menschen seyn muß, worauf der Dichter sich einschränkt. Der gesuchte Eintheilungsgrund wird also die besondere Welt seyn, woraus der Dichter seine Materie hernimmt, worin allein er die Gegenstände aufsucht, die er beschreiben, die Begebenheiten und Handlungen, die er erzählen, die Empfindungen und Lei denschaften, die er ausdrücken will In dem Namenverzeichnisse der verschiedenen Dichtungsarten, das überhaupt sehr mangelhaft ist, findet man keine andere, die der Idylle eigentlich entgegengesetzt wäre. Aber wenn man unsern Eintheilungsgrund auch nicht gebraucht hat, mehrere Gattungen des Gedichts überhaupt anzugeben, so hat man ihn wenigstens angewandt, von andern Gattungen mehrere Unterarten zu bilden. So hat man z. B. das Trauerspiel vom Lustspiele so unterschieden: daß jenes seinen Stoff aus dem Leben der Könige und Helden; dieses den seinigen aus dem Privatleben nimmt. Ob man den Unterschied hiemit richtig bestimmt habe? ist eine andere Frage. .   Wird uns denn aber diese besondere Welt des Idyllendichters durch den Namen Hirtengedicht schon bestimmt genug angegeben? Sind wirklich seine Personen nur Hirten? seine Scenen nur Fluren und Wiesen? ─ Wir finden auch Jäger, die Wälder und Gebirge bewohnen; auch Fischer, die ihren Aufenthalt an Strömen oder dem Gestade des Meers haben. Man sehe hier gleich eine vortreffliche Fischeridylle von unserm Kleist: Irin. An einem schönen Abend fuhr Irin mit seinem Sohn, im Kahn Aufs Meer, um Reusen in das Schilf Zu legen, das ringsum den Strand Von nahen Eilanden umgab. Die Sonne tauchte sich bereits Ins Meer, und Fluth und Himmel schien Im Feu'r zu glühen.     O wie schön Ist itzt die Gegend! sagt' entzückt Der Knabe, den Irin gelehrt, Auf jede Schönheit der Natur Zu merken. Sieh, sagt' er, den Schwan, Umringt von seiner frohen Brut, Sich in den rothen Wiederschein Des Himmels tauchen! Sieh, er schifft, Zieht rothe Furchen in die Fluth, Und spannt des Fittigs Segel auf. ─ Wie lieblich flietert dort im Hain Der schlanken Espen furchtsam Laub Am Ufer! und wie reizend fließt Die Saat in grünen Wellen fort, Und rauscht, vom Winde sanst bewegt! ─ O was für Anmuth haucht anitzt Gestad' und Meer und Himmel aus! Wie schön ist Alles! und wie froh Und glücklich macht uns die Natur! ─   Ja, sagt' Irin: sie macht uns froh Und glücklich! Und du wirst durch sie Glückselig seyn dein Lebelang, Wenn du dabei rechtschaffen bist, Wenn wilde Leidenschaften nicht Von sanfter Schönheit das Gefühl Verhindern. O Geliebtester! Ich werde nun in kurzem dich Verlassen und die schöne Welt, Und in noch schönern Gegenden Den Lohn der Redlichkeit empfahn. O bleib der Tugend immer treu! Und weine mit den Weinenden, Und gieb von deinem Vorrath gern Den Armen. Hilf, so viel du kannst, Zum Wohl der Welt. Sei arbeitsam. Erheb zum Herren der Natur, Dem Wind und Meer gehorsam ist, Der Alles lenkt zum Wohl der Welt, Den Geist. Wähl lieber Schand und Tod, Eh du in Bosheit willigest! Ehr', Überfluß, und Pracht, ist Tand; Ein ruhig Herz ist unser Theil. ─ Durch diese Denkungsart, mein Sohn, Ist unter lauter Freuden mir Das Haar verbleichet. Und wiewohl Ich achtzigmal bereits den Wald Um unsre Hütte grünen sah; So ist mein langes Leben doch, Gleich einem heitern Frühlingstag, Vergangen unter Freud' und Lust. ─ Zwar hab' ich auch manch Ungemach Erlitten. Als dein Bruder starb, Da flossen Thränen mir vom Aug', Und Sonn' und Himmel schien mir schwarz. Oft auch ergriff mich auf dem Meer Im leichten Kahn der Sturm, und warf Mich mit den Wellen in die Luft: Am Gipfel eines Wasserbergs Hing oft mein Kahn hoch in der Luft; Und donnernd fiel die Fluth herab, Und ich mit ihr. Das Volk des Meers Erschrak, wenn über seinem Haupt Der Wellen Donner tobt', und fuhr Tief in den Abgrund, und mich dünkt', Daß zwischen jeder Welle mir Ein feuchtes Grab sich öffnete. Der Sturmwind taucht' dabei ins Meer Die Flügel, schüttelte davon Noch Eine See auf mich herab. ─ Allein bald legte sich der Zorn Des Windes, und die Luft ward hell, Und ich erblickt' in stiller Fluth Des Himmels Bild. Der blaue Stör, Mit rothen Augen, sahe bald Aus einer Höhl', im Kraut der See, Durch seines Hauses gläsern Dach; Und vieles Volk des weiten Meers Tanzt' auf der Fluth im Sonnenschein; Und Ruh und Freude kam zurück In meine Brust. ─ Jetzt wartet schon Das Grab auf mich. Ich fürcht' es nicht. Der Abend meines Lebens wird So schön, als Tag, und Morgen, seyn. ─ O Sohn! sei fromm und tugendhaft! So wirst du glücklich seyn, wie ich; So bleibt dir die Natur stets schön.   Der Knabe schmiegt' sich an den Arm Irins, und sprach: Nein, Vater, nein. Du stirbst noch nicht! Der Himmel wird Dich noch erhalten, mir zum Trost! Und viele Thränen flossen ihm Vom Aug'. ─ Indessen hatten sie Die Reusen ausgelegt. Die Nacht Stieg aus der See; sie ruderten Gemach der Heimat wieder zu.   Irin starb bald. Sein frommer Sohn Beweint' ihn lang', und niemal kam Ihm dieser Abend aus dem Sinn. Ein heil'ger Schauer überfiel Ihn, wenn ihm seines Vaters Bild Vors Antlitz trat. Er folgete' Stets dessen Lehren. Segen kam Auf ihn. Sein langes Leben dünkt' Auch ihm ein Frühlingstag zu seyn.   Was ist denn aber das, worin alle diese verschiedenen Menschen, Hirten, Jäger, Fischer u. s. w. zusammenkommen? Was macht sie für den Dichter zu Einer Welt; und was hat diese Welt, das der ganzen Dichtungsart ihre eigene Farbe, ihren unterscheidenden Ton giebt? ─ Soviel ist ausgemacht, daß uns der Idyllendichter nie in Städte und Palläste, sondern in einfältige Hütten, oder in die freie und offene Natur führt. Wie also, wenn wir alle die verschiedenen Personen der Idylle unter dem allgemeinen Namen Landvolk sammelten?   Aber das Landvolk das unsere Städte umgiebt, ist doch auch Landvolk; und wie verschieden gleichwohl von dem, das die Idylle schildert! Wir werden zu dem Begriffe noch Bestimmungen hinzuthun müssen; und welches sind diese Bestimmungen?   Das Erste, was uns hier einfallen kann, ist wohl dies: daß wir uns bei dem Idyllendichter in einem weit glücklichern Klima, unter einem immer heitern, lachenden Himmel befinden; und dann: daß die Menschen, die hier auftreten, äußerst glückliche, gute und unschuldige Menschen sind. ─ In der That finden wir diese Merkmaale in den meisten Idyllen; aber finden wir sie denn in allen? und müssen wir sie nothwendig finden?   Daß der Himmel wenigstens nicht immer lachend und heiter sei, sahen wir schon in der obigen Idylle von Kleist; und daß überhaupt das Klima nicht nothwendig das mildeste, die Gegend nicht durchaus ein Arkadien seyn dürfe: sehen wir aus andern sehr vortrefflichen Stücken bei unserm Geßner. In seiner Idylle Daphnis schildert er eine Wintergegend.    Die Gegend ist öde: die Heerden ruhen eingeschlossen im wärmenden Stroh; nur selten sieht man den Fußtritt des willigen Stiers, der traurig das Brennholz vor die Hütte führt, das sein Hirt im nahen Hain gefällt hat; die Vögel haben die Gebüsche verlassen: nur die einsame Meise singet ihr Lied; nur der kleine Zaunschlüpfer hüpfet umher, und der braune Sperling kömmt freundlich zu der Hütte und picket die hingestreuten Körner. ─   Ja, warum sollte es nicht möglich seyn, daß ein Dichter in die rauhesten und unfruchtbarsten Gegenden, in Lappland und Grönland hineinginge, wenn gleich hier die Idylle von ihrem Reize ein Großes verlieren müßte? ─ Würden wir es denn so fremde finden, wenn das Lied eines Lappländers von Kleist, statt unter seinen andern Liedern zu stehn, unter seinen Idyllen stände?   Was die Glückseligkeit des äußern Zustandes betrifft, so finden wir auch da große Ausnahmen bei unserm Geßner. Es sind nicht bloß die süßen Qualen der Liebe, die seine Personen fühlen; er zeigt sie auch manchen Leiden der Menschheit, den Schmerzen, den Krankheiten, dem Tode unterworfen. Nur ein ganz kleines Beispiel aus der Idylle: Daphnis und Chloe.    Ach unser Vater! Fünf Tage sinds nun, seit er uns beide auf seinem Schooße hielt und weinte. ─ Wie er uns auf die Erde stellte, wie er erblaßte! Ich kann euch nicht mehr halten, geliebte Kinder! Mir ist übel, sehr übel; und da wankt' er zu seinem Bette; seitdem ist er krank. ─   Ja sogar das Elend der Armuth hat uns dieser Dichter in mehr als einem Stücke, obgleich nicht hülflos, geschildert. Wie z. B. im Daphnis:    Ach! ich Armer! sagte der Mann: ich wäre nicht unglücklich, wenn es dieses Kind nicht wäre, das hier neben mir im Grase spielt. ─ ─ Ich wohnte dort auf dem Berg; diesen Frühling standen meine Bäume voll Blüthen, und die Pflanzen meines Gartens wuchsen schön empor; da kam ein Regenguß, und ein Strom von gesammeltem Wasser nahm mir meine Hütte und meine Bäume und meinen Garten weg, und wälzte Schlamm und Felsenstücke hin, wo die Hoffnung meiner Erhaltung blühte. ─   Endlich, was den Charakter betrifft: sind die Menschen des Idyllendichters lauter so fromme, unschuldige, wohlthätige Menschen? ─ Wenn der Tod Abels von Geßner nichts als Hirtenepopöe ist, so können in dieser Welt auch wilde feindselige Charaktere vorkommen; und wenn sein Daphnis nichts als Hirtenroman ist, so kann es auch neidische und niederträchtige Seelen darin geben. Denn jenes ist Kain, der seinen Bruder ermordet; und dieses Lamon, der das Glück zweier Liebenden durch seine Verläumdung so gern stören mögte.   Wir erkennen also, daß weder die Glückseligkeit des äußern Zustandes, noch die vollkommne Güte des sittlichen Charakters ein sichres Unterscheidungszeichen dieses Landvolks von dem unsrigen sei. Noch deutlicher würde dieses erhellen, wenn sich ein Landmann in den allervortheilhaftesten Umständen, und von einer höchstedlen, selbst erhabenen Denkungsart schildern ließe, ohne daß er darum ein Gegenstand für die Idylle wäre. Ein Beispiel von so einer Schilderung müßte erwünscht für uns seyn: denn wir würden da nicht leicht mehr Gefahr laufen, zufällige Unterschiede für wesentlich anzusehen; die Gegenstände wären einander schon zu nahe gebracht, schon zu übereinstimmend, als daß nicht jede noch übrige Verschiedenheit uns auf den rechten Weg führen sollte. Glücklicher Weise finden wir so einen ländlichen Charakter bei unserm Gellert. Der Informator. Ein Rauer, der viel Geld und nur zween Söhne hatte, Nahm einen Informator an. Ich, sprach er, und mein Ehegatte, Wir übergeben Ihm, als einem wackern Mann, Was uns am liebsten ist. Führ' Er sie treulich an! Er sieht, es sind zwei muntre Knaben, Und freilich wird er Mühe haben; Allein ich will erkenntlich seyn. Ich halte viel aufs Rechnen und aufs Schreiben, Dies lass' Er sie fein fleissig treiben; Und präg' Er ihnen ja das Christenthum wohl ein! Ich kanns Ihm nicht so recht beschreiben; Allein Er wird mich wohl verstehn: Ich mögte sie gern klug und ehrlich sehn; Dies macht bei aller Welt gelitten, Und ist vor Gott im Himmel schön, Erfüll' Er also meine Bitten! Hier geb' ich Ihm zwei Stübchen ein, Und was Er braucht, das soll zu Seinen Diensten seyn.   Der Lehrer fand ein Herz bei seinen Bauerknaben, Als hundert Junker es nicht haben; Denn zeugt nicht manches schlechte Haus Oft Kinder mit den größten Gaben? Und bildete die Kunst den rohen Marmor aus, Was würden wir für große Männer haben! Wohl Mancher, der im Krug so gern Mandate liest, Trüg' itzt, verdient, als Staatsmann seinen Orden; Wohl Mancher, der, bei einem Bauernzwist, Versehn mit Kühnheit und mit List, Aus Ehrgeiz gern der Führer ist, Wär' einst ein größrer Held geworden, Als du, vornehmer Held, nicht bist!   Der junge Mann, geschickt im Unterrichten, Erfüllte redlich seine Pflichten; Und dies gefiel dem Bauer sehr. Er hielt ihn ungemein in Ehren, Kam oft den Kindern zuzuhören, Als obs die Pflicht der Väter wär.   Nun war ein Jahr vorbei. Herr! sprach der gute Bauer: Was soll für Seine Mühe seyn? „Ich fordre dreißig Thaler.“ ─ Nein, Nein! fiel der Alte hitzig ein: Sein Informatordienst ist sauer. So kriegte ja der Großknecht, der mir pflügt, Beinah so viel, als der Gelehrte kriegt, Der das besorgt, was mir am Herzen liegt. Die Kinder nützen Ihn ja durch ihr ganzes Leben. Nein, lieber Herr, das geht nicht an; So wenig giebt kein reicher Mann. Ich will Ihm mehr, ich will Ihm hundert Thaler geben, Und mich dazu von Herzen gern verstehn, Ihm jährlich diesen Lohn ansehnlich zu erhöhn. Gesetzt, ich müßt' ein Gut verpfänden; Auch das! Ists denn ein Bubenstück? Viel besser, ich verpfänd's zu meiner Kinder Glück, Als daß sie's, reich und lasterhaft, verschwenden.   Was in dieser Erzählung einem Jeden, als nicht-idyllenmäßig, auffallen muß, sind folgende Züge: Der Unterschied mehrerer von einander abhängiger Stände; die fürstlichen Mandate, die uns auf die Idee von Oberherrschaft und Unterthänigkeit führen; die städtische Erziehung der Kinder durch einen eigenen Lehrer; die Aufmerksamkeit auf die Kunst des Rechnens, die man bei dem natürlichsten und einfältigsten Handel durch Tausch so leicht entbehren konnte; die in mehrere Zimmer abgetheilte bequemere Wohnung u. s. w. Alle diese Züge aber lassen sich wieder unter dem Einen Hauptzug befassen: der hier geschilderte Landmann ist Unterthan eines Staats. In dem ursprünglichen freien Stande der Natur fand sich weder eine solche Mannichfaltigkeit und Absonderung der Stände, noch eine solche Verfeinerung der Künste, noch eine solche Erhöhung der Bedürfnisse.   Dieses giebt uns auf einmal den wahren Begriff der Idylle. Es ist ein Gedicht, das uns die Charaktere, Sitten, Begegnisse, Empfindungen, Handlungen solcher gesitteten Menschen schildert, die noch in keinen Staat zusammengetreten sind, oder bei denen wir die Verbindung mit der größern Gesellschaft des Staats wenigstens nicht gewahr werden. Jede einzelne Familie hängt noch ganz von sich selbst ab; sie sind noch durch weiter nichts, als durch nachbärliche Freundschaft, vereinigt.   Nunmehr erhellt auch sogleich, warum wir den Zustand dieser Menschen so äußerst glücklich, ihre Sitten so rein und untadelhaft fanden. Von den allgemeinen Leiden der Natur sind sie nicht frei; aber wohl von allen dem Elende, das erst nach Errichtung der größern Gesellschaften entstanden ist: von drückenden Auflagen, sklavischen Frohndiensten, übertriebener Arbeit, Sorge und Unmuth wegen ermangelnder Befriedigung hinzugekommener Bedürfnisse. Gewisse Fehler des Charakters: Eifersucht, Untreue in der Liebe, Neid wegen größerer Vollkommenheit der Seele oder des Körpers, finden hier Statt; aber andre, die erst das mannichfaltigere, mehr verwickelte Interesse in großen Gesellschaften hervorbringt, finden hier keine Gegenstände: Sucht nach bürgerlicher Ehre, Begierde nach großen Reichthümern, Verschwendung, scheinheiliger Betrug, Geist der Verfolgung, Meuterei u. s. f.   Es hat Völker gegeben, die in einem solchen ruhigen und unabhängigen Zustande gelebt haben, und es giebt ihrer auch jetzt noch. Der Dichter hat unter diesen Völkern die Wahl; er zieht aber gemeiniglich die Zeiten des ältesten Griechenlandes oder der Patriarchen vor: theils weil er hier schon Muster vorfindet, die er nachahmen kann; theils weil der Zustand, die Sitten, die Religionsbegriffe dieser alten Völker und Familien so allgemein bekannt sind. Er täuscht uns leichter und sicherer, wenn er sich an Ideen anhängt, die wir schon haben, und vermehrt unser Vergnügen, indem er uns nicht nur über die Schönheit, sondern auch über die Richtigkeit seiner Schilderung urtheilen läßt. Einen ganz besondern Vortheil gewinnt er noch dadurch, daß er die bekannte heilige Poesie des alten Griechenlandes und der Patriarchen in die seinige mit verweben, ihre Überlieferungen von dem ehemaligen Umgange höherer Wesen mit den Menschen realisiren, ihre Gottheiten, Dämonen, Engel, redend und handelnd mit einführen kann.   Darf sich denn aber der Idyllendichter gar nicht unter solche Völker wagen, die schon wirklich in größere gesellschaftliche Verbindungen eingetreten sind? Sehr gerne! Wenn er nur keine Völker wählt, die sich von der ersten ursprünglichen Einfalt schon zu weit verloren haben, wenn er nur die Städter und Höflinge von seinen Personen in der gehörigen Entfernung hält, wenn er nur diese Personen selbst in einer solchen Einfalt und Freiheit vorstellt, daß wir ihre Abhängigkeit vom Staat weder in ihren Sitten, noch in ihrer Lebensart, noch in ihren Umständen gewahr werden. Die Gränze, bis wie weit man hier gehen darf, hat Geßner auch da noch getroffen, wo es scheint daß er sie ganz überschritten habe: in seiner Schweizeridylle. Die freien unschuldigen genügsamen Menschen, die er hier schildert, sind gegen ein andres sklavisches Volk, das sie unterdrücken wollte, wie gegen eine Heerde Wölfe, zusammengetreten; sie haben sich unter ihren Anführern beherzt vertheidigt: und leben nun wieder in einem Zustande, der so glücklich, mit einer so klugen Auswahl der Züge vorgestellt ist, daß wir beinahe das goldene Weltalter darin erneuert finden. Dadurch ist diese Idylle, obgleich die weitläustige Beschreibung einer Schlacht darin vorkömmt, noch immer Idylle. Hingegen die Hirtenlieder eines Ungenannten, die nicht allein im Tone so modern sind, sondern auch eine so vertraute Bekanntschaft mit unserer feinern Welt, mit aller Üppigkeit und allen Lastern der Städte verrathen, sind nur Schilderungen und Empfindungen des Landlebens, keine wirkliche Hirtenlieder. Es mag an Einem Beispiele genug seyn. Die Natur. Nicht künstlich ausgelernte Mienen, Nicht übertünchtes Wangenroth, Nicht Gold und glänzende Rubinen Und Haarschmuck liebt der Liebesgott.   Ein Aug', wo sich die Seele malet, Und Wangen, blühend durch Natur, Und Schmuck, aus dem die Unschuld strahlet, Und freie Locken liebt er nur. Er sitzet auf dem weichen Grase Bei meiner Schäferinn, und flieht Und rümpfet seine kleine Nase, Wenn er die stolze Clara sieht. F. A. C. W[ erthes ]. Eben so wenig sind das wahre Hirtenlieder, wenn man sich in die Gestalt eines Idyllendichters gleichsam nur verkleidet, um Gegenstände aus einer ganz andern Welt zu behandeln; sowie das Virgil in seiner ersten Ekloge gethan hat.   Wir haben bis itzt nur die erste der aufgeworfenen Fragen beantwortet: Welches ist die Welt des Idyllendichters? Wir müssen nun auch die zweite beantworten: Was hat diese Welt, das der ganzen Dichtungsart ihre eigene Farbe, ihren unterscheidenden Ton giebt?   Wenn sich ein Dichter einen einzelnen bestimmten Gegenstand zu behandeln vornimmt, so wird er sich vor allen Dingen fragen: was für eine Wirkung er damit hervorbringen will? Er wird aber keine andere damit hervorbringen wollen, als die er am leichtesten hervorbringen kann, als worauf er selbst durch die Natur des Gegenstandes geführt wird. Und wenn er nun diese gefunden hat, so wird er den Gegenstand so zurichten, wenden, abändern, er wird Bilder, Ausdrücke, kurz den ganzen Ton seiner Schreibart so wählen, wie er es zu dieser Wirkung am dienlichsten glaubt. Alles was dieselbe zu verhindern scheint, oder wenigstens nichts zu ihr beiträgt, wird er wegschneiden; Alles was er ihr gemäß befindet, wird er aussondern, verstärken, mit neuen hinzugedichteten Zügen ergänzen. So aber, wie hier jeder einzelne Dichter mit seinem einzelnen Gegenstande, so auch im Allgemeinen der Idyllendichter mit seiner ganzen Gattung von Gegenständen.   Die Frage wird also folgende seyn: Welche Wirkung kann die Schilderung des Menschen in seinem ersten ursprünglichen Zustande vor allen andern hervorbringen? Ohne Zweifel die, daß sie uns ein angenehmes Gefühl der Einfalt, Freiheit, und Unschuld, im Gegensatze der jetzigen Thorheit, Unterjochung und Verderbniß verschaffe. Jede andere Wirkung würde sich durch Schilderung des Menschen in seinem jetzigen Zustande eben so leicht und leichter erhalten lassen; es würde kein Grund vorhanden seyn, warum der Dichter in einer fremden Welt nach etwas suchte, was er in seiner eignen weit besser gefunden hätte. ─ Wenn Jupiter beim Homer das Antlitz von Troja weg und auf solche Völker richtet, die von der Milch ihrer Heerden leben, so thut er es, um sich durch den Anblick dieser einfältigen, ruhigen, schuldlosen Völker wieder zu erquicken; und wenn der jetzige Mensch in jenen erstern Zustand der Menschheit mit seiner Phantasie zurückkehrt, so thut er es, um sein krankes, durch Gefühl der jetzigen Unterdrückung, Eitelkeit und Bosheit erbittertes oder niedergeschlagenes Herz wieder zu stärken und aufzumuntern.   Diese bestimmte Wirkung nun, die sich der Idyllendichter zu erreichen vorsetzen soll: was erfordert sie Alles? ─ Zuerst: was erfordert sie in Ansehung des physischen und sittlichen Übels, dem der Mensch, auch in dem Zustande der Natur, wie wir gesehen haben, noch unterworfen ist? ─ Gewiß nicht, daß es der Dichter durchaus verberge, und uns keine andre als reizende Bilder frommer Menschen in ihren glücklichsten Tagen zeige. Man nähme Geßnern seinen interessantesten Stoff, wenn man ihm seine armen, unglücklichen, fehlerhaften Menschen nähme. Eben diese geben ihm die Situationen, worin die Güte des unverdorbenen Herzens, die genügsame Einfalt, die uninteressirte Redlichkeit, die ungeschwächte Sympathie, die unbefangene Unschuld am sichtbarsten und rührendsten hervorspringen. Aber das wird der Zweck der Idylle erfordern: daß man die Gemälde des Unglücks, der fehlerhaften, selbst boshaften Charaktere noch immer mäßige und in milderm Lichte halte; daß man nie die Erbitterung über die sanfte Rührung, den Abscheu über das Wohlgefallen das Übergewicht erhalten lasse. Mit einem Worte: daß man die Unglücksfälle dieser Menschen nur brauche, um das Glückliche ihres Zustandes; ihre Fehler, um die vorzügliche Güte ihrer Charaktere besser fühlen zu lassen. ─ Ein Schäfer, der sich aus Verzweiflung vor der Thüre seiner Grausamen erhenkt, ist, nach dem einstimmigen Urtheile aller Kunstrichter, kein idyllenmäßiger Gegenstand. Wenn man Schauder über die Verzweiflung eines Selbstmörders erwecken will: wie viel wahrscheinlicher kann man das durch Gemälde aus unsrer jetzigen Welt thun!   Aber nun zweitens: in Ansehung der glücklichen Tage, und des Guten in den Charakteren; wie wird sich da der Dichter verhalten müssen? Wird er sie getreu nach der Natur copiren, sie ganz so lassen können, wie er sie entweder in Nachrichten vorfindet oder durch Schlüsse herausbringt? Schon der eingeborne Dichter eines Hirtenvolks würde sich des Vortheils seiner Kunst bedienen, die Natur zu veredeln, und nur die auserlesenern schönern Züge vor die Phantasie zu bringen. Der Dichter der für cultivirtere Nationen schreibt, wird genöthigt seyn, dieses noch weiter zu treiben; er wird von dem vielen Guten das die höhere Cultur mit sich gebracht hat, oder das wenigstens der gebildete Mensch sich nicht entbrechen kann für gut zu erkennen, etwas in jene Welt mit hinübertragen, es mit jenem Guten, das der erste freie Zustand vor dem unsrigen voraus hatte, verbinden müssen: oder das Gemälde wird für den verfeinerten empfindlichern Menschen, für den er doch arbeitet, zu wenig Anziehendes haben. Unschuld, mit zu wenig Mäßigung und Zurückhaltung der Begierden, Redlichkeit, mit zu wenig Feinheit und Delicatesse der Empfindung, Dienstleistung, mit zu wenig Anmuth der Art wie sie erzeigt wird, Einfalt, mit zu viel Rohigkeit des Verstandes verbunden u. s. w. wären vielleicht nach der Natur wahrer, aber für den cultivirten Menschen zu wenig einnehmend und reizend. Man wird also erst dann die ganze abgezweckte Wirkung erreichen, wenn man nach einem Ideale arbeitet, oder, welches der Begriff eines Ideals ist, wenn man das was der vorgesetzten Wirkung entspricht, so von allem Fremden absondert, so erhöht und verstärkt, wie die Wirkung am vollständigsten dadurch erreicht werden kann. ─ Das Ideal aber ist wandelbar, nach der verschiedenen Beschaffenheit derer, auf die man die Wirkung thun will. Zu den Zeiten Theokrits war Manches dem schönen Ideale noch nicht zuwider, was es zu den Zeiten Virgils schon geworden war.   Aber kann man es nun mit dieser Veredelung und Erhöhung der Züge treiben, wie weit man will? Der Maler, der eine Minerva voll Ernstes und Tapferkeit malt, muß sich wohl in Acht nehmen, daß aus dem weiblichen Gesichte kein männliches werde. Eben so muß sich der Idyllendichter hüten, daß er nicht außer den Gränzen seiner Welt herausgehe; daß er Kenntnisse, Sitten, Lebensart, Künste, noch immer dem Zustande seines Volks, auch bei der größten Veredelung, gemäß erhalte. Die Gränzen aber, bis wie weit er gehen darf, lassen sich unmöglich im Allgemeinen bestimmen; der Dichter muß, durch richtiges Gefühl, sich selbst der beste Führer und Erinnerer seyn. ─ Wenn unglücklicher Weise ein Volk von aller Einfalt und Unschuld sich so weit entfernt hätte, daß es an nichts als an schimmerndem Witze, erkünstelter Lebensart, raffinirten Sitten, mehr Gefallen fände, so wäre für so ein Volk gar kein Ideal der Idylle mehr möglich. Was bei ihm etwa Idylle hieße, würde nichts als Hofmaskerade seyn, wo Damen und Herren im ländlichen Aufputz erschienen.   Das Ideal, das sich unser Geßner von der Idylle geschaffen, ist unverbesserlich. Besonders hat man ihm darüber verdiente Lobsprüche gemacht, daß er die Lebensart seiner Personen so viel weniger als ihre Sitten idealisirt, daß er sie beinahe so gelassen wie er sie in der Natur fand: nur freilich mit kluger Verbergung alles dessen, was widrige Empfindungen des Ekels erwecken könnte. Auch in der Schreibart der Idylle ist er, ohne Zweifel, unter allen Neuern das beste Muster.   Die Regeln für diese Schreibart lassen sich aus dem bisher Gesagten von selbst erkennen. Sie muß der abgezweckten Wirkung gemäß, überall sanft und ruhig, selbst auch da nicht heftig und rauh seyn, wo man die Personen im Unglück, oder wo man lasterhafte Charaktere schildert. Denn, wie wir ausgemacht haben, so sollen Unglück und Laster hier nur zu Mitteln dienen, um liebenswürdige Eigenschaften und das Glückliche des Zustandes im Ganzen besser ans Licht zu treiben. Wohlgefallen und sanfte Rührung also bleiben immer die Hauptempfindung: und die Hauptempfindung giebt für das Werk den Ton an, den man zwar verschiedentlich abändern, aber nie so ganz verlassen darf, daß man in den entgegengesetzten verfiele.   Ein zweites Haupterforderniß dieser Schreibart ist Einfalt. Und zwar eine solche Einfalt, die sich nicht allein, wie billig jede gute Schreibart sollte, bloß an die Hauptvorstellungen hält, und sie, ohne Begierde zu schimmern, in den eigentlichsten Ausdrücken, mit den wahrsten Wendungen und in den ungesuchtesten Bildern vorträgt; sondern die auch Alles ausschließt, was erst eine lange Reihe vereinigter Reflexionen und Bemühungen unter mehr verfeinerten Menschen hervorbringen konnte, in Wissenschaften, Künsten, Lebensart, Sitten, Reden, und Handlungsarten. Statt abstracter Ausdrücke, liebt die Idylle sinnliche Bilder; statt gelehrter Gleichnisse und Anspielungen, nimmt sie allen ihren Schmuck aus der Natur; statt versteckterer Verbindungen und feinerer Verhältnisse unter den Begriffen, giebt sie den Gedanken ihren leichtesten und natürlichsten Zusammenhang; statt mannichfaltiger Abwechselungen des Ausdrucks, sagt sie das Nehmliche mit den nehmlichen Worten wieder; statt des vorsätzlich Falschen, das bei uns der geübtere Witz dem Wahren alle Augenblicke zusetzt, hält sie sich bloß an das Wahre; statt des Verabredeten, Willkürlichen, Versteckten, das in unsrer Sprache des Umgangs herrscht, ist bei ihr das Gespräch ungesucht, offen, und ohne Umstände.   Ein einfältiger Ausdruck wird naiv, wenn er gesunden richtigen Verstand, edle moralische Gesinnungen, Unschuld, feine und zarte Empfindung, mit einem Worte, wenn er vortreffliche Eigenschaften des Verstandes und Herzens verräth. Also auch Naivetät wird eine vorzügliche Eigenschaft der Schreibart der Idylle seyn müssen, wie aus dem was wir von dem idealisirten Charakter der hier auftretenden Personen gesagt haben, sehr leicht erkannt wird.   Die Bestätigung unsers Begriffs von der Idylle, und Beispiele zu den Regeln die wir für ihre Schreibart festgesetzt haben, sehe man in folgenden Stücken, die aus den besten Dichtern, welche unter uns in dieser Gattung gearbeitet haben, entlehnt sind. Beispiele des Kraftlosen, des bloß Einfältigen, Niedrigen, Gemeinen, wovor man sich in dieser Gattung besonders zu hüten hat, finden sich in Graders Idyllen. Wegen versäumter Einfalt in Gedanken und im Ausdruck, lassen sich über die oben eingerückte Fischeridylle von Kleist einige Kritiken machen. Mirtil.    Bei stillem Abend hatte Mirtil noch den mondbeglänzten Sumpf besucht; die stille Ge- gend im Mondschein und das Lied der Nachtigall hatten ihn in stillem Entzücken aufgehalten. Aber itzt kam er zurück in die grüne Laube von Reben vor seiner einsamen Hütte, und fand seinen alten Vater, sanft schlummernd am Mondschein, hingosunken, sein graues Haupt auf den einen Arm hingelehnt. Da stellt' er sich, die Arme in einander geschlungen, vor ihm hin. Lang' stand er da, sein Blick ruhete unverwandt auf dem Greise; nur blickt' er zuweilen auf, durch das glänzende Reblaub zum Himmel, und Freudenthränen flossen dem Sohn vom Auge.    O du, so sprach er itzt: du, den ich nächst den Göttern am meisten ehre! Vater, wie sanft schlummerst du da! Wie lächelnd ist der Schlaf des Frommen! Gewiß ging dein zitternder Fuß aus der Hütte hervor, in stillem Gebete den Abend zu feiern, und betend schliefest du ein. Du hast auch für mich gebetet, Vater! Ach, wie glücklich bin ich! Die Götter hören dein Gebet; oder warum ruhet unsre Hütte so sicher in den von Früchten gebogenen Ästen? Warum ist der Segen auf unsrer Heerde, und auf den Früchten unsers Feldes? Oft, wenn du bei mei- ner schwachen Sorge für die Ruhe deines matten Alters Freudenthränen weinest; wenn du dann gen Himmel blickest und freudig mich segnest: ach was empfind' ich dann, Vater! Ach, dann schwillt mir die Brust, und häufige Thränen quillen vom Auge! Da du heut an meinem Arm aus der Hütte gingst, an der wärmenden Sonne dich zu erquicken, und die frohe Heerde um dich her sahest, und die Bäume voll Früchte, und die fruchtbare Gegend umher; da sprachst du: Meine Haare sind unter Freuden grau worden; seid immer gesegnet, Gefilde! Nicht lange mehr wird mein dunkelnder Blick euch durchirren; bald werd' ich euch an seligere Gefilde vertauschen. Ach, Vater, bester Freund! bald soll ich dich verlieren; trauriger Gedanke! Ach dann ─ dann will ich einen Altar neben dein Grab hinpflanzen, und dann, so ost ein seliger Tag kömmt, wo ich Nothleidenden Gutes thun kann, dann will ich, Vater! Milch und Blumen auf dein Grabmaal streun.    Itzt schwieg er, und sah mit thränendem Aug auf den Greis. Wie er lächelnd da liegt und schlummert! sprach er itzt schluchzend: es sind von seinen frommen Thaten im Traum vor seine Stirne gestiegen. Wie der Mondschein sein kahles Haupt bescheint, und den glänzend weißen Bart! O daß die kühlen Abendwinde dir nicht schaden, und der feuchte Thau! Itzt küßt' er ihm die Stirne, sanft ihn zu wecken, und führt' ihn in die Hütte, um sanfter auf weichen Fellen zu schlummern. Gessner. Mirtil, Thyrsis.    Mirtil hatte sich, in einer kühlen nächtlichen Stunde, auf einen weit umsehenden Hügel begeben; gesammelte dürre Reiser brannten vor ihm in hellen Flammen, indess dass er einsam, ins Gras gestrecket, mit irrenden Blicken den Himmel, mit Sternen besäet, und die vom Mond beleuchtete Gegend durchlief. Aber schüchtern sah er sich itzt um, denn es rauschte etwas im Dunkeln daher. Es war Thyrsis. Sei mir willkommen, sprach er: setze dich zum wärmenden Feuer! Wie kömmst du hieher, itzt da die ganze Gegend schlummert?    Thyrsis. Sei mir gegrüßt! Hätt' ich dich zu finden geglaubt, ich hätte nicht so lange gezaudert, den lodernden Flammen zu folgen, die im Dunkeln so schön ins Thal glänzen. Aber höre, Mirtil! itzt, da des Mondes düstrer Schimmer und die einsame Nacht zu ernsten Gesängen uns locket; höre, Mirtil! ich schenke dir eine schöne Lampe, die mein künstlicher Vater aus Erde gebildet hat: eine Schlange mit Flügeln und Füßen, die den Mund weit aufsperrt, aus dem das kleine Licht brennt; den Schweif ringelt sie empor bequem zur Handhabe. Dies schenk' ich dir, wenn du mir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singest.    Mirtil. Ich will dir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singen, itzt da die Nacht zu ernsten Gesängen lockt. Hier sind dürre Reiser; sieh du indeß, daß das wärmende Feuer nicht erlöschet.    Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!    Sanft glänzte der Mond, als Chloe am einsamen Ufer stand, sehnlich wartend; denn ein Nachen sollte den Daphnis über den Fluß bringen. Lange säumt mein Geliebter, so sprach sie; die Nachtigall schwieg und horchte die zärtlichen Accente. Lange säumt er, doch ─ horche! ─ ich höre ein Plätschern, wie Wellen die wider einen Nachen schlagen. ─ Kömmst du? Ja! ─ doch nein! ─ Wollt ihr mich noch oft betrügen, ihr plätschernden Wellen? O spottet nicht des ungeduldigen Wartens des zärtlichsten Mädchens! Wo bist du itzt, Geliebter? Beflügelt Ungeduld nicht deine Füße? Wandelst du itzt im Hain dem Ufer zu? O daß kein Dorn die eilenden Füße verletze, und keine schleichende Schlange deine Fersen! Du keusche Göttinn, Luna oder Diana! mit dem nie fehlenden Bogen, streue von deinem sanften Glanz auf seinen Weg hin! O, wenn du aus dem Nachen steigest, wie will ich dich umarmen! ─ Aber itzt, gewiß itzt, itzt trügt ihr mich doch nicht, ihr Wellen! O schlaget sanft den Nachen, traget ihn sorgfältig auf eurem Rücken! Ach ihr Nymphen! wenn ihr je geliebt habt, wenn ihr je wißt, was zärtliche Erwartung ist ─ ich seh ihn, sei mir gegrüßt! ─ Du antwortest nicht! Götter! ─ Itzt sank Chloe ohnmächtig am Ufer hin.    Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!    Ein umgestürzter Nachen schwamm daher, der Mond beschien die klägliche Geschichte. Am Ufer lag Chloe ohnmächtig, und eine schauernde Stille herrschte umher. Aber sie erwachte wieder; ein schreckliches Erwachen! Sie saß am Ufer, bebend und sprachlos, und der Mond verbarg sich hinter den Wolken; ihre Brust bebte von Schluchzen und Seufzen; itzt schrie sie laut, und die Echo wiederholte der trauernden Gegend ihr Geschrei, und ein banges Winseln rauschte durch den Hain und durch die Gebüsche; sie schlug die ringenden Hände auf die Brust, und riß die Locken vom Haupt. Ach Daphnis! Daphnis! O ihr treulosen Wellen! ihr Nymphen! Ach, ich Elende, ich zaudre, ich säume den Tod in den Wellen zu suchen, die mir die Freude meines Lebens geraubt haben! So rief sie, und sprang vom Ufer in den Fluß.    Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!    Aber die Nymphen hatten den Wellen befohlen, sorgfältig sie auf dem Rücken zu tragen. Grausame Nymphen! rief sie: ach zögert nicht meinen Tod! Ach verschlinget mich, Wellen! Aber die Wellen verschlangen sie nicht; sie trugen sie sanft auf dem Rücken, zum Ufer eines kleinen Eilandes. Daphnis hatte mit Schwimmen sich ans Eiland gerettet. Wie zärtlich sie ihm in die Arme sank, und ihr Entzücken: o das kann ich nicht singen! Zärtlicher, als wenn die Nachtigall ihrem Gefängniß entflieht, ihr Gatte hatte Nächte durch im Wipfel kläglich geseufzet; sie fliegt itzt entzückt dem schauernden Gatten zu: sie seufzen und schnäbeln und umschlagen sich mit ihren Flügeln; aber itzt tönt ihr Entzücken in Freudenliedern die stille Nacht durch.    Klaget itzt nicht mehr, ihr Felsenklüfte! Freude töne itzt vom Hain zurück und vom Ufer. ─ Und du, gieb mir die Lampe; denn ich habe dir die Geschichte des Daphnis und der Chloe gesungen. Ebenderselbe. Amynt. Sie fliehet fort! Es ist um mich geschehen! Ein weiter Raum trennt Lalagen von mir. Dort floh sie hin! Komm Luft, mich anzuwehen! Du kömmst vielleicht von ihr. Sie fliehet fort! Sagt Lalagen, ihr Flüsse, Daß ohne sie der Wiese Schmuck verdirbt; Ihr eilt ihr nach; sagt, daß der Wald sie misse, Und daß ihr Schäfer stirbt!   Welch Thal blüht itzt, von ihr gesehen, besser? Wo tanzt sie nun ein Labyrinth? Wo füllt Ihr Lied den Hain? Welch glückliches Gewässer Wird schöner durch ihr Bild?   Nur Einen Druck der Hand, nur halbe Blicke, Ach! Einen Kuß, wie sie mir vormal gab, Vergönne mir von ihr; dann stürz', o Glücke, Mich, wenn du willst, ins Grab!   So klagt' Amynt, die Augen voll von Thränen, Den Gegenden die Flucht der Lalage. Sie schienen sich mit ihm nach ihr zu sehnen, Und seufzten: Lalage! Kleist. Der Mai. Nach einer neuveränderten Abschrift [1783]. Wettgesang, Daphnis und Rosalinde. Daphnis. Willkommen, allmächtiger Mai! Du Schönster im Kreise zwölf seliger Götter, Gelagert am Himmel auf goldnen Gestirnen! Du krönest mit Segen das Jahr. Dir dampfe von tausend Altären Des ganzen Erdballs Opferrauch! Rosalinde. Willkommen, allgütiger Mai! Du Bester von allen wohlthätigen Göttern, Die Fluren und Berge und Wälder befruchten! Du segnest mit Liebe die Welt. Dir schalle von tausend Entzückten Ein langer lauter Lobgesang! Daphnis. Ich sah den jungen Mai: Seiner Blume Silberglocken Hingen um den Schlaf. Als er vom Himmel fuhr, Blühten alle Wipfel; Als er den Boden trat, Ließ er Violen und Hyacinthen im Fußtritt zurücke. Rosalinde. Ich sah den jungen Mai: Blüthe trug der Myrtenzepter In des Gottes Hand. Als er vom Himmel fuhr, Sangen ihm die Lerchen; Als er zur Erde sank, Seufzten vor Liebe die Nachtigallen aus allen Gebüschen. Daphnis. Willkommen, allmächtiger Mai! Du krönest mit Segen das Jahr. Dir dampfe von tausend Altären Des ganzen Erdballs Opferrauch! Rosalinde. Willkommen, allgütiger Mai! Du segnest mit Liebe die Welt. Dir schalle von tausend Entzückten Ein langer lauter Lobgesang! Daphnis. Seht, die Traube bricht hervor Unter jungen Rebenblättern, Und verkündigt Most. Dieses machen die fröhlichen Götter, Bacchus und der Mai. Muntre Schäfer, laßt uns trinken: Eine Schale dem Mai, und Eine dem Bacchus zur Ehre! Rosalinde. Seht, der Wiese junges Grün, Laue Lüfte, Wohlgerüche Laden uns zum Tanz. Dieses wollen die fröhlichen Götter, Amor und der Mai. Schäferinnen, lasst uns tanzen: Einen Reihen dem Mai, und Einen dem Amor zur Ehre! Daphnis. Willkommen, allmächtiger Mai! Dir dampfe von tausend Altären Des ganzen Erdballs Opferrauch! Rosalinde. Willkommen, allgütiger Mai! Dir schalle von tausend Entzückten Ein langer lauter Lobgesang! Daphnis. Selig preis' ich Rosalinden, Die sich ihrer Mutter Sanft vom Herzen wand, Als der Mai regierte, Als die Rose die Knospe durchbrach. Ihre Kindheit hauchte Freude; Freude düftet ihr Alter dereinst. Rosalinde. Selig preist sich Rosalinde, Die sich ihrem Daphnis In die Arme warf, Als der Mai regierte, Als die Rebe den Ulmbaum umschlang. Seine Jugend liebt sie zärtlich; Zärtlich liebt sie sein Alter dereinst. Daphnis. Diesen Kranz von Frühlingsblumen Bring' ich Rosalinden dar! Mehr als einmal überwunden, Geb' ich ihn der Siegerinn. Rosalinde. Diesen Myrtenkranz der Jungfraun Nehme Daphnis meinem Haar! Einmal ewig überwunden, Geb' ich ohne Reu' ihn hin. Beide. Ihr Kinder des Maien, lobsinget dem Mai! Dir, Verjünger aller Wesen, Dir danke, was lebet, allmächtiger Mai! Dir, du Schutzgott unsrer Liebe, Dir danke, was liebet, allgütiger Mai! Ihr Kinder des Maien, lobsinget dem Mai! Ramler. Thyrsis.    Umsonst! so klagte Thyrsis seine Qual: für mich umsonst, Ihr gütigen Nymphen, schwebt angenehme Kühlung in diesen Schatten, wo Ihr eure Quellen im wölbenden Gesträuch ausgie- sset. Ich schmachte, ach wie man an der Sommersonne schmachtet! Unten am kleinen Hügel, auf dem die Hütte der Chloe steht, sass ich, und blies der Echo ein sanftes Liedchen vor. Oben beschattet den Hügel der Baumgarten, den sie wartet und pflanzt, und neben mir plätscherte das Wasser herunter, das ihn durchschlängelt, an dessen blumigem Bord sie oft schlummert, oft ihre Hände und Wangen kühlt. Plötzlich hört' ich das Knarren des Riegels, der des Gartens Thüre schliesst. Sie trat her- aus; ein sanfter Wind flatterte in ihrem blonden Haar und im leichten Gewand. O wie schön, wie schön war sie! Ein reinliches Körbchen voll glänzender Früchte trug sie an der einen Hand; und schamhaft, auch da wo sie keine Zeugen vermuthet, hielt sie mit der andern das Gewand über den jungen Busen fest: denn ihn würde der Wind in seinem Spiel entblöfst haben; aber es schmiegte sich um Hüften und Knie, und flatterte sanftrauschend rückwärts in die Luft. So ging sie auf der Höhe des Hügels vorüber. Aber zween Äpfel fielen vom Körbchen, und hüpften den Hügel herunter, gerade auf mich, auf mich zu, als hätt' Amor selbst ihren Lauf gelenkt. Ich nahm sie von der Erde, und drückt' an meine Lippen sie, und so trug ich sie den Hügel hinauf und gab sie dem Mädchen wieder: aber meine Hand zitterte; ich wollte reden, aber ich seufzte nur. Aber Chloe blickte nieder, sanfte Röthe überhauchte ihre schönen Wangen; sanftlächelnd und röther, schenkte sie die schönen Äpfel mir. Itzt standen wir, ach was ich empfand! schüchtern beide; jetzt ging sie mit sanftem Schritt der Hütte zu. Mein unverwandter Blick sah ihr nach! Da sie hineintrat, sah sie zögernd und freundlich noch einmal zurücke; sah ich sie gleich nicht mehr, mein Blick war doch an die Schwelle der Thüre geheftet. Jetzt ging ich, Zittern war in meinen Knieen, den Hügel hinunter. ─ Ach! stehe du mir bei, gütiger Amor! Was ich seither empfinde, wird nie wieder in meinem Busen erlöschen. Gessner.   Wenn wir der Beispiele nicht schon zu viel hätten, so würden auch einige Stücke aus Schmidts poetischen Gemälden und Empfindungen, und aus Blums Idyllen, hier einen Platz finden können. Sie würden wenigstens zu den guten, wenn auch nicht zu den besten, gehören. FÜNFTES HAUPTSTÜCK. Von dem Lehrgedicht. W ir haben die beiden Dichtungsarten untersucht, die sich unter die Eintheilungen im zweiten Hauptstück nicht zu bequemen schienen. Wir gehen jetzt die verschiednen Glieder dieser Eintheilungen durch; und da wir an der Fabel schon eine Art didaktischen Gedichts haben kennen lernen, so machen wir gleich mit diesem den Anfang.   Der Stoff des didaktischen Gedichts sind, wie schon gesagt, allgemeine Wahrheiten. Man kann, nach dem Beispiel des Salomo oder Theognis, einzelne Sätze und Sprüche häufen, die weiter in keiner Verbindung stehn, als daß sie alle zu einerlei Wissenschaft gehören; aber man läuft bei dieser Art des Vortrags Gefahr, den Geist durch das zu viele Einzelne zu ermüden. Sowie, in der epischen und dramatischen Gattung, Eine durchgeführte Handlung dem Geiste mehr und leichtere Beschäftigung und mithin mehr Vergnügen giebt, als eine unzusammenhangende Reihe einzelner Gemälde und Auftritte; ebenso giebt auch, in der didaktischen, Eine ganze Reihe von Wahrheiten mehr und leichtere Beschäftigung und mithin mehr Vergnügen, als eine willkürliche Zusammenhäufung einzelner Sätze und Maximen. Das einemal läuft man gleichsam auf einer sanft abhangenden Fläche fort, wo jeder folgende Schritt durch den vorhergehenden schon so vorbereitet ist, daß es oft weniger Mühe kostet ihn zu thun, als ihn anzuhalten; das andremal steigt man gleichsam eine sich erhebende Fläche hinan, wo jeder Schritt von neuem die volle Anstrengung des ersten kostet, und man ohne Unterlaß ausruhen muß, um wieder Kraft zu gewinnen.   Die weitere Eintheilung der didaktischen Gedichte, durch nähere Bestimmung des Stoffs, macht sich sehr leicht; aber sie hat in der Theorie zu wenig Einfluß, als daß wir uns hier dabei aufhalten sollten. Wir wollen lieber die ganze Dichtungsart nur im Allgemeinen betrachten; doch immer mit vorzüglicher Rücksicht auf die philosophischen Lehrgedichte, die, in mehr als einer Absicht, von allen die wichtigsten sind.   Die erste Frage die wir hier zu beantworten haben, ist folgende: Wenn der Stoff des Lehrgedichts allgemeine Wahrheiten sind, und wenn die Dichtkunst die Lebhaftigkeit der Vorstellungen zu ihrem höchsten Endzwecke hat; wie kann alsdann das Lehrgedicht wahres Gedicht seyn? ─ Freilich, wenn die Wahrheiten darin so trocken vorgetragen, die Begriffe so logisch analysirt, die Beweise so Schritt vor Schritt geführt würden, wie in eigentlich wissenschaftlichen Werken; so wäre das der Lebhaftigkeit durchaus zuwider. An der Fabel haben wir schon ein Beispiel gesehen, wie man das Allgemeine in lebhafte Vorstellung verwandeln kann: durch Zurückführung nehmlich auf einen einzelnen Fall, in dem es klar und anschauend erkannt wird. Ist nun aber der Dichter bloß auf dieses Mittel eingeschränkt? oder giebt es der Mittel, die Ideen lebhaft zu machen, noch mehrere? ─ Wir wollen aus unserm ersten und berühmtesten didaktischen Dichter eine unstreitig poetische Stelle vornehmen, alles das wodurch sie poetisch ist aufsuchen, und dadurch den Begriff der Lebhaftigkeit, den wir im ersten Hauptstück zu eilig verlassen haben, weiter aufzuklären suchen. Einst, da ich eine Nacht, wie Ärntetage lang, Mit Gram und Ungeduld im leeren Bette rang, Wann öde Schatten uns das Unglück schwärzer machen, Und Unholdinnen gleich die Sorgen mit uns wichen; Schalt die Vernunft mein Herz, das allen Trost verwarf, Und sprach in einem Ton, den es nicht tadeln darf; Kurzsichtiger! der Gram hat dein Gesicht vergället; Du siehst die Dinge schwarz, gebrochen und verstellet. Mach deinen Raupenstand und einen Tropfen Zeit, Den, nicht zu deinem Zweck, die, nicht zur Ewigkeit! Sieh Welten über dir, gezählt mit Millionen, Wo Geister fremder Art in andern Körpern wohnen; Der Raum und was er faßt, was Heut und Gestern hat, Mensch, Engel, Körper, Geist, ist Alles Eine Stadt. Du bist ein Bürger auch; sieh selber, wie geringe! Und gleichwohl machst du dich zum Mittelpunct der Dinge? ... Willst du, daß Gott dann selbst die ewigen Gesetze, Die er den Welten schrieb, aus Gunst für dich verletze? Soll, wenn's ein Dichter zarte Leib ein Stein; Ein Fieber, ohne Wuth; Gift, ohne Wirkung seyn? u. s. w. Haller.   Man empfindet sehr bald, daß hier Alles anders ist, als es in einem eigentlich philosophischen Werke seyn würde; aber wie und wodurch ist es anders? ─ Gleich Ansangs, fühlt man, wird die Aufmerksamkeit in einem sehr hohen Grade erregt; nicht bloß durch das Interesse und die Wichtigkeit der Wahrheiten an sich selbst, sondern auch vorzüglich dadurch, daß hier ein Mann spricht, der wirklich eben itzt von ihnen erwärmt und durchdrungen ist, ein Mann in einer Situatien, wo ihm diese Wahrheiten zu seiner eigenen Beruhigung nöthig und wichtig werden. Er denkt sie nun nicht mehr kalt und allgemein, wie der bloße Philosoph sie sich denken würde; er denkt sie sich mit inniger Rührung, mit inniger Anwendung auf seinen eigenen Zustand. Er schafft sich, in dem Bedürfnisse recht lebhaft von ihnen gerührt zu werden, aus der Vernunft eine Freundinn, der er allen den Ernst und die Würde läßt, die den Wahrheiten, und den Umständen worin er dieselben denkt, gemäß sind, der er aber ihre Kälte und Trockenheit nimmt, und ihr einen Ton voll Wärme und Beredtsamkeit giebt. Diese Wärme und Beredtsamkeit aber, woraus entsteht sie? ─ Zuerst bringen hier die Figuren der Frage, des Ausrufs, der ausgelassenen Verbindungswörter u. s. f. ein großes Leben in die Rede: denn sie unterbrechen nicht nur den ermüdend einförmigen Gang, den eine Folge von lauter directen Sätzen haben würde; sondern, was das Vorzüglichste ist, sie kündigen uns auch den Gemüthszustand des Redenden, die mannichfaltigen Bewegungen an, die in dem Innern seiner Seele vorgehn, und geben uns also, außer der Hauptidee, noch die ganze Menge der sie modificirenden und verstärkenden Nebenideen. Die Wahrheit geht dadurch aus dem Verstande ins Herz über, und wir gerathen mit dem Dichter in alle die verschiednen Bewegungen und Leidenschaften, von denen er selbst, während der Entwickelung seiner Gedanken, sich durchdrungen fühlte. Ja wir hören gleichsam die verschiedenen Abänderungen seiner Stimme, das Anhalten, Vergeschwindern, Steigen und Sinken seines Tons; sehen gleichsam das ganze mannichfaltige Gebehrdenspiel, womit er den Ausdruck der Sprache, wenn er itzt selbst recitiren sollte, begleiten würde. ─ Zweitens liegt schon in gewissen Ideen eine ihnen eigenthümliche Kraft auf das Gemüth zu wirken, wenn andre diese Kraft vorzüglich erst durch die Art erhalten, wie der Dichter sie vorträgt. Gesetzt auch, daß die Zeilen: Sieh Welten über dir, gezählt mit Millionen, Wo Geister fremder Art in andern Körpern wohnen! Der Raum und was er faßt, was Heut und Gestern hat, Mensch, Engel, Körper, Geist, ist Alles Eine Stadt; gesetzt auch, daß sie das Verdienst des Vortrags nicht hätten, das der Dichter zur Verstärkung der Wirkung noch hinzugethan hat; so würden schon immer die darin enthaltenen Ideen durch sich selbst die Aufmerksamkeit der Seele fesseln, weil sie vorzüglich viel Größe und Inhalt haben. Millionen von Welten, der unendliche Raum, die unbegränzte Zeit, wovon hier mit Fleiß, weil sie so unermeßlich ist, nur Heute und Gestern genannt wird, die unbeschreibliche Mannichfaltigkeit der Dinge in der Natur, und ihrer aller Harmonie und Verbindung: diese Ideen sind schon durch sich selbst, eben weil sie so groß und so viel befassend sind, lebhaft. ─ Drittens hat der Dichter die Kunst verstanden, der eigenthümlichen Dürftigkeit seiner allgemeinen Wahrheiten aufzuhelfen: theils, indem er sie in besondern Fällen vorträgt, die der Seele so viel mehr zu denken geben als die bloß allgemeinen Begriffe; theils, indem er seine Ideen mit andern ähnlichen oder contrastirenden in Verbindung bringt, wo wir statt Einer ihrer mehrere denken, wo eine Menge reeller oder verneinender Merkmaale, die sonst im Dunkeln würden geblieben seyn, an dem Gegenstande herausgehoben und zur Vorstellung gebracht werden. Er fragt nicht im Allgemeinen: Sollen die Dinge ihre Natur verlieren, weil gerade ein Mensch hie und da durch die Natur dieser sonst guten und für ihn selbst wohlthätigen Dinge leidet? Er nimmt besondere Fälle, welche die Abgeschmacktheit eines solchen Wunsches weit schneller und unmittelbarer begreifen lassen: Soll, wenn's ein Dichter zarte Leib ein Stein, Ein Fieber, ohne Wuth; Gift, ohne Wirkung seyn? Er sagt nicht geradezu: Das was ist und geschieht, ist an sich selbst nicht böse, sondern es erscheint dir nur so; er trägt den Gedanken vermittelst einer Metapher vor, betrachtet den Gram als eine Krankheit der Seele, und findet unter den Krankheiten des Körpers eine ähnliche von ähnlicher Wirkung: Albrecht Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. 23. Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer, Professor und des Großen Raths zu Zürich 1738. https://textgridrep.org/browse/-/browse/phw3_0 Kurzsichtiger! der Gram hat dein Gesicht vergället, Du siehst die Dinge schwarz, gebrochen und verstellet. Der unvollkommnere Zustand des Menschen in diesem Leben, worauf der vollkommnere des künftigen folgen wird, ist ihm ein Raupenstand: eins der reichsten und der glücklichsten Bilder! und die kurze Dauer dieses Lebens, in Vergleichung mit der Ewigkeit, ist ihm ein Tropfen gegen das Weltmeer: ein ausnehmender Contrast, und eben deswegen von ausnehmender Wirkung! Aber noch einen neuen Vortheil gewinnt der Dichter, indem er die Begriffe einander gegenüberstellt, und aus zwei Sätzen durch die innigste Verbindung nur einen zu machen scheint: Mach deinen Raupenstand, und einen Tropfen Zeit, Den, nicht zu deinem Zweck, die, nicht zur Ewigkeit! Er giebt dem Geiste eine neue Beschäftigung, indem er ihn zur Vergleichung veranlaßt; und zugleich trägt er nun beide Sätze weit kürzer, mit weit weniger Worten vor, als es bei jeder andern Verbindungsart möglich wäre. Man fühlt die große Energie, die der Rede aus diesen beiden Vortheilen zuwächst. ─ Endlich, die ganze Verbindungsart der Ideen: wie kurz, wie kühn, wie ohne alle ängstliche Methode ist sie! Wie sehr verräth dieser plötzliche Fortgang von Idee zu Idee, diese Verschlingung aller zwischenliegenden und verbindenden Mittelideen, die lebhafte Rührung des Dichters!   Wenn wir dieses alles zusammennehmen und das Allgemeine daraus abziehn: worauf wird es bei aller Lebhaftigkeit der Vorstellungen ankommen? Wie es scheint, auf den Reichthum derselben, der die Seele die ihn fassen will, in größere Thätigkeit setzt, und ihrem Triebe nach Ideen volle Beschäftigung giebt. Denn, wie wir gesehen haben, so laufen alle jene Vortheile darauf hinaus: daß der dürftigere allgemeine Begriff in einen vielhaltigen besondern verwandelt; daß der, den wir nur einzeln und nur schwach gedacht haben würden, in Verbindungen gestellt werde, wo wir ihn nicht nur mit mehrern zugleich, sondern auch Mehreres an ihm selbst denken; und endlich, daß der Fortgang der Seele von Gedanken zu Gedanken beschleuniget werde. Die größte Lebhaftigkeit wird also eben da seyn, wo in der kürzesten Zeit die größte Menge von Vorstellungen in der Seele erweckt wird. Damit aber die Seele nur überall auf die Gegenstände achte, die man ihr darbeut, muß sie ihren Reichthum von Vorstellungen durch dieselben in der That vermehrt finden; und ein gewisser Grad von Neuheit ist also eine nothwendige vorläufige Bedingung aller Lebhaftigkeit. Ein ganz durchdachter und erschöpfter Begriff ist wie eine Frucht deren innern Kern man verzehrt hat, und von der nun weiter nichts übrig ist als die Schale. Wer unsern Geschmack reizen und unsern Hunger stillen will, muß uns neue Früchte, nicht diese leeren Schalen bieten, die wir mit Verachtung wegwerfen würden.   Das Wichtigste zur Bewirkung der Lebhaftigkeit bleibt immer das: daß man den betrachteten Gegenstand in Verbindung mit den Neigungen des menschlichen Herzens bringe; daß man ihn nicht bloß, als von der und der absoluten Beschaffenheit, sondern vorzüglich auch, als von der und der Beziehung auf menschliches Glück oder Elend, Vergnügen oder Mißvergnügen, zeige. Es ist unmöglich, durch irgend ein anderes Mittel eine Vorstellung so sehr an innerm Gehalt zu erhöhn, als durch dieses. ─ Der Lehrdichter besonders lasse uns nicht bloß die Wahrheit, er lasse sie uns in der Seele die sie denkt, erkennen: damit wir die Empfindungen und Bewegungen derselben, wenn wir sie wahr und gegründet finden, zu unsern eigenen machen.   Wem es mißlich scheint, eine Theorie auf die Entwickelung eines einzigen Beispiels zu gründen, der sehe hier noch eine andere sehr vorzügliche Stelle aus einem der trefflichsten Lehrdichter, und untersuche nun selbst, durch was für Mittel die Gedanken poetisch geworden sind. Er wird finden, daß es überall auf den Reichthum der Vorstellungen, und besonders auf Sprache des Herzens, auf Ton der Empfindung ankömmt. „Sie Die Vernunft nehmlich; von der die Frage ist: ob sie für den Menschen mehr Gutes oder Böses gestiftet? Im Vorhergehenden war von dem Mißbrauche derselben zur Erfindung üppiger Wollüste die Rede. zwingt ─ was edler ist, als Kitzelung der Sinnen ─ „Die Parce, die nicht will, den Faden auszuspinnen: „Entdeckt mit Menschenlieb' in Minern Heilungskraft, „Kocht für den Sterbenden aus Kräutern Lebenssaft; „Verjüngt den schwachen Greis, der Jahre Last zu tragen, „Gebeut dem kalten Puls, der stockte, fortzuschlagen; „Giebt den der Braut zurück, um den ihr Auge weint, „Der Mutter ihren Sohn, dem Freunde seinen Freund. „Wie groß ist nicht die Kunst, die Seuchen zu verbannen, „Und in der Lebensuhr die Federn aufzuspannen!“   Ja, edel, herrlich, groß! und wenn es dir gefällt, Die beste Wissenschaft in einer kranken Welt, Der ihren Zauberkelch die neuen Lüste reichen, Die Brut der Üppigkeit und Eltern aller Seuchen! Schuf diese die Natur? Versteckte sie den Tod In das was Nothdurft war, in Wasser oder Brot? Fließt mit des Rindes Milch Gift in die irdne Schale, Wie er aus Trauben strömt in goldene Pokale? Die Krankheit, weit entfernt von armer Nüchternheit, Besuchet nur den Tisch der blassen Üppigkeit, Auf welchen die Natur von allen ihren Schätzen Zuletzt gezwungen wird die giftigsten zu setzen; Gezwungen durch Vernunft! Sie, die uns warnen soll, Erstaunlich! die Vernunft reicht uns den Giftkelch voll. Sie gab uns Überfluß und Krankheit zum Geschenke; Wie billig ist es nicht, daß sie auf Heilung denke? Noch rühmt sie sich der Kunst? Ein böser Charlatan Macht erst Gesunde krank, damit er heilen kann! Viel weiser hätte sie gelehrt, den Arzt entbehren, Den, der itzt sichrer praßt, gelehrt, nicht zu begehren; Gelehrt, daß Hunger nur die Speisen würzen muß, Der Hunger, beßrer Koch, als Roms Apicius! Gelehrt, Genügsamkeit sei reich bei Brot und Wasser, Und eine ganze Welt zu arm für einen Prasser; Der Arzt, den die Natur mit eigner Hand geweiht, Der unbetrüglichste, sei unsre Mäßigkeit. So lebt das Vieh gesund. Und mögt' er sich nicht schämen, Der königliche Mensch, Vernunft vom Vieh zu nehmen! Zu lernen, daß sie nur je mehr den Zweck erreicht, Je mehr sie dem Instinct in seiner Einfalt gleicht! Vom unbesorgten Vieh, vergnügt mit Quell und Weiden, Zu lernen, das sei eins: beglückt seyn und bescheiden!   „Der Thor erniedrigt sie zur Dienstmagd für den Bauch; „Allein der Weise kennt den würdigern Gebrauch, „Er sucht der Dinge Grund, durchschauet alle Räder, „Spürt der Bewegung nach und dringt bis an die Feder; „Geht der Natur zur Hand, und sieht, mit ihr vertraut, „Der großen Schöpfung zu, wie sie zerstört und baut. „Sieht, wie sie schöpferisch, des Lenzes Morgenstrahlen, „Das Rosenangesicht Aurorens auszumalen, „In Gluth den Pinsel taucht; wie sie zum bunten Kreis „Der Iris, Edelstein aus Thau zu schmelzen weiß; „Wie sie den blauen Schlei'r, worin der Erdball schwebet, „Aus Fäden schwarzer Nacht und lichten Äthers webet. „Steigt, voll von Lehrbegier, bald in der Erden Herz, „Bald legt er Flügel an und schwingt sich himmelwärts; „Geht unerschrocken nach ins Rüsthaus ihrer Waffen, „Und sieht sie Hagel, Schnee, Sturm, Blitz und Donner schaffen; „Durchschauet dann die Welt, wie Alles voll gedrängt, „Geordnet, Glied an Glied, eins an dem andern hängt. „Sieht, wie im weiten Raum, an unsichtbaren Seilen, „In unverrücktem Schwung die Mond' um Sonnen eilen; „Folgt dem Planeten nach, und sieht in seinem Gang „Den Grund, warum der Tag bald kurz ist und bald lang; „Den Grund, warum der Mond, in seinem Wechselgange, „Bald nur die halbe färbt und bald die ganze Wange; „Schießt durchs Unendliche, behorchet, was nur sie, „Vernunft, allein vernimmt, der Sphären Harmonie; „Sieht ihr zahlloses Heer sich nach Gesetzen drehen, „Und in der Irrbahn selbst Kometen richtig gehen.“   Vortrefflich ist der Geist, der deine Leiter steigt, Erhabene Natur! und uns den Schöpfer zeigt! Der deine Spur verfolgt mit heiligem Erbeben, Und hier mit Ehrfurcht lernt, vor diesem Schöpfer leben! Doch wenn, was Inbrunst soll, dem eitlen Dädalus Vermeßne Neubegier die Schwingen künsteln muß; Wenn er aus Ehrsucht da, wo er Gott suchen sollte, Den Namen des Geschöpfs bei Sternen zeichnen wollte; Wenn er mit kalter Brust von allen Weisen gern Am schärfsten wünscht zu sehn, und sucht nur einen Stern: Wie würde Sokrates ihn beßre Weisheit lehren, Zur Kenntniß seiner selbst in sich zurück zu kehren! O Blinder! rief' er ihm, der du den Himmel wölbst, Und kennest jeden Stern; o! kennest du dich selbst? Der Wohllaut hört im Zwist des Guten und des Bösen; Vermag der auch, in sich den Mißklang aufzulösen? Der der Natur Gesetz entfaltet; kann der wohl Erfüllen was er lehrt, und leben wie er soll? Statt Eintracht, Maaß, und Gang, die Leidenschaft zu lehren, Erforscht er Gang und Maaß und Eintracht in den Sphären; Statt daß er in sich selbst der Lüste Zwiespalt dämpft, Entdeckt er, wie der Zwist der Elemente kämpft; Vergißt, aus Neubegier die Werkstatt durchzuschauen Der bauenden Natur, die Kunst, an sich zu bauen; Schwärmt überall umher, und wird ─ fruchtloser Fleiß! ─ Ein Unglückseliger, ein Thor, der Alles weiß.  „Wer, größer wie Alcid, nicht sterbliche Geschöpfe, „Wer die Unsterblichen, die tausend Hyderköpfe „Der wachsenden Begier allmählich niedertrat; „Gesetze gründete, und auf Gesetz den Staat; „Geschickt, die Neigungen der Guten und der Bösen „Und so in Harmonie den Mißklang aufzulösen; „Wer in ein einzig Joch feindsel'ge Kräfte bog, „Und allgemeines Wohl aus Zwist der Theile zog; „Wer Ordnung, Frieden, Recht und Unschuld festzusetzen, „Den Richter waffnete mit Stärk' und mit Gesetzen, „Wer Bürger aus Barbarn, aus Bürgern Brüder macht: ─ „Was immer Rousseau scherzt, der Mann hat wohl gedacht!“   Ja, mächtige Vernunft! von deiner Schöpferstärke Ist der erfundne Staat eins deiner größten Werke. Doch bleibest du hier stehn? War dies die Gränze? Nein! Die du zu Bürgern machst, ach, lehr sie Menschen seyn; Gehorsam, ohne Zwang gebietender Gesetze, Erhaben ohne Stand, begütert ohne Schätze, Friedfertig ohne Furcht, treu sonder Eigennutz, Und sonder Arzt gesund, und ohne Schwert in Schutz, Dienstfertig, brüderlich, als Bürger Einer Erden, Geschöpfe Eines Gotts; lehr sie, vernünftig werden! Dies ist dein wahres Amt; dann brauchts, zur Ruh der Welt, Der Kette länger nicht, die itzt den Frevel hält. Dann wirst du von der Welt auf einmal weg verbannen Die Seufzer und den Trotz der Sklaven und Tyrannen. Dann wird kein Unterschied des Zwistes Samen streun; Mehr Tngend, mehr Verdienst, wird Rang und Adel seyn. Dann herrscht Gerechtigkeit, gesichert vor Betrügen; Stets wird die Wahrheit voll, zu leicht der Goldklump wiegen. Dann lacht Betrügerei, für die kein Anwald spricht, Beim ungerechten Fall verlaßner Unschuld nicht. Die Arglist wird nicht mehr, in feinen Spinngeweben Der Rechte, von dem Blut gefangner Einfalt leben. Kein Richter wird dann seyn, der, wie sein Geiz gewollt, Gesetze reden lehrt, und Blut verkauft für Gold; Kein Sünder, welcher frech mit ihrer Geißel spielet, Wenn Reichthum Strafen trotzt, die nur der Arme fühlet. Dann lebt der beßre Mensch froh, sicher, brüderlich, Hat Frieden in sich selbst, und Frieden außer sich: Den Frieden, den nicht Furcht, den Bruderliebe schützet. ─ Doch kann das Frieden seyn, was sich auf Mißtraun stützet? Des Zwistes Funken glimmt in kalter Asche fort; Ermüdung schließt den Krieg, und ihn erneut ein Wort. Verschlagne Staatskunst weiß ihr Kunstwerk anzulegen, Denkt selbst im Frieden Krieg, und spinnt ihn aus Verträgen; Und Brunst nach eitlem Ruhm, Geiz, Sucht zu herrschen, zollt, Mit Freuden Menschenblut für Erde, Ruh, und Gold. Da schlägt der Wüthende mit gottentwandten Blitzen Nach seiner Brüder Stirn aus donnernden Geschützen. Den Stahl, den ihm Natur zur Pflugschaar zugewandt, Verwandelt die Vernunft zum Schwert in seiner Hand. Bald, bald erlernet da, nach Blut und Schätzen dürsten, Wo Stolz um Kronen ficht, der Sklav von seinem Fürsten. So viele Leben, ach! grausame Herrschbegier! Um eine Spanne Land, gepflügt von Einem Stier? Ach Hochmuth! um ein Wort, vielleicht zu schnell geredet, Ach Geiz! um elend Gold die halbe Welt verödet? Gebietende Vernunft, wenn du uns herrschen lehrst, Fang' in dem Menschen an und herrsche da zuerst! Dusch.   Will man völlig gewiß seyn, ob wir in dem festgesetzten Begriff die wahre Grundquelle aller Lebhaftigkeit gefunden haben; so untersuche man, ob die sämmtlichen Unterscheidungsmerkmaale des Gedichts, die im ersten Hauptstück angegeben worden, wirklich aus dieser Quelle entspringen, und denjenigen der ihrem Ursprunge nachgeht, dahin zurückführen. Die Untersuchung hat so wenig Schwierigkeit, daß sie jeder ohne Anweisung machen kann; nur das Einzige was vom Sylbenmaße gesagt worden, mögte einiger Erklärung bedürfen.   Wir haben zuerst herausgebracht, daß das Sylbenmaß dem Ohre schmeichle, ohne weiter zu untersuchen, wie und wodurch dies geschehe. Was kann das aber heißen: dem Ohre schmeicheln? Doch wohl anders nichts, als vermittelst des Gehörs in der Seele selbst angenehme Empfindungen erwecken. Und wie vermag dieses das Sylbenmaß? Was hat es in dieser Absicht vor der ungebundenen Rede für einen Vorzug? ─ In der ungebundenen Rede sind alle Arten von Füßen so mannichfaltig durcheinander gemischt, die Verhältnisse der einzelnen Sätze die sich zu Perioden verbinden, sind so ungleich und so verwickelt, die Ruhepuncte sind so verschiedentlich gestellt: daß die Seele, von der gar zu großen Mannichfaltigkeit erdrückt, keine andre als sehr dunkle Vorstellungen von den hier noch beobachteten Verhältnissen und Regeln hat, die einen Haupttheil des prosaischen Wohlklangs machen. Das Sylbenmaß schränkt diese zu große Mannichfaltigkeit ein, und setzt nur einige bestimmtere Regeln, einige vorzüglich schöne und leichte Verhältnisse fest, die von der Seele sogleich klar erkannt werden können. Sind wieder der Regeln zu viel und die Verhältnisse zu verwickelt, so ist das Sylbenmaß so gut als keines, oder vielmehr schlimmer als keines; denn die Seele, die nun einmal darauf gebracht ist ein bestimmtes Maß und Verhältniß zu suchen, hat ohne Unterlaß den Verdruß, an Schwierigkeiten zu stoßen und ihre Erwartung getäuscht zu finden. Wiederum erregt ein zu eintöniges Sylbenmaß, das zu wenig Mannichfaltigkeit zuläßt, Langeweile und Ekel. ─ In der That wird also die Seele durch das Sylbenmaß an ihren Vorstellungen bereichert, selbst indem der zu große lästige Reichthum, den sie nicht zu nutzen wußte, vermindert wird: und eben dies ist der Grund, warum das Sylbenmaß Vergnügen erweckt, zur Aufmerksamkeit reizt, und dem Gedächtniß Erleichterung verschafft.   Die zwei übrigen angegebenen Vortheile des Sylbenmaßes sind auf unsern Begriff von der Lebhaftigkeit noch leichter zurückzubringen. Indem das Sylbenmaß malt, klärt es mehr Bestimmungen des Gegenstandes auf, die nun zur Vorstellung kommen; und indem es zum Ausdruck der Empfindungen dient, giebt es uns, außer der Vorstellung des Gegenstandes, noch die von dem Zustand der Seele die ihn sich vorstellt. ─ Wie, wenn wir hier auf dem Wege wären, die oben nur angegebene Frage: warum das Sylbenmaß Empfindung ausdrücke, kurz und befriedigend auszumachen? Die Antwort lag uns, wie das oft der Fall ist, ohne unser Wissen ganz nahe; denn in der That geschieht dies nur durch eine Art Malerei: durch eine Nachahmung des Ganges, den die Ideen in der Seele nehmen. Sowie bei heftigen Leidenschaften, z. B. im Zorne, die Ideen einen sehr raschen ungestümen Lauf nehmen; wie bei feierlichen Empfindungen des Großen und Erhabnen bei jedem Gedanken verweilt wird, um ihn erst zu fassen und auszudenken; wie bei zärtlichen lieblichen Empfindungen mit einem mittlern Grade der Geschwindigkeit von Idee zu Idee sanft fortgeschritten wird: so wird auch durch die Beschaffenheit der Füße, durch die Länge oder Kürze der Zeilen und Strophen, durch die Stellung der Einschnitte und den Bau der poetischen Perioden, ein ähnlicher Gang in die Rede gebracht; und die Seele bekömmt das nehmliche der abgezweckten Empfindung zusagende Maß von Geschwindigkeit in die Reihe ihrer Vorstellungen, das sie durch das Ohr in den Tönen findet. Ein weiteres Nachdenken wird hier eine erstaunlich mannichfaltige Übereinstimmung entdecken lehren; obgleich freilich der Ausdruck den das bloße Sylbenmaß giebt, eben wie der musikalische bei Ermangelung eines Textes, noch immer ziemlich unbestimmt und allgemein bleibt.   Es kann nicht ganz am unrechten Ort scheinen, daß wir hier auf das Sylbenmaß zurückgekommen sind: denn da der Grundstoff des Lehrgedichts nicht eigentlich poetisch, da der Boden, so zu reden, dürre und unfruchtbar ist, und erst durch Cultur und Industrie reizend und ergiebig gemacht wird; so kann diese Dichtungsart in der That das Sylbenmaß, sowie alle andere Hülfsmittel zur Bewirkung größerer Lebhaftigkeit, weniger als andere entbehren.   Aus dem Bishergesagten müssen sich alle Regeln für die Lehrgedichte herleiten lassen: die für die Wahl der Materie, und die für die Behandlung derselben.   Überall nicht zu wählen sind solche Wahrheiten, die ohne ihre trockne Allgemeinheit gar nicht können gefafst, ohne die langsame philosophische Methode, die von Merkmaal zu Merkmaal, von Satz zu Satz bedächtig fortschreitet, gar nicht können erörtert und zur Überzeugung gebracht werden. Die Elemente des Enklides, die Wahrheiten der Logik, der Ontologie, der allgemeinen Naturlehre, sind von dieser Art; und Luerez ist also mit Recht getadelt worden, daß er einen zu metaphysischen Stoff genommen hat, bei dem sich sein wirklich dichterisches Genie fast nicht anders, als in Nebensachen und gelegentlichen Ausschweifungen zeigen konnte.   Vorzüglich zu wählen sind die weniger abstracten, vom Sinnlichen weniger entlegenen Wahrheiten, die sowohl in ihrem Innern an Ideen reichhaltiger sind, als auch eher das Leben und die Schönheiten annehmen, die der Dichter durch seinen Vortrag hinzuthut. Ein Gegenstand ohne alle natürliche Schönheit verschmäht die Bemühungen der Kunst; aber wenn schon Reize da sind, so kann die Kunst sie wirksamer und hervorstechender machen. Dies ist der Fall mit den Regeln verschiedner sowohl der nützlichen als der schönen Künste, die daher auch von alten und neuen Lehrdichtern fleißig und mit Erfolg sind bearbeitet worden. Den ersten Rang aber verdienen diejenigen Wahrheiten, die mit jenen Vortheilen noch diesen verbinden, daß ihre Erkenntniß und Ausübung zu unserer höchsten innern Glückseligkeit unentbehrlich ist, und daß sich diese ihre Beziehung auf unsre Glückseligkeit unmittelbar ankündigt. Dies ist der Vorzug der moralischen Wahrheiten aus der Philosophie des Lebens, sowie auch der großen philosophischen Wahrheiten von Gott, Vorsehung, Unsterblichkeit der Seele, u. s. f. ─ In neuern Zeiten, wo durch die Bemühungen der Weltweisen diese wichtigen Gegenstände in ein so helles Licht gesetzt worden sind, hat man daher eben sie am öftersten bearbeitet, und hat darüber fast ganz die sogenannten Kunstgedichte vernachläßigt, die freilich nie ein so großes und so allgemeines Interesse erwecken. Doch hat diese Vernachläßigung ohne Zweifel noch andre mehr subjective Ursachen; denn die Dichter leben heutigestags in zu weniger Gemeinschaft mit Arbeitern und Künstlern, als daß die Begriffe von den Verrichtungen derselben ihnen hinlänglich geläufig und interessant werden könnten.   Auch das läßt sich hier noch bemerken: daß es rathsamer ist, Materien von mäßigem Umfang, einzelne Wahrheiten und Betrachtungen, als ganze Theorieen und Systeme zu wählen. Wenn auch der Dichter unter der Verschiedenheit der Materien nicht erliegt, worunter so viele der poetischen Behandlung unfähig seyn müssen; so wird er schon unter der zu großen Menge derselben erliegen. Er wird es unmöglich finden, sie alle unter Einen poetischen Gesichtspunct zu sammeln, sie an einem andern als dem systematischen Faden zu reihen, und ihnen sämmtlich die hinlängliche Ausbildung zu geben. Man sieht ein Beispiel an Lichtwehrs „Recht der Vernunft,“ das schwerlich einen Leser finden wird, der Geduld hätte es auszulesen. Dusch hat die sämmtlichen „Wissenschaften“ besungen; aber er hat sie besungen, ohne sie vortragen zu wollen. Nur hie und da hat er eine wichtige Hauptwahrheit, die ganz vorzüglich zu seinem Zweck gehörte: die Wissenschaften als Wohlthäterinnen des menschlichen Geschlechts zu schildern, herausgehoben, und sie als eigentlich didaktischer Dichter behandelt.   Noch eine andere Frage ist: ob es dem Dichter vergönnt sei, statt des Wahren auch Irrthümer, z. B. statt der Leibnitzischen Begriffe von Gott und Vorsehung, die Lucrezischen, vorzutragen? ─ Wenn die Materien für die Ruhe und Glückseligkeit des Menschen wichtig sind, so kann über die moralische Verbindlichkeit wohl keine Frage seyn; aber sollte es außer der moralischen nicht auch eine poetische geben? Mit andern Worten: Sollten nicht, wenn alles Übrige gleich ist, die wahrsten Vorstellungen auch die lebhaftesten seyn? ─ Ohne Zweifel wird es hier vorzüglich auf den eigenen Glauben des Lesers ankommen, oder wenn er selbst die Materie noch nicht durchdacht hat, auf die Dispositionen seines Kopfes, sich mehr für die eine als für die andere Meinung zu erklären. Und da ist es nun schon von selbst entschieden, welche Gedanken von größerer poetischen Wirkung seyn werden: die, gegen welche sein Verstand sich auflehnt? oder die, welchen er willig mit allen seinen Ideen entgegenkömmt, und sich des Lichts, der Stärke, der Würde freut, die der Dichter ihnen zu geben wußte? Ist besonders die Wahrheit aus dem Verstande ins Herz übergegangen; wird durch den entgegenstehenden Irrthum die Empfindung empört: so handelt der Dichter vollends unweise, wenn er sein Genie an den Irrthum verschwendet. ─ Im Allgemeinen also läßt sich wenigstens das bestimmen: daß der Dichter, schon als Dichter, die bessern, um ihrer einleuchtenden Wahrheit willen allgemeiner anerkannten, und mit mehr Ideen zusammenstimmenden, Grundsätze vorziehen muß, und um desto mehr vorziehen muß, je mehr sie das Herz interessiren. Doch bleibt dabei immer vorausgesetzt: wenn alles Übrige gleich ist.   Hat der Dichter seine Materie wohl gewählt, so kömmt es nun darauf an, daß er sie auch wohl zu bearbeiten wisse. Er wird sie aber um desto besser bearbeiten, je mehr und je interessantere Gedanken, von je mehr Mannichfaltigkeit und je größerm innern Reichthume er daraus hervorzieht; je mehr er alles zu Hohe, Schwere, Gesuchte vermeidet; je anschaulich richtiger er alle Hauptideen untereinander, alle untergeordnete Ideen mit den Hauptideen zusammenhängt; je mehr er sie so ordnet, wie sie einander die meiste Klarheit, das meiste Gewicht und Leben ertheilen; je mehr er die wesentlichen Theile heraushebt, die unwesentlichen im Schatten hält; je vollständiger, schneller, unfehlbarer, er durch den Ausdruck auf den jedesmaligen Gedanken hinführt; je größere Richtigkeit er in alle von ihm angegebene Contraste und Ähnlichkeiten bringt; je mehr er Übereinstimmung zwischen dem Gegenstande selbst und der Art und Weise erkennen läßt, wie er davon gerührt wird; je besser er nach dieser Absicht die Wörter, die Bilder, und das Mechanische wählt; in je größere Harmonie er alle einzelne Töne mit dem Hauptton, oder deutlicher, alle besondere Eindrücke mit dem allgemeinen Eindruck des ganzen Werkes stimmt. ─ Es ist unnöthig, die hier zusammengedrängten Regeln für Gedanken, Ausdruck und Verbindung weitläuftig darzuthun, da sie sich so äußerst leicht aus dem festgesetzten Begriff der Lebhaftigkeit entwickeln lassen. Man erinnre sich nur immer der beiden Haupterfordernisse derselben: daß die Seele vollauf, und daß sie mit Leichtigkeit soll beschäftiget werden.   Den besten Beweis für die Wahrheit dieser Regeln wird man in dem unangenehmen Eindrucke finden, den die entgegengesetzten Fehler machen. Man versuche, die „Gräber“ von Creuz, oder die Gottschedischen und Trillerischen. Gedichte zu lesen: und man wird jene bald wegen der Armuth an Gedanken, des Mangels an allem richtigen Zusammenhange, des unnatürlichen, räthselhaften, oft niedrigen und oft wieder schwülstigen Ausdrucks; diese wegen ihrer Kälte, Trockenheit, Plattheit und Weitschweifigkeit aus den Händen werfen. ─ Einzelne Beispiele zu jeder Art von Fehlern aufzusuchen, wäre zu mühsam; man sehe also in folgender Stelle, wo nicht alle, doch die meisten Fehler vereinigt: Likör und Knaster her! ruft Gasto bei der Nacht, Da er, der Tage müd', aus Ampeln Sonnen macht. Recht matt von lauter Lust, sucht er sein ganz Erquicken Bloß in der Trägheit Arm, nur bloß in seinem Rücken. Noch denkt Hetrurien an diesen milden Gast: Der Saal war seine Welt; das Bette sein Pallast. Der war der letzte Fürst vom Mediceer Hause. Er war; denn daß er war, seh ich an Schlaf und Schmause. ─ So nagt kein bittrer Gram die Lebenssehnen ab. Gott, der ja den Geschmack an guten Speisen gab; O, dem ist man hier gut! Nicht, daß Vernunft und Liebe, Durch Dankbarkeit gewarnt, zur hohen Ehrfurcht triebe: O nein! so läßt sichs erst vollkommen ruhig seyn. Reu heuchelt sich doch gern in jede Lästrung ein, Wenn Freunde, witzig gnug sich nimmer lang zu kränken, Bei unsrer Fröhlichkeit auch ihre Lust uns schenken; Wenn nach dem reichen Mahl der Karten Zeitvertreib, Und nach Musik und Wein ein angenehmes Weib, Zuletzt ein füßer Schlaf sich nimmer lang verweilen, Die ganze Lebenszeit stets wechselnd einzutheilen: Da kehrt der Gram so gern, wie Wolf bei Langen ein. Der Schlaftrunk steter Lust verdrängt die mindste Pein. Hier wird kein männlich Ach! zum Vater edler Thränen; So viel weiß ein Castrat von Töchtern und von Söhnen, Wenn das noch ferne Grab dem Eilften Ludwig droht, Lebt jener recht vergnügt, wie Grammont, sich zu Tod, Und kann mit größerm Recht, als Sichens Dido, sagen: Nun hab' ich recht gelebt! Der Lehnsherr seiner Tagen Kommt eh nicht, bis er kommt, und schreckt ihn nicht vorab. Das Grab wird seine Welt; sonst war die Welt sein Grab. Doch heißt das auch gelebt, zum Glück die Trägheit wählen? Und quälen die sich nicht, die sich im Bette quälen? Withof.   Die oben zusammengefaßten Regeln ergaben sich aus dem allgemeinen Begriffe eines Gedichts, und waren also Gesetze, nicht für den Lehrdichter allein, sondern überhaupt für den Dichter. Man sehe hier noch einige bestimmtere Anwendungen dieser Regeln, die für den erstern besonders gelten.   Der Lehrdichter kann zu viel Dichter werden: wenn er die philosophischen Begriffe mit den Blumen seiner Kunst nicht bestreut, sondern verdeckt, sie nicht schmückt, sondern verschleiert; wenn er seine Bilder, Gleichnisse, Allegorieen zu viel und mit zu fremden, zu unwesentlichen Zügen ausmalt; wenn er in einem zu gleichförmig angespannten, zu lyrischen oder zu declamatorischen Tone aushält; wenn er zu viele oder zu weitläuftige Episoden einstreut, den Zusammenhang der Gedanken zerreißt, und das Interesse theilt, das er auf den Wahrheiten, als seinem Hauptgegenstande, zusammenhalten sollte. Er hüte sich also vor zu langen und zu räthselhaften Allegorieen, gebrauche die Zieraten seiner Kunst mit Bescheidenheit und mit Weisheit, gebe seinem Ton mannichfaltige Abwechselung, und mache sich, eh er arbeitet, einen allgemeinen Entwurf seines Werks, der ihn überall an ein richtiges Verhältniß zum Ganzen erinnere. Zu sagen, daß ohne öftere und weitläuftige Ausschweifungen die Materie zu trocken seyn würde, das hieße, den einen Fehler durch den andern rechtfertigen; denn es wäre ein Geständniß, daß er eine unglückliche Wahl getroffen habe.   Der Lehrdichter kann aber auch zu viel Philosoph werden: wenn er der Wissenschaft nicht bloß, was er einzig sollte, die Materie, sondern zugleich die Behandlungsart, und die Sprache abborgt. Das heißt: wenn er deutliche und ausführliche Begriffe sucht, wo er sich mit klaren und unausführlichen begnügen; erklärt, wo er beschreiben sollte; wenn er sich mit abstracten Wörtern ausdrückt, wo er besser individuelle Namen, Bilder, Metaphern setzte; wenn er, statt des leichten und gefälligen Zusammenhangs, wo eins aus dem andern hervorkömmt, eins dem andern die Hand beut, seine Materien in eine ängstliche Ordnung zwingt, die immer auf logische Eintheilungen hinweist; wenn er, um seinen Beweis zu führen, auf trockne allgemeine Grundsätze zurückgeht, statt daß er die Sache bloß vor den allgemeinen Menschenverstand bringen, und Übereinstimmung und Widerspruch mehr unmittelbar sollte anschauen lassen. ─ Beweise, die ohne Subtilität und Trockenheit durchaus nicht vorzutragen sind, muß der Dichter gänzlich verwerfen, auch wenn sie die bündigern und überzeugendern wären; er muß zusrieden seyn, wenn er sich des allgemeinen Wahrheitsgefühls versichert hat, ohne die darin versteckt liegenden Grundsätze einzeln herauswickeln zu wollen; er muß überhaupt weniger aus Begriffen, als durch Erfahrungen, Inductionen, Analogieen, durch auffallende Schilderungen des Guten, Schönen, Übereinstimmenden, oder des Thörichten, Hassenswürdigen, Abgeschmackten, seinen Beweis führen. Auch muß er nie mit der kalten ruhigen Fassung des Untersuchers; er muß mit innrer lebendiger Überzeugung, in einem nachdrücklichen, selbst leidenschaftlichen Tone reden. ─ Opitz widerlegt durch Analogie den Einwurf wider das Daseyn Gottes, der von der Unbegreiflichkeit desselben hergenommen ist: Ich steh es gerne zu, ja! Aber auch den Thieren Ists fremde: wie ein Mensch die Städt' und Land regieren, Der Sonnen Zier ersehn, die Sterne messen kann, Und segeln weit und breit durch eine nasse Bahn. Nun dann der Mensch so hoch mit seinen Gaben schwebet Weit über alles dies, was sonst hier unten lebet; So muß er denken auch, daß, der ihn so erhöht, Ihm weiter noch, als er den Thieren, oben steht. Auch Dusch beweist durch eine sehr poetische Analogie, daß ein System, welches auf falsche Grundsätze gebaut ist, in sich selbst zusammenfalle: Wie steht Venedig fest, seit grauen Zeiten her, In Wolken mit der Stirn, und mit dem Fuß im Meer! Kann auch ein Königsschloß, gebaut auf falschen Wellen, Sein tausendjährig Haupt dem Sturm entgegenstellen; Wenn nicht die weise Kunst zuerst den Grund geschützt, Und was das Meer nicht trägt, mit Pfeilern unterstützt? Du aber willst noch mehr als leichten Wogen trauen, O Thor! und ein System auf Luft und Meinung bauen? Eben dieser Dichter beweist durch Induction, daß die sinnlichen Eindrücke bei allen Menschen die nehmlichen sind: Was weiß der Tartar sieht, sieht auch der Lappe weiß; Das Feuer macht am Belt und macht am Indus heiß. Der Ort verändert nicht die Gleichheit des Gefühles, Ich sei am Ladoga, ich sei am Strand des Ni2es. Kein richtiges Organ empfindet in dem Duft Der Rosen den Gestank aus einer Todtengruft; Und kein gesundes Ohr, mögt' es auch zehnmal wollen, Hört im Geräusch des Bachs den Ton des Donners rollen.   Die sogenannten apagogischen Beweise sind von einer besonders poetischen Wirkung; denn sie zeigen in der Gegenmeinung eine Abgeschmacktheit, die Niemand gerne gedacht haben will. Auch hievon sehe man ein vortreffliches Beispiel von dem nehmlichen Dichter: Der Aberglaube zürnt im Dunkel heil'ger Wetter, Und schleudert Fluch und Bann auf Denker mehr, als Spötter. Doch würde, gleich entbrannt, der Eifrer, der am Rhein Dem Clemens widersprach, am Po sein Streiter seyn. „Nie, ruft er, darf Vernunft zu prüfen sich erkühnen. „Der Glaub' herrscht unumschränkt; die Magd, Vernunft, muß dienen.“ So spricht des heil'gen Stuhls furchtsamer Unterthan; Und spricht nicht so der Türk für seinen Alkoran? Wer ohne Prüfung glaubt, gesetzt auch wahre Lehren; Ist der nicht blind genug, auf irrige zu schwören? Haller in seiner „Falschheit menschlicher Tugenden“ führt lauter sehr dichterische Beweise, wovon wir hier nur einen der schönsten zum Beispiele geben: Wann in Iberien ein ewiges Gelübd Mit Ketten von Demant ein armes Kind umgiebt, Wann die geweihte Braut ihr Schwanenlied gesungen, Und die gerühmte Zell die Beute nun verschlungen; Wie jauchzet nicht das Volk, und ruft was rufen kann: Das Weib hört auf zu seyn, der Engel fängt schon an! Ja stoßt, es ist es werth, in pralende Trompeten! Verbergt der Tempel Wand mit persischen Tapeten! Euch ist ein Glück geschehn, dergleichen nie geschah; Die Welt verjüngt sich schon, die güldne Zeit ist nah! Gesetzt, daß ungefühlt in ihr die Jugend blühet, Und nur der Andacht Brand in ihren Adern glühet; Daß kein verstohlner Blick in die verlaßne Welt Mit sehnender Begier zu spät zurücke fällt; Daß immer die Vernunft der Sinnen Feuer kühlet, Und nur ihr eigner Arm die reine Brust befühlet; Gesetzt, was niemal war, daß Tugend wird aus Zwang: Was jauchzt das eitle Volk? Wen rühmt sein Lobgesang? Doch wohl, daß List und Geiz des Schöpfers Zweck verdrungen, Was er zum Lieben schuf, zur Witwenschaft gezwungen, Den vielleicht edlen Stamm, den er ihr zugedacht, Noch in der Blüth' erstickt und Helden umgebracht; Daß ein verführtes Kind, in dem erwählten Orden, Sich selbst zur Überlast und Andern unnütz worden? O Ihr, die die Natur auf beßre Wege weis't; Was heißt der Himmel dann, wenn er nicht lieben heißt? Ist ein Gesetz gerecht, das die Natur verdammet? Und ist der Brand nicht rein, wann sie uns selbst entflammet? Was soll der zarte Leib, der Glieder holde Pracht? Ist Alles nicht für uns und wir für sie gemacht? Den Reiz, der Weise zwingt, dem nichts kann widerstreben, Der Schönheit ewig Recht; wer hat es ihr gegeben? Des Himmels erst Gebot hat keusche Huld geweiht, Und seines Zornes Pfand war die Unfruchtbarkeit. Sind dann die Tugenden den Tugenden entgegen? Der alten Kirche Fluch wird, bei der neuen, Segen?   Alles was bisher entwickelt und vorgeschrieben worden, betraf das Lehrgedicht bloß im Allgemeinen, und ohne Rücksicht auf die Art der Einkleidung betrachtet. Jetzt ist noch die Frage von den hier anwendbaren Formen, und von den möglichen Mischungen dieser Gattung mit andern Dichtungsarten, zu untersuchen.   Daß der Vortrag der Wahrheiten gesprächweise geschehen könne, erhellet aus der oben angeführten Stelle von Dusch, und noch deutlicher aus dem dritten „Versuche“ dieses Dichters „über die Vernunft,“ der von Anfang bis zu Ende dialogirt ist. Es ist sichtbar, daß diese Form, wo sie sich anwenden läßt, dem Vortrage ein großes Leben geben müsse; denn sie bringt bei der Verschiedenheit der Köpfe, die wir hier voraussetzen müssen, die Gedanken überall in Gegensatz, und giebt der Rede beides mehr Abänderung und mehr Leidenschaftliches. ─ Noch ein größeres Interesse wird entstehen, wenn die Unterredner ihre Meinungen nicht schon festgesetzt haben, sich nicht bloß ihre schon sonst gemachten Betrachtungen mittheilen, sondern eben itzt, während des Gesprächs, alle ihre Kräfte zur Untersuchung der Wahrheit aufbieten. Indeß ist zur Bewirkung dieses Interesse die dialogische Form nicht durchaus unentbehrlich; es giebt philosophische Selbstgespräche, wo ein einziger denkender Geist, es sei der Dichter selbst, oder ein anderer von ihm fingirter Charakter, die Betrachtung vor unsern Augen anfängt und endigt. Man sehe, wenn man Beispiele wünscht, verschiedene Stücke in Gleims „Halladat“; oder man denke sich folgenden philosophischen Monolog vollendet: Eine der schwermuthvollern und zu empfindlichen Seelen. Die, des Guten das sie empfingen, schnelle Vergesser, Und Vergrößrer oder auch gar Erschaffer des Elends, Dies nur denken, in dies nur mit grübelndem Ernst sich vertiefen; Beor, hatte sich von den Menschen gesondert, und lebte In der Einsamkeit. Wie der Freudiggeschäftige gerne Mit dem kommenden Tag' aufwacht, so scheucht' er den Schlummer Gern um Mitternacht. An der Hütte fernem Eingang Nährt' er ein wenig Schimmer, wie Todtenlampen in Gräbern. Jetzo hatt' er sein Brot gegessen, sein Wasser getrunken, Sich zu dem Grübeln gestärkt! ─ So komm dahin denn wieder, Wo du so oft schon warest, hinab, zerrüttete Seele! Muß nicht Elend seyn? und müssens nicht Einige tragen? Ja, es muß, weil es ist! Und müßtens die Himmel nicht tragen; Lägs nicht auf uns? Denn da muß es seyn; sonst wärs nicht geworden! Aber warum? ─ So oft ich frag', antwortet mir Keiner, Weder im Himmel, und weder auf Erden; und so verschwindet Mir der Trost, daß es seyn muß! Allein bei dem wankenden Troste Darf mein belastetes Herz doch ringen nach dieser Antwort: Warum sondert es einige Menschen sich aus? und faßt sie Eisern an, und hebet sie hoch aus dem Strom' und trifft sie Mit zermalmendem Arm? mich, mit zermalmendem Arme? Ward ich nicht blind geboren? und lebt', ein Blinder, so lange? Zwar gab Er dem Auge den Tag, u. s. w. Klopstock.   Wenn Beor in diesem Tone fortführe und den Ausgang aus seinen Zweifeln fände, so hätten wir die Idee eines sehr dichterisch behandelten Selbstgesprächs; es kömmt ein anderer Unterredner dazwischen, und wir erhalten die Idee eines sehr dichterisch behandelten Dialogs.   Betrachtet man die Stelle noch einmal, oder besser, liest man sie im „Messias“ zu Ende; so erkennt man darin die Möglichkeit einer andern sehr interessanten Einkleidungsart des Lehrgedichts, die wir zwar schon oben an der ersten Hallerischen Stelle, welche wir zur Entwickelung des Begriffs der Lebhaftigkeit brauchten, bemerken konnten. Haller schilderte hier sich selbst, Klopstock schildert den erdichteteten Charakter des Beor, in einer sehr rührenden Situation; beide lassen die allgemeinen Betrachtungen sich eben aus dieser Situation entspinnen, und ertheilen den Wahrheiten ein ausnehmendes Leben, indem sie solche mit der innigsten individuellen Anwendung denken. Wie, wenn sich diese Mischung der Gattungen, des didaktischen und des beschreibenden oder handelnden Gedichts, noch weiter treiben; wenn sich durch die Reihe von Betrachtungen eine Reihe von Situationen hindurchschlingen ließe, sodaß noch immer das Hauptinteresse nicht sowohl auf die Geschichte als auf die Wahrheiten fiele, und das Gedicht also ein wahres didaktisches bliebe? ─ Die hier angegebene Idee ist wirklich schon mehrmal ausgeführt; aber vielleicht noch nie so reizend, als in „Musarion oder der Philosophie der Grazien“ von Wieland. Die Geschichte selbst bedeutet hier äußerst wenig; sie ist in der That nur die Form, das Vehiculum gleichsam für die Reihe der philosophischen Ideen, die das eigentlich Wesentliche des Werks sind. Einige dieser Ideen legt der Dichter in die Schilderungen der Charaktere, Sitten, und Handlungen selbst, die er in einem halb erzählenden, halb räsonnirenden Tone ausführt; andere trägt er durch den Mund seiner unterredenden Personen, hauptsächlich der Musarion, vor: und Alles zusammen macht am Ende ein völliges, ausführliches System über die Glückseligkeit, mit dichterischen Beweisen und Widerlegungen; ein System, das freilich nicht so ganz richtig gedacht, aber dagegen desto anmuthiger und hinreißender geschrieben ist. Wir müssen uns hier, obgleich ungern, mit der Anführung einiger Stellen begnügen. Aus dem ersten Buche. Der großen Wahrheit voll, daß Alles eitel sei, Womit der Mensch in seinen Frühlingsjahren, Berauscht von süßer Raserei, Leichtsinnig, lüstern, rasch und unerfahren, In seinem Paradies von Rosen und Jesmin Ein kleiner Gott sich dünkt; ─ setzt Phanias, der Weise, Wie Herkules sich auf den Scheidweg hin (Zum Unglück nur zu spät), und sinnt der schweren Reise Des Lebens nach. ─ Was soll, was kann er thun? Es ist so süß, auf Flaum und Rosenblättern Im Arm der Wollust sich vergöttern, Und nur vom Übermaß der Freuden auszuruhn! Es ist so unbequem, den Dornenpfad zu klettern! Was thätet Ihr? ─ Hier ist, wie Vielen däucht, Das Wählen schwer; dem Phanias wars leicht. Er sieht die schöne Ungetreue, Die Wollust ─ schön, er fühlts ─, doch nicht mehr schön für ihn, Zu jüngern Günstlingen aus seinen Armen fliehn; Die Scherz- und Liebesgötter fliehn Der Göttinn nach, verlassen lachend ihn, Und schicken ihm zum Zeitvertreib die Reue. Dagegen winken ihm aus ihrem Heiligthum Die Tugend, und ihr Sohn, der Ruhm, Und zeigen ihm den edlen Weg der Ehren. Der neue Herkules sieht sich noch einmal um, Ob seine Flüchtlinge vielleicht noch wiederkehren? Sie kehren ─ ach! nicht wieder um; Er siehts, und faßt den Schluß, der Helden Zahl zu mehren.  Der Helden Zahl? ─ Hier steht er an; Der kühne Vorsatz bleibt in neuen Zweifeln schweben. Zwar ist es schön, auf lorbeervoller Bahn Zum Rang der Göttlichen, die in der Nachwelt leben, Zu einem Platz im Sternenplan Und im Plutarch sich zu erheben; Schön, sich der trägen Ruh entziehn, Gefahren suchen, niemal fliehn, Auf edle Abenteuer ziehn, Und die gerächte Welt mit Riesenblute färben; Schön, süß sogar (zum mindsten singet so Ein Dichter, welcher selbst beim ersten Anlaß floh), Süß ists und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Doch, auch die Weisheit kann Unsterblichkeit erwerben. Wie prächtig klingts, den fesselfreien Geist Im reinen Quell des Lichts von seinen Flecken waschen; Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist (Nie, oder Göttern nur), entkleidet überraschen; Der Schöpfung Grundriß übersehn, Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn; Vermuthungen auf stolze Schlüsse thürmen, Und Titans Söhnen gleich die Geisterwelt erstürmen. Wie glorreich! Welche Lust! ─ Nennt immer den beglückt Und frei und groß, den Mann, der nie gezittert, Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht entzückt, Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert, Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbeern schmückt, Wie eine Braut an seinen Busen drückt! Noch größer, glücklicher ist der mit Recht zu nennen, Den, von Minervens Schild bedeckt, Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube schreckt; Den Flammen die auf Leinwand brennen, Und Styx und Acheron nicht blässer machen können; Der ohne Furcht Kometen brennen sieht, Der höh're Geister nicht mit Taschenspiel bemüht, Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet, Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig findet.... Um wie viel mehr, als Helden, Weltbezwinger, Ist der ein Held, ein Halbgott, kaum geringer Als Jupiter, der tugendhaft zu seyn Sich kühn entschließt; dem Lust kein Gut, und Pein Kein Übel ist; zu groß, sich zu beklagen, Zu weise, sich zu freu'n; der jede Leidenschaft Gefesselt an der Tugend Wagen Befestigt hat, und im Triumphe führt; Den alles Gold der Inden nicht verführt; Den nur sein eigener, kein fremder Beifall rührt: Kurz, der in Phalaris durchglühtem Stier verdärbe, Eh er ein Diadem in Phrynens Arm erwärbe!... Aus dem zweiten Buche. ─ ─ Das Schöne kann allein Der Gegenstand von unsrer Liebe seyn. Die grosse Kunst ist nur, vom Stoff es abzuscheiden. Der Weise fühlt. Dies bleibt ihm stets gemein Mit allen andern Erdensöhnen. Doch diese stürzen sich, vom körperlichen Schönen Geblendet, in den Schlamm der Sinnlichkeit hinein; Indeß wir uns daran, als einem Wiederschein, Des Urbilds Anschaun selbst zu tragen angewöhnen. Dies ists, was ein Adept in allem Schönen sieht, Was in der Sonn' ihm strahlt, und in der Rose blüht. Der Sinnen Sklave klebt, wie Vögel an der Stange, An einem Liljenhals, an einer Rosenwange; Der Weise sieht und liebt, im Schönen der Natur, Vom Unvergänglichen die abgedrückte Spur. Der Seele Fittig wächst in diesen geist'gen Strahlen, Die, aus dem Ursprungsquell des Lichts Ergossen, die Natur bis an den Rand des Nichts Mit fern nachahmenden, nicht eignen, Farben malen. Sie wächst, entfaltet sich, wagt immer höhern Flug, Und trinkt aus reinern Wollustbächen; Ihr thut nichts Sterbliches genug, Ja Götterlust kann einen Durst nicht schwächen, Den nur die Quelle stillt. So, meine Freunde, wird Was andre Sterblichen, aus Mangel Der hohen Scheidkunst, gleich der bunten Flieg' am Angel, Zu süßem Untergange kirrt; So wird es für den echten Weisen Ein Flügelpferd zu überird'schen Reisen. Auch die Musik, so roh und mangelhaft Sie unterm Monde bleibt (denn ihrer Zauberkraft Sich recht vollkommen zu belehren, Muß man, wie Scipio, die Sphären, Zum wenigsten im Traume, singen hören), Auch die Musik bezähmt die wilde Leidenschaft, Verfeinert das Gefühl, und schwellt die Seelenflügel; Sie stillt den Kummer, heilt die Milzsucht aus dem Grund, Und wirkt, zumal aus einem schönen Mund, Mehr Wunderding' als Salomonis Siegel... Aus dem dritten Buche. ─ „Doch ist vielleicht nichts mächtiger, die Seelen „Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Muth „Zu dieser Festigkeit zu stählen, „Die grossen Übeln trotzt und grosse Thaten thut; „Als eben dieser Satz, für den Kleanth „Zum Märtyrer sich trank. Die Herakliden, „Die Männer, die ihr Vaterland „Mehr als sich selbst geliebt, die Aristiden, „Die Phocions, und die Leonidas“ ─ Ruhmvolle Namen, gut! (ruft unser Mann) und waren Sie etwa Stoiker? ─ „Sie waren, Phanias, „Noch etwas mehr! Sie haben das erfahren, „Was Zeno speculirt; sie haben es gethan! „Warum hat Herkules Altäre? „Der Weg, den Prodikus nicht gehn, nur malen kann, „Den ging der Held.“ ─ Und wem gebührt davon die Ehre, Als der Natur, die ihn, und wer ihm gleicht, gebar Und auferzog, eh eine Stoa war? Ein Held wird nicht geformt; er wird geboren. ─ „So hat, weil der Natur der erste Preis gebührt, „Ein Plato alles Recht an Phocion verloren? „Die Kunst vollendet das, was die Natur skizzirt; „Die Blume, die im Feld sich unbemerkt verliert, „Wird durch des Gärtners Fleiß zum schönsten Kind der Floren.“ ─ Gesetzt, spricht Phanias, daß dieses richtig sei; So ist doch, was von Zahlen und Ideen Und Dingen, die kein Ohr gehört, kein Aug' gesehen, Theophron schwatzt, handgreiflich Traumerei. ─ „Und mit den nehmlichen Ideen „War doch Archytas einst ein wirklich großer Mann. „Auch Seelen dieser Art zeugt dann und wann, „Zwar sparsam, die Natur; man wird zum Geisterseher „Geboren, wie zum Held, wie zum Anakreon, „Wie Zeuxis zum Palet und Philipps Sohn zum Thron. „Und in der That, was hebt die Seele höher, „Was nährt die Tugend mehr? erweitert und verfeint „Des Herzens Triebe so, als glänzende Gedanken „Von unsers Daseyns Zweck? Der Weltbau ohne Schranken. „Unendlich Raum und Zeit; die Sonne die uns scheint, „Ein Funke nur von einer höhern Sonne; „Unsterblich unser Geist, Unsterblichen befreundt, „Und, ahmt er Göttern nach, bestimmt zu Götterwonne!“ ─  Bei allen Grazien! (ruft Phanias) Madam Wird mit der Zeit wohl auch die Sphären singen hören? Vor wenig Stunden gab Theophrons Wörterkram Den Stoff zum Spott. ─ „Der Mann; nicht seine Lehren! „Das Wahre nicht, obgleich, nach aller Schwärmer Art, „Mit Unsinn und Chimären wohl gepaart. „Nur diese trifft der Spott. Doch wir versteigen „Uns allzuhoch; ich wollte dir nur zeigen, „Daß dich dein Vorurtheil für dieses weise Paar „Nicht schamroth machen soll. Nichts war „Natürlicher in deiner schlimmen Lage. „Der Knospe gleich am kalten Märzentage, „Schrumpft, wenn des Glückes Sonnenschein „Sich ihr entzieht, die Seel' in sich hinein. „Entfiedert, nackt, von Allem ausgeleeret, „Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlseyn hielt; „Was Wunder, wenn sich ihr ein Lehrbegriff empfiehlt, „Der sie die Kunst, es zu entbehren, lehret? „Der ihr beweist: was nicht zu ihr gehöret, „Was sie verlieren kann, sei keinen Seufzer werth; „Ja, ihren Unmuth zu betrügen, „Aus der Entbchrung selbst ein künstliches Vergnügen „Ihr statt des wahren schafft? Was ist so angenehm „Für den gekränkten Stolz, als ein System, „Das uns gewöhnt, für Puppenwerk zu achten, „Was aufgehört, für uns ein Gut zu seyn? „Was, meinst du, bildete der Mann im Faß sich ein, „Der, groß genug, Monarchen zu verachten, „Von Philipps Sohn nichts bat, als freien Sonnenschein? „Noch mehr willkommen muß im Falle, den wir setzen, „Die Schwärmerei des Platonisten seyn, „Der das Geheimniß hat, die Freuden zu ersetzen, „Die Zeno nur entbehren lehrt; „Der, statt des thierischen verächtlichen Ergötzen „Der Sinnen, uns mit Götterspeise nährt. „Wir sehn mit ihm, aus leicht erstiegnen Höhen, „Auf diesen Erdenball, als einen Punct, herab; „Ein Schlag mit seinem Zauberstab „Heißt Welten um uns her, bei tausenden, entstehen. „Sinds gleich nur Welten aus Ideen, „So baut man sie so herrlich als man will; „Und steht einmal das Rad der äußern Sinne still: „Wer sagt uns, daß wir nicht im Traume wirklich sehen? „Ein Traum, der uns zum Gast der Götter macht, „Hat seinen Werth...“ ─   Die größern Erzählungen, die man, nach Art der Fabeldichter, auf die Erkenntniß allgemeiner Wahrheiten anlegt (wie z. B. die Marmontelschen sind), gehören nicht mehr zu der didaktischen, sondern zu der handelnden Gattung. Es ist vielleicht unnütz, alle Werke der Dichtkunst ganz genau classificiren zu wollen; wenn man es aber will, so ist dazu kein anderes Mittel, als daß man Acht gebe wo das Hauptinteresse hinfällt. In jenen größeren Erzählungen fällt dieses Hauptinteresse nicht mehr, wie in der Fabel, auf die allgemeine Wahrheit, sondern auf die Entwickelung des Schicksals der Personen, auf die Handlungen, die Begebenheiten. Sie sind also wenig, oder nichts mehr didaktisch, als es jede treue Schilderung menschlicher Charaktere, Sitten und Handlungsarten ist; denn jede solche Schilderung enthält einen Reichthum von Wahrheiten, und ist um desto vortrefflicher, je mehrere derselben und je leichter sie sich daraus abstrahiren lassen.   Wir haben hier nur einige Arten angegeben, wie das Lehrgedicht kann behandelt und mit andern Dichtungsarten verbunden werden. Es sind ihrer gewiß noch mehrere übrig; aber die Kritik muß sich nicht anmaßen wollen, alle Möglichkeiten zu erschöpfen und dem Genie die Hände zu binden. ENGEL'S THEORIE DER DICHTUNGSARTEN. ZWEITE ABTHEILUNG HAUPTSTÜCK 6─9 SECHSTES HAUPTSTÜCK. Von dem beschreibenden Gedicht. D er Dichter beschreibt, wenn er uns von irgend einem Gegenstand die Theile oder Merkmaale oder Veränderungen einzeln nach einander angiebt. ─ Wozu braucht er das aber? Warum nennt er uns nicht schlechtweg das Ganze, wenn nur die Sprache ein Wort dafür hat?   Zuerst kann es kommen, dass wir die Sache die das Wort andeutet, noch nie gesehn, nie erfahren haben. ─ Klopstock z. B. erdichtet ein Geschlecht von Menschen, die auf einer andern Erde leben und im Stande der Unschuld verharrt sind. Der Stammvater derselben erzählt ihnen von uns, die wir unsre Unschuld und mit ihr das Vorrecht der Unsterblichkeit verloren haben. Sterben ist für diese Glücklichen ein Wort ohne Bedeutung; und wenn also der Stammvater will, daß sie von dem Fürchterlichen der Sache gerührt werden, und ihren Vorzug vor uns empfinden sollen, so muß er ihnen durch Beschreibung einen Begriff davon machen: ─ ─ Dem Sterbenden brechen die Augen, und starren, Sehen nicht mehr. Ihm schwindet das Antlitz der Erd' und des Himmels Tief in die Nacht. Er hört nicht mehr die Stimme des Menschen, Noch die zärtliche Klage der Freundschaft. Er selbst kann nicht reden; Kaum mit bebender Zunge den bangen Abschied noch stammeln; Athmet tiefer herauf; und kalter ängstlicher Schweiß läuft Über sein Antlitz; das Herz schlägt langsam; dann stehts; dann stirbt er! Messias, Ges. 5.   Zweitens kann der Gegenstand den das Wort andeutet, zwar bekannt seyn; aber die Vorstellung davon ist in der Seele des Lesers nur im Ganzen klar: sie enthält zwar schon alle einzelne Merkmaale, aber sie enthält sie verworren und dunkel. Und wenn nun dem Dichter die klare Vorstellung des Ganzen zu seinem Zwecke nicht genügt; wenn es ihm auf die Beachtung gewisser besonderer Merkmaale ankömmt: was bleibt ihm übrig, als diese Merkmaale besonders anzugeben, und also eine Beschreibung zu machen? ─ So giebt uns Ramler in seiner Ode „der Triumph“ eine kurze Beschreibung von Frankreich: ─ Gallien, das an zwei Meeren thront, Dessen Fahnen und Wimpel Unter allen Himmeln wehn; nicht, als ob wir das nicht schon wüßten, sondern weil der Dichter will, daß wir unter den übrigen Merkmaalen gerade auf diese am meisten Acht haben sollen. Hörten wir bloß den Namen Frankreich, so mögten wir vielleicht eine ganz andre Seite desselben fassen; wir mögten uns, ganz gegen den itzigen Zweck des Dichters, darunter denken [geichfalls von Ramler ] ─ ─ das veramte Land, Wo der singende Winzer Seine Traube für Fremde preßt.   Drittens hat die Sprache für so wenige näher bestimmte Unterarten von Dingen besondere Wörter. Sie besteht fast ganz aus Zeichen sehr abstracter Begriffe, wie: Roß, Schwert, Baum, Strom u. s. w. Wenn also auch hier wieder der allgemeine Begriff der Gattung dem Dichter nicht hinlänglich scheint; wenn er will, daß wir uns speciellere Merkmaale mit den allgemeinen verbunden denken: was kann er thun, als diese speciellen Merkmaale besonders angeben, d. h. beschreiben? ─ So verbindet Kleist die Merkmaale des Stolzes, des Muths, der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit dem allgemeinen Begriffe des Rosses, damit wir nicht etwa auf die Vorstellung eines Donquischotischen Rosinante fallen: ─ Sein Roß war stolz, wie er; Es schien die Erde zu verachten: kaum Berührt' es sie mit leichten Füßen; schnob Und wieherte zu der Trompete Klang, Und foderte zum Kampf heraus, wie er.   Es giebt also, wie es scheint, einen dreifachen Gebrauch der Beschreibung. Entweder soll die Idee irgend eines unbekannten Ganzen durch die bekannten einzelnen Merkmaale erst hervorgebracht; oder in der schon vorhandenen Idee soll dieses und jenes Merkmaal nur besonders aufgeklärt und hervorgehoben; oder eine zu allgemeine soll durch nähere Bestimmung specieller gemacht werden. Dieser letzte Fall läßt sich auf die beiden ersten zurückbringen. Denn das was durch nähere Bestimmung des Allgemeinen herauskömmt, ist entweder eine unbekannte Sache: dann haben wir den ersten Fall; oder eine schon bekannte, wo die aufgezählten Merkmaale in der Vorstellung nur lebhafter werden: dann haben wir den zweiten Fall.   Die Frage ist nunmehr, welche von diesen beiden Absichten einer Beschreibung die Dichtkunst am besten erreichen, und auf welche sie sich also allein oder doch vorzüglich einlassen solle? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuvor einen Blick auf die Natur des Mittels werfen, durch welches die Dichtkunst einzig wirkt: ─ auf die Natur der Sprache.   Der Maler ahmt die sichtbaren Gegenstände durch Farben und Umrisse nach, und stellt sie uns unmittelbar vor die Augen. Der Schauspieler geht in seiner Action, z. B. durch alle merkliche zwischenliegende Momente vom Zustand des Wachens zum Zustand des Schlafes über, und giebt uns also, gleichfalls unmittelbar, die Vorstellung des Einschlafens. Dem Dichter stehn weder Linien, noch Farben, noch wirkliche Actionen zu Gebot; sein einziges Mittel, uns Gegenstände kennen zu lehren, sind Worte. Und auf welche Art geschieht es denn nun, daß wir durch Worte zu Vorstellungen gelangen?   Man lese die Klopstockische Beschreibung eines Sterbenden noch einmal, und man wird bald gewahr werden, daß es nicht, wie bei Gemälden und Actionen, durch wirkliche Nachahmung, wirkliche Darstellung geschehe. Einige einzelne Züge zwar dürften hievon auszunehmen seyn; denn z. B. die Wörter: Stammeln, Athmen, sind Zeichen die dem Bezeichneten ähnlich sind, oder kürzer, nachahmende Zeichen. Wir erhalten, wenn wir sie hören, nicht bloß eine Vorstellung im Verstande, sondern gewissermaßen die sinnliche Empfindung der Sache. ─ Wie weit erstreckt sich aber in der Sprache dieses Nachahmende der Zeichen? Wie viel wird man durch Worte nicht bloß andeuten, sondern ausdrücken, maien können? ─ Stammeln ist selbst eine Modification des Redens; Athmen geschieht durch eben das Werkzeug womit wir reden, und wird zum Reden nothwendig erfordert: kein Wunder also, daß sich die Veränderungen des Organs selbst durch das Organ sinnlich ausdrücken lassen. ─ Aber nicht bloß unsre eignen Laute und Töne: Röcheln, Gähnen, Lispeln, Hauchen u. s. w.; auch andre hörbare Gegenstände: Klatschen, Rollen, Wiehern, Knarren, können wir, bei der Biegsamkeit unsers Organs, dem Gehöre vernehmlich machen. Wann, vom Orcan gepeitscht, des Meeres Fluth... Sich wieder in den Himmel thürmt, und heult, Und bellt, und donnert ... Kleist. Tief unten brauset der Ton mit einer donnern- den Stimme Furcht und Entsetzen zum staunenden Ohr. Sowie ein wilder Orcan, in Höhlen des Harzes verschlossen, Die schallenden Felsen murmelnd durch brüllt. Zachariä.   Doch auch hiemit ist das Malerische der Sprache noch nicht erschöpft; denn nicht bloß das Wort Donner, auch das Wort Blitz hat etwas Ausdrückendes; und doch ist Blitz kein Gegenstand des Gehörs, sondern des Auges. Inwiefern wird aber auch hier die Sache nachgeahmt? Bloß nach der einzigen Eigenschaft der Geschwindigkeit, die eine Idee vermischten Ursprungs ist, welche wir durch hörbare sowohl als durch sichtbare Gegenstände erhalten. ─ Diese Gemeinschaft der Merkmaale ist in der Sprache die reichste Quelle des Malerischen, und bringt, mit Hülfe der Einbildungskraft, viele Gegenstände der andern Sinne, oft durch die feinsten und entferntesten Ähnlichkeiten, vor die Empfindung. ─ Daß die Zeichen der abstracten gemeinsamen Merkmaale selbst, wie Sanft, Rauh, Lieblich, etwas Ausdrückendes und Malerisches haben werden, läßt sich hieraus von selbst errathen. ─   Das was hier so eben von dem Malerischen einzelner Wörter gesagt worden ist, mit dem zusammengenommen, was noch im vorigen Hauptstück von dem Malerischen des Sylbenmaßes vorkam; bringen wir nun eine zwiefache nachahmende Harmonie heraus: die des Klanges oder des Tons, und die der Bewegung oder des Tactes. Wir nennen sie nachahmende Harmonie; zum Unterschiede von derjenigen, die den Wörtern und der Rede, ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung, zukömmt, und die man besser schlechthin Wohlklang nennt.   Daß die Harmonie der Bewegung nicht zu vernachlässigen sei, weil sie zum Zweck des Dichters ein Großes beiträgt, haben wir schon erinnert; und das Nehmliche erinnern wir nun auch von der Harmonie des Klanges. Man kann über die Mannichfaltigkeit und die Wirkung dieser Harmonie eine Menge unterhaltender und lehrreicher Beobachtungen machen; praktischen Nutzen aber wird man sich wenig davon versprechen dürfen, wenn man diese Beobachtungen in Regeln verwandelt. Das hingegen könnte sehr leicht der Erfolg seyn, daß man Dichter von nicht genug gebildetem Geschmacke zu sehr läppischen Spielereien dadurch verführte. ─ Die Sprache hat für sehr viele Gegenstände keine andre als solche Zeichen, die eine nähere oder entferntere Analogie mit dem Bezeichneten haben: die nachahmenden Töne für wirklich hörbare Gegenstände waren die erste Grundlage der Sprache; und Gemeinschaft der Merkmaale war eine der vornehmsten Veranlassungen, auch Gegenstände anderer Sinne durch solche und keine andre Wörter zu bezeichnen. Es liegt also, in Ansehung des Klanges, schon viel Malerisches in der Sprache selbst; und wenn der Dichter von seinem Gegenstande nur hinlänglich erwärmt ist, ihn nur lebendig genug vor der Phantasie hat, um den eigentlichsten, sinnlichsten, kräftigsten Ausdruck zu treffen: so wird er, ohne daran zu denken, zugleich den ähnlichsten und den malerischten treffen. ─ Das Nehmliche ungefähr gilt von der Harmonie der Bewegung, die man immer nur sehr mißlich nach Regeln, aber desto sichrer durch wahre Begeisterung findet.   Um zu unsrer Beschreibung des Sterbenden zurückzukehren; wie viel thut hier, zur Vorstellung der Sache, das Nachahmende in den Zeichen? ─ Thut es Alles? Oder auch nur etwas Beträchtliches? Gewiß nicht. ─ Es giebt in jeder Sprache, nur in der einen mehr, in der andern weniger, jene zwiefache nachahmende Harmonie; und doch können wir den Gegenstand des Gesprächs nicht einmal ungefähr und im Ganzen errathen, wenn wir eine uns völlig fremde Sprache hören. Die nachahmende Harmonie ist also bloß eine geringe Beihülfe für die Einbildungskraft dessen der die Sprache bereits versteht, der schon weiß, was für Begriffe man willkürlicher Weise an die Wörter und Redensarten derselben, vermittelst einer allgemeinen Verabredung, geknüpft hat. Dem Sinne des Gehörs wird dann nur das verabredete Zeichen gegeben; die Vorstellung selbst geschieht durch eine Operation der Einbildungskraft, die das Bild der Sache mit unglaublicher Geschwindigkeit wieder hervorbringt. Den Gegenstand durch das Wort erst bekannt machen: das kann man nur dann, wenn er selbst in dem Schalle des Worts enthalten ist; in allen andern Fällen wird man durch die Wörter an schon sonst bekannte Gegenstände bloß erinnert. ─ Eben darum mußte der Stammvater jener glücklichen Menschen, um ihnen eine Idee vom Sterben zu machen, einzelne Merkmaale, die ihnen bekannt waren, nach einander angeben, aus denen sie sich dann selbst das Bild des Ganzen, so gut wie möglich, zusammensetzen mogten.   Inwiefern aber, glauben wir, daß dieser Endzweck ihm habe gelingen können? Es scheint, wenn wir uns in die Stelle jener Unsterblichen versetzen, daß alle Kunst des Dichters uns doch nie zur Vorstellung der Erscheinung, sowie sie in der Natur ist, würde gebracht, daß wir, trotz seiner Beschreibung, so gut als gar keine Idee von der Sache würden erhalten haben. ─ Wie aber? Sind wir nicht, in Ansehung der Idee des Wiederauferstehens, gerade in eben dem Falle, worin jene Unschuldigen in Ansehung der Idee des Sterbens waren? Und doch wird niemand behaupten, daß folgende meisterhafte Beschreibung des nehmlichen Dichters die Phantasie leer lasse; vielmehr enthält sie das lebendigste und interessanteste Gemälde von der Welt: Als sie (Rahel) noch redet', erhub sich um ihren Fuß von dem Grabe Sanftaufwallender Duft, ein Wölkchen, wie etwa die Rose Oder ein Frühlingslaub einhüllt, das Silber herabträuft. Rahels Schimmer umzog den schwimmenden Duft mit Golde, Wie die Sonne den Saum der Abendwolke vergoldet. Und ihr Auge begleitet des Dustes Wallen. Sie sieht ihn, Anders um sich, und wieder anders gebildet, herumziehn, Steigen, sinken, zuletzt stets mehr sich nahen, und schimmern. Und sie bewundert den Tiefsinn der immerändernden Schöpfung, Unergründlich im Großen und unergründlich im Kleinen; Ohne zu wissen, wie nah der schwebende Duft ihr verwandt sei, Und wozu ihn bald des Allmächtigen Stimme, Versöhner! Deine Stimme, nun bald erschaffen werde. Sie neigt sich Über ihn, und betrachtet ihn, stets mit froherem Blicke. Mit gefalteten Händen, voll süßer namloser Freuden, Stand ihr Engel, und sah's. Jetzt scholl des Allmächtigen Stimme! Rahel sank. Ihr daucht' es, als ob sie in Thränen zerflösse, Sanft in Freudenthränen; hinab in schattende Thale Quölle; sich über ein wehendes, blumenvolles Gestade Leicht erhübe; dann neugeschaffen unter den Blumen Dieses Gestades, und seiner Düfte Gerüchen sich fände. Jetzt erwachte sie ganz! ─ ─ Ges. 11.   Beide Gemälde mit einander verglichen, was sollten sich noch für Unterschiede ergeben? ─ Durch jenes wollte der Stammvater seine Kinder das Phänomen des Sterbens kennen lehren, sowie es in der Natur wirklich da ist: und ob das möglich sei, daran zweifeln wir; durch dieses will der Dichter uns nicht zeigen, wie das Wiederauferstehen wirklich geschehe: er ist zufrieden, daß wir uns die Sache nur so denken wie sie aus den angegebenen Zügen herauskömmt; er hat Alles darauf eingerichtet, daß das Gemälde schon so seine ganze Wirkung thun muß; er überläßt es gern unsrer Phantasie, sich die Züge nach ihrer eigenen Art weiter auszumalen. In jenem ersten Gemälde, fehlt zu der Absicht an jedem Zuge etwas; in dem letztern, fehlt nichts. Der Duft, wovon hier der Dichter spricht, das Wallen, das Sinken, soll nur so ein Duft, ein Wallen, ein Sinken seyn, wie wir es schon kennen und wie wir uns selbst es näher bestimmen wollen; allein in jenem Gemälde ist das Starren des Auges, das Tieferheraufathmen, sind überhaupt alle angegebene Züge, eben weil ihnen die speciellen Bestimmungen fehlen, die sie beim Sterben annehmen, sehr unzulänglich, um sich das ganze Phänomen daraus zusammenzusetzen. Das Merkmaal des Tieferheraufathmens z. B. ist nur im Allgemeinen bekannt, nur insofern es auch in andern Fällen vorkömmt: nach der Erhitzung des Laufs, nach einer langen Abwesenheit des Geistes, nach dem ersten Zurückkommen von Empfindungen der Bewunderung und des Erstaunens. Aber in keinem dieser Fälle ist es das was es beim Sterben ist; und wer nun von der ganzen Erscheinung des Sterbens noch keinen Begriff hat: wie will man den das Eigenthümliche kennen lehren, das jedes einzelne Merkmaal darin annimmt? ─ ─ Das zu denken, Hat die Seele kein Bild, es zu sagen, nicht Worte die Sprache. Klopstock. Jeder Versuch, den man deswegen anstellte, würde eben so vergeblich seyn, als der Versuch eines ältern Dichters, das Besondere in dem Glanz der Abendröthe mit etwas anderm als dem eigenthümlichen Worte auszudrücken: Wenn man zerschmolznes Gold, recht da es blinket, sieht; Und es das holde Roth das auf den Rosen glüht, Mit jenem möglich wär zusammen zu vereinen: Würd es bei diesem Glanz wie falbe Schatten scheinen. Brockes.   Also kurz: Gegenstände und Erscheinungen von eigener unbekannter Art kann uns der Dichter unmöglich durch seine Beschreibung erst kennen lehren; und wenn er das nicht kann, so muß er es auch nicht wollen. Er muß Acht geben, daß er nur lauter Gegenstände von so einer Art male, die er als bekannt voraussetzen darf. Thut er dies nicht, so schreibt er uns eine Menge Züge hin, die für die Einbildungskraft vielleicht ganz und gar kein Resultat haben, von denen wir nicht wissen wie sie zusammenkommen, was sie eigentlich sagen wollen. Er wird es unmöglich finden, alle einzelne Züge zu erschöpfen, uns aller Verbindung und Mischung zu zeigen; und die, welche er angiebt, werden bloß abstracte Begriffe bleiben, schicklich für den Geschichtschreiber der Natur, der nur für den Verstand classificiren, aber nicht für den Dichter, der für die Einbildungskraft malen will. Will er dem Fehler abhelfen, und sie in Bildern vortragen, so macht er es in der That nur schlimmer: denn weil wir über die Puncte der Vergleichung im Dunkeln sind, weil wir das Ähnliche vom Unähnlichen, wegen ermangelnder Kenntniß der Sache selbst, nicht abzusondern wissen; so müssen nothwendig diese Bilder unsre Phantasie erst vollends verwirren und unterdrücken. ─ Die folgende Beschreibung gewisser Kräuterarten ist mit Recht getadelt worden, wenn auch nicht ganz aus dem rechten Grunde; sie hat kein Resultat für den der die Kräuter nicht kennt: und bei wie viel Lesern wird sich ihre Kenntniß voraussetzen lassen! Dort ragt das hohe Haupt am edlen Enziane Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin. Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne; Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn. Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen, Thürmt sich am Stengel auf, und krönt sein grau Gewand; Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen, Strahlt mit dem bunten Blitz von feuchtem Diamant. Gerechtestes Gesetz, daß Kraft sich Zier vermähle! In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.   Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen Nebel, Dem die Natur sein Blatt in Kreuze hingelegt; Die holde Blume zeigt die zwei vergoldten Schnäbel, Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt. Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet, Auf einen hellen Bach den grünen Wiederschein; Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur färbet, Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen ein, Smaragd und Rosen blühn auch auf zertretner Heide, Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide. Haller.   Überhaupt sei es hier erinnert, daß der Dichter sich nirgend besser als in der bekannten einheimischen Natur befindet. Er versteht seinen Vortheil sehr wenig, wenn er aus Begierde neu und original zu seyn, oder aus unzeitigem Kitzel gelehrt zu scheinen, seine Bilder, Gleichnisse, Metaphern, im unbekannten Alterthume oder in fremden Weltgegenden aufsucht. ─ Auch thut er immer besser, einen Gegenstand nach dem sinnlichen wirklichen Anblick in der Natur, als nach seiner verborgenern Beschaffenheit zu schildern, die man nur durch Kunst an ihm entdeckt, und die eben deswegen weniger allgemein bekannt, ja auch dem der sie weiß, vielleicht weniger gegenwärtig ist. Nachvollziehbarkeit der Metapher als kognitiver Aspekt Folgende Gellertsche Beschreibung der Fliegen, daß sie ─ ─ ─ oft aus finstern Augen sehn, Und oft den Kopf mit einem Beine halten, Und oft die flache Stirne falten, scheint daher dichterischer, als die Hagedornische der Mücke: Sie putzt ihr Panzerhemd, die Schuppen um den Leib, Und ihren Federbusch; läßt beide Flügel klingen, Zieht alle Schwerdter ein, die aus dem Rüssel dringen, Und hält sich für kein schlechtes Weib.   Wenn der Dichter, wie wir gesehen haben, nichts der Art nach Unbekanntes schildern kann, so kann er dagegen aus lauter schon bekannten Ideen neue Gegenstände und Erscheinungen zusammensetzen. Den Beweis davon hatten wir an der Auferstehung der Rahel. ─ Er kann aus Materialien, die in unsrer Phantasie schon vorhanden sind, jedes ihm beliebige Gebäude aufführen, wenn nur die Theile wirklich zusammengehn und keinen sinnlichen Widerspruch machen. Er kann uns z. B., wie in allen Mythologieen geschehen ist, eine Gestalt, oder wie in allen ländlichen Gedichten geschehen ist, eine Gegend, oder wie in allen romantischen Gedichten geschehen ist, ein Gebäude zusammensetzen, die wir uns zwar schon oft theilweise, aber noch nie in so einer Verbindung dachten. Dryaden sah ich, und mit spitzen   Ohren bockfüßige Faunen lauschen. Horaz nach Ramler. Abel schwebte daher, wie ein Frühlingsmorgen, in Purpur Und in Schimmer gekleidet. Klopstock, Ges. 11.    Hell war der Himmel: Nebel lag, wie ein See, im Thal; und die höchsten Hügel standen, Inseln gleich, daraus empor, mit ihren rauchen- den Hütten, und ihrem bunten herbstlichen Schmuck im Sonnenglanz. Gessner. Es ruht, umgränzt von Gärten und von Hainen, Auf Pfeilern von Smaragd des Gnomenkönigs Sitz, Statt Marmor und Porphyr erbaut aus Edelsteinen. Wieland.   Nur ist hiebei wieder zu erinnern, daß die Composition nicht zu weitläuftig seyn müsse. Wenn man uns mehrere Merkmaale als zu Einer Vorstellung, mehrere Theile als zu Einem Ganzen vereinigt angiebt, so verlangen wir durchaus, daß die Eine Vorstellung oder das Eine Ganze auch in unsrer Einbildung hervorkommen soll; aber das kann unmöglich gelingen, wenn der Theile und Merkmaale zu viel sind. Geßner kann in diesem Stücke allen malerischen Dichtern zum Muster dienen. Seine kleinen ländlichen Gemälde sind alle von unvergleichlicher Leichtigkeit; wie man aus dem eben angeführten, oder aus demjenigen ersehen kann, das oben S. 143 in der Idylle Thyrais vorkam. Einen Vortheil hat indeß der Dichter allemal, wenn er Veränderungen schildert, die sich ebenso eine nach der andern entwickeln und darbieten, wie die Begriffe in der Sprache: denn hier erspart er der Imagination die Mühe ganz, die zerstreuten Züge erst in Ein Bild zu sammeln. Den nächstgrößten Vortheil hat er, wenn er Gegenstände malt, wo gleich zu Anfange vor der Seele ein Ganzes dasteht, in welchem wir die einzelnen Theile nur weiter auszubilden und zu beleben brauchen. So steht in folgender Beschreibung das Bild eines Jünglings gleich Anfangs vor uns, eben wie in der obigen Kleistischen Beschreibung S. 227 das Bild eines Rosses; und wir durchlaufen dann nur die einzelnen Theile und Merkmaale. Herr Heger, malen Sie zu dieser Phyllis Füßen Uns einen hübschen Knaben hin: Ein rund Gesicht, wie einer Schäferinn, Hellbraunes Haar, ein glattes Kinn, Ein schwarzes Aug', und einen Mund zum Küssen; Schlank von Gestalt, geschmeidig, zierlich, In allen Wendungen so reizend als natürlich, Wie Zephyr leicht, und schmeichelhaft und dreist Wie ein Abbé! ─ kurz, schön als wie gegossen, Und um und um von diesem Reiz umflossen, Von diesem Glanz, von diesem Jugendgeist, Den Winkelmann uns am Apollo preist. Wieland.   Bilder von bestimmten Individuen zu erwecken, die nicht allgemein bekannt sind, muß eben so unmöglich seyn, als Gegenstände von einer unbekannten Art zu schildern. Der Seele ermangeln hier abermal die Vorstellungen, und der Sprache die Wörter. ─ Gleichwohl reden die Dichter fast beständig, wenn sie nicht von Sonne oder Mond reden, von unbekannten Individuen; gleichwohl muß die Vorstellung davon auch bei dem Leser individuell werden, wenn sie lebhaft werden soll: und wie will nun da der Dichter sich helfen? Durch die eigne willige Phantasie seiner Leser. Die Züge, die er ihm angiebt, können freilich nur allgemein seyn; aber der Leser, der schon mit Gegenständen der nehmlichen Art bekannt ist, schiebt augenblicklich bestimmtere Züge unter, und individualisirt das Gemälde. Freilich steht dann in jedem Kopfe das Bild etwas anders da: denn Jeder hat, nach der Verschiedenheit seines Ideenvorraths, seine ihm eigene Manier; aber diese Verschiedenheit ist dem Dichter zu seinen Absichten allemal gleichgültig. Heger wird anders malen; Rode, Tischbein, Öser, jeder Maler wird anders malen: aber wenn gleich keiner den Wielandischen Jüngling genau herausbringt, so wird doch Jeder so einen Jüngling herausbringen; und nur so einen Jüngling wollte der Dichter. ─   Wir haben bisher gesehen, was der Dichter überhaupt mit der Sprache vor die Phantasie bringen, was er malen, und was er nicht malen kann; aber damit ist noch nicht so ganz ausgemacht, was er nun wirklich auch malen solle? ─ Der Zweck, von dem wir gleich Anfangs sprachen, und um deswillen ihm der klare Begriff des Ganzen, oder der allgemeine der Gattung keine Genüge thut, liegt entweder in der Beschreibung selbst, oder außerhalb der Beschreibung. Entweder beschreibt er, als didaktischer Dichter, um seinen Beweis zu führen, als handelnder, um uns mit Situationen und Charakteren seiner Personen bekannt zu machen u. s. w.; oder er beschreibt als eigentlich beschreibender Dichter, um uns durch seine Gemälde selbst zu belustigen, in Erstaunen zu setzen, zu rühren.   In dem erstern Falle, sieht man wohl, hat der Dichter eine doppelte Betrachtung zu machen. Zuerst: was sein eigentlicher Hauptendzweck fordere, oder wenn nicht fordert, erlaube? Und zweitens: wie fähig die Gegenstände selbst, die sich ihm darbieten, irgend einer, wenn auch schwächern, dichterischen Wirkung sind? ─ Ein Stoff, der ihn zu frostigen, ganz uninteressanten, oder wohl gar zu widrigen ekelhaften Beschreibungen nöthigte, wäre ein undankbarer unwürdiger Stoff, den er wegwerfen müßte. Der Renommist, hat man gesagt, ist kein Gegenstand, den Zachariä hätte bearbeiten sollen. Denn alle poetische Kunst kann den unangenehmen Eindruck nicht austilgen, den so verworfne, so nichtswürdige Sitten machen.   In dem letztern Falle, wo dem Dichter bloß an der Beschreibung selbst gelegen ist, erspart er sich zwar die Rücksicht auf einen andern und höhern Endzweck; aber desto sorgfältiger muß er nun in der Wahl seiner Gegenstände verfahren. Er muß sagen können, wie Ramler: Vom ganzen Walde, wählt mein Lied Die Ceder die gen Himmel blüht, Die Rose, von den Blumenbeeten; oder mit andern Worten: er muß Gegenstände aussuchen, die sich durch Neuheit, Schönheit, Erhabenheit, Anmuth, durch irgend eine Beziehung auf die Neigungen des menschlichen Herzens vorzüglich auszeichnen. ─ Indessen wird nicht leicht ein Gegenstand seyn, der nicht seine wichtigen und interessanten Seiten hätte, die nur wollen gefaßt und ins rechte Licht gesetzt werden; und so thut hier vielleicht das Genie und die Kunst des Dichters mehr, als die eigenthümliche Beschaffenheit seiner Gegenstände.   Wie aber, wenn, bei aller Bemühung des Dichters nur das Vorzüglichste auszuwählen, und es auf die beste vorzüglichste Art zu behandeln, ein bloß beschreibendes Werk dennoch kein interessantes Werk wäre? wenn also die ganze Gattung nicht verdiente bearbeitet zu werden? ─ Man hat dies wirklich behaupten wollen; und es ist also der Mühe werth, daß wir es untersuchen.   Warum sollte also ein Werk, wie z. B. der „Frühling“ von Kleist, kein interessantes Werk seyn können? ─ Weil die Phantasie allzuviel Arbeit hat, das zerstreute Einzelne in Ein Ganzes zu sammeln? Das müßte der Fall in einigen einzelnen Beschreibungen seyn, die dann freilich verwerflich wären; mit dem ganzen Werke ist es sicher der Fall nicht. Der Dichter denkt nicht daran, daß wir alle von ihm gehäufte Gemälde zusammenfassen, und die Idee des Frühlings dadurch erst herausbringen sollen; ebenso wenig, als Zachariä verlangt, daß wir durch Verbindung des Verschiednen, was jeder Gesang seiner „Tageszeiten“ enthält, uns von Morgen und Abend erst einen Begriff machen sollen. Es sind bekannte collective Ganzen, wovon die Dichter uns nur diesen und jenen Theil, der ihnen der Mühe vorzüglich werth scheint, näher vors Auge rücken. ─ Oder sind dergleichen Werke vielleicht deswegen verwerflich, weil darin eine stillstehende todte Natur erscheint, die allerdings kein so großes Interesse, als die Natur in Bewegung, und die beseelte, erweckt? Diese Beschuldigung ist fürs erste falsch: denn wirklich hat das Beseelte und die Natur in Bewegung an diesen Werken den größten Antheil; zugeschweigen, daß auch alle nicht in Action gesetzte Charakterschilderungen beschreibende Gedichte sind: und fürs zweite litte dann doch der Tadel die Einschränkung, daß die beschreibende Gattung nur weniger interessant, zwar der Bearbeitung nicht unwürdig, aber auch nicht vorzüglich würdig wäre.   So eingeschränkt, ist denn aber auch der Tadel, wie einem Jeden seine eigene Empfindung sagen wird, völlig richtig; nur scheint noch immer der Geschmack besser empfunden, als der Scharfsinn entwickelt zu haben. Denn nicht nur Beschreibungen aus der körperlichen; auch Gemälde aus der beseelten Natur, und nicht nur stillstehende, auch bewegliche Gemälde interessiren weniger, als handelnde, lyrische, ja selbst als didaktische Werke: vorausgesetzt nehmlich, daß alles Übrige gleich ist. Wir sehen hieraus, daß wir die Sache aus der Natur des beschreibenden Gedichts überhaupt, aus dem allgemeinen unterscheidenden Charakter desselben, werden ausmachen müssen.   Worin also besteht dieser Charakter? ─ Schon im zweiten Hauptstück haben wir ihn so angegeben: daß uns der beschreibende Dichter nur zeigt, was Alles an einer Sache zu bemerken ist, was sich Alles nach einander begiebt. Wenn in dem Lehrgedicht die herrschende Ideenverbindung zwischen Grund und Folge: in dem handelnden Gedicht, zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Absicht und Mittel ist: so ist dagegen in dem beschreibenden Gedicht die herrschende Verbindung die, daß Dinge so beisammen sind, so auf einander folgen. Dort hat die Seele, wenn anders dem Werk nicht die gehörige Einheit fehlt, überall ein Ziel worauf sie zustrebt: immer entwickelt sich, die ganze Ideenreihe hindurch, eine Erwartung aus der andern; alle Kräfte sind interessirt und in Arbeit; die sämmtlichen vorhergehenden Eindrücke concentriren sich in jedem gegenwärtigen, und vorwärts sieht man, bald heller, bald dunkler, den letzten Ausschlag der Sache: hier hingegen ist die Seele eine bloße Zuschauerinn, die sich weit mehr leidend verhält; jedes Bild, jeder Zug entlehnt von dem vorhergehenden nur insofern mehr Kraft, als wir überhaupt für Eindrücke einer gewissen Art schon mehr sind geöffnet worden; es ist keine Erwartung, keine Vorsehung der Zukunft, kein fortstrebendes Interesse da; und so erkaltet und ermüdet die Seele. ─ Mit einem Wort: der beschreibende Dichter verschafft uns nur das Vergnügen eines müssigen Spazierganges; der handelnde, das Vergnügen der Jagd. Jenes ermüdet weit eher und ist weit weniger werth, als dieses; aber darum ist doch jenes weder zu verachten, noch zu verbieten. Dichter, wie Thomson und Kleist, sollen aus der Reihe vortrefflicher Dichter nicht ausgestoßen werden; nur müssen sie sich freilich mit einem niedrigern Range begnügen. ─   Es ist Zeit, daß wir, nach so viel theoretischen Untersuchungen, uns mehr ans Praktische halten. Die Regeln für die Beschreibung ergeben sich alle aus den obigen Betrachtungen, verbunden mit den allgemeinen Regeln die im vorigen Hauptstück entwickelt wurden. Wir dürfen sie also nur kurz und ohne Beweis hier zusammenfassen.   Eine Beschreibung wird um desto vortrefflicher seyn, je richtiger alle angegebene Züge zusammenstimmen; in je einer natürlichern, faßlichern Ordnung sie erscheinen; je neuer ein jeder ist; je mehr sie alle die gehörige poetische Fülle haben, also je mehr man Züge, die einzeln angegeben zu dürftig, zu trocken seyn würden, und in je weniger Hauptzüge sie zusammendrängt; je mehr man die fruchtbarsten, bedeutendsten ausliest, die Vieles voraussetzen und Vieles zur Folge haben; je weniger man, mit ungerechtem Mißtrauen in die Phantasie seiner Leser, ausmalt: je mehr man den Gegenstand gerade von der Seite faßt die der Endzweck erfordert, und alle müssige Nebenzüge, die das Gemälde nur überladen würden, vermeidet; je mehr man das Wesentliche, Eigenthümliche, Individuellere, Merkwürdigere trifft; je mehr man in dem ganzen Tone Deutlichkeit, Kraft, richtige Haltung, richtigen Grad der Empfindung vereinigt. ─ Man sehe hier Beispiele des Guten und des Schlechten durch einander gemischt, und übe nun selbst in der Beurtheilung derselben seinen Scharfsinn. So wie ein wilder Orcan, in Höhlen des Harzes verschlossen, Die schallenden Felsen murmelnd durchbrüllt. Zachariä. ─ Ein Rosenbusch, den tiefe Still' umfängt, Um den ein Buchenkranz die breiten Zweige hängt, Der hier Gerüche haucht, und von bemoosten Hügeln Gebeugt den Teich beschaut, sein blühend Haupt zu spiegeln. Dusch. Sie nahmen ihren Weg durch Junons weite Klüfte Und durch das leere Reich der ausgespannten Lüfte. Flemming. Chebar sah den siegenden Tod in der Sterbenden wüthen, Und erbebte vor Wonne so laut, daß lispelndes Säuseln Wie aus tiefer Ferne von seinen Flügeln wehte. Klopstock, Ges. 12. Sieh! da kam Bacchus her mit seinen beiden Panthern; Er rückte vor das Haus, stieg unverzüglich ab, Und nahm in seine Hand den langen Traubenstab. Flemming. Also stand sie verstummt im dämmernden Saale, Denn dichte Dunkle Hüllen bedeckten der Nacht Gefährtinn, die Flamme, Welche nun oft schon erst mit dem Morgen erlosch. ─ Klopstock, Ges. 13. Wir waren, wie ein Ball, in zweier Heere Händen; Dies warf uns jenem zu. Man drohte gar mit Bränden. Der Pechkranz schreckte schon, an Häusern aufgehenkt, Des blöden Bürgers Brust; und Alles war versenkt In Kleinmuth, Gram und Furcht. Hier ging es an ein Flüchten! Doch wie entgeht man wohl den schrecklichen Gerichten? Wo ist die Sicherheit? Auf Dörfern? In der Stadt, Wo dieser oder der bei Freunden Zuflucht hat? In Gärten? Auf dem Feld? Sehr viele sah man fliegen Zum Gottesacher hin. und auf den Gräbern liegen, Aus Angst vor naher Gluth. Auch Männer wurden weich Von drohender Gefahr, und Greise Kindern gleich, Hier krieß ein schwanger Weib in Libitinens Armen; Dort schrie ein saugend Kind zu jedermanns Erbarmen u. s. w. Gottsched. ─ ─ ─ Wie tief in der Feldschlacht Sterbend ein Gottesläugner sich wälzt; der kommende Sieger, Und das bäumende Roß, der rauschenden Panzer Getöse, Und das Geschrei, und der Tödtenden Wuth, und der donnernde Himmel Stürmen auf ihn. ─ Klopstock, Ges. 4. ─ ─ Ein Schloß, erbaut aus Edelsteinen; Gemacht, den lacherlichen Blitz Der Erdengötter auszuscheinen, Die stolze Armuth, die vom Witz Des Reichthums Miene borgt. ─ Wieland. Friederich, ein Prinz der Brennen, Ward angefallen von Völkern Hungariens, Von Illyriens Reitern und Daciens: Alle, dem Zepter der Königinn zinsbar, Die Vindobonens saatenreiche Fluren, Und Austrasiens Auen beherrscht, Und der Bajonen Gebirge, Und Hesperiens goldene Gärten; Dieser erhabenen Fürstinn, Deren Wohlfahrt vom Himmel in Sieben Sprachen erflehet wird; Deren Heere, geführt vom Stab' Eugens, Ehmal unbezwinglich, ─ und itzt Verbunden waren mit Allen, die Am Mäotischen, Kaspischen, Finnischen Sunde wohnen, den rauhen Samojeden, den Ostiaken, Und dem Tartar am Sangarfluß: Einer Monarchinn dienstbar, Einer, Die den weiten Umkreis Ihrer Welten nicht kennt. Auch trat zu ihnen der Söhne Sarmatiens Selbsterwähleter König, Und stellte seine Sachsen, ein treues Volk, Mitten auf den Pfad des Siegers Unter eine Felsenburg. Und die hohen Satrapen Germaniens Fielen zahlreich dem Bunde bei. Und die theuer erkauften Suenonen Drangen aus dem beeisten Norden hervor: Enkel der Helden, mit denen ein Jüngling Europen und Asien schreckte. Und Gallien, das an zwei Meeren thront, Dessen Fahnen und Wimpel Unter allen Himmeln wehn, Ließ seinen Schwarm aus, Gleich dem Heere schwirrender Grillen, Die vor sich her ein blühend Land, Und hinter sich Wüsten sehn. Ramler.   Vergleicht man verschiedene dieser Beispiele, so wird man kleine nichtsbedeutende Züge von kleinen vielsagenden, schöne Ausführlichkeit von leerer Weitschweifigkeit unterscheiden lernen. Überhaupt lassen sich die Regeln mit keiner solchen Präcision geben, daß man sich, ihres richtigen Verstandes wegen, nicht auf eigne Unterscheidungskraft des Lesers verlassen müßte. In satyrischen, launigten, nachahmenden Werken können sogar die Fehler in gewissem Verstande zu Schönheiten werden.   Für Werke, die aus mehrern Beschreibungen zusammengesetzt sind, kommen zu den obigen Regeln noch die zwei Erinnerungen hinzu: daß es gut ist, die Reihe von Gemälden zuweilen durch Betrachtungen, kleine Erzählungen, Ausbrüche der Empfindung zu unterbrechen; und daß, in Ansehung der Wirkung der Gemälde, viel auf ihre Zusammenstellung ankömmt. Zwei contrastirende thun z. B. mehr Wirkung, als zwei ähnliche Gemälde. ─ Auch zu diesen Erinnerungen sehe man hier einige Beispiele; das letzte aus dem eilften Gesang der Messiade, der fast ganz eine beschreibende Episode ist. ─ ─ ─ Dort gleitet ein Täubchen Mit ausgespreiteten Flügeln ins Thal, sucht nickend im Schatten, Und schaut sich vorsichtig um, mit dürren Reisern im Munde. Wer lehrt die Bürger der Zweige, voll Kunst sich Nester zu wölben, Und sie für Vorwitz und Raub voll süßen Kummers zu sichern? Welch ein verborgener Hauch füllt ihre Herzen mit Liebe? Durch Dich ist Alles was gut ist, unendlich wunderbar Wesen! Beherrscher und Vater der Welt! Du bist so herrlich im Vogel, Der hier im Dornstrauch hüpft, als in der Feste des Himmels, In einer kriechenden Raupe, wie in dem flammenden Cherub. See sonder Ufer und Grund! Aus Dir quillt Alles; Du selber Hast keinen Zufluß in Dich. Die Feuermeere der Sterne Sind Wiederscheine von Pünetchen des Lichts, in welchem Du leuchtest. Kleist. Niemal hatte die schöne Seline den Einzug des Morgens In dem Kerker der Stadt gesehn. ─ ─ ─ In der Blüthe der Jugend ward von der gütigen Liebe Ihr ein zärtlicher Jüngling geschenkt, mit dem sie in Bergen In der Nacht durch gereist, und nun am dämmernden Morgen Von dem Abhang gen Osten weit in die Ebne hinab sah. Plötslich schoß Aurora vor ihr, mit purpurnem Fittig. Durch den streifigen Himmel, und that die Thore der Sonne Vor ihr auf; doch schien sie entzückt im Fluge zu zögern, So viel hohe, sonst nie gesehene, Schönheit zu grüßen. Bald drauf kam die Sonne daher auf dem strahlenden Wagen, Mit dem ganzen Pompe des herrlichsten Morgens begleitet. Welches Entzücken ergriff die fühlende Seele des Mädchens, Da auf einmal vor ihr die prächtigste Scene sich aufthat! Neben ihr lag im süßesten Schlaf ihr theurester Jüngling, Dessen blühenden Reiz der Morgen noch schöner ihr zeigte. Zärtlich weckte sie ihn mit einem feurigen Kusse, Und brach, fröhlich bestürzt, in diese beflügelten Worte: O mein Geliebter, erwache zum allerprächtigsten Schauspiel, Welches itzt deine Seline zum erstenmale betrachtet! Himmel! wie welken die Scenen dahin, die alle Theater Uns zu geben vermögen! Und wie verschießen die Farben Aller Freuden des Hofs vor diesem himmlischen Auftritt! Und schon achtzehn Jahr ward mir dies Schauspiel gehalten, Eh ich nur einmal es sah? Hier floß auf die Rosen der Wangen Eine Perle herab! ─ Zachariä. Ihr, denen unsklavische Völker das Heft und die Schätze der Erde Vertrauten, ach! tödtet Ihr sie mit ihren eigenen Waffen? Ihr Väter der Menschen, begehrt Ihr noch mehr glückselige Kinder; So kauft sie doch ohne das Blut der Erstgeborenen! ─ Hört mich, Ihr Fürsten, daß Gott euch höre! Gebt seine Sichel dem Schnitter, Dem Pflüger die Rosse zurück. Spannt eure Segel dem Ost auf, Und ärntet den Reichthum der Inseln im Meer. Pflanzt menschliche Gärten; Setzt kluge Wächter hinein. Belohnt mit Ansehn und Ehre Die, deren nächtliche Lampe den ganzen Erdball erleuchtet. Forscht nach in den Hütten, ob nicht, entfernt von den Schwellen der Großen, Ein Weiser sich selber dort lebt, und schenkt ihn dem Volke zum Richter; Er schlage das Laster im Pallast, und helfe der weinenden Unschuld. Kleist. In der Entzückung, als weit um ihn her das Todesgefilde Rauschte von Auferstehung, da blies die hohe Posaune Einer der Engel. Mit ihrem erschütternden Donnerhalle Trat der Held, den Gott zur Bezwingung Canaans sandte, Aus den Schatten des Todes herauf. So leuchten aus Nächten Blitze, so sah auf Dothans bestrahlten Bergen Elisa Flammende Wagen der Engel, die ihn mit Rettung umgaben. Wie ein Erstling der Frühlingsblumen in duftigen Thälern Aufblüht, also erwachte zum Leben der Leben, nicht wieder Wegzuwelken, die Tochter Jephta. Zum Silbergetöne Ward es, wovon die Lippe der Preisenden bebet'! Ihr Engel Tönt's mit der goldenen Harf' ihr nach, und erhub es auf Flügeln Frohbegeisterter Harmonieen noch höher gen Himmel. Klopstock.   Um den Zügen eines Gemäldes Kraft und Fülle zu geben, hat die Dichtkunst ihre eigenthümlichen, sehr wirksamen Mittel. Wenn sie auf der einen Seite in der Lebhaftigkeit zurückbleibt, weil sie der natürlichen Zeichen entbehren, und sich nur der bleichern Farben, der ungewissern Umrisse der Phantasie bedienen muß; so gewinnt sie dagegen an der andern Seite, eben durch das Willkürliche ihrer Zeichen, weil der Mensch gerade diese Zeichen, die Wörter, gewählt hat, um alle Arten von Begriffen, und alle ihre mannichfaltigen, reelle und ideelle, Verbindungen damit anzudeuten. Das Ideengehiet des Dichters, wenn ich so reden darf, erstreckt sich so weit, als überhaupt das Gebiet des Schönen: es kömmt nur darauf an, daß er von allen den Vortheilen die er in Händen hat, den rechten Gebrauch zu machen wisse. Er kann jeden Gegenstand der sich ihm darbeut, von unzählig viel Seiten fassen; kann mit jeder Hauptvorstellung, die er erwecken will, unzählig viel andre mitverbundene Vorstellungen in die Seele bringen. Statt uns bloß die Sache zu zeigen, kann er sie uns in der Verbindung mit ihren Ursachen oder Wirkungen denken fassen; statt uns bloß das Werk vorzuführen, kann er uns, wie Homer, den Meister zeigen der mit dem Werke beschäftigt ist; statt in eigentlichen Ausdrücken zu reden, kann er durch ähnliche Züge schildern, und Gleichnisse, Metaphern, Allegorieen gebrauchen. Oder er kann auch für das Enthaltende das Enthaltene, für das Abstractum das Concretum, für den Theil das Ganze, und umgekehrt, setzen; u. s. w. uneigentliches Sprechen und Ähnlichkeit als Merkmal der Metapher; implizit Vergleichung, Metonymie und Synekdoche als Parallelkategorien ─ Es würde hier der eigentlichste Ort seyn, von dem verschiedentlichen Gebrauche und Nutzen der Tropen zu reden, wenn nicht schon in rhetorischen Stunden der beste Unterricht darüber gegeben würde.   Nirgend aber zeigt sich der Nutzen, den der Dichter von den Vorzügen der Sprache zieht, so sehr, als bei der Beschreibung todter körperlicher Gegenstände. Hier erhebt er die Lebhaftigkeit der Vorstellungen unendlich, wenn er dem Triebe eines von Empfindung durchdrungenen Herzens folgt, und statt der eigentlichen Züge ähnliche Züge aus der beseelten Natur nimmt: wenn er den Sturmwind rasen, den Berg sein stolzes Haupt in die Wolken erheben, den Zephyr schmeicheln, die Eiche unter den Streichen der sie fällenden Axt erseufzen, die Rose ihren jungfräulichen Busen schamhaft eröffnen läßt. Durch solche beseelte, das Herz interessirende Züge wird oft das Gemälde, das ein Dichter von solchen Gegenständen malt, unendlich anziehender, als das ähnlichste und schönste des Malers. ─ In Werken wo der Gebrauch der Mythologie erlaubt ist, kann man zuweilen diesen Vortheil noch weiter treiben: man kann, statt der körperlichen materiellen Dinge, die ihnen vorstehenden Gottheiten der Fabel setzen, und bloß mechanische Veränderungen in Thätigkeiten freier Wesen verwandeln.   Eine besondre Aufmerksamkeit verdienen noch die Gemälde der Seele, in denen es die Dichtkunst allen andern Künsten, besonders durch ihre größere Deutlichkeit und Bestimmtheit, so weit zuvorthut. Das beste Mittel, uns eine Seele nach ihren innern Beschaffenheiten und Veränderungen kennen zu lehren, ist freilich dies: daß man sie selbst, in irgend einer wichtigen Situation, mit ihren Absichten, Entschlüssen, Bewegungen und Leidenschaften, vor uns aufführe; oder anders: daß man uns zu unmittelbaren Zeugen ihrer Handlungen und Empfindungen mache. Aber es ist hier noch bloß von Beschreibung die Rede, und es fragt sich also: wie es der Dichter anzufangen habe, daß er uns durch Beschreibung von den Zuständen und Veränderungen einer Seele lebhafte Begriffe gebe? ─ Man sehe folgendes Gemälde, das vielleicht unter den vielen vortrefflichen, die Klopstock, der Maler der Seele, gemacht hat, das vortrefflichste ist: Wie es den Tausendmaltausend der Todten Gottes einst seyn wird, Hat das große Wehe vom Falle bis an den Gerichtstag Ausgeklagt; steigt nicht mit jedem Tropfen der Zeit mehr, Der hinträuft in das Meer der Vergänglichkeit, eines Gebornen Weinen, oder eines Sterbenden Röcheln gen Himmel Unter die Preisgesänge der Unentweihten vom Tode: Wie es ihnen wird seyn, wenn mit des letzten der Tage Morgendämmerung nun das lange Wehe des Weinens Und des Röchelns auf ewig verstummt; sie werden vor Wonne Freudig erschrecken! aus ihrem erhobnen dankenden Auge Thränen der Seligkeit stürzen! und ihrer Jubel Triumphlied Wird mit jener Posaune, der Todtenweckerinn, streiten, Streiten und überwinden! wie dann es wird der Gerechten Tausendmaltausend seyn: so war es der kleineren Schaar jetzt, Die am Grabe des Herrn, vor Hoffen und vor Erwarten Deß das kommen sollte, verschmachtet war; da die Wolken Rissen! da Gabriel dort, eine Flamme Gottes, herabfuhr! Da er von Bethlehem, über die Schädelstätte, zum Grabe Flog! da von Euphratas Hütte bis hin zu dem Kreuze, vom Kreuze Bis hinunter ins Grab die Erde bebte! da Satan Wie ein Gebirge dahin, des Leichnams Hüter, wie Hügel, Stürzten! da weg von dem Grabe den Fels der Unsterbliche wälzte! Da mit Freuden Gottes Jehovah sich freute! da Jesus Auferstand! Messias, Ges. 13.   Der eigentliche Gegenstand, den hier Klopstock beschreibt, ist, wie man sogleich gewahr wird, die Freude der Seligen, die bei der Auferstehung Christi zugegen waren. Gleich zu Anfang erinnert er uns an eine ähnliche Freude, in die wir uns mit ungleich weniger Schwierigkeit versetzen können, weil die Ursachen derselben sich weit leichter und unmittelbarer fassen lassen. Da diese letztern unendlich groß sind, so muß auch jene, ihre Wirkung, es seyn; und so erlangen wir durch dieses Bild einen so würdigen Begriff von dem eigentlichen Gegenstande, als uns vielleicht die unmittelbare Schilderung desselben nie würde gegeben haben. Aber uns an diese ähnliche Freude bloß zu erinnern, ist noch nicht hinlänglich; auch sie ist uns nicht unmittelbar genug gegenwärtig: und es kömmt also die anfängliche Schwierigkeit zurück, wie der Dichter einen Gegenstand dieser Art werde schildern können? ─ Er schildert ihn aber, indem er zuerst äußerst lebhafte Begriffe von den veranlassenden Ursachen dieser ähnlichen Freude erweckt, die wir in der That als die hauptsächlichsten Bestandtheile derselben ansehen können. Denn was denken wir uns im Grunde unter einer solchen leidenschaftlichen Empfindung anders, als eine verworrne Menge von Vorstellungen, die sich alle an die herrschende Hauptvorstellung eines für unsre Glückseligkeit bedeutenden Gegenstandes anketten? Ist uns dieser Gegenstand nur der Art nach bekannt; haben wir nur schon sonst Gegenstände dieser Art in ihrer nachtheiligen oder vortheilhaften Beziehung auf unsre Glückseligkeit lebhaft gedacht; liegen die Gründe zum Begehren oder Verabscheuen desselben nur wirklich in der gemeinschaftlichen menschlichen Natur: so präge der Dichter nur ein lebendiges Bild des Gegenstandes in unsre Phantasie, von der rechten Seite worauf es ankömmt, gefaßt; und sei gewiß, daß auch die Empfindung die er erwecken will, in uns hervorkommen werde. Die hieher gehörigen Zeilen des obigen Gemäldes sind folgende: Wie es den Tausendmaltausend ─ ─ Und des Röchelns auf ewig verstummt. ─ Den Zustand der Seele beim Nachlassen von Schmerz, beim Aufhören von Elend kennen wir; wir dürfen uns diesen Zustand nur unendlich erhöht denken: und das werden wir leicht, sobald wir seine unendlich größern Ursachen fassen. ─ Nach dieser Schilderung der Ursachen, zeigt uns der Dichter zweitens die äußern Wirkungen, welche eine solche äußerst lebhafte Rührung der Seele hervorbringt: ihre äußern Zeichen im Körper. Hier kann er abermal der Phantasie die allerlebhaftesten Bilder geben, und giebt sie ihr wirklich: ─ ─ ─ sie werden vor Wonne Freudig erschrecken ─ ─ Streiten und überwinden! Dieses freudige Schrecken, diese herabstürzenden Freudenthränen, dieses laute Jubelgeschrei, sind Zeichen, die uns sogleich und unfehlbar auf einen solchen und solchen Zustand der Seele führen, weil wir sie schon sonst bei uns selbst und bei Andern gerade in einem solchen und nie in einem verschiedenartigen Zustand der Seele beobachtet haben. Aber nicht allein ihrer Art, auch ihrer Stärke nach, erhalten wir hier einen so richtigen als erhabnen Begriff von der Empfindung; denn wir schließen auf die Größe der Empfindung aus der Größe ihrer Wirkungen zurück, wovon uns der Dichter besonders die letztere mit einer so unübertrefflichen Stärke zeichnet. ─ In dem noch übrigen Theile des Gemäldes kömmt nun der Dichter auf seinen Hauptgegenstand selbst, wo er mit vieler Kunst alle die Umstände häuft, welche die veranlassende Ursache der Empfindung zu verherrlichen, und sie selbst zu verstärken dienen; bis er endlich unsre Erwartung, die er so lange unterhalten und immer angeschwellt hat, mit dem letzten erhabensten Zuge des Gemäldes befriedigt.   Nach dem zu urtheilen, was wir bei Entwickelung dieses einen Beispiels gefunden haben, scheint es also dreierlei Mittel zu geben, wie man uns von einem bestimmten innern Zustande der Seele durch Beschreibung einen lebhaften Begriff geben kann. Zuerst, indem man uns an einen bekannten ähnlichen Zustand erinnert; zweitens, indem man uns den Gegenstand schildert, der den Zustand veranlaßt, und zwar gerade von der Seite wo er denselben veranlaßt, gerade mit den Umständen welche denselben zu erhöhen dienen; drittens, indem man uns die äußern Zeichen, die mit diesem Zustande verbunden sind, die äußern Wirkungen und Handlungen, die auf ihn als ihre Ursache zurückschließen lassen, darstellt. Untersucht man die besten psychologischen Gemälde in den Dichtern, so wird man finden, daß wirklich die hier angegebenen Methoden, wenn sie auch nicht die einzigen dichterischen wären, doch die am meisten dichterischen sind. Warum sie das aber sind, das wird sich nicht besser als durch Erörterung der Frage beantworten lassen: auf was für Art wir überhaupt zu allen Vorstellungen von unsrer eigenen oder von Anderer Seelen gelangen?   Es braucht nur einer ganz geringen Aufmerksamkeit, um eine gewisse merkwürdige Analogie zwischen Seele und Auge gewahr zu werden. So wie das Auge seine Sehkraft nicht unmittelbar auf sich selbst anwenden kann, sondern sich nur dadurch erkennt daß es außer sich blickt: eben so kann die Seele ihre vorstellende Kraft nicht unmittelbar auf sich selbst richten; sie wird ihre eigenen Beschaffenheiten nur dadurch inne, daß sie sich äußere von ihr verschiedene Gegenstände vorstellt. Was Freude, Zorn, Liebe; was irgend eine andre Gemüthsbewegung sei? das wird sie nur vermittelst der veranlassenden Ursachen derselben, vermittelst der äußern damit verbundenen körperlichen Symptome, vermittelst der Handlungen gewahr, worin diese Gemüthsbewegungen gewöhnlich auszubrechen pflegen. ─ Eben so aber, wie ihre eigenen Zustände, erkennt sie auch die Zustände anderer Seelen; sie schließt sie aus den äußern Veranlassungen und Folgen derselben, deren Idee sie an einen gleichartigen Zustand ihrer selbst wieder erinnert, oder sie diesen Zustand eben jetzt mit empfinden lä'.sst. Daher rührt es, daß in allen Sprachen die Zeichen für psychologische Begriffe ursprünglich von körperlichen Dingen entlehnt sind: denn die Menschen hatten kein anderes Mittel, sich über ihre inneren Beschaffenheiten und Veränderungen zu verständigen, als die äußern sinnlichen Erscheinungen. ─ Gesetzt, es gäbe eine Art innerer Zustände, zu der uns selbst alle natürliche Anlagen fehlten; so wäre schlechterdings kein Mittel, uns von dem Besondern und Eigenthümlichen dieses Zustandes eine Idee zu verschaffen: denn alles Erkennen und Beschauen einer fremden Seele geschieht in unsrer eigenen Seele Ich sagte oben, daß die Klopstockische Beschreibung des Sterbenden ─ die freilich nur für uns Sterbliche gemacht ist, und also immer untadelhaft und vortrefflich bleibt ─ den unsterblichen Bewohnern jener andern Erde so gut . Nur insofern könnten wir uns einen Begriff davon machen, als wir uns nächst-ähnliche Zustände, durch wahrgenommene Ähnlichkeit der Veranlassungen oder der Folgen, wieder zurückriefen.   Das Äußre und Fremde, das mit den Vorstellungen der Seele von sich selbst und von andern ihr ähnlichen Wesen verbunden ist, läßt sich absondern; allein, sobald diese Absonderung geschieht, geht die lebendige anschauende Erkenntniß in als gar keine Vorstellung von einem Gegenstand gebe, den sie auch nicht der Art nach kennten. Ich redete damal nur von dem äußern sichtbaren Phänomen; aber auch von dem innern Zustand der Seele, worauf es bei der ganzen Schilderung eigentlich ankömmt, gilt das Nehmliche. Das Erblassen, das Tiefer-herauf-athmen, und alle übrige Symptome des Sterbens, können nur für diejenigen verständliche Zeichen eines bestimmten innern Zustandes seyn, die solche entweder bei sich selbst in ähnlichen Zuständen (der Ohnmacht, der Krankheit) zusammen empfunden, oder wenigstens bei Andern beobachtet haben. eine symbolische über. Das heißt, in eine solche, wo wir von dem Zeichen der Sache eine klärere Vorstellung haben, als von der Sache selbst. Auch kommen Leben und Anschauung nicht eher zurück, als bis man die Vorstellungen in äußre sinnliche Ideen wieder hineinbildet, sich die äußern Veranlassungen oder Folgen, womit sie gleich Anfangs vermischt waren, wieder hinzudenkt. Die Vorstellung des Zorns z. B. erhält nicht eher ihre Lebhaftigkeit wieder, als bis man in der Phantasie den Beleidiger vor sich sieht, wie er durch Schimpfworte unsre Ehre oder durch Thathandlungen unsre Rechte angreift; als bis man sich der Bewegungen erinnert, die sich dabei in unserm Blute, besonders in der Gegend der Brust äußern, wo nach gewissen ältern Weltweisen die zornige Seele ihren Sitz hat; als bis man sich die äußern Symptome vorbildet, die man in der nehmlichen Leidenschaft an Andern bemerkt hat: den starrern Blick, die abwechselnde Farbe, die gerunzelte Stirn, u. s. f. ─ Das innre geistige Auge entbehrt hier den Vortheil des äußern körperlichen Auges. Wenn dieses auf glatte, undurchsichtige Flächen fällt, die mit ihm selbst die Ähnlichkeit haben, daß sie alle von den äußern Gegenständen aufgefangene Lichtstrahlen zurückbrechen: so erhält es ein reines unvermischtes Bild seiner selbst; da hingegen für das geistige Auge der Seele die Gegenstände, wenn ich so reden darf, alle rauh oder vollkommen durchsichtig sind, und es für sie in der ganzen Natur keinen Bach, keine Spiegelfläche giebt, worin sie sich rein und unvermischt von fremden Gegenständen beschauen könnte. Alles was ihr ähnlich ist, erkennt sie, eben wie sich selbst, nur durch Vermittelung von solchen Dingen, die ihr unähnlich sind.   Was hieraus für den Dichter folgt, der vermöge seiner Kunst auf lebhafte, mithin auf anschauende Begriffe arbeiten muß, sieht man von selbst. ─ Er wähle nur unter den veranlassenden Ursachen die hauptsächlichsten, stärksten; unter den äußern Zeichen und Folgen, die kräftigsten, präcisesten; unter den ähnlichen Zuständen, die bestimmtesten, reichhaltigsten.   Es muß angenehm und lehrreich zugleich seyn, hier noch eine kleine Sammlung vortrefflicher psychologischer Gemälde aus dem Messias zu sehn, die das Gesagte noch mehr zu bestätigen und aufzuklären dienen werden. ─ ─ Da erkannte der bange, verlassene Samma Seinen Retter. Ins bleiche Gesicht voll Todesgestalten Kam die Menschheit zurück; er schrie und weinte gen Himmel. Itzt wollt' er reden; allein kaum konnt' er, von Freuden erschüttert, Bebend stammeln. Doch breitet' er sich mit sehnlichen Armen Nach dem Ewigen aus, und sah mit getrösteten Augen, Voll von Entzückung, nach ihm von seinem Felsen herunter. Wie die Seele des trüben Weisen, die in sich gekehret Und an der Ewigkeit ihrer zukünftigen Dauer verzweifelnd, Innerlich bebt; der Unsterblichen schaudert vor ihrer Zernichtung: Aber jetzt nahet sich ihr der weisern Freundinnen eine; Ihrer Unsterblichkeit sicher, und stolz auf Gottes Verheißung Kömmt sie zu ihr mit tröstendem Blick. Die trübe Verlaßne Heitert sich auf, und windet mit Macht vom jammernden Kummer Ungestüm freudig sich los. ─ Ges. 2. ─ Von Grimm und übermannender Wuth voll, Lehnt' an seinen goldenen Stuhl sich Kaiphas nieder, Und erbebt'. Ihm glühte sein Antlitz; er schaut' auf den Boden Sprachlos und starr. ─ Ges. 4. ─ Sein (Philo's) Auge ward dunkel, und Nacht lag Dicht um ihn her, und Finsterniß deckte vor ihm die Versammlung. Jetzo mußt' er entweder ohnmächtig niedersinken; Oder sein starrendes Blut auf einmal feuriger werden, Und ihn wieder gewaltig beleben. Es hub sich, und wurde Feuriger, und goß sich vom hochaufschwellenden Herzen In die Mienen empor; die Mienen verkündigten Philo. Und er sprang auf, und riß sich aus seiner Reih', und ergrimmte. So, wenn auf unerstiegnen Gebirgen ein nahes Gewitter Furchtbar sich lagert; so reißt sich Eine der nächtlichsten Wolken, Mit den meisten Donnern bewaffnet, entflammt zum Verderben, Einsam hervor. ─ Ebendas. ─ Sein (Barrabas) glühendes Auge Schweifte seitwärts herum; er hielt den schnaubenden Athem. Nicht die Reue, die Wuth, bog ihm den sträubenden Nacken. Also stand er gebückt, und schluckte zornigen Schaum ein. Ges. 7. Ach! noch rauchet sein Blut; noch rollt er das Auge; noch starrt es Ganz nicht hin; noch zuckt sein Gebein. Nun streckt er dem Grabe Völlig sich aus, und entschläft. Er hatt' in der Wuth der Verzweiflung Gegen sein Herz den wankenden Dolch gerichtet, zur Erd' ihn Niedergeschmettert, ihn wieder ergriffen, mit furchtbarer Lache Blinken gesehn den Verderber; hatt' Ahnung gehabt von Blute, Schwarzem eigenen Blute; mit Kälte den Dolch auf den Herzschlag Angesetzet, ihn langsam zurückgezogen, mit hohem Arme gezielt, und gestoßen, daß dumpf die eherne Brust ihm War erschollen, unter des Fallenden Last erschollen War die Erde. ─ Ges. 16.   Diese Beispiele bloß zur Erläuterung des Vorhergehenden. Folgende werden zeigen, daß Beschreibungen abstracter psychologischer Gegenstände gerade auf eben die Art, wie Beschreibungen einzelner Zustände, gemacht werden. Schwindelnd, sprachlos, und bleich, mit weitvorquillendem Auge, Blickt das Entsetzen hinunter. ─ Ges. 9. Religion der Gottheit! du heilige Menschenfreundinn! Tochter Gottes, der Tugend erhabenste Lehrerinn, Ruhe, Bester Segen des Himmels, wie Gott, dein Stifter unsterblich, Schön, wie der Seligen einer, und süß, wie das ewige Leben, Schöpferinn hoher Gedanken, der Frömmigkeit seligster Urquell! Oder wie sonst ein Seraph dich noch, Unaussprechliche, nennet, Wenn dein lichtheller Strahl in edlere Seelen sich senket! Aber ein Schwert in des Rasenden Hand, des Bluts und des Würgens Priesterinn, Tochter des ersten Empörers, nicht Religion mehr! Schwarz, wie die ewige Nacht, furchtbar wie das Blut der Erwürgten, Die du schlachtest, und über Altären auf Todten daher gehst! Räuberinn jenes Donners, den sich des Richtenden Arm nur Vorbehalten! dein Fuß steht auf der Hölle, dein Haupt droht Gegen den Himmel empor, wenn dich die Seele des Sünders Ungestalt macht, wenn ein Menschenfeind dich zur Abscheulichen umschafft! Ges. 4.   Zu den Schilderungen abstracter psychologischer Gegenstände gehören auch die Charaktergemälde, als worin man die unterscheidenden Eigenschaften eines moralischen Wesens angiebt. Diese allgemeinen Ideen macht der Dichter lebhafter: theils durch Schilderung ünterscheidender physiognomischer Züge, denen sich oft die Seele so unverkennbar eindrückt; theils dadurch, daß er die bleibenden bestimmenden Ursachen, oder sehr ausgezeichnete einzelne Äußerungen und Folgen der Charaktere angiebt, durch welche er das Allgemeine durchschimmern läßt; theils auch durch Gebrauch der oberwähnten dichterischen Hülfsmittel, durch glücklich gewählte Metaphern, Gleichnisse, Allegorieen, durch die ganze Energie seines Stils. ─ Und nicht allein gilt dies von Charakterschilderungen einzelner moralischer Wesen; sondern auch ganzer Nationen, Geschlechter, Alter u. s. f. Theophrast hat, als Philosoph, nicht einzelne Charaktere, sondern Classen von Charakteren gezeichnet. Es sind, um mich so auszudrücken, nicht einzelne Köpfe, die nur zum Ideal einer ganzen Gattung dienten; es sind verschiedene Blätter, deren jedes mehrere zusammen gehörige Skizzen enthält, sodaß das eine Blatt lauter zornige, das andere lauter neidische Gesichter zeigt, u. s. w. ─ Wie übel haben also, auch unter uns, manche, besonders periodische, Schriftsteller ihm nachgeahmt, die statt seiner allgemeinen Begriffe: der Schmeichler, der Neidische..., .    Das Schachspiel, so sagt man, sei für einen König erfunden. Wenns wahr ist. so ist mirs, als wenn ich ihn sähe. Er war minorenn an Verstand oder an Jahren, unter der Vormundschaft seiner Mutter oder seiner Frau; hatte Milchhaare im Bart und Flachshaare um die Schläfe; er war so gefällig wie ein Weidenschößling, und spielte gern mit den Damen und auf der Dame, nicht aus Leidenschaft, behüte Gott! nur zum Zeitvertreib. Göthe. Hochgebildet, ein Mann von menschenfreundlichem Ansehn, Stand er. Wehmuth und Ernst erfüllte sein Antlitz; und Adel, Adel eines empfindenden unbefleckten Gewissens, Sprach sein ganzes Gesicht, Mess. Ges. 4. individuelle Namen setzen: Cleanth, Damon...; und die dann gleichwohl nicht nur eben so mannichfaltige, oft in ein einziges Bild kaum vereinbare, sondern auch eben so allgemeine und oft noch weit allgemeinere Züge zusammensetzen! Hand in Hand kam Simon der Kananit, und Matthäus; Kam Philippus, und kam der Alphäide Jakobus; Aber Lebbäus allein. Er wollte reden; doch setzt' er Sich in die dunkelste Ferne des Saals, und verhüllte sein Antlitz. Und Jakobus der Zebedäide, der Sohn des Donners, Trat herein, und erhub die Händ' und die Augen zum Himmel: „Todt! Er ist todt! Und nichts ist alle menschliche Größe, „Auch die wirkliche selbst, sie, die zu glänzen verachtet, „Und nur handelt, ist nichts! Denn über ihn haben Verruchte, „Haben Tyrannen gesiegt.“ So sprach der Zebedäide, Ging dann wieder hinaus, und kühlte sich unter den Palmen. Ges. 12. Dieser ist Philippus. Viel menschenfreundiiches Lächeln Bildet die Züge des stillen Gesichts; und treues Bestreben, Alle die Gott zum Bilde sich schuf, wie Brüder zu lieben, Ist der geliebtere Trieb in seinem göttlichen Herzen. Auch hat sein Schöpfer in ihn der süßen Beredtsamkeit Gaben Reich gelegt. Wie vom Hermon der Thau, wenn der Morgen erwacht ist, Träufelt, und wie wohlriechende Lüfte dem Ölbaum entfließen, Also fließet die liebliche Rede vom Munde Philippus. Ges. 3. ─ Erkenne hier Cheruskier und Catten, Und lies die Majestät des Volks in seinem Schatten! Ein himmelblaues Aug flog durstig nach dem Sieg; Ein Körper, stark, genährt, und streitbar in dem Krieg, Verkündigte dem Feind den Muth zu großen Thaten, Und ließ auf offner Stirn das sichre Herz errathen. Unregelmäßig groß, rauh wie sein Vaterland, Wild ohne Barbarei, und witzig mit Verstand: So ging dies Volk die Bahn der Unschuld seiner Väter; Ein Weichling war der Schritt zum Römer und Verräther... Clodius.   Auch die beschreibende Gattung mischt sich mit andern Gattungen der Dichtkunst auf mancherlei Art. Wir werden vielleicht noch künftig dergleichen Mischungen kennen lernen, wo sich denn auch Gelegenheit zu der Untersuchung zeigen wird: inwiefern auch in dieser Gattung mehr als Eine Form anwendbar sei. SIEBENTES HAUPTSTÜCK. Von der Handlung. G ewisse Lehrer der Dichtkunst wollen Epische Werke, wie die eines Lucanus oder Silius Italicus, zu den didaktischen Gedichten ziehen, weil sich diese Werke an die Wahrheit der Geschichte halten, und Wahrheit nun doch einmal der Stoff des Lehrgedichts ist. ─ Jedermann fühlt, daß ein eigentliches Lehrgedicht sich in Ideen, Verbindung der Ideen, Interesse, Regeln, von einem solchen historischen Werk durchaus unterscheidet; daß hingegen erdichtete epische Werke, eigentliche Epopöen, mit den historischen Alles dieses gemein haben: Beschaffenheit ihrer Theile, Art der Verbindung, Wirkung, Regeln ihrer Vollkommenheit. Ob die Facta sich in der Geschichte wirklich so, wie in dem Werke des Dichters, finden? thut nichts: denn ist das Werk gut, so hatten einmal die wahren Facta glücklicher Weise die erforderliche Schicklichkeit für den Dichter; und ist das Werk schlecht, so war es Fehler, solche Facta gewählt, oder sie nicht nach den Bedürfnissen der Kunst verändert zu haben. Es wäre Beleidigung für vortreffliche Lehrdichter, wenn man die schlechtern epischen, sobald sie nur der Wahrheit treu geblieben, von den guten aussondern, und sie mit jenen in gleichen Rang, wo nicht gar noch über sie, setzen wollte.   Um einer so unschicklichen, alle Theorie verwirrenden, Erweiterung des Begriffes vorzubeugen, haben wir dem Lehrdichter zu seiner Materie nicht so schlechthin nur Wahrheiten, sondern allgemeine Wahrheiten gegeben. Aber wir müssen hier der Sache noch ein wenig tiefer auf den Grund gehn; wir müssen beide Dichtungsarten auf einem Puncte zu fassen suchen, wo sie vielleicht am nächsten zusammenstoßen könnten, und wo also ihre Verwechselung noch am ersten möglich wäre. ─ Im „Ödip“ des Sophokles stellt der unglückliche König eine Untersuchung über die wahren Mörder des Lajus an, und diese Untersuchung ist die ganze Handlung des Stücks. Man denke sich, daß ein Geschichtforscher die nehmliche Untersuchung anstellte, indem er alle Umstände nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit vergliche, und die Glaubwürdigkeit der Zeugen nach den bekannten allgemeinen Grundsätzen darüber beurtheilte; man nehme an, was zwar freilich sich nicht wohl absehen läßt, daß eine solche historische Prüfung dichterischer Stoff werden könnte, und verwandle also den Geschichtforscher in einen Dichter; würde jetzt das Stück noch Handlung, oder didaktisches Werk seyn? Ohne Zweifel das letzte, Der ganze Inhalt, der ganze Geist desselben wäre Räsonnement, wäre Anwendung allgemeiner Grundsätze auf das vorliegende Factum, und eine aus diesen Grundsätzen gezogene Entscheidung der Frage. ─ Hingegen im Trauerspiele des Sophokles; wie wird denn da diese Untersuchung zur Handlung? Sichtbar nur dadurch: weil hier die Untersuchung nicht allein eine wichtige Staatsangelegenheit wird, von deren Gelingen oder Mißlingen das Schicksal eines ganzen Volks abhängt, sondern weil auch während derselben sich nur allzubald verräth, wie innig das Schicksal des Königs selbst der sie anstellt, mit ihr verflochten ist; weil in seinem Herzen, sowie sich ein Umstand nach dem andern aufklärt, die schrecklichsten Leidenschaften erwachen; weil es eben diese Leidenschaften sind, die ihn auf seinem unglücklichen Wege immer weiter treiben, und weil am Ende, mit Entscheidung der Frage, auch sein Schicksal auf die traurigste, unser ganzes Herz erschütternde, Art entschieden ist.   Dieses giebt uns nun auf einmal die wahre Gränzscheidung zwischen epischen ─ oder da dies Wort schon die Form mit einschließt, welche hier noch in keine Betrachtung kömmt, so wollen wir lieber sagen ─ zwischen pragma- tischen Es ist eine schon oft gemachte Bemerkung: daß nicht selten das Schicksal ganzer Wissenschaften von Einem oder von einigen wenigen glücklichen Wörtern abhängt; und wenn es an solchen Wörtern noch irgendwo gefehlt hat, so wars in der Dichtkunst. Ein Hauptmangel dieser Art scheint mir eben der, daß man kein Beiwort hatte, den Begriff der Handlung im Allgemeinen, ohne die Nebenbestimmung der Form, auszudrücken; denn darüber blieben die wichtigsten Eintheilungsgründe unbemerkt, und die ganze Theorie ward verstümmelt. Das Wort das ich hier wage, und das schon von der Geschichte in einem völlig ähnlichen Sinn gebraucht wird, scheint mir für die Idee die es bezeichnen soll, noch immer das bequemste: denn handelndes Gedicht, handelnder Dichter, läßt sich nicht wohl sagen; und die übrigen Wörter, die sich hier noch anbieten, wie: praktisch, energisch, haben schon jedes seine eigene festgesetzte Bedeutung. und didaktischen Werken; wir erkennen, worin sie ähnlich, und worin sie unähnlich sind. Ähnlich darin: daß in beiden die Theile als Grund und Folge zusammenhangen; unähnlich darin: daß in dem einen die Gründe bloße Ideen des Verstandes sind, die Verbindung zwischen ihnen und den Folgen durch bloßes Räsonnement geschieht, das Resultat eine bloße Veränderung im System der Ideen ist; in dem andern hingegen die Gründe in individuellen Neigungen des Herzens liegen, die Verbindung zwischen Beweggründen und Thätigkeiten ist, und der Erfolg in einer Veränderung des äußern Zustandes, der äußern Verhältnisse der Personen besteht. Freilich kann es auch im Lehrgedicht das Herz seyn, was ursprünglich den Verstand zur Thätigkeit reizt, wie das in dem Hallerischen Räsonnement S. 150 der Fall war; freilich kann auch da der Ausschlag des Räsonnements auf Handlung und Zustand der Personen den wichtigsten Einfluß haben, wie z. B. in Musarion von Wieland: aber weder jene Veranlassung, noch dieser Einfluß, gehört in die Ideenreihe des Lehrdichters; sondern es wird dann nur, wie schon S. 207 f. gesagt worden, die eine Materie mit der andern, die beschreibende oder pragmatische Gattung mit der didaktischen verbunden. Kurz: im Lehrgedicht erscheint der Mensch mehr als denkender Geist, dem es um Erkenntnisse zu thun ist; im pragmatischen, mehr als bedürftiger Mensch, der ein gewisses äußeres Gut zu besitzen, ein gewisses äußeres Übel von sich zu entfernen strebt, und der, zur Erreichung dieses Endzwecks, alle seine innern und äußern Kräfte aufbeut.   Wie aber? Können wir denn Räsonnement zu einem wesentlichen Charakter didaktischer Werke machen? Fallen nicht dadurch alle die Kunstgedichte, die nur eine Menge Regeln hintereinander vortragen, ohnedaß sie deren Schicklichkeit, als Mittel zu Endzwecken, zeigten; fallen nicht alle die gnomischen Werke, in welchen Sittensprüche und einzelne Erfahrungen über den moralischen Menschen ohne Verbindung hingeworfen werden, aus dieser Classe heraus? ─ Und wie, wenn sie dies wirklich müßten? Wenn wirklich erst ein Prior ─ dessen Werth als Lehrdichter wir übrigens unausgemacht lassen ─ in die Sprüche eines Salomo Räsonnement hineinlegen müßte, um sie zu wahren Lehrgedichten zu machen? ─ Wenigstens läßt sich nicht absehn, warum man, bei völliger Ähnlichkeit des Grundes, von didaktischen Werken nicht eben so wie von pragmatischen urtheilen sollte.   Und wie urtheilt man denn von pragmatischen Werken? Auch in diesen läßt sich die Verbindung der Ideen, eben wie im Lehrgedicht, aufheben: aber mit dieser Verbindung findet man dann zugleich ihren wesentlichen Charakter vertilgt. Man nennt die bloße Reihe der Begebenheiten Fabel; und Handlung, behauptet man, komme in die Fabel erst dann, wenn die Begebenheiten aus den moralischen Gründen wovon sie abhangen, aus Gesinnungen und Leidenschaften freier Wesen, entwickelt werden. Es kömmt nehmlich bei aller Handlung, wenn man das Wort im Sinne der Dichtkunst nimmt, nicht darauf an: ob es in der That freie Thätigkeiten sind, die der Dichter bearbeitet? sondern vielmehr auf die Art wie er sie bearbeitet: ob er sie in Verbindung mit ihren moralischen Gründen vorstellt? oder ob er sie als bloße Phänomene der leblosen Natur behandelt? Denn diese letztern kann er nie aus ihren physischen Ursachen hervorspringen lassen; er kann sie bloß als einzelne Ereignisse beschreiben. Was wir die Kräfte der Natur nennen, sind Abstractionen, von denen wir keine Anschauung haben, und die daher auch keine dichterische Bearbeitung vertragen; man müßte sie denn personificiren, sie in allegorische Wesen verwandeln: und das hieße im Grunde nichts anders, als an die Stelle des physischen Zusammenhanges den moralischen setzen. Ins Innre der Natur, sagt der Dichter (Haller): ─ ─ dringt kein erschaffner Geist; Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schale weist!   Und nun: wenn man aus der Classe echter Handlungen alle unpragmatische Werke herausstößt, welche nur Facta, ohne Anzeige ihrer veranlassenden Gründe, enthalten; warum sollte man nicht ebenso aus der Classe echter didaktischer Werke alle die Stücke herauswerfen, in welchen einzelne Sätze, unentwickelt aus ihren Erkenntnißgründen, zusammengehäuft werden? Regeln einer Kunst, ohne Räsonnement über ihre Verbindung mit den Zwecken, die erreicht werden sollen; was sind sie anders als bloße Beschreibungen eines zu beobachtenden Verfahrens? Und vollends Sammlungen von Lebensregeln, moralischen Beobachtungen, Sprüchen: können sie nur zu irgend einer Gattung gezogen werden? Sind sie ein wirkliches Ganze? Wird nicht Alles was ein Ganzes ist, nur durch Verbindung der Theile dazu? Ist ein Haufen unordentlich übereinander liegender Baumaterialien eine Art von Gebäuden? ─ Wir sehen, daß wir sehr Recht gethan, da wir in dem Hauptstück vom Lehrgedicht diese seynsollende Art desselben lieber gar nicht in Betrachtung nahmen.   Doch hinweg von dieser Vergleichung der pragmatischen und didaktischen Gattung, um zur Betrachtung der erstern allein zu kommen! ─ Wenn, wie gesagt, das Wesen einer jeden Handlung nicht in den einzelnen Thätigkeiten, außer ihrem Zusammenhange betrachtet, sondern selbst in der Art des Zusammenhanges derselben besteht; wenn ferner dieser Zusammenhang sich in dem Innern, besonders in dem Herzen der Menschen befindet, das mit solchen und solchen Neigungen ausgerüstet, von solchen und solchen Gegenständen auf die und die bestimmte Art gerührt, die und die bestimmten Absichten faßt, und bei Ausführung derselben die und die bestimmte Art des Verfahrens beobachtet: so sieht man schon, auch ohne noch ein besonderes Beispiel vor Augen zu haben, was hier Alles zu betrachten vorkommen kann. Die Erfindung der Charaktere nach ihren Grundzügen, besonders nach den herrschenden Neigungen des Herzens, und die Erfindung der ursprünglichen Lagen oder Verhältnisse, welche die Neigungen in Aufruhr bringen und die Kräfte ins Spiel setzen, wird die erste Sorge des Dichters seyn müssen; seine zweite, wie er, nach den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur überhaupt, und nach der besondern Beschaffenheit der von ihm angenommenen Charaktere, aus jenen ursprünglichen Lagen die ganze Folge der Veränderungen bis zu Ende entwickeln soll. Schon für die Erfindung, oder wenn ihm der Stoff in der Natur gegeben wäre, schon für die Zurichtung dieses ganzen Stoffs, für Thema und Ausführung des Thema, werden sich aus dem Gesetz der Lebhaftigkeit gewisse allgemeine Regeln ergeben, ohnedaß man noch die Formen mit in Betrachtung zu ziehen hätte.   Unsrer bisherigen Methode nach, wollen wir auch hier ein einzelnes Beispiel zum Grunde legen. Es sei folgende sehr lebhaft erzählte Romanze: Die Entführung. „Knapp, sattle mir mein Dänenross, Dass ich mir Ruh' erreite! Es wird mir hier zu eng' im Schloss; Ich will und muss ins Weite!“ ─ So rief der Ritter Karl in Hast, Voll Angst und Ahnung, sonder Rast. Es schien ihn so zu plagen, Als hätt' er wen erschlagen. Er sprengte, daß es Funken stob, Hinunter von dem Hofe; Und als er kaum den Blick erhob, Sieh da! Gertrudens Zofe! Zusammenschrak der Rittersmann; Es packt' ihn, wie mit Krallen, an, Und schüttelt' ihn, wie Fieber, Hinüber und herüber.   „Gott grüß' Euch, edler junger Herr! Gott geb' Euch Heil und Frieden! Mein armes Fräulein hat mich her Zum letstenmal beschieden. Verloren ist Euch Trudchens Hand! Dem Junker Plump von Pommerland Hat sie, vor Aller Ohren, Ihr Vater zugeschworen.“   „„Mord, flucht er laut, bei Schwert und Spieß! Wo Karl dir noch gelüstet, So sollst du tief ins Burgverließ, Wo Molch und Unke nistet. Nicht rasten will ich Tag und Nacht, Bis daß ich nieder ihn gemacht, Das Herz ihm ausgerissen Und das dir nachgeschmissen.““ „Jetzt in der Kammer zagt die Braut, Und zuckt vor Herzenswehen, Und ächzet tief, und weinet laut, Und wünschet zu vergehen. Ach! Gott der Herr muß ihrer Pein, Bald muß und wird er gnädig seyn. Hört Ihr zur Trauer läuten, So wißt Ihr's auszudeuten.“   „„Geh, meld' ihm, daß ich sterben muß ─ Rief sie mit tausend Zähren ─ Geh, bring ihm, ach! den letzten Gruß, Den er von mir wird hören! Geh unter Gottes Schutz, und bring Von mir ihm diesen goldnen Ring, Und dieses Wehrgehenke, Wobei er mein gedenke!““ ─   Zu Ohren braust' ihm, wie ein Meer, Die Schreckenspost der Dirne; Die Berge wankten um ihn her: Es flirrt' ihm vor der Stirne. Doch jach, wie Windeswirbel fährt Und rührig Laub und Staub empört, Ward seiner Lebensgeister Verzweiflungsmuth nun Meister. „Gottslohn! Gottslohn! du treue Magd, Kann ich's dir nicht bezahlen. Gottslohn, daß du mirs angesagt, Zu hunderttausend malen! Biß wohlgemuth und tummle dich! Flugs tummle dich zurück, und sprich: Wärs auch aus tausend Ketten, So wollt' ich sie erretten.   „Biß wohlgemuth und tummle dich! Flugs tummle dich von hinnen! Ha! Riesen, gegen Hieb und Stich, Wollt' ich sie abgewinnen. Sprich: Mitternachts bei Sternenschein Wollt' ich vor ihrem Fenster seyn, Mir geh' es, wie es gehe! Wohl, oder ewig wehe!   „Risch auf und fort!“ ─ Wie Sporen trieb Des Ritters Wort die Dirne. Tief holt' er wieder Luft, und rieb Sichs klar vor Aug' und Stirne. Dann schwenkt' er hin und her sein Roß, Daß ihm der Schweiß vom Buge floß, Bis er sich Rath ersonnen Und den Entschluß gewonnen. Drauf ließ er heim sein Silberhorn Von Dach und Zinnen schallen. Herangesprengt, durch Korn und Dorn, Kam stracks ein Heer Vasallen. Draus zog er Mann bei Mann hervor, Und raunt' ihm heimlich Ding ins Ohr; ─ „Wohlauf! Wohlan! Seid fertig, Und meines Horns gewärtig!“ ─   Als nun die Nacht Gebirg und Thal Vermummt in Rabenschatten, Und Hochburgs Lampen überall Schon ausgeflimmert hatten, Und Alles tief entschlafen war; Doch nur das Fräulein immerdar, Voll Fieberangst, noch wachte Und seinen Ritter dachte:   Da horch! Ein süßer Liebeston Kam leis' emporgeflogen. „Ho, Trudchen, ho! Da bin ich schon. Risch auf! dich angezogen! Ich, ich, dein Ritter, rufe dir; Geschwind, geschwind herab zu mir! Schon wartet dein die Leiter. Mein Klepper bringt dich weiter.“ ─ „Ach nein, du Herzens-Karl, ach nein! Still, daß ich nichts mehr höre! Entrönn' ich, ach! mit dir allein, Dann wehe meiner Ehre! Nur noch ein letzter Liebeskuß Sei, Liebater, dein und mein Genuß, Eh' ich, im Todtenkleide, Auf ewig von dir scheide!“ ─   „Ha Kind! Auf meine Rittertreu Kannst du die Erde bauen. Du kannst, beim Himmel! froh und frei Mir Ehr' und Leib vertrauen, Risch gehts nach meiner Mutter fort; Das Sacrament vereint uns dort. Komm! komm! du bist geborgen; Laß Gott und mich nur sorgen!“ ─   „Mein Vater ... ach ein Reichsbaron! ... So stolz von Ehrenstamme! ... Laß ab! Laß ab! Wie beb' ich schon Vor seines Zornes Flamme! Nicht rasten wird er Tag und Nacht, Bis daß er nieder dich gemacht, Das Herz dir ausgerissen Und das mir vorgeschmissen.“ ─ „Ha Kind! Sei nur erst sattelfest, So ist mir nicht mehr bange. Dann steht uns offen Ost und West. ─ O zaudre nicht zu lange! Horch, Liebchen, horch! .. Was rührte sich? Um Gotteswillen! tummle dich! Komm! komm! die Nacht hat Ohren; Sonst sind wir ganz verloren.“   Das Fräulein zagte, stand .. und stand .. Es graust ihr durch die Glieder; Da griff er nach der Schwanenhand Und zog sie flink hernieder. ─ Ach! Was ein Herzen, Mund und Brust, Mit Rang und Drang, voll Angst und Lust, Belauschten jetzt die Sterne Aus hoher Himmelsferne!   Er nahm sein Lieb, mit einem Schwung, Und schwang's auf den Polacken. Hui! saß er selber auf, und schlung Sein Heerhorn um den Nacken. Der Ritter hinten, Trudchen vorn. Den Dänen trieb des Ritters Sporn, Die Peitsche den Polacken; Und Hochburg blieb im Nacken. ─ Ach! leise hört die Mitternacht! Kein Wörtchen ging verloren Im nächsten Bett war aufgewacht Ein Paar Verrätherohren. Des Fräuleins Sittenmeisterinn, Voll Gier nach schnödem Geldgewinn, Sprang hurtig auf, die Thaten Dem Alten zu verrathen.   „Halloh! halloh! Herr Reichsbaron! Hervor aus Bett' und Kammer! Eu'r Fräulein Trudchen ist entflohn; Entflohn zu Schand' und Jammer! Schon reitet Karl von Eichenhorst Und jagt mit ihr durch Feld und Forst. Geschwind! Ihr dürft nicht weilen, Wollt Ihr sie noch ereilen.“ ─   Hui auf der Freiherr, hui heraus, Bewehrte sich zum Streite, Und donnerte durch Hof und Haus, Und weckte seine Leute. „Heraus, mein Sohn von Pommerland! Sitz' auf! Nimm Lanz' und Schwert zur Hand! Die Braut ist dir gestohlen; Fort, fort! sie einzuholen!“ ─ Rasch ritt das Paar im Zwielicht schon; Da, horch! ─ ein dumpfes Rufen ─ Und horch! ─ erscholl ein Donnerton Von Hochburgs Pferdehufen. Und wild kam Plump, den Zaum verhängt, Weit weit voran dahergesprengt; Und ließ, zu Trudchens Grausen, Vorbei die Lanze sausen.   „Halt an! halt an, du Ehrendieb! Mit deiner losen Beute. Herbei vor meinen Klingenhieb! Dann raube wieder Bräute! Halt an, verlaufne Buhlerinn, Daß neben deinen Schurken hin Dich meine Rache strecke, Und Schimpf und Schand' euch decke!“ ─   „Das leugst du, Plump von Pommerland, Bei Gott und Ritterehre! Herab! herab! daß Schwert und Hand Dich andre Sitte lehre. ─ Halt, Trudchen, halt den Dänen an! ─ Herunter, Junker Grobian, Herunter von der Mähre, Daß ich dich Sitte lehre!“ Ach Trudchen, wie voll Angst und Noth! Sah hoch die Säbel schwingen. Hell funkelten im Morgenroth Die Damascener Klingen. Von Kling und Klang, von Ach und Krach, Ward rund umher das Echo wach. Von ihrer Fersen Stampfen Begann der Grund zu dampfen.   Wie Wetter schlug des Liebsten Schwert Den Ungeschliffnen nieder. Gertrudens Held blieb unversehrt, Und Plump erstand nicht wieder. ─ Nun weh! o weh! Erbarm' es Gott! Kam fürchterlich, Galopp und Trott, Als Karl kaum ausgestritten, Der Nachtrab angeritten. ─   Trarah! Trarah! durch Flur und Wald Ließ Karl sein Horn nun schallen. Sieh da! hervor vom Hinterhalt, Hop hop! sein Heer Vasallen. ─ „Nun halt, Baron, und hör' ein Wort! Schau auf! Erblickst du Jene dort? Die sind zum Schlagen fertig Und meines Winks gewärtig. „Halt an! halt an! und hör' ein Wort, Damit dich nichts gereue! Dein Kind gab längst mir Treu' und Wort, Wie ich ihm Wort und Treue. Willst du zerreißen Herz und Herz? Soll dich ihr Blut, soll dich ihr Schmerz Vor Gott und Welt verklagen? Wohlan! so laß uns schlagen!   „Noch halt! bei Gott beschwör' ich dich, Bevor's dein Herz gereuet. In Ehr' und Züchten hab' ich mich Dem Fräulein stets geweihet, Gieb,.. Vater,.. gieb mir Trudchans Hand! Der Himmel gab mir Gold und Land, Mein Ritterruhm und Adel Gottlob! trotzt jedem Tadel.“ ─   Ach Trudchen, wie voll Angst und Noth! Verbluht' in Todesblässe. Von Zorn der Freiherr heiß und roth Glich einer Feueresse. ─ Und Trudchen warf sich auf den Grund; Sie rang die schönen Hände wund, Und suchte baß, mit Thränen, Den Eifrer zu versöhnen. „O Vater, habt Barmhersigkeit Mit eurem armen Kinde! Verzeih' euch, wie Ihr uns verzeiht, Der Himmel auch die Sünde! Glaubt, bester Vater! diese Flucht, Ich hätte nimmer sie versucht, Wenn vor des Junkers Bette Mich nicht geekelt hätte.   „Wie oft habt Ihr, auf Knie und Hand, Gewiegt mich und getragen! Wie oft: du Herzenskind! genannt; Du Trost in alten Tagen! O Vater, Vater! denkt zurück!.. Ermordet nicht mein ganzes Glück! Ihr tödtet sonst daneben Auch eures Kindes Leben.“ ─   Der Freiherr warf sein Haupt herum, Und wies den krausen Nacken. Der Freiherr rieb, wie taub und stumm, Die dunkelrauhen Backen. ─ Vor Wehmuth brach ihm Herz und Blick; Doch schlang er stolz den Strom surück, Um nicht durch Vaterthränen Den Rittersinn zu höhnen. Bald sanken Zorn und Ungestüm; Das Vaterherz wuchs über. Von hellen Zähren strömten ihm Die stolzen Augen über. ─ Er hob sein Kind vom Boden auf; Er ließ der Herzensfluth den Lauf, Und wollte schier vergehen Vor wundersüßen Wehen.   „Nun wohl! Verzeih mir Gott die Schuld, So wie ich dir verzeihe! Empfange meine Vaterhuld, Empfange sie aufs neue! In Gottes Namen sei es drum!“ ─ Hier wandt' er sich zum Ritter um ─ „Da! Nimm sie meinetwegen, Und meinen ganzen Segen!   „Komm! Nimm sie hin, und sei mein Sohn, Wie ich dein Vater werde! Vergeben und vergessen schon Ist jegliche Beschwerde. Dein Vater, einst mein Ehrenfeind, Der's nimmer hold mit mir gemeint, That Vieles mir zu Hohne. Ihn haßt' ich noch im Sohne. „Mach's wieder gut! Mach's gut, mein Sohn, An mir und meinem Kinde! Aufdaß ich meiner Güte Lohn In deiner Güte finde. So segne dann, der auf uns sieht, Euch segne Gott von Glied zu Glied! Auf! Wechselt Ring' und Hände! Und hiemit Lied am Ende!“ Bürger.   Eine aufmerksame Lesung dieses Stücks muß den Begriff den wir von der Handlung gegeben haben, nicht bloß erläutert; sie muß ihn auch bestätigt haben. In dem Klopstockischen Gemälde des Selbstmörders, S. 298 f., war es bloß der einzelne Seelenzustand, die einzelne That des Unglücklichen, die uns rührte, erschütterte: unsre ganze Empfindung war ein schreckenvolles Anschauen der Gegenwart; in der Bürgerischen Erzählung ist es weit weniger Anschauen der Gegenwart, als Erwartung der Zukunft, was uns beschäftigt: wir wünschen, hoffen, fürchten; wir haben von Anfang bis zu Ende eine unruhige Ahnung des Ausganges; kurz: wir werden, im genauesten Verstande des Worts, interessirt. Diese Art der Wirkung aber rührt sichtbar nur daher: weil wir in dem Gegenwärtigen schon den Saamen der Zukunft, die Gründe der nachfolgenden Veränderungen erblicken; Gründe, die indeß für den letzten Erfolg, welchen wir erwarten, noch nicht entscheidend, nicht zureichend sind, und die daher noch immer die Möglichkeit eines andern Erfolges übrig lassen. ─ Es können sich aus dem Innern der Charaktere selbst glückliche Ideen entwickeln: andre Neigungen können darin durch gelegentlichen Reiz bis zum Überschwunge mächtig werden; oder auch in der umgebenden übrigen Natur, die eine uns verborgene Hand lenkt, können sich unvermuthete Begebenheiten, Umstände von dem wichtigsten Einflusse hervorthun: die Personen können in ihrem Laufe auf einem nie völlig bekannten Meere plötzlich an Ströme, an Untiefen gerathen, die auf einmal ihre Absichten hemmen und alle ihre Maßregeln verwirren. Da diese Art der Wirkung, dieses Hineintreiben der Seele in eine ungewisse, nur halb erhellte Zukunft, der pragmatischen Gattung so wesentlich ist, und durch keine andre Art von Wirkung ersetzt werden kann; so muß der Dichter, um das zu seyn wofür er sich ausgiebt, Alles anwenden, was zur Erreichung oder Verstärkung derselben beiträgt. In der Bürgerischen Erzählung fanden wir sie in einem hohen Grade erreicht; aber auf welchen Wegen? durch was für Mittel? Wie hat der Dichter Charaktere und Situationen angelegt; wie sie durchgeführt, daß wir ihm bis zu Ende, nicht nur mit so viel Bereitwilligkeit, sondern selbst mit so viel Begierde, folgen?   Unter den Personen die er uns vorführt, sind nur zwei, deren Interesse das unsrige wird, und um derentwillen wir auch auf die übrigen aufmerksam werden. Wir finden das Schicksal von beiden innigst in einander verwebt; ihre Absichten sind daher auch im Grunde die nehmlichen, und die eine Person kann ohne die andere weder glücklich noch unglücklich werden. Wäre ihr Schicksal nicht so relativ, nicht so Eins; so würden wir nur Eine Person fordern, die uns vor Allen interessirte: denn zu einem doppelten, zu einem vielfachen Interesse ist unsre Seelenkraft zu beschränkt; und ein entgegengesetztes anzunehmen, wäre unmöglich. Nur geschwächt könnte durch das eine Interesse das andere, nur so zweideutig und veränderlich könnte es werden, daß wir uns bald mehr nach dieser, bald mehr nach jener Seite neigten: und das wäre denn eine Anlage, die allem Endzweck der Kunst zuwiderliefe, weil sie dem ganzen Werk seine Lebhaftigkeit nähme. Doch auch dies scheint nicht hinlänglich zu seyn, daß Glück und Unglück mehrerer Personen innigst verflochten seyn müssen; denn wären dieser mehrern zuviel, so wäre abermal, wegen der natürlichen Einschränkung unsrer Seelenkraft, kein ganz lebhaftes Interesse möglich. Die vielen einzelnen Wesen würden in Eine allgemeine Idee zusammenfließen, die immer undichterisch, immer ohne Wärme und Kraft ist. Wenn daher in einem Werk eine größere Zahl von Menschen; wenn ein ganzes Volk erscheint, das zu Einem gemeinsamen, ungetheilten Interesse seine Kräfte vereinigt: so muß doch Einer vor der verwirrten Menge von Menschenköpfen voranstehen, der so viel größer, ausgezeichneter, beleuchteter sei, daß unsre vorzügliche Aufmerksamkeit sogleich auf ihn falle, und sein Bestes, seine Wirksamkeit uns vor allem Andern beschäftige.   Doch damit ist nur noch die Zahl der interessirenden Charaktere, nicht ihre zum Interessiren nothwendige Beschaffenheit bestimmt. Ein unumgängliches Vorauserforderniß, wie zu jeder andern Eigenschaft, so auch zum Interesse eines Gedankens, ist seine innere Möglichkeit, seine Wahrheit; denn ohne diese kann die Seele den Gedanken durchaus nicht fassen, oder vielmehr, er hört auf ein Gedanke zu seyn: er wird nichts. Also auch bei dem Charakter wird keine Eigenschaft eher erfordert werden, als daß er möglich, denkbar, ohne innern Widerspruch sei. ─ Karl von Eichenhorst, fanden wir, war ein feurigverliebter, ein tapfrer, entschloßner, für die Ehre seiner Geliebten und seine eigne höchstempfindlicher, ein edelherziger, rechtschaffner, zugleich aber heftiger Jüngling; das waren viele, mannichfaltige, aben nicht widersprechende, nicht unvereinbare Züge. Seine Geliebte ersetzte an Zärtlichkeit, was ihr an Feuer gebrach; mit ihrer Leidenschaft für den Ritter verband sie das wärmste Gefühl ihrer Kindespflicht; zugleich war sie für ihren Ruf, für ihre Ehre äußerst besorgt; und bei jeder Gefahr, jeder Gelegenheit, wo zu wagen war, furchtsam. Auch hier hatten wir wieder mannichfaltige, aber mit einander verträgliche Eigenschaften; so verträglich, daß wir zu der einen die andre schon als wahrscheinlich ahneten, und befremdet würden gewesen seyn sie anders zu finden.   Wozu aber, könnte man fragen, diese Vielheit, diese Mannichfaltigkeit in einem Charakter, da doch die innere Möglichkeit desselben seine erste, vornehmste Eigenschaft ist, und die Gefahr des Widerspruchs um so mehr abnimmt, je mehr ihn der Dichter vereinfacht? ─ Freilich wäre dieses Vereinfachen zu dem angegebenen Endzweck ein sehr sichres bequemes Mittel, wenn nur nicht auf der andern Seite die dichterische Schönheit verloren ginge, und zugleich ein neuer Widerspruch, nur von anderer Art, entstände. Ein Mensch der immer nur Eins ist, immer nur Eine Seite, Eine Eigenschaft zeigt; mit einem Wort: ein personificirtes Abstractum, ist eine in ihrem Innern ärmere, mithin minder lebhafte Idee; auch ersetzt die Erhöhung des Grades dieser Einen Eigenschaft den Mangel an dichterischer Lebhaftigkeit nicht: denn ein einfacher, wenn auch noch so durchdringender, Ton ist doch immer nicht eine ganze Harmonie von Tönen, und eben sein Durchdringendes, Schneidendes macht ihn dem Ohre nur um so eher widrig. Ein Mensch, der nichts als liebt oder haßt, nichts als würgt oder wohlthut, nichts als lacht oder trauert, oder der auch bei der sonstigen Mannichfaltigkeit seines Charakters, nur darin keine Mannichfaltigkeit zeigt, daß er das was er ist, immer gleich sehr ist: so ein Mensch ist, eben um dieser Armuth seines Charakters willen, ein undichterischer, ein zu den besten, wirksamsten Situationen unbrauchbarer Mensch. Denn bei ihm geht der so interessante innere Kampf der Leidenschaften, geht der melodische Wechsel von Tönen und Empfindungen verloren; auch wird unsre Erwartung, wie ihn dieser und jener Vorfall rühren, was er für Entschließungen fassen, zu welchen Mitteln er greifen werde, in weit geringerem Grade gespannt, da wir schon Alles aus seinem einseitigen, immer gleichem Charakter so ziemlich voraussehn. Was aber das Wichtigste ist; so läßt sich so ein Mensch nicht als wirklich denken, und doch soll er thätig seyn, handeln. Wir erblicken eine Figur von nur Einer, von unwandelbarer Miene und Stellung: und doch sollen wir uns bereden, daß diese Figur ein belebtes Wesen, daß sie mehr als todtes Werk einer Kunst sei, welche schönen, frappanten, aber für die Beachtung zu schnell vorüberfliehenden Augenblicken Dauer giebt, damit sich der Zuschauer mit dem Genuß derselben sättigen könne. ─ Indeß geht freilich diese ganze Anmerkung nur auf Werke von weiterem Umfang, von größerer Mannichfaltigkeit der Verhältnisse, worin der Charakter gestellt wird: denn in sehr einfachen Handlungen kann oft nur ein einziger simpler Charakterzug durch seinen Adel, seine Schönheit und Größe gefallen. So in dem Liede „vom braven Mann,“ einem der vorzüglichsten Stücke unsers Dichters, wo die Thätigkeit nur Eine ist; denn daß sie mehrmalen wiederholt wird, vervielfacht nicht die Glieder der Handlung: es ist der nehmliche bleibende, aber durch seinen ausnehmenden Adel außerst rührende Beweggrund, der die dreifache That hervorbringt. Auch bloße Nebenpersonen, wie in unsrer Romanze die Zofe, oder Junker Plump, die nur einmal, nur auf Augenblicke erscheinen, können freilich ihre Charaktere nicht ganz entwickeln; und eigne Episoden anzulegen, um zu dieser Entwickelung Raum zu gewinnen, würde den Eindruck der Haupthandlung schwächen.   Wenn denn aber, könnte man denken, eine harmonische Mannichfaltigkeit der Züge die Charaktere dichterisch macht; so müßte derjenige Charakter der am meisten dichterische seyn, welcher so viele Eigenschaften verbände, als immer möglich: und das würde gerade der, der Alles wäre, ohne irgend etwas so recht zu seyn; der bald so dächte bald anders, bald wollte bald nicht wollte; der immer nichts durch sich selbst, Alles nur durch die Umstände wäre, von denen er sich intallerlei Gestalten bilden, in allerlei Directionen, bald hiehin bald dorthin, treiben ließe. Man sagt hierauf ganz recht: daß so ein Charakter eigentlich gar kein Charakter sei; aber wie, wenn also gar kein Charakter der beßre, der für die Dichtkunst brauchbarere wäre? Wozu überhaupt ein Charakter; wozu das Consistente und Feste, wenn uns das Weiche und Schlaffe vortheilhafter, nützlicher ist? Oder sagt uns vielleicht alle unsre Erfahrung, daß keine so weiche, unsichre, schwankende Sinnesart jemal wirklich gewesen sei? Sie sagt uns wohl eher das Gegentheil; aber damit ist der Dichter der eine solche Sinnesart schildert, noch nicht gerechtfertigt: es fragt sich zuvor, ob er Wirkung damit hervorbringen, ob er interessiren könne? Ein so schwacher, in Empfindungen und Entschließungen so schlaffer, wandelbarer Mensch ist keiner lebendigen Eindrücke und Begierden, die er uns mittheilen könnte, keiner festen Absichten und Entwürfe, in die er uns mit hineinzöge, fähig: es fällt also alle wärmere Theilnehmung an seinem Schicksal weg; er kann in einem Werke höchstens nur als Neben-, als Mittelsperson figuriren. Dazu kömmt noch eine andere Betrachtung; diese: daß bei einem so unbestimmten Charakter die Zukunft nun um eben so viel zu dunkel wird, als sie bei dem allzubestimmten einsörmigen zu hell ward, und wir also bei jenem noch mehr, als bei diesem, das Vergnügen der unruhigen Vorhersehung entbehren; ein Vergnügen, welches doch pragmatischen Werken ihren schönsten Reiz, ihr größtes und eigenthümlichstes Verdienst giebt.   Ein zweiter Blick auf die Charaktere unsrer beiden Liebenden wird uns bald, außer ihrer innern Möglichkeit, eine noch andre, nicht minder merkwürdige, Eigenschaft an ihnen zeigen. Karl und Gertrude sind beide jung, beide von edlen und stolzen Häusern; jener ist Mann, diese Mädchen. Wir würden es sonderbar finden, wenn sie bei ihrer Jugend mehr kalt als feurig, mehr träge als rasch, mehr bedächtig als unbesonnen wären; wenn sie bei ihrer edlen Herkunft mehr eine kriechende als eine stolze Denkungsart äußerten; oder wenn sie ihre beiderseitigen Rollen wechselten, der Mann zaghaft, das Mädchen beherzt, jener zurückhaltend, dieses ungestüm wäre. Von jedem Alter, jedem Stande, jedem Geschlecht haben wir gewisse Gattungsbegriffe festgesetzt, die wir in den einzelnen Individuen wiederzufinden erwarten; und obgleich Ausnahmen von der Gattung möglich sind, so sind sie doch immer weniger wahrscheinlich, als die unter der Regel begriffenen Fälle. Die Ideen von diesen letztern nehmen wir leichter an; wir bilden sie, eben wegen ihrer Harmonie mit den schon vorhandenen Ideen, weit schneller, lassen uns weit eher von ihnen täuschen. Wenn daher die eigenthümliche Beschaffenheit der Fabel nicht ausdrücklich das Ungewöhnliche, das Außerordentliche fordert; so wird der Dichter wohlthun, die Gattungsbegriffe ungekränkt zu lassen, und seine Erfindungskraft, seine Originalität, so wie Shakspeare und die Natur, mehr durch Abänderung der gewöhnlichen, als durch Bildung grotesker Formen zu zeigen. Das Nehmliche gilt von Nationen, Zeitaltern, Himmelsstrichen u. s. f.: denn auch von diesen haben wir Begriffe bei uns festgesetzt, die wir nicht ohne Befremden vermissen; obgleich freilich ein Mensch sein Volk, sein Jahrhundert, sein Geschlecht übertreffen, oder doch sonst mannichfaltig von der Regel abweichen kann. Selbst dieses Übertreffen und Abweichen aber hat denn doch seine Grade, die wir wenigstens fühlen, wenn wir sie auch nicht angeben können. ─ Am strengsten wird der Dichter, in Ansehung der äußern Sitten, der Künste, der Gebräuche einer Nation, insofern dieselben ausgemacht und bekannt sind, verfahren müssen; denn auch im unbekannteren Costume eine zu gelehrte Genauigkeit zu fordern, wäre pedantisch.   Charakter ist Inbegriff der Fähigkeiten, der Neigungen eines moralischen Wesens; aber Fähigkeiten sind noch nicht wirkliche Kraftäußerungen, Neigungen noch nicht Begierden: also ist mit dem Charakter noch nichts, als bloß die Möglichkeit einer Handlung erfunden. Soll wirklich Handlung entstehen: so müssen die Kräfte Gelegenheiten finden, die sie ins Spiel setzen; den Neigungen müssen sich individuelle Objecte darbieten, die sie in Begierden verwandeln. Es giebt der menschlichen Neigungen mancherlei; eben so mancherlei, als Güter und Übel; aber nicht alle erwecken unsre Theilnehmung in gleichem Grade. Je geistiger die Güter oder die Übel sind; je weniger die Begierden thierischen Instinct, je mehr sie menschliches Empfindniß voraussetzen: desto mehr lassen wir uns in dieselben ein; aus dem ganz einfachen Grunde: weil wir uns um so klarere und vollständigere Ideen von ihnen bilden. So war in unsrer Romanze die Liebe des Ritters und seines Fräuleins beschaffen: eine Liebe, von der es sich leicht verräth, daß sie mehr als thierischer Trieb, daß sie feineres Bedürfniß des Herzens sei; und die uns noch überdies, nach allen Umständen, als eine erlaubte, selbst als eine lobenswürdige Leidenschaft erscheint.   Doch dies allein ist es noch nicht, was unser ganzes Interesse an dieser Liebe bewirkt. Denn, dürfte die Begierde beider Liebenden nur den gewöhnlichen gebahnten Weg gehen; wären Alle die in die Sache zu reden haben, eben so zufrieden mit ihrer Vereinigung, wie sie selbst; brauchte es zur Befriedigung ihrer Leidenschaft nur ganz einfache, leichte, von selbst sich darbietende Thätigkeiten: so würde uns dieser alltägliche Liebeshandel eben so viel Überdruß, als jetzt Vergnügen, machen. Hingegen, daß der Vater sich dieser Liebe schlechterdings widersetzt; daß er der Tochter einen andern unwürdigen Liebhaber aufdringen will, den ihr Herz verabscheut; daß dem Ritter nichts anders übrig bleibt, als eine nächtliche gefahrvolle Entführung; kurz, daß sich bei der Befriedigung dieser Leidenschaft so große Hindernisse ereignen, welchen zu begegnen so schwer ist: das hält unsre Aufmerksamkeit auf diese Geschichte so gespannt; erwärmt uns für die Sache der beiden Liebenden so sehr; giebt der ganzen Handlung ihren dichterischen Werth, ihre Schönheit. Erst da die Liebenden einander verlieren sollen, empfinden sie es nach seiner ganzen Stärke, was sie einander werth sind; erst da wird ihre Leidenschaft, und unsre Theilnehmung, mächtig; erst da kommen in der unternehmenden Seele des Ritters alle Kräfte in Aufruhr, um Anschläge zu ersinnen, in die wir uns mit ihm einlassen: von denen wir, halb voll Furcht, halb voll Hoffnung, die möglichen guten und schlechten Erfolge voraussehn.   Sind denn nun aber Schwierigkeiten; ist das was man einen Knoten, eine Verwicklung nennt, zu jeder dichterischen Handlung nothwendig? Kann eine Handlung ohne Verwicklung nicht ihr volles Interesse, ihr volles Leben und Feuer haben? ─ Die Antwort hierauf giebt die allgemeine Bemerkung: daß Güter und Übel jeder Art um so größer erscheinen, je schwerer sie zu erreichen oder abzuwenden sind; daß mithin durch Schwierigkeiten, die sich der Befriedigung entgegensetzen, jede Begierde an innrer Stärke und Hitze wächst; daß auch nur bei Hindernissen die volle Anstrengung der Kräfte, und jene interessante Unsicherheit der Zukunft Statt hat, die uns in pragmatischen Werken immer so viel mehr und angenehmer, als die Gegenwart, beschäftigt. Ein Knoten also, aus was für einer Art von Schwierigkeiten er übrigens auch geschürzt, und wie fest oder wie lose er auch geschürzt seyn mag, ist zu jeder Handlung, die interessiren soll, unentbehrlich. Nur fragt sich's hier noch: wie viel Arten von Schwierigkeiten es geben könne, und welche die mehr dichterische, die interessantere sei?   In unsrer Romanze, sahen wir, lag der Knoten hauptsächlich in entgegenstehenden Begierden Anderer, die zu überwinden oder doch unwirksam zu machen waren; und in einigen der untergeordneten Situationen lag er noch überdies in einem innern Widerstande, da die Personen, um die eine Neigung zu befriedigen, eine andre zuvor überwinden mußten. ─ In dem „Liede vom braven Manne“ zeigen sich keine Parteien, wo die eine so, die andere anders wollte: Aller Begierde ist einhellig auf die Rettung einer unglücklichen Familie gerichtet; die Schwierigkeit liegt theils in der todten Natur, in der Wuth des Eisganges, die das Hinansteuern gefährlich macht; theils in dem Sträuben der Selbstliebe gegen eine so gewagte, mißliche Unternehmung. Im „Ödip“ des Sophokles liegt der Knoten in der Dunkelheit eines Factums, dessen Aufklärung die ganze Begierde des geängstigten Königs reizt, ohnedaß sogleich die Mittel dazu vorhanden oder hinreichend wären. In Geßners „Erstem Schiffer“ liegt er in dem Mangel eines Mittels, die weite Strecke ins Meer hinaus bis an das entfernte Eiland zu kommen, wo die ganze Seele des Jünglings hinstrebt. In Diderots „Hausvater“ liegt er hauptsächlich in der Unwissenheit Aller von Sophiens wahrem Herkommen und Stande. ─ Wenn wir diese sämmtlichen Fälle vergleichen; so liegen die Schwierigkeiten, die Hindernisse, die sich der Erfüllung einer Begierde widersetzen, entweder in der körperlichen, oder in der geistigen Natur; und im letztern Falle entweder in der Seele dessen selbst der die Begierde nährt, oder in Anderer Seelen: wo denn abermal in beiden Fällen entweder ein schwer zu hebender Mangel der Erkenntniß im Verstande, oder eine mächtige Leidenschaft im Herzen den Widerstand thut. Aber nicht immer ist, wie wir gesehen haben, der Knoten nur einfach geschürzt: insgemein verbinden sich der Schwierigkeiten mehrere; und je vielfacher, je größer dieselben sind, je zweifelhafter es wird, ob und wie die Maßregeln dagegen gelingen werden, desto vollkommner ist die Verwicklung.   Überhaupt erkennt man leicht, daß, bei übriger Gleichheit der Umstände, diejenige Verwicklung die vollkommnere sei, wo Leidenschaft gegen Leidenschaft kämpft: denn was die Kräfte der körperlichen Natur betrifft, so ist unsre Kenntniß davon zu dunkel, unsre Vorhersehung zu eingeschränkt; wogegen wir, da wo Leidenschaften kämpfen, von beiden streitenden Theilen volle lebhafte Begriffe und mithin zur Ahnung des wahrscheinlichen Erfolges mehr Data haben. Ob die Fluth den großmüthigen Menschenfreund, der eine unglückliche Familie zu retten, in den nächsten besten Kahn springt, verschlingen, oder ob er glücklich durchkommen werde? das hängt von Umständen ab, die zu weit außer unserm Gesichtskreise liegen. Aber ob Gertrude sich dem Verlangen des Ritters fügen, ob ihr fußfälliges Flehen den Vater rühren werde? das sind Fragen, auf welche wir in uns selbst und in unsrer Kenntniß vom Menschen schon so ziemlich die Antworten finden. Auch können wir nur da, wo beide Principien moralisch sind, das eine verachten, indem wir das andre bewundern, das eine hassen, indem wir das andre lieben: und so wird in dem einen Falle unser sittliches Empfindungsvermögen weit mehr als in dem andern beschäftigt. ─ Unwissenheit, Irrthum, wenn sie nicht mit endern Leidenschaften vergesellschaftet sind, sind ebenfalls nur wie todte Principien, gegen welche die eine lebendige Kraft der Begierde kämpft: ein offenbar schwächeres Interesse, als da entstehen muß, wo die mehrern mit einander verwickelten Kräfte alle lebendig sind; wo an beiden Seiten des Streits Geist und Herz in vollem Aufruhr ist, und Begierden gegen Begierden ringen. ─ Indeß kann doch der Knoten, der aus Unwissenheit oder Irrthum entsteht, ungemein interessant werden: dann nehmlich, wenn nicht die handelnde Person, aber wir, von der wahren Lage der Dinge unterrichtet ist: wenn jene, in ihrer Unwissenheit, ganz gegen ihr wahres Interesse, gegen unsre eigne Begierde handelt, wie wir sie gern handeln sähen; wenn wir schon vorausempfinden, welches schreckliche Elend die Person sich auf die Zukunft bereiten werde, wenn die Umstände die ihr jetzt noch verborgen bleiben, sich einmal aufklären werden.   Da in unsrer Romanze mehrere Personen in die Handlung verflochten sind; so bringt uns das, von der Betrachtung der Lage der Hauptpersonen, auf die Charaktere zurück, die wir vorhin nur noch einzeln betrachtet haben. Wir müssen sie jetzt noch als Gesellschaft, als Gruppe von Charakteren, in ihrer Verbindung, in ihrer Gegeneinanderstellung, betrachten.   Ohne Zweifel könnten diese Charaktere weit gleichförmiger, einander weit ähnlicher; die Liebhaber z. B. könnten ungefähr von gleichem Schlage, und auch der Vater im Grunde wenig von ihnen verschieden seyn. Allein ganz sichtbar gewinnt bei der Einrichtung des Dichters die Handlung an Wahrheit, an Kraft der Beweggründe, und eben dadurch auch an Vermögen zu interessiren. Denn nun begreift man um so eher die Abneigung des Fräuleins gegen den einen, und ihre innige Zärtlichkeit gegen den andern Liebhaber: ihre Leidenschaft wird weniger als eigensinnig, mehr als rechtmäßig erkannt; durch die Gerechtigkeit, die Entschiedenheit ihrer Leidenschaft wird auch die Unternehmung des Ritters, die sonst Eingriff in die heiligen Rechte des Vaters wäre, mehr lobens- als tadelnswürdig; wir treten völlig auf seine Partei, und begleiten ihn mit unsern besten eifrigsten Wünschen. Der andre Liebhaber empört uns durch eben das wodurch er Gertruden empört, durch seine Rohheit, durch den Mangel aller feinen Empfindung, womit er der väterlichen Gewalt verdanken will, was er bloß der Liebe der Tochter sollte verdanken wollen; und nicht weniger empört uns der Vater durch seine ungerechte Rachgier, durch die Wildheit seiner Drohungen, die Gewaltsamkeit seiner Maßregeln. Die ganze Handlung hindurch erblicken wir mehr Vollkommenheit auf der einen, als auf der andern Partei; und eben dadurch wird das Interesse, das sonst ungewiß und schwankend würde geblieben seyn, entschieden. ─ Allein auch schon ohne Rücksicht auf Interesse, gewinnt das Werk durch diese Entgegensetzung der Charaktere; es wird in seinen Theilen mannichfaltiger, und jeder einzelne Charakter tritt durch die Wirkung des Contrastes mehr ins Licht; seine Merkmaale werden anschaulicher, werden weiter hervorgehoben.   Um von diesem allgemeinern Vortheile zuerst zu reden: so scheint es, daß der Dichter ihn desto sichrer, desto vollständiger erlangen würde, wenn er die Charaktere ganz vollkommen contrastirte; das heißt, wenn er überall dem einen Äußersten das andre, z. B. der Verschwendung den Geiz; oder wenn er auch der Unvollkommenheit die wahre Vollkommenheit, z. B. einem von jenen Lastern die wahre Sparsamkeit, entgegenstellte. In der That haben Einige einen solchen Contrast nicht bloß empfohlen, sondern fast zur Regel gemacht; und läugnen kann man es nicht, daß nicht beiderlei Charaktere dadurch auffallender, als durch bloße Schattirungen, werden: denn Weiß wird durch Schwarz freilich mehr, als durch Grau, gehoben. Aber, sollte es gleichwohl nicht rathsam für den Dichter seyn, daß er so scharfe, schneidende Contraste lieber vermiede? Ist es eben so natürlich, so gewöhnlich, mithin eben so wahrscheinlich, daß Menschen von ganz entgegengesetzter, als von nur verschiedener, Denkungsart mit einander ins Spiel gerathen? Und wenn man nun auch der Dichtkunst ihr hergebrachtes Recht auf das Ungewöhnliche, auf das Außerordentliche gern einräumt: gehen nicht vielleicht andere Vortheile von mehr Bedeutung dabei verloren? ─ Zuerst sieht man leicht, daß dergleichen in stetem Contrast gehaltene Charaktere zu sehr an die einseitigen streifen; und daß also Alles was gegen diese gesagt worden, auch gegen jene, und zum Theil gegen jene noch mehr, gilt. Denn wenn, schon außer dem Contraste, das Vergnügen der Erwartung vermindert ward, wo die Charaktere zu einförmig waren: wie viel mehr noch muß dieser Nachtheil erfolgen, wo wir, vermöge des Contrastes, aus dem Betragen des Einen das Betragen des Andern schon sicher errathen können! Zweitens verlieren dergleichen Charaktere, die immer das Äußerste vorstellen, an einer höchstwichtigen, zur Erweckung und Unterhaltung der Aufmerksamkeit unentbehrlichen Eigenschaft: an der Neuheit. Die äußerste Unvollkommenheit, und die höchste Vollkommenheit, einer Eigenschaft sind immer das Bekanntere; in den Mischungen, in den so unendlich mannichfaltigen Abstufungen und Modificationen, liegt eigentlich das Verdienst der Originalität, der Erfindung. ─ In den beiden Meisterstücken unsers größten Charakterzeichners: in „Minna von Barnhelm“ und „Nathan dem Weisen,“ ist auch in der That keiner der Charaktere in vollen Contrast gestellt. Aber einen andern feinern Kunstgriff hat der Dichter gebraucht, wodurch er sie alle hervorhebt, diesen: daß jeder Charakter an jedem etwas Anderes ins Licht setzt, und daß der volle Contrast zwar nie in einem der andern Charaktere allein liegt, aber dafür in die ganze übrige Gesellschaft der Charaktere verstreut ist. Auch in seinem „Freigeist“ hat er diesen nehmlichen Kunstgriff, und sehr glücklich, gebraucht.   Was den andern Vortheil betrifft, den der Dichter von der Verschiedenheit seiner Charaktere zieht, da er durch sie das Interesse entscheidet; so fragt sichs: ob dieses Interesse überall, wie hier, durch die größere moralische Güte der Personen, durch die größere Rechtmäßigkeit ihrer Leidenschaften; oder wie es noch sonst, und wie am vollkommensten, am wirksamsten, könne entschieden werden?   Da, wo der Mensch für sich allein erscheint, kann er uns freilich, wie Crusoe, bloß durch das Interesse der gemeinschaftlichen Natur rühren: durch seine Noth, seinen verlaßnen Zustand; wir dürsen keine Vorzüge des Herzens an ihm erblicken, um Theil an seinem Leiden zu nehmen, und uns jeder sich darbietenden Erleichterung desselben zu freuen. Aber, wo der eine Mensch gegen den andern auftritt; wo das Interesse der gemeinschaftlichen Natur uns für Beide gleich, und also im Grunde für Keinen erwärmen müßte: ist es da gerade nür die größere Güte der Sache, die größere moralische Vollkommenheit der Charaktere, was uns mehr auf diese als auf jene Partei zieht? ─ In der Geschichte sind oft Gesinnungen und Unternehmungen zweier Parteien gleich tadelnswürdig, gleich ungerecht; und doch haben wir für die eine mehr gute Wünsche als für die andre; darum: weil wir bei ihr mehr Geist, mehr Plan, mehr Thätigkeit finden; weil wir finden, wie größere innere Kraft bei geringern äußern Kräften den Vorzug hat; vielleicht auch, weil sich noch sonst eine gewisse Parteilichkeit einmischt, indem die eine mehr als die andre zu den unsrigen gehört. Wir nehmen nur allzugern die Partei eines cultivirtern gegen ein uncultivirteres, eines europäischen gegen ein auswärtiges Volk, eines Menschen von unserm gegen einen Menschen von anderm Stande. Nur muß dieser größere Geist, dieser mehr zu den Unsrigen gehörige Mensch, nicht in osfenbarem Kampfe wider Unschuld und Gerechtigkeit begriffen seyn: oder er wird uns um so schrecklicher, je mehr wir von der Größe seines Geistes zu fürchten; um so verhaßter, je mehr wir uns unsrer Verbindung mit ihm zu schämen haben. ─ Eine andere Bemerkung ist: daß sonstige Güte eines Charakters uns oft gegen die gerechtere Sache besticht, indem sie uns an dieser gerechtern Sache der Gegenpartei zweifelhaft macht. Besonders vermögen dieses Leutseligkeit, Gefälligkeit der Sitten, Dienstfertigkeit, freigebige Großmuth, innige Liebe und Anhänglichkeit; mit einem Wort: alle die Tugenden, die mehr von jedem einzelnen Menschen können genossen werden, und deren Gutes sich unmittelbarer ankündigt. Es ist vielleicht noch weniger der größere, kühnere, unternehmendere Geist des Cäsar, als seine Humanität, seine Herablassung, seine bei so mancher Gelegenheit sich äußernde Herzenswärme, seine Freigebigkeit, sein Edelmuth im Verzeihen; was uns mehr für ihn als den Pompejus erwärmt, dessen Sache freilich auch nicht rein, jedoch die beßre, die von allen den würdigsten Männern des Staats unterstützte war, dessen Charakter hingegen weit weniger Einnehmendes hatte. Aber auch hier muß wieder der geschliffene, leutselige, dienstfertige Mann nicht als offenbarer Feind der Gerechtigkeit und Unschuld erscheinen; wir müssen glauben, daß seine Tugenden aus dem Herzen kommen, oder wir fangen an, ihn als das größte aller moralischen Ungeheuer, als Heuchler, als abgefeimten Verräther, zu hassen.   Aus diesem Allen folgt: daß, um ein höheres, wärmeres Interesse zu bewirken, sich überall, wie in unserer Romanze, größere Güte der Sache mit größerer Güte der Charaktere verbinden müsse; und so, scheint es denn, ließe sich weiter schließen: daß der vollkommenste Charakter, welcher dann die volle Gerechtigkeit der Sache schon mit einschließt, das entschiedenste, das feurigste Interesse bewirken werde. Nur müßte freilich, wegen der Regel vom Contraste, die höchste Unvollkommenheit nicht mit der höchsten Vollkommenheit in Gegensatz gebracht; und, wegen der Regel von der Einförmigkeit, nicht bloß Eine Eigenschaft in ihrem höchsten Grade geschildert werden. Aber jene erhabne Harmonie aller Neigungen der Seele, jene totale Vollkommenheit, die aus dem richtigsten Verhältniß aller ihrer Eigenschaften entspringt, und die das eigentliche Ideal ihrer Natur ist; sollte nicht die eben so den dichterischschönsten als den philosophischbesten Charakter geben?   Selbst die scharfsinnigsten Vertheidiger der vollkommnen Charaktere gestehen doch wenigstens ein: daß der Dichter wohl thun werde, die Schilderung des sittlichen Ideals nicht zu oft zu wiederholen; daß er uns öfter das Spiel von Eitelkeit und Verstand, die Mischung von Thorheit und Weisheit, als die einförmige, ungehinderte Wirksamkeit der Tugend, werde vorstellen müssen. Und warum das? Nicht, als wenn es nicht in der Vollkommenheit noch eine Mannichfaltigkeit geben könnte; sondern, weil uns diese Mannichfaltigkeit weniger bekannt ist; weil das Bild von Vollkommenheit, auch des Einzelnen, immer einen Hang zu einem bloß allgemeinen generischen Begriffe hat; weil wir nicht von der höchsten Vollkommenheit jedes einzelnen Menschen, sondern nur von einer höchsten Vollkommenheit der ganzen Gattung, wissen. ─ Wenn also der Dichter, zur Bewirkung des höchsten Interesse, immer nur auf das höchste Ideal ginge: so würde er im Grunde nicht viel mehr, als beständig den nehmlichen Weisen, nur von verschiednen Seiten; die nehmliche Vollkommenheit, nur in mancherlei abwechselnden Situationen, zeigen.   Aber, auch dies bei Seite gesetzt; kann diese Vollkommenheit, dieses allgemeine, jedem Einzelnen in der That unerreichbare Ideal, das gleichwohl der Einzelne vor Augen haben muß, wenn er nach seiner ihm eigenthümlichen höchsten Vollkommenheit hinstrebt: kann es die Wirkung und das Interesse haben, welches den Dichter zur Realisirung desselben bewegen könnte? oder welches ihn auch nur bewegen könnte, die ihm gegebenen wirklichen Charaktere, so viel als nur möglich, nach diesem höchsten sittlichen Ideale hinzuhalten? Die Frage ist mit andern Worten die: Wird der Mensch uns um so mehr erwärmen, je gemäßigter seine eigene Wärme; um so mehr unsre Seelen beunruhigen, je ruhiger seine eigene ist? Werden wir die Streiche die das Schicksal auf ihn führt, um so mehr mitempfinden, je weniger er selbst sie zu empfinden scheint? Werden wir um so mehr für ihn sorgen und zittern, je weniger er Fehltritte begeht? Werden wir um so ungeduldiger den Erfolg seiner Maßregeln erwarten, mit je mehr Heiterkeit er selbst auf den schlimmsten gefaßt ist? Werden wir seine Güte und Vortrefflichkeit mit so wärmerer Empfindung lieben, je mehr wir kaltes Nachdenken brauchen, um sie nur überall zu erkennen? Oder, damit wir Alles zusammenfassen: Werden unsre Vorstellungen um so mehr Lebhaftigkeit haben, je weniger ihre Objecte sie haben? ─ Wer sich auf das sittliche Ideal des Menschen versteht, welches hier auszuführen nicht der Ort ist; der wird einsehn, daß in der That alle diese Fragen treffen, und die Antwort darauf wird wohl niemand erst fordern. Der Dichter gebe immer seinem Helden ein wenig mehr Reizbarkeit, Leidenschaft, Hitze, als die wahre immer gleich gestimmte Weisheit erlaubt; er schränke seine Vollkommenheit durch Fehler und Schwachheiten ein, damit sie zur Schönheit werde, und wir sie fassen, anschauen, lieben können. Jene zu geistige, zu gränzenlose Vollkommenheit ist über unsre Sinne erhaben; sie ist das Werk einer tiefen Vernunft, und nur eine tiefe Vernunft kann sie fassen.   Gegen die höchste moralische Unvollkommenheit, gegen die kälteste, ruhigste, grundloseste Bosheit, gelten noch andere Gründe, die es dem Dichter durchaus widerrathen, sie der moralischen Schönheit gegenüber zu stellen. Eine solche Bosheit ist dem Verstande so abgeschmackt, als dem Herzen abscheulich: sie ist daher auch völlig undichterisch; denn Ideen, die man weder denken kann noch denken mag, können unmöglich lebhaft werden. Und was für Wirkung wird es selbst für die Schönheit haben können, wenn der Dichter sie mit der häßlichsten, ekelhaftesten Fratze zusammenbringt, in der sich kaum noch entfernte Züge der Menschheit finden? Keine sichrer, als daß wir, über den Ekel vor der Fratze, auch die Schönheit nicht sehen mögen. ─ Kurz: die höchste dichterische Wirkung wird nie durch das Höchste in den Charakteren erreicht; beides, zu viel Vollkommenheit und zu viel Unvollkommenheit, hebt die Lebhaftigkeit der Vorstellungen auf: jene weil die Kraft, sie in Einen lebhaften Gedanken zu fassen, fehlt; diese, weil noch außerdem der Wille sie zu fassen mangelt, wenn sie auch wirklich zu fassen wäre. Der übrigen Gründe, die schon im Vorhergehenden liegen und hier leicht anwendbar sind, nicht zu gedenken. ─   Wir hätten die erste Betrachtung, die Betrachtung des Thema, geendigt; denn so nannten wir die Erfindung der Hauptcharaktere und ihrer ursprünglichen Situationen. In unsrer Romanze waren die Charaktere: von der einen Seite, ein feurigverliebter, edelherziger, muthiger Jüngling, ein zärtliches, ehrliebendes, furchtsames Fräulein; von der andern Seite, ein roher, unedelmüthiger, heftiger Mitbewerber, und ein rachgieriger, eigensinniger, stolzer, aber als Vater weichherziger Alter. Die ursprüngliche Situation war: die durch die Rachgier des Vaters und sein gegebenes Ehrenwort gehinderte Glückseligkeit beider Liebenden. Eins hätten wir vielleicht noch hinzusetzen sollen, das so recht weder zu dem einen noch zu dem andern gehört, ob es gleich auf beides, und zumal auf die sich entspinnenden Absichten, auf Gang und Verlauf der Handlung, den wichtigsten Einfluß hat: die sonstigen äußern Verhältnisse der Personen, die Vortheile, welche sie in Ansehung ihres Standes, ihrer Glücksgüter, ihres Einflusses auf Andere haben, die übrigen Umstände der Zeit, des Ortes. Auch noch diese muß der Dichter zu den Charakteren und ihrer ursprünglichen Lage hinzu erfinden, oder vielmehr, er muß das Alles zugleich erfinden. Denn Eins giebt immer das Andre; gewisse Situationen rathen gewisse Charaktere und Umstände, gewisse Charaktere wieder gewisse Umstände und Situationen an, wenn ein Werk das höchste Interesse haben soll, dessen es fähig ist. In dem Kopf des Dichters entsteht das Alles auf einmal, aber freilich nur noch dunkel, unvollkommen, mit mancherlei Lücken; Eins bildet dann nach und nach das Andre, sowie es für das Ganze am ersprießlichsten scheint, weiter aus; es ist bloß Behuf der Methode, wenn wir das Eine in der Arbeit des Dichters voransetzen, das Andre folgen lassen. Und nicht nur gilt dies von der ersten Grundlage des Werks, sondern vom ganzen Werke. Nur sehr selten mag die erste ursprüngliche Lage, aus welcher sich Absichten und Begebenheiten entwickeln, in der Erfindung das Erste seyn; oft mag der Dichter vom Ende, insgemein mag er von einer der anlockendsten mittlern Situationen ausgehn, zu welcher er dann von der einen Seite das Ende, von der andern den Anfang findet. Aber was könnte uns hindern, das was denn doch zuletzt, wenn auch nicht gleich, in der Ideenkette das erste Glied wird, auch in unserer Betrachtung zum ersten zu machen?   Giebt es denn aber, kann man hier fragen, in dem Laufe menschlicher Begebenheiten irgend ein solches erstes Glied, welches von keinem höhern und frühern abhinge? Ist nicht die ganze Verbindung physischer und moralischer Wesen, die ganze Folge ihrer mannichfaltigen Veränderungen, oder mit einem Wort die ganze Welt, eine einige unzertrennliche Kette? Und würde also nicht der Dichter, wenn er den kleinen Theil dieser Kette, dessen Glieder er vor unser Anschauen bringt, vollkommen befestigen wollte, bis zum ersten Anfang der Dinge hinaufsteigen müssen; Bis dahin, wo den ersten Ring Zevs an sein Ruhebette Zu seinen Füßen hing? Ramler.   Man sieht, daß das Erste, wovon wir hier reden, nur ein relatives Erste seyn kann, weil sonst die Entwicklung der moralischen Gründe und die Beschreibung der concurrirenden physischen Ereignisse schlechterdings ins Unendliche führte. In unsrer Romanze fängt der Dichter mit Vorstellung der Leidenschaft des Ritters, und zugleich mit den Schwierigkeiten an, die sich seiner Begierde entgegenstellen, und die so weit gediehen sind, daß er entweder alle Hoffnung aufgeben, oder Entwürfe machen muß wie er sie überwinden könne. Ohne Begierde, haben wir gesehen, ist keine Handlung; ohne Schwierigkeit, hat keine Handlung dichterische Lebhaftigkeit: also, scheint es, wird überall die Vorstellung der Begierde, verbunden mit der Vorstellung der Schwierigkeiten, das Erste seyn müssen, womit der Dichter anhebt. Auch scheint es, daß eben hiedurch der Punct bestimmt werde, wo er endigen muß. Er muß es nehmlich da, wo mit der Verwicklung das Interesse aufhört; er muß also mit der Auflösung endigen, da wo entweder die Begierde, oder die Hindernisse völlig gesiegt haben, und also die Kräfte die im Spiel waren, zur Ruhe kommen. Dieselbige Regel gilt denn auch, wie es scheint, für den ganzen Verlauf zwischen Anfang und Ende. Es kann sich hier unendlich viel Fremdes finden, das die Handlung durchkreuzt; äußre Ursachen können sich einmischen, die den ganzen Gang der Begebenheiten abändern, und deren weitere Entwickelung abermal ins Unendliche führen würde. Der Dichter wird dieses Fremde absondern, diese sich einmischenden Ursachen da ablösen müssen, wo sie anfangen in die Handlung Einfluß zu haben; er wird bloß seine Verwicklung verfolgen, uns durch alle die Lagen, welche sich in unzertrennter Folge aus den genommenen Maßregeln seiner Personen ergeben, hindurchführen, und alles Äußre nicht zunächst zur Verwicklung Gehörige aus seinem Plan herauswerfen müssen. So wenigstens hat es der Sänger unsrer Romanze gemacht; allein es fragt sich: ob jeder Dichter einen so glücklichen Stoff habe, daß er ihm darin folgen könne?   Die Begierden der Personen selbst, ihre Umstände, ihr gegenseitiges Verhältniß, können etwas Unwahrscheinliches, etwas auffallend Fremdes haben: und dieses darf der Dichter durchaus nicht dulden; er darf nicht eher fortbauen, als bis er das Fundament seines Werks gesichert hat: er muß also in die vorhergehende Reihe der Begebenheiten so weit zurück, bis die Ursache die ihn dazu antrieb, verschwunden ist; das heißt: bis die Unwahrscheinlichkeit aufhört, und Alles unsern Begriffen und Erfahrungen von dem gewöhnlichen Laufe der physischen und moralischen Welt so gemäß wird, daß wir nach keinem Wie? oder Warum? mehr fragen. Der Sänger unsrer Romanze sagt uns von der Art wie die Liebe des Ritters und des Fräuleins entstanden, kein Wort; er läßt sie uns aus den hingestreuten Umständen errathen. Beider Wohnsitze lagen einander nahe; der Umgang zwischen beiden Geschlechtern war von jeher in unsern Gegenden weniger eingeschränkt; die Bekanntschaft war auf so mancherlei Weise möglich; und Liebe bei ihrer Jugend, ihren Vorzügen, war so natürlich. Weniger begreiflich war dagegen die Widersetzlichkeit, die feindselige Gesinnung des Vaters; denn da dieser Vater sonst so wohlmeinend, so zärtlich ist: warum sollte er die Glückseligkeit seines Kindes hindern? warum eine gerechte, lobenswürdige Leidenschaft gegen einen würdigen jungen Mann so durchaus verwerfen? Dieser Umstand fällt auf; der Dichter muß uns wenigstens einen Wink, einen Fingerzeig geben, der uns zurecht weise. „Dein Vater, einst mein Ehrenfeind, Der's nimmer hold mit mir gemeint, That Vieles mir zu Hohne. Ihn haßt' ich noch im Sohne.“ Also: der väterlichen Liebe tritt eine andre mächtige Leidenschaft in den Weg, rachgierige Feindschaft; diese Leidenschaft hat einen so begreiflichen Ursprung aus ritterlicher Mitbewerbung um Ehre; wiederholte Kränkungen sind dabei auf so mancherlei Weise möglich; und daß diese am Ende eingewurzelten Haß erzeugen, daß überhaupt die Leidenschaften gern durch die Verhältnisse gehn, und besonders der Haß sich gern von Eltern auf Kinder fortpflanzt: das Alles ist so bekannt, ist so alltäglich, daß man sich vollkommen dabei beruhigt, und alle Folgen die der Dichter daraus herleiten mag, willig annimmt. ─ In andern pragmatischen Werken kann dies umgekehrt seyn: die Begierde kann Erklärung, und das Hinderniß keine, oder sie können sie auch beide, bald bedürfen, bald nicht bedürfen. In der Geschichte von Romeo und Julie will man beides, die Feindseligkeit die zwischen den Capellets und Montechi herrscht, und die Liebe die demungeachtet zwischen den Kindern beider Häuser hat entstehen können, erläutert wissen. Im Othello fordert besonders die Liebe der Desdemona Erklärung; denn wer wird nicht fragen: wie doch immer eine Europäerinn einen Mohren, wie eine Tochter aus einem der edelsten Häuser Venedigs, und eine gesittete, in dem Stolz ihres Hauses erzogene Tochter, einen Menschen von niedriger Geburt habe heiraten können? Der Dichter beantwortet das, indem er diese Liebe auf die bekannte gewöhnliche Erscheinung zurückführt: daß Bewunderung großer Tugenden, mit innigem Mitleid über ausgestandenes großes Unglück verbunden, leicht Liebe erzeuge; und nun wird uns Alles begreiflich: wir hören mit Fragen über die Richtigkeit des Thema auf, und sind nur auf die Ausführung begierig.   Was diese Ausführung, was den ganzen Verlauf der Handlung betrifft; so mischt sich in unsrer Romanze die Gouvernante ein, und giebt dem Entwurf des Ritters eine ganz andre Wendung, auf die der Letzte zwar auch schon gefaßt ist. Hier war abermal keine Erklärung nöthig; denn, daß das Fräulein eine solche Sittenmeisterinn hatte, daß diese über das Geräusch aufwachte und den Vater zu wecken eilte: dies begreift sich so leicht, daß wir auch den kleinen flüchtigen Zug über den Beweggrund ihrer Thät dem Dichter geschenkt haben würden. Auch dies kann in andern Werken verschieden seyn. Orsina macht dem Odoardo die Entdeckung von den Absichten des Prinzen auf Emilien, und dieser Vorfall wird für den weitern Verlauf der Handlung sehr wichtig. Wir fragen: Wer ist diese Orsina? wie kömmt sie nach Dosalo? was hat sie für ein Interesse, gerade so wie sie handelt, zu handeln? Der Dichter muß auf diese Fragen antworten, oder er läuft Gefahr, daß wir ihm keinen Glauben geben. ─ Endlich, was den Ausgang betrifft; so ist in unsrer Romanze mit Auflösung des Knotens Alles so ganz geendigt, daß für unsre Neugier keine Frage mehr übrig bleibt. Der Nebenbuhler ist gefallen; der Vater versöhnt; die Liebenden vereinigt; was könnten wir noch weiter zu hören wünschen? Das Schicksal der Gouvernante oder der Zofe? Aber außer daß wir die längst vergaßen: wer sieht nicht, daß jene wohl nichts zu fürchten, und diese vielmehr zu hoffen habe? Freude ist eine sehr gutartige Leidenschaft; sie wird gegen die eine versöhnlich, gegen die andre mildthätig machen. Auch dies ist in andern pragmatischen Werken sehr anders. Noch so mancher Umstand kann, nach geschehener Auflösung, zurückbleiben, über den man unterrichtet, beruhigt seyn will; man mögte, nach Miß Sara's Tode, noch so gern wissen, was aus Marwood, aus Arabella, aus Mellefont wird. Und wenn in Otto von Wittelsbach, durch den unglücklichen Mord zu Ende des dritten Acts, die Hauptsache entschieden ist; so bleibt man noch über Otto's Schicksal in Unruhe.   In solchen Fällen nun, wo der Dichter nicht so kurz, wie der Sänger unsrer Romanze, seyn kann; wie soll er sich helfen? Wenigstens soll er so kurz seyn, als möglich; soll wenige Umstände, und die von einer Bedeutung, einer Wichtigkeit erfinden, daß er sich ein weitläuftiges Detail von vielen kleinen ersparen könne. Besonders soll er sich hüten, in die Vorbereitung, in die Exposition seiner Handlung, oder in die Episode ─ denn so nennt man die ausführlichere Entwicklung jedes in die Handlung von außen sich einmischenden Principiums, ob man gleich das Wort auch in weiterm Sinne nimmt, und jede oft ganz willkürliche Abschweifung des Dichters darunter versteht ─ er soll sich also hüten, in diese Vorbereitung, oder in diese Episode, eine eigne Verwicklung zu legen, die das Interesse der eigentlichen Haupthandlung störe oder wohl gar überwiege. Dies ist der Fehler, den man dem Plan des Grandison vorwirft, in welchem die nur episodische Clementina bald so anziehend wird, daß wir der ganzen Henriette Byron vergessen. Auch soll der Dichter die Handlung nicht zu weit, nach aufgelöstem Hauptknoten, fortsetzen; vielweniger durch eine eigne Verwicklung das noch zweifelhafte Schicksal seiner Personen entscheiden. Mehrere verschiedne, unmittelbar aneinander gehängte, Verwicklungen gereichen immer einem Werke zum Nachtheil; denn entweder sind beide interessant, oder nicht. Im letztern Falle fehlt, wenigstens einem Theil des Werks, die gehörige Lebhaftigkeit; im erstern Falle, macht uns das Interesse das wir an der einen Reihe von Begebenheiten nahmen, sehr ungeschickt, uns sogleich wieder mit voller Wärme in eine neue verschiedne Reihe einzulassen, weil wir von der vorigen noch zu ermüdet oder zu voll sind. Man fühlt dies, ungeachtet der meisterhaften Behandlung, in dem oben schon angeführten Stücke, das sonst in jeder Rücksicht unsrer Bühne so viel Ehre macht: im Otto von Wittelsbach. Mit Ende des dritten Aufzuges ist das Verhältniß zwischen dem Kaiser und dem Pfalzgrafen, das uns bis dahin beunruhigt hatte, völlig entschieden; die Treulosigkeit des erstern ist bestraft; die so schändlich gekränkte Freundschaft und Ehre des letztern gerächt; die Entwürfe, die Leidenschaften, die alle unsre Aufmerksamkeit an sich gezogen hatten, haben ihr Ende erreicht. Wenn wir nun auf einmal die ganz neue Verwicklung zwischen Otto und dem Reich, die ganz neue Reihe von Absichten und Thätigkeiten, die auf ein ganz anderes Ziel gerichtet sind, mit gleichem Interesse verfolgen sollten, so müßten die drei ersten Aufzüge nicht so vortrefflich, so hinreißend gewesen seyn, wie sie waren. Der Dichter hätte besser gethan, ein kürzeres schnelleres Ende durch Gründe vorzubereiten, die er unvermerkt schon der vorhergehenden Handlung eingewebt hätte.   Die hier vorgetragene Regel läßt sich auch so fassen: daß die Handlung, oder bestimmter und deutlicher, die Verwicklung, nur Eine seyn soll. Die Handlung nehmlich dauert sort, solange sich Begebenheiten nach ihrem moralischen Zusammenhange aus einander entwickeln; und so wäre ein Stück ohne Tadel, wenn nur keine mehrere Reihen von Begebenheiten darin vorgetragen würden, die von einander unabhängig wären, und etwa nur in allgemeinen, oder in sehr zufälligen Puncten zusammenhingen. Otto von Wittelsbach wäre, von Seiten der Einheit, ohne Fehler im Plan; und doch wird man das was wir daran zu tadeln fanden, überall einen Fehler wider die Einheit nennen. In unsrer Romanze, finden wir die vollkommenste Identität und Unzertrennlichkeit aller Theile, die vollkommenste Einheit. Die nehmlichen zusammenwirkenden Personen nicht allein, sondern ihre nehmlichen harmonirenden Begierden, die uns vom Anfange aufmerksam machten, kämpfen darin bis zu Ende gegen die nehmliche Verbindung von Schwierigkeiten; und zwar nicht nach mehrern von einander unabhängigen Planen, sondern in Einer fortlaufenden Reihe zusammenhangender, aus einander sich entwickelnder Thätigkeiten. Man nehme in irgend einer dieser Hinsichten, in Personen, oder Leidenschaften, oder Schwierigkeiten, oder Thätigkeiten, etwas Unverbundenes, Einzelnes, Abgesetztes an: und die Einheit der Handlung wird, mehr oder weniger, dadurch aufgehoben. ─ Diese Erklärung der Einheit ist, aus Gründen die schon vorgetragen worden, zugleich ihre Empfehlung. Wo die Einheit mangelt, da wird entweder das Interesse getheilt, oder die Aufmerksamkeit wird eine Zeitlang von der Hauptreihe ab auf Nebenreihen geleitet, oder sie soll plötzlich nach Endigung der einen Reihe in eine andere hinüber, wo das Vergnügen der Erwartung einen Stillstand leidet, und Leidenschaften, Schwierigkeiten, Entwürfe dagegen von den ersten ganz verschieden sind. Alles das schwächt die Lebhaftigkeit, wo nicht der ganzen Ideenreihe, doch wenigstens eines Theils derselben, und ist mithin undichterisch. Man suche daher, so viel man nur kann, die Einheit; und muß man ja zuweilen Ausnahmen machen, so mache man doch so wenige und so kleine als möglich. Man stelle die episodischen Entwicklungen hin, wo die Handlung noch nicht in vollem Feuer ist, oder wo sich in ihr gewisse merkliche Ruhepuncte finden; denn da sind jene nicht allein für das Hauptinteresse unschädlich, sondern können uns oft, besonders wenn sie von anderer Farbe als der Hauptstoff sind, sehr willkommen und angenehm seyn.   Um die Einheit desto sicherer zu beobachten, hüte sich der Dichter vor sehr romantischen, verwickelten, durch zu viele Zwischenbegebenheiten durchkreuzten Planen; er gebe den natürlichen, einfachen, aus wenig begreiflichen Hypothesen leicht sich entwickelnden, den Vorzug. Jene Plane werden wohl meist aus Armuth an wahrer Erfindungskraft, oft auch wohl in der Absicht entworfen, um die Personen in recht neue, frappante, oder vielmehr gewaltsame Situationen zu setzen, von denen man sich desto größere Wirkung verspricht. Allein diese Erwartung ist trüglich; denn je mehr Hülfshypothesen ein Satz, und ebenso, je mehr zusammentreffende sonderbare Zufälle eine Begebenheit erfordert: desto mehr wird die Wahrscheinlichkeit, die Bedingung aller dichterischen Lebhaftigkeit, geschwächt; desto mehr die Seele, die eine solche Menge vereinzelter Ideen fassen und gegenwärtig erhalten, so oft von dem geraden Wege in Nebenwege ausbeugen soll, verwirrt und ermüdet. ─ ─   Wir haben, so viel sich das im Allgemeinen thun ließ, die Linien gezogen, innerhalb welcher sich der pragmatische Dichter mit Ausführung seines Thema zu halten hat; wir haben festgesetzt, in welchen Puncten er die Reihe der Begebeheiten die er entwickelt, von ihren Gründen und Folgen ablösen, an welchen Gliedern er sie gleichsam aus der ganzen Kette der Weltbegebenheiten aushenken soll. Jetzt ist noch die Frage übrig: nach welchen Regeln er, innerhalb dieser bestimmten Gränzen, zu verfahren habe? ─ Es wird bei Bestimmung dieser Regeln keinen Unterschied machen: ob mehr die Personen selbst auf welche das Interesse fällt, oder mehr die Gegenpartei, oder ob beide ungefähr in gleichem Grade, thätig sind? Nur ist es freilich ein falscher Plan, wenn der Dichter die Personen durch die er interessiren will, in träger feiger Ruhe bloß zusehen, bloß leiden läßt, da sie doch ihren Umständen nach beides thätig seyn könnten und thätig seyn sollten. ─   Nach dem Begriff den wir von der Handlung festgesetzt haben. ist das eigentlich Wesentliche jedes pragmatischen Werks: daß uns der Dichter zeige, wie seine Personen von ihren Umständen, von ihrer ursprünglichen und jeder in der Folge sich entwickelnden besondern Lage, gerührt, und zu was für Thätigkeiten sie durch diese Rührung und durch die Beschaffenheit der Umstände veranlaßt werden. ─ In unsrer Romanze sind die jedesmaligen Empfindungen der Personen, der Ausdruck dieser Empfindungen, die Entschließungen die sie ergreifen, nicht nur unsern Begriffen von der menschlichen Natur überhaupt, sondern auch von der Beschaffenheit solcher Charaktere insbesondre, gemäß: wir finden darin überall unser eigenes Herz, unsre Erfahrungen von andern Menschen, unsre Begriffe von Sitten, Zeiten, Denkarten wieder; Leidenschaften, Sitten, Charaktere sind in jeder einzelnen Äußerung richtig getroffen, und durchgängig beibehalten. Das Fräulein läßt, nach ihrem schwachen, furchtsamen Charakter, auf die stürmischen Drohungen des Vaters allen Muth, alle Hoffnung sinken. Klagen und Thränen sind ihre Zuflucht, und eine Botschaft an den Ritter mit einem kleinen Andenken ihrer Liebe ist ihr ganzer Entschloß; da sie sich soll entführen lassen, sieht sie nichts als Beschimpfung, als drohende Gefahr für sich selbst und ihren Geliebten; ohne zu einem festen Entschluß zu kommen, steht sie zitternd und wehmüthig da: und was sie denn doch am Ende fortzieht, ist nicht sowohl wirklicher Vorsatz, sich der Gewalt eines tyrannischen Vaters zu entreißen, als der stärkere Arm ihres Ritters, als die ihr beigebrachte Phantasie, daß sie schon behorcht und vielleicht schon verrathen worden sei. Endlich, da es zum Zweikampf zwischen Geliebtem und Nebenbuhler, da es zur letzten entscheidenden Situation zwischen jenem und ihrem Vater kömmt, sind ihre Empfindungen Angst, Schrecken, Wehmuth; ihre Waffen, fußfälliges Flehen, Händeringen, Thränen; ihr ganzer Versuch, nicht den gefürchteten Vater zu schrecken, sondern durch Erinnerung en ehemalige Zärtlichkeit zu erweichen, zu rühren. Wie ganz anders in jeder dieser Lagen der Ritter, und wie ganz immer derselbe! Sein Schmerz ist heftig, zornartig; seine Thätigkeit wird durch Schwierigkeiten nicht niedergeschlagen, sie wird befeuert; sein ganzes Nachgeben sind gelinde, vernünftige Vorstellungen: aber die dürfen nicht mifslingen, oder er wird aus einem ganz andern Tone reden. ─ Es wäre überflüssig, auch ven den übrigen Charakteren zu zeigen, wie sie sich durchgängig erhalten, wie die Eindrücke die sie jedesmal von ihren Lagen annehmen, und die Äußerungen derselben durch Reden und andre Thätigkeiten, den von ihnen festgesetzten Begriffen durchaus gemäß sind.   Zu dieser Harmonie, dieser Erhaltung der Charaktere aber gehört nicht bloß das, daß jede einzelne Äußerung irgend einem der Grundzüge des Charakters, und zwar dem welcher jetzt wirklich hervorspringen soll, sondern auch, daß sie allen übrigen ihn constituirenden Merkmaalen, daß sie dem ganzen Charakter durchaus gemäß sei. So zeigen in unsrer Romanze der Ritter, das Fräulein, der Vater, nach Maßgabe des Verhältnisses worin sie gegen einander stehen, und ihrer Umstände, freilich sehr verschiedne Seiten ihrer Charaktere, bald mehr die bald mehr jene; aber doch sehen wir immer den ganzen Charakter. Der Ritter, wenn er zärtlich erscheint, ist dringend, feurig, und doch, ohne die Achtung zu beleidigen; gerade so, wie wir uns im Ausdruck seiner Liebe den Mann denken, der, wenn er seinem Feinde entgegentritt, ihm mit diesem Feuer, aber auch mit dieser Besonnenheit, wird die Stirn zu bieten wissen. Das Fräulein ist im Ausdruck ihrer Zärtlichkeit schüchterner, schmachtender, melancholischer; und so erwarten wirs abermal von einem Mädchen, das so wenig Muth zu einem Abenteuer zeigt, so sehr vor dem bloßen Gedanken an die Gefahren, denen sie sich aussetzen wird, zittert. Jener vereinigt in seinem Entwurf die Begierde nach dem Besitz seiner Geliebten mit der zärtlichsten Sorge für ihre Ehre: und nur so einen Entwurf, wollen wir, soll ein Mann wie der Ritter machen; nur so einen Vorschlag soll ein Frauenzimmer von Gertrudens übriger feiner Empfindung sich gefallen lassen. Der Vater ringt, da er durch den Tod des Nebenbuhlers seines Ehrenworts entbunden ist, und ihm die Tochter weinend zu Füßen liegt, mit aller Gewalt gegen die ihn übermannende Zärtlichkeit; allein da sie nun einmal ausbricht, so überläßt er sich auch ganz und ohne Rückhalt seiner Empfindung: man erkennt in ihm den Mann, der nichts halb, der immer Alles von ganzer Seele ist, in Haß und in Liebe. Eben der Ungestüm, der ihn, im Augenblick des Zornes, die abscheulichsten Drohungen ausstoßen ließ, wird ihm, im Augenblick der Rührung, die heißen Thränen über die Wangen jagen; halbige oder auch nur schwächere Wirkung wäre einem Charakter, wie wir den seinigen kennen lernten, nicht angemessen.   Es braucht wohl nicht erst Beweises: daß jeder pragmatische Dichter, in diesem Stück, völlig wie der unsrige verfahren; daß er die Charaktere nicht nur im Ganzen wahr und sich selber ähnlich erhalten, sondern auch bei den vielseitigsten jede ihrer einzelnen Äußerungen und Thätigkeiten dem Inbegriff aller constituirenden Merkmaale gemäß machen; sie überall, er zeichne sie von welcher Seite er wolle, so nüanciren, durch richtig angebrachte Schatten und Lichter ihnen die Ründung, die Solidität, das Körperliche geben muß, daß wir sie jedesmal ganz, nur freilich aus verschiednen Gesichtspuncten, zu sehen glauben. ─ Fehler wider diese Regel sind da sehr möglich, wo man einen nicht selbst beobachteten Charakter bloß durch Räsonnement erfindet, indem man nehmlich im Allgemeinen wohl einsieht, daß die verschiednen ihm beigelegten Eigenschaften mit einander verträglich sind, aber nicht genug Einbildungskraft hat, um diese verschiednen Eigenschaften in ein einziges lebendiges Bild zu concentriren. Alsdann stehen die Züge, wie die Merkmaale eines deutlich gemachten Begriffs, einzeln neben einander da, ohne Continuität, ohne Verflößung; und doch wollen Wahrheit und Gesetz der Lebhaftigkeit, daß diese Merkmaale überall sich mischen, daß sie überall in eine einzige klare Vorstellung verfließen sollen.   Wie schwer es zuweilen seyn müsse, in jeder besondern Lage, die wahre Empfindung des Herzens, die wahre dem ganzen Charakter entsprechende Nüance im Ausdruck zu treffen: das läßt sich schon aus der Seltenheit pragmatischer Dichter schließen, die einem feinen Kenner hierin völlig Genüge leisten. Nicht daß der Kenner darum im Stande wäre, den verfehlten richtigen Ton selbst zu treffen; er fühlt nur das Falsche dessen den man ihm angiebt, ohnedaß er den wahren, den er wünschte, anders als dunkel empfände. Aber eben das erwartet und fordert er von dem hellern Blick, dem tiefer eindringenden Genie des Dichters, daß er ihm diese dunkle Empfindung in klare Erkenntniß verwandle. Oft auch ist sein Gefühl, wie bei diesem und jenem Anlaß die Personen eigentlich empfinden und reden und sich benehmen sollten, so dunkel, daß ers kaum wagt, den Dichter einer Unrichtigkeit in der Schilderung zu bezüchtigen, ob er gleich nicht die ganze Wirkung der Wahrheit bei sich verspürt. Sobald sie aber genau getroffen ist, diese Wahrheit; so ist auch auf einmal der volle Glaube, die volle Täuschung da: der Verstand ist um eine neue Beobachtung bereichert, und die Empfindung befriedigt. Um nur Ein Beispiel zu geben; so war es in der Oper Julie und Romeo, wo der Ausgang glücklich ist, ein nicht leichtes Problem: wie der Vater bei der Erscheinung seiner als todt beweinten Tochter eigentlich gerührt werden sollte? Die erste Empfindung zwar ließ sich ohne Mühe bestimmen: sie war schreckhaftes Erstaunen; aber die nun sich entwickelnde zweite Empfindung? Man denke sich ganz in die Lage eines Vaters hinein, der zwar von der innigsten Liebe seines Kindes durchdrungen ist, sich zwar als dem Mörder desselben die bittersten Vorwürfe macht; der jedoch zugleich, selbst in der Bitterkeit dieser Vorwürfe, selbst in der Heftigkeit seines Schmerzens, sein Recht auf die zärtlichste Ehrerbietung dieses Kindes fühlt, und der nun auf einmal nicht anders denken kann, als daß er geäfft, betrogen, daß er nicht allein vergebens, sondern auch muthwillig, bis zu dieser Verzweiflung geänstigt worden; wie glaubt man, daß dieser Vater, der kein weichherziges Kind, der ein Mann, und ein stolzer, heftiger, eigenwilliger Mann ist: daß er empfinden, handeln, sich ausdrücken werde?   Ohne hierauf zu antworten, wollen wir lieber noch eine besondere Bemerkung hieher werfen; diese: daß der Dichter, um der größern Wahrscheinlichkeit willen, das Maß, den Grad der Stärke, worin er die Charaktere jedesmal empfinden und diese Empfindung äußern läßt, nicht nach gewissen individuellen Fällen, die ihm dann und wann können vorgekommen seyn, sondern nach der Summe der meisten und gewöhnlichsten Fälle, oder deutlicher vielleicht, nicht nach Ausnahmen von der Regel, sondern nach der Regel bestimmen; sie nach den meisten Erfahrungen von menschlicher Natur überhaupt und von gewissen Charakteren insbesondere, nach dem allgemeinen Begriff den wir uns von gewissen Zeitaltern und Nationen abgezogen haben, einrichten müsse. Die wirkliche Wahrheit kann ohne Wahrscheinlichkeit seyn; und die letztere muß dem Dichter mehr als die erstere gelten. Es ist eine schreckliche Rachgier, die in unsrer Romanze der Vater des Fräuleins in der Drohung äußert, welche zwar freilich noch nicht That ist: „Nicht rasten will ich Tag und Nacht, Bis daß ich nieder ihn gemacht, Das Herz ihm ausgerissen, Und das dir nachgeschmissen!“ Allein die Rauhigkeit der Zeiten, in welche uns der Dichter hineinführt, erlaubt diese Stärke, diese Wildheit des Ausdrucks. Man treibe diesen Ausdruck noch höher; man lasse den Vater sagen, daß er das Fleisch des Ritters rösten, daß er sichs wolle schmecken lassen, daß seinem Gaumen darnach gelüste: und man hört nicht den alten deutschen Ritter mehr, sondern einen Rasenden, einen Cannibalen; sowie man in jener Drohung schon nicht den cultivirtern Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, sondern den nur noch halbcultivirten der mittlern Jahrhunderte hört. Gleichwohl kann man es nicht durchaus unglaublich oder unmöglich nennen, daß ein Mensch, in der Wuth der Leidenschaft, sich bis zu einer solchen Übertreibung vergesse; allein der Dichter, wie gesagt, soll nicht das Individuelle, nicht das bloß Mögliche, sondern das Allgemeinere, das Wahrscheinliche schildern. Beispiele von Fehlern wider diese Regel sind in unsern neuern dramatischen Werken so häufig, daß sie sich jedem Leser derselben in Menge darbieten müssen. Man glaubt, nicht anders ein kräftiger, ausdruckvoller Maler zu seyn, als durch das dickste Auftragen der Farben, und die gewaltsamsten Verzerrungen der Figuren. ─   Wenn wir die Folgen der innern Eindrücke, welche die Personen unsrer Romanze von ihrer Lage erhalten, die äußern Thätigkeiten, zu welchen sie durch diese Lage veranlaßt werden, noch einmal ansehn: so erkennen wir bald einen merkwürdigen Unterschied unter ihnen. Einige derselben sind bloße Befriedigungen der Leidenschaft, welche weiter nichts in dem Zustand der Personen ändern, ihn weder glücklicher noch unglücklicher machen. So die Klagen und Thränen der in ihre Kammer verschloßnen Braut, die zu nichts dienen als daß sie ihr zu volles gepreßtes Herz erleichtern. Andere Thätigkeiten haben auf das Schicksal der Personen, auf ihr Glück oder Unglück, einen bedeutenden Einfluß; und diese letztern sind wieder von zwiefacher Art. Denn manche haben diesen Einfluß, ohnedaß ihn die Personen vorhersahen, und also auch, ohnedaß sie ihn wollten: die gute Wirkung ergiebt sich ohne ihre Absicht von selbst; die böse, wird erst hinterher empfunden, wenn es oft zu spät ist ihr zu begegnen. So mogte der Ritter, da er zum Zweikampf mit seinem Nebenbuhler so hitzig vom Pferde sprang, in diesem Augenblick vielleicht nur von Rache glühen; er mogte wenig daran denken, daß ohne den Tod dieses Nebenbuhlers der alte, durch Eid und Ehrenwort gebundene, Vater sich schwerlich würde gewinnen lassen. Nur allzuhäufig ist dies der Fall, daß plötzliche Leidenschaften einen Menschen zu Schritten hinreißen, die ihn bald weit von seinen Wünschen entfernen, bald aber auch unvermuthet denselben näher bringen. Waller in Gotters Mariane hätte die Invective, die ihm gegen den Präsidenten entfährt, und die auf einmal Alles verderbt, wohl sehr gern zurück; aber unglücklicher Weise war sie gesprochen. ─ Andre Thätigkeiten sind dagegen freiwillig, absichtlich: der Mensch hat ihre gute Wirkung vorhergesehen, hat sie gewollt; oder wenn sie fehlschlagen, und vielleicht mehr schädlich als nützlich werden: so rührt das nur von Umständen die ihm verborgen blieben, von unvorhergesehenen Zufällen, vielleicht auch von der Schwäche der Mittel her, die er in seiner mißlichen nachtheiligen Lage noch einzig in der Gewalt hatte. Von dieser Art sind der Entwurf des Ritters seine Geliebte zu entführen, das Aufgebot seiner Vasallen, das Nachsetzen des Vaters, und das fußfällige Flehen der Tochter.   Die Vorschriften, die für alle diese Äußerungen der innern Gemüthsbewegungen und Leidenschaften der Personen gemeinschaftlich gelten, haben wir angegeben; aber sollte nicht noch Manches über die letztere Art derselben zu sagen seyn? über die Entwürfe, die Entschließungen, die freiwilligen, absichtlichen Thätigkeiten der Personen?   Der Entwurf des Ritters, mit so viel Schwierigkeiten er auch verbunden seyn mag, ist doch immer in der Ausführung möglich; und gelingt er, so kann er ihn in der That zu dem abgezweckten Ziele hinführen. Wenn der Ritter das Fräulein glücklich der Gewalt des Vaters entrissen, und sich durch das Sacrament der Kirche mit ihr vereiniget hat; so hat er nicht allein schon dadurch seinen Hauptzweck, die Vereinigung mit seiner Geliebten, erreicht, sondern nach aller Wahrscheinlichkeit wird sich auch der Vater am Ende bewegen lassen, eine Ehe zu billigen die nun einmal nicht mehr getrennt werden kann. Indeß giebt es freilich der Schwierigkeiten und Hindernisse von allen Seiten. Der Ritter hat die Wachsamkeit des Hauses, die Verfolgung des Vaters, die Rache des Nebenbuhlers; er hat selbst die Schüchternheit und Schamhaftigkeit des Fräuleins zu fürchten: doch bleibt es bei allen diesen Schwierigkeiten noch möglich, sich glücklich durch sie hindurchzuschleichen, oder auch durch offenbaren Angriff sie niederzuschlagen. Ein zärtliches Herz wird den Bitten des Geliebten nicht lange Widerstand thun; in der Stunde der Mitternacht wird der Vater mit seinen Hausgenossen schon ruhen; oder wenn er erwacht, werden die Liebenden, ehe sich jener rüsten kann, schon einen beträchtlichen Vorsprung gewinnen: und holt er sie unglücklicher Weise ein, so werden die Vasallen des Ritters, eben so gut wie die des Vaters, ihre Schwerter haben. ─ Ob eine ähnliche Beschaffenheit der absichtlichen Thätigkeiten, der vorbedachten Entwürfe der Personen, für jeden pragmatischen Dichter Regel sei? wird wohl Niemand erst fragen. Sie müssen zweckmäßig seyn, diese Entwürfe: so daß, wenigstens nach den Umständen welche die handelnde Person übersieht, die Erreichung der Absicht durch sie möglich ist; sonst wären sie thöricht oder gar wahnsinnig. Sie müssen mit Schwierigkeiten und mit bedeutenden Schwierigkeiten verbunden seyn; sonst hätte Erwartung. und folglich auch Interesse, ein Ende. Sie müssen noch die Möglichkeit, diesen Schwierigkeiten auszuweichen, erkennen lassen; sonst wären sie bloße Eingebungen einer Verzweiflung, die sich selbst schon so gut als verloren gäbe, und für die auch wir nichts mehr hoffen könnten.   Eins aber findet sich denn doch in dem Entwurf des Ritters, das wir vielleicht mit Recht könnten geändert wünschen. Denn scheint es nicht, daß er Entwürfe mache, die für die Wirkung welche wir sie hervorbringen sehn, viel zu groß sind? oder die vielmehr ganz und gar keine Wirkung haben? Er beruft ein kleines Heer von Vasallen, unterrichtet sie sorgfältig was sie zu thun haben, legt sie in Hinterhalt, und läßt sie wirklich hervorbrechen: allein das Gefecht das wir erwarten, bleibt aus; der Vater wird durch sein eigenes Herz entwaffnet, und die Hauptschwierigkeit die seine Einwilligung hätte hindern können, hat der Ritter durch einen Zweikampf schon selbst gehoben. Es läßt sich erwiedern: daß die Klugheit auch auf mögliche Fälle Bedacht nimmt; und möglich war es doch immer, daß der Ritter Gewalt mit Gewalt hätte vertreiben müssen. Ließ es sich denn vorhersehen, daß der Nebenbuhler, von seiner Hitze verleitet, so weit voransprengen und im Zweikampf umkommen würde? Die genügendere Antwort jedoch, die den Dichter erst völlig rechtfertigt, ist die: daß der Anblick der überlegenen Menge in der That bei dem Vater seine gute Wirkung thut; eine Wirkung, die zwar der Dichter nicht angiebt, die wir aber bei Betrachtung des Gemäldes empfinden. Der Vater stutzt bei den Worten: „Schau auf! Erblickst du Jene dort? Die sind zum Schlagen fertig Und meines Winks gewärtig.“ Und schwerlich mögte, ohne den plötzlichen Eindruck dieses Anblicks, sich die Hitze des Alten so früh verkühlt; schwerlich mögte er den Ritter angehört, und seiner Tochter zu allen den rührenden Reden Zeit gelassen haben, die auf einmal seine ganze Gesinnung ändern. Weit gefehlt also, daß unser Dichter durch einen begangenen Fehler Andern zur Warnung dienen sollte; so ist er auch hier vielmehr durch die Richtigkeit seiner Anlage Muster. Er macht von seinen vorbereiteten Mitteln Gebrauch; nur täuscht er, in der Beschaffenheit dieses Gebrauchs, auf eine sehr angenehme Art, unsre Erwartung.   Daß es sonst freilich Fehler gewesen wäre, wenn er Entwürfe hätte machen, Anstalten vorkehren lassen, die wir nachher als völlig verloren befunden hätten: das ergiebt sich sogleich aus dem unangenehmen Eindruck, den immer die getäuschte Erwartung wichtiger Vorfälle macht, und aus dem nachtheiligen Einfluß, den unser Unmuth, getäuscht zu seyn, auf unsre nachherige Theilnehmung haben müßte. Diderot tadelt, in dieser Hinsicht, und mit Recht, die Rede der Euphrosine beim Moliere. „Diese Euphrosine, sagt er, macht sich anheischig, den Geizigen von dem Vorsatz, Mariane zu heiraten, vermittelst einer Gräfinn aus Niederbretagne abzubringen, von der sie sich Wunderdinge verspricht, und der Zuschauer mit ihr. Gleichwohl endet sich das Stück, ohnedaß sich Euphrosine wieder sehen ließe, und ohnedaß die Gräfinn, die man alle Augenblick erwartet, zum Vorschein käme.“ ─ Die nehmliche Ursache, welche Anstalten ohne Wirkung verwerflich macht, macht auch große vielversprechende Anstalten von kleiner unbedeutender Wirkung verwerflich, und in ernsthaften Werken um so verwerflicher, weil eine solche Disproportion zwischen Anstalten und Erfolgen gern lächerlich wird. Große Anstalten können scheitern, können fehlschlagen; aber wenigstens muß man von ihnen Gebrauch machen sehn, und vor allem muß man die Zwecke ihrer würdig finden: sonst werden die handelnden Personen, vielleicht ganz wider die Absicht des Dichters, in unsern Augen klein und verächtlich.   Wo die Reihe der moralischen Thätigkeiten mit Veränderungen der todten körperlichen Natur durchflochten ist, welche jene oft mannichfaltig modificiren, ableiten, hindern, befördern können; da gilt für diese Veränderungen die nehmliche Regel, welche für jene Thätigkeiten galt, und aus dem nehmlichen Grunde. Der Dichter muß überall, wie zu Wirkungen Ursachen, so auch zu Ursachen Wirkungen, und zu kleinen unbedeutenden Wirkungen keine große wichtige Ursachen erdichten; er muß keinen Orcan erregen, um ein Blatt verwehen zu lassen, das der leichteste Zephyr heben könnte. ─ Überhaupt gelten die Regeln, welche für die Veränderungen der moralischen Natur gegeben worden, mit gehöriger Bestimmung, auch für die der körperlichen Natur. Denn auch die körperliche Natur hat ihre bekannten Gesetze und ihre Grade der Kräfte, die Jeder der uns durch wahrscheinliche Fictionen täuschen will, genau beobachten muß.   Ein besonderes Verdienst an der ganzen Dichtung unsrer Romanze ist noch dies: daß der Entwurf des Ritters, bei aller seiner Zweckmäßigkeit und Nothwendigkeit ─ denn es blieb ihm kein anderer zu machen übrig ─ noch um eine so gute Strecke vom Ziel entfernt ist. Dadurch wird eine Reihe von Situationen möglich, in welchen sich die Leidenschaften der Personen, unter sehr verschiednen Verhältnissen und Umständen, mannichfaltig entwickeln. Einige dieser Umstände sind für die Leidenschaften vortheilhaft: sie geben ihnen freien Spielraum, und führen sie an das Ziel das sie wünschen. So die Lage des Ritters, da er die Hand des Fräuleins ergreift, und sie zu süßen Liebkosungen in seine Arme zieht; so auch die Lage des Vaters, da nach Verschwindung aller Hindernisse, die Zärtlichkeit seines Herzens, wie ein lange zurückgehaltener Strom, desto mächtiger ausbricht. Andre Umstände stehn im Widerspruche mit der Leidenschaft; die Leidenschaft, wenn nicht schon Alles verloren ist, sucht sie zu ändern, zu überwältigen: und wir erwarten den Ausschlag ihrer Bemühung. So die übrigen Situationen zwischen Fräulein und Ritter, zwischen Ritter und Nebenbuhler, zwischen den beiden Liebenden und dem Vater. Dieses interessantere Verhältniß zwischen den äußern Umständen und der innern Leidenschaft, da beide mit einander im Widerspruch stehn, die letztere gegen die erstern ringt, und unsre ganze Erwartung gespannt wird, ist das was man im genauern Verstande des Worts Situation nennt. Und in diesem Verstande könnte man also sagen: daß eine Situation, im Kleinen und unvollständig, dasselbige sei, was, im Großen und vollständig, das ganze Werk ist; eine untergeordnete Verwicklung, ein in den Hauptknoten mitverschlungener besonderer Knoten. Mit der Auflösung dieses Knotens, falls die Scene nicht bloß episodisch ist, geht dann entweder schon ein Theil des Hauptknotens auseinander, oder er wird auch noch enger und fester zugezogen. Aus dieser Ähnlichkeit folgt: daß eben so viel Arten von Situationen, als Arten von Verwicklungen möglich sind, und daß die interessantesten unter diesen auch die interessantesten unter jenen seyn müssen. Je sittlichere, je mächtigere Begierden, mit je sittlichern, je mächtigern, und je näher, je inniger sie in Kampf verwickelt werden; desto vortrefflicher ist die Situation. Mithin ist die vortrefflichste die, wo die äußern Umstände in dem eignen Innern des Menschen einen Aufruhr erregen, und seine mächtigsten, sittlichsten Leidenschaften gegen einander empört werden. In so einer Situation zeigt sich uns zuerst das Fräulein, dann der Vater. Jene verbände sogern die Befriedigung ihrer edlen Leidenschaft für den Ritter mit Befriedigung ihrer Ehrliebe und Kindespflicht; die Umstände aber fordern an einer von beiden Seiten ein Opfer: und nun erfolgt der innre schmerzliche Kampf, der sich mit dem Siege der Hauptleidenschaft endigt. Dieser, der Vater, mögte der Stimme der Natur, und mögte doch auch den Eingebungen der Rachgier, folgen; die Umstände machen die Vereinigung beider Wünsche unmöglich: und nun reißen ihn die widersprechenden Leidenschafter mit Ungestüm von einer Seite zur andern, bis denn am Ende doch der edlere Trieb über den unedlern den Sieg davon trägt.   Außer diesem Interesse und dieser Mannichfaltigkeit, von der wirs wohl nicht erst beweisen dürfen daß sie ein dichterisches Verdienst sei, findet sich in der Folge der Situationen noch die wesentliche Schönheit: daß das Interesse derselben nicht ab-, sondern zunimmt; daß unsre Erwartung bis zu Ende immer geschwellt wird. Nicht allein kommen wir der vollständigen Auflösung des Knotens immer näher und näher, sondern es wird auch die Hauptschwierigkeit, auf die im Grunde Alles beruht, und die gerade die rührendsten Leidenschaften ins Spiel bringt, sehr weislich bis ans Ende verspert. ─ Daß eine andere Anordnung dem Werk nachtheilig seyn würde, muß Jeden seine Empfindung und ein kleines Nachdenken über die Natur unsrer Seele lehren. Schwächere Eindrücke, die auf stärkere folgen, finden uns gleichgültiger, unempfindlicher; wir sind nun schon einmal erhitzt, und finden also kalt, was uns in vorhergehenden Augenblicken, da wir selbst noch kälter waren, vielleicht erwärmt haben würde.   Der Begriff der Auflösung, oder wie man sie auch sonst nennt, der Katastrophe, ist schon im Vorigen da gewesen: sie ist das völlige Ende der Verwicklung, die wieder in Ruhe gesetzte Begierde, der entschiedne Sieg entweder der Schwierigkeiten oder der gegen sie anstrebenden Leidenschaften; nicht ein bloßer Stillstand, ein falscher Friede, bei dem wir noch künftige neue Unruhen fürchten. Daß eine solche Auflösung sich in jedem pragmatischen Werke finden müsse, bedarf keines Beweises. Sie ist die Seele des ganzen Werks; denn sie ist das Ziel der Erwartung, der Punct, auf welchen vom Anfange an Alles zustrebt. Und wenn der Dichter, der vorigen Regel gemäß, seinen Plan wohl geordnet; wenn er überdies die Auflösung zwar hinlänglich vorbereitet, aber nicht schon völlig verrathen, sie zwar vollständig, aber auch kurz und auf einmal gemacht hat: so ist sie ebenso die schönste, wie die letzte Situation; der interessanteste, lebhafteste Theil des Werks, der am wenigsten fehlen darf. Daß Kürze nöthig sei, damit der Dichter nicht sinke; Vollständigkeit, damit wir gänzlich befriedigt werden; daß bis ans Ende ein andrer Erfolg, in unsrer Erkenntniß, möglich bleiben müsse, damit nicht alle Erwartung wegfalle; und doch der Ausgang hinlänglich vorbereitet, Alles gehörig motivirt seyn müsse, damit die Wahrscheinlichkeit nicht beleidigt werde: sind lauter Vorschriften, die sich aus dem Vorhergehenden schon von selbst ergeben. ─ Der unangenehmste, schülerhafteste Fehler in der Auflösung ist der: wenn der Dichter das Schicksal der Personen durch einen bloßen Zufall entscheidet, durch eine plötzlich von außen sich einmischende Ursache, einen Menschen den er auf einmal wie aus den Wolken fallen läßt, um der Verwirrung ein Ende zu machen. Dadurch wird unsre ganze Erwartung gehemmt, die auf das Spiel gerade dieser Ursachen gerichtet, gerade darauf begierig war, was in solchen Lagen solche Leidenschaften aus dem Menschen machen würden. Das Interesse wird in seinem vollen Feuer gelöscht, der Strom in seinem stärksten Laufe abgeleitet, die ganze Folge der Ideen zerrissen.   Die Auflösung in unsrer Romanze ist abermal in jeder der angegebenen Hinsichten untadelhaft, und besonders ist die Vorbereitung dazu vortrefflich. Der Vater wird zuerst durch den Zweikampf zwischen Ritter und Nebenbuhler seines Ehrenworts entbunden; nicht allein der Anblick des Getödteten, sondern auch die überraschende Erscheinung der auf einmal hervorbrechenden Vasallen des Ritters, thut seinem Ungestüm plötzlich Einhalt; Ritter und Tochter gewinnen Zeit: jener, seine Ansprüche, seine Vorzüge, seine rechtschaffnen edeln Absichten; diese, ihre Wohlfahrt, ihre ehedem erhaltnen Beweise der väterlichen Huld, ihre und seine eigenen Hoffnungen dem Vater ans Herz zu legen. Gleichwohl sind wir des Erfolgs, bei aller Kraft dieser vereinigten Bewegungsgründe, nicht völlig sicher: erst muß sich uns noch der Charakter des Vaters in dieser prüfendsten wichtigsten Situation völlig entwickeln; wir sehen noch immer seine wiedererwachende Zärtlichkeit mit Haß und Rachgier ringen: allein am Ende trägt doch die erstere den Sieg davon, und der Charakter zeigt sich zu unserm Vergnügen als der wahrscheinlichste väterliche Charakter. Dadurch ist denn auf einmal Alles entschieden; das ganze Schicksal der Liebenden ist bestimmt: und der Dichter kann in dem Augenblick schließen, da er das Interesse aufs höchste getrieben, uns am innigsten, am tiefsten gerührt hat. ─   Sowie die Auflösung in pragmatischen Werken selbst das letzte ist; so mag auch die Betrachtung derselben das letzte in unsrer Entwicklung seyn. Vielleicht, daß wir manchen wichtigen Punct übergingen: entweder weil uns das einzelne Beispiel welches wir vor uns hatten, keine Veranlassung zur Erörterung desselben gab, oder weil wir diese Veranlassung darin übersahen; allein wenn uns auch diese Unvollständigkeit zu Schulden käme, so haben wir noch künftig Hoffnung ihr abzuhelfen, da wir doch einmal, um der Formen und um eines noch andern Eintheilungsgrundes willen, zu dem pragmatischen Gedicht wieder zurückmüssen. Dort werden wir denn auch alle die Zweifel, die uns vermuthlich schon gegen so manche hier vorgetragene Regel aufgestoßen sind, am besten beantworten können. Wir haben z. B. die ganz vollkommnen, die ganz unvollkommnen Wesen verworfen; aber in unsern neuern Epopöen giebt es doch Engel und Teufel? Wir haben verlangt, daß Alles dem gewöhnlichen Lauf der Natur gemäß erfolge: aber in jenen Epopöen wirkt ja nicht allein die Gottheit oft unmittelbar, sondern in romantischen Werken spotten ja die Feen, die Gnomen, die Zauberer, die Riesen, oft aller unsrer Begriffe von der Natur, aller unsrer Erfahrungen von ihren unwandelbaren Gesetzen. ─ Sollen wir alle diese Werke als schlecht verwerfen? auch die Idrisse, die Amadisse, die Oberons, von denen wir es lieber gleich gestehen wollen, daß sie zu dem Schönsten und Anziehendsten unsrer Literatur gehören? Oder sollen wir, zur Rettung unsrer Theorie, die Ausflucht nehmen, daß in diesen Werken das Wunderbare selbst Natur sei? Sollen wir sagen, daß Schönheiten von ganz anderer Art uns diese Fehler vergüten, und daß es keine Fehler mehr sind, sobald sie zu jenen Schönheiten die nothwendigen Bedingungen werden? Sollen wir jene Werke aus der Classe der pragmatischen lieber in eine andre Classe hinübersetzen? ─ Was für einen von diesen Auswegen wir nach angestellter Untersuchung auch wählen mögen: so sehen wir wohl, daß der eigentliche Ort zu dieser Untersuchung das Hauptstück von der ernsthaften und komischen Epopöe sei; und bis dahin also mag sie verschoben bleiben, da wir hier fürs erste noch ganz andre Betrachtungen zu verfolgen haben. ─ ─   Schon in dem Hauptstück von der Fabel, und in dem vom Lehrgedicht, haben wir Mischungen dieser Dichtungsart mit der didaktischen kennen lernen. Auch hat sich in dem letztern dieser Hauptstücke gezeigt, daß bald auf die Wahrheiten, bald auf die Geschichte das größere Interesse fällt, und also die aus der Mischung entstehenden Werke bald mehr didaktische, bald mehr pragmatische sind. Es giebt der Arten dieser Mischung noch mehrere, die wir schwerlich alle mögten aufzählen können. In einer von Geßner übersetzten Erzählung, oder vielmehr Unterredung, Diderots Man s. unsers Verfassers Urtheil darüber: Bd 4, S. 195 folgg. werden mehrere kleine Facta, zum Theil nur unausgeführte Situationen, nacheinander hingeworfen, die unter sich selbst keine Folge machen, auch zu keiner Reihe von Wahrheiten bestimmt hinführen, aber Gesichtspuncte zu einer gewissen noch erst anzustellenden moralischen Untersuchung enthalten. In gewissen Theaterstücken, die man Pièces à tiroir nennt, und die freilich für die Bühne ein zu schwaches Interesse haben, als daß man ihrer viele wünschen sollte, werden mehrere einzelne, wenig oder gar nicht verbundene, Handlungen zusammengestellt, deren gemeinsamer Endzweck ist, uns von einem gewissen Charakter ein lebendiges anschauliches Bild zu geben. Die eine der zusammengestellten Situationen hebt dann mehr den einen, die andre mehr den andern Zug desselben hervor. Auch werden zuweilen in größere Werke einzelne Scenen von dieser Beschaffenheit eingestreut, um uns einen Charakter auf einmal vollständiger erkennen zu lassen, als es vielleicht durch die Haupthandlung selbst gleich im Anfange möglich wäre. Ein Beispiel davon giebt die erste Scene im zweiten Aufzuge des Diderotschen Hausvaters. ─ Auf ähnliche Art, wie mehrere kleine Handlungen, können auch mehrere kleine Räsonnements über ganz verschiedne Gegenstände aneinander gereiht werden, um die Beschaffenheit eines Charakters nicht bloß nach den Eigenthümlichkeiten des Kopfes, sondern auch nach der Empfindungsart des Herzens, dadurch in ein helleres Licht zu setzen. Es sind davon gewiß noch weit bessere Beispiele möglich, als der Verfasser einer kleinen Erzählung: Tobias Witt Bd 1, S. 87 folgg. , zu geben versucht hat. ACHTES HAUPTSTÜCK. Von dem lyrischen Gedicht. L yrisch heißt oft so viel als musikalisch, und bezieht sich dann auf die äußre Form eines Werks, auf die zum Gesang schickliche Einrichtung desselben. Lyrisches Schauspiel ist ein zum Singen eingerichtetes theatralisches Stück, und gehört zu der pragmatischen Gattung. Was wir hier unter lyrischem Gedicht verstehn, ist eine eigene Dichtungsart, die sich von den bisher betrachteten nicht bloß durch äußre Form, sondern durch Inhalt und Materie unterscheidet.   Man hat der lyrischen Dichtungsarten mehrere: Ode, Lied, Elegie. Den Odendichter hält man für den vornehmsten, für den am meisten lyrischen Dichter; eben in der Ode also wird das Wesen dieser Dichtungsart am sichtbarsten hervorstechen müssen: und so wollen wir die Theorie derselben aus folgender Ramlerischen Ode zu entwickeln suchen. Auf ein Geschütz. O du, dem glühend Eisen, donnernd Feuer Aus offnem Ätnaschlunde flammt, Die frommen Dichter zu zerschmettern, Ungeheuer, Das aus der Hölle stammt!   Wer zur Verheerung blühender Geschlechter Dich an das Sonnenlicht gebracht, Hat ohne Reue seine Mutter, seine Töchter Frohlockend umgebracht. Ganz nahe war ich schon dem Styx, ganz nahe Dem giftgeschwollnen Cerberus; Ich hörte schon das Rad Ixions rasseln, sahe Die Brut des Danaus,   Verdammt zum Spott bei bodenlosen Fässern; Und Minos Antlitz, und das Feld Elysiens; den großen Ahnherrn eines größern Urenkels, und sein Zelt   Voll tapfrer Brennen sah ich: ihre Lieder, Ihr Fest bei jedem Freudenmahl Ist Er, der wider sechs Monarchen ficht, und wider Satrapen ohne Zahl.  Schon säng' ich seine jüngste That: wie brausend Ein Meer von Feinden ihn umfing, Er aber seinen Weg hindurch auf zehentausend Zertretnen Schädeln ging.   Alcäus würde jetzt mein Lied beneiden; Schon säh' ich Cäsarn lauschend nahn, Mit ihm den weisen Antonin, und den von beiden Gefeirten Julian. Allein Mercur stand neben mir, und wandte Durch seinen wunderbaren Stab Den Ball, der mich ins Reich der Nacht zu schleudern brannte, Von meinen Schläfen ab.   Denn ich soll noch die Laute stärker schlagen, Wann Er durch Weihrauchwolken zeucht, Die Kriegesfurie gefesselt an dem Wagen Des Überwinders keucht;   Wann Er, auf einem Throne von Trophäen, Rund um sich her der Künste Kranz, Und wir, im Musentempel, Seine Siege sehen, Versteckt in Spiel und Tanz;   Wann Er, ein Gott Osir! durch unsre Fluren Im seligsten Triumphe fährt, Indeß der Überfluß auf jede Seiner Spuren Ein ganzes Füllhorn leert.   Wir sehen sehr bald, daß dieses Stück einen ganz andern Charakter hat, als alle die wir bisher haben kennen lernen. Der beschreibende, der pragmatische, der didaktische Dichter, jeder hatte seinen eigenen Vorsatz, aus dem wir die ganze Composition seines Werkes begreifen konnten. Der beschreibende ging einen gewissen Gegenstand nach seinen Theilen oder Merkmaalen durch; der pragmatische gab seinen Personen Absichten, deren Erreichung sie in Thätigkeit setzte; und war das Werk erzählend, so äußerte er noch ganz deutlich den eigenen Vorsatz, uns die ganze Entstehung einer Begebenheit aus ihren moralischen und den concurrirenden äußern Ursachen begreiflich zu machen. Der didaktische setzte sich zum Zweck, eine gewisse Erkenntniß zum Anschauen zu bringen, eine ihm wichtige Wahrheit zu lehren, zu beweisen, wider Einwürfe zu retten. Durch diese Absichten war der Ideengang aller dieser Dichter, so viel Raum ihnen auch noch übrig bleiben mogte, doch immer zwischen gewisse Gränzen eingeschränkt; sie durften ihr Ziel nie gänzlich aus den Augen verlieren, und auf gut Glück unherschwärmen: oder der Charakter ihrer Dichtungsart ging verloren. Welcher Zweck ist nun noch für den lyrischen Dichter übrig? Welchen finden wir in dem obigen Beispiel erreicht? ─ Der Dichter war so eben einer großen Gefahr entgangen; er hat sich insoweit von seinem Schrecken erholt, daß er über die Ursache derselben nachdenken kann: sein Schrecken wird im ersten heftigsten Augenblick zur Wuth gegen das unschuldige Werkzeug; im zweiten, zur Wuth gegen den Werkmeister der es hervorbrachte: und nun, nach Befriedigung dieses dringendsten Triebes in seinem von Leidenschaft angeschwellten Herzen, erwägt er erst die ganze Größe der Gefahr, der er entging. Da seine Phantasie von den Werken und Ideen der alten Dichter so ganz erfüllt ist, so erwachen in ihr die Bilder der Unterwelt, der im Tartarus bestraften Verbrecher, der in Elysium belohnten Tugendhaften. Und da die herrschende Idee seiner Seele, die ihn nie verläßt, sein König ist, so denkt er unter den Letztern keinen eher, als Friedrich Wilhelm den großen Ahnherrn des Königs; und kaum daß er ihn im Geiste zu erblicken glaubt, so singt er ihm schon die letzte bewundernswürdige That seines Urenkels. Voll von dem Lobe seines Monarchen, und von der Begierde ihn noch künftig zu loben, hält er seine Rettung für ein Wunder: Mercur hat ihn erhalten, daß er nach glorreich geendigtem Krieg die Wohlthaten singe, die der Monarch im Frieden über sein Volk verbreiten wird. ─ In dieser ganzen Reihe von Gedanken will der Dichter, wie es scheint, bloß seinem Herzen Luft machen; er will uns nicht den Vorfall erzählen, nicht etwa das Geschütz beschreiben, nicht über die Begebenheit oder seinen Zustand philosophiren; sondern sich bloß seiner Empfindungen, sowie sie sich nacheinander in seiner Seele entwickeln werden, entschütten. Das aber führt, wie man sieht, durchaus zu keinem bestimmten Ziele; der Dichter läuft aus, ohne, dem Ansehn nach, zu wissen, oder sich auch nur vorzusetzen, wo er ankommen will.   Aber irgend etwas muß doch seyn, das auch hier den Ideengang leite; irgend Ein Gesetz muß doch die Vorstellungskraft auf ihrem Gange befolgen; denn eine ganz regellos wirkende Kraft ist ein Unding. Und was für ein Gesetz wird denn hier Statt finden? ─ Den didaktischen Dichter führt die Vernunft von Grund zu Folge, von Folge zu Grund; den beschreibenden, führt die Betrachtung des Gegenstandes selbst von Theil zu Theil, von Erscheinung zu Erscheinung, von Merkmaal zu Merkmaal; den pragmatischen, führen die Wünsche, die Begierden, die Leidenschaften, die er seinen Personen giebt, zu Absichten, die Absichten zu Mitteln: mithin herrscht auch hier die Vernunft; nur daß sie, mit weniger hellem Bewußtseyn, unter einem Gewühl verworrner Vorstellungen wirkt. Was führt nun aber den Odendichter? was überhaupt jeden lyrischen Dichter? ─ Ein nur flüchtiger Blick auf das gegebene Beispiel zeigt uns sogleich, daß es die Phantasie ist, die ihn nach ihrem bekannten Gesetze leitet; daß bei ihm jeder Gedanke andre verwandte Gedanken weckt, und er immer unter dem Haufen nach demjenigen greift, der vermöge seiner eigenthümlichen Gemüthslage für ihn das meiste Interesse, den meisten Reiz hat.   Nunmehr wird es uns klar, was wir eigentlich dabei dachten, als wir dem lyrischen Dichter Empfindungen zum Stoff seiner Werke gaben. Jeder Dichter muß mit Empfindung, muß aus der Fülle des Herzens reden: kein andrer Ton ist wahrhaft dichterisch; aber nicht jeder Dichter macht die Rührung der Seele zum Hauptwerk. Vielmehr sehen alle übrige vorzüglich auf die Ideen, welche die Rührung hervorbringen; der Ausdruck der letztern hängt sich nur an den Ausdruck der erstern: oder, wenn zuweilen die Rührung herrscht, so führt doch der Vorsatz den der Dichter gefaßt hat, ihn bald wieder zu seinem eigentlichen Gegenstande zurück. Hingegen bei dem lyrischen Dichter ist die Rührung Alles; er will nur sein volles Herz entschütten: und so ist sein Werk, wenigstens dem Ansehen nach, weiter nichts als Ausdruck des Zustandes, worein seine Seele durch gewisse Ereignisse, gewisse Ideen versetzt ist; diese Ideen selbst aber, oder diese Ereignisse, erfahren wir nur gelegentlich: ohne weitern Vorsatz, als sein volles Herz zu entschütten, geht er fort, wie das Interesse ihn führt, greift Wahrheiten, Bilder, Geschichten, Alles was ihm vorkömmt; doch ohne irgend etwas zum Hauptzweck zu machen, ohne sich, wie es scheint, durch irgend eine bestimmte Absicht fesseln zu lassen.   Zugleich hellt sich nun die ganze Eintheilung des Gedichts nach der Materie auf; wir erlangen von dem was wir uns unter diesem Worte denken sollen, eine deutliche Vorstellung. Wenn jedes Gedicht eine lebhafte Ideenreihe in Worten ist; so ist Materie das herrschende Gesetz dieser Reihe Materie ist, also wohl von Gegenstand, oder Classe von Gegenständen, Welt, wie wir es S. 95 nannten, zu unterscheiden. Ein Eintheilungsgrund, den wir erst künftig untersuchen werden. . Das herrschende; denn jede Reihe kann alle andere entweder als Theile in sich befassen, oder sich mit ihnen als Formen vereinigen Man s. die Entwicklung des Begriffs der Formen im folgenden Hauptstück. : und was ein alter Weiser von der ganzen Natur sagte, daß Alles in Allem sei, das läßt sich von den Werken der Dichtkunst vollkommen richtig sagen. ─ Werden die Ideen verbunden, so wie sie in einander gegründet sind; so sind die Gründe entweder allgemeine Ideen des Verstandes: und das Werk ist didaktisch; oder es sind individuelle Neigungen des Herzens: und das Werk ist pragmatisch. Beide Dichtungsarten, wie sich schon im Vorigen gezeigt hat, stehen in genauer Verwandtschaft. Werden die Ideen so verbunden, wie es die Theile in einem Ganzen, die Merkmaale in einem Begriffe sind, den der Verstand abstrahirt hat, und den man jetzt als ein sinnliches aus mehrern Theilen bestehendes Ganze ansieht; oder werden sie verbunden, wie sie sich in ihrer Folgo auf einander den Sinnen, dem Gedächtnisse darbieten: so ist das Werk beschreibend. Werden sie endlich verbunden, sowie sie, nach dem Gesetz der Phantasie, auf mannichfaltige Weise einander wecken: so ist das Werk lyrisch. Die Eintheilung hat ihre Vollständigkeit: denn es giebt keine mehrere Gesetze, nach welchen sich die Ideenreihen in unsrer Seele bilden ließen; und die ganze Theorie der Dichtkunst hat also, in Ansehung dieser Eintheilung, nur die Frage zu beantworten: wie man jeder dieser Ideenreihen den höchsten möglichen Grad der Lebhaftigkeit gebe? ─   Doch so befriedigend diese Eintheilung scheint; so fragt es sich noch: ob unser Begriff vom lyrischen Gedicht nicht vielleicht zu enge, oder zu weit, oder gar beides zugleich sei? Denn wie, wenn es Stücke gäbe, in denen zwar sichtbar der Phantasiegang herrschte, die man aber darum nicht lyrisch nennen könnte? Wie, wenn es andere Stücke gäbe, in denen man jenen Gang nicht fände, und die doch, nach Aller Geständniß, lyrisch wären?   Zu der erstern Frage berechtigen uns so manche Scenen in Schauspielen, die nicht Theile der Handlung sind, und die man Conversationsscenen nennt: denn hier scheint das Gespräch bloß von der Phantasie geführt zu werden; man kömmt von einem aufs andre; geräth bald für sich allein, bald durch den Mitunterredner, auf ganz verschiedne, von den ersten Gegenständen oft himmelweit entfernte Dinge. Man sehe nur folgendes Bruchstück einer solchen Scene aus Minna von Barnhelm.    Franciska. Und der Herr Officier, den wir vertrieben, und dem wir das Compliment darüber machen lassen; er muß auch nicht die feinste Lebensart haben: sonst hätte er wohl um die Ehre können bitten lassen, uns seine Aufwartung machen zu dürfen. ─    Das Fräulein. Es sind nicht alle Officiere Tellheims. Die Wahrheit zu sagen, ich ließ ihm das Compliment auch bloß machen, um Gelegenheit zu haben, mich nach diesem bei ihm zu erkundigen. ─ Franciska, mein Herz sagt es mir, daß meine Reise glücklich seyn wird; daß ich ihn finden werde. ─    Fr. Das Herz, gnädiges Fräulein? Man traue doch ja seinem Herzen nicht zu viel! Das Herz redet uns gewaltig gern nach dem Maule. Wenn das Maul eben so geneigt wäre, nach dem Herzen zu reden, so wäre die Mode längst aufgekommen, die Mäuler unterm Schlosse zu tragen.    D. Fr. Ha! ha! mit deinen Mäulern unterm Schlosse! Die Mode wäre mir eben recht.    Fr. Lieber die schönsten Zähne nicht gezeigt, als alle Augenblicke das Herz darüber springen lassen!    D. Fr. Was? bist du so zurückhaltend?    Fr. Nein, gnädiges Fräulein; sondern ich wollte es gern mehr seyn. Man spricht selten von der Tugend die man hat; aber desto öfter von der, die uns fehlt.    D. Fr. Siehst du, Franciska! da hast du eine sehr gute Anmerkung gemacht.    Fr. Gemacht? Macht man das, was einem so einfällt?    D. Fr. Und weißt du, warum ich eigentlich diese Anmerkung so gut finde? Sie hat viel Beziehung auf meinen Tellheim.    Fr. Was hätte bei Ihnen nicht auch Beziehung auf den?    D. Fr. Freund und Feind sagen, daß er der tapferste Mann von der Welt ist. Aber wer hat ihn von Tapferkeit jemal reden hören? Er hat das rechtschaffenste Herz; aber Rechtschaffenheit und Edelmuth sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt.    Fr. Von was für Tugenden spricht er denn?    D. Fr. Er spricht von keiner; denn ihm fehlt keine.    Fr. Das wollte ich nur hören.    D. Fr. Warte, Franciska; ich besinne mich. Er spricht sehr oft von Ökonomie. Im Ver- trauen, Franciska; ich glaube, der Mann ist ein Verschwender.    Fr. Noch eins, gnädiges Fräulein. Ich habe ihn auch sehr oft der Treue und Beständigkeit gegen Sie erwähnen hören. Wie, wenn der Herr auch ein Flattergeist wäre? .... Die Mimen der Alten, wenn wir nach den Syrakuserinnen des Theokrit davon urtheilen dürfen, enthielten lauter Scenen, in welchen wechselsweise bald die Phantasie, bald der stärkere Eindruck auf die Sinne, den Ideengang leiteten. Eigentliche Handlung giebt es wenigstens in den Syrakuserinnen gar nicht; und wenn das Stück Interesse hat, so kann es dieses bloß als Charakterschilderung haben: es ist eine lebendige Darstellung zweier Weiberseelen. ─ Die dramatischen Sprüchwörter unsrer Nachbaren scheinen mit den Mimen der Alten im Wesentlichen viel Ähnliches zu haben.   In dieser Stelle, sowie überhaupt in der ganzen Scene, aus der sie entlehnt ist, leitet freilich bloß die Phantasie das Gespräch; allein auf diese Phantasiereihe selbst kam es dem Dichter durchaus nicht an: auch fällt nicht auf sie das Interesse des Lesers. Der Dichter wollte uns theils die Charaktere der hier auftretenden Personen kennen lehren; theils auch noch sonst einen Theil der Exposition seines Stoffs machen, damit wir die nachher unter den Personen vorfallende Handlung desto besser verstehen mögten. Das letztere rechnen wir dem Dichter nicht weiter an; das erstere, die Darstellung interessanter Charaktere, macht uns Vergnügen: und nur als solche Darstellung, nur als beschreibendes Stück von einer ähnlichen Art, wie wir zu Ende des vorigen Hauptstücks kennen lernten, hat die Scene Interesse und Wirkung. So wie dort mehrere einzelne Handlungen, mehrere einzelne Räsonnements zusammengestellt wurden: nicht, daß wir an ihnen selbst unser vornehmstes Vergnügen finden, sondern daß wir die Züge eines Charakters aus ihnen abziehen und einen anschauenden Begriff von ihm erhalten sollten; so wird auch hier eine durch bloße Gemeinschaft der Merkmaale verbundne Reihe von Gedanken hingeworfen: nicht daß diese Reihe selbst uns vorzüglich rühren, hinreißen soll, sondern daß wir die ganze Sinnesart, Kopf und Herz der unterredenden Personen, daraus kennen lernen. Wir haben also auch hier eine mittelbare Beschreibung, oder da dies Wort hier wenig passend scheinen mögte, Schilderung; wir erkennen immer mehr, wie mannichfaltig sich die Materien mit einander mischen, und unter wie vielerlei Formen und Manieren des Vortrags der Dichter die Wahl hat.   Allein, worin liegt es denn nun, daß in der Ode das Interesse mehr auf die Phantasiereihe selbst, in der Scene des Lustspiels mehr auf den Charakter fiel, der sich darin entwickelte? Wenn wir die Ursache hievon entdecken, so muß uns das zu einer nähern innigern Kenntniß von dem Wesen der Ode und des ganzen lyrischen Gedichts führen; und entdecken werden wir sie, wenn wir die Stücke näher mit einander vergleichen.   Daß die Scene dialogirt und die Ode fortgehende Rede war, kann hier schwerlich den ganzen Unterschied machen: denn es finden sich ja auch dialogirte Oden; obgleich freilich die dialogische Form sich mit dem Wesen dieser Dichtungsart nur selten vertragen mag, weil wir sonst der Beispiele mehr haben würden. Man sehe hier die berühmte dialogirte Ode des Horaz in einer deutschen Nachahmung. Damis und Phyllis. Damis. Als ich mir noch die süssen Küsse raubte, Die Phyllis mir jetzt unerwartet giebt; Da hab' ich sie mehr, als ich selber glaubte, Mehr als mich selbst, hab' ich sie da geliebt. Phyllis. Als Damis Herz für mich zuerst entbrannte, War unser Glück dem Glück der Fürsten gleich; Als er mich noch sein braunes Mädchen nannte, Galt ihm mein Kuss mehr, als ein Königreich. Damis. Ach! Hymen hat die Flamme längst ersticket; Nur Chloe setzt mein kaltes Herz in Brand. Seit Chloe mir im Tanz die Hand gedrücket, Empfind' ich, was ich sonst für dich empfand. Phyllis. Itzt könnt' ich mich an Thyrsis Lieb' ergötzen, Der meinen Gram zu lindern längst begehrt. Ja, Thyrsis will mir Damis Lieb' ersetzen; Und ach! sein Kuss wär' einer Sünde werth. Damis. Wie, wenn mich schon die neue Liebe reute? Wie, wenn ich dir, die mich zuvor entzückt, Mein dankbar Herz allein auf ewig weihte? Und Chloe säh, wie mich dein Bund beglückt? Phyllis. Ich seh' es oft in deinem satten Blicke, Dass in dein Herz ein kleiner Kaltsinn schleicht; Doch, wenn ich dich an meinen Busen drücke, So lebt für mich kein Jüngling, der dir gleicht. Lyrische Blumenlese, Buch 6. Diesem Beispiele nach wäre eine dialogirte Ode nur unter der Bedingung möglich: daß die unterredenden Personen von einer und der nehmlichen, oder doch sehr ähnlichen gegenseitigen Empfindung durchdrungen wären, und also jede ihre Empfindung ungefähr eben so gegen die andre entwickelte, wie sie es für sich allein würde gethan haben.   Doch dem sei, wie ihm wolle; so ist dieses lyrische Stück der obigen Ode insofern ähnlich: daß Eine Empfindung, und eine solche die für das Herz äußerst wichtig ist, das ganze Gedicht füllt; daß diese Empfindung sich der Personen gänzlich bemeistert, alle ihre Aufmerksamkeit an sich gezogen, alles übrige Interesse für diesen Augenblick aus ihrer Seele verbannt hat. In der Scene des Lustspiels war dieses anders: denn obgleich Minna die zärtlichste Liebe gegen Tellheim verräth; so ist sie doch für itzt in die Empfindung dieser Liebe nicht versenkt, nicht verloren: sie hängt an dem Gedanken von ihrem Liebhaber nicht mit der Inbrunst, daß sie das was um sie ist, nur wie im Traume sähe und hörte; vielmehr faßt sie augenblicklich, ohne Verwirrung, und ohne Verdruß gestört zu seyn, jede andere Idee, die ihr von außen gegeben wird; geht in jede verschiedenartige Empfindung mit Leichtigkeit und Besonnenheit über. Eben darum aber sind hier auch alle Ideen weniger lebhaft; der Ausdruck hat weniger Innigkeit, weniger Fülle, als wo sich die Seele mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit einer einzigen Empfindung hingiebt. In dem letztern Fall werden wir mit in die Empfindung hineingezogen: die Ideenreihe selbst hat ihr volles poetisches Interesse; im erstern Falle rührt uns das Bild der Person mehr als ihr Zustand: wir sind müssig genug, es aus den einzelnen zerstreuten Zügen in Gedanken zusammenzusetzen, und wir schätzen die Ideenreihe vorzüglich nur insofern, als dieses Bild hell und lebhaft daraus hervortritt.   Das also ist ein nothwendiges Erforderniß zum lyrischen Gedicht: daß für den Augenblick wo der Dichter die Empfindung ausdrückt, die ganze Seele davon durchdrungen, erfüllt sei. Nur so hat die Phantasiereihe, als solche, volle Lebhaftigkeit, volles poetisches Interesse; im entgegengesetzten Fall hat sie entweder das einer andern Dichtungsart, oder sie hat keines: sie ist Geschwätz.   Allein es blieb uns oben noch eine zweite Frage zu beantworten übrig; die nehmlich: ob sich denn wirklich der Phantasiegang in jedem lyrischen Gedicht finden müsse? und ob es nicht lyrische Stücke geben könne, in denen das enders wäre? Zu diesem Zweifel ist wohl die erste und wichtigste Veranlassung: daß man in keine Gattung so viel Fremdes, als in die lyrische, hineingezogen hat. Jede lebhafte Schilderung, jede durch einzelne charakteristische Züge der Empfindung rührende, oder durch Naivetät belustigende Erzählung, die der Dichter in einem sehr theilnehmenden Tone und bestimmtem Sylbenmaß vorträgt; jede Reihe von launigen Reflexionen oder Maximen, die oft durch wenig mehr als durch einerlei Refrän verbunden sind; jede witzige Posse im Sylbenmaß des Liedes, heißt ein lyrisches Stück: und so kam denn auch folgendes, welches im Grunde nichts als eine Reihe von Epigrammen ist, in die Lyrische Blumenlese. Erklärungen. Seht, Freunde, Staxens Kleid von Gold und Silber blitzen. Ho! ho! Doch, Freunde, seht ihn auch dereinst im Schuldthurm sitzen. So! so!   Narr Kleon schreibt, und wird von aller Welt erhoben. Ho! ho! Die Welt denkt ja wie er; drum muss die Welt ihn loben. So! so! Kein junger Amadis kann Julchens Hers besiegen. Ho! ho! Denn keiner nahm sich noch die Müh', es zu bekriegen. So! so!   Lisette pflegt sich oft zum Beten einzuschließen. Ho! ho! Doch betet insgemein Amynt zu ihren Füßen. So! so! Buch 4. Eine so weite Bedeutung aber kann man dem Worte lyrisch nicht lassen, oder man muß auf bestimmte, deutliche Begriffe Verzicht thun. Die Bürgerische Romanze, die wir im vorigen Hauptstück untersuchten, war kein lyrisches; sie war ein pragmatisches Stück.   Eine zweite Veranlassung zu dem obigen Zweifel kann daher entstehen: weil die Phantasie nicht immer einen so kühnen, raschen, regellosen Gang, wie in heftigen, stürmischen, die Seele schwellenden Leidenschaften, geht; denn wo die Empfindungen sanfter, weicher, wo sie traurig und niederschlagend sind, da ist der Schritt der Phantasie oft so gehalten, so eben, als ob man wirklich von einem bestimmten Vorsatz nach einem festen Ziel hingeleitet würde. So nährt und befriedigt sich der Kummer an einem Grabmaal, durch Wiedererweckung des reizenden Bildes der Geliebten, durch Zurückerinnerung an jede frohe, zärtliche, mit ihr verlebte Stunde; das herrschende Interesse führt von den kleinen Abschweifungen sogleich wieder auf die geliebte Idee der Person und ihres Lebens zurück: das Werk geht von der Empfindung aus, und wird, wie von selbst, zur Beschreibung oder Erzählung. ─ Ramler hat gewiß in seiner so naiven, dem Catull so glücklich nachgeahmten Nänie von den Verdiensten der „todten Wachtel“ keine Beschreibung machen wollen; das Stück sollte nichts als Ausdruck des Schmerzes über den Verlust des kleinen lieben Lieblings werden: allein dieser Ausdruck selbst führte die Phantasie ganz natürlich in die Beschreibung hinein. Weint, ihr Kinder der Freude! Weine, Jocus! Weine, Phantasus! Alle des Gesanges Töchter, alle des jungen Frühlings Brüder, Sirenetten und Zephyretten, weinet! Ach! die Wachtel ist todt! Naidens Wachtel! Die so gern in Naidens hohler Hand saß, Und, gestreichelt von ihrer Rechten, achtmal Ihren Silberschlag so hellgellend anschlug, Daß das purpurbemalte Porzellan klang. Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen Anhub, lauschte sie still, und nickte freundlich; Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen Abließ, hüpfte die kleine Liederfreundinn Auf die Laute des Mädchens, lockte horchend In die Laute, daß alle sieben Saiten, Bauch und Boden der Laute wiedertönten. Wenn das Mädchen versenkt im Traum und stumm saß, Flog die Gauklerinn dem Pagoden Lama Auf den Wackelkopf, wiegte mit dem Kopfe Des Pagoden sich weidlich hin und wieder. Ach! kein Vogel war diesem gleich! der Juno Vogel nicht, der nur schön war; auch der Pallas Vogel nicht, der nur klug war und nicht scherzte. Unser Vogel war schön und klug. Naide Scherzt' und kosete gern mit unserm Vogel. Und der Vogel verstand Nalden: gab ihr Nickend Antwort, schlug an, sobald sie winkte, Ging und kam auf ihr Wort, und saß ihr rüstig Auf der Schulter, und ließ sich küssen, ließ sich Aus den Lippen der trauten Wirthinn ätzen....   Noch eine dritte Veranlassung zu unserer Frage konnten die Versuche der Dichter seyn, Oden auf Handlungen zu bauen, ihnen Handlungen unterzulegen. sie verschweigen alsdann die Geschichte, heben nur die Ausdrücke der Empfindungen heraus, die während des Verlaufs derselben bei den Personen veranlaßt werden, und lassen die veranlassenden Umstände selbst von dem Leser errathen. Allein, da nun doch der Leser sich selbst die Erzählung machen muß, die der Dichter nicht macht; da die Situation, aus welcher die Empfindungen hervorspringen, seine Aufmerksamkeit doch immer am meisten an sich zieht, und da nur allzuleicht die Einsicht in den ganzen Verlauf der Handlung schwierig und dunkel wird: so ist die Idee einer solchen Verbindung der pragmatischen mit der lyrischen Dichtungsart nicht die glücklichste, und der Dichter hätte besser gethan, statt der Ode eine Erzählung, allenfalls im Sylbenmaß des Liedes, zu machen. Vielleicht findet man diese Anmerkung auch durch folgenden Versuch unsers Ramler eher bestätigt, als widerlegt. Amynt und Chloe. Ich bins, o Chloe! Fleuch nicht mit nacketem Fuss Durch diese Dornen! fleuch nicht den frommen Amynt!  Hier ist dein Kranz, hier ist dein Gürtel!     Komm, bade sicher; ich störe dich nicht. Sieh her! ich eile zurück, und hänge den Raub An diesen Weidenbaum auf. ─ Ach! stürze doch nicht!   Es folgt dir ja kein wilder Satyr.     Kein ungezähmter Cyklope dir nach. ─ Dich, schlankes, flüchtiges Reh, dich hab' ich erhascht! Nun widerstrebe nicht mehr! Nimm Gürtel und Kranz,   Und weihe sie der strengen Göttinn,     An deren ödem Altare du dienst.   Endlich kann ein lyrisches Gedicht nur Einen Gedanken enthalten, der nicht weiter verfolgt wird: vielleicht, weil die Empfindung so mächtig ist, daß sie nur diesen Einen kurzen Ausbruch verstattet, oder weil sie sich gleich Anfangs um so viel abschwächt, daß der Dichter sinken würde. Allein sie ist denn doch immer Anfang einer innerlich fortlaufenden Phantasie reihe; und so verschwindet auch dieser letzte Zweifel gegen die Richtigkeit der festgesetzten Erklärung. Zum Beispiele einer solchen kurzen Ode mag folgende dienen. An Cidli. Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher,   Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht;     Auch, wenn stille Nacht ihn umschattend decket,       Schlummr' ich ihn sicher. Wo er sich endet, wo ein Strom das Meer wird,   Gleit' ich über den Strom, der sanfter aufschwillt;     Denn, der mich begleitet, der Gott gebots ihm!       Weine nicht, Cidli! Klopstock.   Das hier gewählte Beispiel führt uns sogleich auf die erste Regel, die der lyrische Dichter in Ansehung des Gegenstandes zu beobachten hat, welcher die Empfindung veranlaßt. Der Leser muß nothwendig diesen Gegenstand kennen, wenn er die Empfindung theilen soll; denn ohne Einsicht des Grundes, kann eben so wenig das Herz sich interessiren, als der Verstand Beifall geben. Also muß der Dichter, wo er den Gegenstand nicht als bekannt voraussetzen darf, die Veranlassung seines Gedichts, selbst im Ausdruck seiner Empfindung, angeben; doch freilich so, daß er es nicht zu wollen scheine. ─ Ein besondrer Kunstgriff, diese Exposition zu machen, ist der, daß er die kurze Erzählung der Veranlassung in seinem eigenen Namen voranschickt, und dann das Gedicht selbst einem Andern in den Mund legt; wie das Ramler in Glaukus Wahrsagung thut. Als Ludewigs Pilot mit stolzer Flotte Westgalliens beschäumtes Thor Verließ, hub Glaukus aus der tiefen Felsengrotte Sein blaues Haupt empor:   „Unglücklicher!.... nur daß freilich der ganze Plan dieser Ode noch einen Grund mehr zu dieser Einrichtung enthält.   Die übrigen Regeln des lyrischen Gedichts lassen sich aus der Erklärung desselben leichtlich ableiten. ─ Die Ideen müssen immer über den Dichter, nie der Dichter über die Ideen herrschen; sobald er zur Besonnenheit erwacht, hat sein Gesang ein Ende: eine Art Schluß, die Uz gebraucht hat. Das Natternheer der Zwietracht, sagt er: ─ ─ ─ zischt uns ums Ohr, Die deutschen Herzen zu vergiften, Und wird, kömmt ihr kein Herrmann vor, In Herrmanns Vaterland ein schmählich Denkmaal stiften.   Doch mein Gesang wagt allzuviel. O Muse, fleuch zu diesen Zeiten Alkäens kriegrisch Saitenspiel, Das die Tyrannen schalt; und scherz' auf sanftern Saiten!   Wo also die Phantasie auf Abschweifungen führt, da muß es nie sichtbare Rücksicht auf Plan, sondern bloß die Stärke der in der Seele herrschenden Hauptempfindung seyn, was den Dichter auf seinen ersten Weg zurückbringt. Beispiele von solchen Abschweifungen, und von der wahren lyrischen Art wieder einzulenken, giebt der Anfang der Ramlerschen Ode an Rode. Der du dem blutenden Cäsar beim Dolche des Freundes in Purpur   Das Antlitz hüllest, das den Mörder liebreich straft; Philippe Sohn zu des schnöde gefesselten Königes Leichnam  Voll Wehmuth hinführst; Ilions laut ächzenden Priester mit Drachen umwindest, o Rode, Melpomenens Maler!   Verlaß die keusche Großmuth deines Scipio, Deines Coriolans gefahrenvollen Gehorsam;   Verlaß der Brennusfürsten stolze Reihe jetzt, Von dem Fahneneroberer Albert-Achill, bis zu Wilhelms   Erhabnem Schatten, Wilhelms, der durch Schnee, durch Eis, Wie der Sturmwind, sein Heer auf die flüchtige Ferse des Feindes Und seinen feigen Nacken stürzt; ─ und sage mir: Welche Gottheit dir Feuer zu deinen Schöpfungen eingoß,  Und diese kalte Sanftmuth, eiteln Aberwitz Still zu dulden, den Neid .... ─   Hat sich die Phantasie von ihrem Hauptgegenstande so weit verloren, daß keine Rückkehr zu demselben anders als durch Besonnenheit mehr Statt finden würde; so schließt das Gedicht. Dergleichen Schlüsse finden sich da am häufigsten, wo die Phantasie einen sehr lebhaften Anstoß erhalten hat: sei es durch das aufserordentliche Interesse des Gegenstandes, oder durch ihr eignes mehr orientalisches Feuer. Der Psalmist giebt Beispiele davon. Man sehe den 133 sten Psalm.    Siehe! wie fein und lieblich ists, dass Brüder einträchtig bei einander wohnen! Wie der köstliche Balsam ist, der vom Haupt Aarons herabfleußt in seinen ganzen Bart, der herabfleußt in sein Kleid. Wie der Thau, der vom Hermon herabfällt auf die Berge Zion: denn daselbst verheißt der Herr Segen und Leben immer und ewiglich. Luther. Ein vortreffliches Beispiel giebt noch der 126ste Psalm, und mehr andere. ─ Ausschweifungen von der eigentlichen Hauptidee sind in jedem leidenschaftlichen Zustande der Seele natürlich; besonders da, wo der Gegenstand sie erhebt, sie erweitert: immer will die Phantasie ins Freie, ins Weite; und so hat, bei andern Dichtern der Vorsatz, bei dem lyrischen das Hauptinteresse, beständig daran zu arbeiten, daß die Phantasie eingeschränkt und zurückgeholt werde. Dies ist der Ursprung der oft so großen, aus so vielen und mancherlei Gliedern zusammengeflochtenen, Perioden des Odendichters, des epischen, des didaktischen Dichters, des Redners. Einen der schönsten Perioden dieser Art haben wir S. 281 folg. gesehen.   So sehr es wider die Natur des lyrischen Gedichts wäre, irgend eine bestimmte Absicht zu verrathen: so kann doch der Dichter in der That eine Absicht hegen, wenn er sie nur verbirgt; und oft wird er sie eben dadurch, daß er sie verbirgt, desto glücklicher erreichen. Eine solche hinter der Phantasiereihe versteckte Absicht nennt man den Plan einer Ode. In der Ode auf das Geschütz war der Plan: die Verrherrlichung des Königs, nicht bloß als siegreichen Helden, sondern auch als großen Regenten im Frieden. Auf die Anlage eines solchen Plans, oder auf die Art und Weise, wie mitten in dem scheinbar freien Laufe der Phantasie eine bestimmte Absicht heimlich erreicht wird, beruht hauptsächlich das Verdienst der Neuheit und Eigenheit einer Ode. ─ Es wäre vielleicht ein schönes, empfindungvolles, aber doch im Ganzen immer nur gemeines Stück geworden, wenn Horaz den nach Griechenland reisenden Virgil bloß mit seinen guten Wünschen und einem feurigen Gebet an die Götter hätte begleiten wollen. Virgil würde seinen Freund Horaz allerdings darin erkannt haben; aber wie vial mehr muß er ihn noch in der Betrachtung erkennen, die der Dichter, sogleich nach der ersten Anrede an das Schiff, in einem so bittern aufgebrachten Tone über die Verwegenheit des ersten Erfinders der Schifffahrt, und überhaupt des ganzen menschlichen Geschlechts, anstellt. So sehr dieses Abschweifung scheint, so sehr ist es der Absicht gemäß; so äußerst freundschaftlich und verbindlich ist es, und so sehr beschäftigt es mit dem Herzen zugleich den Verstand, der hier so unerwartet auf einen so eignen und doch so richtigen Zusammenhang der Empfindungen geführt wird.   Die Verbindung zwischen der Anrede und der Betrachtung geschieht in der eben erwähnten Horazischen Ode durch einen Sprung, der nicht wenig unerwartet und rasch ist. ─ Sprünge entstehen in einer Ideenreihe, wenn verbindende Mittelideen überhüpft, verschlungen werden; so daß der Leser selbst sie ergänzen muß, um den Zusammenhang zu erkennen. Solche Sprünge kommen, wie wir schon im fünften Hauptstück gesehen haben, in jeder poetischen Schreibart vor; denn sie sind in dem Grundgesetz der Lebhaftigkeit gegründet, welches die Ideen, soviel die Deutlichkeit es erlaubt, zusammen zu drängen befiehlt. Vorzüglich aber sind dem lyrischen Dichter die Sprünge eigen; eben weil dieser, so frei und ungefesselt, bloß den Gang der Phantasie geht, durch keine Rücksicht auf Plan sich einschränken läßt, und bei der lebhaftern Bewegung seines Gemüths jeden Augenblick tiefer in die Ideenreihe hineinblickt. Er greift dann oft gerade das Entfernteste, wenn, vermöge der Beschaffenheit seiner Gemüthslage, ihm dieses Entfernteste auch das Interessanteste wird. Doch muß auch bei ihm die Verbindung noch immer können nachgefunden werden; die Ideen müssen nicht, wie vom Sturmwinde zusammengetrieben, sondern wie von einem gesunden, nur sehr lebhaften, Kopfe zusammengedacht erscheinen. Die Wörter: Wuth, Trunkenheit, Raserei, mit denen man den Zustand des Odendichters zu charakterisiren pflegt, sind Metaphern, aus denen man nicht Ernst machen, sondern sich immer der Uzischen Anrede an die Muse erinnern muß: O Muse, fleug mir vor; Du, deren freier Flug oft irrt, nie sich verirret!   Sowie die Sprünge, so sind auch überhaupt Gedrängtheit, Innigkeit, Fülle des Tons, dem lyrischen Dichter vor allen andern eigen; aus dem sehr begreiflichen Grunde: weil er so ganz in seinen Gegenstand vertieft ist; weil er mit seiner ganzen ungetheilten, von jeder Rücksicht auf Plan und Endzweck unzerstreuten, Seelenkraft seine Ideen bearbeitet. ─ In welchem Grade er soll begeistert werden, wie hoch er seinen Ton spannen, oder wie tief er ihn herabstimmen soll: das läßt sich zwar nie aus der Natur des Gegenstandes allein bestimmen; aber es giebt gleichwohl Überspannungen des Tons, die auch da wo man das wärmste Herz und die feurigste Phantasie voraussetzt, noch Überspannungen bleiben. Gesunde Köpfe können von jedem gegebenen Gegenstand nur bis auf einen gewissen Grad, und von andern die mit den Neigungen des Herzens durchaus in keinem Zusammenhange stehen, ganz und gar nicht gerührt werden. Dürre, wissenschaftliche Abstractionen zu personificiren, und sich dann bis zur Begeisterung von ihnen hingerissen zeigen, ist ein Einfall, der sich durch kein außerordentliches Feuer der Einbildungskraft, keine besondere Eigenheit des Genies entschuldigen läßt: denn wäre nicht offenbar die Begeisterung gemacht und erkünstelt, so würde eine so seltsame Eigenheit eher Mitleiden als Bewunderung verdienen.   Das Feuer des Tons wovon wir hier reden, kann, außer den oben schon angegebenen, eine neue Veranlassung zum Schluß der Ode werden. Der Dichter schließt nehmlich, wenn die Empfindung bei ihm so hoch schwillt, daß er nichts mehr sagen kann, oder doch wenigstens nichts, was nach den großen Ideen auf die er gerathen ist, noch gesagt zu werden verdiente. Daher oft der Schluß mit dem stärksten, reichsten, erhabensten Gedanken, wie in der obigen Ode auf ein Geschütz von Ramler. Der Dichter kehrt hier in den Zustand des stummen Anstaunens zurück, der vor der Ode vorherging, oder mit dem auch die Ode hätte anfangen können.   Der Anfang einer Ode nehmlich ist da, wo die Seele eines Gegenstandes so voll wird, daß die Empfindung sie übermannt; oft auch, wenn der Gegenstand sie überrascht hat, schon mitten in der Verwirrung, wo der Affect noch Worte sucht. Daher der so häufig gebrauchte, aber auch durch Gebrauch schon abgenutzte Anfang: Wo bin ich? Wie ist mir? den die lyrischen Dichter auf so mancherlei Art haben zu variiren gewußt: Wohin wird mein Gesang verschlagen? Uz. Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth Mich auf der Ode kühnen Flügeln, Fern von der leisen Fluth Am niedern Helikon und jenen Lorbeerhügeln? Ebenders. imgleichen die noch so allgemeinen, nichts Bestimmtes sagenden Redensarten: Ich will singen; ich thue meinen Mund auf; ich fühle den Gott im Busen, u. s. w. Insgemein redet dann auch der Dichter in einem sehr stolzen zuversichtlichen Tone von sich selbst, und dem Werke das er hervorbringen wird. Ich fliehe stolz der Sterblichen Revier; Ich eil' in unbeflogne Höhen. Wie keuchet hinter mir Der Vogel Jupiters, beschämt mir nachzusehen! Uz. Mit sonnenrothem Angesichte Flieg' ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem Lichte Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner klang. Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang, Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen, Sich strömend fort, und braust von meinen Lippen! Ebenders. Eine so stolze, die Erwartung so hoch spannende, Ankündigung dürfte kein anderer Dichter wagen; dem lyrischen wird sie, wegen der Gemüthsverfassung die man bei seinem Werke voraussetzt, verziehen; ja, es wird ihm sogar verziehen, wenn er die Erwartung ganz und gar nicht befriedigt, sondern nach der Ankündigung aufhört. Dies geschieht da, wo er sich seinen Gegenstand so groß denkt und sich selbst so trunken zeigt, daß er, nach der Ankündigung seines Vorsatzes, wenn er ihn nun ausführen soll, in stummes Bewundern und Anstaunen zurücksinkt. So Horaz in der 25sten Ode des 3ten Buchs, wo eben das Nichtsingen des August, dessen Lob er so prächtig ankündigt, die feinste und ausgesuchteste Schmeichelei ist.   Wir haben vorhin von Feuer des Tons gesprochen; es versteht sich, daß dieses Feuer, nach Verschiedenheit des Gegenstandes und der auszudrückenden Empfindung, seine mannichfaltigen Grade hat, wo es oft kein Feuer mehr genannt werden kann. Denn einmal bezeichnet man doch mit diesem Worte nur die höhern Grade der Wärme, wo die Seele inniger, stärker erschüttert ist, und mit weitern, kühnern Schritten durch die Ideenreihe forteilt. Die Hauptpflicht des lyrischen Dichters wird seyn: daß er die ganze Natur jeder Art von Empfindung, mit allen ihren Mischungen, Übergängen in verwandte Empfindungen, Ursachen ihres Wachsthums und ihrer Abnahme, die ganze Art wie jede die Seele stimmt und modificirt, sorgfältig erforsche; denn nur so wird er überall richtig, originell, in seinen Planen bedeutend seyn; nur so die Sprache der durch sie auszudrückenden Empfindung, nach der jedesmaligen Natur, dem jedesmaligen Grade derselben, völlig anschmiegen. Bei dem was wir hier Sprache nennen, bei der ganzen wörtlichen Bezeichnung der Ideen; kömmt es auf zweierlei an: zuerst auf die Wahl der Wörter, Bilder, Redensarten, nach der ganzen genauern Bestimmung ihrer Bedeutung, da sie bald mehr bald weniger sagen, bald höher bald niedriger, bald edler bald gemeiner sind, bald auf solche bald auf andere Nebenideen führen; auf die Art ihrer Verbindung und Zusammenstellung in einzelnen Sätzen und ganzen Perioden, da sie anders und anders verflochten, mehr oder weniger zusammengedrängt, einige mehr ins Licht gerückt, andre mehr im Schatten gehalten werden; auf den richtigen Gebrauch der Figuren, von denen S. 153 die Rede war; mit einem Wort: auf das was man, im engern Sinne des Worts, Sprache, Diction nennt. Und dann zweitens kömmt es auf das Mechanische an, oder auf das was bei der Rede den äußern Sinn rührt, auf den Klang und den Rhythmus. Wie wichtig dieses Mechanische zur Verstärkung der Lebhaftigkeit der Ideen sei, ist schon oft erinnert worden; wie ausnehmend wichtig die Diction sei, muß ein Jeder ohne Beweis empfinden, der den Eindruck eines Werks, wo alle einzelne Wörter, Redensarten, Wendungen, Bilder, Figuren, sorgfältig nach der itzigen Seelenbewegung, dem Maße der itzt erforderlichen Kraft des Gedankens gewählt sind, mit dem Eindruck eines andern vergleicht, dessen Sprache unangemessen, ungleich, bald zu hoch bald zu niedrig, bald zu stark bald zu matt, bald zu gedrängt bald zu weitschweifig ist. Dergleichen Fehler der Sprache können oft, jeder an sich, nicht von der größten Wichtigkeit seyn; aber eine zu große Menge solcher Fehler wird jedem Dichter an seinem Werk Vieles, dem lyrischen Alles verderben: weil bei diesem das ganze Interesse auf der Empfindung, auf der Art und Weise beruht wie er gerührt ist, und weil der Ausdruck, die Mittheilung dieser Rührung, von Sprache, von Mechanismus der Sprache, so vorzüglich abhängt. Keinem Dichter raubt daher auch der beste Übersetzer in fremde Sprachen so viel, als dem lyrischen Dichter.   Über das Charakteristische der verschiednen Füße und Sylbenmaße werden bei Lesung des Horaz Betrachtungen angestellt; und dort sind sie ohne Zweifel an ihrem rechten Ort. Nur die den verschiedenen lyrischen Dichtungsarten eigenthümlichen Sylbenmaße sollten wir hier freilich noch zu bestimmen suchen; aber dazu müßten wir nothwendig von jenen Dichtungsarten erst deutliche Begriffe haben. Es scheint, daß man die ganze Eintheilung in Ode, Lied, Elegie, bloß hat auf die verschiedne Einrichtung des Mechanischen gebaut; und da diese Einrichtung in gewisser Absicht noch immer willkürlich bleibt, da auch nicht immer das Mechanische nach der größten Schicklichkeit und Übereinstimmung mit dem Inhalt gewählt-wird: so kann man leicht abnehmen, wie schwankend und unbestimmt in Ansehung der innern Merkmaale die Begriffe haben bleiben müssen. Dennoch findet sich in dem Mechanischen bei Ode und Elegie etwas Eigenes, wodurch sich beide von dem Liede unterscheiden; und wenn wir dieses Eigne entwickeln, so werden wir dadurch vielleicht dem wahren Wesen der angegebenen drei Dichtungsarten näher kommen. Da wir einmal aus dem Innern das Mechanische nicht bestimmen können; so wollen wir umgekehrt aus dem Mechanischen das Innre zu finden suchen.   Neuere Odendichter, wie z. B. unter den Deutschen Klopstock, Denis u. a. haben das Eigne, daß sie sich zuweilen eine Mischung mehrerer Zeilenmaße erlauben, und sich an keine bestimmte Strophen binden. Andere, wenn sie auch in Sylbenmaß und Strophenbau Einförmigkeit beobachten, pflegen doch, wie Horaz und Ramler, die Abschnitte mannichfaltig zu versetzen, und Zeilen und Strophen so in einander hinüber zu schlingen, daß man ihre regelmäßige Gleichheit oft kaum gewahr wird. Man sieht ganz deutlich, daß bei ihnen diese Freiheit nicht Nachlässigkeit, daß sie mit Fleiß gesuchte und bedeutende Schönheit ist. In Liedern hingegen wäre eine solche Freiheit wahre Nachlässigkeit, wahrer Flecken. In diesen erwartet man weit mehr Einförmigkeit in Beobachtung der Abschnitte; man erlaubt weniger Verschlingung der Zeilen, weniger Verflechtung der Perioden; mit dem Schluß jeder Strophe will man, daß der Gedanke vollendet, die Periode geschlossen sei. ─ Ferner liebt der Odendichter die vollern, tönendern, prächtigern Sylbenmaße, die den Mund mehr füllen, den Athem mehr anstrengen; auch die aus mancherlei Füßen zusammengesetzen, die weniger bestimmten, die sich wie der Hexameter mannichfaltig ausbilden lassen: so, daß er auch hier sich Freiheit zu mehr Abwechselungen des Tons läßt. Der Liederdichter liebt dagegen die leichtern, fließendern, kürzern, bestimmtern Sylbenmaße, die aus lauter gleichförmigen Füßen, Jamben, Trochäen, Daktylen bestehen. Oder wenn er einst unbestimmtere Sylbenmaße wählt; so ist es bei ihm ein Verdienst, was bei dem Odendichter keines ist, die Füße darin durchgängig nach Einer Regel zu mischen; so wie Uz in seinem so wohlklingenden Stücke „der Frühling“ gethan hat, welches freilich noch eher Ode als Lied ist. ─ Der Elegische Dichter unterscheidet sich von beiden, von Oden-und Liederdichtern, dadurch: daß er in seinen Sylbenmaßen am einförmigsten ist, keine Strophen baut; nur mit zweierlei verschiednen Zeilen wechselt: bei den Alten mit Hexameter und Pentameter, bei den Neuern insgemein mit dem männlichen und weiblichen Alexandriner oder Trochäus. Ein deutscher Dichter charakterisirt die Elegie durch folgende Züge: Ich sah die Elegie hellglänzend vor mir stehn. Ihr Hals war regellos mit Locken überdecket;   Ihr Auge war verweint, doch auch verweint noch schön. Viel träge Weichlichkeit verrieth der Bau der Glieder.   Ein schleppendes Gewand, das ohne Reichthum war, Umfloß die volle Brust, stieg mit ihr auf und nieder,   Und seine Länge barg der Fersen ungleich Paar. v. Nicolay.   Sowie das Mechanische, so auch in den verschiedenen Dichtungsarten die Diction. Der Odendichter liebt meist die edelsten, prächtigsten, seltensten Wörter: er holt aus dem Sprachschatz längstvergeßne Ausdrücke wieder hervor, die bei dem Reiz der Neuheit, da sie so lange nicht mehr erschienen, das Ehrwürdige des Alterthums haben; er wagt eigne, oft ungewohnte Zusammensetzungen von Wörtern, zufrieden, wenn nur irgend eine bekannte Analogie der Sprache sie rechtfertigt; er schmückt seinen Ausdruck mit neuen, kühnen, unerwarteten Bildern. In Liederdichtern findet man alle diese Freiheiten weit weniger: sie lieben bedeutende, aber nicht fremde Wörter; gewählte, aber nicht ungewöhnliche, auffallende Redensarten und Verbindungen; Bilder, aber nicht zu kühne, prächtige Bilder. In Elegieen vollends nähert sich die Diction schon weit mehr der Prosa: sie ist weit weniger stark, gedrängt, geschmückt; enthält sich aller raschern Wendungen, aller glänzenderen Sprach- und Sachfiguren.   Vorausgesetzt nun, das Mechanische wäre der Diction, beides wäre dem Inhalt, der Natur der ausgedrückten Empfindung überall völlig angemessen: worauf würde, schon nach dem Mechanischen, das Wesen der drei Dichtungsarten beruhen? ─ Da, unsrer Erklärung nach, das Wesen jedes lyrischen Gedichts überhaupt Phantasiegang einer Seele ist, die sich ganz dem Eindruck eines Gegenstandes hingiebt, so müßte das Wesen der untergeordneten Dichtungsarten in nähern Modificationen eben dieses Phantasieganges liegen; und wie würden wir nun diese Modificationen bestimmen? ─ Die Freiheit in der Mischung der Zeilenmaße, die mannichfaltiger vertheilten Abschnitte, die in einander hinübergeschlungenen Strophen, die größere Fülle und Pracht, zeigen deutlich: daß der Odendichter, um mich so auszudrücken, in seinem Gange bald kräftiger, gewichtiger auftritt, bald mit mehr Hitze und Ungestüm forteilt, bald ungleichförmiger, regelloser die Geschwindigkeit seines Laufes abändert, als Lieder- und Elegieendichter. Das Gleichförmigere in Füßen und Strophenbau, das Leichtere, Kürzere, das mehr Fortfließende in dem Sylbenmaß des Liederdichters zeigt an: daß bei ihm die Phantasie von jedem einzelnen Gedanken weniger erfüllt ist; nicht weite, kühne, aber auch nicht enge, träge Schritte thut, nicht ungestüm und reißend, nur munter, frisch, lebhaft durch die Ideenreihe hineilt. Das sehr Einförmige, Schleppende, Weichliche im Sylbenmaß des Elegieendichters beweist: daß bei ihm die Phantasie länger auf jedem Gedanken ruht, ihn gleichsam ungern verläßt, mit weit mäßigern, engern Schritten durch die nächsten Ideenverbindungen sanft und eben fortgleitet. ─ Alle stärkere, alle stürmische, oder erhabne Empfindungen also, die die Seele schwellen und fortreißen, würden wir dem Odendichter; alle mittlere, mäßige, die sie lebhaft, aber gemächlich bewegen, dem Liederdichter; alle zärtlichere, weichere, die sie abspannen, die ihre Bewegung hemmen, dem Elegieendichter geben.   Der hier festgesetzten Gränzscheidung der Begriffe ist wenigstens die eine Beobachtung günstig: daß der Odendichter von jeher gern Götter, Helden, Schlachten, Triumphe, also große, erhabene, schreckliche Gegenstände wählte; der Liederdichter gern Liebe, Wein, Schönheit, Frühling sang, also sich in fröhlichen, in ergötzenden Gegenständen gefiel; der Elegieendichter gern klagte, weinte, oder auch wohl mit sanfter Rührung seine stille Ruhe und Zufriedenheit pries, also das Traurige, das bloß Angenehme zu seinem Stoffe machte. Hingegen ist dieser Gränzscheidung zuwider: daß man so oft Lieder nennt, was in der That, wie die Amazonenlieder unsers Weiße, beim bloßen Sylbenmaß des Liedes, Odengeist, Odenton hat; daß man von Anakreontischen Oden spricht, wo sich Stoff, Diction, Mechanismus, Alles vereinigt, um die Benennung des Liedes zu fordern; endlich, daß man Stücke, die, Gegenstand und Empfindung nach, nur in Strophen gebrachte Elegieen wären, mit dem Namen von Traueroden belegt. Indeß ist der Schade, den das Schwankende dieser Benennung thun kann, zu unwichtig, als daß man dagegen eifern sollte; auch würde ohnehin der Grund des Unterschiedes, da er ein bloßer Grad, ein bloßes Mehr oder Weniger ist, keine so ganz feste Gränzscheidung erlauben.   Man spricht, noch in einer andern Hinsicht, von lyrischen Gattungen: man nennt Hymnen oder geistliche Oden Stücke, die der Verherrlichung des höchsten Wesens geweiht sind; geistliche Lieder und Gesänge überhaupt, alle Stücke worin sich religiöse Empfindungen ergießen; heroische Oden, Loboden, solche, in denen Thaten der Helden, in denen überhaupt große bewundernswürdige Thaten und Tugenden gepriesen werden. Denn nicht nur Krieger sind der Lobgesänge der Dichter würdig; Auch Ihr, der Staaten friedliche Wächter, habt Ein hohes Recht an seinen geflügelten   Gesängen; auch der tapfre Richter     Mächtiger Frevel und armer Unschuld; Auch, deren Geist dem immer erneuerten Geschlecht der Menschen Güter und Künste fand;   Auch, wer allwachsam seinen Bürgern     Überfluß, Sitte, Gesundheit mittheilt. Ramler. So spricht man auch von moralischen, philosophischen Oden, u. s. w. Die ganze Eintheilung aber hat in die Theorie des lyrischen Gedichts eben so wenig Einfluß, als die Eintheilung in Kunst-, moralische, philosophische Lehrgedichte in die des didaktischen hatte; und so schweigen wir denn auch von jener, wie wir von dieser schwiegen.   Die lyrische Dichtungsart ist die glänzende Seite unsrer poetischen Literatur, wo die Wahl unter so vielen und so schätzbaren Stücken am meisten schwer fällt. Nur aus wenigen der berühmtesten frühern Dichter heben wir einige Stücke aus, die doch zum Theil, wenigstens hie und da, der Kritik noch einige Blößen geben mögten.   Beispiele von Oden mögen folgende seyn. Die wahre Grösse. In meinen Adern tobt ein juvenalisch Feuer; Der Unmuth reichet mir die scharfgestimmte Leier. Masst sich des Pöbels Wahn Das Urtheil nicht von grossen Seelen an?   Sei Richter, liebster Gleim! (der Pöbel soll nicht richten!) O du, der jedes Herz mit reizenden Gedichten Nach Amors Willen lenkt, Der schalkhaft scherzt, und frei und edel denkt!   Ein Mann, der glücklich kühn zur höchsten Würde flieget, Und weil er, Sklaven gleich, vor Grossen sich geschmieget, Nun als ein grosser Mann Auch endlich selbst in Marmor wohnen kann: Der heißt beim Pöbel groß, da ihn sein Herz verdammet; Und wenn der Bürger Gold auf seinem Kleide flammet, So sieht die Schmeichelei Vor Schimmer nicht, wie klein die Seele sei.   Soll seines Namens Ruhm auf späte Nachwelt grünen? Dem Staate dient er nur, sich Schätze zu verdienen. Bereichert ein Verrath: So, zweifle nicht, verräth er auch den Staat.   Der Absicht Niedrigkeit erniedrigt große Thaten. Wem Geiz und Ruhmbegier auch Herkuls Werke rathen, Der heißt vergebens groß; Er reißt sich nie vom Staub des Pöbels los.   Zeuch, Alexander, hin bis zu den braunen Scythen, Irr' um den trägen Phrat, wo heißre Sönnen wüthen, Und reiß dein murrend Heer Zum Ganges hin bis ans entfernte Meer!   Du kämpfest überall, und siegest wo du kämpfest, Bis du der Barbarn Stolz, voll größern Stolzes, dämpfest, Und die verheerte Welt Vor ihrem Feind gefesselt niederfällt.   Verkenne Menschlichkeit und menschliches Erbarmen! Von deinem Haupte reißt, auch in des Sieges Armen, Der Tugend rauhe Hand Die Lorbeern ab, die Ehrsucht ihr entwand.   Mit Lorbeern wird von ihr der beßre Held bekränzet, Der für das Vaterland in furchtbarn Waffen glänzet, Und über Feinde siegt, Nicht Feinde sucht, nicht unbeleidigt kriegt;   Der Weise, der voll Muths, wann Aberglaube schrecket, Und Wahn die halbe Welt mit schwarzen Flügeln decket, Allein die Wahrheit ehrt, Und ihren Dienst aus reinem Eifer lehrt;   Der echte Menschenfreund, der bloß aus Menschenliebe Die Völker glücklich macht, und gern verborgen bliebe, Der nicht um schnöden Lohn, Nein! göttlich liebt, wie du, Timoleon!   Zu dir schrie Syrakus, als unter Schutt und Flammen, Und Leichen, die zerfleischt, in eignem Blute schwammen, Der wilde Dionys Sein eisern Joch unleidlich fühlen ließ.   Du kamst und stürztest ihn, zum Schrecken der Tyrannen; Wie, wenn ein Wintersturm die Königinn der Tannen Aus starken Wurzeln hebt, Von ihrem Fall ein weit Gebirge bebt. Durch dich ward Syrakus der Dienstbarkeit entzogen, Und sichrer Überfluß und heitre Freude flogen Den freien Mauren zu. Held aus Korinth! was aber hattest du?   Allein die edle Lust, ein Volk beglückt zu haben. Belohnung beßrer Art, als reicher Bürger Gaben! Du Stifter güldner Zeit, Der Hoheit werth, erwähltest Niedrigkeit.   Doch dein gerechtes Lob verewigt sich durch Lieder, Nachdem die Ehre dich auf glänzendem Gefieder Den Musen übergab; Noch schallt ihr Lied in Lorbeern um dein Grab. Uz. Der Zürchersee. Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut; schöner ein froh Gesicht,   Das den grossen Gedanken     Deiner Schöpfung noch einmal denkt. Von des schimmernden See's Traubengestaden her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf;   Komm in röthendem Strahlo     Auf dem Flügel der Abendluft, Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn, Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren   Schnellen Jauchzen des Jünglings,     Sanft, der fühlenden Fanny gleich. Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuß Zürch in ruhigem Thal freie Bewohner nährt;   Schon war manches Gebirge     Voll von Reben vorbeigeflohn. Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh, Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender,   Schon verrieth es beredter     Sich der schönen Begleiterinn. Hallers Doris, sie sang, selber des Liedes werth, Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich wie Gleimen liebt; Und wir Jünglinge sangen,     Und empfanden, wie Hagedorn. Jetzt empfing uns die Au in die beschattenden Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt;   Da, da kamest du, Freude!     Volles Maßes auf uns herab! Göttinn Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich! Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,   Deiner Unschuld Gespielinn,     Die sich über uns ganz ergoß! Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung Hauch, Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft   In der Jünglinge Herzen,     Und die Herzen der Mädchen gießt. Ach! du machst das Gefühl siegend: es steigt durch dich Jede blühende Brust schöner und bebender; Lauter redet der Liebe     Nun entzauberter Mund durch dich! Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen, Beßre sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt,   Im sokratischen Becher     Von der thauenden Ros' umkränzt; Wenn er dringt bis ins Herz, und zu Entschließungen, Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt,   Wenn er lehret verachten,     Was nicht würdig des Weisen ist. Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton In das schlagende Herz; und die Unsterblichkeit   Ist ein großer Gedanke,     Ist des Schweißes der Edlen werth! Durch der Lieder Gewalt bei der Urenkelinn Sohn und Tochter noch seyn; mit der Entrückung Ton   Oft beim Namen genennet,     Oft gerufen vom Grabe her, Dann ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich, Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte Herz:   Ist, Goldhäufer! nicht wenig!     Ist des Schweißes der Edlen werth! Aber süßer ists noch, schöner und reizender, In dem Arme des Freunds wissen ein Freund zu seyn;   So das Leben genießen,     Nicht unwürdig der Ewigkeit! Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen, In den Lüften des Walds, und mit gesenktem Blick   Auf die silberne Welle,     That mein Herze den frommen Wunsch: Wäret Ihr auch bei uns, die Ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut,   Die in seligen Stunden     Meine suchende Seele fand; O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns! Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald   Wandelt' uns sich in Tempe,     Jenes Thal in Elysium. Klopstock. Josephs erste Reise. Herauf, o Sonne! Lange schon harret dir Der Bard' entgegen, welchen der Hahnenruf   Aus seelenhebenden Gesichten     Mitten in seinem Gewölbe weckte. Herauf, o Sonne! Röthe mein Saitenspiel Mit einem deiner Erstlinge! Denn mein Herz   Ist voll von Joseph. Nur dein Anglanz     Mangelt. Erschein'! und Gesänge reifen. Sie kömmt, Die Blume schleusst ihr den Busen auf. Der Thau der Wipfel blitzet ihr Gold zurück,   Und tausend rege Lüftesänger     Lösen in Freudengetön die Kehle. So kömmt zu Völkern, welche das Meer von uns, Von uns die Kette steiler Gebirge trennt,   So kömmt zu Völkern Joseph. Herzen     Schließen sich auf, und gethürmte Städte, Tief aufgereget, schmücken ihr luftig Haupt, Und kleiden sich in Feier, und himmelan   Erschallt von hunderttausend Lippen:     Heil dem Gebieter der deutschen Erde! Heil sei dem ersten Sohne Theresiens! Dem Heldenenkel, Herzeneroberer!   Dem wunderbaren jungen Manne!     Weiser, Genügsamer, Holder, Heil dir! Wem jauchzt Ihr, Völker? Städte, wen feiert Ihr? Wem schließen aller Herzen so weit sich auf?   Tönt, Saiten, tönt den Stolz des Barden!     Tönt ihn gewaltiger! Er ist unser! Ihr seht ihn, Völker! Deckt ihn ergrabner Werth Von einer halben Erde? Beschweret er   Von Silber helle Räder? Folgen     Seinem Gespanne die bunten Horden Geschmückter Diener? Blitzet ein fürchterlich Gemisch entblößter Wehren um Joseph her?   Und dennoch jauchzt Ihr? Echter Größe     Jauchzet Ihr, Völker! Und Er ist unser! Ihr seht sein menschenfreundliches Angesicht, Sein Aug voll Herz auf Grüßende zugewandt.   Ihr hört ihn Weisheit, Güte sprechen,     Staunet und liebet. Und Er ist unser! Ihr seht ihn, Völker, wenn er dem Ewigen In seinen Hallen gläubige Kniee beugt.   Ihr seht, und wünschet allen Erden     Herrscher, wie Joseph. Und Er ist unser! Das ist Er! Harfe, töne des Barden Stolz, Den Stolz der Kinder Teuts, den entzückenden,   Den wonnetrunkenen Gedanken:     Joseph der Zweite so groß, und unser! Und sängen alle Barden der Kinder Teuts In ihre besten Harfen, er bliebe doch   Unausgesungen der Gedanke;     Seelen empfinden allein die Süße, Dem Göttlichen zu dienen, sein Eigenthum Und seiner Sorgen einziger Zweck zu seyn,   Der, voll des Vaters und der Mutter,     Eh noch die Wange sich männlich bräunte, Noch eh der Herrscher Gold ihm vom Haupte schien, Schon Herrscher seiner selbsten, entadelnden   Oft thronerschütternden Begierden     Niemal den himmlischen Busen aufschloß. Den, nur von Recht und Einsicht und Mäßigkeit, Der Erdegötter schönsten Gefährtinnen,   Begleitet, an die Gränzen seines     Mächtigen Erbes die Liebe seiner Getreuen hinzog, jegliches Ungemach Verachtend und zur kriegrischen Arbeit sich   Mit Lust erhärtend; der im Frieden,     Ähnlich dem Adler am Felsengipfel, Mit wachem Auge ruhet, und adlerschnell Auf Störer seiner Ruhe sich niedersenkt,   Sie bluten, liegen, und der Sieger     Schwebet zurücke zum Felsengipfel. Dann wirbelt heller Siegesgesang ihm nach, Gestürmt in deutsche Saiten, und Joseph horcht;   Nicht Sänger fremder Zungen, deutscher     Heldenton reizet den deutschen Herrscher! Und kann der Ausbruch meiner Empfindungen Und meine Saitengriffe den Göttlichen   Nur einen Augenblick der hohen     Erdebesorgenden Bürd' entlasten: Dann soll dich, meine Scheitel, ein Eichenkranz, Der Hauptschmuck deutscher Barden, verewigen,   Und junges Eichenlaub in jedem     Monde der Blüthen dich, Harfe, zieren. Manch vaterländisch Bardenlied höret dann Die lang verwöhnte Donau zur Abendluft   Aus nahen Espenhainen schallen,     Ihrem erhabenen Herrscher heilig. Denis.   Auch von Liedern nur ein Paar Beispiele aus den ersten Dichtern, die sich unter uns in dieser Gattung berühmt gemacht haben. An die Freude. Freude, Göttinn edler Herzen! Höre mich! Lass die Lieder, die hier schallen, Dich vergrössern, dir gefallen! Was hier tönet, tönt durch dich.   Muntre Schwester süsser Liebe! Himmelskind! Kraft der Seelen! Halbes Leben! Ach! was kann das Glück uns geben, Wenn man dich nicht auch gewinnt?   Stumme Hüter todter Schätze Sind nur reich, Dem, der keinen Schatz bewachet, Sinnreich scherzt, und singt und lachet, Ist kein karger König gleich.   Gieb den Kennern, die dich ehren, Neuen Muth! Neuen Scherz den regen Zungen, Neue Fertigkeit den Jungen, Und den Alten neues Blut! Du erheiterst, holde Freude, Die Vernunft! Flieh auf ewig die Gesichter Aller finstern Splitterrichter, Und die ganze Heuchlerzunft! Hagedorn. An einen Wassertrinker. Trink, betrübter, todtenblasser Wassertrinker, Rebenhasser, Trink doch Wein! Deine Wangen wirst du färben, Weiser werden, später sterben, Glücklich seyn.   Habt, Ihr grossen Götter, habet Für den Trank, den Ihr uns gabet, Habet Dank! O wie dampft er in die Nase! O wie sprudelt er im Glase! Welch ein Trank!   Alle Sorgen, alle Schmerzen Tödtet er, und alle Herzen Macht er froh. Durstig sang, zu seinem Preise, Dieses schon der große Weise, Salomo.   O es müssen alle Weisen, O es muß ihn Jeder preisen, Der ihn trinkt. Finster, grämlich, menschenfeindlich Läßt er Keinen. Seht, wie freundlich Er mir winkt!   Siehe, spricht der Rebenhasser, Wie so freundlich da mein Wasser Mir auch winkt! Ernster Weisheit bleibt ergeben, Wer, ein Feind vom Saft der Reben, Wasser trinkt.   Wasser, immer magst du winken; Wer zu klug ist, Wein zu trinken, Trinke dich! Wasser, weg von meinem Tische! Du gehörest für die Fische, Nicht für mich. Gleim. Die Liebende bei Annäherung des Frühlings. Schon ist er bald entflohen, Der Winter, meine Lust. Die sanften Weste drohen Mir schrecklichen Verlust. Umsonst blüht mir Betrübten Die neugeborne Welt; Der Krieg ruft den Geliebten Von mir ins rauhe Feld.   Da, wo ich Blüthen finde, Blüht mir ein neuer Schmerz; Der Hauch der Zephyrwinde Haucht Wehmuth mir ins Herz. Wo Blumen sich entschliessen Auf der begrünten Au, Da seh' ich Thränen fliessen, Gleich ihrem Morgenthau.   Es singe das Gefieder Des Frühlings Wiederkehr; Ich höre Trauerlieder, Und keine Jubel mehr. Des Leidens Melodieen Rauscht der enteis'te Bach, Und alle Scherze fliehen Der Flucht des Winters nach.   O steig noch nicht hernieder, Du Gott der Freude du! Die Welt belebst du wieder, Mich aber tödtest du. O Lenz! die Seligkeiten Der Liebe bringst du ihr; Und alle Seligkeiten Der Liebe raubst du mir. Weisse.   Endlich sehe man noch eine kurze Elegie, die von wahrer Empfindung eingegeben ist. Am Sarge seiner früh vollendeten Tochter. Sanft entschliefst du, frei von Kampf und Schmerzen, Sanft, von Engeln Gottes eingewiegt, Selbst nun Engel! Theil von meinem Herzen! Kind, das hier im Arm dem Tode liegt: Nicht dem bleichen, schreckenden Gerippe, Das die mordgewohnte Sichel hebt; Nein, dem Genius, auf dessen Lippe Lächeln, wie auf deiner Lippe, schwebt.   Schlummre friedsam! deines Vaters Thränen, Deiner Mutter Winseln um dich her, Deines Bruders halbverstandnes Sehnen, Wecken dich zum Mitgefühl nicht mehr. Ewig glücklich, daß dich Gottes Gnade Früh entkörpert, früh vollendet hat; Ewig glücklich, daß die Dornenpfade Dieses Lebens kaum dein Fuß betrat; Daß dich allem Straucheln, allem Gleiten Der Erbarmende so ganz entnahm; Daß von tausend, tausend Eitelkeiten Keine noch in deine Seele kam; Daß dein Blick der irdschen Zauberscenen Außenseite, nicht ihr Innres, sah! ─ ─ ─ Überall hier, wo wir Wonne wähnen, Ist uns Kummer, bittrer Kummer, nah. Wonne wähnten wirs, uns dein zu freuen, Zarte Pflanze! dich voll Ämsigkeit Zu verpflegen, hofften dein Gedeihen; Gott! und wir verpflegten unser Leid! ─ All die Bilder, die von dir wir sammeln, Deines Aufblicks, deines Lächelns Lust, Und dein erster Schritt, dein erstes Stammeln: Alles wird itzt Dolchstich unsrer Brust. Traumgewebe war es! Noch empfunden, Schien es Wahrheit dem getäuschten Blick; Aber itzt, hinweggerückt, verschwunden, Läßt es Reu' und Sehnsucht uns zurück.   Aber nein! Auch was uns bleibt, der Schatten Jenes süßen Traums ist doch uns werth. Der Gedanke, daß wir einst dich hatten, Wenn er nicht mehr wild die Brust durchfährt Wenn der Schauder nun in Schwermuth schwindet, Und der Gram nicht mehr so wüthend nagt, Unser Herz die Stille wieder findet, Die der Wunde Pein ihm noch versagt: O! dann giebt belebtern, sanftern Bildern Diese stille, süße Schwermuth Raum. Sie wird uns das Leben schöner schildern, Nicht als eitlen, wesenlosen Traum; Nein, als den umwölkten, trüben Morgen, Bald vom heitern Sonnenglanz ereilt, Dessen Strahl die Nebel unsrer Sorgen, Deiner Leiden Dämmrung, früh zertheilt.   Weinende Gefährtinn meines Lebens, Wohl uns! Bald wird sie uns neu gewährt, Die wir itzt beweinen. Nicht vergebens Hast du sie geboren, sie genährt; Warst mit frommer, seltner Muttertreue Unablässig sorgsam für ihr Wohl Nicht vergebens! Stark durch Hoffnung freue, Dich des Glücks, das einst uns werden soll: Haben wir durch Kampf und Muth und Leiden Jenen Lohn der bessern Welt ersiegt, Wenn uns dann, am Eingang ihrer Freuden, Dieser Engel in die Arme fliegt. Eschenburg.   Die beiden merkwürdigsten Arten, wie sich diese Dichtungsart mit andern mischt, sind schon in diesem Hauptstück, bei Gelegenheit der Lessingschen Scene aus Minna von Barnhelm, und bei Entwickelung des Begriffs vom Plane der Ode, vorgekommen. Man erkennt, wenn man beide Stellen vergleicht, daß die lyrische Reihe, so gut wie jede andre, bald die herrschende, bald die untergeordnete seyn kann. Auch das ist schon bemerkt worden: daß viele Stücke, die in der That beschreibend oder erzählend sind, um ihres beseeltern empfindungvolleren Tons, um der hie und da eingemischten kleinen Ausschweifungen der Phantasie, und um des regelmäßigen Strophenbaues willen, zu der lyrischen Gattung pflegen gezogen zu werden. Die Hymne ist, nach den besten Mustern, nichts als feurige Beschreibung alles des Großen, Guten und Schönen, das durch eine Gottheit gewirkt wird. In einer Elegie auf einen Gottesacker von Hölty, die wir nicht anführen, weil sich dieser junge zu früh verstorbene Dichter nachher weit vortheilhafter gezeigt hat, entstehen die verschiednen einzelnen Empfindungen, so wie sich dem Dichter ein Grabhügel nach dem andern zeigt, und ihm Stoff zu neuen Betrachtungen darbeut. Die nur mäßig bewegte Phantasie endigt hier bald ihre kleinen Absprünge, und erlaubt dann den Sinnen, die Betrachtung des Gegenstandes selbst weiter fortzusetzen. NEUNTES HAUPTSTÜCK. Von den Formen der Gedichte. I m zweiten Hauptstück haben wir zu dem Begriff der Form auch diejenige Einrichtung eines Gedichts gezogen, durch die es zur Verbindung mit einer andern der Poesie verschwisterten Kunst bequem wird. Allein die Gesetze einer solchen Verbindung lassen sich nicht aus der Dichtkunst allein erkennen; und wir werden also wohl thun, wenn wir fürs erste, mit Beiseitsetzung der äußern, nur die innern Formen untersuchen; das heißt: diejenigen, die in der Theorie des Gedichtes selbst, unabhängig von jeder andern Theorie, können erörtert werden.   Nach dem gegebenen Begriff, bestände die äußre Form in der Verbindung, in der Unterordnung mehrerer Künste, oder in der Rücksicht auf so eine Verbindung; da denn das Werk entweder bloß zu ei ner Kunst gehörig, oder zur Verbindung mit andern Künsten eingerichtet wäre. Worin wird nun aber die innere Form poetischer Werke bestehen? ─ Wir haben schon mehr als einmal von Form gesprochen, wo von Verbindung der einen Dichtungsart mit der andern die Rede war. So sagten wir von der Geschichte in Musarion, daß sie Wieland nur als Form für die Reihe seiner philosophischen Ideen gebraucht habe; und von der Fabel, daß hier die eine Gattung von Materie als Form zum Vortrag einer andern diente. Die innere Form läge also gleichfalls in Verbindung, in Rücksicht auf Verbindung; zwar nicht mehr ganzer Künste, aber doch mehrerer verschiedner Materien: und ein Werk wäre, seiner innern Form nach, rein und einfach, wenn es nur Eine Materie; gemischt oder zusammengesetzt, wenn es eine Verbindung von mehrern enthielte.   Aber wie, wenn wir mit dieser Erklärung des Begriffs der Formen nicht ausreichten? wie, wenn man auch da allgemein von Form spräche, wo eine solche Rücksicht auf Verbindung des Verschiednen in der That gar nicht Statt findet? Dies aber scheint der Fall mit der erzählenden und der dramatischen Form. Die Materie ist hier die nehmliche: Handlung; und gesetzt auch, daß diese Materie in anderer Absicht niemal rein wäre, so hängt doch, dem Ansehen nach, ihre erzählende und dramatische Form bloß von dem Umstande ab: ob der Dichter selbst in fortgehender Rede spricht, oder ob er die Personen, zwischen denen die Handlung vorfällt, selbstredend einführt. Hier scheint durchaus keine Verbindung mehrerer Materien Statt zu finden. Wir müssen, um der Sache auf den Grund zu kommen, diese Art von Form weitläuftiger untersuchen; nach dieser Untersuchung wird es sich zeigen: ob das Wort Form vieldeutig sei, und wir mehrere Erklärungen davon geben müssen? oder ob Alles was Form heißt, unter Einen gemeinsamen Begriff befaßt werden könne?   Doch, um dieser Untersuchung ihre völlige Allgemeinheit zu geben, dürfen wir die Wörter: dramatisch und erzählend, nicht beibehalten; denn diese beziehen sich sichtbar nur auf Werke aus der pragmatischen Gattung. Nun aber haben wir im fünften Hauptstück gesehen, daß die Art Form, die hier in Betrachtung kömmt, auch auf didaktische, und im achten, daß sie auch auf dasjenige beschreibende Gedicht anwendbar ist, welches Denkarten, Sitten, Leidenschaften schildert, oder vielmehr nicht schildert, sondern sie selbst, in ihren einzelnen Äußerungen, zur Beobachtung vorführt. Um also eine allgemeinere Benennung zu haben, wollen wir lieber sagen: dialogische, und undialogische Form.   Allein auch dies hat noch Schwierigkeiten. Denn zuerst wird nach S. 465 der Ideengang in dem dialogirten lyrischen Gedichte gar nicht wesentlich geändert; in dramatischen, didaktischen, beschreibenden Gedichten hingegen, insofern das letztere Geist und Herz menschlicher Wesen schildert, entsteht oft durch den Dialog ein ganz anderer Gang, ein ganz anderer Schwung der Ideen: sie werden mehr vereinzelt, erhalten eine ganz andre Ausführlichkeit, treten in eine ganz andre Ordnung. Zweitens giebt es in der didaktischen Gattung, wie wir an dem Monolog des Beor sahen, Selbstgespräche, die ganz den Ton der dialogirten Stücke halten; und in dramatischen Werken ist der Ideengang der Monologen, sobald sie echte Monologen sind, von dem der dialogirten Scenen gar nicht wesentlich unterschieden. Wiederum drittens giebt es dialogirte didaktische Stücke, wie das S. 163 folg. angeführte von Dusch, die wirklich nur aus kleinen Abhandlungen: dialogirte Scenen, die aus kleinen Erzählungen oder aus vereinzelten Stücken einer und der nehmlichen fortlaufenden Erzählung bestehen, so daß der Mitunterredner nur dann und wann eine Frage, einen Ausruf, eine Spötterei, eine Anmerkung dazwischen wirft. Also auch das scheint bei den Formen nur zufällig, daß Einer oder daß Mehrere, und eben so zufällig, daß der Dichter selbst oder daß fremde Personen reden. Wenn uns daher die Benennung der Formen nicht mißleiten soll; so müssen wir eine andre suchen, welche mehr die innere, die wesentliche Verschiedenheit derselben bezeichnet.   Dazu aber müssen wir vor allen Dingen erst die Frage aufwerfen, worin diese Verschiedenheit liege? Wir werden sie erkennen, wenn wir Alles das wovon wir empfanden daß es sich der Form nach ähnlich sei, zusammen, und dem was wir ihm unähnlich fanden, gegenüber stellen. ─ Auf der einen Seite also steht erstlich das eigentlich dramatische Gedicht, das nicht bloß dialogirte Erzählung ist, sei es übrigens Monolog oder Gespräch zwischen Mehrern; zweitens das forschende philosophische Gedicht, das nicht bloß dialogirte Abhandlung ist, sei es übrigens Selbstgespräch oder gemeinschaftliche Untersuchung; drittens das beschreibende Gedicht, wo Charaktere, Sitten, Leidenschaften sich selbst zur Beobachtung darbieten, nicht die schon gemachten Beobachtungen hingegeben werden: mag auch hier nur Eine oder mögen mehrere Personen reden. Auf der andern Seite stehen erstlich die Erzählungen geschehener Handlungen; zweitens die Abhandlung, oder die Resultate schon geendigter Untersuchungen mit ihren hauptsächlichsten Gründen; drittens die eigentlich sogenannte Beschreibung, oder die Aufzählung der beobachteten Theile und Merkmaale einer Sache. ─ Es ergiebt sich sogleich, daß in der ganzen ersten Classe die Supposition der Gegenwart, in der ganzen zweiten die der Vergangenheit oder Abwesenheit gilt. Oder deutlicher: Es ergiebt sich, daß dort die Sache, an welcher sich die Veränderungen ereignen, selbst vorgeführt, und wir zu unmittelbaren Zeugen dieser sich eben itzt entwickelnden Veränderungen gemacht werden; dahingegen hier die Sache uns nicht selbst vorgeführt wird, ihre Veränderungen sich nicht in unsrer Gegenwart entwickeln, sondern ein fremder Zeuge, oder auch derjenige selbst der die Veränderungen litt oder hervorbrachte, uns von ihnen als schon geschehenen Dingen Bericht erstattet. Das einemal wird, geschieht: das andremal ist geworden, ist geschehen. Dies führt uns sogleich zu einer treffendern, allgemeinern Benennung: wir können die eine Form die darstellende, die andre die berichtende nennen.   Was kann nun aber die Dichtkunst darstellen, und was berichten? ─ Berichten unter den Bedingungen im sechsten Hauptstück Alles, wenn sonst die Sprache nur reich genug ist; denn eben das ist der Vorzug der Sprache, daß der Mensch sie zum allgemeinen Zeichenschatz für alle Arten von Ideen und Verbindungen der Ideen gemacht hat. Aber was kann sie darstellen? wessen Veränderungen kann sie in unsrer Gegenwart, das heißt, für unsre unmittelbare Erkenntniß, sich entwickeln lassen? ─ Da sie kein andres Medium hat, als Sprache: so kann sie eigentlich auch nur das darstellen, was in der Wirklichkeit selbst seine Verändrungen durch Sprache entwickelt: und dies thut allein die Seele im Zustand ihrer klaren Vorstellungen, ihres Bewußtseyns Sie faßt ihre Gedanken durch Worte, wird sich der Reihe ihrer Empfindungen, wird sich ihrer Neigungen, Wünsche, Absichten, überhaupt aller ihrer Operationen bewußt, indem sie sie, laut oder heimlich, in Worte kleidet. Und durch eben dieses Mittel wird sie sich auch der Empfindungen, Absichten, Operationen fremder Seelen bewußt. Also was einzig dargestellt werden kann, sind Seelen wirkungen; sind Wirkungen solcher Wesen, die man durch Erdichtung zu Menschenseelen erhöht oder herabsetzt: reiner Geister, denen man körperliche Werkzeuge; sprachloser Thiere, denen man Vernunst und eben damit Sprachfähigkeit giebt. ─ Daß im Schauspiel sich die Veränderungen der Seele nicht bloß durch Worte, sondern auch durch Gebehrden entwickeln, macht keinen Einwurf: denn hier wirkt die Dichtkunst nicht allein, sondern in genauer Vereinigung mit der Mimik: und wir behaupten von der Sprache nur das: daß sie zur Darstellung der Seele ein Mittel; nicht, daß sie das Einzige sei. ─   Aus dem Gesagten folgt: daß Gedichte welche äußre sinnliche Gegenstände malen, die darstellende Form schlechterdings nicht müssen annehmen können; und so findet sichs auch bei Betrachtung der Beispiele, in welchen ein Schein dieser Form zwar im Anfang blenden kann, aber, sobald man genauer zusieht, verschwindet. Man sehe folgendes Stück unsers Geßner.    Daphnis. Sieh, der Bock dort wadet in den Sumpf, und die Schafe folgen ihm. Ungesunde Kräuter wachsen da im Schlamm, und Ungeziefer schlürfen sie mit dem Wasser. Komm! wir wollen sie zurücktreiben.    Micon. Die Unsinnigen! Hier ist Klee und Roßmarin, und Thymian und Quendel, und an jedem Stamm schleicht das Epheu. Doch gehn sie zum Sumpf. ─ Aber wir machens wohl selbst oft so: gehen beim Guten vorüber, und wählen was uns schädlich ist.    Daphnis. Sieh, wohin er wadet; die Frösche springen weit vor ihm her aus dem Schilf. Heraus, ihr Einfältigen, ans grasige Bord! Wie garstig ihr die weiße Wolle befleckt!    Micon. Nun seid ihr da; hier sollt ihr weiden! ─ Aber sage mir, Daphnis, was ich da sehe? Marmorstücke liegen im Sumpfe, und Schilf und Unkraut schlägt sich drüber. Auch ein zerfallnes Gewölbe von Epheu, über und über umschlungen, und Dornen wachsen aus jeder Ritze.    Daphnis. Ein Grabmaal wars... Hier ist in der That etwas von Darstellung der Seelen der Beobachter, insofern sich nehmlich die Art wie sie die Gegenstände ansehn, in ihren Reden ausdrückt; allein die äußern sinnlichen Erscheinungen selbst sind und müssen in berichtender Form seyn: nur daß hier der Bericht durch mehr als durch Einen Mund geschieht. Eben eine solche scheinbare Form, die wir auch die zufällige nennen können, findet sich an dialogirten Handlungen, wo die Handlung als schon geschehen; an dialogirten Lehrgedichten, wo die Wahrheit als schon untersucht und entwickelt vorgetragen wird.   Das malende Gedicht für sinnliche Gegenstände fällt also in der Lehre von den Formen, eben weil dieses Gedicht, seiner Natur nach, nur Eine annimmt, ganz und gar außer die Frage; und eben so, aber aus einem völlig entgegengesetzten Grunde, das lyrische Gedicht: denn dieses muß, seiner Natur nach, immer darstellend seyn, wenn es echt ist. Eine lebhaft interessirte Seele entwickelt darin ihre Empfindungen, und entwickelt sie auf der Stelle, in dem natürlichsten Ideengange, das heißt, in dem Gange der Phantasie. ─ Das didaktische, das pragmatische, und dasjenige beschreibende Gedicht welches Seelen schildert, bleiben also allein noch übrig. ─   Um nach dieser vorläufigen Entwickelung auf unsre anfängliche Frage zurückzukommen; so ist es einleuchtend: daß die darstellende Seelenschilderung, wovon wir schon im vorigen Hauptstück ein Beispiel sahen, in einer Verbindung mehrerer Materien bestehe, und sich also unter die gegebene Erklärung der Form schmiege. Die Merkmaale, die der Leser sammeln und in Ein Bild fassen soll, sind darin der lyrischen Reihe eingewebt; denn, mitten in dem freien Laufe ihrer Ideen, entwickelt die Seele ihre Fähigkeiten, Kräfte, Neigungen, Leidenschaften, nach dem Grade, den mancherlei Verhältnissen, der ganzen feinen Mischung derselben. ─ Was für Vortheile hier die Darstellung vor der bloßen eigentlich sogenannten Beschreibung voraushabe: läßt sich aus der Natur der Sprache errathen, und an jedem vortrefflichen Beispiel empfinden. Es ist dem Beschreiber unmöglich, wenn er die Sprache auch noch so sehr in seiner Gewalt hätte, daß er alle die Feinheiten, die Schattirungen, die abwechselnden Töne, welche eine solche darstellende Schilderung, in dem ganzen Zusammenbaue der Ideen und in dem Ausdruck jeder einzelnen enthält, fessen und angeben sollte. Er würde als Beschreiber lauter allgemeine Begriffe häufen müssen, bei welchen die Unendlichkeit aller der kleinen Nüancen und Nebenideen, die das Gemälde vollenden und individualisiren, verloren ginge.   Diese ganze Seelenschilderung aber wird in das pragmatische und in das didaktische Gedicht verflochten, sobald dieselben darstellend werden; nicht bloß die ausführlichere Malerei des Charakters, sondern auch selbst der lyrische Phantasiegang. Beides ergiebt sich aus der nähern Ansicht, und schon aus dem Begriff solcher Werke.   Denn zuerst erscheint auch hier die Seele selbst, und drückt der Sprache, so zu reden, ihre ganze Bildung, nach allen den feinsten und unterscheidendsten Zügen derselben, unverkennbar ein. Jede Veranlassung einer Reflexion, die der Verstand, jeder Eindruck, den das Herz erhält; die ganze Art und Weise, wie sie in jedem Augenblick modificirt wird; das ganze Detail ihres Wirkens und Leidens, ihre geheimsten Ideenverknüpfungen, ihre zartesten Empfindungen; Alles, was die Sprache nur da faßt, wo selbst der Denker, selbst die handelnden Personen ihre Ideen und Leidenschaften durch sie entwickeln: findet sich in dem lebendigen Gemälde der Darstellung, und verschwindet in dem todten Schattenrisse der Erzählung. Man sehe nur, wenn es ja noch Beweis braucht, folgendes Fragment einer Scene aus Emilia Galotti:    Prinz. ─ Aber so nennen Sie mir sie doch, der er dieses so große Opfer bringt.    Marinelli. Es ist eine gewisse Emilia Galotti.    Prinz. Wie, Marinelli? Eine gewisse ─    Marinelli. Emilia Galotti.    Prinz. Emilia Galotti? ─ Nimmermehr!    Marinelli. Zuverlässig, gnädiger Herr.    Prinz. Nein, sag' ich; das ist nicht, das kann nicht seyn. ─ Sie irren Sich in dem Namen. ─ Das Geschlecht der Galotti ist groß. ─ Eine Galotti kann es seyn; aber nicht Emilia Galotti, nicht Emilia!    Marinelli. Emilia ─ Emilia Galotti!    Prinz. So giebt es noch eine, die beide Namen führt. ─ Sie sagten ohnedas, eine gewisse Emilia Galotti ─ eine gewisse. Von der rechten könnte nur ein Narr so sprechen. ─    Marinelli. Sie sind außer Sich, gnädiger Herr. ─ Kennen Sie denn diese Emilia?    Prinz. Ich habe zu fragen, Marinelli, nicht Er. ─ Emilia Galotti? Die Tochter des Obersten Galotti, bei Sabionetta?    Marinelli. Eben die.    Prinz. Die hier in Guastalla mit ihrer Mutter wohnt?    Marinelli. Eben die.    Prinz. Unfern der Kirche Allerheiligen?    Marinelli. Eben die.    Prinz. Mit einem Worte ─ (indem er nach dem Porträte springt, und es dem Marinelli in die Hand giebt) Da! ─ Diese? Diese Emilia Galotti? ─ Sprich dein verdammtes „Eben die“ noch einmal, und stoß mir den Dolch ins Herz.    Marinelli. Eben die!    Prinz. Henker! ─ Diese? Diese Emilia Galotti wird heute ─ ─    Marinelli. Gräfinn Appiani! ─ Die Trauung geschieht in der Stille, auf dem Landgute des Vaters bei Sabionetta. Gegen Mittag fahren Mutter und Tochter, der Graf und vielleicht ein paar Freunde dahin ab.    Prinz (der sich voll Verzweiflung in einen Stuhl wirft). So bin ich verloren! ─ So will ich nicht leben!    Marinelli. Aber was ist Ihnen, gnädiger Herr?    Prinz (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräther! ─ Was mir ist? ─ Nun ja, ich liebe sie; ich bete sie an. Mögt Ihr es doch wissen! mögt Ihr es doch längst gewußt haben, alle Ihr, denen ich der tollen Orsina schimpfliche Fesseln lieber ewig tragen sollte! ─ Nur daß Sie, Marinelli, der Sie so oft mich Ihrer innigsten Freundschaft versicherten ─ O ein Fürst hat keinen Freund! kann keinen Freund haben! ─ daß Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen durften, die meiner Liebe drohte: wenn ich Ihnen jemal das vergebe ─ so werde mir meiner Sünden keine vergeben!    Marinelli. Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz ─ wenn Sie mich auch dazu kommen ließen ─ Ihnen mein Erstaunen zu bezeugen. ─ Sie lieben Emilia Galotti? u. s. w. Aufzug 1, Auftritt 6. Dieser ganze Zusammenhang von Empfindungen, nach Lebhaftigkeit und Dauer und Übergängen; dieser ganze Wechsel von Erstaunen, Unwillen, Stolz, Unglauben, Ungeduld, Zorn, Verzweiflung, Rachgier; dieses Sie und Er und Du und wieder Sie; diese ganze Mischung von Fragen, Ausrufungen, von Wiederholungen, Abkürzungen, Inversionen ─ und wer kann Alles fassen, was dieser so sprechende seelenvolle Dialog enthält? ─ machen zusammen die vollständigste Schilderung von dem Charakter und dem Gemüthtszustande des Prinzen aus, die der Erzähler uns schlechterdings nicht geben, ja nicht einmal zu geben versuchen kann, ohne der langweiligste, unerträglichste Schwätzer zu werden.   Zweitens flicht sich, nicht allein in den ruhigern müßigern Augenblicken, sondern selbst im vollen Feuer der Handlung, der Ideenreihe der Vernunft noch immer die lyrische Reihe ein; nur daß die letztere hier durch den in der Seele herrschenden Vorsatz, bald mehr bald weniger, nach dem Grade seiner Stärke, eingeschränkt, und die Phantasie ohne Unterlaß von ihrem freien Fluge wieder zurückgeholt wird. Diese Ideenreihe nehmlich ist die der Seele natürliche, worin sie immer fortläuft, sobald nicht Eindrücke der äußern Sinne dieselbe unterbrechen, oder Vorsätze sie einschränken. Wir finden das, wenn wir auf unser eigenes freies Denken, und auf den Gang aller gesellschaftlichen Gespräche Achtung geben. Ja sogar da, wo uns unsre Absichten durchaus einen regelmäßigen, geschloßnen Gang zu nehmen zwingen, mischt sich noch immer die Phantasiereihe ein, und giebt dem Wege mannichfaltige Krümmungen und Ausbeugungen. Dies ist besonders bei dem gemeinen Manne sichtbar, der sich nicht gewöhnt hat seine Phantasie in Zügel zu halten, nicht geübt hat seine Gedanken in eine absichtliche Ordnung zu bringen; er erzählt und räsonnirt mit einer Verwirrung, daß er oft selbst sich in dem Chaos seiner Ideen verliert, und nicht mehr weiß wo er ist oder hin will. Man höre die Wirthinn im Zweiten Theil Heinrichs des Vierten von Shakspeare.    Fallstaf. Wie viel bin ich dir denn schuldig?    Wirthinn. Wahrhaftig, wenn du ein ehrlicher Mann wärst, dich selbst und das Geld dazu. Du schwurst mir auf einen vergoldeten Becher, als du einmal in meiner Delphinstube an der runden Tafel bei einem Kohlfeuer saßest, am Dienstage in der Pfingstwoche, als dir der Prinz ein Loch in den Kopf schlug, weil du seinen Vater mit einem Bänkelsänger von Windsor verglichen hattest: da schwurst du mir, als ich deine Wunde auswusch, du wollest mich heiraten und mich zu deiner Frau Gemahlinn machen. Kannst du das läugnen? ─ Kam nicht eben Frau Kathrine, die Schlächtersfrau, in die Stube, und nannte mich Gevatterinn Quikly? Sie kam herein, um einen Napf voll Essig von mir zu borgen; und da sagte sie, sie hätte eine gute Schüssel kleiner Seefische; und da sagtest du, du habest Lust, welche zu essen; und da sagt' ich dir, sie wären schädlich für eine frische Wunde. u. s. w. Nach Eschenburgs Übers.   Im Hamlet verirrt sich einmal der vor Alter schon schwachsinnige Polonius so sehr, daß er in die angefangene Reihe nicht wieder zurück kann.    Polon. ─ Derjenige, mit dem du sprichst und den du ausforschen willst, hat vielleicht einmal den jungen Menschen von dem die Rede ist, auf einem der gedachten Laster betroffen, und wird dann endlich zu dir sagen: „Lieber „Herr ─ oder so ─ oder Freund ─ oder mein „guter Mann ─“ nachdem die Titel dort gewöhnlich sind ─    Reynaldo. Sehr wohl, gnädiger Herr.    Polon. „Und dann, Herr, thut er das ─ thut er ─“ Was wollt' ich sagen? Ich wollte doch was sagen. Wo blieb ich?    Reynaldo. Bei: und wird dann endlich sagen ─    Polon. Gut! wird dann endlich sagen ─ Ja wahrhaftig, er wird zu dir sagen, u. s. w. Nach ebenders.   So unmethodisch wird nun freilich der cultivirtere, der seiner Gedanken mächtige Kopf nicht umherschwärmen; aber immer noch wird sich, besonders bei lebhafterm Interesse, die Phantasie ins Spiel mischen, und ein Hauptverdienst der Darstellung wird eben darin liegen, daß die Phantasiereihe in die Reihe des Vorsatzes überall richtig verflochten werde: doch nicht bloß richtig, sondern auch unterhaltend; auf eine Art, die Charakter und Lage der Personen in immer größeres Licht setzt, und die zugleich, mit der jedesmaligen sanftesten Krümmung, so wenig als möglich vom Ziele abbeugt.   Es zeigt sich hier schon, daß wir nicht bloß die Beantwortung unsrer Frage: ob auch die Darstellung in der Verbindung mehrerer Materien liege? sondern zugleich die Regeln derselben werden gefunden haben. In der That läßt sich ihre ganze Theorie aus den vorbereiteten Gründen entwickeln; allein wir versparen diese Entwicklung bis auf das folgende Hauptstück, in welchem wir die Anwendung der Formen auf das pragmatische Gedicht untersuchen wollen. Bloß durch sie wird der Unterschied zwischen epischen und dramatischen Werken bestimmt.   Hier nur noch Eine allgemeine Regel, und Eine Bemerkung! Die Regel ist die nehmliche, die wir schon dem Fabeldichter, in Ansehung des Verhältnisses der Geschichte zur Wahrheit, gaben; nur, daß sie hier einen allgemeinern Ausdruck erhält. Wir forderten, daß die Geschichte der Wahrheit, als der eigentlichen Materie des Werks, gehörig untergeordnet seyn; daß diese aus jener deutlich hervorscheinen; daß alle einzelne Theile der Geschichte zur Erreichung des Zwecks näher oder entfernter mitwirken, alle so gestellt und verbunden seyn sollten, daß der wahre Gesichtspunct aus welchem das Ganze zu betrachten sei, niemal verrückt würde. Allgemeiner für alle Formen heißt diese Regel: daß die mitverbundnen Materien nie die herrschende unterdrücken, vielmehr sie unterstützen, beleben, innigst in sie verwebt und verschlungen seyn müssen. So, wenn eine didaktische Reihe mit einer beschreibenden oder pragmatischen verbunden wird, muß Gemälde oder Geschichte die abgezweckten Wahrheiten nicht verdunkeln, sondern anschaulicher machen, den aus ihnen hervorgelockten oder in sie eingekleideten Betrachtungen mehr Kraft, mehr Leben, mehr Feuer geben. Wenn die beschreibende Reihe auf die lyrische gepfropft wird, muß der Phantasiegang die Wendung nehmen, daß die bedeutendsten, eigensten, sprechendsten Züge des Charakters, mitten im freien Laufe des Gesprächs, zum gegenwärtigsten Anschauen kommen; und wenn beide, die lyrische und die beschreibende Reihe, in das didaktische oder pragmatische Gedicht verflochten werden, muß die Entwickelung der ganzen Denk - und Empfindungsart einen tiefern Blick in die Gründe des Räsonnements oder der Handlungen öffnen. ─ Der Grund dieser Regel liegt ganz deutlich in dem Gesetz der Lebhaftigkeit. Alle Vereinzelung und Zerreißung schwächt, hingegen alle Verbindung und Harmonie erhebt sie.   Die Befolgung dieser Regel vorausgesetzt, kann nun wohl die Bemerkung keinem Zweifel mehr unterworfen seyn: daß ein Werk um so dichterischer ist, je eine zusammengesetztere Form es hat. Die Darstellung macht pragmatische und didaktische Werke, welche dieselbe annehmen, unendlich lebhafter als die bloße Erzählung oder Abhandlung: die unmittelbare Seelenschilderung ist eine weit wärmere Poesie, als die Beschreibung; die in Handlung verwebte, aus ihr hervorspringende, durch sie erhellte und beseelte Reihe von Wahrheiten hat, in Ansehung des dichterischen Werths, vor dem gewöhnlichen einfachen Lehrgedicht bei weitem den Vorzug. Und wiederum hat ein andres Lehrgedicht den Vorzug, in welchem die beschreibende in die lyrische Reihe, beide in die pragmatische, und alle am Ende in die didaktische verschlungen sind. So ein Lehrgedicht ist „Nathan der Weise“ von Lessing: ein Werk, von dem es unbegreiflich wäre, wie man es als Schauspiel, was es nicht seyn soll, und nicht vielmehr als das was es so sichtbar ist, als Lehrgedicht, hätte betrachten können, wenn man nicht einmal gewisse eingeschränkte Begriffe von den Dichtungsarten festgesetzt hätte, auf welche man Alles zurückzubringen und es danach zu richten gewohnt wäre. Die ganze Anlage und Gruppirung der Charaktere, die ganze Verwicklung, selbst die Liebesgeschichte zwischen dem Tempelherrn und Recha, die Auflösung, wo am Ende Deist, Jude, Mahomedaner, Christ, Alle als Glieder Einer Familie erscheinen: kurz, das ganze Werk in jedem seiner Theile zielt ganz sichtbar auf die großen Wahrheiten ab, die uns der Dichter lehren will; und überzeugt uns, daß sein Werk zur didaktischen Gattung gehöre. Freilich aber hat es ein unendlich größeres Interesse, als die gewöhnlichen Werke von dieser Gattung; und dieses Interesse verdankt es gewiß, neben der Würde und Wichtigkeit der Wahrheiten selbst, auch besonders dem ungemeinen Reiz seiner Form. Durch diese so vortreffliche Form ist Nathan von Lessing vielleicht eben so das rührendste und erhabenste, wie das tiefste und ideenreichste, aller Lehrgedichte; und eben durch sie ist „Musarion“ von Wieland vielleicht unter allen die je sind geschrieben worden, das anmuthige liebenswürdigste, schönste. ENDE.