HANDBUCH DES DEUTSCHEN UNTERRICHTS AN HÖHEREN SCHULEN In Verbindung mit Prof. Dr. Ernst Elster (Marburg), Gymn.Prof. Dr. Paul Geyer (Brieg), Gymn. Dir. Dr. Paul Goldscheider (Kassel), Prof. Dr. Hermann Hirt (Leipzig), Prof. Dr. Georg Holz (Leipzig), Prof. Dr. Friedrich Kauffmann (Kiel), Prof. Dr. Rudolf Lehmann (Posen), Prof. Dr. Friedrich von der Leyen (München), Prof. Dr. Richard M. Meyer (Berlin), Prof. Dr. Viktor Michels (Jena), Prof. Dr. Friedrich Panzer (Frankfurt a. M.), Gymn. Prof. Emanuel von Roszko (Lemberg), Prof. Dr. Franz Saran (Halle), Prof. Dr. Theodor Siebs (Breslau), Prof. Dr. Ludwig Sütterlin (Heidelberg) HERAUSGEGEBEN VON DR. ADOLF MATTHIAS GEH. OBER-REGIERUNGSRAT UND VORTRAGENDEM RAT IM K. PREUSS. KULTUSMINISTERIUM DRITTER BAND ZWEITER TEIL DEUTSCHE POETIK MUENCHEN 1908 C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG OSKAR BECK DEUTSCHE POETIK Von DR. RUDOLF LEHMANN PROFESSOR AN DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE IN POSEN MUENCHEN 1908 C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG OSKAR BECK C. H. Beck'sche Buchdruckerei in Nördlingen Vorwort. ────── Was Fachmänner und Publikum früher unter Poetik verstanden, war wesentlich ein Fächer- und Rubrikenwerk, nach welchem die Erscheinungen der Poesie systematisch geordnet und wie die Pflanzen nach dem Linnéschen System bestimmt werden konnten. Was die heutige Wissenschaft von der Poetik erhofft, ist die Erkenntnis der psychologischen Grundlagen des dichterischen Schaffens und seiner Wirkungen. Das vorliegende Buch enthält keines von beiden, sieht zum wenigsten in keinem von beiden sein eigentliches Ziel. Zwar ist psychologische Erfahrung von dem Zustandekommen und der Eigenart dichterischer Wirkungen nicht zu entbehren, wenn man das Wesen der Poesie im Ganzen oder in ihren einzelnen Erscheinungen erkennen will; und auch die folgende Darstellung wird oft genug auf sie zurückgreifen müssen. Allein sie gründet sich weder auf ein System der Psychologie, noch macht sie selber Anspruch darauf, einen wesentlich psychologischen Charakter zu tragen. Sie muß es der fortschreitenden Erforschung der Bewußtseinstatsachen überlassen, eine systematische Grundlage für die Erscheinungen der Kunst und insbesondere der Poesie zu schaffen; und der Verfasser darf höchstens die bescheidene Hoffnung hegen, daß einiges von dem, was im folgenden enthalten ist, sich als brauchbares Material für diese umfassende Aufgabe erweisen wird. ─ Noch weiter freilich entfernt sich die Absicht dieses Buches von der klassifizierenden Tendenz der alten Poetik. Einteilende Systematik kann nützlich sein, wenn sie als Grundriß für künftige Forschungen oder als zusammenfassender Überblick über gewonnene Ergebnisse dienen soll; aber sie selbst kann wissenschaftliche Erkenntnis weder geben noch ersetzen. In der Ästhetik zumal hat das Streben nach allzu scharfer und begriffsmäßiger Abgrenzung die notwendige Einsicht in das Wesen der Kunstwerke, die nur induktiv gewonnen werden kann, mehr gehemmt als gefördert. Denn hier gibt es tatsächlich nirgends harte und ein für allemal gezogene Grenzlinien, sondern immer nur typische, oft gegensätzliche Erscheinungen, zwischen denen Reihen von Zwischengliedern und vielstufige Übergänge vermitteln. Eben die Einsicht in das künstlerische Wesen der Poesie, wie es sich in diesen Erscheinungen ausspricht, ist es, was die folgenden Untersuchungen anstreben. Sie wollen eine Kunstlehre bilden, freilich in tieferem Sinne als jene alten Anleitungen zur Dichtkunst, von denen im historischen Abschnitt die Rede sein wird. Indem ich von der Grundtatsache ausgehe, daß die Poesie das innere Erlebnis des Dichters durch die Sprache zum Erlebnis seiner Hörer und Leser machen will, suche ich ihre Mittel und Formen, ihre Richtungen und Gesetze in ihrer innerlichen Eigenart festzustellen und hierdurch ein Verständnis für das Ganze der Dichtkunst wie für ihre einzelnen Teilgebiete zu erschließen. Was hier in kurzen Zügen angedeutet ist, die Eigentümlichkeit und Tragweite der Aufgabe, die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen und die Fernsichten, die sich ihr eröffnen, ist in dem ersten, grundlegenden Teil des Buches eingehend dargelegt; ich verweise besonders auf das fünfte Kapitel, das die positiven Gesichtspunkte für die folgenden Abschnitte zusammenfassend zur Darstellung bringt. Es ergibt sich dort als notwendig, zunächst die Formenelemente der Poesie zu betrachten und von da aus zu den Gattungen fortzuschreiten, welche als Besonderungen der Form aus ihnen hervorgehen. Von diesen Betrachtungen formal ästhetischer Natur aber ist die Erörterung der allgemeinen künstlerischen und sittlichen Richtungen zu trennen, die den Gefühlsgehalt und die Anschauungsweise dichterischer Werke bestimmen. Es gehörte zu den Irrtümern der alten Poetik, daß sie inhaltliche und formale Gesichtspunkte vermengte und die einen aus den anderen glaubte ableiten zu können. So behandelte sie z. B. das Tragische als ein Teilgebiet des Dramatischen, oder sie suchte umgekehrt die Formengesetze der Tragödie, statt aus dem Wesen der dramatischen Gattung, vielmehr aus dem Begriff des Tragischen zu gewinnen. Demgegenüber hat die moderne Ästhetik mit Recht den organischen Zusammenhang der dichterischen und überhaupt künstlerischen Formenprinzipien schärfer betont. Übergehen durfte ich freilich auch jene inhaltlichen Richtungen nicht, wenn ich nicht in die Einseitigkeit verfallen wollte, die Poesie als eine reine Formenkunst zu behandeln; sie verlangten vielmehr eine gesonderte Betrachtung und Würdigung. Einer solchen ist der vierte und letzte Teil des Buches gewidmet; denn erst hiermit schließt sich die Poetik zu einem umfassenden Ganzen zusammen. Posen, im Januar 1908. Rudolf Lehmann. Inhaltsverzeichnis. ─── Seite Vorwort V Erster Teil. Historisch-kritische Grundlegung. 1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik 1─3 Poetik als technische Anweisung S. 1 , als Anleitung zur Kritik S. 2 , als wissenschaftliche Theorie S. 2. 2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik 3─15 Aristoteles' Poetik S. 3. Wiederaufnahme und Umdeutung derselben durch den französischen S. 4 , den deutschen Klassizismus S. 5 . Die ästhetische Grundanschauung des deutschen Klassizismus S. 6 . Winckelmann und Shaftesbury S. 7 . Goethe und Schiller S. 8 . Bedeutung und Schranken S. 9 . Die induktive Poetik, ihre Entstehung und Bedeutung: Herder S. 10 . A. W. Schlegel S. 12 . Die spekulativen Systeme: Schiller, Hegel, Vischer S. 13 . Wackernagel S. 14 . 3. Die psychologische Poetik der Gegenwart 15─22 Umschwung der Grundanschauung S. 15 . Vorläufer der psychologischen Poetik im 18. Jahrhundert S. 15 . H. Taine und G. Th. Fechner S. 16 . W. Scherers Poetik S. 17 . Diltheys „Einbildungskraft des Dichters“ S. 19 . 4. Poetik als Psychologie der Dichtkunst 22─40 Wesen und Ziel einer Psychologie der Dichtkunst S. 22 , Material S. 23 . Wert dichterischer Selbstbekenntnisse S. 24 . Beispiele: Otto Ludwig S. 25 . Goethe S. 28 . Unzulänglichkeit der Methode S. 31 . Der Entstehungsprozess: Konzeption und Ausführung S. 33 . Entlehnungen und Übernahmen S. 35 . Das Unbewußte im dichterischen Schaffen S. 35 . Literatur S. 38. 5. Poetik als Kunstlehre 40─49 Notwendigkeit einer dichterischen Kunstlehre S. 40 . Eigenart und Methode einer solchen S. 42 . Gang und Einteilung S. 43 . Bedeutung der Stoffe und Motive S. 47 . Organische Einheit des Dichtwerks S. 48 . 6. Poetik als Methodenlehre 49─59 Verschiedene Ziele der genetischen und der ästhetischen Interpretation S. 50 . Verschiedenheit der Methoden S. 52 . Gefahren der einseitig genetischen Methode S. 54 . Bedenken gegen die ästhetische Erklärung. Die Rationalisierung des Kunstwerks S. 55 . Schwierigkeiten des Volksepos S. 56 , des Faust S. 57 . Didaktische Bedeutung der Methodenlehre S. 59 . Seite 7. Poetik als Wertlehre. Bedingungen der dichterischen Wirkung 59─73 Die normative Poetik des klassischen Zeitalters S. 59 , ihre Unmöglichkeit in der Gegenwart S. 60 . Möglichkeit eines objektiven ästhetischen Werturteils überhaupt S. 61 . Die Bedingungen der dichterischen Wirkung S. 61 . Schranken des Dichters S. 65 . Einwände vom historischen Standpunkt aus S. 66 . Die Bedeutsamkeit des Inhalts und ihr Verhältnis zum künstlerischen Wert S. 68 . Unmöglichkeit eines künstlerischen Urteils darüber S. 71 . Die Forderung „L'art pour l'art!“ und ihre Einseitigkeit S. 71 . Die erzieherische Wirkung der Poesie S. 73 . Zweiter Teil. Die Formenelemente der Poesie. 8. Sprache und Anschauung 74─92 Poesie als Wortkunst S. 74 . Das Problem der dichterischen Anschaulichkeit S. 74 . Lessings Theorie im Laokoon S. 75 . Herders Entgegnung und die weitere Entwicklung des Problems S. 76 . Theodor A. Meyers Lehre vom Stilgesetz der Poesie S. 78 . Nachprüfung an Beispielen S. 81 . Visuelle Dichter und ihre Werke S. 85. Individuelle Verschiedenheit der dichterischen Anlage S. 87 . Verhältnis zum Wesen der Sprache S. 88 . Vergleichung und Metapher S. 89 . Hyperbel S. 91 . Personifikation S. 91 . 9. Rhythmus und Klangfarbe 92─108 Der Ursprung des Rhythmus S. 92 . Entsprechung der Vers- und Sinnabschnitte. Parallelismus S. 94 . Selbständige Entwicklung der metrischen Form in der älteren Lyrik S. 95 . Einfluß des Metrums auf die Darstellung S. 95 . Einfluß der Strophe S. 96 . Beispiele: Stanze S. 97 . Siziliane S. 98 . Das Sonett S. 98 . Das Ghaseel S. 99 . Einfluß des Inhalts auf die Form: Klangmalerei S. 100 . Charakteristische Metren S. 103 . Freie Rhythmen S. 106 . Zusammenfassung S. 107 . 10. Die Prinzipien der Komposition 108─118 Aufbau und Einteilung S. 108 . Einheit S. 109 . Kontrast S. 110 . Steigerung S. 113 , Abschluß S. 114 . Dritter Teil. Die Gattungen der Poesie. 11. Das Wesen der Lyrik 119─139 Unterschied der Lyrik von den übrigen Gattungen S. 119 . Bedeutung des Erlebnisses. Stimmung S. 120 . Entwicklung der lyrischen Sprache S. 121 . Drei Arten des lyrischen Ausdrucks S. 123 . Die Symbolik in der lyrischen Dichtung S. 126 . Der moderne Symbolismus S. 130 . Wesen der Gedankenlyrik S. 133 . Die beiden Ideenkreise der klassischen deutschen Lyrik S. 136 . Geistliche Lyrik S. 136 . Verhältnis der Reflexion zur Symbolik S. 136 . Das Epigramm S. 137 . 12. Epische Dichtung 139─154 Wesen der gegenständlichen Dichtung S. 139 . Die klassische Theorie des Epos. Das Werturteil über Homer und seine Entstehungsgründe S. 140 . Wilhelm von Humboldts drei Hauptforderungen: Totalität S. 143 . Objektivität S. 145 . Gegenständlichkeit S. 148 . Das Prinzip der epischen Technik nach Goethe und Schiller S. 148 . Bedeutung der Humboldtschen Forderungen unter diesem Gesichtspunkt Seite S. 150 . Das Milieu und seine Schilderung S. 150 . Unterhaltungslektüre und psychologische Vertiefung S. 152 . Kleinere epische Dichtungen S. 153 . 13. Roman und Novelle 154─163 Die Auflösung der poetischen Form und ihre künstlerischen Vorteile S. 154 . Die psychologische Wendung der Romandichtung S. 155 . Bedeutung des Milieus S. 157 . Der historische Roman S. 157 . Der Zeitroman S. 158 . Der naturalistische Milieuroman S. 158 . Das Verstandesmäßige im Roman S. 158 . Zolas Theorie des Experimentalromans S. 159 . Das Verhältnis von Phantasie und Beobachtung S. 159 . Die Novelle S. 162 . 14. Dramatische Dichtung 163─181 Das Wesen der dramatischen Dichtung S. 163 . Verhältnis des Dramas zur Bühne S. 167 . Zwei Typen dramatischer Dichter S. 170 . Das Lesedrama S. 172 . Lyrische Wirkungen auf der Bühne S. 173 . Oper und Musikdrama S. 174 . Bühnendichtung epischen Charakters (Gerhart Hauptmann) S. 175 . Der Typus der Enthüllungstragödie bei Ibsen S. 176 . Grundtypen der dramatischen Komposition: die klassische Tragödie der Griechen und der Franzosen S. 178 . Das Charakterdrama der Germanen S. 179 . Die Einheiten S. 180 . Spätere Entwicklung S. 181 . 15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen 182─189 Bedeutung der Gattungsunterschiede. Theoretische Übertreibungen S. 182 . Ursprungsfragen S. 182 . Rollenlyrik S. 183 . Maskenlyrik S. 184 . Ballade S. 184 . Didaktische Poesie S. 187 . 16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung 188─197 Erfindung und Überlieferung S. 188 . Mythische Stoffe S. 189 . Geschichtliche Stoffe S. 192 . Stoffe aus dem zeitgenössischen Leben S. 196 . Vierter Teil. Die Richtungen der Poesie. 17. Naturalismus und Idealstil 198─209 Charakteristik der beiden Stilrichtungen S. 198 . Einseitigkeit und Gefahren der Extreme S. 203 . Typische und individuelle Charakteristik S. 204 . Ausgleich im Symbolischen S. 206 . Bedeutung des Milieus für den Naturalismus S. 207 . „Idee“ einer Dichtung und moralische Tendenz S. 207 . 18. Naive und sentimentalische Dichtung 209─214 Schillers Abhandlung und ihr Grundgedanke S. 209 . Die Begriffe „Natur“ und „Ideal“ und ihre historische Bedingtheit S. 209 . Schillers Einteilung der Poesie S. 211 . Bedenken und Einschränkungen S. 213 . 19. Das Komische 215─230 Übersicht über die bisherigen Theorien S. 215 . Vergeblichkeit des Versuchs einer einheitlichen Erklärung. Die Komik als Entwicklungsprodukt S. 218 . Entwicklung des Wortspiels und des Gedankenwitzes S. 219 . Entwicklung der Situationskomik S. 221 . Wert- oder Größengegensatz S. 223 . Komik der Übertreibung und des Grotesken S. 227 . Entwicklung der Charakterkomik S. 228 . Das Verhältnis der drei Kategorien des Komischen zueinander S. 230 . Seite 20. Satire und Humor 230─241 Verhältnis der Satire und des Humors zum rein Komischen und zueinander S. 230 . Objektive und subjektive Komik S. 231 . Scherzhafte und pathetische Satire S. 232. Allgemein moralisierende Satire S. 234 . Zeitsatire S. 235 . Literarische Satire: Parodie und Travestie S. 237 . Wesen des Humors S. 238 . Rührender und scherzhafter Humor S. 239 . Einseitigkeit des Humors S. 240 . Humor als Weltanschauung S. 241 . 21. Über das Tragische 241─258 Das Problem S. 241 . Aristoteles' Definition S. 242 . Ihre Auslegung bei Corneille und Lessing S. 243 . Schillers Lehre vom Pathetischen S. 243 . Spätere philosophische Theorien S. 244 . Das Wesen des Tragischen S. 245 . Tragik des sittlichen Idealismus S. 246 . Tragik der Schuld und Sühne, des Verbrechens und der Strafe S. 247 . Tragik der Persönlichkeit S. 247 . Verhältnis dieser drei Kategorien zueinander S. 248 . Ursachen des tragischen Leidens, Äußere und innere Gegenmächte S. 249 . Der tragische Konflikt S. 250 . Zufall und Notwendigkeit S. 251 . Das Schicksalsdrama S. 252 . Die tragische Notwendigkeit S. 253 . Die Katastrophe. Das Erhabene der Handlung und der Fassung S. 254. Bedeutung des Todes in der Tragödie S. 255 . Tragische Weltanschauung S. 257 . Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Schriftsteller und Werke 259─264 Verzeichnis einiger öfters angeführten Werke mit vollständiger Angabe des Titels 264 Erster Teil. Historisch-kritische Grundlegung. ────── 1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik. Wie so viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen Gebrauch des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaliger (1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im Auge hatten, wandten sich unmittelbar an die Dichter, denen sie die richtige Technik und den wahren Geist der Poesie überliefern wollten. So beispielsweise die einflußreichste und liebenswürdigste Poetik des 17. Jahrhunderts: Boileaus Art Poétique (1674), die fast durchweg die Form der Anrede an die Dichter festhält und den größeren Teil ihrer Betrachtungen in imperative Regelform faßt. Wie geistreicher Vertiefung eine solche praktische und technische Betrachtung fähig ist, hat noch im verflossenen Jahrhundert Gustav Freytags Technik des Dramas (1863) gezeigt. ─ Die Regeln, die der Dichter vor Augen haben muß, sind nun nach der überlieferten Auffassung immer zugleich Normen für den „Kunstrichter“, der ihn beurteilt: seine Aufgabe ist es, festzustellen, ob sie mit Glück befolgt, oder ob sie verletzt und übertreten sind. Die Betrachtung der Formen und Arten der Dichtkunst liefert das Grundschema für das Kunsturteil, und aus der technischen Anweisung zur Ausübung erwächst somit zugleich die Anleitung zur Kritik. Das zeigt sich bei Scaliger nicht minder deutlich wie bei Boileau, dessen Buch zum Kanon für die klassische Kritik des 17. und 18. Jahrhunderts geworden ist. Boileaus geistesverwandter Anhänger Gottsched brachte diese doppelte Tendenz seines Werkes in dem Titel: Kritische Dichtkunst (1724) bezeichnend zum Ausdruck. Bisweilen zeigt die Behandlung des Gegenstandes den umgekehrten Gang, so z. B. in Horaz' sogenanntem Buch von der Dichtkunst, das freilich keineswegs eine systematische Poetik ist oder sein will, sondern vielmehr eine locker aneinander gereihte Sammlung von Bemerkungen und Gedanken über Poesie ist: es beginnt mit rein kritischen Beobachtungen, um dann zu einer positiven praktischen Anweisung, metrischen Regeln, Anleitungen zur Charakteristik u. dergl. überzugehen. ─ Aber technische Regeln sowohl wie kritische Lehren bedürfen der Begründung, wenn sie nicht willkürlich erscheinen, eines inneren Zusammenhangs, wenn sie nicht zufällig und vereinzelt bleiben sollen. Beides kann die Poetik nur aus einer allgemeinen Auffassung der Poesie, ja der Kunst überhaupt schöpfen. Daher treibt das praktische Bedürfnis von innen heraus zum theoretischen Denken, und dies führt mit gleicher Notwendigkeit auf einen allgemeinen Zusammenhang ästhetischer Anschauungen zurück. So erhält die Poetik eine vertiefte und selbständige Bedeutung: sie wird aus einer Technik zur Wissenschaft, zu einem eigenen Gebiete im Gesamtbereich der Ästhetik. Sie verzeichnet nun nicht mehr bloß die Erscheinungen, die sie vorfindet, sondern sie deutet sie auch. Die praktische Regel wird für sie zum theoretischen Gesetz in dem gleichen Sinne, wie die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache hinter der grammatischen Regel das wirkende Gesetz erkennt. Diese wissenschaftliche Poetik als solche hat kein unmittelbar praktisches Ziel mehr, so wenig wie die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: sie will weder dem Dichter noch dem Kritiker dienen; sie will nur Einsicht in das Wesen der Dichtkunst sein. Freilich gerade dadurch wird sie mittelbar wiederum praktisch wirksam: sie führt zu einem tieferen Verständnis wie der Poesie im Ganzen, so auch der einzelnen Dichtungen; damit aber begründet sie eine tiefere Kritik und vermag es wenigstens bisweilen, der dichterischen Produktion selbst die Wege zu weisen. Dies ist der moderne Begriff einer wissenschaftlichen Poetik und er ist es daher, der den folgenden Betrachtungen die Richtung geben muß. 2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik. Welches ist der Gang, den die wissenschaftliche Poetik zu nehmen hat? Von welchen Grundlagen muß sie ausgehen, welchen Zielen soll sie zustreben? Hierüber, wie über die Lehre vom Schönen und der Kunst überhaupt, haben verschiedene Zeitalter und Denker sehr verschiedene Vorstellungen gehabt. Die älteste und ehrwürdigste Poetik, die wir besitzen, die des Aristoteles, zeigt, wiewohl sie uns in verstümmeltem Zustande überliefert ist, doch deutlich genug eine ganz bestimmte Richtung und Methode. Sie geht überall von der gegebenen Wirklichkeit aus, von den tatsächlich vorhandenen und bekannten Dichtungen. Der Kreis der hellenischen Poesie, aus dem der erste Ästhetiker der Weltgeschichte sein Material schöpft, ist national und zeitlich begrenzt, aber freilich innerhalb dieser Grenzen unendlich reich und mannigfaltig; und überall, nicht nur an den zahlreichen Stellen, wo er sich auf bestimmte Dichtungen beruft, fühlen wir es durch, daß diese Gedanken und Beobachtungen aus der vollen Anschauung eines großen und reichen künstlerischen Lebens geschöpft sind. Dieses Material nun behandelt Aristoteles nicht etwa von einem allgemeinen Begriff der Schönheit oder überhaupt einem ethischen oder ästhetischen Zweckprinzip aus, sondern er legt, wenn auch allgemeine, so doch rein sachliche, ja technische Gesichtspunkte zugrunde. Alle Kunst ist Nachahmung der Wirklichkeit. Ihre Gattungen unterscheiden sich auf dreierlei Weise voneinander: nach den Mitteln, dem Gegenstande und der Art der Nachahmung. Die ersteren trennen die Poesie als Ganzes von den übrigen Künsten, das zweite und dritte grenzen die verschiedenen Gattungen der Dichtkunst gegeneinander ab. Aristoleles analysiert nun diese einzelnen Gattungen unter den bezeichneten Gesichtspunkten und gewinnt auf diese Weise ein Bild von ihrer technischen Eigenart: er bestimmt in dem uns am besten erhaltenen Teile das Wesen der Tragödie nach ihrer Ausdehnung, dem Aufbau und seinen Teilen, den angewandten Kunstmitteln. Soweit er Werturteile sucht und ausspricht, leitet er sie von den allgemeinen Formen und technischen Bestimmungen ab, die er aus dieser analytischen Betrachtung gewonnen hat, so z. B. wenn er im 8. Kapitel diejenigen Tragödien verwirft, welche durch die bloße Einheit des Helden zusammengehalten sind, und dies Urteil aus der vorhergehenden Bestimmung der Poesie als Nachahmung menschlicher Handlungen begründet. Noch schärfer prägt sich der technische Gesichtspunkt aus, wenn im 26. Kapitel der Vorzug der Tragödie vor dem Epos aus der Steigerung der Kunstmittel bei geringerer zeitlicher Ausdehnung und strengerer Einheit des Baues nachgewiesen wird. ─ Daneben aber tritt nun die Beobachtung und Analyse der Wirkungen, welche die verschiedenen Gattungen und Kunstmittel hervorbringen. Und dies wird ebenfalls zum Wertmesser, insofern allein die richtigen Kunstmittel die Absicht erreichen, die anderen sie verfehlen müssen. Dies Verfahren wird wiederum in der berühmten Theorie der Tragödie besonders deutlich. Die beabsichtigte Wirkung (Furcht, Mitleid und die hierdurch hervorgerufene Katharsis) wird gleich in die Definition der Gattung mit aufgenommen, und hieraus wird dann abgeleitet, welcher Art die dargestellten Charaktere, der Glückswechsel in der Handlung u. s. w. sein müssen, um gerade diese Wirkung hervorzurufen. Befriedigt etwa ein Vorgang zwar unser Gerechtigkeitsgefühl, ohne aber Furcht und Mitleid zu erwecken, oder erregt er gar Empörung, so ist er auf der tragischen Bühne verwerflich. Die Form der Aristotelischen Darstellung ist mithin zwar nicht streng induktiv, da sie zunächst an allgemeine Bestimmungen und Einteilungen anknüpft; aber gleichwohl verfährt der Philosoph durchaus empirisch. Nirgends konstruiert er aus Ideen, nirgends versucht er den Kreis der Erfahrung zu übersteigen; überall hält er sich an die gegebene Wirklichkeit, denn auch jene allgemeinen Bestimmungen verallgemeinern nur bestimmte Tatsachen und Erfahrungen. Und dies Erfahrungsmaterial selbst ist noch in ganz bestimmter Weise mit methodisch festgehaltner Einseitigkeit abgegrenzt: es umfaßt ausschließlich vorhandene Werke und erlebte Wirkungen. Die Vorgänge in der schöpferischen Phantasie, die Entstehung des Kunstwerks in der Seele des Dichters, die Verschiedenheit der schöpferischen Individualitäten, überhaupt also das Subjekt des Dichters, berücksichtigt Aristoteles gar nicht oder streift sie doch nur ganz gelegentlich (wie in Kapitel 17). Das Kunstwerk ist es, worauf es ihm ankommt, nicht der Künstler. Sein Verfahren ist in diesem Sinne rein objektiv. Die durchweg empirische Grundlegung, die Beschränkung auf sachlich technische Gesichtspunkte mit Ausschluß jeglicher Ideenkonstruktion, endlich die rein objektive Behandlung der Dichtungen sind die drei Züge, welche der Poetik des Aristoteles ihren Charakter aufdrücken. ─ Als sich zwei Jahrtausende später der Klassizismus des 17. und 18. Jahrhunderts seine ästhetische Theorie schuf, da griff er auf Aristoteles zurück. So zunächst in Frankreich. Schon Scaliger knüpft an den Begriff der Nachahmung an, Corneille und in Einzelheiten Boileau an die Theorie der Tragödie. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber schufen Dubos (Réflexions critiques sur la Poésie, sur la Peinture et la Musique. Paris 1719) und nach ihm Batteux (Principes de Littérature. Paris 1747─55), eine systematische Kunstlehre in unmittelbarem Anschluß an Aristoteles. Allein alle diese Männer blieben über die Eigenart dieser antiken Poetik, sowohl was Methode als was Tragweite betrifft, im unklaren. Sie faßten den Beobachter und Zergliederer als apodiktischen Gesetzgeber, sie sahen auch da Werturteile und zwar unanfechtbare, wo er nur Tatsachen verzeichnet hat, wie in der berühmten Lehre von den Einheiten. Aber auch Lessing, der der werdenden deutschen Dichtung die Wege wies und den künstlerischen Fragen, die sich dabei erhoben, weit freier und vorurteilsloser gegenüberstand als die Franzosen, war sich doch über den empirischen Charakter und die Tragweite der Aristotelischen Poetik im ganzen kaum klarer als sie. Wie hätte er sonst im Schlußwort der Dramaturgie jenes Bekenntnis ablegen können, daß er die Poetik „für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind“! Und dieser Wertung entspricht es, wenn der deutsche Dramaturg fast überall, wo er allgemeine Fragen behandelt und zumal da, wo er den Franzosen entgegentritt, nicht die Probleme selbst erörtert, sondern die Aristotelische Auffassung derselben: für ihn versteht es sich eben von selbst, daß, wenn die Meinung des Aristoteles klargestellt, damit auch die sachliche Wahrheit selbst gefunden ist. Dabei wendet er die Methode seines antiken Vorbildes gelegentlich mit ebensoviel Geist wie Glück auf Probleme der neueren Literatur an. Deutlicher als in der Dramaturgie tritt das in den literarischen Abschnitten des Laokoon hervor. Die Verurteilung der beschreibenden Poesie und die berühmte Forderung, die sich daran knüpft, Schilderung in Handlung umzusetzen, sind in echt aristotelischem Sinne „aus den ersten Gründen“ abgeleitet: aus den technischen Bedingungen nämlich, unter denen der Dichter schafft, und den Wirkungen, welche durch dieselben bedingt werden. Überhaupt ist der methodologische Irrtum, der in den Verallgemeinerungen der Poetik ein begriffliches System von absoluter Gewißheit sieht, zwar charakteristisch für die Anschauung des älteren Klassizismus, aber doch nicht von ausschlaggebender Bedeutung, besonders für den jüngeren nicht. Schiller sowohl wie Goethe haben die Eigenart der aristotelischen Methode durchaus richtig und unbefangen erkannt, und es gibt keine treffendere Charakteristik derselben, als sie Schiller in seinem Brief an Goethe vom 5. Mai 1797 entworfen hat. Beide sahen sehr wohl, daß die Ergebnisse seiner Untersuchungen völlig „auf empirischen Gründen beruhten“ und somit auf allgemeine Gültigkeit im mathematischen Sinne keinen Anspruch erheben konnten. Gleichwohl standen beide dem Inhalt seiner Sätze nicht wesentlich anders gegenüber wie Lessing, und die Geltung seiner Ergebnisse erschien ihnen in allem wesentlichen nicht minder zweifellos als jenem. Und wie hätte das auch anders sein können? Die Empirie des antiken Denkers umfaßte ja nach der Anschauung des gesamten Klassizismus diejenigen Kunstwerke, welche als die absolut wertvollen Vorbilder aller späteren künstlerischen Schöpfungen anerkannt waren, oder wie es Schiller in jenem Brief ausdrückte, „durch das Faktum eine Idee realisierten“. Daher konnte auch die Induktion, die hieraus gewonnen wurde, den Anspruch darauf machen, absolute Norm zu sein. Vgl. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine zu einer Poetik. Philos. Aufsätze, Zeller gewidmet. Straßburg 1887. S. 318. Die Wertung der aristotelischen Poetik ist nur ein Symptom der Wertung des Altertums überhaupt. Der eigentlich entscheidende Zug in der Kunsttheorie unserer klassischen Dichter ist nun aber der, daß sie nicht nur die Formen und technischen Bedingungen der Poesie endgültig zu erfassen und zu bestimmen, sondern zugleich oder vielmehr darüber hinaus eine Welt- und Lebensanschauung zu gewinnen strebten, deren unmittelbarer Ausdruck die Dichtung sein sollte. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts tritt in der deutschen Literatur mit wachsender Deutlichkeit und Kraft das Ringen nach einer solchen umfassenden Lebensphilosophie hervor. Eine neue Art, Natur und Menschen zu sehen, ihre Handlungen und Erscheinungen zu werten, bahnt sich an, und an dieser Bewegung hat das Streben, die Kunst und insbesondere die Poesie in ihrer Bedeutung zu erfassen und ihre wahre Aufgabe zu erkennen, einen wesentlichen Anteil. Daß diese Aufgabe nur in einem solchen allgemeinen Zusammenhang richtig begriffen werden konnte, daß die Dichtung mehr wollte und sollte als einem unmittelbaren Trieb der schöpferischen oder aufnehmenden Phantasie genügen, darüber herrschte von vorneherein ein stillschweigendes Einverständnis. Hieraus aber mußte eine Poetik hervorgehen, welche einerseits durchaus gesetzgebend auftrat, anderseits aber dem Dichter seine Aufgabe nicht aus dem eigenen Wesen der Kunst heraus, sondern aus allgemeinen Gedankengängen, zumeist moralischer Art vorzeichnete. Schon Gottsched, welcher der literarischen Bewegung den ersten Anstoß gegeben hat, verlangte von der Dichtkunst, daß sie zum Ausdruck seiner sehr unkünstlerischen Lebensanschauung werden sollte. Es war die Aufklärung, in deren Dienst er sich und seine Sache mit naiv beschränkter Siegeszuversicht stellte; und der moralische Gesichtspunkt war seitdem auf mehr als ein Menschenalter hinaus in der Wertung der Poesie und ihrer Aufgabe nicht zu erschüttern. Auch Gottscheds Schweizer Gegner huldigten diesem Gesichtspunkt, obwohl er mit ihren Grundanschaungen kaum eine innere Verwandtschaft hatte. Und Lessing hat wenigstens die höchsten Gattungen der Poesie, Tragödie und Komödie, aus moralischen Antrieben abzuleiten gesucht, wenn auch in einer freieren und geschickteren Weise als die rationalistische Ästhetik Gottscheds und der Franzosen. Aber Lebenskraft und Selbständigkeit erhielt die ästhetische Bewegung erst durch den Einfluß zweier Gedankenkreise, die ursprünglich wenig oder gar nichts mit der Poetik zu tun hatten und gleichwohl von verschiedenen Zentren aus entscheidend auf ihre Gestaltung eingewirkt haben. Die Schöpfer derselben waren Shaftesbury und Winckelmann. Für Winckelmann hatte die Schönheit einen religiös mystischen Ursprung. Sie ist der Ausfluß der Gottheit selbst: „Die höchste Schönheit ist in Gott“, sagt er in der „Geschichte der Kunst des Altertums“ (1764). Die Kunst, welche die Schönheit darstellt, ist ihm daher ein völlig selbständiges Lebensgebiet von höchstem eigenen Wert und durchaus losgelöst vom Dienste der Moral, eine unmittelbare Verkörperung des Göttlichen im Menschen. Diese Schönheit nun wird in einem bestimmten und begrenzten Sinne gefaßt: sie ist Einheit im Mannigfaltigen, Harmonie der Teile eines Ganzen. Hierdurch wird nun die Kunst überhaupt und also mittelbar auch die Dichtung in ihrem Wesen bestimmt: das Prinzip der harmonischen Schönheit wird zur allgemein verbindlichen Norm für den Künstler und zum festen Kriterium für das Kunsturteil. Die Wirkungen, die das Kunstwerk hervorrufen soll, und die technischen Bedingungen, auf denen sie beruhen, erscheinen gänzlich beherrscht von jenen höchsten Formenprinzipien. Winckelmann untersuchte sie in Bezug auf die bildenden Künste, vor allem die Plastik, und brachte, was er hier schauend und fühlend erfuhr und erlebte, zu überzeugender, ja hinreißender Darstellung. Denn seine ganze ästhetische Theorie, soweit man von einer solchen sprechen kann, ist nicht das Ergebnis abstrakten und philosophischen Denkens, sondern vielmehr der allgemein gefaßte Ausdruck seiner Anschauung von der griechischen Kunst. Aus der begeisterten Versenkung in die Vollkommenheit hellenischer Formen schöpft er seine ästhetischen Begriffe und Ideale. Die griechische Kunst erscheint ihm daher notwendigerweise als die absolute Verkörperung des künstlerisch Schönen. Ihr Wesen ist durch und durch Harmonie, wie die leibliche Erscheinung des Hellenen und die phantasievolle Gestaltung seiner Gottheiten überall eine solche Harmonie verkörperte. War es nun zunächst ein Formenideal, dessen lebendige Anschauung und theoretische Bestimmung Winckelmann aus den Werken der griechischen Bildnerei ableitete, so konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Idee der harmonischen Schönheit auch auf das seelische Gebiet übertragen wurde: dem schönen Körper entspricht die harmonisch schöne Seele. Ihre Darstellung aber mußte vor allem das Werk der Poesie sein, die hier ihre entsprechende höchste Aufgabe fand. Auch für sie wurde somit das Griechentum in der neuen Wertung, die Winckelmann angebahnt hatte, das maßgebende Vorbild. Die beiden Hauptgedanken Winckelmanns, das Ideal der harmonischen Schönheit und die Ansicht vom Griechentum als der Verkörperung dieses Ideals, wurden ─ zuerst durch Herder ─ verallgemeinert und auf das Gebiet der Poesie übertragen. Daß dies aber geschah, dazu hat der Einfluß eines Philosophen, der älter als Winckelmann war, jedoch in Deutschland erst etwa gleichzeitig mit diesem zur Wirkung kam, vieles beigetragen. Es ist Shaftesbury, dessen Lehre vermutlich schon auf Winckelmanns ästhetische Begriffe einen tiefergehenden Einfluß gehabt hat. Vgl. Justi, Winckelmann und seine Zeit. Teil 1. 2. Aufl. (Leipzig 1898, Bd. I S. 211 ff.) Auch für den englischen Philosophen Hauptwerk: Charakteristics of men, manners, opinions, times. London 1711. war das Ideal der harmonischen Schönheit der eigentlich bestimmende Begriff, und auch hier war er an einem griechischen Vorbilde lebendig geworden. Aber dieses Vorbild war Plato, und die Probleme und Anschauungen, von denen Shaftesbury ausgeht, sind die der Metaphysik und der Ethik. Er sucht das Ideal der Harmonie in der Seele des Menschen und zugleich im Kosmos, dessen Abbild sie sein soll. So nimmt dieser Begriff, wiewohl er künstlerischer Natur ist, dennoch eine sittliche und metaphysische Bedeutung an; er führt über das bloße Formenideal hinaus zu einer Welt- und Lebensauffassung, die gleichwohl in innerlicher Übereinstimmung mit jener künstlerischen Anschauung steht. Die ideale Kunst, die Winckelmann schildert, erscheint nunmehr als die Verkörperung eines sittlichen Ideals, wie es Shaftesbury vorgezeichnet hat. Wir können nun verfolgen, wie die Welt- und Kunstanschauung, die aus diesem doppelten Einfluß entspringt, bei Herder, Goethe und Schiller geklärte und zugleich mannigfach gesteigerte Gestalt annimmt. Es treten noch andere Einflüsse hinzu: Leibniz, Rousseau, Spinoza, Kant. Sie geben den schöpferischen Anschauungen der genannten drei Klassiker im einzelnen ein verschiedenes Gepräge, und auch persönliche Eigenart scheidet besonders die Anschauungsweise Herders und Goethes auf der einen, Schillers auf der anderen Seite. Aber über alle individuellen Abweichungen hinweg sehen wir deutlich die verbindende Einheit, und wir verfolgen zugleich, wie dieselbe zur Grundlage für eine neue Theorie der Dichtkunst wird, die zwar nicht systematisch abgeschlossen, aber doch in ihren wesentlichen Zügen klar bestimmt und entschieden formuliert wird. Ihren prägnantesten Ausdruck fand die neue Poetik in den philosophischen Schriften Schillers. Einerseits lag seiner Art zu denken die abstrakte Spekulation über künstlerische Fragen näher als Goethes intuitivem Schöpfergeist. Andrerseits beschränkte sich sein Interesse fast ganz auf die Dichtung, während Goethes Blicke und Gedanken fast ebensosehr von der bildenden Kunst in Anspruch genommen waren. Daher liegt auch die Bedeutung dessen, was Goethe über Poesie gedacht und gesagt hat, wesentlich darin, daß er sie stets in ihrer Beziehung zum Ganzen der Kunst, ja zum Ganzen der Natur überhaupt sah, Gemeinsames und Trennendes mit gleicher Klarheit hervorhebend. Er sieht, die ewigen großen Grundtypen der Natur in aller Kunst und so auch in der Dichtung in immer neuer, immer gesteigerter Gestalt hervortreten. Schillers Originalität dagegen zeigt sich darin, daß er das so lange umstrittene Verhältnis von Schönheit und Sittlichkeit, Poesie und Moral in einer neuen und vertieften Weise erfaßt. Ihm war die Dichtung nicht mehr, wie seinen rationalistisch beeinflußten Vorgängern, eine Lehrerin der Sittlichkeit: ihre Aufgabe war es, wie die Schönheit selber, eine Verkörperung jener inneren Harmonie zu sein, auf der die höchste Sittlichkeit beruht, zugleich aber auch die Kämpfe und Mühen darstellend zu verherrlichen, durch die sie errungen wird. So wird die Poesie bei ihm Wegweiserin und Erzieherin zum höchsten Ziel des Einzelnen wie der Menschheit. Der Gedanke der ästhetischen Erziehung ist der Lebensnerv seiner Welt- und Kunstbetrachtung. Es war die erhabenste Bestimmung, die der Poesie vorgezeichnet werden kann. Niemals vorher, auch im Altertum nicht, war die Kunst als Lebensmacht so hochgestellt und verehrt worden. Aber diese Bestimmung, das läßt sich nicht verkennen, war nicht sowohl aus einer unbefangenen Betrachtung ihres Wesens als aus einer allgemeinen philosophischen Weltanschauung abgeleitet. Es war eine „Ästhetik von oben“, wie sie G. Th. Fechner treffend genannt hat, durch und durch deduktiv, aus Ideen geschaffen, und zugleich durch und durch normativ gedacht. Die Poetik zeichnet dem Dichter vor, wie er die hohe Anfgabe lösen kann, die Kunst zum mittelbaren oder unmittelbaren Ausdruck jener erhabenen Weltanschauung zu machen. Der einseitige Charakter der neuen Poetik wurde noch verstärkt durch ihr Verhältnis zum Griechentum, das schon oben berührt worden ist. Nicht nur, daß die hellenische Dichtung als vollkommene Kunst und absolut vorbildlich gefaßt wurde, es war auch eine ganz bestimmte Färbung, in der sie unseren Klassikern erschien. Die Art, wie Winckelmann die griechischen Skulpturen gesehen und verstanden hatte, übertrugen sie unmittelbar auf die Dichtung. Die vielen realistischen, ja naturalistischen Elemente des griechischen Dramas, die Darstellungen furchtbarer, ja bis zum Extrem gesteigerter Leidenschaften und Leiden wurden übersehen, oder doch nicht als solche verstanden: auch in den Dichtungen, selbst in den dramatischen, wollte man die harmonische Ruhe des Idealstils als entscheidenden Charakterzug erkennen. So entstand auch hier das Ideal einer Formenkunst voll „stiller Größe und edler Einfalt“, die der Ausdruck einer harmonischen Weltanschauung sein sollte. Nur das Erhabene und das Schöne hatte in dieser Kunst Heimatrecht, das Charakteristische als solches nicht; es wurde zum Typischen erweitert, wie die Wirklichkeit überhaupt nur erhöht und veredelt zur Darstellung kommen sollte. Im Zusammenhang hiermit wird denn auch die Methode verständlich, nach der unsere klassischen Dichter ihre eigenen sowohl wie die Werke anderer beurteilten. Lessing wie Schiller und selbst Goethe suchen das Wesen der Tragödie, des Epos u. s. w. zu bestimmen, und die Definition wird ihnen zum Maßstabe: der Wert einer Dichtung erscheint abhängig davon, daß sie den Gattungscharakter bewahrt. „In keiner Art menschlicher Tätigkeit ist es möglich, das Höchste zu leisten als nur innerhalb der Schranken ihrer Gattung. Nicht anders der Dichter.“ So sagt Wilhelm von Humboldt, der auf dem Höhepunkt der Epoche einige ihrer ästhetischen Grundanschauungen in seiner Abhandlung über Goethes Hermann und Dorothea zu klassischem Ausdruck gebracht hat; und in charakteristischer Weise lehnt er es ab, ein klassisches Gedicht „zu einer bloßen Mittelgattung herabzuwürdigen.“ Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften Bd. II S. 140 u. 260. In dem gleichen Sinne verfuhr Lessing in der Dramaturgie, wenn er dem Theater der Franzosen den tragischen Charakter absprach, weil ihre Dramen dem aristotelischen Begriffe der Tragödie nicht genügten. Wenn diese Art zu urteilen nicht in ein ödes Schablonisieren auslief, so war der Grund der, daß in den Gattungsbestimmungen von vorneherein inhaltliche Beziehungen zu jener einheitlichen Weltanschauung und ihren Idealen, somit eigenartig bestimmte Werte mitgedacht wurden, welche durch die Dichtungen verwirklicht werden sollten. Besonders deutlich wird dies etwa durch Schillers Bestimmung des Tragischen (Pathetischen) in der Abhandlung vom Erhabenen, aber auch in der Art wie Friedrich Schlegel und die Seinigen den Roman als höchste Kunstform bestimmt und gewertet haben. Vgl. R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1876, S. 252. Kurz, die Poetik, wie sie durch Schiller und Goethe ausgebildet wurde, ist in Wahrheit keine allgemein gültige Kunstlehre, sondern das Programm einer bestimmten künstlerischen Richtung. Sie verkündet den Idealstil als Ausdruck einer neuen Weltanschauung und wendet sich von allem ab, was diesem Stil widerspricht. Damit aber mußte sich diese Poetik der Wirklichkeit gegenüber notwendig als zu eng erweisen: war sie doch von vornherein nur zustande gekommen im Gegensatz zu der eigenen freieren Jugendrichtung der beiden Dichter. Der Überschwang der jungen Kraftgenies, das nationale und volkstümliche Streben, der Naturalismus der siebziger Jahre: alles das, was die Dichtung der Sturm- und Drangperiode entfesselt und erfüllt hatte, war nicht ins Leben getreten, ohne daß eine entsprechende theoretische Anschauungsweise die Bahn geöffnet hätte. Herder war es, der sie zum Ausdruck gebracht, ja der sie aus einer Anzahl vorhandener Anregungen und Ansätze recht eigentlich erst geschaffen hat. Dieser geniale Anreger war unter den künstlerischen Geistern des 18. Jahrhunderts der erste, dessen Blick über das klassische Ideal hinausging und der jener einseitigen Wertung des Griechentums die Würdigung und das Verständnis anderer Kultur- und Literaturformen gegenüberstellte. Selbst von Begeisterung für griechische Kunst und Dichtung erfüllt, ist ihm doch Auge und Herz offen für das, was andere Völker Schönes und Großes hervorgebracht haben. Sein Ideal der Literaturwissenschaft umfaßt die Erkenntnis alles dessen, was die Menschheit in ihren verschiedenen Epochen und Nationen an Dichtungen geschaffen hat. Er strebt ein Verständnis nach geschichtlichen und ethnographischen Gesichtspunkten an, ein Verständnis universaler Art, das ohne Voraussetzungen und Vorurteile die Erscheinungen der Poesie, wo es sie findet, nach ihrer Eigenart würdigt. „Jener Sultan“, sagt er, Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und bildenden Künste, Werke Bd. 24 S. 314. „freute sich über die vielen Religionen, die in seinem Reiche, jede auf ihre Weise, Gott verehrten. Es kam ihm wie eine schöne bunte Aue vor, auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker und Zeiten auf unserem Erdenrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte. Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche Ideale) gegeneinander zu stellen, gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser Gallerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte.“ Er bezeichnet es als „ Naturmethode “, „jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort, ganz wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. ─ Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume ─ jedes blühet an seiner Stelle in Gottes Ordnung.“ Man sieht: der imperative und normative Charakter der bisherigen Betrachtungsweise ist hier aufgegeben. An die Stelle der vorschreibenden tritt die beschreibende Poetik, an die Stelle der einseitig wertenden die geschichtliche und vergleichende Anschauung. Jede nationale oder individuelle Erscheinungsform der Poesie hat ihren Wert in sich, und dieser Fülle der Erscheinungen gegenüber hat niemand das Recht eine einzelne gleichfalls geschichtlich bedingte Form zum Maßstabe zu machen. „Man hat einen Begriff der Ode“ (wir würden sagen des lyrischen Gedichts) „festsetzen wollen. Aber was ist die Ode? die griechische, römische, orientalische, skaldische, neuere ist nicht völlig dieselbe. Welche von ihnen ist die beste, welche sind bloß Abweichungen? Ich könnte es leicht beweisen, daß die meisten Untersucher nach ihrem Lieblingsgedanken entschieden haben, weil jeder seine Begriffe und Regeln bloß von einer Art eines Volkes abzog und die übrigen für Abweichungen erklärte. Der unparteiische Untersucher nimmt alle Gattungen für gleichwürdig seiner Bemerkungen an, und sucht sich also zuerst eine Geschichte im ganzen zu bilden, um nachher über alles zu urteilen.“ (Versuch einer Geschichte der Dichtkunst, 1767.) Ja Herder sieht sich bei aller Begeisterung für das Griechentum in scharfen Gegensatz zu dem einseitigen Klassizismus seiner Zeitgenossen gerückt. „O das verwünschte Wort klassisch! Dies Wort hat manches Genie unter einen Schutt von Worten vergraben, es hat dem Vaterlande blühende Fruchtbäume entzogen.“ Und so ist es denn auch ein naher und natürlicher Schritt zu der nationalen Wendung: „Keiner Nation dürfen wir es also verargen, wenn sie vor allen anderen ihre Dichter liebt und sie gegen fremde nicht hingeben möchte. Sie sind ja ihre Dichter.“ (Fragmente über die neuere deutsche Literatur, 1766/67.) Vgl. die Zusammenstellung bei Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, Teil III 3 , 1. Abt. S. 34 ff., 49. Der breite Strom nationalen und volkstümlichen Lebens, der sich unter dem Einfluß dieser befreienden Anschauungsweise in den siebziger Jahren in die Poesie ergoß, wurde durch die schnelle Rückwendung Goethes und Schillers zum Klassizismus fast gewaltsam zurückgedämmt; aber er versiegte darum nicht, und in den letzten Jahren des zu Ende gehenden Jahrhunderts wurden alle Keime, die er mit sich trug, in der Romantik von neuem lebendig. Mehr noch als in ihren Schriften zum Ausdruck kam, schritt die neue Schule auf den Bahnen, die Herder gebrochen hatte. Auch sie verwarf die einseitige Geltung des Griechentums und des hierauf gegründeten Idealstils. Sie stellte, wie es schon Herder getan, das Mittelalter, die Dichtung der romanischen Völker, ja der Inder und Orientalen neben die hellenische Kunst. Die geschichtliche Betrachtung der Poesie entfaltete sich weiter und trat besonders in August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1803─1804) systematisch hervor: man darf dieselben als den ersten Versuch zu einer historisch begründeten Gesamtpoetik bezeichnen. Schlegel unternimmt es, das Wesen der Dichtung und der dichterischen Formen aus der geschichtlichen Entwicklung zu verstehen, „die Poesie genetisch zu erklären und sie auf den verschiedenen Stufen, welche sie von der ersten Regung des Instinkts an bis zur vollendeten künstlerischen Absicht durchzugehen hat, zu begleiten“. R. Haym, Die romantische Schule, S. 779, vgl. 766. Eine unendliche Erweiterung des Gesichtskreises ging daraus hervor, eine Bereicherung und Vertiefung des Verständnisses, die selbst auf die Führer des Klassizismus zurückwirkte. Die geschichtliche Betrachtungsart bedeutet in Wahrheit den ersten Schritt zu einer wissenschaftlichen Erfassung der Poesie überhaupt. Aber es ist deutlich, daß sie für sich allein nicht genügt, um eine Wissenschaft von dem Wesen der Dichtung nach ihren allgemeinen und bleibenden Grundzügen und Gesetzen zu schaffen. Die Geschichte der Poesie, auch die vergleichende, wie sie Herder und A. W. Schlegel angebahnt haben, ist eben Literaturgeschichte, nicht Poetik: sie hebt die Charakterzüge zeitlicher und nationaler Erscheinungen schärfer hervor, sie überblickt das Gesamtgebiet klarer und vollständiger, als das früher möglich war, aber sie vermag auf die letzten Fragen nach dem Wesen der Poesie, nach den treibenden Kräften ihrer Entwicklung, nach dem Verhältnis der Formen zum Inhalt und vielem ähnlichen, worüber der forschende Menschengeist Aufschluß sucht, keine Antwort zu geben. Sie weist mithin über sich selbst hinaus auf eine allgemeinere und tiefere Auffassung hin, durch welche das, was sie sammelt und darstellt, erst seine wahre Bedeutung gewinnen und in seinem inneren Zusammenhang sichtbar werden kann. Diese tiefere Auffassung wurde nun zunächst in einem ideellen und metaphysischen Zusammenhang gesucht, dessen man sich durch philosophisches Denken, durch Ideenkonstruktionen bemächtigen könne. Eine solche Vermischung spekulativer und geschichtlicher Betrachtungsart finden wir schon bei Herder selbst; weiter aber geht Schiller, bei dem die philosophischen Gesichtspunkte die historischen fast ganz beiseite drängen; so vor allem in seiner zusammenfassenden Hauptschrift: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Hier unternimmt es der Dichterphilosoph, das Wesen der Kunst aus der Natur des Menschen abzuleiten und zwar ihrer Entstehung sowohl, wie ihren Wirkungen nach. Aber es ist nicht der empirisch gegebene Mensch der verschiedenen Zeiten und Völker, woran er denkt: was er unter dem Worte versteht, ist ein Idealbegriff, eine Konstruktion ethischen Inhalts; und nicht geschichtliche oder psychologische Erkenntnis, sondern die Vorstellung von dem sittlichen Zweck des Menschenlebens ist es, woraus das Wesen der Kunst und der Poesie durch speziellere Zweckbestimmungen abgeleitet wird: ganz in Übereinstimmung mit jener bereits gekennzeichneten Tendenz, die Kunstlehre zum Ausschnitt einer umfassenden sittlichen Weltanschauung zu gestalten. Nur vereinzelt mischen sich psychologische und historische Elemente in die geistreichen Begriffskonstruktionen: sie lassen den Abstand von dem Bilde der Wirklichkeit nur schärfer hervortreten. In einem eigentümlichen Nebeneinander erscheinen „Spieltrieb, Stofftrieb und Formentrieb“; ─ der erste wenigstens ursprünglich ein psychologischer Begriff, die beiden letzten jedoch Abstraktionen, bei denen aller empirische Gehalt von der ästhetischen Spekulation überwuchert und fast gänzlich aufgezehrt ist. Eine ähnliche Vermischung von empirischer Erkenntnis und metaphysischer Begriffsbildung ist es bekanntlich, aus dem die stolzen Systeme der idealistischen Philosophie Schellings und besonders Hegels erwachsen sind. Und so ist es denn begreiflich, daß die deutsche Ästhetik, solange sie unter dem Einfluß dieser Denker stand, d. h. bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus, das entsprechende Bild zeigt. Hegel sieht die Idee des Schönen, in einem Winckelmann innerlich verwandten Sinne, als das absolut Bestimmende an. Wie sein ganzes System, so ist auch die Methode seiner Ästhetik von der Vorstellung durchdrungen, daß sich die geschichtlich empirische Wahrheit durch reines Denken ableiten lassen müsse. Tatsätlich konnten hieraus nur Zwitterschöpfungen hervorgehen, halb historisch induktiver, halb spekulativ deduktiver Natur, zur Hälfte geschichtliche Betrachtung, zur größeren Hälfte metaphysische Ideengespinnste. Die aus Hegels Schule hervorgegangenen ästhetischen und literarhistorischen Werke zeigen durchweg diesen Charakter. Das bedeutendste unter ihnen ist Friedrich Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846─57), ein umfassendes Werk voller Lichtblicke und Anregungen, dessen geistvoller Schöpfer gleichwohl zuletzt selbst an der Berechtigung seines Gedankenbaues irre wurde. Aber nicht weniger charakteristisch ist ein minder umfangreiches Buch, welches das besondere Gebiet der Poesie behandelt und bis heute eines der am meisten genannten und benutzten Bearbeitungen dieses Gegenstandes ist, Wilhelm Wackernagels Poetik. Sie ist freilich erst 1873 im Druck erschienen; allein die Vorlesungen, aus denen das posthume Buch entstanden ist, sind schon im Jahre 1836 gehalten worden. Poetik, Rhetorik und Stilistik. Akademische Vorlesungen von Wilhelm Wacker- nagel. Herausgegeben von Ludwig Sieber. Halle 1873. Das Werk ist, wie der Name seines Verfassers bezeugt, nicht aus der Hegelschen Schule hervorgegangen, sondern von einem Fachmanne geschrieben, der, stark von der Romantik beeinflußt, über ein reiches literargeschichtliches Wissen und über gründliche philologische Schulung verfügte. Gleichwohl zeigt es deutlich jenen Zwittercharakter. Die Betrachtung geht von den Eigenschaften Gottes aus, um das Wesen des Schönen und der Kunst zu bestimmen. Der Germanist teilt das enge und ausschließende Schönheitsprinzip mit dem Klassizismus: „Kunst ist überall, wo eine schöne Anschauung schön objektiviert wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das, was man darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, den Anforderungen des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen.“ „Bei der Poesie wird von der sprachlichen Darstellung vor allem Schönheit, bei der Prosa vor allem Verständlichkeit verlangt.“ (S. 10, 11.) Und doch „soll die Poetik als Naturgeschichte in der Poesie ein mehr historisch entwickelndes Verfahren beobachten und mehr sich bestreben, Gesetze zu finden als Regeln aufzustellen“. So geht Wackernagel denn auch, nach einer allgemeinen Erörterung des Wesens und des Ursprungs der Poesie, innerhalb der einzelnen Gattungen historisch vorwärts. Sein Interesse gilt vorwiegend den ältern Epochen und der Volksdichtung. Der Hauptwert seiner Arbeit liegt in diesen Betrachtungen, vor allem in der Behandlung des Volksepos, wiewohl er mit den Brüdern Grimm und den übrigen Begründern der deutschen Philologie die psychologische Unklarheit über die Entstehung der Volkspoesie und ihr Verhältnis zur „Volksseele“ teilt. Ist nun hierin der Einfluß der romantischen Anschauungs- und Wertungsweise deutlich erkennbar, so widerspricht es derselben andrerseits aufs schärfste, wenn Wackernagel die Gattung des Romans, die von jenen als die höchste in der Poesie angesehen worden war, gänzlich aus dem Bereiche der Dichtkunst überhaupt hinausweist und nicht in der Poetik, sondern in der Rhetorik behandelt: nach seiner Meinung gibt es Poesie nur in gebundener Sprache, „so daß man hier die unkünstlerische Form der Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen darf“, wie ihm denn der Roman überhaupt im wesentlichen „den Untergang des Epos“ bedeutet (S. 81). Diese und ähnliche Urteile zeigen die Unzulänglichkeit seines Standpunkts. Überhaupt aber wird er der Kunstpoesie und zumal der der neueren Zeit nur wenig gerecht. Seine Auffassung greift, wiewohl es an geistreichen Lichtern nicht fehlt, nur selten tief und führt noch seltener zu einer zureichenden Erklärung der poetischen Schöpfungen. So ergibt es sich denn als eine innere Notwendigkeit, daß die wissenschaftliche Poetik zu einem einwandfreieren Verfahren, einer reineren Methode fortschreiten mußte. Und diese Methode konnte, nach allem vorhergehenden ist das klar, nur eine im strengeren Sinne des Worts empirische sein. Sie mußte auf einer unbefangenen, von Spekulation nicht getrübten untersuchenden Betrachtung des Tatsächlichen beruhen. 3. Die wissenschaftliche Poetik der Gegenwart. Als die metaphysische Spekulation allmählich in Mißkredit kam und an ihrer Stelle die naturwissenschaftliche und geschichtliche Empirie immer entschiedener die Herrschaft über das wissenschaftliche Denken antrat, da war es auch um die Geltung der großen ästhetischen Systeme geschehen. An die Stelle der „Ästhetik von oben“ mußte die „Ästhetik von unten“ treten, an die Stelle des Dogmatismus und der Spekulation die Erfahrung, an die Stelle der Metaphysik als Deuterin der ästhetischen Erscheinungen die Psychologie. Kunst und Poesie werden nun, in ihrem allgemeinen Wesen wie in ihren einzelnen Schöpfungen, nicht mehr durch ein begrifflich abgeleitetes Sollen bestimmt und aus allgemeinen Zwecken ethischer Art abgeleitet; sie werden vielmehr als Lebensäußerungen des menschlichen Geistes gefaßt, seinen empirisch erkennbaren Anlagen und Bedürfnissen entsprungen und den Gesetzen des Seelenlebens unterworfen, daher nur aus der Erkenntnis dieser Gesetze, aus dem Einblick in die Kräfte und Vorgänge des Seelenlebens verständlich. Wie alle künstlerischen, so sind auch die dichterischen Wirkungen nicht aus absoluten und ein für allemal vorgeschriebenen Eigenschaften des Kunstwerks an sich, sondern aus der Natur der menschlichen Seele zu erklären. Die Gesetze der Kunst sind psychologische Gesetze, die geschichtliche Entwicklung der Poesie beruht auf den Entwicklungsgesetzen des menschlichen Geistes. Die Anfänge einer solchen Betrachtungsart der ästhetischen Vorgänge liegen weit zurück: sie erscheinen zuerst um die Mitte des 18. Jahrhunderts in England. Schon Hutcheson An Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue. London 1720. hatte auf einen „inneren Sinn“ als die Quelle unserer Ideen vom Schönen wie vom Guten hingewiesen, d. h. er hatte einen psychischen Ursprung für diese Ideen festgestellt und dadurch die Möglichkeit einer psychologischen Analyse angebahnt. Burke A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and the beautiful. London 1756. nahm eine solche Analyse an den Grundbegriffen des Schönen und des Erhabenen vor und führte beide auf bestimmte Seelenzustände des betrachtenden Menschen zurück. Home endlich unternahm es, mit freilich sehr unvollkommener Systematik, „den empfindenden Teil der Menschennatur zu untersuchen und durch Erforschung der angenehmen und unangenehmen Gegenstände die echten Grundsätze der schönen Kunst zu entdecken.“ Elements of Criticism. Edinburg 1762─1765. Vgl. Hettner, Geschichte der englischen Literatur S. 442. In Deutschland hat Moses Mendelssohn, zuerst aus selbständigem Antriebe, dann unter dem Einfluß jener englischen Denker, die psychologische Betrachtung der Kunst und des Schönen angebahnt (besonders in den „Briefen über die Empfindungen“, Berlin 1755). Er suchte die Eigentümlichkeiten der künstlerischen Wirkungen aus empirisch erkennbaren inneren Zuständen und Vorgängen zu verstehen und betrachtete die ästhetischen Erscheinungen zugleich als Quelle psychologischer Erkenntnis. Er hat damit einen starken Einfluß auf seinen Freund Lessing ausgeübt: als eine Art von Unterströmung zieht sich die psychologische Betrachtungsweise vom Laokoon an durch die klassische Literatur, hier und da, bei Herder wie bei Schiller, an die Oberfläche tretend. An sich freilich wurde, wie wir gesehen haben, die Denkweise dieser Epoche von ganz anderen Gesichtspunkten bestimmt, und ebenso blieb auch in der Periode des Hegelschen Einflusses das psychologische Element untergeordnet und unwirksam, bis es durch die wissenschaftliche Gesamtentwicklung kraftvoll in die Höhe getragen wurde, um nunmehr schnell als die herrschende Strömung zutage zu treten. Zwei Schriftsteller sind in dieser Hinsicht von entscheidendem Einfluß geworden; beide nicht speziell der Poetik, sondern allgemeinen Fragen der Kunst zugewandt, beides Männer, die auch sonst dem wissenschaftlichen Denken wichtige Impulse gegeben haben: H. Taine durch die Histoire de la littérature anglaise 1863 (und im Zusammenhang hiermit seine Philosophie de l'art 1865) und G. Th. Fechner mit der Vorschule der Ästhetik 1876. Taine, ein rationalistisch scharfer Denker, ein Psychologe und zugleich ein Geschichtsschreiber großen Stils, legt das entscheidende Gewicht auf den Einfluß, den Rasse, soziales Milieu und Zeitalter auf die Geistesverfassung des Künstlers ausüben: diesen Einfluß gilt es zu untersuchen und aus der so verstandenen psychologischen Eigenart des Urhebers das Wesen des Kunstwerks zu erfassen. G. Th. Fechner, einer der Hauptbegründer der wissenschaftlichen Psychologie in Deutschland, fordert mit aller Entschiedenheit eine ästhetische Erfahrungswissenschaft, die ihre allgemeinen Sätze und Begriffe auf psychologische Empirie begründen und induktiv vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen soll, statt wie es die frühere Kunstphilosophie getan hatte, von allgemeinen Sätzen und Begriffen aus die einzelnen Erscheinungen zu betrachten und zu beurteilen. Er leitet auf diesem Wege eine Reihe ästhetischer Erfahrungsprinzipien ab, die dem Zwecke dienen, die komplizierten Erscheinungen, welche die ästhetischen Vorgänge darbieten, mit den elementaren Funktionen des Seelenlebens in eine kausale Verbindung zu setzen, ihren Ursprung in diesen letz─ teren nachzuweisen. So führt er z. B. die künstlerischen Prinzipien des Kontrastes und der Steigerung auf allgemeine Eigentümlichkeiten des Bewußtseinsablaufs zurück, leitet ihre Bedeutung aus den Erscheinungen der Ermüdung, des Reizzuwachses u. s. w. ab. Beide Forscher haben das ästhetische Denken des letzten Menschenalters entscheidend bestimmt; sie haben daher auch die wissenschaftliche Behandlung der Poetik in neue Bahnen gelenkt, wiewohl auf unserem Sondergebiete dieser Einfluß erst nach längerer Zeit deutlich hervortrat. In den beiden Jahren 1887─88 erschienen zwei Schriften, die, auch sonst in mannigfacher Berührung miteinander, die gemeinsame Tendenz zum Ausdruck brachten, die Poetik zu einer modernen Wissenschaft zu gestalten: Wilhelm Scherers Poetik und Wilhelm Diltheys bereits oben (S. 6) angeführte Abhandlung: „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“. Beides nicht ausgeführte systematische Werke, sondern eingehende Entwürfe, wissenschaftliche Programme, nach Form und Inhalt fragmentarisch; aber höchst bedeutsam durch die Wendung, die sie bezeichnen. Scherers „Poetik“ ist das posthum herausgegebene Konzept seiner nur einmal im Jahre 1885 gehaltenen Vorlesungen über den Gegenstand. Diesem Ursprung entspricht der Charakter des Werkes: es ist reich an Ideen, die aber noch wenig kritisch gesichtet sind; fruchtbare Gedanken und belanglose Einfälle, tiefe Blicke und unzulängliche Auffassungen stehen nebeneinander; es ist schwer, dem Wert und Unwert des Buches mit kurzen Worten gerecht zu werden. Soviel aber sieht man gleich: Scherers Arbeit ist getragen von dem Bewußtsein der neuen ästhetischen Epoche, ihrer höheren Ziele und tiefer eindringenden Methoden. „Diese philologische Poetik soll der früheren Betrachtungsweise gegenüberstehen, wie die historische und vergleichende Grammatik seit Jakob Grimm der gesetzgebenden Grammatik vor Jakob Grimm gegenübersteht“ (S. 66). Scherer knüpft viel enger, als es seine Darstellung erkennen läßt ─ doch mag das an der lückenhaften Form der Überlieferung liegen ─ an Herder und die historische Betrachtungsweise an. Auch seine Poetik verlangt in erster Linie eine umfassende Induktion der literarhistorischen Tatsachen und will, wie jener, die Poesie der Naturvölker und von da aus die Entwicklung der Poesie durch Zeiten und Völker in ihrem ganzen Umfang umspannen. Wie Herder wendet sich Scherer schroff gegen die Anmaßung, von allgemeinen Prinzipien aus die einzelnen dichterischen Erscheinungen und Schöpfungen werten zu wollen. „Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie (die wahre Lyrik, das wahre Drama u. s. w.) zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Die Ästhetik soll unparteiisch verfahren, nicht vorschnell von gut und schlecht reden, sondern nur von verschiedenen Wirkungen.“ Allein auch für Scherer ist, wie für Herder selbst und alle, die auf ihn gefolgt sind, die geschichtliche Betrachtung nicht das letzte Wort noch der eigentliche Inhalt der Poetik. Nach zwei Richtungen sucht er Wege, die über den Einzelzusammenhang hinaus zu Ergebnissen allgemeiner Natur führen sollen. Einmal schwebt ihm für die Gestaltung der neuen Poetik so etwas vor, wie die beschreibende Naturwissenschaft älteren Stils: als Ziel erscheint ihm die Inventarisierung und „Klassifikation“ der Begriffe und Formen, die sich aus der geschichtlichen Betrachtung ergeben, eine Art von Linnéschem System der Poesie. In der Tat sind seine Einteilungen oft nicht minder äußerlich und unsachlich, wie die Linnésche; besonders aber scheint auch ihm die Systematik, die auf diese Weise entsteht, Selbstzweck zu sein; denn er sucht solche Einteilungen auch da, wo ein Wert für weitere wissenschaftliche Anknüpfungen nicht abzusehen ist; so entwirft er z. B. eine geradezu abgeschmackte Einteilung der Liebesverhältnisse im dritten Kapitel. Er verlangt sogar in einem sehr entschiedenen, wenn auch offenbar unbewußten Gegensatz zur induktiven Methode, daß die wissenschaftliche Poetik ein Schema von allen möglichen Gattungen der Poesie entwerfen, und neben den Stoffen, welche die Poesie tatsächlich behandelt hat, die möglichen, die sie behandeln könnte, systematisieren sollte. Was würde ein solches System, selbst wenn es durchführbar wäre, für einen wissenschaftlichen Wert haben, wofür könnte es fruchtbar gemacht werden? Es ist seltsam zu sehen, wie dieser künstlerisch lebendige und anschaulich gerichtete Geist sich in den blutlosesten Schematismus verrennen konnte. Bedeutsamer und lebensvoller ist das zweite Ziel, das Scherer im Auge hat und das auch ihm wohl als das wichtigere erschien: das psychologische Verständnis des ästhetischen Vorgangs. Und zwar ist es dieser Vorgang in seinem gesamten Verlauf, den er begreifen will, die Konzeption des Dichters und seine schöpferische Arbeit ebensowohl wie die Wirkung auf sein Publikum. Aber den Hauptton legt er auf die erste Hälfte, die Psychologie des Dichters und seiner Tätigkeit, „die Analysis des dichterischen Prozesses“. Er sucht die schaffenden Seelenkräfte zu ergründen, handelt ausführlich über die psychologische Grundlage der Phantasie und über das Verhältnis von Genie und Wahnsinn. Das Verfahren, das zu seinem Ziel führen soll, schildert er in folgenden Sätzen: „Die Analyse des dichterischen Prozesses wird das Zusammengesetzte überall auf Einfacheres zurückführen müssen; in dieser Zurückführung des Komplizierten auf Einfaches besteht eben die Analyse, die Auflösung derselben in die einfachsten Elemente; und wo irgend möglich muß sie Elemente aufzeigen, bei denen eine unmittelbare Erfahrung, ein Nacherleben möglich ist. Der dichterische Prozeß muß also überhaupt in solche Elemente aufgelöst werden, an welche das Bewußtsein eines jeden von uns anknüpfen kann. Die Quelle dichterischer Kraft können wir freilich nicht nachempfinden; im höchsten Sinne kann Goethe nur von Goethe verstanden werden. Aber auch die höchsten Hervorbringungen haben gemeinverständliche Elemente; und zu diesen müssen wir vordringen. So tritt denn also die unmittelbare Erfahrung als erklärendes Moment ein“ (S. 67 ff.). Dabei hat er aber auch hier die seltsame Idee, daß es sich „um Erschöpfung der möglichen Fälle handeln“ müsse. Ueber die Mängel dieser Formulierungen und die Unzulänglichkeit dessen, was Scherer an positivem Material beibringt, zu rechten, wäre ungerecht und zwecklos. Seine psychologischen Kenntnisse gingen nicht tief, und zudem ist ja alles, was das Buch entwickelt, nur Entwurf und Skizze. Trotz alledem ist mit der Forderung nach einer Psychologie des Dichters und seines Publikums ein neuer und bedeutungsvoller Gesichtspunkt in die deutsche Poetik eingeführt, vermutlich nicht ohne direkte Einwirkung Taines und jedenfalls im Einklang mit ihm. Wieweit er sich für das Gebiet der Poetik fruchtbar erwiesen hat, lassen wir zunächst dahingestellt sein. Auf alle Fälle steht er der früheren, rein objektiven Betrachtungsart, die stets vom fertigen Kunstwerk und seinen Wirkungen ausgeht, bedeutsam gegenüber. Es ist ein Gedanke, der ganz in der Richtung moderner Wissenschaft liegt, und hier ist es denn auch, wo Dilthey am entschiedensten mit Scherer zusammentrifft. Auch Diltheys „Bausteine zu einer Poetik“ (der Obertitel „Die Einbildungskraft des Dichters“ deckt genau genommen nur die erste Hälfte) sind, wie schon der Name besagt, eine Skizze, fragmentarisch entworfen und ungleich ausgeführt. In der Gesamtrichtung tritt entschiedene Verwandtschaft mit Scherers Vorlesungen hervor; ja die persönliche Berührung beider Gelehrten macht sich an mancher Stelle geltend. Wie Scherer verlangt Dilthey von der Poetik, „daß sie den entscheidenden Schritt tue, eine moderne Wissenschaft zu werden“. Auch seine Überzeugung ist, daß eine solche Wissenschaft nur empirisch sein kann. Aber seine Arbeit ist aus einem Guß und frei von dem Sprunghaften des Schererschen Entwurfs; ein einheitlicher Gedankengang beherrscht das Ganze, und von vorneherein zeigt sich Dilthey als der reifere und klarere Denker. Wo Scherer kurzerhand entschieden ist, sieht er die Probleme, die in der Tiefe liegen. So erscheint ihm der Standpunkt, den jener als festen Ausgangspunkt einnimmt, gerade das Grundproblem der Poetik zu enthalten. „Die Aufgabe der Poetik ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind?“ (S. 310). Um diese Frage zu lösen, kann die Poetik einen doppelten Weg einschlagen. „Die einen Ästhetiker gehen von dem Äußeren zum Inneren und leiten aus dem ästhetischen Eindruck die Absicht des Künstlers ab, ihn hervorzurufen, dann hieraus die Entstehung einer Technik, die ihn bestimmt. Die anderen gehen von innen nach außen; sie finden in dem schaffenden Vermögen des Menschen den Ursprung der Regel, und sie müssen dann folgerichtig in dem ästhetischen Eindruck das abgeblaßte Abbild jenes schöpferischen Vorgangs sehen. Wie entscheiden wir diese Streitfrage?“ Jeder von beiden Wegen ist einseitig. „Die Poetik öffne daher beide Tore ihren Erfahrungen soweit als möglich, damit keine Art von Tatsachen oder Verfahren ausgeschlossen werde.“ Also beides ist erforderlich, psychologische Ableitung sowohl wie geschichtliche Induktion. Ihren Ausgangspunkt jedoch muß die Poetik von der „Analysis des schaffenden Vermögens“ nehmen. Denn in den psychologischen Vorgängen ist die allgemeine Natur des Schaffens begründet, aus ihrer Analyse gehen die allgemeinen Prinzipien oder Regeln hervor, welche als die unveränderlichen Normen alles Schaffens betrachtet werden müssen. So enthält denn die erste, größere Hälfte der Abhandlung den Versuch einer solchen Analyse: von den psychologischen Elementarvorgängen aufsteigend, sucht sie das Wesen des dichterischen Vorgangs aufzubauen. Auf diese Weise wird eine Reihe von Gesetzen der schaffenden Phantasie gewonnen, welche, vielfach in naher Verwandtschaft zu Fechners Prinzipien einer objektiv induzierenden Ästhetik und gewissermaßen als die Kehrseite zu denselben, die subjektiven Elemente des dichterischen Schaffens zum Ausdruck bringen; und es werden dann die Eigentümlichkeiten des poetischen Bildens im Vergleich mit den Bildern des Traums und des Wahnsinns veranschaulicht. ─ Nun aber ist Dilthey nicht der Meinung, daß sich aus den so gefundenen Gesetzen allgemeingültige und zugleich spezielle Normen für die Dichtkunst ableiten lassen, oder daß man auch nur die geschichtliche Entwicklung der Poesie aus ihnen allein verstehen könnte. Sein eminenter historischer Sinn kann es nicht übersehen, daß die schöpferische Tätigkeit des Dichters wie ihrem Stoff nach so auch in ihrer Technik ─ das Wort im weitesten Sinne genommen ─ historisch bedingt ist. Daher ändert sich die Methode, nachdem die psychologische Grundlegung der Poetik gewonnen ist und es sich nun darum handelt, die Gebilde und Formen der Dichtung im einzelnen zu erkennen. „Die literarhistorische Empirie hat jetzt die Führung,“ und es „fällt der Psychologie von nun ab nur die zweite begleitende Stimme zu“ (S. 425). Allerdings, auch „die historische Erkenntnis kann in keinem Punkt der psychologischen Erklärung entbehren“, aber die Technik der Dichtkunst ist keine allgemeingültige und kann nicht aus allgemein psychologischen Gesetzen, sondern nur aus der historischen Betrachtung und Analyse des Persönlichen gewonnen werden. Auf diesem Verhältnis beruht einerseits die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der Poetik, andererseits ihr besonderer Wert für die lebendige Kunst jeder einzelnen Epoche. Denn „die Poetik lehrt uns die lebendigen Kräfte der Gegenwart und das Werden einer auf sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen und werthalten, indem sie die geschichtliche Natur der Technik erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur des Menschen fließenden Regeln und den in geschichtlicher Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht“ (S. 475─478). Man sieht, es ist eine umfassende Synthese beider Seiten der bisherigen Entwicklung der Poetik, die Dilthey anstrebt. Objektive und subjektive, geschichtliche und psychologische Auffassung will er gleichmäßig zu ihrem Rechte kommen lassen. Der scharfsinnige Denker hat damit in allem Wesentlichen das wahre Verhältnis bezeichnet. Die Kunst und insbesondere die Poesie bedarf, wenn sie ihrem gesamten Wesen nach zu theoretischem Verständnis gebracht werden soll, einerseits der psychologischen Einsicht in die Bedingungen und Vorgänge des künstlerischen Schaffens, andrerseits einer Lehre vom Kunstwerk, wie es sich objektiv in den geschichtlich entstandenen Gebilden, Arten und Formen ausspricht. Die heutige Literaturwissenschaft neigt mit einer gewissen Einseitigkeit zur psychologischen Betrachtung und Behandlungsart, und die Poetik im Sinne einer objektiven Kunstlehre ist darüber in den Hintergrund getreten. Im Gegensatz dazu ist es belehrend zu sehen, wie gerade in der jüngsten Zeit auf dem Gebiet der bildenden Künste eine rein technische Betrachtungsart, die das psychologische Element mit bewußter Absicht ausschließt, ihre Rechte geltend macht: Hildebrands und Wölfflins Schriften Ad. Hildebrand, Das Problem der Form. 3. Aufl. 1903. Heinr. Wölfflin, Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance. München 1899. stehen im Mittelpunkt des ästhetischen Interesses, und auch Justis Michel Angelo Leipzig 1901. bildet einen lehrreichen Beitrag zu einer induktiven Kunstlehre im engeren Sinne. Aber noch entschiedener ist das Bedürfnis nach einer solchen Betrachtungsart auf dem Gebiet der Dichtung fühlbar, weil ihr Gebiet umfassender und ihre Erscheinungen komplizierter sind als die der Plastik oder der Malerei. In der Tat ist es ja auch dieses Bedürfnis, das die systematische Poetik alten Stils befriedigen wollte, nur daß sie den doppelten Fehler beging, ihre Aufgaben mit der Feststellung äußerlich unterscheidbarer Arten und Formen der Poesie und der Regeln, die sich daraus ergaben, für gelöst zu halten, und diese äußerlichen Unterscheidungen deduktiv aus allgemeinen ästhetischen Begriffen ableiten zu wollen. Beide Fehler wird die neue Poetik meiden. Sie wird zu einem innerlichen Verständnis vorzudringen suchen und sie wird dieses Verständnis auf induktive Weise durch historische Betrachtung begründen. Die Grenzen nun zwischen der Poetik als Kunstlehre in dem bezeichneten Sinne und der gesuchten Psychologie der dichterischen Einbildungskraft wird man noch etwas schärfer und tiefer zu ziehen haben, als es Dilthey getan hat. Denn tatsächlich handelt es sich nicht nur um eine Verschiedenheit der Methoden, sondern auch um einen deutlichen Unterschied der Ziele. Die Geschichte der dichterischen Formen und ihrer Entwicklung hat mit der Psychologie nicht mehr und nicht unmittelbarer zu tun wie die Geschichtswissenschaft überhaupt. Die Feststellung einer inneren Gesetzmäßigkeit psychologischer Natur mag ihr als letztes und höchstes Ziel vorschweben, aber sie wird ihre Kausalerklärungen, wie ja auch Dilthey zugibt, unmittelbar wenigstens nur zum Teil auf eine solche zu gründen vermögen. Der Psychologie des Dichters tritt hier nicht nur die Psychologie des Publikums zur Seite, sondern vielfach auch die Einwirkung äußerer Ursachen, z. B. die technische Eigenart der Bühne oder des rhapsodischen Vortrags, wie sie sich bei den verschiedenen Völkern traditionell entwickelt hat, oder das Verhältnis zur Musik, das für die Ausbildung der metrischen Eigentümlichkeiten entscheidend ist. Daher wird man sich auch hier wohl oder übel auf die bescheidene Aufgabe beschränken müssen, die dem Historiker heute noch auf allen Gebieten vorgezeichnet ist: den tatsächlichen Zusammenhang der Erscheinungen festzustellen, ohne auf seine letzten Gesetze einzugehen, und man wird nicht glauben dürfen, daß man mit der psychologischen Erklärung das ästhetisch technische Gebiet bewältigen könne. Es wäre daher ratsam ─ weil unzweideutiger ─ beide Untersuchungsarten auch äußerlich zu scheiden und der neueren Wissenschaft einen selbständigen Namen beizulegen, der zugleich das gesamte Gebiet kenntlich macht, dem sie angehört, etwa Psychologie (oder auch Ästhetik) der Dichtkunst. Will man sie aber gleichwohl unter die Gesamtbezeichnung Poetik mit einbegreifen, so würde sie als subjektiver oder psychologischer Teil von der objektiven Kunstlehre zu scheiden sein. Werden wir uns nun das Ziel stecken dürfen, mit den folgenden Untersuchungen beide Seiten der Gesamtwissenschaft zu umspannen, ungefähr in Diltheys Sinne die Poetik als Kunstlehre, wenigstens in einer teilweisen Abhängigkeit von der Ergebnissen einer Psychologie der Dichtkunst zu behandeln? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuvörderst noch etwas näher auf das Wesen einer psychologischen Poetik eingehen und die Vorfrage erledigen, wie weit es bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft möglich ist, ihr eine selbständige Ausgestaltung zu geben. 4. Poetik als Psychologie der Dichtkunst. Fassen wir die Ergebnisse unserer letzten Betrachtung noch einmal zusammen. Wie die Ästhetik der Romantiker und der Hegelschen Schule Metaphysik des Schönen sein wollte, so will die heutige Ästhetik Psychologie des Schönen sein. Ihr letztes Ziel ist, die psychologischen Gesetze festzustellen, auf denen unsere ästhetischen Empfindungen und Urteile beruhen. Denn ihre Grundlage bleibt die Erkenntnis, daß diese Urteile und Empfindungen durch die subjektive Veranlagung des Menschen bestimmt werden und nicht durch irgend ein objektives oder absolutes Prinzip der Schönheit; mit anderen Worten: daß ästhetische Eindrücke und Wirkungen in der psychischen Natur des Menschen ihre Erklärung finden. Die psychologische Tendenz der heutigen Poetik erhält nun aber ein noch bestimmteres Gepräge dadurch, daß sie im allgemeinen nicht, wie frühere Epochen getan haben, den Wirkungen des Dichtwerks, sondern seiner Entstehung nachgeht und aus dem Prozeß in der Seele des Dichters die Eigenart der einzelnen Dichtungen wie der Poesie überhaupt erklären will. Ihre Verallgemeinerungen münden nicht in die ästhetischen Kategorien des Schönen, Erhabenen u. s. w., sondern in die psychologischen der Phantasie überhaupt und der dichterischen Einbildungskraft insbesondere. Den Zusammenhang der produktiven Phantasie mit der Gesamtanlage der dichterischen Individualität will sie ergründen und auf diese Weise zugleich der allgemeinen psychologischen Forschung, soweit sie der Phantasietätigkeit gilt, und der Individualpsychologie fruchtbare Dienste leisten. Die Einsicht in das Seelenleben des Dichters und in das Wesen seiner produktiven Kraft ist das Ziel, das sich nicht nur die Poetik als solche, sondern in Abhängigkeit von ihr auch die heutige Literaturwissenschaft, wenigstens soweit sie die neuere Zeit behandelt, gesteckt hat. Es erhebt sich nunmehr die Frage, wie weit die Wissenschaft der Gegenwart nach ihren Mitteln und Methoden imstande ist, so hoch gesteckten Zielen nahe zu kommen. Und da zeigt es sich bald, daß sich ihrem Wege eine Reihe von Schwierigkeiten entgegenstellt, die, wenn nicht als dauernd unüberwindlich, so doch als vorläufig entscheidende Hemmnisse betrachtet werden müssen. Auf welches Material ─ so müssen wir zunächst doch wohl fragen ─ kann eine Psychologie der Dichtkunst sich stützen? Welche Mittel stehen ihr zu Gebote, um zu einer induktiven Erkenntnis der dichterischen Einbildungskraft zu gelangen? Die erste Erkenntnisquelle des Psychologen, die unmittelbare Beobachtung, sei es an der eigenen Person, sei es an anderen, versagt hier so gut wie vollständig. Den Dichter selbst bei seiner schöpferischen Tätigkeit zu belauschen, diese Tätigkeit so genau zu verfolgen, daß der innere Vorgang, ich will gar nicht sagen lückenlos, aber doch wenigstens in seinen Hauptphasen klar zutage tritt, ist wohl noch niemals einem Beobachter gelungen, am wenigsten einem psychologisch geschulten; nur durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von Umständen wäre das in einem einzelnen Falle einmal möglich, der dann wissenschaftlich auch noch nicht viel begründen könnte. Und die Selbstbeobachtung kann den, der nicht Dichter ist, über das Wesen des dichterischen Schaffens niemals belehren. Es ist ein eigentümlich schiefer Gedanke Scherers, daß sich aus den gemeinverständlichen Elementen, welche im dichterischen Prozeß mit unterlaufen, und die jeder nacherleben kann, Aufschluß über das Wesen des schöpferischen Vorgangs ergeben soll (siehe oben S. 18). Denn was wir suchen, ist ja eben das, was der schöpferische Geist allein erlebt und vor jedem anderen voraus hat. Auch gibt das Scherer selbst zu, aber er gerät dadurch offenbar in einen Widerspruch; denn eine Erscheinung ist doch noch nicht verstanden, wenn man einige ihrer Faktoren kennt, andere aber und noch dazu die wesentlicheren nicht. Das methodische Prinzip, das in seinem Satze liegt, ist irreführend und hat tatsächlich Verkehrtheiten hervorgerufen. Es bleibt somit einzig noch die Möglichkeit, daß der Selbstbeobachter zugleich Dichter ist, oder anders ausgedrückt, ein Dichter selbst sich oder anderen Rechenschaft über den Vorgang ablegt, durch den seine Werke zustande kommen. Bekanntlich besitzen wir eine Reihe solcher Selbstzeugnisse in Tagebüchern, Briefen und mündlichen Äußerungen, und die moderne Literaturwissenschaft verfehlt denn auch nicht, ein besonderes Gewicht auf diese zu legen, an sich gewiß nicht mit Unrecht, eben weil hier der einzige Zugang zur Lösung des Problems zu liegen scheint. Allein auch hier sind von vornherein erhebliche Einschränkungen und Vorsichtsmaßregeln geboten. Kein Dichter beobachtet sich mit der Unparteilichkeit und objektiven Sachlichkeit eines wissenschaftlichen Psychologen, keiner mit dem Interesse an der lückenlosen Vollständigkeit und Verständlichkeit des Vorgangs, das den wissenschaftlichen Methoden allein eignet. Ja, mehr als das: selbst die Möglichkeit einer solchen Beobachtung erscheint ausgeschlossen. Die Momente höchster Steigerung der geistigen Kräfte sind immer, daran kann gar kein Zweifel sein, Momente höchster Konzentration. Die schöpferische Tätigkeit, welche die geistigen Kräfte mehr als jede andere anspannt und steigert, schließt mithin jede einigermaßen stetige und zusammenhängende Selbstbeobachtung aus, und der Dichter kann über diese Zustände und Erlebnisse nur aus der Erinnerung berichten. Diese Quelle aber erscheint noch besonders getrübt, weil ─ gerade darin stimmen die größten produktiven Künstler überein ─ die dichterische Konzeption immer in einem Zustand von Selbstvergessenheit vor sich geht, den größten physischen und psychischen Erregungen des Lebens, dem Rausch oder den Sexualaffekten vergleichbar. Selbsttäuschungen sind daher bei solchen nachträglichen Reflexionen in keiner Weise ausgeschlossen. Wir können sie bisweilen mit Händen greifen und ihre Quelle, wenigstens hypothetisch, nachweisen; aber auch wo das nicht der Fall ist, werden wir nicht mehr erwarten dürfen als Mitteilungen oder Bemerkungen über einzelne Züge des Vorgangs, die sich etwa dem Dichter als persönlich wichtig aufdrängen. Solche einzelne Streiflichter aber, auch wenn sie Wesentliches treffen, sind noch keine erschöpfenden Beobachtungen, aus denen man den ganzen Vorgang erschließen und erklären könnte. Versucht man gleichwohl, sie zu umfassenderen Zwecken auszunutzen, so gerät man zumeist auf schiefe Bahnen. Gerade einige der am meisten angeführten und benutzten Selbstzeugnisse unterliegen diesen Bedenken. Zwei derselben mögen als Beispiele angeführt werden. Otto Ludwig hat sein dichterisches Verfahren bekanntlich wiederholt und ausführlich geschildert. Aus den drei Berichten, die er uns darüber zurückgelassen hat, seien hier die beiden wichtigsten im Auszug angeführt. Zunächst heißt es in den Shakespearestudien S. 303 f.: „Nun ist mir das Rätsel meines früheren Schaffens psychologisch gelöst. Erst bloße Stimmung, zu der sich eine Farbe gesellte, entweder ein tiefes, mildes Goldgelb, oder ein glühendes Karmoisin. In dieser Beleuchtung wurde allmählich eine Gestalt sichtbar, wenn ich nicht sagen soll, eine Stellung, d. h. die Fabel erfand sich, und ihre Erfindung war nichts anderes als das Entstehen und Fertigwerden der Gestalt und Stellung. Aber diese war so sehr Hauptsache, d. h. diese genau begrenzte lebendigste Anschauung eines Menschen in einer gewissen Stellung, daß, sowie das mindeste daran unbestimmt wurde, meine Fabel und meine Intentionen sich verwirrten, und ich selber nicht mehr wußte, trotz möglichst detailliert aufgeschriebenen Planes, was ich wollte, wo dann, wenn ich mich zum Arbeiten doch zwang, die Einzelheiten für sich selbst ins einzelnste zaserten und eine Menge Detail hineinschwoll in üppiger Anarchie. Jenes Farben- und Formenspektrum, welches mich, solange es in klarster Sinnlichkeit dastand, in jedem Augenblick und in den heterogensten Umgebungen und Beschäftigungen wie ein Mahner umschwebte und mein ganzes Wesen in Aufregung setzte, in einen Zustand, ähnlich dem einer Schwangeren, der Geburt nahe und in der Geburtsarbeit, ein liebend Festhalten und doch Hinausdrängen des, was vom eigenen Wesen sich losgelöst hat, Ding für sich geworden ist. Nun weiß ich, was jene Gestalt und ihre Gebärde war: nichts anderes als der sinnlich angeschaute, tragische Widerspruch; der eine Faktor die Gestalt, die Existenz (der Grund davon), der andere die Gebärde. Der sinnlich angeschaute prägnante Moment, in welchem am schärfsten Kontraste die Einheit erscheint. Sonderbar, jetzt, wo ich von dem Allgemeinen ausgehe, von den Gesetzen der Gattung, wie sie mir ein sorgfältiges Studium gelehrt, folgt jene Erscheinung, jenes Spektrum der Feststellung des Planes oder dem vollständigen Entwurfe der Fabel. Mein Albrecht stellt sich mir nun als solches psychologisches oder vielmehr pathologisches Formen- und Farbenspektrum dar, als eine sanfte Existenz in gewaltsamer Gebärde (Zorn in Gestalt von Leiden), die Agnes als sittige Gestalt in leidenschaftlicher Gebärde. Resignierter Trotz auf dem Grunde der Humanität, leidenschaftliches Bedürfnis auf dem Grunde ruhiger Schönheit. Der Erbförster, der Judah und die Leah, auch selbst die Heiterethei schwebten mir in solchen Anschauungen vor, das glühende Gefühl für Recht im Momente, wo es Unrecht tut; darin liegt alles Vorher und Nachher. Beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie stand dies Bild plötzlich vor mir, in glühend karmoisinem Lichte, wie in bengalischer Beleuchtung, eine Gestalt, die mit ihrer Gebärde im Widerspruch, ohne daß ich es noch wußte, wer die Gestalt, noch was ihr Tun sei. Das wurde mir erst allmählich klar, wie die Fabel entstand, wobei mein Wille und alle bewußte Tätigkeit sich ruhig und passiv verhielten.“ Und im Nachlaß des Dichters I 45 heißt es: „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander, und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, schließen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den Inhalt aller einzelnen Szenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge willkürlich reproduzieren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Gebärden auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe. Nun geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu muß ich das Vorhandene mit kritischen Augen ansehen. Ich suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die, mir unbewußt, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such' ich ebenso die Gelenke der Handlung, um den Kausalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.“ Man sieht, der Dichter versucht hier bis ins einzelne hinein den Zusammenhang seines Verfahrens oder richtiger seiner inneren Erlebnisse wiederzugeben. Aber niemand wird sich dem Eindruck verschließen können, daß in dieser Selbstschilderung zwar einige Punkte deutlich hervortreten, wie die Farbenempfindung vor und während der Konzeption, daß aber der Vorgang im ganzen in einem schwankenden Zwielichtbleibt, welches keinen klaren Einblick ermöglicht. Soweit man nämlich aus dem Gesagten ein Bild gewinnen kann, ergibt sich, daß der Dichter zunächst eine einzelne Gestalt oder eine Gruppe, „eine charakteristische Figur in einer pathetischen Stellung“ erblickt, die eine Szene der Dichtung darstellt; hieran sollen sich dann nach vor- und rückwärts die übrigen Szenen, in derselben visionären Art plastisch erblickt, anschließen, ohne daß der Dichter sich des inneren Zusammenhangs irgendwie bewußt wäre; denn diesen sucht und findet er erst nachher und zwar „mit kritischen Augen“. Es liegt also zunächst ein visionäres Erlebnis vor, das dann verstandesmäßig gedeutet wird. Nun ist es wohl denkbar, daß sich der Vorgang so, wie geschildert, zuträgt, wo es sich um ein einzelnes Bild, eine bestimmte Szene handelt, die entweder für sich allein den Inhalt einer Dichtung bildet, oder an die sich die weitere Erfindung anschließt. In Edgar Allan Poes novellistischen Schilderungen ─ man denke an die „Maske des roten Todes“ oder „den Untergang des Hauses Usher“, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen, in Andersens Märchen ─ ist das zweifellos häufig der Fall; auch in Konr. Ferd. Meyers Novellen scheint nicht selten solch ein visionär gesehenes Bild den Ausgangspunkt zu bilden, ─ man denke an die Schlußszene in Jürg Jenatsch oder in der Richterin. Wie aber auf die von Ludwig geschilderte Weise eine große psychologisch entwickelnde Dichtung zustande kommen soll, ist sicherlich nicht einzusehen. Schon daß der Dichter den „tragischen Widerspruch“ im Ausdruck seiner Gestalt sinnlich angeschaut haben will, ohne ihn seinem Inhalt nach zu kennen, ist schwer glaublich; auch sagt er ja gelegentlich von seiner Bernauerin das Gegenteil. Noch schwerer verständlich aber ist der weitere Vorgang. Denkbar ist, daß den Ausgangspunkt für den Dichter eine einzelne gesehene Situation oder Gestalt bildet; wie sich daran aber Bilder reihen sollen, ohne daß ein Zusammenhang mit jenem ersten sie heraufführte oder doch, ohne daß dieser Zusammenhang dem Dichter irgendwie zum Bewußtsein käme, ist mindestens nicht verständlich. Denkbar ist, daß bei einem frei erfundenen Stoff, wie „Zwischen Himmel und Erde“, die erste Konzeption als halluzinatorisches Bild auftritt; nach dem Anblick etwa eines hohen Turms bildet die Phantasie des Dichters zwei Männer auf der Höhe: der eine sucht in jähem Anlauf den andern herunterzureißen und stürzt, da jener ausweicht, an ihm vorbei in die Tiefe. Sieht nun aber der Dichter auf dem gleichen Turm einen dritten oder einen beliebigen Mann unter Lebensgefahr die brennenden Dachsparren herabreißen, oder sieht er denselben, der vorher der Überlebende war? Offenbar ist das letztere gemeint. Dann aber muß ein innerer Zusammenhang bereits zugrunde liegen. Der Held sühnt den Tod des Bruders, den er selbst nicht verschuldet, durch eine Heldentat an der Stelle, wo die Katastrophe vor sich ging. ─ Es ist dasselbe Weib, die Mutter der Makkabäer, seine gewaltige Leah, die der Dichter sich in königlichem Stolze zum Siegesreigen erheben sieht, die nachher, hilflos an den Baum gebunden, nach ihren weggerissenen Kindern ohnmächtig die Arme ausstreckt und die endlich an der Marterstätte ihrer Söhne sich zum höchsten Heldentum emporrafft. Solche Bilder können, wenn sie einmal aufgetaucht sind, so lebendig in den Einzelheiten, so halluzinatorisch greifbar werden, daß ihre Bedeutung für den Augenblick in dem Bewußtsein des Dichters zurücktreten mag, daß er sozusagen nur inneres Auge ist und sich auf die Bedeutung und den Zusammenhang dessen, was er sieht, zurückbesinnen muß. Daß sie aber unabhängig von diesem Zusammenhang in ihm auftauchen sollen, so daß er ihre Deutung erst nachträglich suchen und finden müßte, ist, wenn nicht unglaublich, so doch jedenfalls verstandesmäßig nicht begreiflich und daher auch nicht als psychologische Einsicht verwertbar. Otto Ludwig selbst scheint darüber keine rechte Klarheit zu besitzen; braucht er doch den verräterischen Ausdruck: „die Idee, die mir unbewußt die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war“. Über nichts aber dürfte eine Selbsttäuschung leichter möglich sein als über die halb bewußten Vorstellungen, welche äußere Wahrnehmungen oder innere Anschauungsbilder begleiten, wie überhaupt über das Maß von Bewußtheit, von dem innere Vorgänge begleitet werden. Und um so leichter wird diese Selbsttäuschung, wie jede andere, aufkommen, wenn sie durch ein persönliches Interesse gefördert wird. Ein solches liegt aber sehr wahrscheinlicherweise hier vor. Das unbewußte Produzieren erschien seit Schillers naiver und sentimentalischer Dichtung, seit den Theorien der Romantiker als das Zeichen der eigentlichen Dichterkraft, und daß gerade ein reflektierender Dichter, wie Otto Ludwig, die bewußten oder halbbewußten Elemente seiner Phantasietätigkeit besonders betonte, in ihnen die Bürgschaft für sein dichterisches Vermögen sah und daher sich gern überredete, daß sie die wesentlichsten Momente seiner dichterischen Art zu schaffen bildeten, ist sehr begreiflich. Bedenken erweckt es schon, daß er im weiteren Verlauf der zweiten Stelle einen mißbilligenden Seitenblick auf Hebbel wirft, in welchem er mit Recht oder Unrecht einen ausschließlich verstandesmäßigen Dichter sah. Es ist mithin mindestens unvorsichtig, wenn man seine Aussagen in diesen Punkten unbesehen hinnimmt, noch unrichtiger freilich, wenn man sich überreden will, hier ein psychologisch klares Bild des dichterischen Vorganges zu erhalten. Ein anderes, noch bedeutsameres Beispiel eines Selbstzeugnisses bietet uns Goethe. Bekanntlich hat er in einer Anzahl von Äußerungen, teils prinzipieller, teils gelegentlicher Natur, einen besonderen Ton auf den Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und seinen Dichtungen gelegt. Am berühmtesten ist die folgende Äußerung zu Eckermann am 18. September 1823: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“ Noch bestimmter spricht sich Goethe über die Entstehungsart seiner Gedichte im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit aus: „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Lebeu über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Inneren deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.“ Wie ein Paradigma endlich zu diesen allgemeinen Sätzen liest sich, was er (Dichtung und Wahrheit, Buch XIII) über die Entstehung des Werther erzählt: „Ich hatte mich durch diese Komposition mehr als durch jede andere aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigene und fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste Art hin und wieder getrieben worden. Ich fühlte mich wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen. Wie ich mich aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben“, u. s. w. Man ist versucht, daran zu zweifeln, daß die dichterische Eigenart, wie sie der Sechzigjährige hier rückschauend schildert, in der Tat schon bei dem siebzehnjährigen Studenten zur Entfaltung gelangt ist, wie denn auch die Leipziger Lieder im allgemeinen nicht eben der unbefangene Ausdruck innerer Erlebnisse zu sein scheinen. Man möchte vielmehr glauben, daß diese Eigenart erst unter dem entscheidenden Einfluß der Straßburger Epoche, durch welche die erste Vollblüte des jugendlichen Genius gezeitigt wurde, zum Durchbruch kam. Allein, sehen wir von dem Zeitpunkt ab, so ist an der Tatsache selbst kein Zweifel möglich. Der innere Drang, sich vom Druck leidenschaftlicher und schmerzlicher Zustände zu befreien, den ihm äußere und innere Erlebnisse auferlegt haben, ist es, der den Dichter zu seinen Schöpfungen treibt. Diese Schöpfungen entstehen mithin durch eine Art Umsetzung jener Zustände und Erlebnisse. Hier tritt also in einem klaren und faßlichen Selbstbericht ein psychologischer Grundzug des schaffenden Vermögen unseres größten Dichters scharf umrissen zutage. Daß sich die wissenschaftliche Behandlung Goethes zu einer ihrer Aufgaben macht, diesen Zug in den einzelnen Werken des Dichters nachzuweisen, ist durchaus berechtigt. Daß sie zu diesem Zweck die Beziehungen zwischen Leben und Dichtung feststellen und hervorheben muß, leuchtet ein. Nun aber hat die Goetheforschung der letzten Jahrzehnte diese Aufgabe mit einer Einseitigkeit ins Auge gefaßt und verfolgt, als ob mit ihr das ganze Wesen der Goetheschen Dichtung beschlossen sei. Auf diesem Wege gelangt man zu eigentümlich schiefen und jedenfalls sehr unpsychologischen Gleichsetzungen, die uns in der modernen Goetheliteratur überall entgegentreten. Ich habe ein paar Beispiele davon im Goethejahrbuch 1905 zusammengestellt. „Tasso ist Goethe seiner innersten Neigung und Anlage nach; ─ aber auch Antonio ist Goethe; ─ Goethe hat im Widerstreit der beiden Gestalten, die sich unerbittlich abstoßen, die Unverträglichkeit der beiden Rollen dargestellt, zu denen er während der zehn Jahre verurteilt war.“ (Hermann Grimm.) „Ich halte für sehr wahrscheinlich und stehe mit dieser Meinung nicht allein, daß Orest niemand anders ist als Goethe selbst.“ (Scherer.) „Sich und seine Eltern hat Goethe unter der Maske Hermanns und des Wirtspaares in der Erscheinung von 1775 festgehalten; Lilli unter der Maske Dorotheens noch als Jungfrau, aber mit der Reife und dem Schicksale der Revolutionszeit.“ (Bielschowsky.) Hermann Grimm sagt einmal: „Seine Fabeln, auch wenn sie aus den persönlichsten Erfahrungen entstanden, sind ja niemals bloß verhüllte Wiederholungen des Erlebnisses, sondern gestalteten sich, je mehr ihr Wachstum sich ausbreitete und abrundete, zu neuen Schöpfungen, deren letzte Vollendung eben darin besteht, daß der Charakter des Erlebten, auf dem zuerst alles beruhte, zuletzt völlig vernichtet wird.“ Es kann nichts Richtigeres geben als diesen Satz ─ aber wie wenig hat Grimm selber, wie wenig haben seine Nachfolger die Konsequenzen daraus gezogen! Hat ein großer Dichter wirklich nichts anderes zu tun, als nach dem Rezept des Heineschen Schöpfungsliedes: „Ich der Herr kopier mich selber“, sich und seine Umgebung immer unter neuen Masken darzustellen? Wie ist denn eigentlich der „Prozeß der Selbstbefreiung“ zu denken, den Goethe im Auge hat? Nur eben darin, daß er ausspricht, was ihn bedrückt, ausspricht, wie andere Menschen auch, wenngleich reicher und schöner? Aber hierdurch kann er wohl eine augenblickliche Erleichterung, schwerlich jedoch dauernde Befreiung erzielen, wie denn auch an der berühmten Stelle am Schluß des Tasso Melodie und Rede nur als ein Mittel, den tiefsten Schmerz zu klagen, nicht ihn zu überwinden, bezeichnet wird. Auch das kann nicht das Entscheidende sein, daß der Dichter etwa fremden Personen in den Mund legt, was er selbst empfindet. Vielmehr besteht der Vorgang offenbar darin, daß er das, was sein Inneres erregt und erfüllt, zu bestimmter Gestaltung formt, eben hierdurch von sich ablöst und nunmehr das, was in ihm war, das subjektiv Empfundene, gleichsam als ein Fremdgewordenes außer sich objektiv schaut. Durch diese Loslösung vom Persönlichen wird zugleich das Individuelle ins Allgemeine, das Einzelne und Zufällige zum Typischen erhoben: der spezielle Fall wird allgemein und poetisch, wie Goethe zu Eckermann sagt. So ist es verständlich, daß der Dichter sich befreit fühlt, sei es, daß er wie sein Prometheus Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, sei es, daß er in den Melodien und Bildern seiner Lyrik ausdrückt, was ihn erfüllt. Ich darf jedoch nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß A. Riehl (in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie Band 21 und 22) und im Anschluß daran Emil Geiger (Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik, Halle 1905) darlegen, daß zwischen dem inneren Erlebnis zumal leidenschaftlicher Art und dem dichterischen Schöpfungsakt stets ein größerer oder geringerer Zeitabstand liegen müsse. „In der unmittelbaren Empfindung der Leidenschaft“, sagt Riehl, „löst sich kein Lied von der Seele des Dichters. Lust und Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Lied neues Leben empfangen können, ein Leben, wie das in der Erinnerung.“ Und Geiger betont gleichfalls, „daß Erleben und Produzieren niemals zeitlich zusammenfallen“. Er stützt diesen Satz auf eine Reihe von Selbstzeugnissen, unter denen neben der bekannten Stelle aus Schillers Bürgerrezension besonders der Satz Jean Pauls hervortritt: „Keine Hand kann den poetischen lyrischen Pinsel festhalten und führen, in welcher der Fieberpuls der Leidenschaft schlägt.“ Mit Recht betont Geiger die Wichtigkeit dieser Erkenntnis für die Charakteristik der Gelegenheitsdichtung: ist sie richtig ─ und es erscheint das im psychologischen Sinne höchst annehmbar ─, so würde die Dichtung nicht ein Mittel zur Selbstbefreiung, sondern vielmehr ein Symptom der wieder errungenen Freiheit sein und Goethes Bekenntnis auf einer Selbsttäuschung beruhen. Ein neuer Beweis von dem zweifelhaften Werte solcher Zeugnisse. Hier also tritt ein tätiges, schöpferisches Moment deutlich hervor, und so lange die Forschung sich dieses Moments nicht bemächtigen kann, es nicht aufzuhellen vermag, hat sie wenig mehr als eine Vorarbeit geleistet, wenn sie die Beziehung zwischen Erlebnis und Dichtung feststellt. An diesem entscheidenden Punkt nun aber lassen uns die Selbstzeugnisse des Dichters im Stich, und nur ganz gelegentlich fällt ein oder das andere Streiflicht darauf. Goethe sprach gerne von seinem „nachtwandlerischen Schaffen“. Er liebte bekanntlich keine Selbstanalysen, ja auch die bisher besprochene Beobachtung soll keine Darstellung seiner Produktionsweise sein, sondern, wie sich aus dem Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit deutlich ergibt, nur den Punkt hervorheben, in dem sich der Dichter am schärfsten von seinen Vorgängern unterschieden wußte. Begreiflich ist es nun allerdings, daß die Goetheforschung sich mit dem Erreichten oder nur vorläufig Erreichbaren begnügt; aber ein richtiges oder gar vollständiges Bild des psychologischen Geschehens kann auf diese Weise nicht zustande kommen. Man sucht den Menschen im Kunstwerk und vergißt darüber den Künstler. ─ Erweist sich somit das Material, das der psychologischen Poetik zu Gebote steht, als unzulänglich, so zeigt sich nun auch die Methode selbst, nach der die heutige Wissenschaft versucht hat und allein versuchen konnte, das Problem des dichterischen Schaffens zu erklären, zur Bewältigung dieses Problems nicht zureichend noch geeignet. Diese Methode löst die Dichtung in eine Summe von Bestandteilen auf, die nacheinander in das Bewußtsein des Dichters eingetreten sein und dort in allmählichem oder auch plötzlichem Zusammenschluß das Kunstwerk gebildet haben sollen: persönliche Erlebnisse, Einwirkung literarischer Vorbilder, künstlerische Überlieferung. Hat der Forscher die Summe dieser Bestandteile in der Hand, so glaubt er die Entstehung der Dichtung zu kennen und damit das psychologische Verständnis zu besitzen. Man höre etwa, wie Bielschowsky, Goethes Leben, Band II, 374, die Entstehung des Liedes an den Mond beschreibt. „Am 16. Januar 1778 hat sich eine junge Dame aus dem Weimarischen Hofkreise, Christel von Laßberg, in der Ilm, nahe bei Goethes Gartenhause, aus unglücklicher Liebe ertränkt ─ wie man sagte, mit dem Werther in der Tasche. Goethe war tief ergriffen von diesem Fall und war ,einige Tage in stiller Trauer um die Szene des Todes beschäftigt'. Seine Gedanken halten sein sonst bewegliches, glühendes Herz wie ein Gespenst an den Fluß gebannt. Ein Druck liegt wochenlang auf ihm. Er verstärkt sich, da Frau von Stein sich vor ihm verschließt. Aber bei Beginn des neuen Monats wendet die Geliebte sich ihm wieder zu, und in ihrem Besitze glücklich, bemerkt er gern seine ,fortdauernde, reine Entfremdung von den Menschen'. Ein Spaziergang mit ihr im Mondenscheine vollendet diese schöne reine Stimmung, seine Seele fühlt sich endlich wieder ganz befreit von dem Druck und der Spannung der letzten Wochen. Die ersten vier Strophen des Mondliedes in seiner ursprünglichen Gestalt kristallisieren sich. Es vergehen wieder einige Tage. Am 22. Februar besucht ihn Plessing, der sich ,Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank', und in erbitterter Entfremdung verborgen lebt. Damit sind auch die letzten Strophen gewonnen, die der Dichter an Plessing, an Frau von Stein und an sich selbst gerichtet. Sie lenken zugleich wieder zu Christel von Laßberg zurück, der es nicht vergönnt war, mit einem Manne das Beste des Lebens zu genießen.“ Man sieht, die Entstehung des Gedichts erscheint in dieser (übrigens völlig hypothetischen) Schilderung als ein rein assoziativer Prozeß und die Phantasie des Dichters als ein passives Medium, durch das die Erlebnisse hindurch gehen, um künstlerische Form zu gewinnen. Dementsprechend wäre die Dichtung selbst ein wesentlich assoziatives Gebilde, in dem sich innere und äußere Erlebnisse aneinander reihen. Tatsächlich gibt es nun auch Gedichte, auf die diese Bestimmung paßt. Abgesehen von manchen Produkten der modernen Lyrik, ist Wanderers Sturmlied ein Muster dieser Gattung. Goethe selbst bezeichnet es als „Halbunsinn“ und beschreibt seine Entstehung folgendermaßen: „Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine unter dem Titel ,Wanderers Sturmlied' übrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterwegs traf, dem ich entgegengehen mußte.“ (Dichtung und Wahrheit, Buch XII.) Aber gerade dieses Gedicht und das Urteil des Dichters darüber zeigt deutlich, wie weit der Abstand zwischen einer Improvisation dieser Art und einem wirklichen Kunstwerk ist. Denn ein solches ist, wie schon der Name sagt, stets das Werk des Könnens und des Wollens. Jede Dichtung setzt so gut wie ein Gemälde, eine Bildhauerarbeit, eine schöpferische Tätigkeit voraus, an der Wille und Kraftanspannung einen zum wenigsten nicht geringeren Anteil haben als die Assoziationen, durch welche die Phantasie befruchtet wird. Ein gelegentlicher Einfall, ein kleines lyrisches oder auch episches Gedicht, das unmittelbar den Eindruck widerspiegelt, dem es seine Entstehung verdankt, ist wohl ohne eine solche Tätigkeit denkbar und kann gleichwohl bei einem genialen Dichter bisweilen eine hohe Vollendung zeigen, wie das bei einigen Gedichten Goethes, z. B. den Nachtliedern des Wanderers, schon im ersten Entwurf der Fall ist. Jede größere Dichtung aber, die einen weiteren Zusammenhang von Empfindungen und Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ihrer Entstehung wie ihrem Wesen nach viel zu verwickelt, als daß eine so einfache Erklärungsweise nicht unzulänglich, ja naiv erscheinen sollte. Die genetische Erklärung eines solchen Dichtwerks wird daher zunächst zwischen der Konzeption und der Ausführung als den beiden wesentlichen Phasen des dichterischen Prozesses zu scheiden haben. Die Konzeption ist ein Moment seliger Empfängnis; so wenigstens schildern sie fast übereinstimmend die Dichter selbst: der Gedanke dessen, was werden soll, steht plötzlich wie ein fertiges „Bild vor dem entzückten Blick“ des Künstlers. Dieser Gedanke erscheint ihm nicht als ein lockeres assoziatives Gebilde, sondern als eine durchaus einheitliche Gesamtanschauung, in welcher er das Ganze des Werks, das in seiner Seele entsteht, intuitiv erblickt und überschaut. Hiermit aber verbindet sich nun die bestimmte künstlerische Absicht, den Gegenstand dieser Intuition objektiv darzustellen: der Dichter will das, was ihm lebendig und anschaulich vor der Seele steht, anderen ebenso anschaulich und lebendig machen. Hierzu bedarf er der Formen und Ausdrucksmittel seiner Kunst. Diese Absicht bildet das gestaltende Prinzip der Dichtkunst im Ganzen und in den Einzelheiten, und eben diese Gestaltung ist es, was wir künstlerische oder bildende Tätigkeit nennen und was die dichterische Kraft und Gabe von dem bloßen Spiel einer träumenden Einbildung unterscheidet, deren auch viele Nichtdichter fähig sind. Wenn also die erste Konzeption als ein passives Geschehen in der Seele des Dichters erscheint, so liegt in der Ausführung stets ein aktives Moment. Ist die Konzeption nichts als ein Erlebnis der Phantasie, so beruht die Ausführung auf einer planvollen Tätigkeit, in welcher Willensakte und assoziative Vorgänge beständig ineinander greifen; zahllose Willensakte, die doch eine einheitliche Zwecksetzung regiert, vielfältige Assoziationen, welche eben hierdurch wie an unsichtbaren Fäden gelenkt werden. Das künstlerische Schaffen ist eine Arbeit, die, wie wir aus zahlreichen, in diesem Punkte gewiß vollgültigen Zeugnissen wissen, vom Künstler als Mühe, bisweilen als Pein empfunden wird, ─ sehr im Gegensatz zu dem stillen Behagen der träumerischen Phantasie oder der gewaltig erregenden Wollust der ersten Konzeption. Diese Arbeit empfängt Sinn und Zweck nur durch die Rücksicht auf ein Publikum, sei es, daß dem Dichter, wie Schiller, eine ganze Nation, sei es, daß ihm, wie Goethe, nur einzelne Hörer, ein Freund, die Geliebte, vorschweben. Eine seltsame, ja paradoxe Tatsache! Die Dichtung und ihre Form wachsen organisch aus der Konzeption hervor, und doch ist dies Wachstum nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu denken ohne den natürlichen Drang des Dichters, sein inneres Schauen und Hören anderen zugänglich zu machen. Die Charaktere, die er schafft, leben ihr eigenes Leben; aber sie zeigen nur so viel davon, als es nötig ist, um dieses Leben Zuschauern zum Verständnis zu bringen. Die Verse, die er formt, scheinen ganz in sich selbst zu ruhen, und doch sind sie für die Stimme des Sängers, des Vorlesers geschaffen, der sie anderen zu Gehör bringen soll. Dieser ganze Prozeß nun aber ist so wenig durchsichtig, so vielfältig verwickelt, daß die heutige Psychologie mit den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, nicht daran denken kann, ihn auf ein einfaches Schema zurückzuführen und auf diese Weise verständlich zu machen. Und am wenigsten reichen die assoziativen Vorgänge, die der schaffenden Arbeit vorhergehen und den Stoff für sie bilden, aus, um die produktive Tätigkeit selbst zu erklären, ebensowenig wie man auf dem Gebiete des Willenslebens überhaupt mit der Zurückführung auf Assoziationsprozesse durchkommt, was nur eine rationalistisch einseitige Psychologie für erreichbar hielt. Ohne Willenstätigkeit ist eine schöpferische Phantasie ebenso wenig denkbar, wie der schöpferische Wille eines großen Staatsmanns oder Feldherrn ohne Phantasie denkbar ist. Alle Versuche also, der Psychologie des dichterischen Schaffens durch die Untersuchung der dichterischen Assoziationen und ihrer Entstehung beizukommen, bleiben notgedrungen einseitig und an der Außenfläche. Und alle noch so geistvollen und scharfsinnigen Betrachtungen oder Untersuchungen über die Verwandtschaft der Dichterphantasie mit Traum und Wahnsinn liefern nur Analogien, die den Kern der verglichenen Vorgänge nicht erreichen; denn der schöpferisch gestaltende Wille des Dichters hat weder im Traum noch im Wahnsinn seinesgleichen. Die Verwandtschaft des dichterischen Schaffens mit dem Traumleben hat Carl du Prel besonders betont (Psychologie der Lyrik, Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie, Leipzig 1879). Er bringt in den ersten Abschnitten manche interessante Beobachtung und viel fleißig zusammengetragenes Material. Doch ist seine Tendenz durchaus aufs Metaphysische gerichtet, und charakteristisch sind Wendungen wie die: „Der Traum ist ohne Zweifel ein potenziertes Seelenleben“; wodurch denn die wissenschaftliche Bedeutung des Buches stark beeinträchtigt wird. Gewiß, auch solche Untersuchungen haben innerhalb ihrer Schranken wissenschaftlichen Wert: sie lehren uns Assoziationsmöglichkeiten und Phantasiefunktionen kennen. Aber zu einer wissenschaftlichen Einsicht in die Psychologie des dichterischen Schaffens wird man niemals gelangen können, solange man genötigt ist, die Willenstätigkeit und die Komplikationen, die sich hieraus ergeben, auszuschalten. Was aber den Einblick in den geschilderten Prozeß am meisten erschwert, ja entscheidend zu verhindern scheint, ist die sonderbare Verflechtung von bewußten und unbewußten Vorgängen, aus denen er sich zusammensetzt, oder genauer gesagt, die zahllosen Abstufungen der Bewußtseinsklarheit, in denen er sich vollzieht. Wertvolles Material hierüber ─ wesentlich aus Selbstbekenntnissen von Dichtern entnommen ─ hat O. Behaghel zusammengestellt: Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen. Leipzig 1906. Schon in bezug auf die Entlehnungen und Übernahmen, mit denen die heutige Literaturgeschichte so gerne operiert, macht sich das geltend. Jeder Dichter, auch der selbständigste, übernimmt von Vorgängern: Motive, Formen, Ideen. Aber es macht für den Charakter seiner Produktionsweise noch mehr als für ihren Wert einen erheblichen Unterschied, ob er mit bewußter Absicht wiederbringt, was schon einmal da war, oder ob er es unbewußt aus der Fülle dessen, was er aus den verschiedenen Quellen des Lebens und der Dichtung in sich aufgenommen hat, noch einmal hervorbringt. Unbewußte Reminiszenzen, namentlich wenn sie vereinzelt auftreten, sind höchstens als Symptome von Bedeutung; an sich besagen sie gar wenig, denn wir alle, Dichter wie Laien, leben und denken beständig in solchen. Bewußte Entlehnungen wiederum können ebensowohl aus überlegener Meisterschaft wie aus schülerhafter Abhängigkeit hervorgehen. Lessing entlehnte quantitativ kaum weniger als seine stümperhaften Vorgänger und gleichwohl war er der erste selbständige deutsche Dramatiker. Die vergleichende Literaturgeschichte der Gegenwart verfährt in diesem Punkte viel zu gleichförmig. Sie zählt Entlehnungen über Entlehnungen, Anklänge über Anklänge auf, und wenn man etwa die Analyse der Schillerschen Jugenddramen in den meisten modernen Biographien liest, so ist man versucht zu fragen, was ihnen denn eigentlich den Ruf der Originalität verschafft habe? Aber freilich wie sollte man es auch anders anfangen? Die Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußtem ist schon hier oft schwer zu finden, oft überhaupt nicht festzustellen. Dunkler aber und unentwirrbarer noch ist das Ineinandergreifen bewußter und unbewußter Zustände und Vorgänge in dem rein innerlichen Verlauf des dichterischen Schaffens. Die Konzeption selbst erscheint als ein Moment der höchsten Klarheit, aber woher sie kommt, was sie herbeiführt, ist in den meisten Fällen in gänzliches Dunkel gehüllt. Und die Dichter selbst betonen immer wieder das Plötzliche und ihnen selbst Unbegreifliche des Vorgangs. Die Fäden, die das Seelenleben des Dichters mit der Außenwelt verbinden, schießen plötzlich zusammen; ein Eindruck löst sie aus. Wie das geschieht, warum gerade dieser und nicht ein nächst verwandter ─ wer vermöchte das zu sagen! Daher Goethes oben angeführter Ausdruck von seinem nachtwandlerischen Dichten; und in dem gleichen Sinne bezeichnet Hebbel in seinem Tagebuch den „Zustand dichterischer Begeisterung als einen Traumzustand: ,Es bereitet sich in des Dichters Seele vor, was er selber nicht weiß'“. Daher die bekannten Schillerschen Verse: „Wie in den Lüften der Sturmwind saust, Man weiß nicht von wannen er kommt und braust, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, So des Sängers Lied aus dem Inneren schallt.“ Das ist auch ein Selbstzeugnis, noch dazu eines stark reflektierenden Dichters. Aber Schiller hat das, was er hier nur allgemein und in einem dichterischen Bilde ausdrückt, in einem inhaltvollen Briefe an Goethe (27. März 1801), auf den wir noch öfter zurückkommen müssen, mit verstandesmäßiger Schärfe ausgesprochen. „Ohne eine dunkle, aber mächtige Totalidee, die allem Technischen vorgeht, kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mitteilen zu können, d. h. es in ein Objekt zu übertragen. ─ Das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt macht den poetischen Künstler aus.“ Was den Ursprung der Konzeption charakterisiert, das zeigt sich nicht minder charakteristisch in der künstlerischen Arbeit, die ihrer Verwirklichung dient. Diese Arbeit scheint zwar eine völlig verstandesmäßige zu sein. Sie beruht auf einer fortgesetzten Auswahl des Zweckdienlichen; aus einer Reihe von Möglichkeiten, die ihm seine Phantasie und seine Darstellungsmittel gewähren, greift der Dichter diejenigen heraus, die geeignet sind, seine Intention in anschauliche Wirklichkeit umzusetzen. Hiernach wählt er Worte, Stimmungen und Situationen; und die Rücksicht auf das Publikum, auf die beabsichtigte Wirkung, ist, wie wir schon oben sahen, stets mitbestimmend, nicht selten ausschlaggebend für seine Auswahl. Aber das ist nun das Wunderbare: diese sichtende und suchende Verstandestätigkeit kommt ihm zum großen Teil gar nicht zum Bewußtsein; zumal die Rücksicht auf das Publikum bleibt bei dem echten Künstler zumeist ganz unterhalb der Schwelle. Kurz, das rätselhafte Phänomen einer unbewußten Auswahl ist das eigentliche Wesen der künstlerischen Tätigkeit. Allerdings tritt uns hier ein unverkennbarer Unterschied zwischen den Dichterindividualitäten entgegen. Schon Aristoteles sagt in der Poetik (c. 17), ein Dichter müsse entweder aus leidenschaftlicher Begeisterung oder aus einem überlegenen Künstlerverstand heraus schaffen; εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν \̓η μανικοῦ; τούτων γὰρ ο\̔ι μὲν εὔπλαστοι ο\̔ι δὲ ἐξεταστικοί εἰσιν. und wir brauchen nur etwa den Götz des jungen Goethe neben Lessings Emilia Galotti zu stellen, um zu sehen, was er meint und daß er recht hat. Aber doch ist der Unterschied nur ein relativer. Auch der junge Goethe sichtete, wie uns die Entstehungsgeschichte des Götz zeigt, wenn nicht vor, so doch nach der Niederschrift. Er verwarf eine Reihe von Szenen, nicht weil sie unwahr oder schlecht gemacht waren, sondern weil sie die beabsichtigte Gesamtwirkung beeinträchtigten. Und wenn anderseits der belesene und besonnene Lessing zwischen den Erfindungsmöglichkeiten, die vor ihm liegen, den Reminiszenzen, die er verwerten kann, den geistvollen Aperçus, die den Dialog beleben, auswählt, so sind es doch nicht einzelne Erfahrungen oder Berechnungen, die die Wahl entscheiden, sondern das Gefühl für das Wirksame und Wahre. Kein Dichter rechnet mit allen Möglichkeiten, die ihm zu Gebote stehen: er ergreift eine, und sie erscheint ihm und uns als künstlerische Notwendigkeit. Die Sicherheit, mit der er zugreift, ist eben das, was wir künstlerischen Instinkt, und wo dieser hochgesteigert erscheint, geniale Anlage nennen. Und in der Tat, es ist ein Instinkt, ganz analog dem Triebe, der die Biene oder den Vogel leitet, ihr Material auszuwählen und ihren kunstvollen Bau daraus auszuführen. Weiß nun aber die heutige Psychologie schon diese verhältnismäßig einfachen und völlig regelmäßig verlaufenden instinktiven Tätigkeiten nicht mit einiger Sicherheit zu erklären, wie will sie die unendlich verwickelteren, durch individuelle Abweichungen auf Schritt und Tritt weiter komplizierten Äußerungen des künstlerischen Instinkts bewältigen? Ein Beispiel: die dichterische Schöpfergabe hängt zweifellos auf das engste zusammen mit den sprachbildenden Kräften der menschlichen Seele, die eben in großen und selbständigen Dichtern auf das höchste gesteigert erscheint. Diese Kräfte nun aber, die man früher durch allgemeine Spekulationen wähnte ableiten und erklären zu können, liegen für die heutige Psychologie zu einem großen Teil im Dunkeln; und vor allem ist der Anteil, den der einzelne an der Bildung und Entwicklung der Sprache hat, wie fast alle kollektiven Tätigkeiten des menschlichen Geistes psychologisch noch sehr wenig geklärt. Wir vermögen es noch nicht einmal festzustellen, worauf der ganz eigene Reiz so einfacher Wortgebilde, wie es etwa die beiden Nachtlieder des Wanderers sind, beruht, geschweige denn zu erklären, was es ist, das den genialen Dichter befähigt, gerade solche Worte und Wendungen zu treffen, die uns, ohne daß wir uns Rechenschaft geben warum, bis ins Tiefste rühren? Also auch hier eine Frage, bei deren Lösung die psychologische Erklärung einstweilen versagt. Und das ist natürlich genug. Denn die Methoden, welche die moderne Psychologie, soweit sie erklärend auftritt, bisher entwickelt hat, laufen auf eine analytische Betrachtungsweise hinaus, welche die Zustände und Abläufe des Bewußtseins nach dem Vorbild der Physik in hypothetische und abstrakte Elementarbestandteile zerlegt und durch eine Hilfskonstruktion dieser Art auf bestimmte Schemata und Gesetze zu bringen sucht. Diese Methoden haben für das Gebiet der Sinneswahrnehmungen und etwa für die einfachsten Arten des Vorstellungsablaufs wertvolle Ergebnisse gehabt, aber sie sind bisher weit entfernt davon geblieben, die komplizierteren Erscheinungen des Seelenlebens, wo die verschiedensten Äußerungen und Tätigkeiten des Bewußtseins, wo Empfindung und Denken, Gefühl und Wille ineinandergreifen, zu erhellen: ja, im richtigen Bewußtsein ihrer Schranken hat die wissenschaftliche Psychologie bis jetzt nicht einmal ernstlich versucht, an diese Aufgabe heranzutreten. Nun aber ist von allen Gebieten des Seelenlebens das des künstlerischen Schaffens vielleicht das schwierigste und verwickeltste. Wie will man glauben, es mit den kärglichen Mitteln, welche die erklärende Psychologie bisher der literarischen und ästhetischen Betrachtung geliefert hat, bewältigen zu können? Die Poetik muß, in dem Entwicklungsstadium wenigstens, in dem die Psychologie sich heute befindet, an der Aufgabe scheitern, das dichterische Vermögen zu erklären, es auf psychologische Elemente und Gesetze zurückzuführen. Das Problem selbst freilich und damit die Aufgabe bleibt bestehen und wird vielleicht von späteren Geschlechtern, die mit tiefer eindringenden Methoden und reicheren Mitteln arbeiten, seiner Lösung näher geführt werden. Vielleicht, daß sogar schon in solchen Einsichten, in die etwa Wundt unter dem Namen des Prinzipes der psychischen Aktualität und des Prinzipes der schöpferischen Synthese zusammengefaßt hat, die Ansätze hierfür gegeben sind. Möglich auch, daß vermittelst eines rein deskriptiven Verfahrens, wie es Dilthey vorgeschlagen und in bedeutenden Einzelanalysen erprobt hat, die dichterische Einbildungskraft ohne den Anspruch der Erklärung in ihren allgemeinsten Zügen beschrieben und nach ihrer typischen Ausgestaltung bei den verschiedenen Dichtern bestimmt werden kann. Ob eine wissenschaftlich zureichende Erklärung des dichterischen Schaffens in Zukunft einmal möglich sein wird oder ob die Natur der menschlichen Erkenntnis hier eine ihrer dauernden Schranken findet, das müssen wir dahingestellt sein lassen. Ob ihr jemals mehr glücken wird, als auf die Außenseite des Vorgangs eine Anzahl von Streiflichtern zu werfen? ob es ihr jemals gelingen kann, den schöpferischen Akt zu belauschen, in dem der Dichter sich selbst vergißt und vergessen muß, wenn er wirklich ein Dichter ist? ob das, was der Schoß der Phantasie in fruchtbarer Dunkelheit birgt, das Geheimnis des Wirkens und Wachsens, nicht immer Geheimnis bleiben wird, auch wenn man einige der Einflüsse festzustellen vermag, die es befördern oder hemmen? Wir wissen es nicht. Der umfassendste Versuch, die von Scherer angeregten Prinzipien und Methoden für eins der großen Teilgebiete der Poetik durchzuführen, ist R. M. Werners groß angelegte Untersuchung „ Lyrik und Lyriker “ (Hamburg und Leipzig 1890). Dieser prinzipiellen Bedeutung wegen muß das Buch bereits für die allgemeine Grundlegung der Poetik herangezogen werden. Werner will „den dichterischen Prozeß in der Lyrik so weit als möglich erforschen“, „die Erscheinungen möglichst einfach erklären und aus dem Wesen des lyrischen Dichters ableiten“ (Vorwort). „Er will die Natur bei ihrem heim- lichsten Weben belauschen, die naturwissenschaftliche Methode, soweit dies überhaupt möglich ist, auf das Gebiet der Poesie anwenden“ (S. 21). Zu diesem Zweck betrachtet er die Entstehung des Gedichts nach Analogie mit dem physischen Werdeprozeß des Individuums: ein Bild, das Hebbel und andere Dichter mit Vorliebe auf ihr Schaffen anwenden, wird hier systematisch der Betrachtung zugrunde gelegt. Für die einzelnen Stadien des dichterischen Prozesses entnimmt Werner der Physiologie eine Anzahl terminologischer Bezeichnungen (Befruchtung, Keim, inneres und äußeres Wachstum, Geburt), die er nicht als eine müßige Spielerei, sondern als eine aufklärende wissenschaftliche Analogie angesehen wissen will. Er bringt eine Fülle von Material, das nach diesem Schema bearbeitet wird, erörtert die einzelnen Entwicklungsstadien an der Hand von Selbstzeugnissen und fragmentarischen Überlieferungen (namentlich Hebbels Tagebücher werden stark herangezogen) und verfolgt eine beträchtliche Reihe von Gedichten durch die ganze Entwicklung hindurch. Alles das ist im einzelnen höchst lehrreich. Aber daß der psychologische Prozeß selber in seinen wesentlichsten Punkten doch nicht dadurch zur Klarheit kommt, scheint der Verfasser selbst zuzugeben. „Wir können erforschen,“ sagt er (S. 24), „was ein Gedicht veranlaßt, wie es im Innern des Dichters wächst und endlich produziert wird, aber wie die Veranlassung zum Keim wird, aus welchem sich das Gedicht entfaltet, das vermögen wir nicht zu erforschen, das kann uns auch der Dichter nicht sagen, weil er es selbst nicht weiß, hier liegt eben das Unbewußte der Kunst. Aber unser Bemühen ist natürlich darauf gerichtet, mit unserer Erkenntnis so weit als möglich zu dringen.“ ─ Ich fürchte, die ganze Analogie zwischen dem poetischen und dem physischen Werdeprozeß läuft eben darauf hinaus, daß das innere Wesen, die treibende Kraft, die hinter den Erscheinungen wirkt, bei beiden gleich unverkennbar ist, wiewohl man die äußeren Stadien des Prozesses erkennen kann. Im übrigen hat der Vergleich kaum mehr als dichterischen Wert, ja, er führt zu gewaltsamen, zum Teil ganz unmöglichen Behauptungen (z. B. S. 421). Man kann aus dem reichen Material, das Werner zusammenträgt und übersichtlich ordnet, viel lernen; aber sein Werk gehört zu den Büchern, die ihren Wert trotz, nicht wegen ihres Grundgedankens haben, und gerade die Abschnitte, in denen die Psychologie zurücktritt, sind meines Erachtens die wertvollsten. Dagegen bekämpft Emil Geiger in dem S. 31 Anm. angeführten Buche die Überschätzung des Erlebnisses, die mit der Unterschätzung der formgebenden Kraft des Dichters Hand in Hand geht, und er betont ganz im Sinne der obigen Darlegungen den Charakter der schöpferischen Tätigkeit in der Poesie. Dieser Gedanke zieht sich als Leitmotiv durch sein Buch und gelangt wiederholt zu glücklichem Ausdruck, z. B. S. 202: „Von der an sich richtigen Erkenntnis ausgehend, daß das Erlebnis Grundlage des dichterischen Schaffens sei, übersieht man, daß zwischen äußerem Erleben und innerem Bild eine tiefgchende Wandlung liegt.“ S. 118: „Die Lyrik kann nie das bloße Spiegelbild des empirischen Erlebnisses geben, liegt doch zwischen diesem und der Kunstform der schöpferische Akt des Dichters.“ Von diesem Standpunkt aus gelangt Geiger zu einer Reihe wertvoller Einsichten, die sich größtenteils gleichfalls über die Grenzen der Lyrik hinaus auf das gesamte Gebiet der Poesie beziehen. Das verhältnismäßig kleine Buch ist inhaltreich und scheint mir bisher von der Kritik kaum gebührend gewürdigt. Es verhält sich ungefähr zu Diltheys „Einbildungskraft des Dichters“ wie Werners Buch zu Scherers Poetik: es sucht eine psychologische Einsicht in das Werden lyrischer Schöpfungen zu gewinnen und hieraaf eine Kunstlehre vom Wesen der Lyrik zu begründen. Die Darstellung würde freilich gewonnen haben, wenn diese beiden Gesichtspunkte in der Anordnung, vielleicht auch in der Methode, deutlicher geschieden wären. Auch Ernst Grosse (Kunstwissenschaftliche Studien, Tübingen 1900) gelangt in dem klar und frisch geschriebenen Kapitel über das Wesen des Künstlers zu Erwägungen und Ergebnissen, die unserer obigen Darlegung ganz verwandt, aber noch entschiedener negativ formuliert sind. „Künstler und Träumer sind einander völlig gleich, insofern beide ihre Phantasiegebilde unwillkürlich und unbewußt produzieren: aber auch nur insofern, denn ─ und hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Schaffen und Träumen ─ es sind offenbar viel tiefere und mächtigere Kräfte, welche die künstlerischen Wachträume emportreiben. Welcher Art diese schöpferischen Kräfte sind, läßt sich allerdings weder darlegen noch erkennen. Wer sie einer wissenschaftlichen Untersuchung und Bestimmung für zugänglich hält, kann noch nicht einmal ein Gefühl von ihrem Wesen haben. Sie liegen in dem Unbewußten, jenseits der Grenze, bis zu der Gedanken und Worte reichen, und über die nur die Ahnung schweigend hinausdeutet“ (S. 66). „Da sich der schöpferische Prozeß im Unbewußten vollzieht, so kann nicht einmal der Künstler selbst wissen, wie er sich vollzieht.“ „Nur über die äußeren Umstände und Bedingungen der schöpferischen Produktion und über die spätere, mehr bewußte und willkürliche Arbeit der Ausführung vermag er Auskunft zu geben“ (S. 67). Treffend und fein weist endlich Dessoir in seiner Ästhetik (Stuttgart 1906) auf die „antirealistischen“ Tendenzen der Phantasietätigkeit hin, ja, er sieht hier „den tatsächlichen Ausgangspunkt für die Seelenkenntnis des Dichters“ (S. 252). „Als das Ursprüngliche behaupten wir demnach die Freude an der Metamorphose, an der Loslösung (,die Lust am Anderssein' heißt es kurz vorher) und nicht etwa die Kunst, fremde Individualitäten zu durchschauen“ (oder die eigene darzustellen, dürfen wir hinzufügen). Und zusammenfassend: „Nein, die Beschaffenheit der äußeren Erlebnisse und des erscheinenden Charakters sind nicht das Wesentliche ─ aus Jugend und Phantasiespiel ist geflossen, was der Dichter von den Menschen zu sagen weiß. Und eben deshalb ist es so aussichtslos, den Lauf der poetischen Einbildungskraft gleich dem Flug eines Geschosses berechnen zu wollen.“ 5. Poetik als Kunstlehre. Die Zweifel an der Möglichkeit, eine systematische Psychologie des dichterischen Schaffens durchzuführen, können und werden die Forschung nicht verhindern, auch auf dem halb erhellten Gebiete vorzudringen, soweit sie vermag. So viel oder so wenig sie erreichen wird, es bleibt der Wissenschaft das Recht und die Pflicht, die Poesie und ihre Erzeugnisse als Material für Geistesgeschichte und Psychologie zu betrachten und zu verwerten. Und umgekehrt müssen sich aus einer solchen Betrachtungsart, ja schon aus der bloßen Stellung der Aufgabe, Gesichtspunkte ergeben, welche die Methoden der Literaturgeschichte und der Künstlerbiographie aufs fruchtbarste bereichern und vertiefen. In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen weiter zu führen, das Buch von Ernst Elster: „Prinzipien der Literaturwissenschaft“, 1. Bd., Halle 1897. Elster sucht aus Wundts Psychologie die wesentlichsten Kategorien und Grundsätze für die wissenschaftliche Methode literarhistorischer Charakteristik zu gewinnen. Er strebt also nicht sowohl eine Systematik der Dichtkunst, als eine Methodik der Literatur geschichtsschreibung an und gibt für eine solche eine Anzahl wertvoller Gesichtspunkte. Allein so viel oder so wenig nun auch das psychologische Verfahren auf diesem Wege erreichen mag, eine Schranke ist ihm ein für allemal gezogen: es muß seiner Natur nach eben da versagen, wo das spezifisch Künstlerische, das eigentlich Ästhetische beginnt, bei der Betrachtung und Wertung des Kunstwerks selber. Denn die psychologische Methode behandelt dasselbe als das Erzeugnis einer Reihe von seelischen Vorgängen: sie löst die Dichtung in einen Prozeß auf, der im Innern des Dichters vor sich geht. Die Erkenntnis dieses Prozesses ist psychologisch von höchstem Interesse, aber sie leistet nichts, was sein Erzeugnis, das objektiv vorhandene Kunstwerk, an sich kenntlich und seiner inneren Eigenart, man möchte sagen, seinem eigenen Leben nach verständlich macht. Um ein Kunstwerk als solches zu verstehen, müssen wir es unter künstlerischen Gesichtspunkten betrachten lernen. Wir müssen es mit den Augen sehen, mit denen der Künstler selbst es gesehen hat und mit denen er wünschte, daß seine Hörer und Zuschauer es sehen sollten. Im Bewußtsein des Dichters erscheint die Dichtung, wie sie allmählich entsteht und vollendet wird, nicht als ein Teil seines Seelenlebens, sondern als ein Stück Leben für sich, ein Ereignis, ein Gegenstand zum Anschauen und zum Eindringen. Er glaubt, was er dichtet, nicht zu erleben, sondern mitzuerleben. Auch wenn es sein eigenstes Schicksal ist und sein eigenstes Fühlen, das er im Kunstwerk darstellt: zum Kunstwerk wird es erst, indem es sich objektiviert, d. h. sich von seiner Persönlichkeit loslöst und ein eigenes Dasein in seiner Phantasie zu entfalten beginnt. Und nicht minder selbständig lebt das Dichtwerk in der Phantasie des verständnisvollen Hörers weiter, in der wechselnden Auffassung der Zeiten und Völker. Es spricht zu uns im geheimnisvollen Bunde mit unseren eigenen Erlebnissen; es sagt uns Dinge, die es seinem Schöpfer nicht sagen konnte, weil sie aus unseren Erinnerungen, aus unseren persönlichen Empfindungen erwachsen. Und doch sind auch hier Unterschiede, die dem verstandesmäßigen Urteil sehr wohl zugänglich sind. Man kann eine Dichtung falsch verstehen, indem man ihrem objektiven Geiste widerspricht; dem, der sie richtig versteht, sagt sie vielleicht manches, was der Dichter nicht mit Bewußtsein hineingelegt hat, ─ und doch ist alles, was sie ihm sagt, aus dem Geist des Dichters gesprochen. Der künstlerischen Betrachtung erscheint das Kunstwerk als eine lebendige Einheit, ein Organismus, der in sich entwickelt und geschlossen ist und dessen Teile nur aus ihrem Verhältnis zu dem Ganzen, das sie bilden, verständlich werden. Ja, auch das hat das Werk des Dichters mit dem Lebewesen der schaffenden Natur gemein, daß es wie diese niemals in allen seinen Teilen und in seinem innersten Wesen dem analysierenden Verstande zugänglich ist. „Ein echtes Kunstwerk“, sagt Goethe, „bleibt wie ein Naturwerk vor dem Verstande immer unendlich.“ In der Tat, in jeder wahren Dichtung steckt etwas Irrationales, in Begriffen und Worten nicht Faßbares, und doch treibt uns ein unabweisbares Bedürfnis, uns mit verstandesmäßiger Erkenntnis dessen zu bemächtigen, was gefühlsmäßig auf uns wirkt; und auch dieser Wirkung Kraft und Samen, soweit es möglich ist, bei hellem Tageslicht zu schauen. Aus diesem Bedürfnis entspringt jedes ästhetische Denken, aus ihm insbesondere denn auch die Poetik als Kunstlehre. Eine solche Kunstlehre ist es, welche die folgende Darstellung anstellt: eine Poetik, deren Gegenstand nicht das Subjekt des Künstlers, sondern das objektiv vorliegende dichterische Kunstwerk ist, deren Verallgemeinerungen nicht Typen von Dichtern, sondern von Dichtwerken bilden; kurz eine objektive Lehre von der Dichtkunst und den Dichtungen. Etwas Ähnliches wollte auch die alte systematische Poetik leisten. Aber freilich, wir werden die Aufgabe tiefer und innerlicher fassen müssen, als jene es tat: es handelt sich nicht um eine bloße Technik, um eine Systematisierung der äußerlichen Gattungen und Formen, nicht um Einteilungen und Aufzählungen, sondern um die Feststellung der Gesichtspunkte, nach denen die Dichtung als Kunstwerk von innen heraus und ihren eigenen immanenten Gesetzen gemäß zu erfassen ist, und um das Verständnis der dichterischen Form, soweit sie organische, d. h. lebendige, von innen bedingte Gestaltung ist. Welches wird nun die Eigenart einer solchen Betrachtungsweise sein? Wie wird sich die Kunstlehre im einzelnen gestalten? Der erste und entscheidende Charakterzug ─ das geht schon aus dem eben Gesagten hervor ─ muß sein, daß sie ihren Erörterungen die Auffassung des Kunstwerks als einer Einheit zugrunde legt. Wie die Biologie das einzelne Lebewesen als organische Einheit betrachtet, wie sie es vor allem darauf absieht, diese Einheit in ihren verschiedenen Funktionen und Äußerungsweisen zu erfassen, so wird auch die Poetik von der tatsächlich gegebenen Einheit des dichterischen Kunstwerks ausgehen und die Dichtungen nach ihren Eigenschaften und Bestandteilen unter dem Gesichtspunkt der organischen, d. h. eben der künstlerischen Einheit zu verstehen suchen. Freilich, ohne Analyse der Bestandteile gibt es nirgends Erkenntnis einer Erscheinung, in der Kunst so wenig wie in anderen Gebieten. Auch die Poetik als Kunstlehre wird mit einer Analyse beginnen müssen, wie es die psychologische Poetik tut. Allein im Gegensatz zu dieser wird sie die Elemente des Kunstwerks nicht nach der zeitlichen Folge scheiden, in der sie sich allmählich zum Ganzen zusammengeschlossen haben, sondern das fertige Kunstwerk selbst, so wie es vorliegt, in die Bestandteile zerlegen, die mit der Form und dem Inhalt gegeben sind. Sie wird ferner diese Bestandteile zwar auch an sich ins Auge fassen müssen, ihr Hauptaugenmerk aber wird sein, durch ein synthetisches, man könnte schärfer sagen, ein rekonstruktives Verfahren zu zeigen, wie sie in organischem Zusammenschluß das Ganze bilden. Die Poetik verfährt darin genau wie die ästhetische Interpretation des einzelnen Dichtwerks, die sie ja auch als induktive Grundlage benutzen muß. Aber sie bleibt nicht, wie diese, beim einzelnen Dichtwerk stehen, vielmehr wird sie überall, in den Bestandteilen wie in dem Gesamtwerk, das Allgemeine, das Typische suchen. Die Feststellung bestimmter Typen und Formen, die Erkenntnis der organischen Gesetze, durch die sie gebildet und bestimmt werden, ist ihr Ziel. Hierdurch erst wird sie Wissenschaft. Drei Bestandteile einer Dichtung pflegt die Analyse herkömmlicherweise zu unterscheiden: erstens den Stoff, zweitens den Gefühls- und Gedankengehalt, drittens die Form. Nun ist freilich sowohl diese Einteilung wie die ihr entsprechende Ausdrucksweise nicht nur Mißverständnissen, sondern auch berechtigten Einwänden ausgesetzt. Vor allem ist der Begriff der Form weder eindeutig noch klar, vielmehr weicht er gleichsam zurück, wenn man ihn greifen will. Man spricht von metrischer und sprachlicher, aber auch von lyrischer und dramatischer Form, ja man hört nicht selten auch von humoristischer und satirischer Form reden; ─ und die Einführung des Begriffes der inneren Form, die Scherer von W. von Humboldt übernommen hat, macht die Sache mindestens nicht einfacher und anschaulicher. Mit dem Wort Form verbinden wir immer die Vorstellung von etwas Äußerem, das als solches vom Inhalt abtrennbar ist. Dies aber paßt höchstens auf den metrischen Bau eines Gedichtes, sofern er auf einem Schema beruht, das auch auf andere Gedichte übertragen werden kann. Die Elemente eines Gedichtes existieren niemals nebeneinander, sondern immer nur eins im andern und durch das andre. Der Gegensatz des Äußeren und Inneren hat in der poetischen Kunstlehre streng genommen keinen Platz, und das Wort Goethes über die Naturbetrachtung gilt auch für die Poesie: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, Denn was innen ist, ist außen. Andrerseits entspringt auch die Bezeichnung Stoff für den Gegenstand einer Dichtung nur einem sehr ungenauen Vergleich mit den bildenden Künsten. Denn das Material der Poesie, aus dem sie schafft wie die Malerei aus Farben und die Musik aus Tönen, sind nicht überlieferte Inhalte irgendwelcher Art, sondern die Worte der Sprache; und eben deshalb bleibt die Poesie an die Gesetze der Sprache nach Seite des Klangs wie der Bedeutung der Worte gebunden. Die Scheidung von Form und Stoff, die hier ungenauerweise angewandt worden ist, hat lange Zeit dazu geführt, die Bedeutung der Sprache für das Wesen der Dichtkunst zu unterschätzen. Trotz dieser berechtigten Bedenken nun aber kann die Poetik die überlieferte Einteilung selbst nicht völlig entbehren, und daher wird es am bequemsten sein, auch die einmal üblich gewordene Ausdrucksweise soweit wie möglich festzuhalten. Die Bedeutung freilich, welche den einzelnen Teilen für das Gesamtverständnis der Poesie zukommt, sowie die Abgrenzung der Gebiete im einzelnen, werden wir vielfach anders fassen müssen, als es die frühere und insbesondere die klassische Zeit getan hat. Die Poetik muß von den Gesetzen der sprachlichen und metrischen Gestaltung ausgehen. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß diese, wie sie die festesten und greifbarsten Bestandteile aller technischen Überlieferung sind, so auch für die theoretische Erkenntnis die sichersten Unterlagen liefern und am ersten vollständige Induktionen und systematische Ausgestaltung ermöglichen. Daher sind sie denn auch schon seit dem Altertum als Stilistik der Dichtersprache und Metrik zu eigenen Disziplinen ausgestaltet, und als solche teils für sich, teils als Unterabteilungen der Poetik behandelt worden. Daß sie theoretisch genommen das letztere sind, daß sie in die Lehre von der Dichtkunst gehören, daran kann füglich kein Zweifel sein. Aber immerhin ist es praktisch und vorteilhaft, sie, wie es im wesentlichen auch in diesem Handbuch geschieht, für sich zu behandeln. Denn beide Disziplinen erscheinen zunächst für sich abgeschlossen, und auf beide wirkt die Verwandtschaft mit anderen Gebieten stark, ja entscheidend ein: auf die Stilistik die Beziehung zu der allgemeinen Sprachwissenschaft, besonders der Bedeutungslehre, auf die Metrik der Zusammenhang mit der Musik. So kommt es denn, daß die Poetik zwar beide nicht aus dem Auge verlieren, sie aber doch mehr als Hilfswissenschaft behandeln, d. h. ihre Ergebnisse voraussetzen und ihre allgemeinen Gesetze übernehmen darf, ohne sie im einzelnen zu begründen. Über diese Voraussetzungen und Gesetze freilich muß Klarheit herrschen, bevor die Poetik ihr eigentliches Werk auch nur beginnen kann. Eine prinzipielle Erörterung dessen, was Worte, Klang und Rhythmus für die Poesie bedeuten, und auf welchen ihrer Eigenschaften diese Bedeutung beruht, können wir nicht entbehren, ja wir werden unsere Betrachtungen damit beginnen müssen; denn nur hieraus wird die innere Struktur der Dichtungen, werden die Gesetze der künstlerischen Formengebung verständlich. Fassen wir sodann die Gebilde ins Auge, zu denen jene Elemente sich verbinden, so treten uns zunächst gewisse allgemeine Prinzipien, Gesetze des dichterischen Baus entgegen. Diese allgemeinsten Kompositionsgesetze gelten für Gedichte der verschiedensten Gattungen, für alle dichterischen Gebilde ohne wesentlichen Unterschied, und man wird sie daher am besten in einer einheitlichen und allgemeinen Betrachtung zusammenfassen, die sich der Behandlung der Formenelemente der Poesie anschließt. Sie nehmen aber auch besondere Gestaltung an und tragen dann wesentlich dazu bei, den Unterschied der überlieferten drei Gattungen der Poesie zu begründen. Man kann diesen Unterschied zunächst ganz äußerlich als den der monologischen, erzählenden und dialogischen Form auffassen, aber jeder fühlt, daß das Wesen der Gattungen damit noch nicht getroffen, ja kaum berührt ist. Denn lyrische wie epische und dramatische Poesie, jede trägt ihre eigenen organischen Gesetze in sich. Und diese Gesetze sind keineswegs nur solche der sprachlichen Gestaltung, vielmehr entspringen sie bestimmten und verschiedenen Funktionen und Formen des Phantasielebens, wie ihnen denn auch ebenso spezifisch bestimmte Wirkungsweisen entsprechen. Daher ist die Wahl der Gattung viel weniger, als man gewöhnlich anzunehmen pflegt, von der Eigenart des Stoffes abhängig: sind doch die großen Stoffe der Literaturgeschichte von der Ilias bis zum Faust fast alle sowohl episch wie dramatisch behandelt worden. Weit wesentlicher ist die persönliche Anlage, man kann geradezu sagen: das Temperament des Dichters, das ihn von vornherein und zumeist dauernd auf eine bestimmte Art der Wirkung hin und damit in eine der drei Gattungen als in sein heimisches Gebiet hineindrängt, wenn es ihn auch nicht ganz und gar darauf zu beschränken pflegt. Von Einfluß ist aber auch die Richtung des Gefühls und der vom Gefühl bestimmten Anschauungsweise, die der Dichter in seinen Schöpfungen zum Ausdruck bringen will. Diese Richtung der künstlerischen Intention ist überhaupt das wesentlichste Lebenselement jeder Dichtung. Ob sie zu tragischer oder humoristischer Lebensauffassung, zu naturalistischer oder idealisierter Wiedergabe der Wirklichkeit führt, ist für den Charakter der Dichtung das eigentlich Entscheidende, und wenn sie auch für die Wahl der Gattung nicht den Ausschlag gibt ─ hier kommen, wie gesagt, andere ebenso ursprüngliche Anlagen der Phantasietätigkeit zur Geltung ─, so bestimmt sie doch die Darstellung im ganzen, insbesondere die sprachliche, oft auch die metrische Gestaltung. Wenn z. B. von zwei Dichtern der eine den Stoff der Jungfrau von Orleans im Epos, der andere ihn im Drama behandelt, so ist das zunächst ein Unterschied der äußeren Darstellungsart, der Gattung. Sehen wir nun aber weiter, daß der erstere den Stoff satirisch, der andere ihn sentimentalisch-heroisch auffaßt, so zeigt sich uns offenbar eine weit tiefer greifende Verschiedenheit der Konzeptionen. Beide Unterschiede fallen nicht zusammen, ja, sie sind nicht einmal unmittelbar abhängig voneinander: es wäre möglich, einen und denselben Stoff in einem heroischen Epos und in einem satirischen Drama zu behandeln, wie etwa Homer und Shakespeare die Geschichte des Troilus behandelt haben. Und doch ist es deutlich, daß die Auffassung des Stoffes auch die Wahl der Kunstgattung bei Voltaire und Schiller beeinflußt hat. Weit tiefer freilich hat die Verschiedenheit der Grundauffassung auf die Art der Darstellung und Stoffgestaltung im einzelnen eingewirkt, auf die Art zu charakterisieren, die Sprache und, bei Schiller wenigstens, auf das Metrum. Die satirische und die tragische Richtung der Poesie treten hier in ihrer grundlegenden Bedeutung als Typen der poetischen Auffassung hervor. Wir können daher sie und ihresgleichen den Typen der Darstellung, den Gattungen der Poesie zur Seite stellen. Diese Richtung eines Dichtwerks hängt offenbar von der Gefühls- und Anschauungsweise ab, mit welcher der Dichter seinen Stoff ergriffen und erfüllt hat, sie steht in innigster Beziehung zu dem Gedanken- und Empfindungsgehalt des Gedichtes. Dieser nun ist seinerseits nichts als ein Ausfluß der gesamten individuell oder auch national bestimmten Weltanschauung des Dichters und als solcher auch an sich genommen von Interesse und Wert für die wissenschaftliche Betrachtung. Denn der Dichter, der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen. Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen, die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche und lohnende Aufgabe. Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht. Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern will, und weder die Kenntnis der Stoffe noch die der Gedanken und Empfindungen vermittelt uns dieses Wesen. Erst da tritt es zutage, wo der Inhalt unter dem befremdenden Einfluß der Phantasie eine organische Form aus sich heraus treibt und sich eben hierdurch zum Kunstwerk gestaltet. Was der Dichter empfindet, empfinden viele, was er denkt, denken auch andere: daß er gestalten kann, was er fühlt und denkt, macht den Künstler. Der geringste Erkenntniswert für die Poetik kommt daher auch der Betrachtung des Stoffes zu. Denn das ästhetische Interesse richtet sich niemals auf den Stoff als solchen, sondern nur auf die Frage, was hat der Künstler daraus gemacht? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es freilich des Vergleichs zwischen dem Rohstoff und der künstlerischen Gestaltung. Aber jede Verallgemeinerung betrifft offenbar nur diese, nicht jenen; sie fällt somit schon in das Gebiet der inneren oder äußeren Formgebung, und nur soweit kann der Charakter der verschiedenen Stoffe unter allgemeinen technischen Gesichtspunkten in Betracht kommen, als es sich um die Frage handelt, ob er sich mehr für die eine oder die andere Behandlungsart eigne, oder auch für die künstlerische Behandlung überhaupt geeignet oder ungeeignet sei. Die moderne Literaturgeschichte freilich hat eine besondere Vorliebe dafür, die Stoffe der Poesie vergleichend und geschichtlich zu behandeln. Sie löst den dichterischen Gegenstand in Grundbestandteile, Motive, auf und verfolgt die Wiederkehr dieser Motive mit philologischem Sammeleifer in den Schöpfungen verschiedener Dichter und Literaturen. Allein man kann nicht sagen, daß die emsig betriebene Arbeit besonders gewinnbringend gewesen ist. Was die Vergleichung der Stoffe im besten Falle leisten kann, sind Fingerzeige, die auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dichtern hinweisen. Aber wo diese Zusammenhänge überhaupt zweifellos und wesentlich sind, da erstrecken sie sich zumeist weit über die Entlehnung einzelner Motive, ja des Stoffes überhaupt hinaus auf die Gesamtgestaltung des Kunstwerks; und wo das nicht der Fall ist, da kann die Ähnlichkeit des Motivs den Literarhistoriker leicht irre führen, und zwar desto leichter, je allgemeiner es gefaßt wird. Denn das eine sollte man bei demganzen Verfahren nicht vergessen, daß das Motiv als solches nichts als eine Abstraktion ist. Der Dichter geht ja nicht von der allgemeinen Vorstellung etwa eines Bruderzwistes oder eines Verbrechens aus Ehrgeiz aus, sondern von der besonderen und weit reicheren Anschauung der feindlichen Brüder im Fürstenhause von Messina oder der Tat Wallensteins oder Macbeths. Ein entlegenes, ja ausgefallenes Motiv tritt uns bisweilen in verschiedenen Literaturen entgegen, wo jeder Zusammenhang ausgeschlossen ist, wie z. B. die Blutschande im König Ödipus und in Hartmans Gregorius auf dem Stein. Aber auch da, wo Zusammenhänge vorliegen, sind sie keineswegs immer so unmittelbar, wie der bloße Vergleich des Motivs zu ergeben scheint. Auf Schillers Räuber haben die Tragödien des Bruderzwists aus der Sturm- und Drangperiode wohl Einfluß ausgeübt, aber das Motiv der gegnerischen Brüder stammt bekanntlich nicht von daher, sondern aus einer Schubartschen Novelle. ─ Immerhin ist trotz dieser Einschränkungen die geschichtliche Behandlung und Vergleichung der Motive von einem gewissen, wenn auch eingeschränkten Interesse für die Literaturgeschichte; einer Systematisierung der Stoffe und Motive aber, einem schematischen Verzeichnis, wie es Scherer als „allgemeine Motivenlehre“ vorschwebte, fehlt jeder wissenschaftliche wie praktische Wert, schon weil, wie Scherer selbst zugeben muß, das Gebiet der möglichen Stoffe mit dem Gebiet der gesamten Natur wie des Menschenlebens zusammenfallen würde. ─ Wie verfährt die Poetik nun, um verständlich zu machen, wie die Einheit des Dichtwerks in und aus den verschiedenen Bestandteilen der Dichtung erwächst? Eine anschauliche Antwort auf diese Frage können erst die folgenden Teile dieser Darstellung geben. Nur ein methodischer Gesichtspunkt von allgemeiner Bedeutung soll schon hier hervorgehoben werden. Eine organische Einheit werden wir, das liegt im Worte selbst, immer nur als eine zweckmäßige begreifen können. Wie die Biologie in der Erklärung der Organismen und ihrer Funktionen sich im einzelnen des Zweckbegriffs bedienen muß, so wird auch die Poetik die Einheit des dichterischen Kunstwerks immer nur als eine gewollte und beabsichtigte begreifen können. Hierin steht sie nun in völliger Übereinstimmung mit dem, was wir im vorigen Abschnitt über den psychologischen Vorgang des künstlerischen Schaffens erfahren haben: die Gestaltung eines Kunstwerks ist niemals ohne eine ihr voraufgehende künstlerische Absicht zu denken, deren Verwirklichung sie ist. Wenn wir ein Kunstwerk, so wie es uns objektiv entgegentritt, als Einheit erfassen wollen, so können wir das nicht anders, als indem wir die einheitliche Intention erschließen, aus der es hervorgegangen ist, und alle Einzelheiten als Bestandteile des Kunstwerks auf diese Intention beziehen; wir betrachten, wie die Ausdrucksmittel der Kunst im Dienste dieser einheitlichen Absicht ausgewählt und verwendet, die äußere und innere Form durch sie bestimmt sind. Die Intention des Dichters zielt immer auf eine bestimmte Wirkung, und sie ist daher weder zu verstehen noch auch nur zu denken ohne ein gewisses Maß von Erfahrung, von den Ursachen und Mitteln, kurz von der psychischen Gesetzmäßigkeit überhaupt, der künstlerische Wirkungen unterliegen. Die zweckmäßige Organisation des Kunstwerks entspringt keinem mystischen Zusammenhange, sondern den psychologischen Gesetzen, die alles seelische Geschehen beherrschen. Insofern kann auch die Poetik des steten Hinblicks auf die Psychologie ebensowenig entbehren wie eine der anderen Geisteswissenschaften, aber ebensowenig wie diese kann und will sie die Erscheinung, die sie untersucht, in psychologische Elementarvorgänge auflösen. Vielmehr muß sie diese Aufgabe der psychologischen Wissenschaft überlassen, deren Ergebnisse sie voraussetzt. Bei dieser Betrachtung nun sind wir stets genötigt, die Tätigkeit des künstlerischen Gestaltens als eine klar bewußte aufzufassen und ihre Wiedergabe in begrifflicher Deutlichkeit anzustreben; denn nur auf diese Weise können wir zu einem theoretischen Verständnis gelangen. In Wirklichkeit freilich verläuft der Prozeß niemals im vollen Sonnenlicht des Bewußtseins, sondern stets in einem Spiel zwischen Schatten und Licht, zwischen bewußter Absicht und unbewußten Instinkten. Daß hierin für die Psychologie eine besondere Schwierigkeit liegt, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen. Allein die Poetik braucht für ihre Zwecke ebensowenig danach zu fragen, wie die Biologie danach fragt, ob die Zweckmäßigkeit der Organismen, von der sie ausgeht, auf einer bewußten Zwecksetzung des Weltschöpfers beruht oder nicht. Jede begriffliche Verdeutlichung ist eine Hilfskonstruktion der erklärenden Wissenschaft und vermag niemals die Wirklichkeit als solche wiederzugeben, sondern sie immer nur im abstrakten Ausschnitt darzustellen und eben hierdurch verständlich zu machen. Die Lehre von der Dichtkunst auf eine im modernen Sinne wissenschaftliche Psychologie der dichterischen Wirkungen zu begründen, unternimmt H. Roetteken in seiner auf drei Bände angelegten Poetik. Der bisher erschienene erste Teil (München 1902) enthält neben einer Erörterung der Prinzipien die „Allgemeine Analyse der psychischen Vorgänge beim Genuß einer Dichtung“. „Die ästhetisch-psychologischen Probleme muß die Poetik so ausführlich diskutieren,“ sagt Roetteken S. 3, „daß sie für diese Dinge den Lernenden nicht noch weiter zu schicken braucht.“ Wenn nun auch sicherlich die psychologische Analyse des künstlerischen Genusses in weiterem Umfang durchführbar ist als eine Psychologie des dichterischen Schaffens, so vermag sie doch ebensowenig wie diese die besonderen Leistungen der Poetik zu ersetzen oder auch nur zu begründen und erhellen. Denn auch sie stößt auf viel zu viele irrationale Elemente des Seelenlebens, auf viel zu viele halb und weniger als halb bewußte psychische Vorgänge, als daß es ihr möglich sein sollte, die Bildungsgesetze und Erscheinungsformen der Poesie auch nur in den Hauptzügen lückenlos abzuleiten und verständlich zu machen. Der weitaus größere Teil der Untersuchungen Roettekens gehört daher in die allgemeine Ästhetik und erweist sich für die Kunstlehre der Dichtung und ihre besonderen Probleme bis jetzt nicht eben ergiebig. Ein abschließendes Urteil läßt sich natürlich erst nach dem Erscheinen des ganzen Werkes fällen. 6. Poetik als Methodenlehre. Indem die Poetik die Bestandteile, die innere und äußere Struktur des Dichtwerks aufdeckt, ist sie Kunstlehre; indem sie eben hiermit zugleich die Gesichtspunkte für das künstlerische Verständnis vorzeichnet, wird sie Methodenlehre. Methodischer Anleitung hat die Theorie der Dichtkunst von jeher dienen wollen. Die systematischen Lehrbücher des 17. und 18. Jahrhunderts wollten, wie wir im Eingang gesehen haben, geradezu Anweisung zum Dichten und in zweiter Reihe zur Kritik geben. Die psychologisch-historische Poetik, wie sie Scherer und Dilthey vorschwebt, ist im wentlichen eine systematische Zusammenstellung der Gesichtspunkte und Probleme (Scherer sagt eine „Topik“) für die Literaturgeschichte. Ein bescheideneres Ziel haben wir uns bei der Erneuerung der Lehre von der Dichtkunst gesetzt: nur dem Verständnis der Dichtungen soll sie den Weg vorzeichnen und somit in praktischer Hinsicht nichts anderes sein als eine Methodenlehre für die künstlerische Interpretation. Die Würdigung der Poetik in diesem Sinne hängt eng zusammen mit der Wertung der künstlerischen Erklärung überhaupt. Wird diese letztere, wie es in der modernen Literaturwissenschaft nicht selten geschieht, zugunsten der genetischen Untersuchung der Dichtungen beiseite gesetzt, wird sie wohl gar als elementare und unwissenschaftliche Tätigkeit aufs Gymnasium und in die Schulliteratur verwiesen, so wird freilich auch der Poetik als Anleitung zum künstlerischen Verständnisse kein wissenschaftlicher Wert beigelegt werden. Aber daß hierin eine Einseitigkeit liegt, ergibt sich mittelbar schon aus unseren bisherigen Betrachtungen. Gleichwohl wird es notwendig sein, auf die methodologische Frage nach dem Verhältnis der ästhetischen zur genetischen Erklärungsart etwas näher einzugehen. „Den Entstehungsprozeß in der Seele des Autors erforschen“, nennt Scherer in den Aufsätzen über Goethe (Berlin 1886 S. 17) „die höchste Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation.“ Die Entstehungsgeschichte umfaßt naturgemäß zunächst die literarischen Anknüpfungen und Vorbilder, die auf eine Dichtung eingewirkt haben. Als das Hauptmittel aber, um ihre Aufgabe zu lösen, bezeichnet er ebenda S. 128 die Beziehung zwischen biographischen Zügen und entsprechenden Einzelheiten der Dichtungen. „Man kann in sorgfältiger und besonnener Aufsuchung von Ähnlichkeiten in dem Leben und der Bildung eines Dichters einerseits und in seinen Werken anderseits gar nicht weit genug gehen.“ Wenn man die Literaturwissenschaft der Gegenwart, insbesondere die Goetheliteratur verfolgt, so sieht man, welche Wirkung diese Fingerzeige und das entsprechende Vorbild des genialen Lehrers auf seine Schule geübt haben: ja, man sollte glauben, daß die Entstehungsgeschichte nicht nur die höchste, sondern die einzige Erklärungsart sei, die ihren Namen verdient. Eine Dichtung scheint nur dann, dann aber auch völlig verstanden zu sein, wenn man weiß, aus welchen Erlebnissen des Dichters sie hervorgegangen ist. Allein dem gegenüber erhebt sich nun doch die Frage, mit welchem Rechte so geurteilt wird? Kommt dem Einblick in die Entstehungsgeschichte eines Kunstwerks wirklich mehr Wert und Bedeutung zu als dem hermeneutisch und ästhetisch begründeten Verständnis seines künstlerischen Gehalts? oder fällt etwa beides zusammen? Das letztere ist offenbar nicht der Fall. Die beiden Wege, die uns hier entgegentreten, führen zu zwei verschiedenen Zielen und empfangen durch diese für sich Richtung und Bedeutung. Wir kennen diese Ziele schon. Es sind eben die, welche durch die psychologische und die künstlerische Poetik bestimmt werden. Auf der einen Seite die psychologische Erkenntnis des dichterischen Schaffens, auf der anderen Seite das ästhetische Verständnis des Kunstwerks. Der ersteren entspricht die genetische Erklärung, der es vor allem um die Persönlichkeit des Dichters zu tun ist. Sie faßt das Gedicht in seiner Entstehung als ein innerliches Erlebnis des Dichters, als einen Prozeß, in welchem seine Wesenseigentümlichkeit zutage tritt. Der Zusammenhang zwischen diesem und den übrigen Erlebnissen des Dichters, inneren und äußeren, ist für sie das Hauptproblem, und ihr Ziel ist erreicht, wenn es ihr gelungen ist, die Bestandteile der Dichtung in den Komplex von Anlagen, Zuständen und Funktionen einzureihen, die für uns die Gesamtpersönlichkeit des Dichters darstellen. Daher bietet auch Goethe mit seinen Schöpfungen das Lieblingsfeld für ihre Arbeit, weil es hier in der Tat leichter und in weiterem Umfange möglich ist, diese Aufgabe zu lösen als bei den meisten übrigen Dichtern der Weltliteratur. Man erklärt also den Tasso, die Iphigenie oder das Lied an den Mond, indem man für die einzelnen Motive, für die Personen, Zustände und Stimmungen die persönlichen Beziehungen aufsucht, die sie mit dem Leben des Dichters verbinden, und man will die Schwierigkeiten, welche das objektive Verständnis dieser Dichtungen darbietet, heben, indem man auf Analogien im Leben des Dichters hinweist. So wird etwa die Heilung des Orest durch das Verhältnis Goethes zu Frau von Stein erklärt, die Krankheit Tassos durch die Beziehung auf Lenz und ähnliches. Kein Zweifel, daß das Ziel, das hier erstrebt wird, erstrebenswert ist. So gewiß es der Mühe lohnt, einer großen schöpferischen Persönlichkeit menschlich näher zu treten, indem man sie gleichsam von innen anschaut, sie wissenschaftlich zu erkennen, indem man den Gesetzen ihres Seelenlebens nachgeht, so gewiß ist es auch ein erstrebenswertes Ziel, den Künstler im Kunstwerk zu suchen, und das Kunstwerk aus der Persönlichkeit des Künstlers abzuleiten. Aber daneben gibt es noch eine völlig andere, nicht minder berechtigte Art, sich der Dichtung zu nähern. Sie faßt das Kunstwerk wie ein Stück Wirklichkeit, das seine Lebensgesetze in sich selbst trägt und nach diesen Gesetzen erkannt und erklärt werden soll. Dies ist es, was wir künstlerisches Verständnis nennen. Für dieses Verständnis verschlägt es nichts, daß wir von den Liebesliedern der Sappho nicht wissen, an wen sie gerichtet sind, von den Lebensumständen und dem Charakter der Dichter des Parzival, des Tristan kaum das Alleräußerlichste kennen. Und um die Heilung des Orest in diesem Sinne zu verstehen, brauchen und wollen wir nicht auf die persönlichen Verhältnisse Goethes zurückgreifen: was da auf der Bühne vor sich geht, ist ein Stück Leben, das wir aus sich selbst verstehen müssen, wenn es anders Leben ist. So stehen die Ziele deutlich und gesondert nebeneinander, sich gegenseitig ergänzend zu einem wissenschaftlich-künstlerischen Gesamtverständnis dichterischer Erscheinungen. In streng wissenschaftlichem Sinne hat die genetische Erklärung vielleicht die größere Tragweite: stimmt sie doch zusammen mit der psychologisch und historisch gerichteten Ästhetik der Gegenwart. Die ästhetische Interpretation steht dafür unmittelbar im Dienste der Kunst und des künstlerischen Verständnisses, und unwürdig der Wissenschaft ist ein solcher Dienst gewiß nicht, am wenigsten einer Wissenschaft, die mit Recht den Anspruch darauf erhebt, Führerin und Lehrerin der Nation zum Verständnis und zur Würdigung ihrer großen Dichter zu sein. Nicht anders wie mit den Zielen verhält es sich mit den Methoden. Auch sie sind scharf voneinander geschieden und gerade deshalb zur Ergänzung aufeinander angewiesen. Die genetische Erklärung ist in mehr als einem Sinne dem Verfahren des Künstlers entgegengesetzt: sie löst in eine Vielheit heterogener Bestandteile auf, was der Künstler als eine Einheit gesehen und als eine Einheit geschaffen hat, und zeigt, wie jeder einzelne dieser Bestandteile in den Erfahrungskreis des Dichters getreten ist und auf seine Phantasie einwirken konnte. Zwischen Form und Inhalt macht sie in dieser Hinsicht keinen Unterschied. Auch die Form erscheint ihr als ein Bestandteil der Dichtung, der entweder von außen übernommen oder unter irgendwelchen äußeren Einflüssen in der Seele des Dichters entstanden ist. ─ Wenn nun ferner der Dichter das, was er innerlich oder äußerlich erlebt hat, in eine solche Form faßt und eben hierdurch objektiviert, d. h. von seinem Innenleben loslöst, so macht die genetische Methode auch diesen Weg in umgekehrter Richtung. Sie sucht von der Dichtung aus in das Subjekt des Dichters zurückzugelangen, für sie hat das Gedicht eben nur als psychisches Erlebnis des Dichters Bedeutung. Endlich noch ein drittes: das Wesen der Poesie ist es, das individuell Erlebte zu verallgemeinern, ins Typische zu erheben, das Persönliche und Zufällige auszuscheiden; die biographische Methode übersetzt aus dem Allgemeinen wieder ins Persönliche zurück. Daß ihr zu alle dem das wissenschaftliche Recht zusteht, ist unbestreitbar. Aber ebenso klar ist es auch, daß ihr Verfahren nur die eine Seite der Sache zu bewältigen vermag und einer Ergänzung nach der andern dringend bedarf. Diese Ergänzung ist die ästhetische Methode. Sie sucht mit den Augen des Dichters zu sehen und geht seinem Verfahren unmittelbar nach. Sie faßt das Kunstwerk, wie es ihm vor der Seele schwebte, als ein fertiges Stück Leben und Wirklichkeit. Nur dann, dann aber auch in allem Wesentlichen glaubt sie ihn verstanden zu haben, wenn es ihr gelungen ist, die Einheit seiner Schöpfung zu begreifen, zu zeigen, wie innerhalb derselben alle Einzelheiten organisch voneinander und von der lebendigen Einheit des Ganzen abhängen, wie die Form der Dichtung das Mittel ist, diese Einheit zum Ausdruck zu bringen. Die ästhetische Erklärung wird daher zunächst in den Einzelheiten, wie sie uns im Gang einer Dichtung nacheinander entgegentreten, den einheitlichen Mittelpunkt aufsuchen, der das Ganze beherrscht, um dann von dem so gewonnenen Standpunkt aus diese Einzelheiten in ihrem Verhältnis zur Einheit des Ganzen zu erkennen. In der didaktischen und literarischen Darstellung wird man freilich so gut wie niemals den Doppelweg in seiner ganzen Länge zurücklegen. Wenn man bei der Interpretation des einzelnen von vornherein den Gesamtzusammenhang ins Auge gefaßt hat, so wird sich nicht erst am Schluß, sondern schon im Verlauf der Einzelerklärung, bisweilen sehr früh, die Einheit mit steigender Deutlichkeit enthüllen, auf die dann jeder Fortschritt der Dichtung bezogen werden muß, so daß wir am Schlusse angelangt auch schon das Ganze überschauen. So ist es z. B. in Goethes Tasso, wo gleich in der ersten Szene mit der Schilderung, die Leonore „fein und zart“ von dem Wesen des Dichters gibt, das Grundthema des Ganzen angeschlagen wird, das sich dann in den folgenden Szenen und Akten immer deutlicher entfaltet. Wenn wir dem Gange der Handlung folgend, begriffen haben, daß dieses „Schauspiel“ die Ansätze zu einer das eigene Selbst zerstörenden Entwicklung, die in jedem starken Phantasieleben und zumal im Geiste des Dichters liegen, in ihren letzten Konsequenzen darstellt und eben damit zur Tragik steigert, so wird uns hierdurch der Zusammenhang in allem einzelnen verständlich. Insbesondere die Krankheit Tassos erscheint uns in ihrer innerlichen Notwendigkeit, und über die Tragik des Abschlusses, den Goethe äußerlich im Halbdunkel läßt, kann kein Zweifel sein. Damit aber ist zugleich Form und Wesen der Tragödie gegeben, auch wenn ihr der übliche äußere Schluß mit dem Untergang des Helden fehlt. ─ Didaktisch ist auch der umgekehrte Weg denkbar. Der Erklärer, der sich zunächst die Grundanschauung des Ganzen bereits erworben hat, beginnt von vornherein damit, diese an den entscheidenden Stellen der Dichtung aufzuweisen, um sie dann durch den Gang der Erklärung im einzelnen zu bestätigen. Auch dies Verfahren zeichnet ihm der Dichter bisweilen vor, zumal in lehrhaften oder reflektierenden Dichtungen. Wie denn Goethe in den „Grenzen der Menschheit“, noch deutlicher aber in dem Gedichte „Das Göttliche“ den Grundgedanken an den Anfang stellt, so daß alles folgende als Durchführung desselben erscheinen muß. Voraussetzung für eine solche Interpretation, wenn sie anders stichhaltig und fruchtbar sein soll, ist nun freilich, daß der Erklärer die Einzelheiten des Inhalts und der Form beherrscht, daß er an jeder Stelle festzustellen vermag, was der Dichter gewollt und gemeint hat, kurz, daß er mit philologischer Genauigkeit und hermeneutischer Schärfe zu erklären vermag, auch da, wo Beziehungen vorliegen, die der Dichter im Dunkel oder Halbdunkel gelassen hat. Zu diesem Zweck ist es nötig, daß er mit der Geschichte des Stoffes und der Form Bescheid weiß, und in bestimmten Fällen erweist es sich als unumgänglich, daß er die rein persönlichen Beziehungen kennt, die zwischen dem Dichter und seinen Darstellungen vorhanden sind: überall da nämlich, wo der Dichter selbst im Persönlichen geblieben ist, entweder weil er es beabsichtigte, oder weil ihm jene Loslösung und Objektivation des Kunstwerks, die Erhebung ins Allgemeine, nicht völlig gelungen ist. Beides ist naturgemäß besonders oft in der Lyrik der Fall, das erstere in Gelegenheitsgedichten, wie Goethes Ilmenau; das zweite etwa in seiner Harzreise im Winter. Niemand kann diese Gedichte zureichend erklären, wenn er ihre persönlichen Beziehungen nicht kennt, und so wird man allerdings die Forderung aufstellen müssen, daß jeder, der Dichtungen künstlerisch interpretieren will, ihre Entstehungsgeschichte im weitesten Sinne des Wortes beherrscht. Aber auch umgekehrt bleibt für den Literarhistoriker, der eine Dichtung genetisch erklärt, ein umfassendes und eindringendes ästhetisches Verständnis unbedingtes Erfordernis. Wo die genetische Methode einseitig herrscht, da bleibt nicht nur die eine Hälfte der Gesamtaufgabe unerfüllt, die Erklärung läuft auch Gefahr, auf Irrwege zu geraten und zu schiefen oder falschen Ergebnissen zu gelangen. Der Blick für das Kunstwerk, wie es abgeschlossen vorliegt, wird leicht getrübt, wenn der Erklärer das Auge beständig auf die Entstehungsgeschichte gerichtet hält; und er überträgt dann, was er hier findet, allzu leicht auf das, was dort vorliegt. Einen Irrtum dieser Art habe ich im Goethejahrbuch 1905 ausführlicher behandelt. Es ist die Auslegung, die Goethes Lied An den Mond in Bielschowskys Goethebiographie und in Litzmanns Buch über „ Goethes Lyrik “ gefunden hat; ich habe schon oben (S. 32) die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes, wie sie Bielschowsky schildert, mitgeteilt und erwähnt. Weil nun aus dieser hervorgeht, daß in der ersten, von Goethe nicht veröffentlichten Fassung die letzten Strophen aus der Seele der Frau von Stein heraus gedacht und geschrieben sind, schließen beide Erklärer, daß dasselbe auch von dem vollendeten Gedichte gelte. Bielschowsky stempelt es zum „Klagelied einer vom Geliebten verlassenen Frau“. Und auch Litzmann verlangt, daß der Erklärer die Frage aufwerfe, wer hier spreche, und er beantwortet sie durch den Hinweis auf die Stein. Das Gedicht enthält „die Gedanken einer Einsamen, freilich keiner Verlassenen“. Beide Erklärer also machen, um den geschichtlich technischen Ausdruck zu gebrauchen, eine Art von Frauenstrophe aus dem Gedicht, die nur aus Goethes Verhältnis zu Frau von Stein richtig verstanden werden könne. Sie bedenken nicht, daß der Dichter in der Umarbeitung und Abrundung seines ersten Entwurfs, zweifellos aus einer künstlerischen Absicht heraus, jede persönliche Beziehung verwischt hat, und daß in der abschließenden Fassung nichts vorliegt, was auf einen irgendwie nach Geschlecht oder Persönlichkeit bestimmten Sprecher hinweist. Will ein Dichter so verstanden werden, als ob er nicht aus seinem eigenen Mund, sondern aus dem einer anderen Person, einer Frau rede, so wird er das kenntlich machen, wie es vom Kürenberger bis zu Chamisso noch alle Dichter von Frauenstrophen getan haben. Wenn er das nicht tut, so spricht er eben zunächst im eigenen Namen, damit zugleich aber spricht er auch, und das ist das Wichtigste, im Namen seines Lesers. Denn wie der Zuschauer im Drama mit dem Helden, so soll der Leser oder Hörer eines Liedes mit dem Dichter ganz unmittelbar mitempfinden. Das Ich des Dichters muß zum Ich des Hörers werden: auf dieser Verschmelzung beruht jede lyrische Wirkung. Nirgends ist sie in höherer Vollendung erreicht als in dem Gedichte An den Mond, ─ und da sollen wir uns fragen, ob hier ein Mann oder eine Frau spricht? Über diese und ähnliche Einzelheiten hinaus aber droht der genetischen und ganz besonders der biographischen Erklärung eine allgemeinere Gefahr: indem sie einseitig zeigt, wie das, was der Dichter erlebt und gesehen hat, sich in seiner Dichtung widerspiegelt, kommt das formengebende Prinzip der dichterischen Tätigkeit nicht zu seinem Rechte, und die Erklärung leistet gar zu leicht der schiefen Auffassung, die bereits im fünften Abschnitt gekennzeichnet wurde, Vorschub, als sei die dichterische Phantasie ein bloß passives Medium, die Dichtung selbst ein rein assoziativer Prozeß, an dem Wille und Kraftanspannung wenig oder keinen Anteil haben. Schon aus diesem Grunde ist es nötig, daß die ästhetische Erklärung mit dem steten Hinweis auf die absichtvolle Arbeit, mit welcher der Künstler gestaltet, der genetischen zur Seite tritt. Zwei Einwände erheben sich nun, geeignet, die Berechtigung, ja die Möglichkeit der ästhetischen Erklärung beträchtlich einzuschränken, wenn nicht ganz und gar zweifelhaft zu machen. Beide erfordern es, daß wir kurz auf sie eingehen. Die ästhetische Interpretation, so sagt man wohl, ist überflüssig, da sie nichts lehren kann, was nicht in der Dichtung selbst schon liegt und aus ihr heraus unmittelbar und vernehmlich zu uns redet; sie ist schädlich, weil sie die Dichtung, die zum Gefühl und zur Phantasie sprechen will, wie sie aus Phantasie und Gefühl heraus geboren ist, ins Verstandesmäßige zieht und hierdurch den Irrtum erregt, als spräche der Dichter aus dem Verstande und zum Verstande. Ein Kunstwerk zu rationalisieren sei unmöglich, man nehme ihm eben hierdurch den künstlerischen Charakter. Es scheint bisweilen, als ob die philologische Wissenschaft und die neueste poetische Modeströmung hierin übereinkämen, wenn auch von einem verschiedenen Ausgangspunkte aus. Die letztere will in der Kunst alles in Gefühl und Stimmung auflösen; ihr widerstrebt das Verstandesmäßige als solches. Aber auch Wilhelm Wackernagel und Rudolf von Raumer verwarfen die „zerklärende“ Behandlung von Dichtwerken als überflüssig. Und es ist wahrscheinlich, daß die Mißachtung, welche die heutige Literaturwissenschaft der ästhetischen Erklärung entgegenbringt, mit dieser Anschauungsweise in engem Zusammenhang steht. Allein hierauf ist zunächst zu erwidern, daß die ästhetische Interpretation das Gefühl und die Anschauung nicht verdrängen und ersetzen, sondern unterstützen und aufklären will. Sie wird und muß sich bewußt bleiben, daß sie mit ihren verstandesmäßigen Betrachtungen den unendlichen Lebensgehalt einer echten und großen Dichtung niemals erschöpft. Aber eben darum findet sie immer erneute Arbeit vor. Solange eine solche Dichtung in ihrem Volke, in der Menschheit lebendig ist und wirkt, werden immer neue Generationen das Bedürfnis fühlen, sie von ihrem eigenen Standpunkt aus zu verstehen und zu würdigen, die Verbindung zwischen ihren Anschauungen und Lebensgefühlen und dem Inhalt jener Schöpfungen herzustellen. Nur für wenige Generationen spricht der Dichter unmittelbar verständlich. Ein Jahrhundert trennt uns heute von der Blütezeit des Klassizismus. So wie in der Sprache, so ist auch in der Anschauungsweise unserer großen Dichter mancherlei historisch geworden, und wir müssen uns die Vergangenheit lebendig machen, um jene ganz zu verstehen. Aber schon unter ihren Zeitgenossen waren ihre Schöpfungen nur für Auserlesene im ganzen Umfang zugänglich. Es ist eben falsch, zu glauben, daß in Dichtungen, wie sie unsere klassische Literatur hervorgebracht hat, nicht auch sehr wesentlich verstandesmäßige Elemente steckten; nicht nur die Gedankendichtungen im engeren Sinne, sondern die gesamten Schöpfungen unserer großen Dichter von Lessing an sind durchzogen und getragen von sehr bestimmten Ideen, von umfassenden und durch Denkarbeit begründeten Welt- und Lebensanschauungen. Diese zu übermitteln, zu zeigen, wie ihnen die großen dichterischen Intentionen unserer Klassiker entstammen oder doch entsprechen, ist sicherlich eine Aufgabe nicht nur für die Schule, sondern auch für die Wissenschaft. Von weniger allgemeiner Tragweite, aber um so gewichtiger erscheint ein zweites Bedenken: es gibt eine Anzahl Dichtungen, die sich der einheitlichen Erklärung in unserem Sinne entziehen, weil sie von vornherein gar nicht als Einheit gedacht sind: die Volksepen etwa und Goethes Faust. Allein im Prinzip liegt die Sache doch auch hier nicht viel anders als bei den weniger umfangreichen Dichtungen, die vom Künstler aus einer Intention heraus entworfen und geschaffen sind, und es lassen sich mit Leichtigkeit eine Anzahl von Zwischengliedern feststellen, die den Übergang herstellen. Bei Goethes Werther, bei Schillers Wallenstein wird man allerdings die Einheit der dichterischen Absicht, den organischen Zusammenhang des Ganzen niemals in Frage ziehen. Aber schon Werke wie der Tasso, der Egmont bahnen den Übergang an. Bei dem ersteren wissen, bei dem letzteren vermuten wir, daß die Dichtung ursprünglich nicht in demselben Sinne entworfen ist, wie sie beendet ward. Im Laufe der Jahre also ist eine andere Intuition des Dichters und dementsprechend eine andere Intention an die Stelle der ursprünglichen getreten. Aber es kann nicht zweifelhaft sein, daß diese neue Anschauung und Absicht in sich ebenso einheitlich und in sich geschlossen ist wie jene, und daß der Dichter, als er seinem Drama die endgültige Form gab, eben seine letzte Gesamtanschauung verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen; an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist, einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen vermag. Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch wissen wir aus dem eigenen Zeugnis des Dichters, daß er beim Abschluß des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja, den zweiten Teil wenigstens aus einer Konzeption heraus geschrieben zu haben, Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an Wilhelm v. Humboldt). und hieraus erwächst dem Erklärer die Verpflichtung, dieser Einheit nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar. Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen. Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet, sondern sind durch diesen nur eben angeregte eigne Schöpfungen. Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen zu Hilfe kommen müssen, und der Interpret darf hier den Literarhistoriker niemals aus den Augen verlieren. Aber auch das Umgekehrte ist notwendig, wie Scherers Beurteilung des ersten Faustmonologs (Aufsätze über Goethe S. 309 ff.) zeigt, die durch Erich Schmidts Herausgabe des Urfaust gründlich widerlegt ist. Auch was äußerlich zu verschiedenen Zeiten entstanden ist, kann aus einer einheitlichen Anschauung und Absicht heraus entstanden sein, und ein prinzipielles und allzu scharfsinniges Suchen nach Diskrepanzen und Nähten, eine Auflösung in hypothetische Grundbestandteile führen nur gar zu leicht in die Irre. Eine weitere Übergangsstufe bildet der Fall, daß der Dichter das Werk eines früheren überarbeitet, wie das in den Werken der mittelhochdeutschen Epiker und in mehreren Shakespeareschen Dramen geschehen ist. Hier ist zweierlei möglich: die Arbeit des Erneuerers beschränkt sich entweder darauf, die ursprünglichen Intentionen deutlicher zu machen und reicher auszugestalten, oder er benutzt das Vorhandene nur gleichsam als halb behauenen Rohstoff, um ihm seine eigenen Intentionen aufzudrücken. Der erste Fall ─ Hartmanns Iwein und die übrigen epischen Nachdichtungen des 12. Jahrhunderts veranschaulichen ihn ─ bietet überhaupt keine Schwierigkeiten. Im zweiten ist es offenbar eben die neue Intention, die dem Gesamtwerk die Einheit gibt und aus der heraus es verstanden und erklärt werden will. Wo die Nachdichtung vollständig gelungen ist, wie z. B. in Shakespeares Hamlet, da muß auch die künstlerische Erklärung im ganzen Umfange möglich sein. Wo es der jüngere Dichter nicht vermocht hat, allen Einzelheiten den Stempel seiner eigenen Intentionen aufzudrücken, da wird auch hier wieder die genetische Erklärung der künstlerischen zu Hilfe kommen müssen. Im wesentlichen ebenso verhält es sich mit den Volksepen. Auch hier kommt es auf die abschließende Intention an, aus der die Einheit des Gesamtgedichts hervorgeht; dieser hat die Interpretation die Erklärung des einzelnen unterzuordnen. Daß diese Einheit eine zufällige oder daß sie aus dem Instinkt der „träumenden Volksseele“ hervorgegangen sei, glaubt heute niemand mehr, also muß sie von dem Dichter und Vollender beabsichtigt, ihm klar bewußt gewesen sein. Dem künstlerischen Plan, der hieraus entsprang, hat er das, was er vorfand, ebenso eingeordnet wie das, was er selbst etwa hinzudichtete. Diesem Plan also gilt es auch hier nachzugehen, um die organische Ordnung des Ganzen zu erfassen. Nun ist allerdings in allen Volksepen eine mehr oder weniger große Anzahl unorganischer Bestandteile mit aufgenommen und überliefert worden, in der Ilias und der Gudrun bekanntlich mehr als in der Odyssee und dem Nibelungenlied, allein auch in diesen immerhin genug. Hier ist denn wiederum die Aufgabe der historischen Untersuchung, die genetische Erklärung dessen zu liefern, was künstlerisch nicht erklärt werden kann, und es ist zweifellos, daß ein großer Teil der Gesamtbehandlung unter diese Aufgabe fallen wird. Aber es zeigt sich doch auch hier wiederum, daß, wo die einheitliche Intention grundsätzlich aus dem Auge gelassen wird, wie das in Lachmanns Untersuchungen über die Ilias und das Nibelungenlied geschah, auch die genetische Erklärung leicht auf schiefe Wege und zu falschen Ergebnissen führt. So bestätigt sich denn auch hier, daß die beiden Weisen der Interpretation aufeinander angewiesen sind, und daß die ästhetische Erklärung wissenschaftlich nicht weniger berechtigt und notwendig ist als die genetische. Von besonderer Wichtigkeit ist, um zum Schluß auch hierauf hinzuweisen, das Verhältnis beider Erklärungsweisen für den deutschen Unterricht, besonders in den oberen Klassen. Die Grundlage für das Verständnis der gelesenen Dichtungen wird hier stets die sachliche und künstlerische Interpretation bleiben müssen, und die Grundzüge wissenschaftlicher Hermeneutik zeichnen ─ hierin liegt ein nicht geringer Teil ihrer Bedeutung ─ stets auch den Gang der didaktischen Überlieferung vor. Ist aber durch das ästhetische Verständnis eine feste Grundlage gelegt, so wird nun hieraus eine genetische Einsicht gewonnen werden können, indem der Unterricht, was bisher im einzelnen behandelt worden ist, nunmehr zusammenfaßt und in biographische und geschichtliche Zusammenhänge bringt, und damit wird der Schüler auch das einzelne in neuem klärenden Lichte sehen. So folgen hier naturgemäß die beiden Arten der Erklärung als zwei Unterrichtsziele, zwei Stufen des Verständnisses auf und auseinander. Allein ich muß mich an dieser Stelle eines näheren Eingehens auf die didaktische Seite der Sache enthalten, einmal weil sie bereits in diesem Handbuch ausführlich behandelt ist, und zweitens weil ich das, was ich darüber zu sagen hätte, schon vor Jahren in meinem Buche über den deutschen Unterricht gesagt habe. 7. Poetik als Wertlehre. Bedingungen der dichterischen Wirkung. Von der Poetik erwartete man früher nicht sowohl Einführung in das Verständnis der Dichtung, wie Anleitung zur Kritik. Man suchte durch sie einen Maßstab zu gewinnen, nach dem die echte Kunst von der falschen, das Wertvolle von dem äußerlich Wirksamen, aber Nichtigen, im ganzen und im einzelnen mit Sicherheit unterschieden werden könnte. Das hat dereinst die Kunstlehre unserer Klassiker geleistet, und wir haben im zweiten Abschnitt gesehen, warum sie es leisten konnte. Diese Kunstlehre war Bestandteil einer umfassenden moralisch-ästhetischen Welt- und Lebensanschauung, die für ihre Ideale den Anspruch auf unbedingte Geltung erhob und in der Poesie ihren höchsten Ausdruck sah. Eben deshalb aber konnte sie nur diejenigen poetischen Richtungen und Schöpfungen als wertvoll anerkennen, die der Form wie dem Inhalt nach diesen Idealen entsprachen. Analoge Erscheinungen finden wir in dem klassischen Zeitalter der französischen Dichtung, ja, wir finden sie bereits im hellenischen Kunstleben. Charakteristisch ist die Art, wie Aristophanes den Euripides bekämpft und verurteilt; der innere Zusammenhang zwischen den Fröschen und den Wolken des großen Satirikers liegt deutlich zutage. In der neuen Kunst sieht er den Ausdruck eines neuen Zeitalters und seiner Gesinnung, wie ihm die Dichtung des Äschylos die untergegangene große Epoche Athens verkörpert. Im Athen des 5., wie im Paris des 17. und 18. Jahrhunderts freilich wird die Einseitigkeit des künstlerischen Ideals und der kritischen Wertung verstärkt durch nationale Geschmacksrichtungen und technische Konventionen, wie sie unseren Klassikern fremd waren; aber das Entscheidende ist doch, daß die Überlieferung nicht bloß äußerlicher Natur war, sondern einer ganz bestimmten, ihrem Zeitalter angehörenden Welt- und Wertanschauung entsprang. Und hier liegt nun der eigentliche und letzte Grund, warum wir nicht zu jenem Standpunkt oder einem ihm verwandten zurückkehren können, warum eine wertende und normgebende Poetik im Sinne unserer Klassiker heute unmöglich ist. Die Poesie der Gegenwart trägt keinen einheitlich bestimmten Charakter; sie ist nicht mehr der Ausdruck einer einheitlichen Weltanschauung, sondern fließt aus verschiedenen, ja entgegengesetzten Lebensauffassungen, die mit gleicher Notwendigkeit und gleicher Berechtigung nach künstlerischem Ausdruck suchen und diesen naturgemäß in ebenso verschiedenen Stilrichtungen finden. Dasselbe Publikum wird heute von dem herben Realismus Ibsenscher Menschendarstellung erschüttert und morgen von dem leidenschaftlichen Überschwang und der phantastischen Größe Richard Wagnerscher Heroengestalten hingerissen. Ja, ein und derselbe Dichter schildert heute mit den stärksten Farben der Wirklichkeit und mit der Technik des ausgesprochensten Naturalismus die soziale Bewegung der verhungernden Weber, um uns morgen phantastische Märchengestalten in den Formen romantischer Dichtung vorzugaukeln. Mag man in diesem bunten Wechsel künstlerischen Reichtum bewundern, mag man Schwäche und Unsicherheit darin tadeln, an der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, daß die schöpferischen Geister unserer Zeit in verschiedenen Richtungen gehen, und woher könnten wir das Recht oder den Mut nehmen, eine von diesen als die richtige, die andere als falsch zu bezeichnen? Vielleicht daß das Lebenskräftige und Echte, was neben manchem Schwächlichen und Gemachten in den verschiedenen Richtungen steckt, sich im Laufe der nächsten Menschenalter zu einer höheren Einheit zusammenschließen und eine neue, in sich abgerundete Kunst als den Ausdruck einer neuen und einheitlichen Lebensanschauung hervorbringen wird; mancherlei Anzeichen deuten auf eine solche Entwicklung hin. Dann würde aus dem Ideal der neuen Kunst auch wieder eine neue Art der Wertung hervorgehen. Aber auch dann wird die wissenschaftliche Poetik, nachdem sie einmal induktive und psychologische Betrachtungsart geworden ist, niemals wieder einseitig an den Gesetzen und Normen der neuen Kunst die Erscheinungen der Weltliteratur oder auch nur die der deutschen Dichtung messen und bewerten können. Sie würde stets genötigt sein, auch andere Ideale und Richtungen als die des eigenen Zeitalters zu verstehen und anzuerkennen. Und so müßte die Poetik gänzlich darauf verzichten, Werturteile festzustellen, zwischen echter Poesie und Afterkunst, zwischen Geschmack und Ungeschmack zu scheiden? Sie müßte das Bedürfnis, das ihr von den Dichtern selbst wie vom Publikum entgegengebracht wird, das Bedürfnis nach Sicherung und Begründung der Kritik, unbefriedigt, ja unberücksichtigt lassen? Sie müßte sich darauf beschränken, das, was ist oder gewesen ist, in seiner Eigenart zu erkennen, und dürfte auf das, was sein soll, keinerlei Einfluß in Anspruch nehmen? Aber sollte nicht etwa das Verständnis einer geistigen Eigenart, beabsichtigt oder nicht, stets eine gewisse Abschätzung dieser Eigenart in sich schließen? Man kann ein dichterisches Werk nicht näher betrachten, geschweige denn tiefer in dasselbe eindringen, ohne entschieden angezogen oder abgestoßen zu werden: sollte das subjektive Werturteil, das zunächst gefühlsmäßig entsteht, wirklich in keiner Weise objektiv zu begründen sein, wenn es nicht von oben herab aus allgemeinen und vorhergefaßten Prinzipien deduziert wird? Liegt nicht schon in der Tatsache dieser persönlichen Wirkung und Wertung ein Ansatz, der zu einem objektiven Werturteil erweitert und entwickelt werden kann, auch wenn es kein, im metaphysischen Sinne absolut gültiges Urteil sein sollte? In der Tat ein Moment dieser Art, und zwar ein entscheidendes, ergibt sich aus unseren bisherigen Betrachtungen. Wir wissen, daß nach dem Ausdruck Schillers „jedem Dichter eine dunkle, aber mächtige Totalidee vorschwebt“, wir sagen gewöhnlich kurz: eine Intention. Diese Intention will er verwirklichen, d. h. er will mit den Mitteln seiner Kunst den Hörer oder Zuschauer zwingen, was er darstellt, als Wirklichkeit zu betrachten und zu erleben, ─ sei es, daß er uns nötigt, seine lyrisch ausgesprochenen Gefühle und Gedanken zu unseren eigenen zu machen, sei es, daß er uns von der Bühne herab die Illusion erweckt, durch die wir das, was wir sehen, mit zu erleben glauben. Kurz, wenn Dilthey einmal das Erlebnis des Dichters als den Ausgangspunkt jeder künstlerischen Schöpfung bezeichnet, so bildet das Erlebnis des Lesers oder Zuschauers den Gegenpol und Endpunkt des dichterischen Prozesses, und man kann das allgemeine Wesen des dichterischen Schaffens sehr wohl dahin formulieren: es beruht auf der Absicht des Dichters, ein eigenes inneres Erlebnis zum Erlebnis seiner Hörer zu machen. Hieraus ergibt sich als entscheidende Frage für den Wert einer Dichtung, ob der Dichter vermocht hat, diese Wirkung zu erreichen, seine Intentionen zu verwirklichen. Betrachten wir die Gesichtspunkte näher, die sich aus dieser Fragestellung ergeben. Die Trägerin jeder künstlerischen Wirkung ist die Phantasie des Hörers. Auf diese will der Dichter übertragen, was er in der eigenen Phantasie erlebt hat. Die Phantasie aber wird bekanntlich vor allem durch die irrationalen Zustände des Seelenlebens, durch Gefühle und Empfindungen angeregt, weit stärker als durch verstandesmäßig faßliche Eindrücke und Gedankenreihen. Daher ist die Stimmung das Element, das alle künstlerische Wirkung vermittelt und allein möglich macht. Die Stimmung hervorzurufen, aus der heraus seine Schöpfungen glaubhaft und lebendig werden, ist bewußt oder unbewußt das erste Absehen jedes Dichters. Hierzu dient die innere Eigenart seiner Sprache, die Bilder, in denen sie sich bewegt und die sie wachruft; hierzu vor allem aber auch die musikalischen Elemente seiner Kunst, Wortklang und Rhythmus; ja, zu diesem Zweck ruft er die Musik selber zu Hilfe, sei es als Vertonung oder Begleitung seiner Worte, sei es als Vorspiel und Zwischenaktsmusik in der dramatischen Aufführung. In einem nicht geringen Teilgebiet der Dichtung, nämlich in der ganzen eigentlichen Gefühlslyrik, ist die Stimmung nicht nur der erste, sondern zugleich auch der letzte Zweck des Dichters: der Lyriker will uns eben seine Stimmungen und Empfindungen erleben lassen. Für den epischen aber und besonders für den dramatischen Dichter ist sie nur das Medium, in dem seine Gestalten erwachsen und sich bewegen; dem verstandesmäßig faßbaren Erlebnis gilt hier die eigentliche Intention des Dichters. Aber auch hier ist die Phantasie und nicht der Verstand das tragende Element; auch hier zeigt sich die ursprüngliche Kraft des Künstlers zunächst in der Gewalt, mit der er uns in die Stimmungen und in die Gefühlswelt hineinzwingt, in der seine Menschen leben und handeln. Diese Handlungen wirken wiederum auf die Stimmung der Zuschauer zurück; ein echtes Kunstwerk will niemals bloß unseren Verstand befriedigen. Dennoch treten im Drama und Epos neue Bedingungen rationaler Natur auf, ohne welche die Absicht des Dichters nicht erreicht werden kann: faßbare Bestimmtheit der Anschauung, Folgerichtigkeit der Entwicklung und, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit. Ja, die Stimmung selbst wird zerstört und kann nicht aufkommen, wo diese Forderungen nicht erfüllt werden, wo uns Widersprüche und Verschwommenheiten entgegentreten. Die genannten Bedingungen sind nicht alle gleich wesentlich; man möchte sagen, je ausschließlicher verstandesmäßig sie sind, desto mehr tritt ihre Bedeutung zurück. Am wenigsten darf man das Rationale der äußeren Gestaltung überschätzen, wie das z. B. die Theorie und Technik der klassischen Tragödie der Franzosen getan hat: die Phantasietätigkeit wird um nichts gefördert noch erleichtert, wenn man den Verlauf einer Handlung nach Stunden berechnen kann und wenn die Illusion, die das Theater in den Schauplatz wirklichen Geschehens verwandeln muß, sich nur auf einen solchen Schauplatz erstreckt. Aber auch die Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit des Lebens ist von geringerem Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es, ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu gestalten. Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich: wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst vielfach trefflichen Heinrich und Heinrichs Geschlecht: die Wirkung, welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie ─ vielleicht eben der Bühnenwirkung zuliebe ─ nicht folgerichtig durchgeführt sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer- Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern. Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet, um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug stören oder gar zerstören. Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag, anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen, die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten, was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können, hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt, wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen, nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich sind, in seiner Phantasie nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt. Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an Hölle und Fegefeuer, an „die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster schreiten“, nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden. Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen. Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, ─ über die zum Glück spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden. Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem realistischem Boden bewegt. Über wie viele äußere und innere Unwahrscheinlichkeiten werden wir durch die hinreißende Gewalt der Handlung in Schillers Kabale und Liebe hinweggetäuscht. Dahingegen regt sich etwa in Hebbels Maria Magdalena, wo zwar der Held, der Meister Anton, mit genialer Anschauung gesehen, die Handlung aber, wenn auch mit klügster Berechnung, erdacht ist, gegen das Tun und Lassen der meisten Personen fast beständig ein leiser innerer Widerspruch, obwohl wir bei genauerer Überlegung überall zugeben müssen, daß es keinen Punkt in dem Drama gibt, der an sich unmöglich wäre oder aus der Idee des Ganzen nicht folgerichtig entspränge. Etwas Ähnliches ist am Schluß der Emilia Galotti der Fall, welchem, soweit die Handlungsweise des Odoardo in Frage kommt, das Zwingende fehlt, obschon der Dichter jeden Zug dieses Charakters wie seiner Lage in der scharfsinnigsten Weise auf diesen Schluß hin berechnet hat. Man sieht, auf dem Gebiete der Kunst ist das, was man als möglich oder unmöglich bezeichnen kann, nicht durch eine absolute Grenze zu scheiden. Gleichwohl gibt es Schranken, die auch dem Genius gesteckt sind. Mindestens einer Bedingung muß auch er sich unterwerfen: seine Intentionen müssen überhaupt durchführbar und sie müssen mit künstlerischen Mitteln durchführbar sein. Schwebt ihm etwas in künstlerischer oder inhaltlicher Hinsicht Unmögliches vor, so ist es klar, daß die Ausführung hinter der Absicht zurückbleiben muß und ein vollkommenes Kunstwerk nicht entstehen kann. Inhaltlich, d. h. soviel wie psychologisch unmöglich, ist alles, was den Grundbedingungen der menschlichen Natur und besonders des Willenslebens widerspricht; so z. B. jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder Bösewichtern, von denen oben die Rede war. Wenn Schiller der sittlichen Idee zuliebe, die er zur Anschauung bringen will, seinen Max, seine Thekla gegen die menschliche Natur sich entscheiden und handeln läßt, so vermag er das nicht glaubhaft noch anschaulich zu machen und er schädigt selbst die Wirkung dieser Gestalten. Und in der berühmten Werbeszene Richards III. am Sarge König Heinrichs zeigt sich, daß auch Shakespeare bisweilen etwas gewollt hat, was er nicht durchführen konnte, weil es den Bedingungen der Menschennatur widerspricht. Und ebenso verhält es sich mit den rein künstlerischen Bedingungen der Wirkung. Schillers gewaltige Geisteskraft vermochte in einem Gedichte wie „Das Ideal und das Leben“ abstrakte Gedankenmassen, die bei jedem anderen blutleer und verstandesmäßig hätten bleiben müssen, mit Wärme und Leben zu erfüllen und zum tief wirkenden Kunstwerk zu gestalten. Allein das geplante Gegenstück „Die Vermählung des Herakles“ vermochte er nicht auszuführen. „Denken Sie sich den Genuß,“ hatte er an Humboldt geschrieben, „in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen. ─ Keine Schatten, keine Schranken ─ von Dem allen nichts mehr zu sehen.“ Aber er wußte wohl, warum er die Ausführung unterließ: kein größeres Gedicht vermag der Kontraste zu entbehren, die ein für allemal einen der notwendigsten Bestandteile aller künstlerischen Wirkung bilden; auch die glanzvolle Schlußapotheose des Faust würde jeden tieferen Eindruck verfehlen, wenn uns nicht durch das Gebet der Büßerinnen und besonders durch die rührenden Worte Gretchens der Gegensatz der einstigen Not zur jetzigen Seligkeit vor Augen träte. Die entgegengesetzte Schranke findet die Kunst des Dichters in der Wiedergabe des physisch Abstoßenden und Widerwärtigen. Schon Moses Mendelssohn und ihm folgend Lessing im Laokoon suchten im Begriff des Ekelhaften eine solche Schranke festzustellen. Aber dieser Begriff ist, bei Lessing wenigstens, nicht scharf genug von dem allgemeineren des Häßlichen geschieden. War sich doch Lessing auch über die Berechtigung des Häßlichen in der Kunst nicht völlig klar und selbst in der Dichtung will er sie nur zu sehr beschränkten Zwecken gelten lassen. Für uns Heutige unterliegt es keinem Zweifel, daß die Poesie wie die Malerei, wenn sie charakterisieren und lebendig gestalten will, das Häßliche nicht entbehren kann. Aber es ist auch klar, wo seine Verwendung ihre Grenzen hat, nämlich überall da, wo es psychologisch abstoßend wirkt und unsere Nerven in einer Weise erregt, die statt der Versenkung in das Kunstwerk notwendig die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen körperlichen Zustände lenkt. Freilich die Nerven der Menschen sind verschieden, und hier zeigt sich im Laufe der Kulturentwicklung ein Wandel in der Art der Empfänglichkeit: kräftigere und rohere Geschlechter vertragen mehr als Zeitalter verfeinerter Kultur. Die Blendung Glosters mit ihren Einzelheiten, die Shakespeare ganz unbefangen darstellt, würde schwerlich irgend ein heutiges Publikum mit ansehen mögen. Und doch haben die Leute, die vor zwanzig Jahren Tolstois „Macht der Finsternis“ oder Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ zujubelten, bewiesen, daß man auch ihren Nerven noch einiges zumuten kann, was nicht jedermanns Geschmack ist. Modeströmungen vermögen durch ihre eigentümliche Suggestionskraft die physiologische wie die moralische Empfindlichkeit zu schärfen oder abzustumpfen und je nachdem Verzärtelung wie Verrohung des Geschmacks zu fördern. Gleichwohl wird sich wohl mit einiger Sicherheit und Allgemeinheit feststellen lassen, was auf einen kultivierten, wenn auch nicht überfeinerten Geschmack noch künstlerisch wirken kann, und die vergleichende Erfahrung über verschiedene Zeitalter und Geschlechter kann uns das Dauernde, im Wesen der Kunst und der Menschennatur Begründete von jenen künstlichen durch die Mode hervorgebrachten Steigerungen scheiden lehren. Nur daß die Grenze nicht durch eine scharfe Linie, sondern durch eine breitere Zone gebildet wird. Diese Erscheinung führt uns auf ein Bedenken allgemeiner Art, das man gegen den Versuch, Dichtungen künstlerisch zu werten, mit allem Schein des Rechts erhoben hat. Es ist dies, daß die Wirkung eines Dichtwerks nicht sowohl von den Kunstmitteln an sich als von dem Publikum abhängt, auf das sie wirken sollen: daher denn auch in verschiedenen Zeiten und innerhalb derselben Zeit auf verschiedene Schichten eines Volks die gleichen Dichtungen nicht den gleichen Eindruck machen. Danach also scheint der Maßstab, der von diesen Eindrücken hergeleitet wird, notwendigerweise selber relativ und unsicher zu sein. Auf diesen Einwurf nun aber ist folgendes zu erwidern. Es ist ganz richtig, daß alle induktiv gefundenen Werturteile von beschränkter Allgemeinheit und bedingter Gültigkeit sind; unsicher und schwankend aber brauchen sie darum nicht zu sein. Was zunächst die Verschiedenheit der Zeiten und Kulturen betrifft, so findet hier freilich ─ wie wir bereits an einem Beispiel gesehen haben ─ eine gewisse Verschiebung des Werturteils statt. Allein im wesentlichen tritt nur die eine Tatsache deutlich hervor, daß die Art der Wirkungen und die Mittel, durch die sie hervorgebracht werden, sich mit der Kulturstufe des Publikums ändern und folglich bei Völkern höherer Kultur andere sind wie bei weniger entwickelten oder gar bei Naturvölkern. Der Unterschied aber in dem, was auf verschiedene Epochen und Völker annähernd gleich hoher Kultur wirkt, ist weit geringer, als man bisweilen annimmt. Wie wäre es sonst möglich, daß nicht nur Homer und Sophokles, an denen wir uns selbst gebildet haben, sondern auch Kalidâsa und Hafis, die auf völlig fremdem Boden erwachsen sind, Europäer des 19. und 20. Jahrhunderts ergreifen und erfreuen können? Ja, eben in dieser Allgemeinheit der Wirkung wird man ein wesentliches Kennzeichen für den Wert einer Dichtung sehen dürfen: was nur auf enge Kreise und nur in einem eng begrenzten Zeitraum Eindruck gemacht hat, ist eben darum schon weniger wertvoll als das, was Jahrtausende hindurch für die verschiedensten Völker lebendig ist; und der von A. W. Schlegel und Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur enthält an sich schon ein Werturteil. Das Studium solcher Dichtungen, die ihr angehören, die Analyse der Mittel, auf dem ihre dauernde Lebendigkeit beruht, muß uns Maßstäbe in die Hand geben, nach denen wir auch für die Werke unserer eigenen Zeit zwischen Modeströmungen und dauernden Werten zu unterscheiden vermögen. Eben hierdurch bildet das Studium der Literaturgeschichte das ästhetische Urteil. Was von den Kulturabständen verschiedener Zeiträume gilt, das trifft im wesentlichen auch auf die verschiedenen Bildungsschichten innerhalb desselben Zeitalters und desselben Volkes zu. Auch hier herrscht eine starke Verschiedenheit zwischen der Art des Geschmacks und der Empfänglichkeit der verschiedenen Bevölkerungsklassen, am meisten da, wo, wie bei den modernen Kulturnationen die oberen Klassen an einer historischen Bildung teilhaben, von der die unteren nichts wissen. Es ist eben auch hier ein Abstand der Kulturstufen, der sich in der Kunst wie auf allen anderen Lebensgebieten äußert. Auch hier wird man nicht anstehen, dem künstlerischen Empfinden der höheren Kultur den höheren Wert beizumessen, zumal seitdem die romantischen Vorstellungen von der Volksdichtung, ihrem Wesen und Wert verblaßt und aufgegeben sind. Aber auch hier wird man in der Allgemeinheit der Wirkung, wenn auch nicht den einzigen, so doch einen bedeutsamen Wertmesser zu sehen haben. Rohe und grobe Effekte, die auf ein naives Publikum Eindruck machen, versagen einer höheren Stufe der Bildung und des Geschmacks gegenüber; und vieles, was nach seinen Voraussetzungen und der Art der angewandten Mittel nur auf verfeinerte Leser und Hörer berechnet ist, geht naturgemäß an den breiteren Schichten des Volkes wirkungslos vorüber. Dennoch haben die höchsten Dichtungen aller Zeiten wohl stets auf die ganze Nation gewirkt, in der und für die sie entstanden sind: Homer und Tasso nicht minder wie der erste Teil des Faust und die meisten Schillerschen Dramen, und wo, wie etwa in Deutschland gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die beiden Sphären des Geschmacks allzu schroff und ohne Vermittlung auseinanderklaffen, haben wir ein sicheres Zeichen künstlerischen Niedergangs vor uns. ─ Stimmung, innere Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, anschaulich bildende Kraft: in diesen Forderungen hat die Poetik drei Gesichtspunkte ästhetischer Natur, nach denen sie jede Dichtung auf ihren künstlerischen Wert hin zu beurteilen imstande ist. Freilich können wir ─ nach dem Inhalte der ersten Abschnitte ist das selbstverständlich ─ nicht hoffen noch beanspruchen, hieraus deduktive Vorschriften darüber ableiten zu wollen, wie der Dichter seine Kunstmittel verwenden und seine Wirkung erreichen kann. Wohl aber ist es möglich, mit Hilfe dieser Gesichtspunkte festzustellen, worauf im einzelnen Falle die Wirkung eines Dichtwerks beruht und warum sie in einem anderen versagt. Wir werden da zunächst entscheiden können, ob die Wirkungen durch künstlerische Mittel oder durch bloßen Nervenreiz erreicht sind. Das letztere geschieht namentlich von der Bühne herab nicht selten; aber nur im ersteren Falle haben wir Kunstwerke vor uns, deren Analyse Aufgabe der Poetik ist. Eine solche Analyse zeigt uns dann die Eigenart der dichterischen Formen und Kunstmittel sowie ihre Verwendung und sie begründet somit ein objektives ästhetisches Werturteil. Das Werturteil, das auf diese Weise entsteht, ist im engsten Sinne ästhetisch, ja es ist technischer Natur. Nun aber gibt es noch einen zweiten, anders gearteten Weg, nach dem man dichterische Werke einschätzt: er beruht auf der Tiefe und Allgemeinheit der Gedanken, die sie enthält, auf ihrem Zusammenhang mit den Lebensinteressen und den Kulturströmungen der Zeit und der Nation, ja der Menschheit überhaupt. Denn der Genius unterscheidet sich von geringeren Geistern nicht allein durch das Können, nicht bloß durch die Fähigkeit, seine inneren Erlebnisse wiederzugeben, sondern auch durch den Inhalt dessen, was er erlebt. Zum inneren Erlebnis wird ihm nicht nur, was ihm persönlich im Glück und Unglück widerfährt, sondern auch die großen allgemeinen Gedanken, die geistigen Strömungen seiner Zeit. Sie erfüllen seine Dichtungen und ihre Gestalten, weil sie in ihm selbst kraftvoll und lebendig sind, und auch hier zwingt er sein Publikum in seine Art anzuschauen, zu denken und zu fühlen hinein, selbst wenn es neue und fremdartige Gedanken und Anschauungen sind. So wird der Dichter zum Lehrer der Weisheit, zum Verkünder einer höheren Sittlichkeit. So zogen unsere Klassiker ihr Volk zu sich empor, so ist in unseren Tagen Henrik Ibsen ein Lehrer tiefer und ernster Lebensanschauungen geworden. Auf diese Weise entstehen Dichtungen, deren Inhalt der Lebensinhalt ihrer Zeit und ihrer Nation ist. Der Faust wäre uns Deutschen nicht das, was er uns ist, wenn er nicht das tiefste Sehnen, die bitterste Verzweiflung und das höchste Glück des modernen Menschen zum Ausdruck brächte. Die Höhe der Intention, der Reichtum an Ideen, die unmittelbar ausgesprochen oder mittelbar verkörpert werden, die Weite der Anschauungen und die Tiefe der Empfindungen, die in ihr zum Ausdruck kommen, sie kennzeichnen den Wert eines solchen Werkes. Mit der künstlerischen Vollkommenheit der Ausführung aber deckt sich diese inhaltliche Bedeutsamkeit keineswegs. Wenn Gerhard Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ technisch vielleicht ebenso gut gemacht ist wie Goethes Tasso, vielleicht sogar besser, so wird man beide Werke doch kaum in einem Atem nennen mögen, so weit überragt Goethes Tragödie der Künstlerseele die des braven und abergläubischen Mannes aus dem Volke an Tiefe und Bedeutsamkeit. So wird man zu dem Ergebnis kommen, daß der Gesamtwert einer Dichtung von der künstlerischen Vollkommenheit ihrer Ausführung und von der Bedeutsamkeit, dem Reichtum ihres Inhalts abhängt. Aber freilich kann kein Zweifel darüber sein, daß der erste dieser Gesichtspunkte für das ästhetische Werturteil entscheidender ist als der zweite. Die höchste moralische Bedeutsamkeit, die edelste nationale oder soziale Tendenz vermag die Stimmung, die Anschaulichkeit, das Zwingende und somit die eigentliche künstlerische Wirkung nicht zu ersetzen. Und anderseits gibt es Dichtungen von hohem künstlerischen Rang, die keine tieferen Beziehungen und Perspektiven haben, so etwa Shakespeares Sommernachtstraum, Kleists zerbrochener Krug, und überhaupt eine große Anzahl von Lustspielen der Weltliteratur. Eben dieses Verhältnis ist es, was Schiller in dem schon einmal angeführten, höchst wichtigen Brief an Goethe vom 27. März 1801 zum Ausdruck bringt. „Jeder, der imstande ist, seinen Empfindungszustand in ein Objekt zu legen, so daß dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, heiße ich einen Poeten, einen Macher. Aber nicht jeder Poet ist dem Grad nach ein vortrefflicher. Der Grad seiner Vollkommenheit beruht auf dem Reichtum, dem Gehalt, den er in sich hat und folglich außer sich darstellt, und auf dem Grad der Notwendigkeit, die sein Werk ausübt. ─ Es leben jetzt mehrere so weit ausgebildete Menschen, die nur das ganz Vortreffliche befriedigt, die aber nicht imstande wären, auch nur etwas Gutes hervorzubringen. Sie können nichts machen, ihnen ist der Weg vom Subjekt zum Objekt verschlossen; aber eben dieser Schritt macht mir den Poeten. Ebenso gab und gibt es Dichter genug, die etwas Gutes und Charakteristisches hervorbringen können, aber mit ihrem Produkt jene hohen Forderungen nicht erreichen, ja nicht einmal an sich selbst machen. Diesen nun, sage ich, fehlt nur der Grad, jenen fehlt aber die Art. Die ersten, welche sich auf dem vagen Gebiet des Absoluten aufhalten, halten ihren Gegnern immer nur die dunkle Idee des Höchsten entgegen, diese hingegen haben die Tat für sich, die zwar beschränkt aber reell ist. Aus der Idee kann ohne die Tat gar nichts werden.“ Hieraus ergeben sich nun einige wichtige Forderungen: zunächst die, daß es vom ästhetischen Standpunkt aus nicht zulässig ist, von einem Dichter hohe Intentionen, tiefe und unmittelbare Bedeutsamkeit oder gar moralische Tendenzen zu fordern. Eine solche Forderung würde folgerichtig durchgeführt die Poesie wiederum in den Dienst außerkünstlerischer Mächte zurückführen, wie sie ihr, vor der befreienden Wirksamkeit unserer Klassiker, durch die moralisierende Tendenz des 16. und den Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunders aufgezwungen war. „Die Dichtkunst“, schreibt Goethe in seiner Antwort auf jenen Schillerschen Brief vom 6. April 1801, „verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas, das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unseren Tagen leider gewahr werden.“ Jede echte und lebendige Dichtung, das will Goethe sagen, besitzt eine typische Bedeutsamkeit, indem durch das, was sie darstellt, die allgemeine Natur des Menschen und des Weltgeschehens sichtbar wird, wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt. Aber eben darum darf und braucht man die bewußte Beziehung auf das Allgemeine nicht beanspruchen, darf man nicht fordern, daß die Dichtung den Zusammenhang mit einer theoretischen Weltanschauung oder gar mit praktischen Tendenzen zum Ausdruck bringe. Wo ein solcher Zusammenhang dem inneren Erlebnis des Dichters entspringt, wie in Goethes Iphigenie oder Schillers Don Carlos, da freilich wird er dem Kunstwerk jene tiefere Bedeutsamkeit verleihen; und der künstlerische Wert wird um so reiner hervortreten, je unmittelbarer dieser Ursprung ist, je weniger ihm eine bewußte lehrhafte oder praktische Tendenz zugrunde liegt. So wirkt das patriotische und politische Element in Schillers Dramen, so die erzieherische Lebensweisheit im letzten Akte des Faust, so die sozialen und sittlichen Gedanken in Ibsens Brand oder Nora. Überall aber, wo der Dichter sein Werk mit bewußter Absicht in den Dienst eines allgemeinen Gedankens, einer politischen oder sozialen Richtung stellt, wird der künstlerische Wert durch das Gewollte und Lehrhafte geschädigt werden. Seine Gestalten werden sich nicht von innen heraus ausleben und darstellen, wie in einem echten Kunstwerk; ihre Handlungen werden mehr oder weniger der Absicht des Dichters, nicht der Notwendigkeit ihrer eigenen Natur entspringen. Das ist z. B. in den sogenannten Tendenzromanen des 19. Jahrhunderts der Fall, selbst in so hochstehenden wie Gutzkows Zauberer von Rom und seinen Rittern vom Geist. Und auch in Gustav Freytags trefflichem Soll und Haben ist die Schwäche mancher Partien, so das unwahrscheinliche und sensationelle Ende seines Veitel Itzig, der Tendenz des Buches zuzuschreiben. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und ganz allgemein zugeben, daß es unmöglich ist, die Bedeutsamkeit einer Dichtung nach einem künstlerischen Maßstab zu messen. Dieser Aufgabe gegenüber versagt die Poetik und muß versagen; denn der Wert, um den es sich hier handelt, hängt nicht von künstlerischen Vorzügen ab, sondern von anders gearteten Beziehungen, von einem Zusammenhang, der durch die allgemeine Geisteskultur, ihre Bedürfnisse und Richtungen gegeben ist. Daher kommt es denn auch, daß die Wirkung, die durch den künstlerischen Charakter eines Werkes hervorgerufen wird, auch dann noch dauert, wenn im Laufe einer langen Kulturentwicklung die Bedeutsamkeit des Inhalts abgestorben oder doch abgeblaßt ist. Was ist uns heute der Orakelglaube und überhaupt die Götterfurcht der Hellenen? Und dennoch ist der Einfluß des König Ödipus einer der stärksten und furchtbarsten, von denen die moderne Literaturgeschichte weiß. Und Satiren wie Don Quichote oder Figaros Hochzeit, deren Tendenz längst jede tatsächliche Spitze verloren hat, üben noch heute die Wirkung auf uns, die von vollendeten Dichtungen ausgeht. So könnte man versucht sein, einen künstlerischen Wert der Intention als solcher, der Tiefe und Bedeutsamkeit einer Dichtung, überhaupt nicht zuzugestehen und denselben vielmehr ausschließlich in der künstlerischen Ausführung zu suchen. Es ist dies der Grundsatz, den man neuerdings mit dem Schlagwort „l'art pour l'art“ zu bezeichnen pflegt: im Wesen einer Kunst, die nichts als Technik sein will, liegt es, daß sie nur auf den berechnet ist, der die Technik in ihren Einzelheiten zu würdigen weiß. Diese Anschauung setzt den Artisten an Stelle des Dichters. Sie setzt den Inhalt zurück hinter der Form, den metrischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln. Ja dieses Formenprinzip führt in seinem Extrem zu einer gänzlich inhaltlosen Kunst, die nur noch durch den Klang der Worte und Rhythmen wirken will: eine Reihe moderner und modernster französischer und deutscher Ästheten ─ wir werden beim Kapitel Lyrik auf sie zurückkommen ─ verkörpert diesen Typus. Dieser Standpunkt ist freilich bequem für die Poetik, denn er zieht keine Werte in Betracht, die sie nicht nachprüfen kann. Aber er führt zu einer Einseitigkeit, die mit dem Wesen der Poesie unvereinbar ist; er macht die Mittel der Poesie zum Zweck und zieht den Dichter zum Virtuosen herab. Eine Dichtung, die in der Stimmung ihr einziges und letztes Ziel sieht, vergißt, daß diese Stimmung nur ein Mittel ist, um den Lebensinhalt des Dichtergeistes dem Hörer lebendig zu machen, und die Notwendigkeit, von der Schiller spricht, hervorzurufen, nur ein Mittel also, um den Leser zu zwingen, an den Dichter und sein Gedicht zu glauben. Wo sich freilich der ganze Lebensinhalt des Dichters zu bloßen Stimmungen verflüchtigt, wie das bei vielen unserer modernen Artisten und Ästheten der Fall ist, da vermag er auch im besten Falle nichts anderes zu geben als Stimmung. Wenn es ihm nun an Formentalent nicht fehlt, so wird er auf dem rein lyrischen Gebiet, wo die Stimmung herrscht, mancherlei Wirksames schaffen und auf Momente fesseln können, auf die Dauer aber wird sich der Leser, der volleres Leben und echten Gehalt sucht, durch die Inhaltlosigkeit dieser Poesie angeödet, von ihr abwenden. Denn daran kann kein Zweifel sein, daß es die Persönlichkeit des Dichters ist, aus der seine Werke Inhalt und Leben, mithin den letzten und höchsten Wert empfangen und durch die allein Stoff und Form seiner Dichtungen ihre Bedeutsamkeit erhalten. Gerade weil dem so ist, kann die Poetik diesen Wert nicht im einzelnen abschätzen und wägen lehren; denn das Persönliche ist seinem Wesen nach irrational und inkommensurabel. Eben deshalb aber ist es in der Dichtung niemals mit der bloßen Form und auf die Dauer auch nicht mit der bloßen Stimmung getan. Nur ein großer Mensch kann ein großer Künstler sein: der Satz ist nicht unbestreitbar für die bildenden Künste; für die Poesie aber gilt er zweifellos. Und wenn die Modeschätzung Talente zweiten oder dritten Rangs, mögen sie der Gegenwart oder der Vergangenheit angehören, weil sie Form und Stimmung beherrschen, zu Künstlern ersten Ranges stempelt, so überdauert eine solche Schätzung die Mode niemals. Die gewaltige Wirkung unserer klassischen Dichter ist von ihrer Persönlichkeit losgelöst nicht zu denken. Die beste und vollste Kraft dieser Persönlichkeit steckt und wirkt in ihren Werken, und je vollendeter diese in künstlerischer Hinsicht sind, desto weniger braucht man hinter ihnen und durch sie hindurch nach der rein menschlichen Individualität des Dichters zu suchen, um die volle Macht seines Wissens zu empfinden; man braucht das daher bei Goethe noch weniger als bei Schiller. Aber freilich, es lohnt andrerseits schon, wenn nicht in künstlerischer, so doch in menschlicher Hinsicht: sie gewähren, in ihrer vorbildlichen Entfaltung höchsten Menschentums und losgelöst von dem Einzelinhalt ihrer Werke, eine Quelle der Freude und Erhebung. Hieraus entspringt denn auch die erzieherische Wirkung wahrer Kunstwerke, und die pädagogischen Ziele, die wir mit der Dichterlektüre im Unterricht verbinden, werden verständlich. Die Empfänglichkeit für dichterische Stimmung, die Empfindung für die Schönheit dichterischer Form zu entwickeln ist sicher ein erstes und wesentliches Ziel aller ästhetischen Erziehung; auch der Unterricht wird es auf allen Stufen als eine wesentliche Aufgabe betrachten müssen. Und richtig ist es, daß ein zu weit getriebenes Eingehen auf die verstandesmäßig erkennbare Technik, eine allzu methodische Zergliederung der dichterischen Form diese Wirkung nicht fördert, sondern schädigt und hemmt. So weit haben die Warner recht, die den Übertreibungen einer ästhetischen Analyse in der Schule entgegentreten. Aber nun gibt es auch eine große Anzahl von Stimmen, ja man kann schon fast von einer Partei unter den Schulmännern reden, welche jede Art von verstandesmäßiger Behandlung der Poesie in der Schule ablehnen. Empfänglichkeit anregen und Stimmung erwecken ist das einzige Ziel, das sie als berechtigt zugestehen. Man sieht deutlich den Zusammenhang mit dem Ästhetentum, für das sich der gesamte Gehalt der Poesie in Stimmung verflüchtigt. Allein der Unterricht hat noch andere Aufgaben der Jugend gegenüber und noch andere Kräfte, um ihnen gerecht zu werden. Die Gestalten und Handlungen, die aus den Werken unserer großen Dichter sprechen, sollen ihnen verständlich und vertraut, sollen ihnen zu eigenen Erlebnissen werden. Der Gehalt dieser Dichtungen soll sie bereichern und ihren Sinn erweitern, und die edle Begeisterung, der hohe Idealismus unserer großen schöpferischen Geister soll Widerhall in der jungen Brust finden. Das aber ist nur möglich, wenn sie über die passive Empfänglichkeit hinweg und durch die bloße Stimmung hindurch zu einer Einsicht in den Gehalt dieser Dichtungen kommen, wenn sie an den Dichter oder an den Lehrer, der ihn vertreten soll, Fragen richten dürfen und in der Lehrstunde die Anregung erhalten, solche Fragen zu stellen und zu beantworten. Neben jenem ersten Ziel also wird der Unterricht stets und mit der zunehmenden Reife der Schüler immer entschiedener das zweite ins Auge fassen müssen; neben die bloße Darbietung muß die Erklärung des Inhalts treten. Beide Aufgaben zusammen erst erfüllen den Kreis des Lektüreunterrichts und begründen die ästhetische Bildung, die aus ihm hervorwachsen soll. Doch wir dürfen diese Fragen, die ja an einer anderen Stelle dieses Werkes ausführlich erörtert sind, nur eben flüchtig berühren und müssen nunmehr dazu übergehen, unseren eigenen Aufgaben, die wir bisher nur in ihrem Gesamtumriß überblickt haben, in ihren einzelnen Teilen ins Auge zu fassen. Zweiter Teil. Die Formenelemente der Poesie. ─── 8. Sprache und Anschauung. Das Wesen aller Kunst, dies hat uns die bisherige Betrachtung gelehrt, beruht darauf, daß sie ein inneres Erlebnis des Künstlers ─ das Wort im weitesten Sinne genommen ─ in der Phantasie des Beschauers oder Hörers lebendig macht, ihn zwingt es nachzuerleben. Hierzu bedarf sie äußerer Darstellungsmittel, eines Mediums, durch dessen Gestaltung sie eine solche Wirkung erreicht. Die Verschiedenheit dieser Darstellungsmittel scheidet die einzelnen Künste voneinander. Ausdrucksmittel und Medium der Poesie ist die Sprache; die Dichtkunst ist Wortkunst, wie die Musik Tonkunst und die Malerei Kunst der Farbe ist. Hierdurch wird ihre Eigenart bestimmt. Es wäre nun aber offenbar falsch anzunehmen, daß diese Verschiedenheit der Künste nur äußerlicher und gewissermaßen zufälliger Art sei, daß es die gleichen Erlebnisse wären, welche die verschiedenen Künste auf ihre Art vermitteln wollten und könnten. Nicht jedes Erlebnis ist den verschiedenen Darstellungsmitteln in gleicher Weise zugänglich, und es sind zum mindesten immer verschiedene Seiten eines Vorgangs, was der Maler in Farben, der Musiker in Tönen und der Dichter in Worten wiederzugeben vermag. Die Verschiedenheit der Darstellungsmittel also bedingt eine Verschiedenheit des inneren Erlebnisses, des künstlerischen Vorgangs in der Seele des Empfangenden sowohl wie des Schaffenden. Wählt doch der Künstler seine besonderen Darstellungsmittel nicht etwa beliebig oder nach äußeren Zweckmäßigkeitsgründen, sondern seine individuelle Begabung nötigt sie ihm auf; und für den Dichter ist das Wort selbst ein ebenso wesentlicher Teil des Erlebnisses wie für den Musiker die Melodien und für den Bildner die Form. Was also ist die innere Eigenart der Poesie, wie sie durch die Natur der Sprache bestimmt und gegen die der übrigen Künste abgegrenzt ist? Die Frage läßt sich bestimmter fassen. Alles was die Phantasie in eine zugleich lebendige und bestimmt gerichtete Tätigkeit versetzt, pflegen wir anschaulich zu nennen, und in diesem Sinne ist Anschaulichkeit der Darstellung das Ziel, das jeder Künstler mit den Mitteln seiner Kunst anstrebt. Die Bedeutung dieses Wortes geht also weit über den Umkreis des Gesichtssinnes hinaus, von dem es ursprünglich hergenommen ist. Der Musiker vermag Schmerz und Freude, Kampf und Sieg anschaulich darzustellen, ja, das Meer im Sturm oder den Bach, der in friedlicher Landschaft sanft dahinfließt (wie Richard Wagner im Fliegenden Holländer oder Beethoven in der Symphonie pastorale.) Aber es ist klar, daß diese Art von Anschaulichkeit eine ganz andere ist als diejenige, die der Maler oder Bildner erstrebt. Diese Verschiedenheit hängt nicht nur äußerlich, sondern organisch, ja, im innersten Kern mit der Natur der Darstellungsmittel zusammen, welche dem Künstler zu Gebote stehen. Was für eine Art von Anschaulichkeit ist es nun, die der Dichter mit seinem Kunstmittel, der Sprache, erstreben und erreichen kann? Diese Frage ist nichts anderes als die Frage nach dem Wesen der Poesie überhaupt. Lessing war der erste, der den Versuch gemacht hat, die Poesie als Wortkunst zu betrachten und einige ihrer wichtigsten Stilgesetze aus dieser ihrer Natur abzuleiten. Und es wird dies der Ruhmestitel seines Laokoon bleiben, auch wenn sich die Einzelheiten seiner Lehre nicht mehr als stichhaltig erweisen. Gegenüber einer literarischen Richtung, die in der Poesie eine redende Malerei sah und von dem Dichter Bilder verlangte, hob er so scharf wie zutreffend hervor, daß malerische und dichterische Anschaulichkeit durchaus verschiedene Begriffe sind und ebenso verschiedene Eigenschaften von dem Kunstwerk voraussetzen. „Man läßt sich bloß von der Zweideutigkeit des Worts verführen, wenn man die Sache anders nimmt.“ (Laokoon Abschnitt 14.) Indem er nun aber daran geht, diese Verschiedenheit „aus ihren ersten Gründen herzuleiten“, zeigt sich, daß er das Wesen der Sprache zu äußerlich und flach, zu rationalistisch faßt: er steht in dieser Hinsicht wie in mancher anderen unter dem Banne seines Zeitalters. Worte sind ihm Zeichen, sogar willkürliche Zeichen, die der Nachahmung von Gegenständen dienen wie die Farben und Umrisse des Malers: der Unterschied ist nur der, daß diese letzteren nebeneinander im Raum existieren, während jene in der Zeit aufeinander folgen. Da nun „unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen“, so folgt daraus, „daß Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei, Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie sind“. Es folgt ferner, daß der Dichter sich vergebens bemühen wird, durch Schilderungen die Anschaulichkeit des Nebeneinander im Raum zu erreichen, die nur dem Bilde des Malers sich eignet. Das Gebiet seiner Kunst ist das Sukzessive. Daher muß er das Nebeneinander in ein Nacheinander verwandeln, wenn er anschaulich wirken, Anschauungen hervorrufen will. Man sieht, hiernach würden die Anschauungskomplexe in der Phantasie auf verschiedenen Wegen hervorgebracht werden, die Elemente aber, aus denen sie sich zusammensetzen, dieselben bleiben, und die Anschaulichkeit des einzelnen Zuges würde in den verschiedenen Künsten doch wieder die gleiche sein. Ob der Künstler z. B. blaue Farbe malt oder das Wort blau schreibt, würde keinen Unterschied machen. Denn auch in der Poesie wird soviel malerisch angeschaut, wie es in einem Moment möglich ist, und die Verschiedenheit beider Künste wäre mithin nur relativ. Das Unzureichende dieser Grundansicht vom Wesen der Sprache, das Unzulängliche der auf sie begründeten Lehre hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Laokoon Herder im ersten kritischen Wäldchen hervorgehoben. „Das Sukzessive in den Tönen ist nicht das Wesen der Dichtkunst“, heißt es dort (Abschnitt 15). „Die artikulierten Töne haben in der Poesie nicht eben dasselbe Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren und Farben zu dem ihrigen haben.“ ─ „Die Poesie wirkt durch Kraft ─ durch Kraft, die dem Worte beiwohnt, zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Koexistente oder die Sukzession. Bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden.“ Aus dem Sukzessiven der Töne folgt wenig oder nichts. „Durch die Erzählung vom Szepter des Agamemnon, vom Bogen des Pandarus wird eine anschauliche Schilderung dieser Gegenstände nicht ersetzt, soll auch nicht ersetzt werden. Homer erzählt nicht, um zu malen, sondern statt zu malen, nicht weil Sukzession das Wesen dieser Kunst ist, sondern weil dieses Wesen Energie, Kraft, nur in der Bewegung zutage treten kann. „Lessing kann nicht sagen, es sei Homer mit seiner Geschichte des Bogens um sein Bild und bloß um sein Bild zu tun gewesen. Um nichts minder als hierum: die Stärke, die Kraft des Bogens war seine Sache; sie, und nicht die Gestalt des Bogens gehört zum Gedicht, sie, und keine andere Eigenschaft soll hier energisch mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus abdrückt, wenn nachher die Sehne schwirrt, der Pfeil trifft ─ um so mehr den Pfeil empfinden.“ Und keinesfalls ist Lessing berechtigt, was vom epischen Dichter gilt, ohne weiteres auf die übrigen Gedichtarten zu übertragen. „Ich zittere vor dem Blutbade, das seine Sätze unter alten und neuen Poeten anrichten müssen.“ Zusammengefaßt also lautet die Lehre Herders: Anschaulichkeit der Poesie ist Energie der Rede, durch welche wirkende Kraft dargestellt wird. Das Konsekutive ist eine bloß äußere Form, die für den Inhalt der Poesie nicht wesentlich ist und sie daher auch nicht absolut bindet. Man sieht: dem rationalistischen Kritiker, der aus einigen scharfgefaßten, aber engen Begriffen sein Gebäude errichtet, tritt der künstlerisch empfindende Denker gegenüber, der, selbst wo er noch nicht zu voller Klarheit kommt, doch überall volles innerliches Leben statt des abstrakten Begriffs erfaßt. Freilich, auch Herder ist klarer und siegreicher da, wo er die Unzulänglichkeit in der Lehre seines Vorgängers nachweist als da, wo er seine eigene begründet. Und daher ist es immerhin erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der malerischen Beiwörter u. s. w. als unumstößliche Wahrheiten gelten. Was Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht, vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen der Dichtkunst auszuschalten, ─ seltsam genug für den genialen Bahnbrecher sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm Zeichen und „bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden“. Die Kraft der Poesie liegt also ─ wie bei Lessing ─ ganz und gar in dem Sinn der Worte, und noch in der Kalligone heißt es (Werke, her. v. Suphan XXII S. 326): „Das Symbolische der Laute oder gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, ihr selbst aber eigene Welt, Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten. “ So bleibt es denn fast hundert Jahre hindurch die herrschende Meinung, daß Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten. Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben. Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine Erkenntnis hervor, daß das Verhältnis des Worts zur Anschauung keineswegs so einfach ist, wie es die frühere Theorie auffaßte, daß es mit dem Ausdruck Zeichen nur sehr unzulänglich wiedergegeben wird, und daß die Rede eine Reihe von psychologischen Wirkungen beabsichtigt und auslöst, die durchaus nicht auf die Erweckung innerlicher Anschauungsbilder zurückzuführen sind. Anderseits führte der künstlerische Gegensatz zwischen Naturalismus und Neuromantik, wie er namentlich in der französischen Literatur mit Schärfe hervortrat, zu der besonderen Frage, ob die Eigenart der Poesie wirklich auf der Fähigkeit der Sprache, bestimmte Anschauungen hervorzurufen, beruhe oder vielmehr auf ihrem musikalischen Charakter ohne Beziehung auf inhaltliche Anschauung. Während die naturalistischen Romandichter, Flaubert, die Brüder Goncourt und Zola mit allen Kräften des Verstandes wie der Phantasie auf die höchste bildliche Anschaulichkeit der Sprache hinarbeiteten und darüber vielfach in die vorlessingsche Art der Beschreibungen zurückfielen, war den symbolistischen Dichtern, wie Mallarmé und Verlaine, in Deutschland Stefan George und seinem Kreise, die Sprache vor allem ein musikalisches Instrument: die Worte erwecken, freilich nicht bloß durch ihren Klang, sondern auch durch ihren Gefühlswert, unmittelbar Empfindungen, die sich vereinen, um eine Stimmung hervorzurufen, welche das anschauliche Bild gleichsam unter sich läßt und sich schwebend von ihm entfernt. Das Verdienst nun, mit den Erfahrungen dieser künstlerischen Entwicklung und zugleich mit den methodisch erworbenen Einsichten der modernen Wissenschaft aufs neue an das Problem des Laokoon herangetreten zu sein, gebührt Theodor A. Meyer, der in einem inhaltreichen und gedankenscharfen Buche Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901. das Verhältnis der Dichtersprache zur Anschauung psychologisch untersucht hat. Was zeigt nun eine solche Untersuchung? Zunächst dies, daß Worte und Anschauungen sich tatsächlich niemals decken. Aller sprachliche Ausdruck beruht auf Abstraktion; Worte heben immer nur diejenigen Beziehungen eines Gegenstandes oder Vorgangs heraus, die für den Zweck des Sprechenden, für den Zusammenhang der Rede Bedeutung haben, und auch diese stets in einer allgemeinen, mithin abstrakten Form: das Wort an sich bezeichnet niemals eine konkrete und individuelle Anschauung, sondern immer nur einen allgemeinen Begriff. Und wenn nun auch verschiedene Begriffe einander bestimmen und zu engeren, also anschaulicheren Vorstellungen gegenseitig determinieren, so erreichen doch auch solche Wortverbindungen niemals die anschauliche Bestimmtheit eines konkreten Bildes, und das Individuelle als solches bleibt immer unaussprechlich. Das wußte schon Wilhelm von Humboldt. „Die Poesie“, sagt er, Über Goethes Hermann und Dorothea, a. a. O. S. 158. „ist die Kunst durch Sprache. In dieser kurzen Beschreibung liegt für denjenigen, welcher den vollen Sinn dieser beiden Wörter faßt, ihre ganze Höhe und unbegreifliche Natur. Sie soll den Widerspruch, worin die Kunst, welche nur in der Einbildungskraft lebt und nichts als Individuen will, mit der Sprache steht, die bloß für den Verstand da ist und alles in allgemeine Begriffe verwandelt, ─ diesen Widerspruch soll sie nicht etwa lösen, so daß nichts an die Stelle treten, sondern vereinigen, daß aus beiden ein Etwas werde, was mehr sei, als jedes einzelne für sich war.“ Die Schärfe der begrifflichen Beziehungen hervortreten zu lassen, ist die Aufgabe und die Kunst der prosaischen Sprachbehandlung. Was nun aber ist die Eigenart der Dichtersprache und der dichterischen Darstellung, die aus ihr hervorwächst? Kraft des innerlichen Erlebens ist der Mutterschoß der künstlerischen Schöpfung. Alle künstlerische Wirkung beruht darauf, daß wir diese innere Kraft und Lebendigkeit nachempfindend genießen. Das gilt für die Poesie wie für alle übrigen Künste. Schönheit genießen heißt innere Lebendigkeit, „die Lebensfülle und den Kraftreichtum der Welt“ nachempfinden. Auf den Begriff der Nachempfindung überhaupt kommt es zunächst an. Die Psychologie lehrt uns, daß Empfindungen die Elemente eines jeden Anschauungsbildes sind. Jede Empfindung enthält mithin etwas Objektives oder Repräsentatives; sie trägt dazu bei, eine Anschauung der Außenwelt in uns hervorzurufen. Sie ist aber zugleich stets mit einem mehr oder weniger starken subjektiven Gefühlston verbunden, und jeder Empfindungskomplex, jede Anschauung löst in uns Gefühle und Stimmungen aus. In den Eindrücken, die wir von der Außenwelt empfangen, kann nun entweder die objektive Seite, der Inhalt der Anschauung, stärker hervortreten, oder das subjektive, gefühlsmäßige Element das herrschende sein. Fassen wir daraufhin die verschiedenen Künste ins Auge, so ist das erstere der Fall bei der bildenden Kunst, das zweite bei der Musik und der Dichtung: auf dem Objektiven der Anschauung beruht das Wesen der Malerei und der Plastik, auf dem gefühlsmäßigen Nacherleben jede dichterische und musikalische Wirkung. Während aber in der Musik der objektive Anschauungsgehalt fast völlig zurücktritt, ist es die Eigenart der Poesie, daß das Nachfühlen hier „seine volle Entfaltung erreicht, ohne daß darum das Nach empfinden unwesentlich würde: Nachempfinden und Nachfühlen sind in der Poesie einander besonders nahe gerückt.“ (Meyer S. 150, 151.) Die Dichtersprache vermag ebensowenig wie die Prosa individuelle Sinnenbilder unmittelbar zu bezeichnen oder zu erwecken, aber sie vermag ─ und eben dies ist ihre eigentümliche Kraft und Wirkung ─ den Gefühlston auszudrücken und wachzurufen, welchen die Anschauungen und Eindrücke der Außenwelt sowohl wie die Vorgänge der Innenwelt in uns hervorbringen. „Sie wecket der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen.“ Und wunderbar genug: diese Gefühle erweckt sie ohne Vermittlung von Sinnenbildern und Anschauungen; das Wort selbst, diese Abbreviatur der Wirklichkeit, ihr längst abgeblaßtes Bild, besitzt diese Kraft. Ja mehr als das, indem es das Gefühl in voller Stärke hervorruft, welches sonst nur Anschauungsbilder in uns erregt, erweckt es die Vorstellung, daß auch hier mit dem Gefühl zugleich das Sinnenbild, der objektive Anschauungsgehalt, lebendig wird, daß wir, wenn auch in schwächerem und blasserem Maße die Vorgänge sehen und hören, von denen der Dichter berichtet. Diese Vorstellung ist eine Illusion. „Was der Dichter mit seinem unanschaulichen Willen schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung, sondern nur ihr Schein. Aber dieser Schein ist psychische Notwendigkeit und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen so unentrinnbar.“ Auch Herder spricht schon in demselben Sinne von der Täuschung der Phantasie durch die Energie der Dichtersprache. Dichterische Kraft und Gabe, Sprachgewalt und poetische Wirkung besteht mithin darin, Gefühlstöne anzuschlagen, aus denen heraus die Illusion der Anschauung erwächst. Der Dichter weiß in der Bezeichnung der Gegenstände, in der Darstellung der Vorgänge diejenigen Elemente herauszuheben, die in unserem Gefühlsleben den stärksten Widerhall finden; dadurch entsteht in uns die lebendige Vorstellung, und wir glauben anschauliche Bilder zu sehen, weil wir das Leben empfinden, das den Inhalt solcher Bilder erfüllt und das der Dichter uns vorempfunden hat. „Der Dichter bringt also auch das scheinbar Tonlose zum Klingen.“ Man wird an den schönen Eichendorffschen Vers erinnert: „Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu klingen, Sprichst du aus das Zauberwort.“ In Wirklichkeit freilich sind es nicht die Dinge, die in uns tönen, sondern unser eigenes Gefühlsleben ist es, das ihnen Leben verleiht, wenn es durch die Sprachkunst des Dichters geweckt ist. „Worte sind der Seele Bild, ─ Nicht ein Bild, sie sind ein Schatten. Sagen herbe, deuten mild, Was wir haben, was wir hatten.“ So steht die Poesie als Wortkunst zwischen den bildenden Künsten und der Musik in der Mitte. Vermitteln jene im wesentlichen Anschauungsgehalt und Sinnenbilder, erweckt diese Gefühl und Stimmungen ohne Anschauungsgehalt; so vereinigt die Dichtung beides, aber doch so, daß sie statt greifbarer Anschauungen äußerer Wirklichkeit vielmehr, indem sie lebendige Kraft, inneres Leben verkörpert, die Illusion solcher Anschauungen schafft. Das Leben, in seinen Zusammenhängen gefühlsmäßig erfaßt, ist der Gegenstand der Poesie, denn es ist das, was die Dichtersprache auszudrücken und wiederzugeben vermag. Hieraus ergibt sich denn auch die Antwort auf die besonderen Stilfragen, die im Laokoon gestellt sind, und es zeigt sich, daß Herder im wesentlichen gegen Lessing recht behält. Poesie kann nicht Bilder ohne Bewegung malen, wie die bildende Kunst. Diese These Lessings ist richtig, aber nicht weil der sukzessive Charakter der Sprache sie verhindert, einheitliche Vorstellungen hervorzubringen, sondern vielmehr weil sie Leben im Zustand der Erregung und Bewegung braucht, um anschaulich zu wirken. Denn nicht an unsere Sinne, sondern an unsere Lebensgefühle muß sich die Dichtung wenden, wenn sie anschauliche Vorstellungen wachrufen will. Wo das pulsierende Leben fehlt, wo das Gefühl nicht erregt und genötigt wird, die aufeinander folgenden Reihen von Zuständen zu durchleben und hierdurch zu verknüpfen, da ist es ganz gleichgültig, ob der Dichter Koexistierendes oder Sukzessives darstellt: was er schreibt, bleibt immer bloße Beschreibung und als solche matt und unwirksam. Dies zeigen eben jene Schilderungen Zolas und der modernen Naturalisten überhaupt. Wo sie wirken, wirken sie durch lebendige Züge, nicht aber durch die Fülle der aufgehäuften Einzelheiten. Diese sind vielmehr oft genug ein Hindernis, „weil dabei notwendigerweise eine Masse gehaltloser Züge mit unterlaufen müssen“. „Für alle Beschreibungen des Dichters gilt nur die eine Regel: er bilde jeden einzelnen Zug so lebensvoll als möglich und sorge dafür, daß die Gehaltssumme der einzelnen Züge sich zu einer lebendigen Gehaltseinheit zusammenschließt; dann stellt sich Illusion des einheitlichen Bildes ein, und diese Illusion möglichst kräftig zu erzeugen, ist seine Aufgabe.“ Dies ist in ihren wesentlichen Zügen die Theorie Theodor A. Meyers. Sie hat überall Beachtung, vielfach Anklang gefunden. ) Insbesondere Dessoir hat ihr lebhaft beigestimmt und in einem der besten Abschnitte seiner Ästhetik (S. 353─368) in dem gleichen Sinne über die Anschaulichkeit der Sprache gehandelt. „Unser seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an Worte dieselben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklichkeit, der die Worte entsprechen; ja es gibt Menschen, bei denen der durch die Rede hervorgerufene Eindruck stärker ist als der aus der Realität stammende Eindruck.“ „Darnach braucht die Schilderung eines Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde.“ Wenn freilich Dessoir die Auffassung der Poesie als Wortkunst so auf die Spitze treibt, daß der ästhetische Genuß ihm ein für allemal „an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet“, so klingt das doch gar zu sehr nach artistischer Einseitigkeit, die über der Form den Gehalt vergißt, und der Versuch, Redekunst (im Sinne von Rhetorik) und Drama in enge Verbindung zu bringen, der sich für ihn als Folgerung dieser Anschauungsweise ergibt, muß mißglücken, weil er den Wesensgehalt dieser Kunstform unberücksichtigt läßt; ─ wiewohl nicht zu verkennen ist, daß ein rhetorisch dialektisches Element in der griechischen Tragödie oft stark hervortritt. In der jüngsten Zeit hat Jonas Cohn in der bereits angeführten Abhandlung einige Einwendungen und Einschränkungen Meyer gegenüber erhoben. Indessen, wenn er „den Erlebnischarakter“ des poetischen Eindrucks hervorhebt, so setzt er sich damit sachlich nicht in Widerspruch zu Meyer, der ja Wiedergabe des Lebens als die Aufgabe der Kunst und Nachempfinden des Lebensgehalts als das Wesen der dichterischen Wirkung betrachtet. Und die These, mit der Cohn seine Kritik schließt, daß nämlich, wenn man nur unter Anschauung im ästhetischen Sinne „vollständiges bewußtes Erleben“ verstehe, die poetische Sprache sehr wohl im Stande sei, Anschauungen zu erzeugen, kann Meyer von seinem Standpunkte durchaus gelten lassen. Schwerer wiegt, was Cohn S. 9 hervorhebt: „Die ganze Trennung des Seelischen und Körperlichen, die in der Wissenschaft notwendig ist, geht im Grunde die Kunst nichts an. Für den Künstler besteht überall die volle Einheit der Erscheinung wie für den naiven Menschen. Die ausdrucksvolle Gebärde und das ausgedrückte Gefühl, der blühende Baum und der Eindruck fröhlichen Lebens, den er erweckt, sind für ihn nicht zwei Dinge, die vereint werden sollen, sondern sie sind unmittelbar dasselbe.“ Aber auch dies trifft doch mehr die Formulierung Meyers als den Inhalt seiner Lehre, die ja gerade auf der Untrennbarkeit seelischer und sinnlicher Eindrücke beruht. ─ Auch H. Roetteken hat im Eingangskapitel seiner oben angeführten Poetik der Frage eine eingehende Erörterung gewidmet und besonders die psychologische Selbstbeobachtung herangezogen. Und in der Tat, wie sie mit sich selbst übereinstimmt, so steht sie auch in Übereinstimmung mit dem, was jeder an sich selbst erleben kann und was sich uns im vorigen Abschnitt ergeben hat: der Dichter erweckt nicht durch anschauliche Bilder, die er entwirft, so wenig wie durch den Inhalt seiner Darstellung überhaupt, Stimmung und Gefühl, sondern durch die Stimmung, die er zu erwecken versteht, zwingt er uns, zu erleben, zu glauben und schließlich zu sehen, was er darstellt. Diese Gefühle und Stimmungen aber zu erregen vermag er nur durch die unmittelbare Kraft der Sprache, die Kraft, inneres Leben zu lebendigem Ausdruck zu bringen und eben hierdurch unsere Seele mit in Schwingungen zu versetzen. Was wir als Anschaulichkeit dichterischer Darstellung empfinden, ist auf dieses innere Leben zurückzuführen. Ein Beispiel möge den Gedanken veranschaulichen: Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; Ich freute mich bei einem jeden Schritte Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, Und alles war erquickt, mich zu erquicken. Diese Schilderung des Frühlingsmorgens, der erwachenden Natur, wird jedem, der sie liest, als ein höchst anschauliches Bild erscheinen. Und doch, wenn wir die Worte und Wendungen Goethes näher betrachten, so finden wir, daß kaum eines darunter unmittelbar eine sinnliche Anschauung hervorruft. Die neue Blume, die voll Tropfen hing, ist die einzige im hergebrachten Sinne anschauliche Wendung und „neue Blume“ ist wahrlich kein besonders sinnlich packender Ausdruck. Was die Worte bezeichnen, ist nur der Widerhall, das Erlebnis in der Seele des Dichters, die Morgenstimmung, die durch die Eindrücke der Natur hervorgerufen ist. Und eben hierdurch wird in dem Leser selbst diese Morgenstimmung so kraftvoll erweckt, daß er glaubt, das Bild der taufrischen Bergwiese vor sich zu sehen, über die der Dichter schreitet. Ein entsprechendes Beispiel aus der epischen Poesie geben uns die ersten Strophen der Braut von Corinth: Nach Corinthus von Athen gezogen Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. Einen Bürger hofft' er sich gewogen; Beide Väter waren gastverwandt, Hatten frühe schon Töchterchen und Sohn Braut und Bräutigam voraus genannt. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Und schon lag das ganze Haus im Stillen, Vater, Töchter; nur die Mutter wacht; Sie empfängt den Gast mit bestem Willen, Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht. Wein und Essen prangt, Eh' er es verlangt; So versorgend wünscht sie gute Nacht. Aber bei dem wohlbestellten Essen Wird die Lust der Speise nicht erregt; Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen, Daß er angekleidet sich aufs Bette legt; Und er schlummert fast, Als ein seltner Gast Sich zur offnen Tür hereinbewegt. Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer Tritt, mit weißem Schleier und Gewand, Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer, Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band. Wie sie ihn erblickt, Hebt sie, die erschrickt, Mit Erstaunen eine weiße Hand. Auch diese Strophen wirken im hohen Maße anschaulich plastisch, und doch sind die Bezeichnungen, die der Dichter wählt, fast alle ganz allgemeiner Natur und entbehren im einzelnen jeder sinnlichen Bestimmtheit: ein Jüngling, die Mutter, Wein und Essen; ─ man vergleiche diese Darstellungsweise mit den entsprechenden Szenen der Gastfreundschaft bei Homer, mit ihrem Reichtum an anschaulichen Einzelheiten! Die weiße Kleidung, das schwarz und goldene Band um die Stirn des Mädchens ist bei Goethe das einzige unmittelbar Sinnenfällige. Aber von vornherein werden wir in den Seelenzustand des Jünglings versetzt, und das innerliche Wesen der Personen tritt lebhaft hervor. Die Mutter sagt vorsorgend gute Nacht; das Mädchen tritt still und sittsam ins Zimmer; so ruft der Dichter eine lebendige Mitempfindung hervor, und eben diese ist es, was uns die Illusion der Anschauung erregt. Wir sehen: diese Beispiele stimmen. Nun aber erhebt sich gleichwohl die Frage, ob und wieweit man das Recht hat, ihre Geltung zu verallgemeinern. Ist das Verhältnis zwischen Gefühl und Anschauung in der Tat immer das gleiche? Erweckt eine kraftvolle Stimmung, wo sie uns in einem Gedicht entgegentritt, stets anschauliche Bilder? Und umgekehrt: erwächst anschauliche Wirklichkeit stets und einzig aus der Lebendigkeit eines Gefühlstons? Auch hier sollen ein paar Beispiele der Zweifel veranschaulichen und begründen. Ich setze zunächst ein Gedicht von Paul Verlaine hierher, das in freier Übertragung folgendermaßen lautet: Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen Am rot erglühten Abendhimmel schwanken, Die einst als Tageshoffnungen mich riefen! Es wächst die Glut im Weichen: sieh' da ranken Narzissen, Tulpen, Lilien auch, die schlanken, Geheimnisvoll empor an gold'nen Schranken. Betäubend süße Düfte ringsum triefen, Die in der Blumen stillen Kelchen schliefen, ─ Narzissen, Tulpen, Lilien auch, den schlanken ─ Aus schweren, warmen Wolken Gifte hauchend, In tiefe Ohnmacht Geist und Sinne tauchend, ─ Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen! Niemand wird sich dem Eindruck verschließen, daß in diesen Versen eine tiefe und starke Empfindung zu lebensvollem, tief wirksamem Ausdruck kommt. Aber irgendwelche greifbare Anschauung hat der Dichter offenbar weder erreicht noch erstrebt. Das Gedicht ist ein Abbild dunkel wogender Empfindungen und Gefühle, hervorgerufen durch den Anblick des rotglühenden Abendhimmels, beim Einbruch der dämmernden Sommernacht mit ihren schwülen Blumengerüchen. Leise verschweben in diesem Chaos von Farben und Düften vergangene Erlebnisse, Hoffnungen, die nun zu Erinnerungen geworden sind, und mit dem Abendrot dämmernd verschmelzen. Aber nirgends ein Bild, alles wogt und schwankt wie die Seele des Dichters selbst, in der die Träume der Vergangenheit verschwimmen. ─ Nicht ganz so gegenstandslos, aber doch nahe verwandt dieser Kunst reiner Stimmung sind einige Gedichte Mörikes, vor allem eines seiner schönsten, der „Gesang zu Zweien in der Nacht“. Auch hier fast nirgends ein fest umrissenes Bild, und wo ein solches flüchtig auftaucht wie das von den „seligen Feen, die im blauen Saale silberne Spindeln hin und wieder drehen“, da gibt es keine Anschauung, bei der wir verweilen sollen: eine sanft verschwebende süße Musik, das ist der Charakter dieser Verse. Man sieht, es kann ein Gedicht tiefe und echte Stimmungen zu sprachgewaltigem Ausdruck bringen und doch von jeder Anschaulichkeit entfernt sein. Und nun eine lyrische Schilderung gänzlich anderer Art. Die erste Strophe von Matthias Claudius' Abendlied: Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weise Nebel wunderbar. Hier ist wahrlich von Gefühlsleben wenig zu spüren. Fast sachlich trocken stehen die Sätze nebeneinander. Nur das eine Schlußwort „wunderbar“ deutet eine Stimmung an. Und doch ist es zweifellos, daß der Dichter ein hohes Maß wirklicher Anschaulichkeit erreicht hat: die meisten Leser werden den dunklen Wald, die sternbeschienene Wiese, von der er sich abhebt und aus der die weißen Nebel aufsteigen, scharf umrissen vor sich zu sehen glauben. Woher nun aber diese kraftvolle Anschaulichkeit, wenn sie nicht aus der Stimmung, dem bewegten Gefühl heraus, erklärt werden kann? Auch hier möge ein hübsches kleines Gedicht Mörikes die Beobachtung unterstützen: Septembermorgen. Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen. Es muß doch wohl so sein, daß in diesen Gedichten die Bezeichnung der Sinneseindrücke, besonders der Farben der Landschaft unmittelbar entsprechende Anschauungen in uns erweckt, und offenbar sind es die starken Kontrastwirkungen, durch die sie verschärft und belebt werden: der schwarze Wald und der weiße Nebel, der blaue Himmel und das warme Gold der Herbstlandschaft. Das schließt keineswegs aus, daß diese Sinneseindrücke mit einem starken Gefühlston verbunden, in der Seele des Dichters lebendig geworden sind und gerade hierdurch auch seine Sprache so kraftvoll und wirksam gestaltet haben. Aber es ist doch deutlich, daß diese Verse nicht zunächst Stimmungen und Gefühle und hierdurch erst die Illusion der bestimmten Anschauung wachrufen, sondern daß es umgekehrt bestimmte Elemente sinnlicher Farbenanschauungen sind, die in uns erweckt werden und aus denen die Stimmung vielmehr erst hervorgeht. Diese Möglichkeit wird durch eine allgemeinere Erscheinung bewährt. Es gibt eine Anzahl epischer Dichter und Romanschriftsteller, deren Darstellung in besonders hohem Maße den Eindruck sinnlicher Anschaulichkeit hervorruft. Je nach der Richtung, der sie angehören, eignet ihren Bildern eine komische Drastik oder eine unheimlich visionäre Deutlichkeit. Für das erste ist Dickens, für das zweite E. A. Poe typisch, während E. Th. A. Hoffmann beide Wirkungen vereinigt. Konrad Ferdinand Meyers Gestalten und Szenen besitzen vor allem plastische Festigkeit und monumentale Größe, während die seines Landsmanns Keller mehr malerische als plastische Eigenschaften zeigen: lebendige Frische und künstlerische Harmonie der Farben, feine Abtönung der Landschaft und liebevolle Anschaulichkeit des charakteristischen Details. Bei allen Genannten aber hat man den Eindruck, daß sie scharf umrissene Bilder gesehen und wiedergegeben haben, und jeder einigermaßen phantasievolle Leser wird bei ihrer Lektüre ähnliche, wenn auch schwächere Bilder zu sehen glauben. Nun mag hieran immerhin die Kraft des Gefühlslebens, welche Worte und Darstellungen durchtränkt, einen starken Anteil haben. Vergleicht man aber die genannten Dichter mit anderen, die ihnen der Gefühlsweise nach verwandt sind, so sieht man bald, daß die Stärke des Gefühls es nicht allein macht, daß vielmehr noch etwas anderes hinzukommen muß, um die Eigenart dieser Bildlichkeit zu erklären. Denn Jean Paul empfindet an sich gewiß nicht schwächer als Dickens, das innere Leben, das Hölderlins Hyperion erfüllt, ist nicht minder intensiv als das im Grünen Heinrich, und W. Alexis' Fähigkeit zu phantasievollem Nachempfinden geschichtlicher Persönlichkeiten und Ereignisse ist nicht geringer als die Konrad Ferdinand Meyers. Wenn nun gleichwohl die Bilder und Szenen, welche die drei letztgenannten entworfen, so beträchtlich schärfere Umrisse und anschaulichere Farben aufweisen, so kann das nicht ausschließlich durch die Intensität des inneren Nacherlebens und Nachempfindens bewirkt sein; vielmehr muß in der Art dieses Erlebens und Empfindens eine Verschiedenheit liegen. Offenbar verläuft bei einer Reihe von Dichtern das künstlerische Erlebnis selbst mehr im Inneren und Unanschaulichen, bei anderen wahrt es mehr den Zusammenhang mit der sinnlichen Anschauung. Mit anderen Worten: auf die Innenwelt der einen wirken die anschaulichen Eindrücke der Außenwelt stärker nach, auf die anderen schwächer, ohne daß darum die innere Lebendigkeit selbst, die Kraft der Phantasie an sich stärker oder schwächer zu sein brauchte. Sie nimmt eben nur eine andere Richtung, trägt einen anderen Charakter. Natürlich genug: wenn wir der Poesie die mittlere Stelle zwischen Musik und bildender Kunst eingeräumt haben, so kann das nicht heißen, daß sie auf einer scharf bezeichneten Linie ein für allemal festliegt: sie bewegt sich vielmehr in einem weiten Zwischenraum auf und ab und nähert sich je nachdem mehr dem einen oder dem anderen Extrem. Jeder Dichter zwar ist, wie die Psychologie es ausdrückt, auditiv veranlagt, d. h. Gefühle und Empfindungen setzen sich ihm unmittelbar in Wortklänge um, die er innerlich hört und in seinen Versen wiedergibt: sonst wäre er eben kein Dichter. Hierzu aber gesellt sich ein sehr verschiedenes Maß visueller Begabung. Der eine sieht scharf und deutlich, wo der andere nur schwache Umrisse erblickt, aber vielleicht um so stärker und innerlicher ergriffen und bewegt ist, und ihre Schöpfungen tragen deutlich den entsprechend verschiedenen Charakter. Die Verschiedenheit haftet nicht ausschließlich an der Persönlichkeit des Dichters; sie hängt bisweilen einfach von dem Gegenstande der Darstellung, dem Inhalt des dichterischen Erlebnisses ab. Derselbe Goethe schreibt in derselben Epoche seines Lebens den subjektiv innerlichen Werther und den durchaus plastisch anschaulichen Wanderer. Auch die Gattung des Gedichts übt Einfluß aus: das Epische erfordert mehr anschauliches, Drama und Lyrik mehr innerliches Erleben; man vergleiche den Tasso mit Hermann und Dorothea. Das Entscheidende aber bleibt gleichwohl die individuelle Anlage des Dichters. Die gefühlsbetonte Empfindung, aus der die Dichtersprache und die poetische Darstellung überhaupt hervorgeht, ist nicht bei allen Dichternaturen die gleiche. Sie kann mehr oder weniger objektiven Anschauungsgehalt, mehr oder weniger subjektive Gefühlstöne enthalten, wie das auch im Gebiete der elementaren Sinnesempfindung der Fall ist. Dort steht beides zumeist im umgekehrten Verhältnis; in den höheren ästhetischen Erscheinungen entsprechen sie sich mindestens nicht einfach. Auch hier besteht nicht selten ein deutlicher Gegensatz zwischen ausgesprochen visuellen und ebenso ausgesprochen innerlich gewendeten Dichtern: bei E. Th. A. Hoffmann z. B. und mit einseitiger Schärfe bei E. A. Poe tritt die visuelle Anlage hervor, an Klopstock vermißte schon Schiller mit Recht jedes anschauliche Element. Bei den größten Dichtern freilich finden wir fast stets einen Ausgleich zwischen den Extremen: äußere Anschauung und inneres Leben halten sich hier die Wage, und Goethes künstlerischer Wirklichkeitssinn bleibt von Klopstocks oder Jean Pauls subjektiver und gefühlsmäßiger Art ungefähr ebenso weit entfernt wie von der drastischen Anschaulichkeit Hoffmanns oder Poes. Und was vom Dichter, das gilt gleichermaßen auch vom Leser. Auch hier hängt es von der Veranlagung des einzelnen ab, ob er beim Lesen und Hören mit mehr oder weniger bildlicher Deutlichkeit sieht, ob ihm die nachschaffende Phantasie mehr in anschaulichen Bildern oder in gefühlsmäßigen Vorstellungen verläuft. Leser von ausgeprägt visuellen Anlagen sehen eben mehr als andere, die gleichwohl ebenso stark nachfühlen und nacherleben, und das Maß von bildlicher Anschauung, das die Worte eines Dichters erwecken, ist keineswegs für alle seine Leser das gleiche. Jene ausgeprägt visuellen Dichter, von denen oben die Rede war, üben freilich eine Art von suggestiver Wirkung auch auf schwächer anschauende Leser, aber die Bilder, die sie wachrufen, werden sich vermutlich immerhin an Schärfe und Kraft der Einzelzüge sehr verschieden gestalten. Erst durch das Zusammentreffen der Eigenart des Dichters mit der des Lesers wird die Eigenart der Wirkung völlig bestimmt. Wenn mithin Th. A. Meyers Lehre vom Verhältnis des Gefühls zur Anschauung in der Hauptsache richtig ist, so trägt sie doch den individuellen Eigentümlichkeiten des künstlerischen Schaffens und Genießens zu wenig Rechnung. Ganz richtig schildert Meyer das Wesen des sprachlich dichterischen Prozesses. Alle schaffende und nachschaffende Phantasie wird durch Bilder früherer Anschauungen erfüllt und getragen. Das Anschauungsbild verlischt mit der sinnlichen Erscheinung des Angeschauten und wird als Erinnerungsbild niemals wieder in vollem Umfang und mit allen einzelnen Zügen aufs neue erweckt; nur die hervorragendsten Merkmale werden wieder lebendig, diejenigen, „mit deren Vorstellung die Gehaltsempfindung am engsten und unmittelbarsten assoziiert wird“. Daher „kann der Dichter das im engsten Sinne Individuelle nicht erreichen, aber er bringt es doch zu vollständig bestimmten und kräftigen Eindrücken, falls er uns nur glücklich an die den Gehalt spiegelnden Züge der Erscheinung zu erinnern weiß“. Nun aber dürfen wir nicht übersehen, daß die Schärfe und Intensität der Sinneseindrücke und dem entsprechend die Kraft, mit der das Gedächtnis sie in den Einzelzügen festhält, bei den verschiedenen Menschen sehr verschieden abgestuft ist. Daher gleichen sich die Erinnerungsbilder nicht: sie sind bei dem einen abstrakter und blasser, bei dem andern frischer und reicher. Gleichwohl ─ und in diesem entscheidenden Punkte hat Meyer recht ─ kann sich ein gleich starker Gefühlsgehalt an die allgemeine Vorstellung wie an das konkrete Bild knüpfen. Und dieser Gefühlsgehalt ist es, den die Sprache zuerst und unmittelbar erweckt. Auch die Anschauung gewinnt Leben und Kraft immer nur aus dem inneren Erlebnis, der Empfindung. Aber die Eigenart dieser Empfindung und dieses Lebens wird wesentlich mit bestimmt durch das Maß von Anschaulichkeit und Schärfe, das den Erinnerungsbildern und den daraus hervorwachsenden Phantasiebildern eignet. So erklärt es sich auch, daß die auffallendsten Eindrücke, d. h. solche, die sich von dem gewöhnlichen Erlebnis am stärksten abheben, im allgemeinen auch am anschaulichsten wirken; also scharfe Kontraste in Farben und Tönen, abnorme Körperformen, absonderliche Bewegungen. Daher finden wir bei den meisten stark visuellen Dichtern die Neigung zu dieser Art von Drastik, die ihre Wirkung niemals ganz verfehlt. Ein Beispiel scharfer Farbenkontrastierung gab uns schon Matthias Claudius' Abendlied. Viel weiter gehen die späteren Novellisten darin. Poes „Maske des roten Todes“ ist ein Virtuosenstück in dieser Art, das fast ganz und gar auf eine grobe, aber sichere Farbenwirkung gestellt ist. Dickens wirkt vor allem durch die eigentümlich charakteristischen Bewegungen, die er seinen Menschen beilegt: wir haben doch alle mehr als einen bloßen Gefühlseindruck, wenn wir im Copperfield lesen, wie Uriah Heep seinen langen Körper in beständigen Verbeugungen und Verdrehungen krümmt und dabei die feuchten langen Finger ineinander windet, oder wie Betsey Trotwood mit dem Rücken ihres Daumens die Nase reibt. Was hier von der dichterischen Darstellung im allgemeinen gesagt ist, das findet seine Erklärung in dem Wesen ihres Ausdrucksmittels, der Sprache. Dasselbe Wort, dieselbe sprachliche Vorstellung bedeutet zwar dasselbe für jeden, der es schreibt oder liest, aber es hat darum keineswegs auch für jeden den gleichen Reichtum des Inhalts und die gleiche Färbung. Das Wort „Meeresrauschen“ oder „Waldeinsamkeit“ wird in verschiedenen Seelen vermutlich sehr verschiedene Bilder und Empfindungen erwecken. Gewiß das Individuelle als solches läßt sich nicht aussprechen. Aber es ist ebenso zweifellos, daß das allgemein Ausgedrückte, die sprachlich fixierte Vorstellung, eben weil sie allgemeiner Natur ist, beim Sprechen und Hören mit individuellem Inhalt erfüllt wird. Die Sprache gestattet ihrer Natur nach dem Dichter das, was er voll und reich in sich erlebt hat, immer nur in Umrissen und Grundschattierungen wiederzugeben. Er muß es dem Leser überlassen, dieselben aufs neue mit individuellem Inhalt zu erfüllen und zu beleben. Jedes Gedicht ist eine Art von Aufforderung hierzu und stellt in diesem Sinne dem Leser eine Aufgabe. Daher ist künstlerisches Aufnehmen und Verstehen niemals ein rein passives Empfangen und Genießen: es erhebt stets Anspruch an die tätige Kraft der Phantasie und des Denkens. Das Gleiche zeigt sich uns endlich, wenn wir die besonderen Ausdrucksmittel der Dichtersprache betrachten, von denen Vergleichung und Metapher Über den psychologischen Ursprung der Metapher siehe Richard M. Meyer, Stilistik, in diesem Handbuch III S. 124. Quellenangabe/Person: Richard M. Meyer; Quellenangabe/Werk: Stilistik [Handbuch des deutschen Unterrichts III] (siehe Bibliographie) nebst ihrer Abart, der Personifikation, für unsere Fragen die wichtigsten sind. Herkömmlicherweise faßt man diese „Tropen“ als Mittel, um die sinnliche Anschaulichkeit der Darstellung zu erhöhen. (So z. B. Wackernagel, Poetik S. 380, 395.) Quellenangabe/Person: Wackernagel; Quelle/Werk:Poetik In Wirklichkeit enthalten die meisten Metaphern, sicher aber jeder ausgeführte Vergleich, eine Reihe von Anschauungselementen, die, wenn die Phantasie ihnen nachgehen würde, von dem Vergleichspunkt abziehen und somit die innere Anschauung des Zusammenhangs stören, ja vernichten müßte. Die vielgepriesenen homerischen Gleichnisse, die an sich genommen durch die lebendige Anschaulichkeit, mit der sie bis ins einzelne durchgeführt sind, gewiß künstlerisch wirken, lenken eben hierdurch Phantasie und Aufmerksamkeit von dem Gang der Erzählung ab und retardieren nicht bloß, sondern hemmen bisweilen geradezu. Der historisch Geschulte vermag sich zwar soweit in den homerischen Stil hineinzuleben, daß ihm die Störung nicht zum Bewußtsein kommt, aber dem ungeduldig vorwärtsdrängenden Temperament des modernen Lesers wäre eine ähnliche Darstellung bei einem zeitgenössischen Schriftsteller sicher unerträglich. Daher urteilt Gerber, „Die Sprache als Kunst“ II S. 108, ganz richtig: „Die Freude an der Darstellung selbst läßt leicht den Künstler vergessen, daß sein Bild der Rede nur dienen soll, und schafft Schilderungen, welche sich fast selbständig behaupten können“, und er gibt im folgenden einige schlagende Beispiele aus dem Homer. Die Metapher, weil sie nur die Abbreviatur eines Vergleichs ist und nur die Vergleichspunkte selbst zur Anschauung bringt, unterliegt diesem Bedenken nicht in gleichem Maße. Gleichwohl wäre es unmöglich, einem Gedankengang, der durch eine Reihe von metaphorischen Bildern ausgedrückt ist, zu folgen, wenn diese Bilder einzeln zu bewußter Anschauung kämen. Schon Schopenhauer hat hier das Richtige gesehen und zutreffend formuliert: „Übersetzten wir etwa, während der andere spricht, seine Rede in Bilder der Phantasie, die blitzschnell an uns vorüberfliegen und sich bewegen, verketten, umgestalten und ausmalen, gemäß den hinzuströmenden Worten und grammatischen Flexionen, ─ welch ein Tumult wäre dann in unserm Kopfe während des Anhörens einer Rede oder des Lesens eines Buches! So geschieht es keineswegs. Der Sinn der Rede wird unmittelbar vernommen, genau und bestimmt aufgefaßt, ohne daß in der Regel Phantasien sich einmengten. Es ist die Vernunft, die zur Vernunft spricht, sich in ihrem Gebiete hält, und was sie mitteilt und empfängt, sind abstrakte Begriffe, nicht anschauliche Vorstellungen.“ Man versuche es nur einmal etwa mit der Stelle des zweiten Faustmonologs, die mit den Worten beginnt: „Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach,“ Evtl. als positives Beispiel einer Metapher? ─ und dabei sind die Bilder hier in gewisser Weise übereinstimmend und eines entwickelt sich aus dem anderen, so daß von einer fehlerhaften Häufung nicht die Rede sein kann. Ja, die zu Ende gedachte, ins sinnlich Angeschaute, durchgeführte Metapher würde, wie Th. A. Meyer S. 56 sehr richtig bemerkt, ins drastisch Komische führen. Quellenangabe/Person: Th. A. Meyer; Werkannahme: Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901 Man denke etwa an Walther von der Vogelweides Gedicht: Mir ist verspart der saelden tôr, da stên ich als ein weise vôr, mich hilfet nicht, swaz ich daran geklopfe. evtl. Wortlaut genau überprüfen: unterschiedliche Versionen? Quellenangabe/Person: Walther v. d. Vogelweide; Quellenannahme? Die Übertragung also, ebensowohl wie der ausgeführte Vergleich, trifft immer nur einzelne Züge des Verglichenen. Dies aber sind zumeist gerade solche, die an sich schon stark und anschaulich hervortreten und keiner neuen Veranschaulichung bedürfen. Metapher wird hier mögl. als Unterkategorie der Vergleichung im weiteren Sinne, bzw. als Parallelkategorie des 'ausgeführten Vergleichs' (Vergleichung im engeren Sinn) verstanden; letzteres wurde annotiert. Wird die majestätische Schönheit Kriemhilds tatsächlich sinnfälliger, wenn sie mit dem Monde oder der Morgenröte verglichen wird? Quellenangabe/Werk: Nibelungenlied Nibelungenlied https://textgridrep.org/browse/-/browse/jn9v_0 Ja, überaus oft werden Bilder zum Vergleich herangezogen, die unserer sinnlichen Anschauung unzugänglich sind oder jedenfalls ferner stehen als das Verglichene. Hier wird vermutlich sowohl über die Metapher als auch den Vergleich gesprochen (Parallelkategorien) Wieviele Hörer der Ilias hatten denn wohl einen Löwen angreifen, welcher Leser des Nibelungenliedes hat jemals zwei wilde Panther durch den Klee laufen sehen? Quellenangabe/Werk: Nibelungenlied Nibelungenlied https://textgridrep.org/browse/-/browse/jn9v_0 Und ist „ein Gebild aus Himmelshöhen“ eine sinnfällige Anschauung? Quellenannahme/Werk: Das Lied von der Glocke (Schiller) Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke https://textgridrep.org/browse/-/browse/tws0_0 Gerade diese letzten Beispiele zeigen uns deutlich, worauf es bei Vergleichen und Metaphern ankommt. Nicht die Anschauung eines Vorgangs soll schärfer ausgeprägt, sondern der Eindruck, den er macht, soll verstärkt werden und wird es dadurch, daß die gleiche Empfindung von mehreren Seiten her, von mehreren Bildern aus hervorgerufen wird. In der Tat in der Metapher kommt uns das Bild als solches kaum halb zum Bewußtsein; nur der Gefühlseindruck, die Stimmungsnüance prägt sich deutlich ein. Und von dem ausgeführten Gleichnis urteilt Gerber sehr richtig, daß durch dasselbe „zunächst weder ein ausschließlich rhetorisches noch ein bloß ästhetisches Interesse befriedigt wird“, daß es dagegen „je nach seiner Eigentümlichkeit den Sinn der Rede unter den Einfluß einer gewissen Stimmung stellt“ (a. a. O. S. 110). Daher empfinden wir es zweifellos als Störung, wenn Homer, worauf gleichfalls Gerber aufmerksam macht, bisweilen mit seinen Vergleichen die Stimmung durchbricht, statt sie zu verstärken, indem er sie nämlich aus einer allzu niedrigen Sphäre wählt, wenn er also die Achäer mit Fliegen vergleicht, die sich auf die Kühe setzen. Diese „Naivetät“ macht uns vielleicht Vergnügen, aber wir empfinden sie trotz aller Anschaulichkeit als eine ästhetische Schwäche. Dahingegen stört es die künstlerische Wirkung durchaus nicht, wenn die Metapher oder selbst der Vergleich nicht zu voller Anschaulichkeit gelangt, falls nur der Eindruck aufs Gefühl stark und eindeutig ist. Eine der schönsten und wirkungsvollsten Metaphern unserer deutschen Poesie enthalten die Worte Isabellas in der Braut von Messina: Ich rufe die Verwünschungen zurück, Die ich im blinden Wahnsinn der Verzweiflung Auf dein geliebtes Haupt herunterrief. Eine Mutter kann des eignen Busens Kind, Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. Nicht hört der Himmel solche sündige Gebete; schwer von Tränen, fallen sie Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe. Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0 Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0 Selbst die berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit hin nicht prüfen: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt, mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen. Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen! Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung der Hyperbel erklärt werden. Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in seine sogleich zu nennende „ Poetik “ aufgenommen. Die sprachliche Übertreibung bedeutet stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb erträglich, weil sie nichts weiter will als dies. Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter Des größten Vaters, endlich zu mir nieder: Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt, Die Schätze des Olympus niederbringen. Ganz ähnlich ist es, wenn Zweifel und Reue leise aus den Winkeln herbeischleichen, und zum anmutigsten Bilde wird die Vorstellung des Friedens in Schillers Braut von Messina: Schön ist der Friede, ein lieblicher Knabe Liegt er gelagert am ruhigen Bach. So zeigt sich auch hier überall, daß Gefühl und Empfindung die Quellen sind, aus der die Bilder des Dichters Anschaulichkeit und Leben empfangen. Aber auch hier wird das Maß der Anschaulichkeit, das der Sprache aufgeprägt ist, abhängen von der persönlichen Anlage des Dichters und zwischen den ins einzelste gesehenen Bildern Homers und den nicht minder zahlreichen, aber stets nur dämmerschwach umrissenen Vergleichen Klopstocks dehnt sich eine Stufenleiter aus, die für zahlreiche Dichterindividualitäten Raum gibt. 9. Rhythmus und Klangfarbe. Es war eine Lieblingsvorstellung des 18. Jahrhunderts, daß die Gewalt gesteigerter Empfindungen die Menschen zum musikalischen Ausdruck getrieben und dieser wiederum der Sprache rhythmischen Charakter aufgeprägt habe. Und auch wir sind noch gern geneigt, mit dem Wort: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ den Ursprung der dichterischen Formen zu erklären. Wir betrachten es wohl als natürlich und selbstverständlich, daß die Form eines Gedichtes durch seinen Inhalt bedingt ist, und daß der Klang der Verse diesen Inhalt oder zum mindesten die Stimmung, die ihn beherrscht, wiederspiegeln und zum Ausdruck bringen soll. Allein wenn diese Auffassung einem verfeinerten künstlerischen Empfinden entspricht, so drückt sie doch keineswegs das Verhältnis aus, das dem Ursprung nach zwischen den beiden Elementen der Dichtung besteht. Im Gegenteil: die neuere Forschung hat es mehr als wahrscheinlich gemacht, daß die rhythmische Form der ältesten Dichtungen nicht aus dem Wesen der Sprache, ja, nicht einmal aus dem der gesungenen Sprache zu erklären, sondern ihr vielmehr als ein fremder Bestandteil von außen her aufgeprägt ist. „Das rhythmische Element“, sagt Bücher in einem bedeutenden Werke über diesen Gegenstand, Arbeit und Rhythmus. 3. Aufl. Leipzig 1902. S. 42. „wohnt weder der Musik noch der Sprache ursprünglich inne. Es kommt von außen und entstammt der Körperbewegung, welche der Gesang zu begleiten bestimmt ist und ohne welche er überhaupt nicht vorkommt.“ Die Tendenz zur rhythmischen Bewegung erwächst, wie schon ältere Forschung wahrscheinlich gemacht hat, aus den anatomischen und physiologischen Verhältnissen unseres Körpers: „Lungen und Herztätigkeit, die Bewegung der Arme und Beine vollziehen sich unter gewöhnlichen Umständen rhythmisch.“ Aber die Arbeit oder das, was ihr bei den primitiven Völkern entspricht, ist es nach Büchers Theorie, wodurch diese Tendenz sich zuerst entwickelt hat. Die Arbeit, die durch den Rhythmus erleichtert, weil „mechanisiert“ wird, bedurfte zur Regulierung des Bewegungsrhythmus der menschlichen Stimme, des primitiven Chorgesangs, aus dem Musik und Dichtung in weiterer Entwicklung hervorgegangen sind. Damit gelangt Bücher zu dem Schluß, daß ursprünglich „Arbeit, Musik und Dichtung in eins verschmolzen gewesen sein müssen, daß aber das Grundelement dieser Dreieinheit die Arbeit gebildet hat“ (S. 348). So entscheidend ist ihm dieser unmittelbare Zusammenhang, daß ihm selbst der Tanz in seiner Verbindung erst als eine Nachahmung oder Übertragung der Arbeitsbewegung zu sein scheint, während man bisher geneigt war, in der Verbindung von Reigen und Chorlied die primitive Form der Dichtung zu sehen. So auch W. Wundt, Völkerpsychologie I S. 269 ff. Nach ihm ist „das Tanzlied die aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglichste Form des Gesanges. Aus dem Tanzlied sind, wie wir annehmen dürfen, als die zwei nächsten Formen menschlicher Gesangsrhythmik in divergierender Entwicklung die Arbeits- und Kultgesänge hervorgegangen“. Und in der Tat dürfte es nicht möglich sein, den Ursprung des Tanzes aus der Arbeitsbewegung nachzuweisen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß der Marschbewegung und dem Reigen eine ebenso ursprüngliche und schöpferische Bedeutung zukommt wie der Arbeit, und K. Bruchmann K. Bruchmann, Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. S. 31. vermutet sehr annehmbar: „Der Rhythmus, weil in der menschlichen Organisation begründet, hat sich bei zwei Tätigkeiten herausgebildet, aus Arbeit und aus Tanz.“ Wie dem nun auch sein mag, ob der Rhythmus aus der Arbeit, dem Tanz oder aus beiden hervorgegangen ist, oder ob noch andere Faktoren an seiner Ausbildung beteiligt waren: an die Sprache ist er von außen herangetreten und nicht aus ihrem inneren Wesen hervorgewachsen; er ist der Rede an sich ein fremdes Element. Daher folgt auch seine Entwicklung ihren eigenen Gesetzen und bildet mithin für die wissenschaftliche Forschung ein eigenes Gebiet, die Metrik. Auch in diesem Werke ist demselben eine besondere Abteilung zugewiesen, und meine Aufgabe kann es nicht sein, die dort erreichten Ergebnisse noch einmal zu erörtern. Wohl aber hat die Poetik die Frage zu beantworten, wie weit sich, trotz der selbständigen Entwicklung der metrischen Form ein innerer Zusammenhang zwischen ihr und dem inhaltlichen Wesen der Dichtung feststellen läßt, und welches die Gesetze dieses Zusammenhanges sind. Dies soll denn im folgenden geschehen. ─ Der dichterische Rhythmus also ist der Sprache ursprünglich wesensfremd, er bindet sie im eigentlichen Sinne des Worts, an Formen nämlich, die nicht ihre eigenen sind. So erklärt sich die Tatsache, daß die älteste Poesie, von der wir wissen, einen organischen Zusammenhang zwischen der metrischen Form einer Dichtung und ihrem Inhalt nicht kennt. Nur ein Gesetz allgemeiner Art läßt sich hier aufstellen, das, soviel wir sehen, überall zur Geltung kommt und mithin ein natürliches Verhältnis bezeichnet, dieses nämlich, daß größere rhythmische und inhaltliche Abschnitte einander entsprechen, einander stützen und stärken. Ja, es gibt Gliederungen, denen der rhythmische Charakter in eigentlichen Sinne ganz abgeht, und die ausschließlich durch die Gegenüberstellung ungefähr gleich langer Sätze gebildet werden: das ist in dem sogenannten Parallelismus der hebräischen Poesie der Fall, wie sie uns im Psalter und im Hohen Lied entgegentritt: Der Herr ist mein Hirte, Mir wird nichts mangeln, Er weidet mich auf einer grünen Aue, Er führet mich zu frischem Wasser. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Du breitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde, Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Auch da, wo sich ausgesprochne Rhythmen und feste Maße, wo sich Verse und Strophen herausgebildet haben, ist es die Regel, daß Verseinschnitt und Versende durch entsprechende Abschnitte in Sinn und Rede bezeichnet werden. Ist es auch nicht immer ein Satzende, mit welchem der metrische Abschluß eintritt, so ist es doch der Regel nach die natürliche Pause, die nach einer enger zusammengehörigen Wortgruppe entsteht. Das sogenannte Enjambement, die Versüberschreitung, oder wie wir vielleicht deutlicher sagen können, die Versverschleifung, ist immer nur eine Ausnahme. Wenigstens das echte Enjambement, wie es Minor, Neuhochdeutsche Metrik 2 S. 196 ff., von unrechtmäßigen Erweiterungen des Begriffes scheidet. Diese Erweiterungen haben zu der Meinung verführt, daß alles erlaubt ist, während, wie Minor mit Recht sagt, „umgekehrt gerade in dieser Hinsicht sehr wenig erlaubt ist“. Freilich ist sie in der antiken Poesie immerhin weit häufiger als in der germanischen und modernen, wie aus dem Charakter der beiden Arten der Versmessung ohne weiteres erklärlich ist. Denn wo, wie in der germanischen Poesie, Wortton und Verston zusammenfallen, da wird auch die Satzbetonung eine Störung durch das Versende nicht wohl ertragen, und auch der Versrhythmus selbst muß durch eine solche Diskrepanz gestört werden. Wo aber das Prinzip des Versakzents mit dem Wortton an sich nichts zu tun hat und daher selbständiger und schärfer hervortritt, wie es in der antiken Verskunst geschieht, da wird es auch leichter dem Satze Gewalt antun können, ohne selbst darunter zu leiden. Daher findet sich bei Homer die Versverschleifung nicht selten, im Nibelungenliede niemals. Daß vollends das Strophenende durch Satz und Sinn überschritten wird, kommt auch in der antiken Dichtung sehr wenig vor und unser modernes Ohr empfindet es selbst hier als eine kaum erträgliche Härte. Sehen wir nun aber von diesen Gesetzen der Vers- und Redescheidung ab, so fehlt der älteren Dichtung und insbesondere der Volkspoesie das Gefühl für den inneren Zusammenhang der Form mit dem dargestellten Inhalt durchaus. Das Volksepos zeigt uns überall feste metrische Formen. In dem einmal gebildeten oder überlieferten Metrum wird jeder Inhalt gleichmäßig dargestellt: „fröuden, hôchgezîten, weinen und klagen“ sprechen aus denselben Rhythmen zu uns. Und das zweite Element der Melodie des Verses, die Klangfarbe, ist in ihrer charakteristischen Eigenart noch gar nicht zum Bewußtsein des Dichters gekommen. Nur ganz vereinzelt taucht im Homer oder im Nibelungenlied einmal ein Vers auf, in dem man die Absicht der Tonmalerei mit einiger Deutlichkeit erkennt. Dies also das ursprüngliche Verhältnis. Versform und Inhalt gehen parallel, aber fremd nebeneinander her, nur die Abschnitte und Pausen sind ihnen gemeinsam. Eine zweifache Entwicklung nun ist von hier aus möglich und hat sich tatsächlich vollzogen. Zunächst sehen wir, daß die Kunst der metrischen Form sich steigert und zu vielfältiger Gestaltung der Verse und Strophen führt, aber gleichwohl nach wie vor ohne Rücksicht auf den Inhalt behandelt wird. Der Rhythmus wechselt: mannigfache Reihen und Strophen werden gebildet. Sie tragen ausgesprochenen rhythmischen Charakter, aber dieser Charakter bleibt unabhängig von dem Inhalt und der Stimmung des Gedichts. Das tritt zunächst in der melischen Lyrik der Alten hervor. Wir sehen, daß die gleichen Formen für alle möglichen Gegenstände und Empfindungen verwandt werden; daß Horaz die Alcäische Strophe, die uns so pathetisch und erhaben klingt, ebensowohl in Trink- und Liebesliedern anwendet, wie in den majestätischen Römeroden des dritten Buchs, daß er die Sapphische Strophe, die für unser Ohr einen leidenschaftlich schmachtenden Charakter echt südlicher Natur trägt, ebenso wie die verschiedenen Asklepiadeischen Strophen der Klage und der Freude, der Liebe und der Politik gleichmäßig dienstbar macht. Ganz ähnlich bei den mittelhochdeutschen Minnesängern. Auch hier ist die Strophenform und der rhythmische Charakter der Verse im allgemeinen unabhängig vom Inhalt, ja die Einförmigkeit dieses letzteren ruft deutlich das Bestreben hervor, die Form möglichst mannigfaltig zu gestalten, ohne daß man doch danach strebte, ihrem Charakter innere Notwendigkeit zu geben. Je eigenartiger und durchgebildeter nun aber die metrische Form wird, desto anspruchsvoller tritt sie auf. Anspruchsvoll in einem doppelten Sinne. Denn sie lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit der Hörer auf sich, sondern auch die des Dichters. Sie beeinflußt die Wahl seiner Worte und ihre Stellung und sie wirkt dadurch mittelbar selbst auf den Gedankeninhalt der Dichtung. Eine derartige Einwirkung des Metrums auf den Stil findet auf allen Stufen, auch der ursprünglichsten statt. Zwar geht Bücher wohl zu weit, wenn er die Eigenart der Dichtersprache ausschließlich auf diesen Ursprung zurückführen will, a. a. O. S. 346, 348. aber daß die Akkomodation an das Metrum die Sprache nach den bestimmten Richtungen hin beeinflußt, zur Erhaltung alter Sprachformen oder zur Aufnahme mundartlicher Bildungen führt, können wir bei Homer noch deutlich verfolgen. Und die vielen formelhaften Wendungen, die alle älteren Epen enthalten, erklären sich auf diese Weise. Schon der oben veranschaulichte Parallelismus läßt den gleichen Vorgang erkennen. Er nötigt den Dichter sehr oft, seine Gedanken zweifach auszudrücken, einem Bilde ein anderes gegenüber zu stellen, eine Vorstellung durch eine andere zu ergänzen. Wie schon die vorhin angeführte Psalmenstelle, so zeigen das viele andere; besonders deutlich der Anfang des 21. Psalms: Herr, der König freuet sich in deiner Kraft, Und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe! Du gibst ihm seines Herzens Wunsch, Und weigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, Du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt. Ähnlichen Charakter tragen die Satzvariationen der altgermanischen Epen. Weit stärker aber ist hier die Wirkung, die Stabreim und Reim auf die Sprache ausgeübt haben; zahllose Formeln, Wendungen, die noch heute im Volksmunde lebendig sind, zeugen davon (Stock und Stein, Stein und Bein u. s. w.), und es ist daher kein Wunder, wenn die Dichtungen, in denen diese Bindemittel erscheinen, über einzelne Worte und Wendungen hinaus in ihrem Gesamtcharakter durch sie beeinflußt werden. Der knappe und markige Stil des altgermanischen Epos ist durch den Stabreim, der die Stammsilben stark betonter Worte auch metrisch zum Mittelpunkt der Verse machte, zweifellos noch wuchtiger geworden. Vgl. Heinzel, Über den Stil der altgermanischen Poesie (Quellen und Forschungen, Heft 10). Straßburg 1895. Der Reim der späteren Dichtungen hingegen hat eher zu einer breiteren Darstellung geführt, bisweilen auch wohl ver führt: er veranlaßt nicht nur eintönig formelhafte Umschreibungen, wie sie z. B. das mittelhochdeutsche Volksepos und Hans Sachs' primitive Verskunst so oft aufweist, sondern auch steigernde Wiederholungen und nähere Ausmalung begleitender Umstände, wie das in der lockeren und wortreichen Erzählungsweise des höfischen Epos besonders hervortritt. Wo nun verwickelte Strophen erscheinen oder gar ein zusammenhängendes geregeltes Schema ein ganzes Gedicht umfaßt, da wird es deutlich, wie die innere Form der Dichtung von der äußeren beherrscht oder doch geregelt wird. Wo eine solche Steigerung der Form stattfindet, ohne daß sie von einem starken Gefühl für Sprache und Rhythmus getragen wird, da entstehen freilich üble Entartungserscheinungen, wie etwa die Bare der Meistersinger, die zugleich verkünstelt und roh waren, „stolze Strophengebäude aus Knittelversen“, wie man sie mit Recht genannt hat. In den Formen dagegen, die aus der italienischen Poesie in die Weltliteratur und speziell durch die Romantik in die deutsche Dichtung gedrungen sind, tritt der gestaltende Einfluß der Strophe in seiner künstlerischen Bedeutung hervor. Im Triolett, im Ritornell und wie die Tändeleien alle heißen ─ man mag sie bei Minor, Neuhochdeutsche Metrik, S. 490 ff. oder auch in Viehoffs Poetik S. 376 ff. im einzelnen nachlesen ─ ist der Inhalt zumeist dem Reimspiel vollkommen untergeordnet. Aber auch in der ernsten achtzeiligen Stanze tragen die drei ersten Reimpaare einen ausgesprochen ansteigenden rhythmischen Charakter, um mit dem letzten Reimpaar gleichsam auf der erreichten Höhe zu verweilen und hierdurch einen beruhigenden Abschluß herbeizuführen. Der Dichter ist dadurch genötigt, auch die Sprache und damit Stimmung und Gehalt dreifach zu steigern, um dann beruhigend abzuschließen. Die letzten zwei Zeilen verhalten sich zu den ersten sechs wie die Antwort auf die Frage oder der Nachsatz zum Vordersatz. Besonders schöne Beispiele bietet Goethes Zueignung, vor allem in der Strophe: „Kennst du mich nicht? sprach sie mit einem Munde, Dem aller Lieb' und Treue Ton entfloß, Erkennst du mich, die ich in manche Wunde Des Lebens dir den reinsten Balsam goß? Du kennst mich wohl, an die zu ew'gem Bunde Dein strebend Herz sich fest und fester schloß. Sah ich dich nicht mit heißen Herzenstränen Als Knabe schon nach mir dich eifrig sehnen?“ Das gleiche zeigt uns der prächtige Schwung der Verse in dem ersten Monolog der Jungfrau von Orleans. Hält man dagegen eine Stanze, in der diese innerliche Steigerung nicht stattfindet, so fühlt man die Unvollkommenheit heraus; die lange Strophe ermüdet, auch wenn die einzelnen Verse tadellos gebaut sind. Man vergleiche die beiden folgenden Strophen aus Goethes „Geheimnissen“ miteinander: Schon sieht er dicht sich vor dem stillen Orte, Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt, Und auf dem Bogen der geschlossnen Pforte Erblickt er ein geheimnisvolles Bild. Er steht und sinnt und lispelt leise Worte Der Andacht, die in seinem Herzen quillt; Er steht und sinnt, was hat das zu bedeuten? Die Sonne sinkt und es verklingt das Läuten. Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet, Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht, Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet, Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht, Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet, Das in so mancher Siegesfahne weht: Ein Labequell durchdringt die matten Glieder, Er sieht das Kreuz und schlägt die Augen nieder. Wie matt verläuft die erste Strophe, und wie kraftvoll und wirksam steigert sich die zweite! Und doch ist jene bei weitem die inhaltsreichere und die sechs ersten Zeilen der anderen drücken nichts aus, als was nachher mit den einfachen Worten: „Er sieht das Kreuz“ gesagt wird. Lehrreich ist es, mit der Stanze die nahverwandte Form der Siziliane zu vergleichen. Hier nämlich, wo im letzten Zeilenpaar die gleichen Reime wie in den drei ersten wiederkehren, fehlt der Abschluß nach der Steigerung; das Ganze bleibt für unser Gefühl in der Schwebe und klingt in eine gewisse Monotonie aus. Daher ist die Strophe denn besonders geeignet, eintönige, dauernde Eindrücke oder Stimmungen wiederzugeben. Man höre Rückert: Hier, wo nicht Nachtigallenmelodien Aus quellgetränkten Frühlingsbüschen schallen, Wo schwellend nur des Meeres Möven fliehn, Und drunterhin die schäum'gen Wogen schwallen, Ruh' ich an meerhauchfeuchtem Rosmarin Und hör' im Wind und in der Woge Wallen Ein Lied eintöniger Melancholien, Dazwischen fernher teure Namen hallen. Unter den zeitgenössischen Dichtern hat besonders Detlef von Liliencron die Siziliane gern und mit feinem Gefühl für ihren wahren Charakter gebildet. So in der humoristischen Strophe: Sphinx in Rosen. Aus weißem Stein geformt, im Junigarten, Liegt eine Sphinx, die greulichste der Katzen. Es küssen ihr die zierlichsten Standarten, Zwei Rosen, windgeschaukelt, leicht die Tatzen. Das Untier schweigt, die Lippen offenbarten, Wie schon zu Ramses' Zeiten, leere Fratzen. Und schweigt, und schweigt und läßt auf Antwort warten, ─ Im stillen Garten schwatzen nur die Spatzen. Die ausgesprochene metrische Eigenart des Sonetts wirkt mit der gleichen Entschiedenheit auf den architektonischen Aufbau und den Charakter des Gedichts. Man lese die Charakteristik, die A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen 1803/1804 von dieser Dichtungsform gibt. Abgedruckt bei Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung. Leipzig 1884. S. 249 ff. „Man sieht leicht ein, daß durch so feste Verhältnisse, eine so bestimmte Gliederung das Sonett gewaltig aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet des entschiedenen Gedankens gezogen wird. Dadurch ist es unstreitig für manche Freunde des melodischen Hin- und Herwiegens in weichen Gefühlen, welche eine solche Herrschaft des Gemüts über seine eigene, es ganz erfüllende Bewegung nicht begreifen noch dulden mögen, abschreckend geworden. Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten: es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte Form. Deswegen steht es auf dem Übergang vom Lyrischen und Didaktischen, daher erkläre man sich's, daß es zuweilen ganz epigrammatisch wird und werden darf. Auf der anderen Seite sieht man auch im Sonett den Typus der dramatischen Gattung ausgedrückt: die drei Teile des Dramas, Exposition, Fortgang und Katastrophe, scheiden sich ganz deutlich. Durch die gebundene Beschränkung wird das Sonett nun ganz besonders bestimmt, ein Gipfel in der Konzentration zu sein.“ In der Tat ist ein Sonett, das nur Ausdruck von Stimmung und Gefühlen ohne jedes schärfer zugespitzte Gedankenelement wäre, nicht wohl denkbar. Man vergleiche nur Goethes Sonette an Minna Herzlieb mit seinen sonstigen Liebesgedichten und man wird den Unterschied sofort empfinden. Auch die orientalischen Gedichtformen, die seit Goethes westöstlichem Divan durch Rückerts und Platens Einfluß in die deutsche Dichtung eingedrungen sind, besonders die Ghasele, zeigen einen ähnlichen Einfluß. Das Ghasel ist weit freier gebaut als die romanischen Strophen; es reiht einfach Distichen aneinander, die durch den gleichen Reim der zweiten Zeile verbunden sind, und kann somit zu beliebiger Länge ausgedehnt werden. Diese lockere Dehnbarkeit gestattet dem Dichter Einfall an Einfall zu knüpfen, und oft genug wird hier der Reim nicht nur der Führer für die einzelne Wendung, sondern auch für den Gedankengang selbst: auch hier liegt dann wie in jenen italienischen Formen das Spiel mit Worten und Bildern nahe. Daher eignet sich das Ghasel im allgemeinen nicht dazu, einen streng geschlossenen Gedankengang zum Ausdruck zu bringen, wiewohl Rückert in einigen prächtig erhabenen oder tief innigen „Hymnen“, und Platen in einigen ernsten, reflektierenden Gedichten auch diese widerstrebende Aufgabe gelöst haben. Zumeist aber reihen die Ghasele in loser Verschlingung Bilder für denselben Gedanken aneinander, sei es in leidenschaftlicher Widerholung und Steigerung erotischer Gefühle, sei es, wie namentlich bei Platen und seinem späten Nachahmer Bodenstedt, in einer graziösen Mischung von Ernst und Scherz; zuweilen erscheinen sie ganz und gar als anmutiges Spiel mit einem an sich unbedeutenden Gedanken. Den Einfluß der Form auf die Erfindung mögen zwei kleinere Ghasele Platens, die zu den besten ihrer Art gehören, veranschaulichen. 1. Der Strom, der neben mir verrauschte, wo ist er nun? Der Vogel, dessen Lied ich lauschte, wo ist er nun? Wo ist die Rose, die die Freundin am Herzen trug, Und jener Kuß, der mich berauschte, wo ist er nun? Und jener Mensch, der ich gewesen und den ich längst Mit einem andern Ich vertauschte, wo ist er nun? 2. Farbenstäubchen auf der Schwinge Sommerlicher Schmetterlinge, Flüchtig sind sie, sind vergänglich Wie die Gaben, die ich bringe, Wie die Kränze, die ich flechte, Wie die Lieder, die ich singe: Schnell vorüber schweben alle, Ihre Dauer ist geringe, Wie ein Schaum auf schwanker Welle, Wie ein Hauch auf blanker Klinge. Nicht Unsterblichkeit verlang' ich, Sterben ist das Los der Dinge: Meine Töne sind zerbrechlich Wie das Glas, an das ich klinge. In solchen Gedichten also trägt die metrische und strophische Form den Dichter und seine Gedanken; sie selbst bringt Gegensatz und Steigerung hervor und lenkt die Stimmung. So kommt hier gleichsam von außen her ein Zusammenklang von Form und Inhalt zustande. Aber die künstlerische Entwicklung kann nun auch den umgekehrten Weg nehmen, und unserem deutschen Empfinden erscheint dies als das natürliche: der Inhalt des Gedichts sucht seinen Ausdruck in der Form. Hier nun aber ist es zunächst nicht der Rhythmus, der sich vielmehr als das sprödere und selbständigere Element erst später dem Geist der Dichtung beugt, sondern der Klang an sich, welcher zum Ausdruck der Stimmung wird. Vokale und Konsonanten leihen dem Dichter die Farben für charakteristische Tongemälde, Eine eingehende Studie darüber enthält Viehoffs Poetik S. 267─280. Reime und Stabreime verstärken und entscheiden den Charakter. In der deutschen Literatur tritt uns zum erstenmal bei Gottfried von Straßburg die Kunst der Stimmungsmalerei durch den Klang entgegen. Die leicht geschürzten kurzen Reimpaare bilden hier nur die Unterlage, auf der sich in leuchtender Farbenpracht die melodischen Töne abheben. Aber ihr Wohlklang ist nicht oder doch nicht immer Zweck an sich, sondern er bezeichnet und charakterisiert vielfach den Inhalt. Man höre die Schilderung der Frühlingsaue, auf der das Pfingstfest König Markes stattfindet: Diu senfte süeze sumerzît diu hete ir süeze unmüezekeit mit süezem flîze an sî geleit. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ man vant dâ, swaz man wolte, daz der meie bringen solte: den schate bî der sunnen, die linde bî dem brunnen, die senften, linden winde, die Markes ingesinde sîn wesen engegene macheten. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ diu süeze boumbluot sach den man sô rehte suoze lachende an, daz sich daz herze und al der muot wider an die lachende bluot mit spilnden ougen machete und ir allez widerlachete. u. s. w. Diese Kunst der Lautcharakteristik ist in der mittelhochdeutschen Literatur nicht wieder erreicht; sie bleibt so gut wie vereinzelt. Nur in einer Anzahl von Liedern Walthers herrscht die gleiche Harmonie von Klang und Stimmung, von Form und Inhalt. Die Reimkunststücke Konrads von Würzburg dagegen sind bloße Formspielereien ohne charakteristische oder überhaupt inhaltliche Beziehungen. Überhaupt ergeht sich der spätere Minnesang, wie schon oben bemerkt, in kunstvollen Spielen mit Klang und Reim ohne Rücksicht auf Inhalt und Stimmungsausdruck. In den Zeiten des verwilderten Formengefühls oder der ihnen folgenden der unselbständigen Anlehnung an romanische Muster wird niemand erwarten, die Vers- und Klangkunst Walthers oder Gottfrieds erneuert zu sehen. Ganz ausgestorben scheint freilich die Neigung zur Lautmalerei und das Gefühl für ihre Mittel niemals gewesen zu sein: im 17. Jahrhundert wenigstens finden wir beides gelegentlich auftauchend, am deutlichsten in einer Anzahl niederdeutscher Gedichte. Aber erst seitdem Klopstocks musikalisches Genie die deutsche Dichtersprache zu neuem Wohlklang erweckte, gelangten auch die alten Mittel der musikalischen Charakteristik wiederum zu tiefgreifender und allgemeiner Wirkung. „Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter sein, Süße Freude, wie du, gleich dem beseelteren Schnellen Jauchzen des Jünglings, Sanft, der fühlenden Fanny gleich! ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen, In den Lüften des Walds und mit gesenktem Blick Auf die silberne Welle, Tat ich schweigend den frommen Wunsch: „Wäret ihr auch bei uns, die ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut, Die in seligen Stunden Meine suchende Seele fand.“ Solche Strophen riefen begreiflicherweise die Begeisterung des jungen künstlerisch veranlagten Geschlechts hervor, das den Dichter als Vorbild verehrte. Sie bedeuten eine Epoche in der Geschichte der dichterischen Form. Derjenige seiner Nachfolger, der die Klangmalerei am entschiedensten zum charakteristischen Ausdruck der Situation und Stimmung gesteigert hat, ist bekanntlich Bürger. Er verfügt über die größte Reihe starker, zum Teil freilich auch grober Mittel der Lautmalerei. Onomatopoetische Wortbildungen, Interjektionen und direkte Schallnachahmungen verwendet er skrupellos zu seinem Zweck. Mit „Horrido und Hussassa“ und „Hurre hurre hopp hopp hopp“ füllt er ganze Zeilen. Goethe ist viel vornehmer in der Verwendung der Klangmittel als Bürger und erreicht gleichwohl nicht minder tiefe Wirkung. Schallnachahmungen und Interjektionen vermeidet er ganz: nur in dem humoristischen Hochzeitlied bedient er sich Bürgerscher Mittel. Die meisten späteren Dichter sind ihm gefolgt, und selbst in der Romantik, die so stark dem Musikalischen zuneigt, findet man nur selten Versgebilde wie jener Refrain in Brentanos Lustigen Musikanten: Es brauset und sauset Das Tamburin, Es prasseln und rasseln Die Schellen drin; Die Becken hell flimmern Von tönenden Schimmern. Um Kling und um Klang, Um Sing und um Sang Schweifen die Pfeifen und greifen Ans Herz Mit Freud' und mit Schmerz! Klopstock benutzte, wie das oben angeführte Beispiel zeigt, die Klangmalerei zunächst, um antike Odenschemata neu zu beleben. Seine Nachfolger wählen zumeist volkstümlichere Formen, und wir finden, daß sie mit Vorliebe Versmaße benutzen, die an sich wenig charakteristisch sind und daher, wie die kurzen Reimpaare bei Gottfried, nur als unentbehrliche rhythmische Unterlage für das Tongemälde selber dienen. Goethe liebt die einfachen jambischen oder trochäischen Reihen, oft nur zur vierzeiligen Strophe verbunden, so im Fischer, einem der berühmtesten Vorbilder der Tonmalerei. Und besonders die jüngere Romantik ist hierin seine gelehrige Schülerin gewesen. Rhythmus und Strophe sind in solchen Gedichten an sich ausdruckslos, sie bleiben gleichsam neutral und vermögen daher nicht nur die verschiedensten Stimmungen, sondern auch die verschiedenartigsten Klangwirkungen gleichmäßig zu tragen: O gib vom weichen Pfühle, Träumend, ein halb Gehör! Bei meinem Saitenspiele Schlafe! was willst du mehr? (Goethe.) Das ist ein schlechtes Wetter, Es regnet, stürmt und schneit, Ich sitze am Fenster und schaue Hinaus in die Dunkelheit. (Heine.) Auch die späteren Dichter suchen fast durchweg mehr durch die Klangfarbe als durch den Rhythmus zu malen und zu wirken und legen daher im allgemeinen wenig Wert auf rhythmisch-metrische Eigenart und Charakteristik. Am auffallendsten ist das bei den Formenkünstlern der Gegenwart, von denen besonders Hugo von Hofmannsthal, der den gereimten oder auch ungereimten fünffüßigen Jambus bisweilen mit wunderbarem musikalischen Leben zu erfüllen weiß. So im „Tod des Tizian“: Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier, Aus der Najade triefend weißen Händen Sich seine Nahrung küßt, so bog ich mich In dunklen Stunden über seine Hände Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum. Er hat den Wolken, die vorüberschweben, Den wesenlosen, einen Sinn gegeben: Der blassen weißen schleierhaftes Dehnen Gedeutet in ein blasses, süßes Sehnen; Der mächt'gen goldumrandet schwarzes Wallen Und runde, graue, die sich lachend ballen, Und rosig silberne, die abends ziehn: Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.“ Es erscheint an sich nur natürlich, daß das Streben nach charakteristischer musikalischer Wirkung sich mit der Klangfarbe zugleich auch den Rhythmus dienstbar macht. Freilich liegt es, wie wir oben sahen, eben in der Natur und dem Ursprung des Rhythmus, daß er sich dem Inhalt der Dichtung gegenüber selbständiger und spröder verhält als der lautliche Klang, der mit der Sprache selbst unmittelbar gegeben ist. Daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns das Zusammenwirken beider Elemente auch auf hohen Entwicklungsstufen der Poesie immer nur verhältnismäßig spät und selten entgegentritt. Die Lyrik der Alten kannte, soweit sie Einzelgesang war ─ daß es sich mit den Chorliedern anders verhielt, werden wir später sehen ─, die Verwendung der metrischen Form zur Charakteristik des Inhalts so gut wie gar nicht: höchstens einzelne Gattungen konnten durch die Wahl des Versmaßes bezeichnet werden, wie z. B. die Elegie. Auch im Minnesang blieb die Erfindung neuer Rhythmen und Strophen, so viel Wert auch darauf gelegt wurde und so sehr sie sich zur Virtuosität steigerte, so ziemlich unabhängig vom Inhalt und Stimmung des Gedichts. (Ob das auch für die Weise gilt, in denen die Lieder gesungen wurden, ist nach der Überlieferung schwerlich festzustellen.) Höchstens, daß sich der allgemeine Charakter des Inhalts in der Schwere oder Leichtigkeit des Metrums abschattiert, aber auch um das herauszufühlen, muß man schon so verschiedenartige Gedichte zusammenstellen, wie etwa Hartmanns kleines Frühlingslied: „In dem aberellen“ und die Marschrhythmen seines Kreuzliedes. Aber nur Walther versteht die Kunst, seine Rhythmen und Strophen zum intimeren Ausdruck seiner Gedanken und Empfindungen zu verwenden, und einzig von einer Anzahl seiner Gedichte erhalten wir den Eindruck eines tief künstlerischen Zusammenklangs von Inhalt und Form. So etwa in den abwechselnd langsam ansteigenden und dann wieder schnell fallenden Versen jenes Frühlingsliedes, in dem sich so ergreifend der Wechsel zwischen der Erinnerung an vergangenes Leid und die schüchterne Hoffnung auf ein neues Glück mischt: Der rîfe tet der kleinen vogelen wê, daz si niht ensungen. Nû hôrt ichs aber wünneclîche als ê, nû ist diu heide entsprungen. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Uns hât der winter kalt und ander nôt vil getân ze leide. Ich wânde, daz ich iemer bluomen rôt gesaehe an grüener heide. Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt, die nach fröuden rungen und die gerne tanzten unde sprungen. ausklingend in das schwermütige: Got gesegen iuch alle: wünschet noch, daz mir ein heil gevalle. Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: Diffugere nives, redeunt iam gramina campis Arboribusque comae Mutat terra vices et decrescentia ripas Flumina praetereunt. In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände. Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche Weise „Ir sult sprechen willekommen“ mit dem langgezogenen melancholischen Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: „Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!“ Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren. Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes, ist bei weitem beweglicher als eine solche feste Form, und diese vermag daher nicht, sich ihm im einzelnen anzuschmiegen. Daher wird für gewöhnlich nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen „Nähe des Geliebten“. Auch Heine sind ein paar vollendete kleine Stimmungsbilder dieser Art gelungen: 1. Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff Wohl über das wilde Meer; Du weißt, wie sehr ich traurig bin Und kränkst mich doch so schwer. Dein Herz ist treulos wie der Wind Und flattert hin und her. Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff Wohl über das wilde Meer. 2. Eine starke, schwarze Barke Segelt trauervoll dahin. Die vermummten und verstummten Leichenträger sitzen drin. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Aus der Tiefe klingt's, als riefe Eine kranke Nixenbraut, Und die Wellen, sie zerschellen An dem Kahn, wie Klagelaut. Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen, wird die Durchführung einer rhythmischen Charakteristik im allgemeinen nicht möglich sein. Ein paar gläzende Ausnahmen freilich kennt die deutsche Dichtung. Schon in Bürgers Leonore malt der aufgeregte Rhythmus gleich anschaulich das atemlose Tempo des Totenritts wie die wilde Verzweiflung des Mädchens, die ihm vorangeht, und wohl das höchte Meisterwerk dieser Art ist Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Die Rhythmen sind auch hier höchst einfach, die Strophe keineswegs verwickelt; aber es bleibt auch bei genauerem Studium immer wieder erstaunlich, wie völlig entgegengesetzte Stimmungen und Situationen, etwa das jambisch anapästische Metrum der zweiten Strophenhälfte gleich anschaulich zu malen vermag: Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen; Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen, Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Es singen die Priester: Wir tragen, die Alten, Nach langem Ermatten und spätem Erkalten, Wir tragen die Jugend, noch eh' sie's gedacht. Das Allegro grazioso des Tanzes, wie das Maestoso des Leichenmarsches und der Jubel des triumphierenden Finales wird von demselben Rhythmus getragen. Wie ist das möglich? Das Rätsel löst sich dadurch, daß es nicht allein das rein klangliche Moment ist, aus welchem die Wirkung hervorgeht, die wir als Tonmalerei empfinden. Vielmehr vermischt sich der Stimmungsgehalt der Worte ─ von dem wir im vorigen Kapitel ausführlich gehandelt haben ─ so unmittelbar mit der Klangwirkung, daß wir zumeist gar nicht imstande sind, sie auseinander zu halten. Worte, die stärkere Gefühlstöne erregen, fallen an sich auch stärker ins Gewicht. Sie werden beim Sprechen unwillkürlich schwerer betont, und auch beim stillen Lesen schiebt sich die Stärke des psychischen Vorgangs unmerklich an die Stelle der Intensität des Klanges. Worte wie „weich“, „Saitenspiel“ in jenem oben angeführten Goetheschen Verse, Wendungen wie „Wir tragen die Alten ─ wir tragen die Jugend, noch eh sie's gedacht“ wirken nicht bloß durch ihren Klang musikalisch, sondern auch durch die Vorstellungen, die sich mit ihnen verbinden. In den farbensatten Bildern, die Hofmannsthal von Tizians zauberreichem Wolkenhimmel entwirft, spielen Klang und Bedeutung beständig ineinander, um uns den Wechsel von Dunkel und leuchtender Helle empfinden zu lassen. Allein nur die höchste Meisterschaft vermag es, dieses Verhältnis innerhalb eines fester strophischen Gebildes durch ein ganzes größeres Gedicht durchzuführen. Im allgemeinen wird auch das völlig frei und zum Zweck der Charakteristik erfundene Metrum, sobald es sich in fester Strophenform wiederholt, nur dem ungefähren Charakter nach oder auch an einzelnen Stellen, wo dieser Charakter besonders deutlich hervortritt, seinem Zwecke genügen. Besonders belehrend ist das Beispiel Klopstocks, den sein tiefes musikalisches Gefühl über die metrische Konvention heraushob. Wie wir sahen, belebte er zuerst die antiken Odenmaße, die er bei Horaz fand, durch die Klangmittel der Lautmalerei. Dann ging er dazu über, selbst Strophen zu erfinden, deren rhythmischer Charakter den Inhalt malen sollte. Es ist ihm das bisweilen auch glücklich gelungen, so namentlich in kleineren Gedichten, wie „Die frühen Gräber“; in längeren Oden jedoch sieht man, daß der erfundene Rhythmus, wiewohl er dem Charakter der Grundanschauung entspricht, sich im einzelnen doch nur in einer oder der anderen Strophe unmittelbar dem Inhalt anschließt, sonst aber ihm ebenso fremd bleibt, wie ein überliefertes Schema, ja, daß er eben seiner charakteristischen Eigenart wegen unter Umständen hemmt und stört. So im Eislauf, wo das Versmaß, freilich nicht mit allzu viel Glück, das Gleiten des Schlittschuhs malt: „Nimm den Schwung, wie du mich ihn nehmen siehst Also nun fleuch schnell mir vorbei.“ Aber wie wenig entspricht dieser Rhythmus dem Inhalt einer Stelle wie die: Wie erhellt des Winters werdender Tag Sanft den See! Glänzender Reif Sternen gleich Streute die Nacht über ihn aus. Oder dem reflektierenden: Was ihr Geist grübelnd ersann, nutzen wir, Aber belohnt Ehre sie auch? Einen ähnlichen Eindruck erhält man von der Ode: „Unsere Sprache“, wo das Rauschen des Waldbachs rhythmisch gemalt wird. Daher drängt das Streben zur rhythmischen Charakteristik mit innerer Notwendigkeit zur Auflösung der Strophe in freie Rhythmen hin. Klopstocks Frühlingsfeier gab das berühmteste Beispiel. Noch ist die Vierzahl der Zeile in der Schreibart festgehalten. Aber ihre Länge ist so verschieden, daß von einer Strophenform für das Ohr nicht mehr die Rede sein kann. Dafür schließen sich nun die Rhythmen auf das engste den Bildern und Gedanken an, und, erfüllt von den reichsten und sattesten Klangfarben, entfalten sie sich unter dem Einfluß der machtvoll sich steigernden Stimmung mit ihren Gegensätzen und Höhepunkten zu einer Wortsymphonie von musikalischer Gewalt und Größe, die doch ihren Zusammenhang mit dem Gedankengang im einzelnen an keiner Stelle verliert. Nur die chorische Lyrik der Griechen hatte, vor allem bei Äschylos, von der Musik getragen, ebenso charakteristische und vielleicht noch gewaltigere Wirkungen hervorgebracht. Unter dem unmittelbaren Einfluß dieser und einiger anderen Klopstockschen Schöpfungen, hat Goethe seine Gedichte in freien Rhythmen gebildet, durchweg Meisterwerke der musikalisch rhythmischen Wortgestaltung; die Wirkung meist nicht so klanggewaltig wie bei Klopstock, aber dafür um so intimer und zarter. Gedichte wie die Seefahrt oder die Harzreise im Winter verhalten sich zur Frühlingsfeier wie ein Streichquartett zu einer Symphonie mit großem Orchester. Die Rhythmik der Romantiker beschreitet vielfach die hier vorgezeichnete Bahn. Hölderlin im Schicksalslied und anderen großzügigen Gedichten, Novalis in den Hymnen an die Nacht, die freilich in unabgesetzter rhythmischer Prosa gedruckt wurden, aber als Verse gedacht und niedergeschrieben sind, haben besonders gewaltige und tiefe Töne angeschlagen. Heines Zyklus „Die Nordsee“ verdankt der rhythmisch charakterisierenden Kunst einen Teil seines lebensfrischen Reizes. Auch in der Gegenwart treten Versuche auf, die hier anknüpfen. Richard Dehmel besonders hat die Form der freien Rhythmen mehrfach mit Glück verwandt. Er schreibt sie, wie einst Klopstock, gern in strophenartigen Absätzen von gleicher Reihenzahl. Der Eingang eines seiner besten Gedichte möge das veranschaulichen: Über Rußlands Leichenwüstenei Faltet hoch die Nacht die blassen Hände; Funkeläugig durch die weiße, weite, Kalte Stille starrt die Nacht und lauscht. Schrill kommt ein Geläute. Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif Ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt Stiebende Furchen, die Peitsche pfeift, Es dampfen die Pferde, Atem fliegt; Flimmernd zittern die Birken. Dreifach, so hat uns die vorhergehende Betrachtung gelehrt, können sich metrische Form und Gehalt der Dichtung zueinander verhalten: 1. Beide sind nur äußerlich aneinander geknüpft, und die Form bewahrt ihre selbständige Eigenart, 2. die Form wirkt auf den Inhalt ein, 3. sie hängt von ihm ab, geht organisch aus ihm hervor. Dieses letztere Verhältnis ist offenbar das höchste, das einzige, das den verfeinerten künstlerischen Sinn völlig befriedigen wird, aber es treibt auf eine Auflösung der geschlossenen metrischen Form hin und es steht nicht, wie man wohl geglaubt hat, als das einzig natürliche am Anfang, sondern vielmehr als letzter Höhepunkt am Ende der künstlerischen Entwicklung. Der zuletzt geschilderten Entwicklung gegenüber ist es wenig berechtigt, wenn Arno Holz in einem öfters genannten Buche für sich in Anspruch nimmt, mit der Durchführung der freien Rhythmen eine „Revolution der Lyrik“ begründet zu haben. Er behauptet freilich, seine Vorgänger Goethe und Heine seien erst bis zu den sogenannten „freien, noch nicht aber schon zu den natürlichen Rhythmen gelangt“. Er selbst sucht „eine Lyrik, die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt.“ (Revolution der Lyrik. Berlin 1899. S. 26.) Was er will, ist offenbar eine Sprache, die von jedem Streben nach irgend welchem Gleichmaß, von jedem Überrest metrischer An- klänge völlig befreit ist und nur den Inhalt dessen, was sie ausdrückt, auch in ihrem Tonfall zur Geltung bringt. Das pflegt man sonst Prosa zu nennen, noch nicht einmal rhythmisierte Prosa. Daher vermag denn Holz seinen Begriff von Poesie nur durch die Behauptung aufrecht zu erhalten: „Die Prosa kümmert sich um Klangwirkungen überhaupt nicht,“ was offenbar grundfalsch ist. Und wie Prosa wirken denn auch seine Verse, abgesehen von solchen Stellen, in denen trotz ihrem Verfasser ein gleichmäßiger Rhythmus herrscht, oder auch, was bisweilen der Fall ist, die Schönheit des Ausdrucks oder der Klangfarbe uns den fehlenden Rhythmus verschmerzen läßt. Man höre einen Anfang wie den: „Zwischen Gräben und grauen Hecken, den Rockkragen hoch, die Hände in den Taschen, schlendre ich durch den frühen Märzmorgen.“ Kann es etwas Prosaischeres geben? Andrerseits ist der Vers: Vor meinem Fenster singt ein Vogel. Still hör ich zu; mein Herz vergeht. Er singt, was ich als Kind besaß und dann ─ vergessen. gewiß ein zierliches kleines Gedicht! Was aber darin revolutionär sein soll, wird niemand entdecken. Der größere Teil der Holzschen „Phantasus“ gedichte freilich zeigt eine solche Verwilderung des Formen- und Stilgefühls, ja eine solche Roheit des Geschmacks, und die Gedichte seiner Schüler, die Holz in seinem Buche mitteilt, tragen außer diesen Eigenschaften noch durchweg eine so klägliche Impotenz zur Schau, daß die allgemeinere Ausbreitung einer freien Form, die eine derartige Produktion begünstigt oder doch erleichtert, auf keinen Fall wünschenswert sein kann. 10. Die Prinzipien der Komposition. Wenn Sprache und rhythmische Form im Irrationalen wurzeln, wenn alle ihre Wirkungen durch das Gefühl vermittelt sind und sich daher der wissenschaftlichen Einsicht immer nur zum Teil zugänglich erweisen, so erscheint die Gestaltung des künstlerischen Aufbaus wesentlich als das Geschäft des ordnenden Verstandes und daher für die verstandesmäßige Erkenntnis beträchtlich durchsichtiger. Allerdings ist auch diese architektonische Tätigkeit nicht das Werk bewußter Reflexion oder gar eines schematischen Verfahrens. Nur von der Einteilung eines Dichtwerks in Gesänge oder Akte kann man das sagen: sie kommt hauptsächlich aus praktischen Erwägungen zustande und erfolgt oft erst, wenn der Dichter sein Werk innerlich abgeschlossen hat und als Ganzes übersieht; äußere Rücksichten, z. B. auf die Länge der einzelnen Abschnitte, nicht selten auch auf überlieferte Schemata, wie die üblichen fünf Akte der Tragödie, sind maßgebend. Daher ist denn auch hier für das tiefere Verständnis der Dichtwerke und ihrer Wirkungen wenig Belehrung zu gewinnen. Die eigentlich architektonische Arbeit aber, die weit wesentlicher und innerlicher ist als die Einteilung, wird weder dem Dichter noch seinem naiv aufnehmenden Leser oder Zuschauer in all ihren technischen Einzelheiten zum Bewußtsein kommen, und je ursprünglicher sein gestaltendes Talent ist, desto unmittelbarer wird er das Richtige treffen und die beabsichtigte Wirkung erzielen. Dennoch lassen sich die allgemeinen Gesetze, denen er folgt, fast durchweg verstandesmäßig erkennen und aussprechen. Die psychologische Grundlage der organischen Bildungsgesetze poetischer Werke ist in keinem anderen Punkt so faßbar und zugänglich wie hier. Aus diesem Grunde ist es belehrend und vorteilhaft, die Gesetze der Komposition in ihrer allgemeinen Form aufzustellen und zusammenzufassen. In diesem Sinne hat G. Th. Fechner in der Vorschule der Ästhetik eine Anzahl Gesetze des dichterischen Baues unter dem Namen „Prinzipien des ästhetischen Kontrasts, der ästhetischen Folge und Versöhnung“ aufgestellt (Bd. II S. 231 ff.). Die folgende Betrachtung lehnt sich zum Teil an ihn an, ohne ihm ganz zu folgen. Ihre ganze Bedeutung erhellt allerdings erst aus den besonderen Modifikationen, die sie innerhalb der einzelnen Dichtungsgattungen annehmen. Das gilt ganz besonders von demjenigen Prinzip, das man als erstes und unumstößliches Gesetz dichterischer Komposition aufzustellen pflegt: dem der Einheit. In der Tat kommt darin die allgemeinste Voraussetzung eines jeden Kunstwerks zum Ausdruck, daß es nämlich aus einer einheitlich bestimmten Intention des schaffenden Künstlers hervorgegangen sein muß und dementsprechend wirken soll. Nun wird freilich eine solche einheitliche Intention immer vorhanden sein, wenn ein Dichter ein Werk beginnt, nur daß dieselbe durch äußere oder innere Umstände gestört und verschoben werden kann, zumal wenn über der Ausführung lange Zeit vergeht. Daß in einem solchen Falle auch die Wirkung beeinträchtigt wird, ist allerdings klar, und man sieht das beispielsweise am Don Carlos oder am zweiten Teil des Faust. Aber solche Umstände werden immer nur ausnahmsweise und wider Willen des Dichters eintreten, und die Verschiebung wird ihm im allgemeinen nicht zum Bewußtsein kommen. So erscheint das Gesetz der Einheit in seiner allgemeinen Form als selbstverständlich und daher wenig ergiebig. Die besonderen Formen aber, die es innerhalb der einzelnen Gattungen annimmt, bilden gleichwohl mehrfach Probleme, von deren Auffassung die künstlerische Gestaltung und das ästhetische Urteil wesentlich mit bestimmt wird. Wir werden im Anschluß an die ältere Ästhetik schon hier den allgemeinen Satz aufstellen dürfen, daß alle lyrische Darstellung die Einheit eines Zustandes, alle epische die Einheit der Entwicklung, alle dramatische die der Handlung voraussetzt und fordert. Allein diese Begriffe sind an sich keineswegs eindeutig und zweifelsfrei; sie können erst aus den späteren Erörterungen volles Licht empfangen, und dann werden uns auch die Fragen deutlich werden, die sich an sie knüpfen, wie z. B. die, ob die Einheit des Helden für das Epos ausreichend ist oder ob wir Aristoteles noch heute recht geben müssen, wenn er auch für die epische Dichtung die Einheit der Handlung in dem gleichen Sinne wie für das Drama fordert. Auch die Einheit des Stils und seiner Formen, die an sich ebenso selbstverständlich erscheint, wie die des Inhalts, kann zu Zweifeln Anlaß geben: ist es künstlerisch berechtigt, wenn ein Dichter wie Shakespeare seine Personen in zweierlei Sprachen sprechen läßt: die Vornehmen im deklamatorischen Stil der Renaissance, das Volk in der naturalistisch wiedergegebenen Redeweise der Wirklichkeit. Diese besonderen Fragen werden die späteren Untersuchungen zu beantworten haben. Wenden wir uns für jetzt zu der Aufgabe zurück, die Prinzipien dichterischer Komposition in ihrer allgemeinen Gestalt zu betrachten. Das Gesetz der Einheit erhält einen tieferen Sinn dadurch, daß ihm ein zweites von nicht geringerer Tragweite gegenüber und zur Seite tritt: das Prinzip des Kontrastes. Eine allgemeine psychologische Tatsache ist es, daß jede Empfindung, jede Anschauung intensiver und deutlicher wird, wenn ihr eine entgegengesetzte, aber der gleichen Kategorie angehörige, unmittelbar folgt; und hiermit verbindet sich in den meisten Fällen ein Lustgefühl ästhetischer Art. So ist nicht nur in der Poesie, sondern auf dem Gesamtgebiete der Kunst der Kontrast ein Mittel zur stärkeren Hervorhebung, zur deutlicheren Veranschaulichung des Dargestellten. Wie die Farben auf dem Gemälde, so heben sich Stimmungen und Gestalten in der Dichtung schärfer und wirkungsvoller voneinander ab, wenn sie in einem Gegensatz stehen, als wenn sie verwandten Charakter tragen. Aber man darf weiter gehen. Ein nicht minder allgemeines psychologisches Gesetz ist es, daß jedes, insbesondere aber jedes ästhetische Lustgefühl, lebhafter empfunden wird, wenn ihm eine Unlustempfindung voraufgegangen ist, ja, daß jeder ästhetische Genuß nur dann andauernd und kraftvoll ist, wenn ihm Unlustempfindungen kontrastierend beigemischt sind. Ob in der Tat, wie Fechner es ausdrückt, „eine metaphysische Unmöglichkeit vorliegt, daß Quellen der Lust ohne solche der Unlust in der Welt bestehen“, dürfen wir dahingestellt sein lassen; aber sicher ist und von höchster Bedeutung, daß die Poesie den Genuß, den sie bereitet, zum Teil aus Unlustgefühlen schöpft; ja, daß sie die Unlust braucht, um auf die Dauer Lust zu erregen. Hierüber hat Viehoff, Poetik S. 24 ff., eine Anzahl treffender Bemerkungen gemacht. In diesem Sinne ist die Kontrastwirkung mehr als ein bloßes Kunstmittel, das der Dichter instinktiv oder bewußt zur Verstärkung seiner Wirkungen verwendet: man darf vielmehr sagen, daß nahezu alle dichterische Kunst auf der Hervorhebung und dem Ausgleich von Gegensätzen beruht, ähnlich wie alle Farbenwirkung in der Malerei auf einem Nebeneinander, jede Akkordfolge in der Musik auf einem Nacheinander von Kontrastwirkungen begründet ist. Schon in der Lyrik sind Lieder und Gedichte, die ganz aus einer einfachen Stimmung heraus empfunden sind und in denen ein Kontrast nur gelegentlich oder gar nicht eingeführt ist, verhältnismäßig selten. Goethes Mailied „Wie herrlich leuchtet uns die Natur“, wie überhaupt eine Anzahl kleiner Frühlings- und Liebeslieder, aber namentlich auch ein Gedicht wie Schillers „An die Freude“ können uns zeigen, daß solche dichterische Darstellung eines einheitlichen Gefühls nicht unmöglich ist. Aber sie sind vereinzelt gegenüber der unendlich größeren Anzahl von Gedichten, die aus dem Gefühl eines Kontrasts entsprungen sind oder in die doch stärker oder schwächer ein solches Gefühl hineinklingt. Solche Gedichte erregen unser Interesse in stärkerem Maße. Selbst in so kurzen und scheinbar so einfachen Gefühlsäußerungen, wie es Goethes Nachtlieder sind, beruht ein großer Teil der tiefen und innigen Wirkung auf der Empfindung eines schmerzlichen Kontrasts, und zwar ist es der Gegensatz zwischen dem leidenschaftlich aufgewühlten Inneren des Dichters und dem ersehnten Frieden, der sich in der Natur, in einem Bilde der Phantasie oder der Erinnerung verkörpert. In dem ersten Lied „Über allen Wipfeln ist Ruh“ klingt diese leidenschaftliche Stimmung nur als ein leiser Unterton am Schlusse hinein; im zweiten „Der du von dem Himmel bist“ wird der schmerzlich empfundene Gegensatz schon deutlich ausgesprochen; am stärksten aber und wirksamsten tritt er in „Jägers Abendlied“ hervor, das er auch der Form nach ganz beherrscht. In jedem größeren Gedicht vollends ist der Kontrast unentbehrlich und wenn wir oben den Satz aufgenommen haben, daß jedes lyrische Gedicht der Ausdruck eines inneren Zustandes ist, so werden wir nunmehr genauer sagen können: es ist, zumeist wenigstens, ein Zustand kontrastierender Gefühle, der darin zum Ausdruck kommt. Man betrachte daraufhin Gedichte wie „Willkommen und Abschied“, „Neue Liebe, neues Leben“, „An Belinde“, alles sehr einfache lyrische Schöpfungen ohne jeden Beisatz von Reflexion. In der Gedankenlyrik tritt der Gegensatz als begriffliche Antithese hervor; freilich muß dieselbe, wie wir später sehen werden, entsprechend dem Charakter der Poesie überhaupt, ganz und gar mit Gefühls- und Stimmungsgehalt durchtränkt und erfüllt sein. Schillers philosophische Gedichte bewegen sich fast sämtlich in solchen Antithesen, die zugleich Gegensätze des Begriffs und des Gefühls sind; man denke an Die Götter Griechenlands, Die Ideale, Das Ideal und das Leben, Die Worte des Glaubens. Vgl. Viehoff, Poetik S. 160. Aber auch Gedichte wie Goethes Harzreise, Grenzen der Menschheit und Das Göttliche weisen genau denselben Charakter auf. In noch weit ausgesprochenerem Maße als die lyrische, beruht alle epische und dramatische Wirkung auf Kontrasten. Hier sind es nicht mehr bloß Stimmungen und Gedanken, sondern Schicksale und Charaktere, durch die sie gebildet werden. Die Handlung entwickelt sich durch den Gegensatz von Glück und Unglück, von Gelingen und Mißlingen hindurch, und die Wirkung der Peripetien, auf die Aristoteles so viel Gewicht legte, ist wesentlich Kontrastwirkung, daher auch um so wirksamer, je schärfer und unvermittelter die Gegensätze sind. Die Personen jeder tieferen Dichtung stehen einander nicht nur äußerlich gegenüber, durch Umstände und Zufälle getrennt und verfeindet, sondern sie sind durch innere, im Wesen der Individuen begründete Gegensätze voneinander geschieden, ja auch diejenigen, die im Streit der Parteien auf derselben Seite stehen, die einander befreundet sind und das gleiche Schicksal erleiden, müssen in ihren Eigenschaften kontrastieren, wenn sie uns nicht auf die Dauer ermüden sollen. In der Jungfrau von Orleans z. B. ist es eine Schwäche, daß die französischen Ritter gar nicht oder doch nur unbedeutend voneinander abstechen und alle gleich hingebungsvoll und ritterlich sind. In dieser Hinsicht steht die Ilias weit hinter dem Nibelungenlied zurück. Ein großer Teil der homerischen Helden sind nur durch Alter oder dem Grad ihrer Körperstärke voneinander unterschieden und Gegensätze von so leuchtender Farbenkraft wie Hagen und Siegfried, Volker und Rüdiger wird man dort vergeblich suchen. Die individuelle Eigenart des Helden wird durch kein anderes Mittel so deutlich, wie durch den Kontrast mit Personen, die neben ihm stehen und jeden Augenblick zum Vergleich herausfordern. Daher stellt Sophokles neben seine Antigone ihre Schwester Ismene, neben Elektra die weichere Chrysothemis; daher rückt Shakespeare die Nebenperson des Cassius in ein nicht minder helles Licht wie seinen Helden Brutus, und Goethe stellt seinem Egmont nicht nur den finsteren Gegner Alba, sondern auch den besonnenen Freund Oranien gegenüber. Das Drama ist überhaupt, wie wir späterhin sehen werden, das Kunstwerk des Kontrasts in besonderem Sinne und mehr als alle übrigen Dichtungsformen. Denn im Epos werden die gegensätzlichen Wirkungen durch die Kunst des objektiven Erzählers immer bis zu einem gewissen Grade gemildert und ausgeglichen; im Drama aber stehen sie schroff und unvermittelt nebeneinander, und man darf hier tatsächlich sagen, daß alle Wirkung Kontrastwirkung ist. So ist denn auch die Sprache des Dramas abweichend von der des Epos durchaus auf die Antithese gestellt; die Gegensätze der Stimmung kommen in der dramatischen Kunst, die hierin der Lyrik näher steht als das Epos, nicht selten stark zur Geltung und Wirkung; endlich beruhen auch eine Anzahl spezifisch dramatischer Kunstmittel auf Kontrastwirkung. So besonders die „ tragische Illusion “, wie Gustav Freytag sie nennt; der Wahn des Helden, der sich im Glücke oder zeinem Ziele nahe glaubt, während er in Wirklichkeit bereits dem unvermeidlichen Untergang preisgegeben ist. Berühmt als Beispiel ist der vorletzte Chor im König Ödipus, nicht minder der in der Antigone: beide geben unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Katastrophe der Zuversicht auf ein glückliches Ende Ausdruck. Unter den neueren Tragikern versteht keiner im gleichen Maße wie Schiller durch den Gegensatz zwischen Wahn und Wirklichkeit die tragische Stimmung zu vertiefen. Dies zeigt am meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft: Lebt irgend eine Von allen Weibern, die geboren haben, Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche? Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren wesentlichen Kunstmittels der Steigerung, ja, man kann sagen, daß hierin das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt. Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung ─ man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang ─, im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen. Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik des Dramas 10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet. In allen Gattungen sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind auf lyrischem Gebiete Goethes „Trost in Tränen“, Heines „Gestrandet“, auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere; auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer Steigerung. Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn das Gedicht als letztes Ergebnis ästhetische Lust hervorrufen soll. Diese Forderung aber wird man billigerweise stellen dürfen; sie liegt im Wesen aller Kunst begründet, und es ist daher berechtigt, wenn Fechner auf sie das „Prinzip der ästhetischen Versöhnung“ begründet. Da aber der Ausdruck Versöhnung immerhin ein Mißverständnis hervorrufen kann, so bezeichne ich das, was hier gemeint ist, lieber als Prinzip des Abschlusses und stelle es den drei vorher veranschaulichten Gesetzen der dichterischen Komposition als letztes zur Seite. Zwar kann es scheinen, als ob dieses Prinzip etwas ebenso Selbstverständliches ausspreche, wie das der Einheit. Denn wie diese im Wesen der künstlerischen Intention begründet ist, so liegt es auch in der Natur der Sache, daß sich jede Entwicklung auf einen bestimmten Zielpunkt richtet: wenn dieser erreicht ist, ist die Intention des Dichters verwirklicht und eben damit der Abschluß gefunden. Unzweifelhaft deutlich zeigt sich das im Epos und im Drama, wo man mit Recht von einem „Ziel der Handlung“ zu sprechen pflegt. Es wird hier immer nur ganz ausnahmsweise vorkommen, daß der Dichter abbricht, ehe ein solches Ziel erreicht oder wenigstens in unzweideutiger Aussicht ist. (In Goethes Tasso scheint es freilich der Fall zu sein, allein doch auch hier nur, weil der Dichter es absichtlich oder unabsichtlich unterlassen hat, den Zustand völliger Zerrüttung, in dem der Held am Schlusse erscheint, unzweideutig zu kennzeichnen; vergleiche S. 53). Aber nicht ebenso selbstverständlich ist das Prinzip für die Lyrik. Immerhin leuchtet auch hier ein, daß ein bloßes Aufhören der Steigerung, ein bloßes Nachlassen der Stimmung am Ende eines Gedichts unwirksam und unkünstlerisch ist. Die Steigerung muß zum Abschluß kommen. Dies geschieht am einfachsten dadurch, daß ein Höhepunkt erreicht wird, jenseits dessen ein weiteres Zunehmen, eine stärkere Intensität des Gefühls nicht möglich ist. So bei Goethe im Ganymed und in Mahomets Gesang; so, um einige moderne Beispiele zu nennen, viele Gedichte Konrad Ferdinand Meyers, der das Crescendo der Stimmung ungemein sicher handhabt: der Gesang des Meeres, Michel Angelo, die Ketzerin. Der künstlerische Abschluß kann aber auch auf die entgegengesetzte Weise erreicht werden: durch ein allmähliches Abschwellen oder ein plötzliches Absetzen tritt eine lösende Beruhigung ein. Nicht minder wirksam als das gewaltige Fortissimo, mit dem Mahomets Gesang schließt, ist das sanfte Piano, das den Schluß der Frühlingsfeier bildet, oder das Maestoso am Ende der Harzreise. Wie verhält sich's nun aber da, wo Inhalt und Stimmung eines Gedichts durch einen deutlich hervortretenden Kontrast bestimmt werden? Auch hier tritt uns zunächst die fast befremdliche Tatsache entgegen, daß die höchstmögliche Steigerung des Kontrasts, das schärfste Hervortreten des Gegensatzes einen Abschluß herbeiführen kann, der im künstlerischen Sinne durchaus befriedigt. So in Goethes Prometheus, in Hölderlins Schicksalslied, in Heines „Frage“. Der Vergleich mit der Disharmonie in der Musik ist also nicht im ganzen Umfange zutreffend: dort ist ein anderes Ende als die Auflösung in einen harmonischen Schlußakkord künstlerisch einfach unmöglich. Aber immerhin wird man auch von der Dichtung sagen müssen, daß der Abschluß auf einer Dissonanz nur selten und ausnahmsweise künstlerisch wirkt und jedenfalls nur in lyrischen Gedichten kleineren und mittleren Umfangs denkbar ist, wenn sie eben ganz auf die Hervorhebung des Kontrastzustandes gestellt sind. Im allgemeinen wird auch hier eine Lösung der Disharmonie, eine Aufhebung des Kontrasts erforderlich sein, wenn uns das Gedicht befriedigt entlassen soll. Dies geschieht nun am einfachsten dadurch, daß eine der gegensätzlichen Stimmungen oder Vorstellungen die andere besiegt und das Feld behauptet. So tritt in Jägers Abendlied der Gedanke an die Geliebte siegreich und beruhigend aus dem Zwiespalt der Leidenschaft hervor, so entläßt uns das Gedicht An den Mond mit dem vollen Gefühl der schmerzlichen Seligkeit, welche die endlich einmal gelöste Seele empfindet. Besonders wirkungsvoll und schön ist es, wenn die Schlußwendung überraschend kommt und eine versöhnende Kontrastvorstellung neu einführt oder doch plötzlich zur Deutlichkeit erhebt: so in Goethes Seefahrt, wo die ruhige Festigkeit des Schiffers der vorher geschilderten Erregung und Bewegung tröstlich gegenübersteht (die gleiche Wendung wiederholt sich bei Uhland in König Karls Meerfahrt); so, wenn Walter von der Vogelweide die Klage um den Verfall der Zeit mit der Hoffnung auf die „liebe Reise über Meer“ schließt; so weiter ausgeführt in der Marienbader Elegie, wo nach dem leidenschaftlich bewegten Mittelsatz die „Aussöhnung“ in tief empfundenem und ergreifendem Kontrast eintritt, ─ freilich etwas äußerlich und zufällig eingeführt als Wirkung der Musik. Innerlicher und tiefer ist die versöhnende Kontrastwendung in Schillers Idealen; etwas künstlicher und nicht ganz so zwingend in den Göttern Griechenlands. In all diesen Gedichten ist es leicht erklärlich, daß der Schluß befriedigend wirkt, da eine lustvolle oder doch beruhigende Vorstellung die entgegengesetzte verdrängt. Nun aber ist es eine auffallende Tatsache, daß dies keineswegs immer notwendig ist. Man braucht gar nicht erst zu Gedichten von der trostlosen Melancholie der Harfnerlieder hinabzusteigen: fast jede Seite im Buche der Lieder und zahlreiche Gedichte Lenaus zeigen, daß auch das Überwiegen eines schmerzlichen Affekts den künstlerisch befriedigenden Abschluß herbeiführen kann. Es ist klar: wir verlangen von einem lyrischen Gedicht nicht, daß es versöhnlich endet und uns mit einer lustvollen Vorstellung zurückläßt; die künstlerische Befriedigung ist hier nicht die Folge der Gefühle, die sich an den Inhalt des Dargestellten anknüpfen, sie wird vielmehr durch die Form hervorgerufen. Es ist die Kraft des Lyrikers, seinen und unseren Gefühlen Worte zu geben und Rhythmus zu leihen; hierdurch erweckt er ästhetische Lust, und diese Lust ist so groß, daß sie schmerzliche Empfindungen, die der Inhalt erregt, überwiegt. Ja, mehr als das, sie wird erhöht, wenn wir empfinden, wie der Dichter auch Leidenschaften und Leiden zu überwinden, zu Kunstwerken zu gestalten weiß. Fechner hat übersehen, daß das „Lustübergewicht“, das er verlangt, nicht nur durch inhaltliche Beziehungen herbeigeführt wird, sondern auch durch die ästhetische Lust an der Form. Daher erklärt sich auch die schiefe Bezeichnung „Prinzip der ästhetischen Versöhnung“. Freilich das eben Gesagte gilt, wie die Erfahrung zeigt, nur von lyrischen Gedichten und zwar wesentlich von solchen kleineren Umfangs, die nichts weiter wollen, als eine gegebene Stimmung durchführen, und die keinen eigentlichen Fortschritt des Gedankens oder der Stimmung enthalten. Bei allen größeren Dichtungen aber, bei allen denen, die uns aus dem Bereich der bloßen Gefühle hinausführen, verlangen wir mehr: hier muß in der Tat zum Schluß ein inhaltlich versöhnendes Element hervortreten; das Endergebnis muß uns über die Unlustgefühle hinwegheben, die im einzelnen in uns erweckt sind. Am deutlichsten zeigt sich das in der gegenständlichen Dichtung, also dem Drama und dem Epos. Keine noch so hohe formale Schönheit kann uns darüber hinweghelfen, wenn der Abschluß innerlich unbefriedigend ist. Daher wird die „Frage“ wie eine Dichtung, die mit dem Untergang des Helden schließt, trotzdem oder gar eben hierdurch Lust erwecken kann, zu dem schwerwiegenden Problem des Tragischen, dem wir späterhin eine besondere Betrachtung widmen werden. Aber wir können zunächst an den einfacheren Formen der lyrischen Dichtung noch weitere Beobachtungen machen. Wo der Kontrast zweier Vorstellungen oder Gefühle uns lebhaft und scharf zum Bewußtsein kommt, da wird es nicht immer erreichbar sein, daß eines der beiden entgegengesetzten Glieder am Schluß völlig ausgelöscht und verschwunden erscheint. Daher sucht und findet der Dichter die Versöhnung häufig darin, daß der Kontrast durch eine dritte Vorstellung ausgleichender Natur überwunden und aufgehoben wird, so daß Pein und Zwiespalt am Schluß einer erhebenden oder doch beruhigten Stimmung Platz machen. Dazu genügt bisweilen schon, daß der schmerzliche Kontrast ins allgemeine erhoben und dadurch in seiner Notwendigkeit erkannt wird: hierdurch verliert er, auch wenn er fortbesteht, seinen Stachel; an die Stelle peinvoller Unruhe tritt eine sanfte Resignation. Ein typisches Beispiel bildet Lenaus Herbstklage: Holder Lenz, du bist dahin! Nirgends, nirgends darfst du bleiben! Wo ich sah dein frohes Blühn, Braust des Herbstes banges Treiben Wie der Wind so traurig fuhr Durch den Strauch, als ob er weine; Sterbeseufzer der Natur Schauern durch die welken Haine. Wieder ist, wie bald! wie bald! Mir ein Jahr dahingeschwunden. Fragend rauscht es aus dem Wald: „Hat dein Herz sein Glück gefunden?“ Waldesrauschen, wunderbar Hast du mir das Herz getroffen! Treulich bringt ein jedes Jahr Welkes Laub und welkes Hoffen. Aus dem Gefühl derselben Wirkung entspringt der sentenziöse Schluß vieler Trauerspiele, so die Schlußworte der Oberpriesterin in Kleists Penthesilea: Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann. Und ganz ähnlich in Heines Almansor: Der Allmacht Willen kann ich nicht begreifen, Doch Ahnung sagt mir: ausgereutet wird Die Lilie und die Myrte aus dem Wege, Worüber Gottes goldner Siegeswagen Hinrollen soll in stolzer Majestät. Tiefer freilich und befriedigender ist es, wenn eine neue höhere Vorstellung den Gegensatz in sich aufnimmt und eine Harmonie hervorruft, in welcher der Kontrast verschwindet. Schon die Schlußwendung von Willkommen und Abschied nähert sich dieser Wirkung, und deutlicher tritt sie in den Versen an Belinden hervor; der Gegensatz zwischen Natur und geselligem Flitterglanz erscheint hier aufgelöst durch die Liebe: Wo du Engel bist, ist Lieb und Güte, Wo du bist Natur! Aber besonders in reflektierenden Gedichten ernsten und erhabenen Charakters erhebt uns der Dichter gern über das Schmerzvolle eines Zwiespalts der Gedanken- und Gefühlswelt durch den Hinblick auf eine höhere Idee. So tritt in Schillers Worten des Wahns im Schlußverse der himmlische Glaube versöhnend den vorangegangenen Verneinungen gegenüber. So wird in Rückerts „Sterbender Blume“ die Klage um die Vergänglichkeit, der Schauer vor dem Tode, durch eine erhabene pantheistische Wendung überwunden; und in ganz ähnlicher Weise, aber in der Form noch kunstvoller, verwandeln sich in dem „Trauerliede“ desselben Dichters die Worte der Klage selbst in solche des Trostes und der Beruhigung. Unter den neueren Dichtern hat Arthur Fitger in ähnlicher Weise durch den pantheistischen Gedanken tief empfundenen Zwiespalt überwunden und in freudige Erhebung ausklingen lassen; am schönsten im „Gottesurteil“. Da die beiden letztgenannten Gedichte sehr unverdientermaßen wenig bekannt sind, so soll wenigstens das erste von ihnen zum Schluß dieses Abschnittes angeführt werden: Die Blum am Anger spricht: O Himmelsnaß, Von mir gekannt einst unterm Namen Tau! In Frühlingsnächten wecktest du mich schlau, Verhießest Pflege süß ohn' Unterlaß. Wie hat sich nun in Haß Verkehrt dein Schmeicheln lau? Als Herbstreif machst du mir die Wangen blaß. Warum hat mich ins Leben Gerufen dein Gebot, Wenn du dafür nur geben Mir willst den bittern Tod! Das Blatt am Baume spricht: O Himmelswind! Als ich verhüllt in meiner Knospe lag: „Willst du nicht aufstehn, Kind? Es ist ja Tag!“ So riefest du, und kos'test weich und lind. Wie kommst du nun geschwind Und gibst den Todesschlag Mit deiner eis'gen Schwinge deinem Kind! Warum hat mich ins Leben Gerufen dein Gebot, Wenn du dafür nur geben Mir willst den bittern Tod! Es spricht ein Herz: O Liebe, Himmelslicht! Wie kamest du zu meiner Kindheit Ruh, Und rütteltest und flüstertest mir zu, Und wobest mir ein glänzendes Gedicht. Ich folgt in Zuversicht; Und nun zertrümmerst du Die kurze Täuschung, und mein Leben bricht. Warum hat mich ins Leben Gerufen dein Gebot, Wenn du dafür nur geben Mir willst den bittern Tod! Kommt, laßt uns klagen mit vereintem Mund, Ein Blatt, ein Menschenherz, ein Blumensproß: Tau, Windesspiel, Licht, das vom Himmel floß, Die ihr uns habt in ungetreuem Bund Vernichtet in den Grund! Treu ist allein dein Schoß, O Mutter Erde! Nieder nimm uns: Und Es soll hinfort ins Leben Uns rufen kein Gebot, Das doch zuletzt nur geben Uns will den bittern Tod! Still, still, ihr unzufriednen Kindelein! (Die Mutter Erde spricht) was klagt ihr sehr? Auf die dort oben scheltet mir nicht mehr; Sie lassen euch, dafür nehm' ich euch ein. Ihr habt mit ihnen fein Gespielt nach Herzbegehr, Und gerne tut ihr's wieder, wenn's kann sein. Nun wohl! Euch wird ins Leben Neu rufen ihr Gebot. Jetzt wollt euch mir ergeben! Nicht bitter ist der Tod! Dritter Teil. Die Gattungen der Poesie. ────── 11. Das Wesen der Lyrik. Was sich in unseren bisherigen Betrachtungen über das Wesen der Dichtkunst und ihr Verhältnis zur Sprache ergeben hat, das zeigt sich am deutlichsten, weil in den einfachsten und reinsten Linien, in der Lyrik. Poesie ist die Kunst, innere Erlebnisse in Worten wiederzugeben, in Worten, die der unmittelbare Ausdruck eines solchen Erlebnisses sind und den Hörer zwingen, dasselbe in sich zu erneuern. Während es nun in der epischen und dramatischen Poesie Gestalten und Vorgänge der Außenwelt sind, die in der Dichterphantasie ein neues Leben empfangen, bleibt die Lyrik ganz und gar im subjektiven Gefühlsleben des Dichters beschlossen, und nur dieses ist es, was in seinen Versen zum Ausdruck kommt. Während Epiker und Dramatiker stets auf Beobachtung und anschauliche Wiedergabe der Außenwelt angewiesen ist, braucht der Lyriker nur in sein eigenes Inneres hineinzulauschen und auszusprechen, was ihm da kund wird: die unmittelbare Umsetzung des Gefühlserlebnisses in Worte ist sein einziges oder doch wesentliches Geschäft, und die Gestaltungskraft des Dichters äußert sich nur in der schöpferischen Herrschaft über die Sprache. „Den lyrischen Dichtern“, sagt Dilthey treffend, In seinem ebenso schönen wie lehrreichen Buche: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906, S. 273. „ist gegeben, den stillen Ablauf innerer Zustände, der sonst von dem Getriebe der äußeren Zwecke gestört und von dem Lärm des Tages übertönt wird, in sich zu vernehmen, festzuhalten, zum Bewußtsein zu erheben.“ Auch die Wirkung lyrischer Gedichte ist in einem weit entschiedeneren Sinne subjektiv, als sie jene anderen Dichtungsgattungen hervorbringen können: denn der Leser erlebt die dargestellten Gefühle nicht als die des Dichters, sondern als seine eigenen. Er denkt bei einem Liebesgedicht an seine Liebe, bei einer Klage über die Vergangenheit des Glücks an Verluste, die er selbst erlebt und erlitten hat ─ wenn er nicht etwa das Gedicht als philologisch geschulter Literarhistoriker betrachtet. Nun ist freilich auch das Gefühlserlebnis des Dichters stets durch einen äußeren Vorgang angeregt, sei es, daß ein solcher tief in sein Schicksal eingegriffen hat, sei es, daß er nur ein flüchtiges Gekräusel im Flusse des Alltagslebens darstellt, sei es ein Spaziergang oder ein Bruch mit der Geliebten. Aber eben dies ist das Charakteristische für die lyrische Gestaltung, daß das äußere Erlebnis nur in seiner Wirkung auf das Innenleben erscheint. Die Einzelheiten werden ausgemerzt, die bestimmten Umrisse aufgelöst. Wo das Gefühl sich in dieser Weise von dem bestimmten Vorstellungsinhalt, durch den es erregt ist, losgelöst hat und den einzelnen Eindruck überdauert oder überwiegt, da sprechen wir von Stimmung. Stimmung zu erwecken ist also das eigentliche Wesen der lyrischen Kunst. Was in den anderen Dichtungsgattungen nur eine Ingredienz der Wirkung, das ist hier letzter Zweck. Während die epische und dramatische Kunst in der plastisch scharfen Gestaltung von Charakteren und Handlungen besteht, verlangt das Wesen der Lyrik gerade umgekehrt die Auflösung und Verwischung der äußeren Umrisse. Und eben hierdurch vollzieht sich zugleich jene Verallgemeinerung des Individuellen, die im Wesen jeder künstlerischen Darstellung liegt. Nur so viel äußeres und individuelles Erleben wird der echte Lyriker unmittelbar aussprechen und darstellen, wie nötig ist, damit wir den Gefühlsvorgang verstehen und nacherleben können. Aus dem individuellen Erlebnis wird auf diese Weise der typische Inhalt eines allgemein menschlichen Empfindens: hierauf beruht das Wesen aller lyrischen Dichtung. Die literarhistorische Forschung kennt bis ins einzelne die individuell bestimmten Anlässe, die Gedichten, wie „Willkommen und Abschied“, „Wandrers Nachtlied“, oder der Marienbader Elegie zugrunde liegen: was ist davon in das Gedicht selbst übergegangen? Nichts als die unbestimmten und allgemeinen Umrisse von Situationen, die jeder so oder ähnlich erlebt hat oder erleben kann, die aber genügen, tiefe und leidenschaftliche Gefühle hervorzurufen und verständlich zu machen: Glück des Wiedersehens und Schmerz der Trennung, Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit der Erinnerung. Das Gesagte gilt gleichmäßig von den verschiedenen Anlässen und Eindrücken, welche Gefühlserlebnisse hervorrufen und damit zum Gegenstand lyrischer Gedichte werden können: Liebe und Natur, Religion und Vaterlandsliebe, überall ist es nur das Allgemeine und Gefühlsmäßige, das den Inhalt der Dichtung bildet. Ob das Gefühlserlebnis des Dichters durch die Sehnsucht nach der Geliebten oder den Anblick einer geliebten Landschaft, durch die Vergänglichkeit des Lenzes oder den Tod eines Freundes hervorgerufen wird, ob es in dem Verlangen nach Liebe oder in dem nach Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichts keinen Unterschied. Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß (z. B. Liebes-, Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110─157 seines oben angeführten Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend. Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise und Lied an den Mond lassen sie nur eben erraten. Und die moderne Lyrik neigt ─ wie wir später sehen werden ─ noch weit entschiedener zur Auflösung aller bestimmten Züge. ─ Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, so erscheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer poetischer Sprachschöpfung voranging, von der nur eine schriftliche Überlieferung nichts weiß. Die Poesie der Renaissance, die in den Kulturländern Europas die volkstümliche Dichtung ersetzte und verdrängte, zeigt, wie begreiflich, den Zug zum konventionellen und überlieferten Ausdruck noch weit entschiedener. Aus den antiken Sprachen sind ihre Redefiguren und Metaphern zu einem großen Teil übernommen, zum mindesten sind sie diesen nachgebildet. Die antiken Götter personifizieren in herkömmlicher Weise Gefühle und Eigenschaften; und der Gefahr, zur Schablone zu erstarren, durch die wahres Gefühl nicht ausgedrückt, sondern erstickt wird, ist auf die Dauer keine dieser Dichtungen entgangen. Das Mittel nun, die Erstarrung im Konventionellen zu überwinden, zu einer neuen und echteren Weise des Gefühlsausdrucks zu gelangen, war nicht selten eine pathetische Sprache. So war Klopstocks Stil durchweg pathetisch und deklamatorisch: durch die hinreissende Gewalt leidenschaftlich bewegter Worte schwemmte er gleichsam die eingetrocknete Überlieferung hinweg und gelangte zu einem individuellen Ausdruck für die Gedanken und Gefühle, die sein Inneres bewegten. Allerdings war dieser Ausdruck ebenso wie das Gefühlsleben, das ihm entsprach, nicht frei von einer künstlichen und gewaltsamen Steigerung über sich selbst und das natürliche Maß hinaus. Dies ist es, was uns heute den größten Teil von Klopstocks Dichtungen ungenießbar macht, gerade dies aber ist es, wie es scheint, was auf seine Zeitgenossen, die aus den Niederungen deutschen Philisterlebens und seiner Sprache emporstrebten, so mächtig gewirkt hat. Eine ganz ähnliche Erscheinung bietet in der französischen Literatur die Lyrik Victor Hugos: gewaltiges und gewaltsames Pathos, echte Leidenschaft noch künstlich erhitzt und im Ausdruck gesteigert; das wenigste von dauernder Wirkung, aber das Ganze ein machtvoller und fruchtbarer Triumph über die eingehende und öde Bindung an konventionelle Formen, welche den dichterischen Ausdruck beherrscht und gefesselt hatten. Allein es ist klar, daß mit diesem Pathos nicht die höchste Stufe dichterischer Ausdrucksfähigkeit erreicht ist. Diese tritt uns vielmehr erst da entgegen, wo die Sprache nichts als der natürliche Ausdruck gesteigerten Empfindens ist und sein will, wo das schlichteste Wort unmittelbar die Persönlichkeit des Dichters und sein inneres Erleben widerspiegelt: das scheinbar Leichteste ist in Wahrheit das Schwierigste, das scheinbar Selbstverständliche bezeichnet auch hier, ähnlich wie wir es bei der metrischen Behandlung gesehen haben, die letzte erreichbare Höhe der Kunst. Diese Dichtung erneuert die Zeiten des Ursprungs und der Frische, die der Entstehung der Konvention voranging, aber sie hat ihre Ausdrucksfähigkeit unendlich gesteigert und verfeinert. Gedichte wie Walters „Herzeliebez frouwelîn“ oder „Unter der linden auf der heiden“ stehen auf dieser Höhe. In der modernen deutschen Dichtung hat bekanntlich Goethe den Weg zu ihr gebrochen und sie als erster erreicht. Eichendorff, Heine, auch Mörike haben ihm zu folgen vermocht. In Jägers Abendlied, in den beiden Nachtliedern des Wanderers, in dem Gedicht An den Mond ist das künstlerisch Zwingende des Wortes aufs höchste gesteigert. Jeder Hörer und Leser steht unter dem Eindruck: so habe ich's auch empfunden und erlebt, doch nicht ausdrücken können, unter dem Eindruck: nicht anders, nicht besser kann ausgesprochen werden, was durch das Labyrinth der Menschenbrust wandelt. ─ Versuchen wir nunmehr näher in das Geheimnis dieser Sprachkunst und ihrer Wirkung einzudringen, so müssen wir uns dessen erinnern, was uns das sechste Kapitel über das Wesen der Dichtersprache gelehrt hat. Jedes innere Erlebnis besteht aus einem lebendigen und einheitlichen Zusammenhang von Gedanken und Empfindungen. Indem der Dichter nun einen solchen darstellt, ist ihm das Wort entweder ganz unmittelbar Ausdruck seiner Gefühle, oder es tritt ihm zwischen Stimmung und Klanggebilde die bildliche Anschauung als vermittelndes Glied. In diesem Sinne konnten wir sagen, daß alle poetischen Schöpfungen sich auf einer Skala zwischen der rein akustischen und der anschaulich bildenden Wirkung bewegen und zumeist von beiden etwas an sich tragen. Sinn, Klang und Bild erscheinen somit als die drei Elemente eines jeden Gedichtes, und mit Recht unterscheidet Geiger in seinem schon öfter angeführten Buche drei Wirkungsmöglichkeiten, die er als gnomische, anschauliche und musikalische bezeichnet. Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik (Halle 1905) S. 9. Der Ausdruck gnomisch ist offenbar verfehlt, aber was er bezeichnen will, ist an sich richtig. Der Dichter strebt entweder nach einer unmittelbaren und einfachen Wiedergabe dessen, was in ihm vorgeht: das Wort ist der schlichte Ausdruck des Gefühls. Oder es vermittelt vielmehr eine Anschauung, die den Sinn bildlich ausdrückt. Oder endlich, ─ womit Geiger die Reihe beginnt, ─ er sucht die rein klangliche Wirkung seiner Worte in ein unmittelbares Verhältnis zum Empfindungsinhalt zu bringen und auf diese Weise eine Art von musikalischer Wirkung zu erreichen. Die schlichte Aussprache eines inneren Vorgangs gehört eigentlich der Prosa an. Wo es aber ein tiefes inniges Gefühl ist, das durch sie zum Ausdruck kommt, vermag sie gleichwohl mit dichterischer Kraft zu wirken. Das Gefühl, daß Wort und Sinn einander in innerster Verwandtschaft decken, die Wahrheit des Ausdrucks also, ist es, was hier zwingt und künstlerische Wirkung hervorruft. Mit Recht führt Geiger Mignons Lied „Nur wer die Sehnsucht kennt“ an, und manche andere Goethesche Verse können diesem zur Seite gestellt werden. Unter den großen deutschen Lyrikern ist es besonders Heine, der sich auf diese Kunst des schlichten Ausdrucks versteht. Ein Beispiel mögen die schönen Verse aus der „Heimkehr“ geben: Herz, mein Herz, sei nicht beklommen, Und ertrage dein Geschick. Neuer Frühling gibt zurück, Was der Winter dir genommen. Noch wie viel ist dir geblieben, Und wie schön ist noch die Welt! Und mein Herz, was dir gefällt, Alles, alles darfst du lieben! Freilich ist es nicht zu leugnen, daß eine so einfache und scheinbar kunstlose Ausdrucksweise leicht Gefahr läuft, ins Prosaische zu verfallen, und auch dies zeigt uns Heine, bisweilen unfreiwillig, öfter freilich mit bewußter künstlerischer Absicht; das letztere z. B. in dem bekannten Gedicht: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen anderen erwählt“, ─ wo die ersten Strophen in alltäglichen Ausdrücken eine Alltagsgeschichte wiedergeben, um erst mit der Schlußwendung ins Poetische umzuschlagen. Im allgemeinen wird daher die schlichte gedankenhafte Wiedergabe des inneren Erlebnisses verhältnismäßig selten sein, denn es liegt im Wesen der Poesie wie aller Kunst überhaupt, daß der Inhalt, den sie ausdrücken will, nicht durch sich selbst, sondern durch die Form wirken will. Hierzu kommt, daß lyrische Gedichte, wenigstens soweit sie der reinen Gefühlslyrik angehören und nicht reflektierenden Charakters sind, zumeist einen sehr einfachen, nichts weniger als reichen Gedankengehalt haben und daß auch die Gefühle, die sie ausdrücken, durch Kraft oder Innigkeit gefangen nehmen, nicht aber durch Mannigfaltigkeit oder Neuheit interessieren können. Die künstlerische Wirkung solcher Gedichte wird daher zumeist auf dem musikalischen oder bildlichen Charakter des Ausdrucks beruhen. Die Mittel, die dem Dichter hierfür zu Gebote stehen, sind im achten und neunten Abschnitt unserer Betrachtungen ihrem Wesen nach erörtert. Hier ist die Frage, wie weit sie in der lyrischen Dichtung zusammengehen können, wie weit sie einzeln oder gar im Gegensatz zueinander zur Geltung kommen. Es gibt eine Anzahl lyrischer Schöpfungen ─ und wir werden sie zu den höchsten ihrer Art rechnen müssen ─, in denen beide Wirkungen sich vollkommen die Wage halten, und wo die Stimmung zu gleicher Zeit durch den Klang wie durch die Bilder, welche er erweckt, erregt und gesteigert wird. Goethes Lyrik gehört zum größten Teil hierher, aber angeführt werden soll nur ein kleines und weniger bekanntes unter seinen Gedichten, das gleichwohl ein besonders belehrendes Beispiel dieses Doppelcharakters gibt. Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer Vom Meere strahlt; Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer In Quellen malt. Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege Der Staub sich hebt; In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege Der Wandrer bebt. Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen Die Welle steigt. Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen, Wenn alles schweigt. Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne, Du bist mir nah! Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne. O wärst du da! Hier wird die Sehnsucht, welche die Grundstimmung des Gedichtes ist, in einer Reihe von Naturbildern wiedergegeben, deren jedes von anschaulichem Leben erfüllt ist; zugleich aber dienen Sprache und Metrum dazu, durch den Klang die Empfindung selbst sowohl wie das Bild zu charakterisieren. So wird der lang und langsam ansteigende und schnell fallende Rhythmus unmittelbar zum Ausdruck sehnsüchtiger Empfindung und veranschaulicht doch zugleich den aufwirbelnden Staub und die sprudelnde Quelle. Noch höher ist die Kunst in dem Elfenchor, mit dem der zweite Teil des Faust beginnt: „Wenn sich lau die Lüfte füllen um den grün umschränkten Plan.“ Hier werden in den vier aufeinander folgenden Zeiten der Nacht vom Abend bis zum Morgen vier Stimmungen: Müdigkeit, Glück des Ruhens, allmähliches Erwachen und neue Tatkraft in vier anschaulichen Bildern mit allen Mitteln des Rhythmus und der sprachlichen Klangwirkung musikalisch eindrucksvoll gemacht. Man glaubt, eine Wortsymphonie in Versen zu hören und gleichzeitig eine entsprechende Reihe herrlicher Bilder vor Augen zu sehen, zusammengehalten durch einen einfachen, aber tiefen und schönen Gedanken. Es erscheint als das Natürliche, daß alle lyrischen Gedichte diese doppelte (oder dreifache) Wirkung erstreben. Gleichwohl ist das nicht durchweg der Fall; wir finden vielmehr, daß das musikalische Element nicht selten einseitig hervortritt, und es wird das begreiflich, wenn wir an den Einfluß und das Vorbild der Musik denken. Diese nämlich vermag am unmittelbarsten wie am stärksten von allen Künsten auf das Gefühl zu wirken; sie erregt ganz ohne gedankenmäßigen oder anschaulichen Inhalt Stimmungen des verschiedensten Charakters und von der größten Kraft und Tiefe. Daher ist es ein begreifliches Streben der Lyrik, es der Schwesterkunst gleichzutun, in Wortmusik überzugehen und zu diesem Zweck nicht nur auf bildliche Anschaulichkeit, sondern auch auf einen greifbaren gedanklichen Zusammenhang zu verzichten. Die Lyrik der Romantiker, besonders Tiecks und Brentanos, zeigt diese Neigung. Ihre Worte und Sätze haben oft nicht mehr den Zweck, einen bestimmten Inhalt von Vorstellungen zu vermitteln, sie sollen unmittelbare musikalische Empfindungen hervorrufen, die sich an keinen festen Gegenstand heften. Tiecks bekannte Verse „Liebe denkt in süßen Tönen“ bezeichnet fast programmatisch diese Richtung. Noch einseitiger und entschiedener sind ihr die lyrischen Schulen der modernen Franzosen, die Dekadenten und Symbolisten, sowie ihre deutschen Nachahmer darin gefolgt. Was wir bei der allgemeinen Betrachtung der Dichtersprache im neunten Kapitel als einen möglichen Fall berührten, daß der bestimmte Inhalt einer Empfindung und die Stärke des Gefühls, das sie begleitet, in einer Art von gegensätzlichem Verhältnis stehen, daß mithin die Stärke des Gefühls die Bestimmtheit der Anschauung beeinträchtigen kann und umkehrt, wird von ihnen als ein allgemeines Dogma verkündet. Daher suchen sie eine Wirkung, die ganz der Musik entspricht und ohne vermittelnde Vorstellung auf Gefühl und Stimmung gerichtet ist. Die letzten Umrisse bestimmter Erlebnisse und Vorgänge werden aufgelöst, und der Zusammenhang ist in den Strophen Mallarmés und oft auch Stefan Georges kein festerer, als ihn etwa der musikalische Gedanke eines Sonatensatzes gibt. Eben hierdurch aber fordert diese Lyrik eine Konkurrenz heraus, der sie von vornherein unterlegen ist. Die elementare Kraft der Gefühlswirkung, die der Musik eignet, erreicht das Wort als solches niemals. Und eben deshalb ist die Dichtung ihrem Wesen nach darauf angewiesen, durch das Wort sich an die anschauende Phantasie und das denkende Vermögen zu wenden. Es ist wahr, die lyrische Poesie sucht die Musik, wie die Musik ihrerseits das deutende Wort sucht, aber es ist eben die Ergänzung, nicht die Steigerung der eigenen Wesenskraft, die sie anstreben. Daher wird der lyrische Dichter immer wieder auf die andere Hälfte seiner Kunst, auf die Wirkung durch bildliche Anschauung gewiesen werden. Seine Bilder entnimmt er der Außenwelt, vor allem der Natur, aber sie haben Bedeutung und Wert ─ das hat uns die bisherige Betrachtung gezeigt ─ niemals in der bloßen Wiedergabe dessen, was Natur und Landschaft den Sinnen bietet. Vielmehr sind alle Bilder und Vorgänge der äußeren Natur für ihn nur Sinnbilder innerer Vorgänge: so fordert es das Gesetz der Verinnerlichung, das, wie wir sahen, das Grundgesetz der lyrischen Kunst ist, und hierauf beruht der symbolische Charakter, welcher zwar aller Poesie überhaupt, in besonderer Weise aber der Lyrik eignet. Von zwei Seiten aus wird die Symbolik Bedürfnis des lyrischen Dichters. Die meisten inneren Vorgänge bedürfen eines äußeren Sinnbildes, um anschaulich zu werden, d. h. um überhaupt nachempfunden werden zu können. Das liegt schon im Wesen der Sprache, die viel zu arm an Ausdrücken für das Gefühlsleben ist, um es in seinen feineren Nuancen unmittelbar widerspiegeln zu können und zu diesem Zweck fast stets des Vergleichs mit Vorgängen der äußeren Welt bedarf. Die Fähigkeit, solche Symbole zu ergreifen und mit Leben zu erfüllen, macht offenbar einen wesentlichen Teil lyrischer Begabung aus. Sie ist nicht identisch, aber doch im innersten Kern verwandt mit der metapherbildenden Kraft des Sprachgeistes. Andrerseits liegt es auch im Wesen jedes starken Gefühls, daß es auf die Außenwelt übergreift, sie in seine Bahnen zieht und erfüllt: der Liebende sieht, wie Goethe einmal sagt, alles mit Bezug auf die Geliebte; der Trauernde findet überall Beziehung zu seinem Schmerz. Jenes macht uns das Bedürfnis des Dichters nach sinnbildlicher Ausdrucksweise verständlich; in diesem liegt der größte Teil der Erscheinung, die heutige Ästhetiker als Einfühlung zu bezeichnen pflegen, begründet. Der Dichter belebt die Gegenstände der Natur mit seinen eigenen Gefühlen, er belebt sie, bis sie ihm als selbständige Wesen, als Personen erscheinen. Das bedeuten die Schillerschen Verse: „Da lebte mir der Baum, die Rose, Mir sang der Quellen Silberfall; Es fühlte selbst das Seelenlose Von meines Lebens Wiederhall.“ „Wo das Objekt auch nur von Ferne an Menschliches gemahnt“, sagt du Prel, S. 88 und 124 seiner oben genannten Psychologie der Lyrik. Die wertvollere zweite Hälfte dieses Buches enthält eine Reihe belehrender Studien und reiches Material zur Frage der Symbolik in der lyrischen Dichtung. „beseele ich es menschlich, vermöge der wunderbaren Fähigkeit der Phantasie, sich in äußere Objekte hineinzuleben. Ein steiler Fels scheint trotzig die Stirne zu erheben; ein Bach springt fröhlich den Wiesenhang hinab; Blumen lachen uns freundlichen Auges an. ─ In der Naturbeseelung decken sich also die äußeren Formen der Dinge mit den ihnen untergelegten Empfindungen. Die Formen mögen starr sein oder veränderlich, immer sind sie uns der äußerliche Ausdruck eines geheimnisvollen Innern, das wir uns in menschlicher Art vorstellen, weil wir außer dieser Analogie gar keinen anderen Maßstab des Verständnisses haben. Wir, deren Mienen und Geberden so innig verflochten sind mit unseren Seelenzuständen, daß das jeweilige äußerliche Verhalten unseres Leibes bis in die Fingerspitzen durchgeistigt ist, wir schauen auch aus den Gestalten der Naturobjekte und aus ihren Tätigkeiten, wenn sie noch so leise an menschliches Verhalten mahnen, die korrespondierenden menschlichen Empfindungen heraus. Kurz, weil unsere Leiblichkeit immer ganz und gar der äußere Ausdruck eines ganz bestimmten Innern ist, so erscheinen uns auch die leblosen Dinge bis in die letzten Ausläufer ihrer Formen beseelt. Darauf beruht die ästhetische Wirkung aller landschaftlichen Objekte; auch leblose Dinge erfüllen wir mit Freud und Leid, mit Liebe und Haß, und dadurch erst treten sie uns ästhetisch nahe.“ Und durchaus dichterisch empfunden ist, was Hebbel einmal in sein Tagebuch schreibt (Tagebücher, herausg. von R. M. Werner Nr. 1083): „Welch hohe Freudigkeit der Seele, welch ein Mut für alle Zukunft im Menschen erwacht, wenn ihm die zwischen den ewigen, den Fundamentalgefühlen in seinem Innern und den Erscheinungen der Natur bestehende untrennbare Harmonie in klarem Lichte aufgeht, das scheint niemand zu wissen.“ Die Atmosphäre der Poesie ist gewissermaßen voll von dichterischen Symbolen, viele in ihre Entstehung hinein nicht zu verfolgen, viele in langer Überlieferung schon bis zu einem gewissen Grade abgetrocknet und leicht von einem zum anderen übertragbar. Die ritterliche Lyrik und das spätere Volkslied zeigen uns das in gleichem Maße. Immer wieder dieselben Bilder, immer wieder Vogelsang und Blumen. Dazwischen freilich ursprünglichere Wendungen: „Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund“ und ähnliches. Starrer als das Volkslied zeigt sich auch hier die Poesie der Renaissance. Ihre Symbole und Personifikationen, vor allem der Olymp mit seinen stereotypen Gestalten, dauern bis in die Zeit jugendlich neuer Dichtung hinein fort, und selbst in einem Gedicht so voll ursprünglicher Frische und eigenen Sprachlebens wie Goethes „Willkommen und Abschied“ mutet uns ein „Götter!“ in der letzten Zeile an wie ein abgestorbenes Stück Holz zwischen blühenden Zweigen. Denn die Kunst des lyrischen Genius, vor allem Goethes, besteht eben darin, neue Symbole zu schaffen, alte neu zu beleben. Der Mond und die Sterne gewinnen neuen Glanz, Wind und Welle werden zu Sinnbildern für Menschenseele und Schicksal. Am farb'gen Abglanz des Wasserfalls haben wir das Leben; das Haideröslein und das im Wald gefundene Blümchen spiegeln Mädchenseele und Frauengeschicke wieder. ─ Den Geist volkstümlicher Symbolik wissen die Romantiker, zumal die jüngeren, wohl zu treffen („In einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad“), und Heine hat besonders mit Bildern des Meeres und seiner Bewegung die lyrische Symbolik bereichert. Der eigentümlichste Reiz dieser Darstellungsart besteht nun darin, daß die symbolische Bedeutung abwechselnd bald hinter dem Bilde selbst zurücktritt, bald wieder stärker zum Bewußtsein kommt. In Mahomets Gesang z. B. läßt sich dieser Wechsel deutlich verfolgen. Im Gesang der Geister über den Wassern tritt der gedankenhafte Sinn des Gedichtes, den wir freilich schon im Verlauf der Schilderung immer deutlicher ahnen, erst am Schluß hervor, und mit besonders überraschender Anmut erfolgt die Wendung vom rein Bildlichen zum Sinnbildlichen in folgenden Versen Heines: Es ziehen die brausenden Wellen Wohl nach dem Strand; Sie schwellen und zerschellen Wohl auf dem Sand. Sie kommen groß und kräftig, Ohn' Unterlaß; Sie werden endlich heftig ─ Was hilft uns das? Umgekehrt richtet Gottfried Keller in einem ebenso graziösen wie tiefsinnigen kleinen Gedicht die Spannung auf einen Gedanken, den er dann mit einer nicht minder überraschenden Wendung nur symbolisch ahnungsvoll ausdrückt: Du milchjunger Knabe, Wie siehst du mich an? Was haben deine Augen Für eine Frage getan! Alle Ratsherrn der Stadt Und alle Weisen der Welt Bleiben stumm auf die Frage, Die deine Augen gestellt! Ein leeres Schneckhäusel, Schau, liegt dort im Gras; Da halte dein Ohr dran, Drin brümmelt dir was! Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die S. 124 f. angeführten Verse gehören in diese Reihe; aber bis ins Mystische vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder: In tausend Formen magst du dich verstecken, Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich; Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken, Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich. An der Zypresse reinstem, jungen Streben, Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich; In des Kanales reinem Wellenleben, Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich. Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet, Allspielende, wie froh erkenn' ich dich; Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet, Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich. An des geblümten Schleiers Wiesenteppich, Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich; Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich, O Allumklammernde, da kenn' ich dich. Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, Gleich, Allerheiternde, begrüß' ich dich; Dann über mir der Himmel rein sich ründet, Allherzerweiternde, dann atm' ich dich. Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich; Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach durch dich. Ihm entspricht ein vielleicht unter seinem Einfluß entstandenes Gedicht Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und deshalb gleichfalls hier abgedruckt werden mag. Jegliche Gestalt bekleidend, Bin ich stets in deiner Nähe, Aber immer bin ich leidend, Und du tust mir immer wehe. Wenn du, zwischen Blumenbeeten Wandelnd in des Sommers Tagen, Einen Schmetterling zertreten ─ Hörst du mich nicht leise klagen? Wenn du eine Rose pflückest, Und mit kindischem Behagen Sie entblätterst und zerstückest ─ Hörst du mich nicht leise klagen? Wenn bei solchem Rosenbrechen Böse Dornen einmal wagen In die Finger dich zu stechen ─ Hörst du mich nicht leise klagen? Hörst du nicht die Klagetöne Selbst im Ton der eignen Kehle? In der Nacht seufz' ich und stöhne Aus der Tiefe deiner Seele. Wie diese Verse zeigen, kann es vorkommen, daß der Gedanke eines Gedichts eine Vielheit der Symbole fordert, um zu anschaulichem Ausdruck zu kommen. Wir werden sehen, daß dies in der reflektierenden Poesie weit öfter der Fall ist, als in der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Hier wird im allgemeinen das einheitliche Erlebnis, das zum Ausdruck kommen soll, auch eine gewisse Einheitlichkeit der Symbolik, einen Zusammenschluß der Bilder zu einem Ganzen fordern. Man betrachte z. B. die Eichendorffschen Verse: Dämmrung will die Flügel spreiten, Schaurig rühren sich die Bäume, Wolken ziehn wie schwere Träume ─, Was will dieses Graun bedeuten? Hast ein Reh du lieb vor andern, Lass' es nicht alleine grasen, Jäger ziehn im Wald und blasen, Stimmen hin und wieder wandern. Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug' und Munde, Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden. Was heut' müde gehet unter, Hebt sich morgen neu geboren. Manches bleibt in Nacht verloren ─ Hüte dich, bleib wach und munter! Eine Reihe an sich verschiedener sinnbildlicher Anschauungen, die sich gleichwohl zu einem ganz einheitlichen Stimmungsbild zusammenschließen. Wo diese Einheit fehlt oder nicht deutlich erkennbar ist, da wird das Gedicht als Ganzes etwas Undeutliches und Unklares erhalten, das nicht nur das Verständnis im engeren Sinne, sondern auch das Nachfühlen erschwert und den Eindruck zersplittert. Dies ist z. B. in Goethes Harzreise der Fall; man vergleiche sie nur mit dem so viel fester gefugten Schwager Kronos, der ihr der Anlage nach verwandt ist. In dieser einheitlichen Ausgestaltung beruht ein wesentlicher Teil der formgebenden Arbeit des lyrischen Dichters. Nach allem, was wir von der Bedeutung des Symbolischen für die Lyrik gesehen haben, kann sich nun wohl die Frage aufdrängen, welchen Sinn es hat, wenn eine moderne Richtung die Bezeichnung Symbolismus annimmt und damit zugleich den Anspruch erhebt, die Kunst sinnbildlicher Darstellung in besonderer Weise verstanden und durchgeführt zu haben. Über diese Erscheinung mögen einige Worte aufklären; sie gehört eigentlich in die Geschichte der modernen Literatur, ist aber doch auch prinzipiell für das Wesen der Lyrik bedeutsam. Der Symbolismus ist zunächst eine spezifisch französische Erscheinung, eine Reaktion gegen die allzu ausgeprägte Verstandesmäßigkeit, welche der französischen Lyrik im allgemeinen eignet, gegen die allzu ausgeprägte Klarheit und Schärfe der Umrisse, welche insbesondere die sogenannten Parnassiens anstrebten. Daher ruft er, wie wir oben sahen, zunächst das musikalische Element zu Hilfe als ein Gegengewicht gegen das rhetorische, das die französische Poesie bis dahin fast ausschließlich beherrschte. „ De la musique avant toute chose “, heißt es in einem programmatischen Gedicht Paul Verlaines. Aber wesentlicher ist noch, daß die Symbolisten überhaupt nach Auflösung der festen Umrisse streben, daß sie sich gegen die allzu scharfe Deutlichkeit der Bezeichnungen und Schilderungen wenden. „La contemplation des objets“, sagt Stephan Mallarmé, „l'image s'envolant de rêveries suscitées par eux, sont le chant: les Parnassiens, eux, prennent la chose entièrement et la montrent; par là, ils manquent de mystères; ils retirent aux esprits cette joie délicieuse de croire qu'ils créent. Nommer un objet, c'est supprimer les troisquarts de la jouissance du poème qui est faite du bonheur de deviner peu, le suggérer voilà le rêve.“ Stéphane Mallarmé: Enquête sur l'Evolution Littéraire, 1891. Und in demselben Sinne heißt es in dem oben angeführten Gedichte Verlaines: Il faut aussi que tu n'ailles point Choisir tes mots sans quelque méprise, Rien de plus cher que la chanson grise Où l'Indécis au Précis se joint ... Hiermit hängt denn auf das engste zusammen, daß statt des eigentlichen und verstandesmäßigen Ausdrucks das Symbol zu Hilfe gerufen wird. Soweit ist der Symbolismus nichts anderes als die Einführung der Prinzipien echter Lyrik in die französische Poesie, die sie bisher kaum gekannt hatte. Das Gedicht soll dem Verstande nichts sagen, sondern nur dem Gefühl und der Phantasie vermitteln, was es sagen will. Dieser an sich richtige Satz nun aber wird von den Symbolisten mit der Einseitigkeit durchgeführt, die Reaktionserscheinungen eigen zu sein pflegt. Jede gedankenhaft faßbare Einheit wird ausgeschlossen. Der Symbolist reiht nicht nur verschiedene Bilder aneinander, sondern er löst das einzelne auch noch in seine Elemente auf und setzt an Stelle der Bedeutung, welche dem Gesamtbild zukommen kann, die Gefühle, welche die einzelnen Elemente, Farbe, Ton, Gerüche u. s. w., erwecken. Zwischen den elementaren Eindrücken der verschiedenen Sinne entdeckt er sodann Verwandtschaften, Parallelen, die selbstverständlich nicht verstandesmäßig erfaßt, sondern nur nachgefühlt werden können. La nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L'homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l'observent avec des regards familiers. Comme de longs échos qui de loin se confondent, Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs, et les sons se répondent. Interessant ist es, mit diesen Versen folgende Zeilen Friedrich de la Motte Fouqués zu vergleichen: Linde säuseln kühle Lüfte, Und im süßen Himmelsglanze Bilden spielend sich zum Kranze Töne, Worte, Farb' und Düfte. Diese Verse Beaudelaires bezeichnen die charakteristische Grundanschauung. Bisweilen wird diese Methode mit einer eigentümlichen Mischung von Raffinement und Pedanterie durchgeführt; das berüchtigte Sonett Artur Rimbauds über die Bedeutung der Vokale gibt eine naiv drastische Anleitung dazu. Bisweilen auch gelingt es einem wirklichen Dichter wie Verlaine, der übrigens keineswegs im Banne der Schule geblieben ist, ein echtes Gedicht auf dieser Grundlage zu schaffen; das S. 83 angeführte ist ein Beispiel davon. Im ganzen aber fehlt dieser Art von Poesie der Inhalt. Jedes Sinnbild bedarf eines Sinnes, wenn es nicht, wie ein loses Märchen verklingend, täuschen soll: und gerade dieser wird ihm hier versagt. Sehr richtig sagt Ferd. Brunetière (L'évolution de la poésie lyrique en France. Paris 1901. S. 253): „Tout symbole suppose une idée sans le support de laquelle il n'est qu'un conte de nourrice; et toute symbolique implique ou exige, à vrai dire, une métaphysique, j'entends une certaine conception des rapports de l'homme avec la nature ambiante ou, si vous l'aimez mieux, avec l'inconnaissable.“ Es ist die bloße Stimmung, die hier die verschiedensten Elemente zusammenhalten soll. Nichts als der Ausdruck einer solchen Stimmung will das symbolistische Gedicht sein und es nähert sich auch hierin wieder der Musik. Die Einseitigkeit der französischen Lyrik erklärt sich, wie gesagt, aus ihrer Vorgeschichte. Dem französischen Dichter kann es, wenn er die ältere Lyrik seiner Literatur betrachtet, wohl scheinen, als ob Faßlichkeit des Inhalts und Bestimmtheit der Anschauung ein für allemal Kraft und Tiefe der Stimmung beeinträchtigen müssen. Nicht so dem Deutschen. Ihm müssen die großen Lyriker seines Volks von Goethe bis Heine, ihm müssen besonders Eichendorff und Mörike, deren Formbehandlung sehr oft der der modernsten Dichtung nahe kommt, gelehrt haben, daß sich Bestimmtheit des Erlebnisses und der Anschauung sehr wohl mit jener Zartheit der Umrisse, jener Tiefe der Stimmung, jenem musikalischen Elemente der Poesie vereinigen lassen, die der Symbolismus sucht. Es ist daher eine Verirrung, wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche Tradition fortzusetzen. Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen und das ausgesprochene Urteil bestätigen: Beträufelt an baum und zaun Ein balsam das sprocke holz? Verspäteter sonnen erglühn Die herbstlichen farben verschmolz Rotgelb. gesprenkeltes braun Scharlach und seltsames grün. Wer naht sich dem namenlosen Der fern von der menge sich härmt? In mattblauen kleidern ein kind .. So raschelt ein schüchterner wind So duften sterbende rosen Von scheidenden strahlen erwärmt. An schillernder hecken rand Bei dorrenden laubes geknister Und lichter wipfel sang Führen wir uns bei der hand Wie märchenhafte geschwister Verzückt und mit zagendem gang. Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters verursacht sein. Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht.“ Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches. Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik keine feste und starre, wie es überhaupt in der Kunst nirgends starre Grenzlinien gibt. Je stärkere und tiefere Gefühle ein Gedanke auslöst, desto mehr schwindet sein abstrakter Charakter, und diese Wirkung hervorzurufen, ist die Kunst des Gedankendichters; je tiefer und echter also diese Kunst, desto enger berühren sich beide Gattungen der Lyrik. Gehören Gedichte wie „Prometheus“ und die „Grenzen der Menschheit“, gehört Rückerts „sterbende Blume“ der einen oder der anderen an? Allgemeine Gedanken sind hier zu so tief ergreifenden Gefühlserlebnissen geworden, daß solche Gedichte ganz den Charakter der Gefühlslyrik tragen, und Schillers Dichtung zeigt uns, daß die Tiefe der Gefühlsresonanz noch weit abstraktere Ideen künstlerisch gestalten und zu echt lyrischer Wirkung zu bringen vermag. Nur wo dieses Verhältnis zwischen Gedankenwelt und Gefühlsleben vorhanden ist, kann eine philosophische Lyrik entstehen. Andernfalls bleibt die Reflexionspoesie im Didaktischen stecken; Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik. es entstehen Lehrgedichte im alten Sinne des Wortes, die mit der Poesie nichts gemeinsam haben als die äußere Form. Wir kennen sie aus dem siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; aber auch Rückert hat, besonders in der Weisheit des Brahmanen, vielfach trockene und lehrhafte Gedankengänge moralischen oder metaphysischen Inhalts in glatte Verse gebracht. Nur große und bedeutsame Ideen können es sein, die das Gefühlsleben tief berühren, Ideen, welche die Begeisterung des Dichters und seiner Leser zu erwecken vermögen und eben hierdurch dem Verstandesmäßigen die künstlerische Wendung geben. Sehr richtig drückt Körner dieses Verhältnis in einem Brief an Schiller aus (Briefwechsel I S. 282). „Wahrheiten können ebenso gut begeistern als Empfindungen, und wenn der Dichter nicht bloß lehrt, sondern seine Begeisterung mitteilt, so bleibt er in seiner Sphäre. Was der Philosoph beweisen muß, kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen Orakelspruch hinwerfen. Die Schönheit der Idee macht, daß man es ihm aufs Wort glaubt.“ Wo aber ein Kreis solcher Ideen vorhanden ist, aus dem der Dichter schöpft, da kann sogar ein einzelner scheinbar trockener und fachwissenschaftlicher Gedanke Gefühlswärme empfangen und Begeisterung erregen, wie das Goethes beide Gedichte „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Die Metamorphose der Tiere“ mit schöner Deutlichkeit zeigen. Zwei solche Gedankenkreise sind es nun, die in der deutschen Dichtung besonders bedeutungsvoll hervortreten: die moralisch ästhetische Ideenwelt Schillers und die pantheistische Weltanschauung Herder-Goethes. „Schiller“, sagt Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301. „fand einen eigenen lyrischen Ausdruck für die große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte, war gänzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe für den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen Gegenständen aus im Gemüt hervorgebracht wird. Schiller löste seine Aufgabe durch eine der Gedankenlyrik gemäße Behandlung des gereimten Verses. Er verband wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen. Dabei bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren Vorgangs durch einen äußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das starke, aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben sind und nun so im Gemüt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll ist das Anschwellen des Gemüts, welches Teil auf Teil der ideellen Anschauung aneinanderfügt in lauter parallelen großen Perioden, bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemäß der Gesetzlichkeit des Gefühls wieder sinkt. So durchläuft das Gedicht „Die Götter Griechenlands“ zuerst alle Bestandteile dieser göttlichen Welt, mit jedem derselben steigert sich das Gefühl ihrer Schönheit, immer wieder erfüllt und bestätigt dies Gefühl sich an neuen Teilen der Anschauung: bis dann plötzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses Gefühl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwühlt in jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzügiger Rhythmus, die Energie im Wachstum des Gefühls ausdrückend, das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht, aus dem leidenschaftlichen Vorgezogenwerden von Teil zu Teil.“ Schiller fand nur einen Nachfolger, der diese Höhe zu behaupten vermochte: Hölderlin. „Niemand“, so schreibt Dilthey mit Recht, „neben oder nach Hölderlin ist dieser Form Schillers gewachsen gewesen.“ Wenn Schillers dichterische Unmittelbarkeit so oft verkannt wird, wenn die meisten Literarhistoriker der Gegenwart dazu neigen, in seiner Gedankenlyrik nur Erzeugnisse des Willens und der Reflexion zu sehen, so liegt das daran, daß sie verkennen, wie tiefes Erlebnis für ihn das Ringen um philosophische Erkenntnis mit seinen Zweifeln und Siegen war, was der Wechsel der Lebensanschauung von Shaftesbury zu Kant für sein Gefühlsleben bedeutete. Leichter freilich als in diesen abstrakten Gedankengängen ist in einer Weltanschauung, die in allen Teilen der Natur, in allen Vorgängen der menschlichen Seele unmittelbare Äußerungen göttlicher Kräfte sucht und findet und alle diese Kräfte zu einer unendlichen, welterfüllenden Einheit zusammenfaßt, das gefühlsmäßige Element und die begeisternde Macht zu entdecken. Sind doch die mystische Gottesliebe Spinozas und zugleich die Schönheitstrunkenheit einer durch und durch künstlerischen Weltanschauung die Lebensquelle, aus denen die Lehre des Pantheismus, wie sie sich in und mit unserer klassischen Dichtung entwickelt hat, ihre Kräfte zieht. Von Goethes herrlicher Jugendschöpfung, dem Wanderer, an bis zu den tiefsinnigen Dichtungen, die der Greis in „Gott und Welt“ zusammenfaßte, zeigt uns seine Gedankenlyrik durchweg jene Fülle und Wärme der Empfindung, jenen Enthusiasmus des Schauens, welcher die Reflexion zur Poesie macht. Und wie seine Weltanschauung, so hat auch ihr dichterischer Ausdruck tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachgewirkt. So viel Trockenes und Undichterisches die allzu zahlreichen Bände Rückertscher Lyrik enthalten, so sollte man doch nicht vergessen, daß er in einer Reihe von Gedichten wahrhaft ersten Ranges die Tradition Goethescher Gedankenlyrik aufgenommen und ihres Begründers würdig fortgesetzt hat: die sterbende Blume, Waldstille, Trauerlieder, Kindertotenlieder u. ähnl. Unter den heute noch lebenden Dichtern ist es besonders der viel zu wenig gewürdigte Arthur Fitger, der mit ähnlicher Tiefe der Gedanken und Kraft der Empfindungen die gleiche Weltanschauung, wenn auch in modernen Wendungen, zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat. In allen diesen Gedichten hat der Pantheismus die Wärme und den gefühlsmäßigen Inhalt der Religion, und wenn man das Wort nur allgemein genug nimmt, so kann man diese Art der Gedankenlyrik wohl als religiöse Dichtung bezeichnen. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die geistliche Dichtung im engeren Sinne das gleiche Gesetz. In ihren wertvollsten Erzeugnissen, wie Luthers und Paul Gerhards Liedern, ist sie echte Lyrik, und die allgemein christlichen oder dogmatischen Gedanken dienen nur dazu, religiöse Empfindung und Begeisterung auszulösen. Wo dagegen die Reflexion, insbesondere die moralisierende, allzu entschieden und scharf hervortritt, wie bei Gellert, da bleibt sie lehrhaft und unpoetisch, selbst wenn sie Gedanken behandelt, die an sich, wie z. B. die Liebe zu den Mitmenschen, gar wohl einer dichterischen Behandlung fähig wären. Während nun aber in der Gefühlslyrik das äußere Erlebnis von dem inneren gleichsam aufgezehrt erscheint und nur in seinen allgemeinsten Umrissen noch sichtbar ist, bleiben in der Ideendichtung die Gedanken notwendigerweise in voller Schärfe und Klarheit erkennbar, nur daß sie von den Gefühlen, die sie hervorrufen und beherrschen, gleichsam getragen werden. Ein Verschwimmen der Umrisse, das in der Gefühlslyrik reizvoll sein kann, wird hier immer als peinliche Unklarheit empfunden werden. Gleichwohl bedarf die Gedankendichtung im allgemeinen nicht weniger wie die Gefühlslyrik der symbolischen Darstellung. Nur wo, wie in Goethes Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, der Gedanke an sich im Anschaulichen bleibt, braucht der Dichter das Sinnbild nicht, sonst aber fordert gerade der abstrakte Gedanke in der poetischen Behandlung die symbolische Anschaulichkeit, wenn er nicht lehrhaft und unkünstlerisch wirken soll. Schiller war sich darüber völlig klar. „Wenn“, schreibt er an Goethe, „etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden.“ Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik dar. „Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander, so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen aus: das Bestreben des Dichters muß sein, daraus das Allgemeingültige herauszuschälen. Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit; jenes hat Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und sucht ihnen zu geben, was ihnen fehlt: das notwendig Allgemeine muß individuelles Leben erhalten, die abstrakte Wahrheit muß in wirkliche Erscheinung treten; der Notwendigkeit muß sich Freiheit gesellen, der Klarheit die Fülle; mit einem Worte: das Gedankenerlebnis soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang nahm, wird durch die Phantasie dem Gemüte nahe gebracht. Das Umgekehrte hat beim Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen erhoben werden, die Erscheinung der Wirklichkeit zur Wahrheit, mit der Freiheit muß sich die Notwendigkeit paaren und in aller Fülle die Klarheit sichtbar werden; das, was vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder das Gefühls- noch das Gedankenerlebnis an sich ist Lyrik, sondern wird durch die Phantasie zum Lyrischen erst gemacht.“ Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen, wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit des Symbols bedarf, um selbst zusammenhängend und einheitlich zu wirken, wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen Wendungen durch sehr verschiedene Sinnbilder zur Darstellung zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen Goethes „Adler und Taube“, „Mahomets Gesang“, „Prometheus“ u. s. w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume, Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. ─ Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht angewendet, das nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt. So faßt Goethe unter der Überschrift Epigrammatisch die mannigfaltigsten kurzen Einfälle zusammen, und auch in Logaus Sinngedichten finden wir Verse verschiedensten Inhalts und Charakters. Allein eine deutliche Scheidung läßt sich gleichwohl ohne Schwierigkeit und mit Vorteil für das Verständnis durchführen. Eine eingehende Einteilung des Epigramms im weiteren Sinne des Worts hat Herder (Anmerkungen über das griechische Epigramm) unternommen. Doch macht R. M. Werner mit Recht dagegen geltend, daß sie das Einteilungsprinzip nicht wahrt. Wo der Gedanke in seiner allgemeinen Bedeutung kurz und einfach vorgetragen wird, ist die Bezeichnung Spruch oder Sentenz (Gnome ) besser am Platz als der Name Epigramm. So Logau's: „Ein Mühlstein und ein Menschenherz wird stets herumgetrieben, Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben.“ Oder Goethes: „Alles in der Welt läßt sich ertragen, Nur nicht eine Reihe von guten Tagen.“ Ebenso Schillers Führer des Lebens und zahllose andere. Für das Epigramm im engeren Sinne aber ist charakteristisch, daß der Gedanke stets mit einer überraschenden Wendung auf eine kurze Exposition folgt, somit als Schlußspitze erscheint. Schon Lessing hat die Zweiteilung des Epigramms und seine Zuspitzung als die wesentlichen Eigenschaften dieser Gedichtform angesehen. Die Namen Erwartung und Aufschluß, mit denen er die beiden Teile bezeichnete, passen freilich nicht überall, und Werners Ausdrücke Erlebnis und Einfall (S. 179 f.) sind treffender, obgleich sie nur die subjektive Seite, die Entstehung des Gedichts, bezeichnen. Grundlage und Spitze, Exposition und Pointe dürfte das Verhältnis am besten bezeichnen. Goethe, „Den Originalen“: Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule! Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; Auch bin ich weit davon entfernt, Daß ich von Toten was gelernt.“ Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: „Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“ In der Natur solcher überraschender Wendungen liegt es, daß sie zumeist auf komische Wirkungen abzielen. Und in der Tat ersetzt in den meisten Epigrammen der Witz das Stimmungselement, welches jeder Gedankendichtung eignen muß. Wenn das Epigramm mehr als ein belangloser Einfall sein soll, so wird seinem Witz eine tiefere Bedeutung zukommen müssen; so faßt es auch Goethe: Sei das Werte solcher Sendung Tiefen Sinnes heitre Wendung. Mit diesem Motto überschreibt er seine epigrammatischen Gedichte. Daher wird das Epigramm im engeren Sinne hauptsächlich der Satire dienen, die witzige Spitze wird zugleich eine aggressive sein, die überraschende Wendung eine polemische, sei es, daß sie sich gegen einzelne Personen richtet (Invektive), sei es, daß sie allgemeine Richtungen und Zustände trifft. Sehr häufig werden diese letzteren in fingierten Personen gegeißelt, da Witz und Angriff dadurch schlagender und wirksamer erscheint. Schon Martial verstand sich auf diese Methode, und Lessing ahmt sie ihm in fast allen seinen Sinngedichten nach. Goethe macht es sich mit der Überschrift Mamsell N. N. einigermaßen leicht, aber auch er bewegt sich fast durchweg einem fingierten Du oder Ihr gegenüber. Ihre gemeinsamen Xenien freilich haben Schiller und Goethe direkt an bestimmte persönliche Gegner gerichtet. Mit dem Epigramm in seiner ausgesprochen verstandesmäßigen Natur haben wir uns der Grenze der Poesie genähert: wir wenden uns nunmehr wiederum ihrem zentralen Gebiete zu und fassen zunächst die epische Dichtung ins Auge. 12. Epische Dichtung. Während die lyrische Dichtung nichts als der reine Ausdruck innerer Zustände des Dichters, seiner Gefühle, Stimmungen und Gedanken ist, stellen Epos und Drama eine gegenständliche Welt und zwar in lebendiger Bewegung, Menschen und ihre Handlungen dar. Beide bilden mithin der Lyrik gegenüber eine gemeinsame Kategorie, und man hat sie denn auch mehrfach unter einen gemeinsamen Namen zusammengefaßt. Schiller und Goethe bezeichnen sie als pragmatische Dichtungsarten (z. B. Schiller an Goethe am 25. April 1797), W. v. Humboldt als plastische (über Goethes Hermann und Dorothea S. 245 Anm.). Objektive Dichtung würde treffender bezeichnen, was beiden der subjektiven Gattung der Lyrik gegenüber gemeinsam ist. Indessen ist dieses Wort, wie wir sehen werden, schon in so mannigfachem Sinne von der Poetik in Anspruch genommen, daß es nicht ratsam ist, noch einen neuen Gebrauch hinzuzufügen. Ich werde daher im Folgenden die Übersetzung gegenständliche Dichtung gebrauchen. Auch die gegenständliche Dichtung geht, wie die Lyrik, aus inneren Erlebnissen des Dichters hervor. Aber diese Erlebnisse bleiben nicht, wie dort, in der Sphäre des Empfindens und Denkens: die Phantasie des Epikers und Dramatikers schafft Gestalten und Charaktere, die, wiewohl von seinem Herzblut getränkt, sich doch gleichsam von ihm loslösen und, plastisch ausgeprägt, die Züge selbständig eigenen Wesens tragen. Der Dichter erlebt ihre Handlungen und Schicksale mit, wie die seiner Kinder, seiner nächsten Freunde; aber er selbst bleibt außerhalb der Welt, die seine Schöpfung ist: er verschwindet hinter ihr, oder besser, er geht in ihr auf, und seine Persönlichkeit, in der Lyrik der Brennpunkt, in welchem die Strahlen des Gefühls wie der Idee zusammentreffen, erscheint hier gleichsam ausgelöscht. Und ganz dem entsprechend muß auch der Zuschauer und Leser sein eigenes Ich, das ihm in der Lyrik zum Träger der Empfindungen wird, hier vergessen; er muß ganz in der Welt leben, die sich vor ihm aufbaut. Solange ich mir bewußt bin, daß ich im Theater sitze oder ein Buch in der Hand habe, ist die höchste Wirkung nicht erreicht. Es ist hier nicht die Stelle, zu erörtern, wie weit diese Sätze, die der herkömmlichen Aufassung entsprechen, im Widerspruch zu der „Illusionstheorie“ stehen, die Konrad Lange in seinem Buche „Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen Kunstlehre“ aufgestellt hat, und wie weit sie etwa mit Langes Auffassung vereinbar wären. Hingewiesen möge jedenfalls auf das geistvolle Werk hier werden. Wenden wir uns nun zuerst der epischen Dichtung zu und suchen wir festzustellen, worin das Wesen dieser Gattung besteht, so tritt uns eine Reihe von falschen oder doch schiefen Vorstellungen hinderlich in den Weg, die sich durch das ganze Jahrhundert, das seit dem Höhepunkt unserer klassischen Dichtung vergangen ist, hindurchziehen. Denn in seltsamer Weise ist die Theorie des Epos durch vorgefaßte Meinungen und moralische Anschauungen getrübt und verwirrt worden, und unsere großen Dichter selbst sind nicht ohne Schuld daran. Die einseitige Schätzung des Griechentums, die ganze absolut wertende Methode, welche die Poetik der klassischen Epoche beherrschte, tritt in ihren Ursachen wie ihren Folgen nirgends so klar zutage wie hier. Seit Lessings Laokoon erscheint es als ein unerschütterliches Dogma, daß nur aus dem Homer das Wesen und die Gesetze des wahren Epos zu erkennen und mit dem Anspruch auf absolute und dauernde Geltung abzuleiten sind. Es ist von hohem Interesse, zu verfolgen, durch welche Faktoren dieses Werturteil, das heute noch auf unseren Gymnasien wie in unserer ästhetischen Theorie herrscht, entstanden und zur unbestrittenen Herrschaft gelangt ist. Zuerst war es offenbar der einheitliche und organische Charakter des künstlerischen Stils, was die Pfadfinder des deutschen Klassizismus ergriff und gefangen hielt. Eben ein solcher Stil war es ja, den sie für die deutsche Dichtung suchten und in der Zerfahrenheit der einheimischen Überlieferung, in der Nachahmung der verschiedenen modernen Literaturen nicht zu finden vermochten. Deshalb verwandte Klopstock die homerische Form für sein christliches Epos, und Lessing orientierte seine Kritik der epischen Darstellungsweise an der Methode Homers. Mit der jüngeren Generation aber, mit Herder, Goethe, Schiller kommt ein zweites, ganz anders geartetes Element in die Beurteilung: der moralische oder auch kulturphilosophische Gesichtspunkt. Ihnen sind diese Gesänge vor allem die Erzeugnisse einer primitiven Epoche der Menschheit und in ihrem, durch Rousseau angeregten, enthusiastischen Glauben an den idealen Wert des Naturzustandes und des natürlichen Menschen, finden sie im Homer und nur hier das reine und wahre Menschentum in einer ebenso reinen und natürlichen künstlerischen Darstellung. Aus den ungebrochenen Instinkten der homerischen Helden konstruiert Schillers moralisch-ästhetische Spekulation die absolute Verkörperung der Harmonie zwischen Geist und Natur, und selbst die Roheit, die ungebändigte Selbstsucht, mit der diese Instinkte sich äußern, verhindern ihn nicht, eine Art von höherer Sittlichkeit gegenüber dem modernen Leben hier verkörpert zu finden. Der Irrtum eines Zeitalters, dem der historische Sinn mangelte, ist begreiflich: durch die Entfernung wird der Blick geblendet; Begebnisse, die sich auch im modernen Leben abspielen können und oft genug abgespielt haben, wie z. B., daß der gefährdet heimkehrende Herr der heimliche Gast seines treuen alten Dieners ist, erschienen nun als ein einzigartiger Ausfluß höchster Sittlichkeit, die keinen Standesunterschied kennt. Naivität in der Äußerung des Gefühls, die der Süden Europas noch heute jedem Reisenden sichtbar darbietet, galten dem Nordländer als eine Offenbarung der Natur, die nur vor Tausenden von Jahren möglich war, ─ wie denn auch heute noch in unserer Auffassung der Antike vieles dem Zeitunterschied zugeschoben wird, was tatsächlich auf Rechnung des Breitengrades zu setzen ist. Diese Beurteilung des Inhalts wirkte auf das Werturteil über die Form zurück und trieb es noch mehr in eine einseitige Höhe: die Mängel, die besonders der Ilias infolge ihrer Entstehungsweise anhaften, wie die endlosen Wiederholungen und Variationen des Zweikampfmotivs, das Unbefriedigende des Schlusses und überhaupt das Episodische der Handlung wurden nicht übersehen, sondern geradezu als Vorzüge betrachtet, die das Ideal des Epos konstruieren sollten. Geschichtliche und philosophische Kritik haben längst gezeigt, daß alle Voraussetzungen jener absoluten Schätzung irrtümlich sind, daß die homerischen Gedichte, wiewohl sie allezeit zu den wertvollsten Erzeugnissen der Poesie gehören werden, weder eine ursprüngliche Offenbarung der Natur noch auch nur in ihren einzelnen Bestandteilen künstlerisch gleichwertig sind, daß die Menschen, deren Handlungen und Erlebnisse darin geschildert werden, durchaus historisch bedingt und eng genug begrenzt sind. Trotzdem steht das Dogma der Wertherperiode heute noch in Geltung. Denn auch die Romantiker, die in so manchen anderen Punkten die Einseitigkeit des Klassizismus berichtigten und ausglichen, haben in diesem gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Es war besonders ihre Verehrung der Volkspoesie, ihre mystische Vorstellung von der schöpferisch träumenden Phantasie des Volksgeistes, die ihnen den Blick trübte. So kam es, daß sie in ihren Bemühungen, den absoluten Charakter des wahren Epos aus den homerischen Dichtungen abzuleiten, den klassisch gerichteten Ästhetikern zur Seite traten und mit ihnen zugleich der epischen Theorie die Richtung gaben. Nicht einmal die eingehendere Beschäftigung mit dem deutschen Volksepos hat ihnen den Blick wesentlich erweitert. Friedrich Schlegel fast gleichzeitig mit Wilhelm v. Humboldt und ein bis zwei Menschenalter später Wackernagel wie Friedrich Vischer verfolgen in dieser Hinsicht die gleiche Methode. Ja, noch ein moderner Schriftsteller wie Friedrich Spielhagen, dessen Beiträge zur Theorie des Romans und des Epos das belehrendste sind, was in vielen Jahrzehnten über diesen Gegenstand geschrieben ist, zeigt sich von dieser Überlieferung nicht frei. Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883. Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898. Nun stimmen freilich alle diese Ästhetiker darin überein, daß die volkstümliche Epopöe, antike und altdeutsche zusammengenommen, eine geschichtlich abgeschlossene Erscheinung sei, die unter modernen Verhältnissen sich nicht wiederholen könne. Man sollte daher meinen, daß mit den von dort abgeleiteten Gesetzen der Weiterentwicklung der epischen Poesie und ihrer Technik nicht vorgegriffen werde, daß die moderne Dichtung durch sie weder beherrscht noch erklärt werden könne. Dennoch haben jene Anschauungen mannigfache Verwirrung und Trübung in der Theorie, ja zum Teil auch in der dichterischen Praxis hervorgebracht. Die Grundzüge, welche die Lehre vom Wesen des Epos, wie sie sich unter den geschilderten Einflüssen gebildet hat, beherrschen und die ihren Begründern wie den meisten ihrer späteren Vertreter gemeinsam sind, treten zuerst und mit systematischer Klarheit in Wilhelm von Humboldts schon mehrfach angeführter Abhandlung über Hermann und Dorothea hervor ─ bis heute der umfassendste und am tiefsten angelegte Versuch, das Wesen der epischen Dichtung in seinen letzten Grundzügen zu klären. Humboldt unterscheidet (a. a. O. S. 228 ff.) zwei große Klassen ästhetischer Zustände oder Stimmungen: „den Zustand allgemeiner Beschauung und den einer bestimmten Empfindung“. Auf den zweiten führt er die lyrische und die dramatische Poesie zurück; beide gehen darauf aus, subjektive Empfindungen oder Mitempfindungen beim Hörer oder Zuschauer zu erregen. Die beschauende Stimmung des Gemüts dagegen ist davon abhängig, daß es sich „zu einer gewissen Höhe über seinen Gegenstand erhebt und ihn von da aus gleichsam beherrscht“. Diese Höhe der Betrachtung aber kann nur dadurch hervorgebracht werden, daß der Blick beständig vom Einzelnen auf das Ganze, den allgemeinen Zusammenhang der Dichtung, gerichtet wird. „Aus der Totalität seiner Darstellungen muß die Ruhe, die der Epiker bewirkt, hervorgehen, und diese Totalität ist also das zweite Erfordernis seiner Gattung.“ Der epische Dichter muß unseren Blick „so viel umfassend und allgemein, als nur immer möglich, machen, ihn immer auf die ganze Lage der Menschheit in der Natur richten“. Andrerseits verlangt das Gemüt in dem Zustand der Beschauung ausgeprägteste Gegenständlichkeit; wenn das Objekt uns beherrschen soll, so muß es in Gestalt und Bewegung anschauliches Leben sein: „Die höchste Objektivität fordert die lebendigste Sinnlichkeit.“ „Objektivität, Parteilosigkeit und Umfang (Totalität der Ansicht) sind die Hauptmerkmale der beschauenden Stimmung“, und aus ihnen fließen daher die Gesetze der epischen Poesie. In der Tat sind es diese drei Forderungen, die, wenn auch verschieden formuliert und zum Teil unabhängig von Humboldt, bis auf die Gegenwart immer wieder erhoben worden sind. Es ist nötig, sie näher zu betrachten. Von diesen Gesetzen ist offenbar das der Totalität das auffallendste und am schwersten verständliche. Was bedeutet es? Alle Dichtung hat, wie Humboldt sagt, eine Tendenz, „die Welt als den geschlossenen Kreis alles Wirklichen zu umfassen“, indem sie „entweder den Kreis der Objekte oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, den sie hervorbringen“. Im besonderen Maße aber soll diese Tendenz der epischen Poesie eignen: sie strebt innerhalb der einzelnen Dichtung danach, die Welt oder doch die Menschheit in all ihren wesentlichen Phasen und Erscheinungen zu umfassen und ist „erst mit der Vollendung des ganzen Kreises befriedigt“. „Wie ist es z. B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern, ohne daß der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie den Helden zu malen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen, den Tod gebeut und das Verderben planmäßig anordnet, ohne den ruhigen Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden Tätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht, die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen, oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfnis des Tages besorgt, nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahreszeiten beschränkt, bloß der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu rufen?“ (S. 139 ff.) Diese Behauptung ist an sich so wenig einleuchtend, daß man sich unwillkürlich fragt, wie ein so scharfsinniger Denker auf sie gekommen sein mag. Vermutlich ist sie durch Schillersche Ideen, wie sie namentlich in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Ausdruck gekommen sind, beeinflußt, obgleich dieselben dann freilich eine wesentliche Umbildung erfahren haben. Schiller fand, daß in dem ästhetischen Zustand überhaupt die Totalität der menschlichen Natur zum Ausdruck komme, alle geistigen Kräfte, alle Stimmungen des Gemüts im Spiel sich entfalten. Aber er bezog diese Vorstellung nur auf die Gesamtwirkung der Kunst und auf den subjektiven Zustand des Schaffenden oder Genießenden. Wenn Humboldt das Epos ganz besonders für den Ausdruck dieser universellen Tendenz in Anspruch nimmt und dabei eine Universalität der dargestellten Objekte vorschreibt, so ist, wie die zuletzt angeführte Stelle zeigt, seine Auffassung der homerischen Gedichte maßgebend gewesen. Hängen doch die einzelnen Sätze seiner Theorie so stark von diesem Vorbild ab, daß er z. B. behauptet: „Der Kampf, in welchem der epische Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine große sinnliche Bewegung gibt, muß sich in Sieg oder in Frieden und Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden Zustandes ist.“ (S. 231 f.) Hier ist es eigentlich nur der Schluß der Odyssee, der die Unterlage gibt. Schon auf die Ilias paßt die Behauptung nur gezwungen, und das Nibelungenlied ist überhaupt noch nicht in den Gesichtskreis Humboldts getreten. Auch Friedrich Schlegel leitet aus dem Vorbild Homers ebensowohl wie aus allgemeinen Spekulationen die universelle Tendenz der epischen Poesie ab. „Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt, so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören, als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht der ganzen umgebenden Welt vollendet ist, etwa wie sie die homerische Poesie gewährt.“ (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846. III. S. 93.) Schon für ihn wird das Wesen des modernen Romans wie der romantischen Dichtung überhaupt durch diese Tendenz einer „progressiven Universalpoesie“ bestimmt. Aber auch noch bei dem so viel nüchterneren und historisch geklärteren Spielhagen lautet der erste der „Fundamentalsätze der Theorie der epischen Dichtkunst“, daß, „in notwendiger Folge der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als die Welt und somit das ─ gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte ─ Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben“. (Beiträge S. 133.) Es wäre unschwer zu zeigen, daß diese Auffassung schon geschichtlich auf die homerischen Gedichte nicht zutrifft. Sie ziehen freilich die Welt der Götter und gelegentlich auch die der Toten in ihre Erzählung, aber nur soweit das durch die religiösen Anschauungen des Dichters vom Einfluß dieser Mächte auf das Leben der Menschen notwendig gemacht wird, und ganz ohne den Anspruch, ein umfassendes Bild der Götterwelt in die Darstellung hineinzuziehen. Aber auch nur ein Bild der Menschheit im ganzen Umkreis ihrer Lebenstätigkeit und ihrer Zustände zu geben, hat dem Dichter offenbar völlig fern gelegen. Die Handlung der Ilias spielt sich ausschließlich in den aristokratischen Kreisen der Fürsten und ihrer nächsten Umgebung ab. Nicht einmal um den Zustand ihrer Krieger kümmert sich der Dichter; nur in allgemeinen Zügen wird die Stimmung des Heeres gelegentlich gekennzeichnet. Noch enger ist, wenn man von der Wundersphäre der Märchenerzählungen absieht, der Kreis, in dem sich die Handlung der Odyssee bewegt. Und nicht anders hält sich das Nibelungenlied ausschließlich in dem engen Umkreis höfischen Fürstentums und seines Adels. Man könnte in der Tat mit mehr Recht jene Behauptung umkehren und die Einschränkung des Schauplatzes wie der Handlung auf die Höhe der Menschheit oder der Gesellschaft als charakteristische Eigenschaft der Epopöe betrachten. Aber auf diese geschichtliche Frage kommt es für die Poetik nicht eigentlich an; weit wichtiger ist, daß der sachliche Begriff der Totalität, wie er uns hier entgegentritt, offenbar auf einem seltsamen Mißverständnis beruht. Die Tendenz zur allgemeinen Betrachtung des Weltgeschehens ist allerdings, wie Humboldt richtig behauptet, eine Grundeigenschaft der Poesie überhaupt. Überall „schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken, das Bild der Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns handelnd erblicken“. Aber dieser Zug geht nicht ins räumlich oder sonstwie quantitativ Universelle, er trifft in keiner Weise den „Umfang der Objekte“, die uns der Dichter vorführt. Vielmehr das ist der Charakter dichterischer Betrachtung, daß sie uns im Einzelnen das Allgemeine, in wenigen Menschen und Handlungen das Bild der Menschheit zeigt. Hierin beruht insbesondere der symbolische Charakter der gegenständlichen Poesie, wie in der Übereinstimmung menschlichen Wollens und Fühlens mit den Vorgängen der Natur der der Lyrik, den wir im vorigen Abschnitt kennen gelernt haben. Jede episch oder dramatisch dargestellte Menschengestalt wird uns zum Sinnbild der Menschheit, weil sie einen oder mehrere ihrer ewig wiederkehrenden Züge verkörpert. Jede dichterische Handlung interessiert uns nicht bloß an sich, sondern weil wir ihren Zusammenhang mit unseren Eigenschaften, mit dem allgemeinen Wollen und Streben der Menschen dunkel empfinden oder deutlich sehen. Ohne diese Tiefe der Perspektive gibt es keine künstlerische Wirkung. Aber es ist eine Verwirrung der Begriffe, wenn man an die Stelle der Tiefe die Breite setzen will; eine Verwirrung, die denn auch auf die Praxis der modernen Romandichtung mehrfach schädigend gewirkt hat. Spielhagens Forderung, daß ein Roman mehrere Bände umfassen müsse, ist gewiß an sich schon bedenklich. Und was eine solche Anschauung bei einem ideenreichen Dichter, der aber nicht im gleichen Maße wie dieser Meister der Romantechnik die Form beherrscht, für beklagenswerte Folgen haben muß, sehen wir in Gutzkows großen Romanen, deren Wert und Wirkung gleichmäßig durch die verwirrende Ausdehnung der Handlung geschädigt ist. Neben der Forderung der Totalität erscheint in den meisten Theorien des Epos die der Objektivität. Mit diesem Worte aber werden fast durchweg zwei an sich verschiedene Begriffe zusammengeworfen: einmal nämlich die positive Forderung gegenständlicher Anschaulichkeit, zweitens die mehr negative, das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters. Beides fällt weder an sich noch auch für die epische Darstellung zusammen; Humboldt hat daher ganz recht getan, diesen zweiten Begriff mit dem Worte Unparteilichkeit ─ besser wäre vielleicht noch Unpersönlichkeit ─ zu bezeichnen, und es ist zu bedauern, daß ihm die späteren Ästhetiker gerade hierin zumeist nicht gefolgt sind. Was ist nun das Wesen dieser Unpersönlichkeit der Darstellung, die man gleichfalls vor allem in Homers Dichtungen fand und die man, hierauf fußend, zum zweiten allgemeinen Gesetz des Epos erhoben hat? Zunächst, sehen wir, wird sie von einigen bedeutenden Theoretikern dahin verstanden, daß der Dichter der Epopöe, weil er mitten in einem ungebrochnen und einheitlichen Volksleben steht, auch immer nur aus diesem Volksleben heraus dichtet und denkt und daher als Individuum nicht hervortritt. „Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwicklung des Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehen, sondern im Volke und durch das Volk als untrennbare Glieder desselben leben und wirken: so können auch die altepischen Anschaungen nicht das Werk eines in vereinzelter Tätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen des gesamten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf einem Punkte entsprungen sein; einen ersten Dichter muß jede Sage, jedes Märchen besessen haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesamtheit.“ So Wackernagel (Poetik S. 57 f.). Und Spielhagen: „Bei dem Dichter der homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer andern Stelle ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der Mund seines dichterischen Volkes.“ (Beiträge S. 143). „Und wenn wir nun auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild der Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist.“ (S. 141 f.) Tatsächlich ist die Auffassung der Dichter des Volksepos nicht so ausschließlich, wie hier behauptet wird, durch nationale, sondern, wie namentlich in der Ilias deutlich ist, auch durch soziale Schranken begrenzt und bedingt. Es ist die Gesinnung und Lebensanschauung der aristokratischen Klassen des damaligen Griechenlands, die darin zu Worte kommt. Im übrigen aber haben beide Beurteiler recht, wenn sie in dieser Gebundenheit des Individuums einen charakteristischen Zug, ja, mehr als das, die entscheidende Lebensbedingung des Volksepos überhaupt erkennen: eben weil mit fortschreitender Kulturentwicklung diese Gebundenheit stets einer freieren Entfaltung der Individualität Platz macht und die Einheit des Volksinstinktes stets mehr oder weniger vielfältig gespalten wird, deshalb kann das Volksepos nur auf verhältnismäßig früher und bestimmt begrenzter Entwicklungsstufe entstehen und blühen und ist unter modernen Lebensverhältnissen ein für allemal unmöglich. Allein so richtig das ist, so ist die Abhängigkeit des Einzelnen vom Geist der Gesamtheit zwar für die Entstehungsweise des Volksepos und seine kultur- oder sozialgeschichtliche Bedeutung, nicht aber für das künstlerische Wesen der epischen Dichtung entscheidend. Vielmehr macht es in letzterer Hinsicht offenbar gar keinen Unterschied, ob der Dichter aus persönlichen Meinungen und Empfindungen oder aus denen seines Volkes heraus seine Gegenstände betrachtet und darstellt. Etwas anderes nun aber als diese vermeintliche Objektivität der Anschauung ist die Unpersönlichkeit der Darstellungsweise. Es liegt im Wesen der gegenständlichen Dichtung, daß der Dichter hinter seinen Gegenstand verschwindet: das Hervortreten seiner Persönlichkeit mit ihren Gedanken und Empfindungen unterbricht die Kontinuität der Darstellung und wirkt wie ein Eingriff in die gegenständliche Welt, die er gestalten und beleben will. Friedrich Schlegel hatte also recht, wenn er jedes derartige Hervortreten als eine unangenehme Störung verurteilt, und ebenso ist Friedrich Spielhagen im Recht, wenn er unter Berufung auf ihn sich vor allem dagegen wendet, daß der Dichter statt der unmittelbaren Anschauung von Menschen und Handlungen seine Reflexion über dieselben darstellt, wenn er statt lebendiger Charaktere, die sich vor unsern Augen entwickeln, Charakteristiken gibt. (Beiträge S. 68 f.) Die Forderung der Unpersönlichkeit in diesem Sinne ist zweifellos berechtigt, aber freilich im Epos nicht mehr und nicht weniger wie im Drama; und wenn sie dem epischen Dichter gegenüber stärker hervorgehoben wird als dem dramatischen, so ist das nur deshalb angebracht, weil dieser leichter als jener dagegen verstößt. Denn die technische Möglichkeit, persönlich hervorzutreten, ist dem Erzähler jeden Augenblick gegeben, dem Dramatiker aber nur da, wo er allgemeine Gedanken ausspricht oder allenfalls, wo er verstandesmäßig motiviert. Ja, man darf sagen, daß dieser Fehler beim Dramatiker weit größer ist, weil er notwendigerweise die Illusion völlig zerstört und aufhebt, während das beim Epiker nicht ebenso unausbleiblich ist. Er kann sich unter Umständen, wie z. B. zahlreiche Stellen des mittelhochdeutschen ritterlichen Epos beweisen, gelegentlich ganz wohl als Betrachter oder Erzähler einführen, wenn er nur nicht durch Moralisieren oder altkluges Erklären den Eindruck stört oder nicht etwa gar Betrachtungen an die Stelle der Erzählung setzt. Im übrigen aber ist es doch auch hier eine Übertreibung, wenn man behauptet, daß der epische Dichter seinem Gefühl und seinem Urteil keinerlei Einfluß auf seine Darstellung verstatte, daß er seinen Helden und ihren Erlebnissen kalt und teilnahmslos zuschauend gegenüber stände. Auch Spielhagen macht die richtige Bemerkung, daß Licht und Schatten zwischen den kämpfenden Parteien der Ilias ungleich verteilt sind (a. a. O. S. 140). Ohne persönlich hervorzutreten zeigt Homer nicht selten durch die Wahl der Beiwörter, die Gruppierung der Tatsachen, die Wendung der Reden seiner Personen deutlich genug, auf welcher Seite sein Herz ist, und ─ für den echten Dichter charakteristisch ─ er fühlt zumeist mit dem Unterliegenden und ist daher von dem Wechsel der Handlung abhängig. Auch das Mitgefühl des Nibelungendichters ist nach Siegfrieds Tod ebenso entschieden bei Kriemhilden, wie es beim Untergang der Nibelungen auf Seite der letzteren ist und sich gegen die „valentine“ richtet. Ist somit die Forderung der Unparteilichkeit nicht absolut verbindlich und zudem mehr negativer Natur, so bleibt uns von jenen drei Gesetzen noch das der Objektivität im eigentlichen Sinne: dem der Gegenständlichkeit oder, wie es Humboldt bezeichnet, der „höchsten Sinnlichkeit der Anschauung“. Hiermit ist nun in der Tat das Prinzip ausgesprochen, das als das eigentlich entscheidende das Wesen der Epik bestimmt. Denn Gegenständlichkeit der Anschauung ist, wie uns der Eingang dieses Abschnittes belehrt hat, ja wie es schon aus dem Worte selbst hervorgeht, das wichtigste Merkmal der gegenständlichen Poesie überhaupt: Gestalten und Vorgänge müssen uns, eine eigene Welt bildend, plastisch ausgeprägt und belebt erscheinen und die Illusion selbständiger Wirklichkeit erwecken. Dieses Ziel nun kann der Dichter, wie sich bald zeigen wird, auf verschiedenen Wegen erreichen, und eben auf dieser Verschiedenheit beruht die besondere Eigenart epischer und dramatischer Kunst. Daher ist es für das Wesen der epischen Poesie offenbar die entscheidende Frage, durch welche Prinzipien dichterischer Technik der Dichter den Eindruck der Objektivität, d. h. die Illusion einer selbständig gestalteten und belebten Welt erreicht. Für die Beantwortung dieser Frage ist Humboldt mit seiner allen technischen Gesichtspunkten allzu abgewandten ästhetischen Spekulation offenbar ein schlechter Führer, wiewohl seine Darstellung zahlreiche Lichtblicke und bedeutsame Ideen enthält. Eine weit bessere Anleitung zu einer Kunstlehre des Epos, wie wir sie suchen, finden wir an einer Humboldt nicht eben fern stehenden Stelle, wo man sie gleichfalls kaum vermuten würde: in dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Denn es ist die Eigenart dieses Briefwechsels, daß beide Dichter sich hier über die technischen Bedingungen und Mittel ihrer Kunst klar zu werden versuchen durch einen Gedankenaustausch, wie er eben nur zwischen schaffenden Geistern möglich ist. Die allgemeinen Prinzipien jener ethischästhetischen Weltanschauung, die namentlich Schiller in seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Prosaschriften aller dichterischen Wertung zugrunde legt, treten hier zurück gegenüber den verhältnismäßig schlichten Fragen technischer Natur, und nicht über die sittliche Bestimmung des Epos und des Dramas, sondern von der technisch künstlerischen Eigenart beider Gattungen handelt der inhaltreiche kleine Aufsatz über epische und dramatische Dichtung, den Goethe am 23. Dezember 1797 an Schiller geschickt hat, und die ergänzenden Bemerkungen, die Schiller in seinem Antwortschreiben dazu macht. Ich gebe die Hauptsätze im folgenden wieder. „Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten, so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen.“ „Die Behandlung im ganzen betreffend wird der Rhapsode, der das vollkommen Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse egal verteilen, weil er nicht imstande ist, einen allzu lebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln; man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen; er lese hinter einem Vorhang am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte.“ „Der Mime dagegen ist gerade in dem entgegengesetzten Fall; er stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will, daß man an ihm und seiner nächsten Umgebung ausschließlich teilnehme, daß man die Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle, seine Verlegenheit teile und sich selbst über ihn vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen, weil bei sinnlicher Gegenwart auch sogar der stärkere Eindruck durch einen schwächeren vertilgt werden kann. Der zuschauende Hörer darf sich nicht zum Nachdenken erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und selbst was erzählen wird, muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht werden.“ „Es stimmt dieses“, so ergänzt Schiller, „sehr gut mit dem Begriff des Vergangenseins, welches als stillstehend gedacht werden kann, und mit dem Begriff des Erzählens: denn der Erzähler weiß schon am Anfang und in der Mitte das Ende, und ihm ist folglich jeder Moment der Handlung gleichgeltend, und so behält er durchaus eine ruhige Freiheit.“ Mit diesem unbefangenen sachlich technischen Gesichtspunkt ist nun ein fester Ansatz und Ausgangspunkt zur Ergründung der dem Epos wesentlichen Gesetze gegeben. Vergangenheitsdichtung und Gegenwartsdarstellung, die Kunst des ruhigen Erzählens und des affektvollen Darstellens, hiermit ist der entscheidende Gegensatz zwischen Epos und Drama allgemeingültig ausgesprochen. Nach erleben und Mit erleben, so können wir die Wirkungsarten bezeichnen, welche die beiden Dichtungsformen anstreben. Jetzt erst wird das sachlich Berechtigte völlig klar, das in dem Humboldtschen Begriff der Beschauung steckt. Der Erzählung gegenüber behält der Hörer eine gewisse Ruhe. Mag er auch hingerissen werden, er geht niemals so völlig in den einzelnen dargestellten Momenten auf wie der Zuschauer vor der Bühne, und jedenfalls bleibt ihm stets die Möglichkeit, nicht nur zu schauen, sondern auch zu überschauen, d. h. das Bild, das der Erzähler entrollt, nach seinen Hauptmomenten und in seinem ganzen Umfang zu überblicken. Das ist es, was Schiller ungemein scharf und richtig in dem oben angeführten Satze zum Ausdruck bringt. Diesem Bedürfnis ist der epische Dichter genötigt entgegenzukommen. Seine Kunst muß in der Tat eine besondere Art von Totalität anstreben, freilich keineswegs eine Universalität der Ausdehnung nach, wie sie Humboldt und Schlegel vorschwebte, wohl aber eine umfassende Berücksichtigung der Momente, die für die Anschauung wie für das Verständnis in Betracht kommen. Diese Momente nun sind zweierlei Art: äußere Ereignisse und innere Vorgänge. Sinnliche und psychologische Anschaulichkeit müssen sich vereinigen, um die Forderung der Gegenständlichkeit im ganzen Umfang zu erfüllen. Treffend kennzeichnet Humboldt (a. a. O. S. 214 f.) diese Grundeigenschaft der epischen Kunst: „Die Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele der Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen. Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt. Jene Gestalten scheinen uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus ihnen hervorstrahlt.“ Dieses eigentümliche zugleich von außen und von innen Sehen ist ein entscheidender Charakterzug für die epische Poesie. Der Blick umfaßt zugleich eine sich drängende Menge äußerer und innerer Züge. Schon aus diesem Grunde wird die epische Darstellung zu einer gewissen Fülle neigen, sie wird, mit dem Drama verglichen, langsam vorwärts gehen, bei wichtigern äußeren wie inneren Momenten zu verweilen geneigt sein. Nun aber werden sowohl äußere wie innere Vorgänge erst dann völlig verständlich, wenn wir sie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der sie umgebenden Welt sehen können. Und genau so viel von dieser Welt wird uns der Epiker zeigen müssen, wie es nötig ist, jenen Zusammenhang zu verstehen. Hierzu bedarf es im allgemeinen keineswegs einer Totalansicht der Natur oder der Menschheit, wohl aber eines dem Zweck entsprechend begrenzten Ausschnitts aus beiden. Eben dieser Ausschnitt ist es, den wir uns seit einigen Jahrzehnten gewöhnt haben als Milieu oder Umwelt zu bezeichnen ─ ein neues Wort für eine Sache, die so alt ist wie die Poesie überhaupt. „Es ist“, sagt Spielhagen mit Recht, „eine Eigentümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer auf dem Hintergrunde der Natur, immer in Zusammenhang mit der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d. h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht“ (a. a. O. S. 41). Auch diese Eigenschaft wirkt notwendigerweise retardierend auf den Gang der epischen Darstellung. Sie nötigt, wie jene erste Forderung, zu einer gewissen Breite, zur Einführung z. B. einer größeren Anzahl von Nebenpersonen, zur Erwähnung oder Darstellung von Ereignissen, die auf den Hauptgang der Handlung keinen unmittelbaren Einfluß haben, aber sie gleichwohl in ihrem weiteren Zusammenhang verständlicher machen. Eingehendere Schilderungen von Örtlichkeiten und Gegenständen werden freilich für diesen Zweck so wenig wie für jenen nötig sein. Lessing untersagt bekanntlich im Laokoon dem Epiker das Beschreiben ganz und gar; er verlangt, daß jede Schilderung in Handlung umgesetzt werde. In dieser Allgemeinheit ausgesprochen ist das Gesetz etwas äußerlich und zudem nicht frei von Pedanterie; und nicht ganz ohne Pedanterie haben sich auch unsere Klassiker daran gebunden, wie z. B. Schiller im Kampf mit dem Drachen statt des wirklichen Ungetüms, das er nur beschreiben konnte, den Kunstdrachen schildert, an dem der Ritter sich übt, weil dieser vor unseren Augen hergestellt werden kann. Soviel aber ist an Lessings Lehre vollkommen richtig, daß der Epiker durch Schilderungen von Örtlichkeiten und Gegenständen, sei es der Natur, sei es der Kunst, uns immer nur soweit interessieren wird, wie er sie in unmittelbaren Zusammenhang mit den Interessen und Handlungen seiner Menschen zu bringen vermag. Und dies wird in der Tat am sichersten geschehen, wenn er sie in ihrer Wirkung oder, wo das möglich ist, in ihrer Entstehung darstellt. Die indirekte Schilderung wird unter allen Umständen der direkten vorzuziehen sein, eben weil sie von vornherein in jenem Zusammenhang erscheint, den die andere erst nachträglich herstellt. Vgl. Herders und Th. A. Meyers kritische Betrachtungen zum Laokoon, oben S. 76 und 80. Diese Grundeigentümlichkeiten des epischen Stils treten nun allerdings, darin hat die ältere Ästhetik recht, im Volksepos am deutlichsten hervor. Die großzügige Einfachheit der Handlung, die in der Epopöe herrscht, ermöglicht es dem Dichter, sie zugleich äußerlich vollkommen anschaulich und in ihrer inneren Motivierung vollkommen klar darzustellen. In dem lebhaft beweglichen Antlitz der Achäischen Helden scheint sich jede Regung ihres leicht aufbrausenden Südländer-Temperaments widerzuspiegeln. Aber auch die starren Charaktere des nordischen Heldengesangs erscheinen wie durchsichtig. Einfache und starke Instinkte herrschen durchweg und setzen sich rasch und vollkommen in Worte, ebenso rasch in Taten um. Komplizierte Seelenzustände erscheinen nirgends, und auch die Örtlichkeit wie das Äußere der Personen ist durch einfache große Züge typisch gekennzeichnet. Dabei aber ist die Methode der Darstellung selbst bei den hellenischen und deutschen Epikern durchaus verschieden. Wir wissen, wie Homer die wichtigeren Momente äußerer Anschauung an Personen und Gegenständen durch charakteristische Beiwörter hervorhebt, durch Vergleiche lebendig macht, wie oft er sich formelhafter Wendungen bedient, um wiederkehrende Situationen immer wieder aufs neue zu kennzeichnen. Alles das ist im Nibelungenlied sehr eingeschränkt. Die Beiwörter nehmen weit weniger Raum ein, die Vergleiche sind verhältnismäßig spärlich und kurz, die formelhaften Wendungen, an denen die ältere germanische Poesie so reich ist, sind gering an Zahl, wenn sie auch zum Teil oft wiederkehren. Die indirekte Schilderung des Schauplatzes ─ direkte kommt hier ebensowenig vor wie beim Homer ─ ist auf die allernotwendigsten Züge beschränkt. Wie wenig erfahren wir z. B. über die Etzelburg und den Saal, in welchem Burgunden und Hunnen den Todeskampf kämpfen. Immerhin genug freilich, um dem, der einmal eine größere Burg gesehen hat ─ und auf solche Hörer durfte der Dichter rechnen ─, den Kampf mit seinen Einzelheiten völlig anschaulich zu machen. Plastische Greifbarkeit der äußeren Gestalten und Ereignisse, lebendige Anschaulichkeit der seelischen Zustände und Vorgänge, lichtvolle Deutlichkeit der umgebenden Welt: das sind die Mittel, auf denen alle epische Wirkung beruht, denn sie sind es, durch welche die Erzählung des epischen Dichters gegenständliches Leben erhält. Jede dieser drei Wesenseigenschaften des Epos ist nun einer besonderen Entwicklung und Steigerung fähig; und in der Tat zeigt uns die Literaturgeschichte zumeist eine solche gesonderte Fortentwicklung. Zunächst können wir noch im Altertum und nicht minder in den Zeiten der ritterlichen Literatur deutlich den Unterschied zwischen solchen epischen Dichtungen wahrnehmen, die ihre Wirkung in der Häufung und Ausmalung äußerer Ereignisse, Abenteuer und Wunder suchen, und solcher, die darnach streben, die Psychologie der Vorgänge zu vertiefen und zu verfeinern. Die erstere Richtung führt bald zu dem, was wir nicht ohne Geringschätzung Unterhaltungslektüre zu nennen pflegen, wie denn die Romane und Novellen des späteren Altertums fast ganz zu dieser zu rechnen sind. Im höfischen Mittelalter wird der Unterschied zwischen dem Streben nach Vertiefung des Inneren und nach äußerer Buntheit und Mannigfaltigkeit durch den Gegensatz anschaulich, in dem die Entwicklung der deutschen Epik, von Heinrich und Hartmann zu Gottfried und Wolfram, gegenüber der Trouverspoesie steht, von der diese Dichter ausgegangen sind. Zwar ist auch in den Dichtern des deutschen Tristan und Parzival der echt epische Instinkt lebendig, der sie treibt, in der Veranschaulichung der Taten und Ereignisse gleichen Schritt zu halten mit der innerlichen Vertiefung. Allein deutlich wird doch auch, daß dies letztere Interesse das eigentlich herrschende ist. Zur entschiedensten Versenkung in das Seelenleben ist erst der moderne Roman gelangt, und in dem letzten Menschenalter hat das Interesse für psychische Vorgänge und Entwicklungen nicht selten mit einseitiger Stärke die Freude an der sinnlich anschaulichen Gestaltung der äußeren Erscheinungen zurückgedrängt. Andrerseits freilich hat gerade im Zusammenhang mit diesem psychologischen Interesse die Schilderung des Milieu gleichfalls erst in neuerer Zeit eine durchgreifende, zum Teil ganz selbständige Bedeutung gewonnen. Bevor wir aber auf diese Entwicklung der epischen Poesie eingehen, müssen wir noch einen Augenblick bei ihren älteren Formen verweilen. Die Epopöe nämlich ist bekanntlich keineswegs die Urform der epischen Poesie; sie ist vielmehr, wie wir wissen, überall aus Reihen von kleineren epischen Liedern entstanden. Wir kennen den Charakter solcher Lieder besonders aus der nordischen und deutschen Überlieferung. Die meisten von ihnen tragen einen halb lyrischen oder dramatischen Charakter, und wir würden sie in moderner Ausdrucksweise als Balladen bezeichnen; ein Teil jedoch weist deutlich die Charakterzüge rein epischer Darstellung auf, wie besonders das Hildebrandlied und unter den Eddaliedern z. B. das Lied von Rig. Edda, übersetzt von Gehring S. 113. Der Unterschied zwischen beiden Formen wird erst im 15. Abschnitt deutlich werden, wenn wir das Wesen der Ballade zu erörtern Gelegenheit haben. Hier kommt es nur darauf an, hervorzuheben, daß die kleinere, mehr oder weniger in sich geschlossene poetische Erzählung eine ursprüngliche Erscheinung der epischen Poesie ist, daher sie denn auch in den verschiedensten Epochen der Literatur neben dem großen Epos hervortritt. Die nordfranzösische und provençalische Poesie des 12. Jahrhunderts hat ihr besondere Pflege gewidmet, und die ausgehende höfische Epik, zumal Konrad von Würzburg, bevorzugt sie beinahe. In der modernen deutschen Literatur ist die poetische Erzählung von der Mitte des 18. Jahrhunderts an aufs lebhafteste gepflegt worden. Zunächst ─ bei Hagedorn und Gellert ─ dem Geist der Zeit entsprechend mit einer platt moralisierenden Tendenz, Vorgängen des täglichen Lebens entnommen, durch Herder auf den religiösen Boden verpflanzt, durch Bürger mit mächtigem, echt volkstümlichem Leben erfüllt, wurde sie durch Schiller und zum Teil auch durch Goethe ganz in den hohen epischen Stil erhoben und unter den unzutreffenden Bezeichnungen Romanze und Ballade zur Trägerin bedeutsamer moralischer oder geschichtlicher Ideen gestaltet. In dieser Form ist sie das ganze 19. Jahrhundert hindurch von nahezu allen deutschen Dichtern gepflegt worden, besonders seit dem Ausgang der romantischen Epoche, welche die echte Ballade bevorzugte. Noch in den letzten Jahrzehnten haben ihr Konrad Ferdinand Meyer, Ernst v. Wildenbruch im Hexenlied und mancher andere neues Interesse zu verleihen gewußt. Man darf sagen, daß die kleinere poetische Erzählung die größere Form des Epos überdauert hat. Die letztere hat für das moderne Gefühl etwas Veraltetes. Nur vereinzelt haben seit Goethes Hermann und Dorothea größere epische Dichtungen in gebundener Rede ein weiteres und stärkeres Interesse wachgerufen, wie z. B. Kinkels Otto der Schütz, Scheffels Trompeter von Säckingen und Julius Wolffs Dichtungen. Im allgemeinen nicht gerade durch ihre künstlerischen Qualitäten, sondern dadurch, daß sie das Unterhaltungsbedürfnis einerseits, eine gewisse flache Sentimentalität des größeren Publikums andrerseits befriedigten. Tiefere Bestrebungen, wie die Hamerlings oder Jordans, sind nicht durchgedrungen. Und im ganzen ist es richtig, was H. Mielke Der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts. Berlin 1898. S. 12. mit hübscher Wendung sagt: „Dem Epos erging es wie jenem Greise in der griechischen Mythologie: ihm war Unsterblichkeit, aber nicht die zweite, ebenso notwendige Gabe der ewigen Jugend beschieden, und während es in seinem alten Ruhme verkümmerte, war für Roman und Novelle jede neue Zeitbewegung das Bad, welches sie verjüngte.“ 13. Roman und Novelle. Es wird uns Heutigen nicht ohne weiteres verständlich sein, daß die ältere Ästhetik dem Roman den künstlerischen Charakter ganz oder teilweise absprach, am wenigsten, wenn es aus einem so äußerlichen Grunde geschah, wie bei Wackernagel, der den Roman als Dichtungsform ablehnt, weil er in Prosa geschrieben den Untergang des Epos bezeichne, „so daß man hier die unkünstlerische Form der Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen darf“. „Nur dieselbe Bequemlichkeit, die ja dergleichen Auflösungen veranlaßte, hat ihm bis auf unsere Zeit seinen Bestand sichern können.“ (Wackernagel, Poetik S. 81.) Ein seltsames Kunsturteil! Steht doch schon die Erzählungsweise der ritterlichen Epiker, deren Fluß durch die kurzen Reimpaare nur lose gebunden und wenig beengt ist, der Prosa vielfach näher als den in schweren pathetischen Strophen dahin strömenden Rhythmen des Volksepos. Wahr ist es allerdings, daß die Auflösung der älteren Heldengedichte in Prosa, mit der vom 14. Jahrhundert an der Ritterroman einsetzt, ein Sinken des Formensinns bezeichnet: das Interesse für den Stoff verdrängt offenbar dasjenige für die poetische Gestaltung. Es mag dies mit der weiteren Verbreitung der Literatur zusammenhängen: es war nicht mehr ausschließlich das aristokratische Publikum der ritterlichen Fürstenhöfe mit seinem an der Tradition geschulten Formensinn, das den Rittermären lauschte. Andrerseits mag etwas von der Ungeduld und dem Stoffhunger des modernen Lesers auch damals schon die Kreise ergriffen haben, für die geschrieben wurde. In der Tat bezeichnen die Volksbücher des folgenden Jahrhunderts gegenüber den ritterlichen Epen nicht minder einen Rückgang wie die Abenteurer- und Schelmenromane des 17. Jahrhunderts. Dennoch zeigt sich vereinzelt schon in diesem letzteren, daß mit der prosaischen Form auch ein künstlerischer Vorteil gegenüber der gereimten Dichtung verbunden ist: die leichtere Beweglichkeit, die dem Dichter ermöglicht, schneller und vollständiger alle Einzelheiten des äußeren, alle Nüancen des inneren Geschehens zum Ausdruck zu bringen und vor allem den Dialog weit charakteristischer zu gestalten, als das in gebundener Rede möglich war. Den Simplicissimus könnte man sich nicht in Versen vorstellen, ohne daß er auch künstlerisch verlieren würde. Es zeigt sich bereits hier, daß die Kraft zu realistischer Wiedergabe der Welt und der Menschen die starke Seite des modernen Romans bilden wird. Freilich solange der Roman wesentlich stoffliches Interesse darbot, solange er nichts anderes als Unterhaltungslektüre sein wollte, kamen die künstlerischen Vorzüge der Prosaform naturgemäß nicht zu ihrem Recht. Auch der moralisierende Familienroman des 18. Jahrhunderts ist noch weit davon entfernt, eine neue Kunstform darzustellen. Eine solche entsteht erst durch die psychologische Wendung, welche die Romandichtung mit der neuen Heloise und dem Werther genommen hat. Hier erscheint der Roman zum erstenmal als ein Seelengemälde. Das innere Geschehen ist durchaus das Wesentliche, wiewohl, wenigstens im Werther wie im echten Epos, die äußere Anschaulichkeit durchweg der inneren parallel läuft, die Natur in ihrem Wechsel, die Menschen in ihrem Tun und Treiben stets sinnfällig zur Anschauung kommen. Aber zugleich wird es klar, daß der epische Charakter in solchen Dichtwerken, soweit es überhaupt möglich war, nur durch die Prosaform gewahrt werden konnte. Eine Umsetzung des Werther in Verse würde seiner Auflösung in eine Reihe lyrischer Gedichte gleichkommen. Die Richtung auf das Charakteristische und insbesondere das Psychologische ist dem Roman als Kunstgattung von da an geblieben: Bücher, die an dieser Richtung keinen Teil haben, zählen nicht mehr zur Literatur und gelten eben nur als Unterhaltungslektüre. Und Goethes zweiter Roman, der Wilhelm Meister, weist der neuen Richtung ein noch festeres Ziel und entschiedenere Bahnen. Der Roman wird zur Geschichte eines werdenden Charakters, und dieses Werden ist es, was das Interesse des Erzählers wie des Lesers hauptsächlich beschäftigt und die einzelnen Teile der Handlung als Phasen der Entwicklung organisch zusammenhält. Von Wilhelm Meister an nähert sich jeder moderne Roman mehr oder weniger entschieden der Form der Lebens- oder genauer der Jugendgeschichte. Diesen biographischen Charakter trugen schon die besten unter den höfischen Epen, Tristan und besonders Parzival; nicht minder der Simplicissimus, und in das gleiche Bett wird nun der Strom der modernen Romandichtung gelenkt. Die Künstlerromane der Romantiker folgen dem Wilhelm Meister. Sie haben ihren letzten bedeutsamsten Ausläufer in Gottfried Kellers Grünem Heinrich. Auf anderen Lebensgebieten führen Jean Pauls große Romane das Thema der Bildungsgeschichte durch; tiefer noch und künstlerischer als diese, die eine Zeitlang die deutsche Lesewelt beherrschten, Hölderlins erst spät voll gewürdigter Hyperion. Und auch aus den letzten Jahrzehnten ist es nicht schwer, eine Anzahl so bedeutsamer wie erfolgreicher biographischer Romane der deutschen und besonders auch der skandinavischen Literatur zu nennen. So Raabes ausgeglichenstes Werk, der Hungerpastor, Jacobsens tiefes und feines Buch Niels Lyhne, so in allerjüngster Zeit Frenssens Jörn Uhl und Hilligenlei. ─ Die Biographie ist begreiflicherweise in vielen Fällen Autobiographie. Der Dichter schildert seine eigene Entwicklung, seine eigenen Erlebnisse, oder er leiht doch seinem Helden so viel von der eigenen Persönlichkeit, daß der Roman dem Inhalt nach einen stark subjektiven Charakter erhält. Hiermit hängt zusammen, daß die Darstellung sich gern und häufig der ersten Person bedient, auch da, wo die unepische Form des Briefromans, die noch der Werther trägt, der Erzählung Platz gemacht hat. Auch diese Eigentümlichkeit gehört nicht erst der letzten Entwicklungsphase des Romans an, schon der Simplicissimus weist sie auf, aber erst dem modernen Problem der Bildungsgeschichte entspricht sie völlig. So ist der Roman in der Tat zu einer „subjektiven Epopöe“ geworden, wie Goethes Ausdruck lautet. Und Spielhagen konnte mit verzeihlicher, wenn auch nicht berechtigter Einseitigkeit den „Ich-Roman“, als den Ausdruck der persönlichen Lebenserfahrungen des Dichters, für die einzige vollgültige Form der modernen Romandichtung erklären. In der Tat ist die Entwicklungsgeschichte eines werdenden Charakters diejenige Form, in welcher die Vorzüge epischer Darstellung am vollständigsten und bedeutsamsten zur Geltung kommen. Zunächst ist das Motiv an sich schon von unerschöpflichem Interesse. So mannigfaltig und zahlreich die verschiedenen Individualitäten, die ein hoher Entwicklungsstand der Kultur in den verschiedenen sozialen Kreisen hervorbringt, so mannigfaltig und zahlreich sind auch die Wege, auf denen sie sich entwickeln. Und wiewohl die Lebensformen der modernen Gesellschaft diesen Bildungswegen äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit aufprägen, so sind es doch immer wieder neue Wendungen, die der Weg des Einzelnen nimmt, immer neue Höhen und Tiefen, die sich darbieten; psychologische und moralische Probleme treten uns in immer erneuter Gestalt entgegen. Wie uns der Anblick eines Kindes, eines Jünglings, eines Mädchens in der Frische und Fülle der Jugend ein ästhetisches Wohlgefallen abgewinnt, ein Wohlgefallen, das sich leicht mit einer stillen Frage nach der Zukunft verbindet, so ruft auch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschenkindes immer aufs neue menschliche Teilnahme hervor. Andrerseits kreuzt und berührt sich in dieser Entwicklung beständig das Typische mit dem Individuellen, die symbolische Bedeutsamkeit des Geschehens tritt kaum aus einer anderen Grundform so deutlich hervor. An dieser Bedeutsamkeit erhalten nun auch die Ereignisse und Zustände, durch welche die Entwicklung beeinflußt oder gehemmt wird, ihren Anteil. Eben durch diese Beziehung gewinnen sie eine gefühlsmäßige Teilnahme, die ihnen sonst leicht versagt bleibt. Hieraus ergibt sich denn auch der rein technische Vorteil, den der Romanschriftsteller durch die biographische Form gewinnt. Sie verbindet die einzelnen dargestellten Objekte, Zustände und Ereignisse zu einer festeren und interessanteren Einheit, als es die meisten Formenmotive vermögen, aus denen die Romane früherer Zeiten ihren Zusammenhalt fanden, wie z. B. der Abenteuerroman der Ritterzeit oder der Reiseroman des späteren Altertums, der im 18. Jahrhundert mit neuem Inhalt wiederkehrt. Die Einheit der Handlung, die Aristoteles vom Epos forderte, wird hier durch die Einheit der Entwicklung ersetzt: es ist das freilich eben jene biographische Einheit, die der antike Denker als unzureichend bekämpft, aber in einer Vertiefung und Bedeutsamkeit, die er weder kannte noch voraussah, als er den Satz schrieb: „Viele Handlungen eines einzigen ergeben noch keine einheitliche Handlung.“ Poetik c. 8: „μῦθος δ'ἐστὶν εἷς, οὐχ, ὥσπερ τινὲς οἶονται, ἐὰν περὶ ἕνα ᾖ ..... πράξεις ἑνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις. διὸ πάντες ἐοίκασιν ἁμαρτάνειν ὅσοι τῶν ποιητῶν Ἡρακληίδα, Θησηίδα καὶ τὰ τοιαῦτα ποιήματα πεποιήκασιν. οἴονται γάρ, επεὶ εἷς ἦν ὁ Ἡρακλῆς, ἕνα καὶ τὸν μῦθον εἶναι προςήκειν.“ Daher bedienen sich denn auch diejenigen modernen Romandichter mit Vorliebe der biographischen Form, denen es tatsächlich weniger auf die innere Entwicklung des Individuums als auf die Schilderung der Umwelt ankommt, die in ihren verschiedenen Erscheinungen auf den Helden einwirkt. Am auffallendsten tritt uns das vielleicht im geschichtlichen Roman entgegen, in der Form, die wir durch Walter Scott und seinem deutschen Nachfolger Willibald Alexis erhalten haben. Zumeist sind hier nicht die großen geschichtlichen Persönlichkeiten die Träger der Handlung, vielmehr wird ihr Wesen und Wirken, wird vor allen Dingen das Wesen der Zeit, die durch sie beeinflußt ist, in der Lebensgeschichte eines jugendlichen Helden reflektiert. So in Walter Scotts Quentin Durward und Ivanhoe, so in Willibald Alexis' prächtigem Hans Jürgen, („Die Hosen des Herrn von Bredow“), im Cabanis u. a. Aber schon hier ist die Lebensgeschichte doch nicht eigentlich das, was unser Interesse hauptsächlich in Bewegung setzt, sondern eben die großen Ereignisse, die auf sie wirken, die geschichtliche Umwelt, in der sie sich abspielt. Die Entwicklung des Milieu-Romans steht im engsten Zusammenhang mit der biographischen Dichtung. Man darf sagen, daß im Wilhelm Meister die Keime zu beiden gleichmäßig liegen, daß, wenn das Werk seiner Idee nach durchaus Bildungsgeschichte des Helden ist, so doch in der Ausführung das Milieu der Schauspielertruppe und das des Grafenschlosses in ihrer Kontrastwirkung mehr Interesse erregen als die Schicksale des Helden. Und so ist denn auch in den meisten Romanen von Dickens die Schilderung von Sitten und Zuständen, von landschaftlichen und gesellschaftlichen Eindrücken bedeutsamer und interessanter als die Geschichte des Helden an sich: zumeist die Lebensgeschichte eines braven und normalen Jungen, dem die Hindernisse und Schwierigkeiten nicht von innen, sondern von außen erwachsen. Auch der „Zeitroman“ der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der wesentlich Schilderung sozialer und politischer Zustände, oft mit ausgesprochener Tendenz, im Auge hat, trägt in seinen bedeutendsten Vertretern biographische Form. Mindestens sind es die Jahre der entscheidenden Entwicklung zum Manne, die uns geschildert werden und deren Verlauf den Faden bildet, an den sich die Schilderungen aufreihen, wie Gustav Freytags „Soll und Haben“, Spielhagens „In Reih' und Glied“ und „Hammer und Ambos“, und, wenigstens in demjenigen Motiv, das aus dem Wirrwarr des Nebeneinander von Handlungen am deutlichsten hervortritt, Gutzkows „Zauberer von Rom“. Endlich erscheint auch der französische Naturalismus, der dem Milieu- Roman einen besonders ausgeprägten Charakter gegeben hat, gerne als Biographie; so Flauberts Madame Bovary, das berühmte Muster seiner Gattung, so die meisten der großen Romane Zolas, die schon durch den Grundgedanken des Zyklus („Histoire naturelle et sociale d'une famille“) auf die Entwicklungsgeschichte ihrer Helden hinweisen. Die Entwicklung des Milieu-Romans in seiner extremen Form führt uns zu einer letzten Frage, die für das Wesen der Romandichtung von prinzipieller Bedeutung ist. Daß in der epischen Poesie überhaupt mehr als in den beiden anderen Gattungen Verstandesforderungen zu Worte kommen, haben schon Goethe und Schiller wiederholt hervorgehoben. „Da das epische Gedicht“, schreibt Goethe am 19. April 1797, „in der gleichen Ruhe und Behaglichkeit angehört werden soll, so macht der Verstand vielleicht mehr als an andere Dichtarten seine Forderungen.“ Und Schiller geht in seinem Urteil über den Roman bekanntlich so weit, daß er ihn nur als ein halbes Kunstwerk gelten lassen will. „Die Form des Wilhelm Meister,“ schreibt er am 20. Oktober 1797, „wie überhaupt jede Romanform, ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und partizipiert auch von allen seinen Grenzen.“ Dieses allgemeine Urteil scheint nun da, wo der Roman Schilderung des Lebens in seinen einzelnen Kreisen, Darstellung realer Verhältnisse, Lebensberufe u. s. w. sein will, eine besondere Bedeutung und Berechtigung zu erhalten. Wenn Humboldt die „Beschauung“ oder die Betrachtung der Welt als den eigentlichen Zustand des epischen Schaffens und Genießens ansieht, so korrigiert ihn Spielhagen, indem er statt „Betrachtung“ vielmehr Beobachtung setzen will (a. a. O. S. 153─156). Der epische Dichter strebt nach einem „Weltbild, dessen Material durch unablässige scharfe Beobachtung der realen Welt zusammengebracht wird.“ Und an einer anderen Stelle: „Denn dies ist das Bezeichnende des epischen Verfahrens, daß es von Anfang an induktorisch ist und bis zum Ende induktorisch bleibt“ (S. 168). Schon durch diese Wendung ist die schöpferische Tätigkeit des Romandichters bedenklich nahe an die Grenzen wissenschaftlicher Forschung und Beobachtung gerückt. Wiewohl Spielhagen an andrer Stelle mit Recht gegen die Verwirrung der Grenzen sich ausspricht. „Und doch sind diese Wege himmelweit verschieden; so weit wie es der einzelne konkrete Fall von der Regel ist, die aus der Fülle sämtlicher konkreter Fälle abstrahiert wurde; so verschieden, wie die Tätigkeit der Phantasie von der reinen Vernunft und Urteilskraft; so verschieden, wie die künstlerische Darstellung von der wissenschaftlichen Analyse der Synthese.“ (S. 55.) Aber ganz und gar in eine Reihe stellt Zola beide mit seiner Theorie des experimentellen Romans. Emile Zola, Le Roman expérimental. Paris 1876. Nicht nur als Beobachter steht der Romanschriftsteller dem wissenschaftlichen Psychologen völlig gleich, sondern seine Methode ist genau dieselbe, welche die moderne Naturwissenschaft auf ihre Höhe geführt hat: die des Experiments, das sich hier auf die menschliche Seele erstreckt. Zola spricht und schreibt genau wie ein moderner Experimentalpsychologe. „Le problème est de savoir ce que telle passion, agissant dans tel milieu et dans telles circonstances, produira au point de vue de l'individu et de la société. Nous faisons en quelque sorte de la psychologie scientifique.“ Und nicht nur die Methode auch das Ziel teilt er mit der Wissenschaft: „Ce rêve du physiologiste et du médecin expérimentateur est aussi celui du romancier qui applique à l'étude naturelle et sociale de l'homme la méthode expérimentale. Notre but est le leur; nous voulons, nous aussi, être les maîtres des phénomènes, des éléments intellectuels et personnels, pour pouvoir les diriger. Nous sommes, en un mot, des moralistes expérimentateurs, montrant par l'expérience de quelle façon se comporte une passion dans un milieu social. Le jour où nous tiendrons le mécanisme de cette passion, on pourra la traiter et la réduire, ou tout au moins la rendre la plus inoffensive possible. Et voilà où se trouvent l'utilité pratique et la haute morale de nous oeuvres naturalistes, qui expérimentent sur l'homme, qui démontent et remontent pièce a pièce la machine humaine, pour la faire fonctionner sous l'influence des milieux.“ Wie in einem Vergrößerungsspiegel sieht man in diesem Zerrbild einer ästhetischen Theorie den Fehler, der in der allzuscharfen Betonung des Verstandesmäßigen im Roman liegt. Was bei Zola sofort auffällt und seine Lehre von vornherein unbrauchbar macht, ist, daß er die Tätigkeit der schöpferischen Phantasie völlig ausschaltet, oder doch nur in der Form der Betätigung anerkennt, wie sie ein geistreicher Naturforscher und Experimentator gleichfalls bedarf. Ein Kunstwerk könnte auf diese Weise offenbar niemals zustande kommen, sondern eben nur eine Reihe von psychologischen Versuchen. Aber auch Spielhagen befindet sich offenbar in ähnlichem Irrtum, wenn er glaubt, daß Beobachtung und induktive Erkenntnis des Weltlaufs die dichterisch phantasievolle Anschauung jemals ersetzen könnte. Er gerät dadurch in einen offenbaren Widerspruch mit der unter der voriger Seite angeführten Äußerung über die Eigenart dichterischer Produktion. Es ist richtig, daß der Romandichter, der das Leben schildern will, es kennen muß, und daß zumal der moderne Schriftsteller, der die verschiedenartigsten menschlichen Kreise und Tätigkeiten in ihrer Einwirkung auf das Seelenleben seines Helden zu schildern unternimmt, ohne Scharfblick und Fleiß, ohne Beobachtung und Studium seine Aufgabe niemals erfüllen kann. Allein diese Studien sowohl wie die Kenntnisse, die daraus hervorgehen, liefern doch nur das Material für die schöpferische Tätigkeit seiner Phantasie. Diese selbst setzt erst da ein, wo jene vorbereitende Beobachtung aufhört. Dann wird das Wissen zum Schauen, das Gedächtnis wandelt sich in die schaffende Phantasie, die nach ihren eigenen Gesetzen mit dem Erfahrungsstoffe schaltet und in freier Schöpfung die Wirklichkeit wiederholt. Wie überall, so entsteht auch hier ein Kunstwerk erst dann, wenn der Kampf mit dem Stoff siegreich beendet ist, wenn der Künstler den Stoff, den er braucht, wie umfangreich er auch immer sein mag, sich völlig angeeignet und bewältigt hat. Der Romandichter ist freilich kein Lyriker; seine Dichtung erwächst ihm nicht nur aus dem inneren Erleben und Empfinden. Seine Probleme also mögen ihm immerhin aus der Außenwelt kommen, natürlich nur, soweit sie sein Innenleben mit in Anspruch nimmt, ihm selbst zum Erlebnis wird, denn sonst wäre er kein Dichter. Die Mittel zu ihrer Lösung muß er aus Erfahrung und Beobachtung gewinnen. Aber eine Dichtung schafft er erst dann, wenn aus Problemen und Erfahrungen eine neue gegenständliche Welt vor seinem inneren Blick erstanden ist, denn nur eine solche vermag die Dichtung widerzuspiegeln. In dieser Hinsicht ist nur ein quantitativer Unterschied zwischen dem Maß von Wissen und Beobachten, das der Romandichter und das der Dramatiker braucht. Wenn man z. B. die Studien kennt, die Schiller zum Demetrius gemacht hat, wenn man weiß wie sehr er sich in die Einzelheiten des Milieus vertieft hat, wie er etwa russische Bauten studierte, so sieht man, daß seine Arbeit sich im wesentlichen nicht von der des modernen Romandichters unterscheidet. Aber in seiner Dichtung ist dieser ganze Stoff gleichsam aufgezehrt und, um Schillers eigenen Ausdruck zu gebrauchen, von der künstlerischen Form vertilgt; seine Phantasie schaltet frei schaffend über das Wissen, das er aufgehäuft hat. Und genau das Gleiche gilt vom Roman. Mag der Beobachtungs- und Wissensstoff, den der Dichter braucht, noch so detailliert, noch so technisch trocken, noch so umfangreich sein, nur dann wird sein Werk eine Dichtung, wenn der Stoff nicht mehr als Stoff hervortritt und sich nicht als Gegenstand der Belehrung, sei es technischer, sei es psychologischer Art, gibt, sondern einzig als Mittel, um die phantasiemäßige Anschauung lebendig und vollständig zu gestalten, auf der die dichterische und speziell epische Wirkung beruht. Die großen Zeitromane Zolas verfolgen bekanntlich eine bestimmte gleichartige Technik; zum Untergrunde dient ihnen nicht nur im allgemeinen das soziale Leben des zweiten Kaiserreichs, sondern in jedem einzelnen derselben erwächst die Handlung aus einem bestimmten Berufskreise, und es wird dieser Kreis, es werden die einzelnen Tätigkeiten, die er umschließt, bis ins kleinste hinein verfolgt und geschildert. Eine Überfülle von Einzelheiten, die aus Beobachtung und Studium hervorgegangen und mit gewissenhaftestem Fleiße gesammelt sind, versetzen den Leser in die geschilderte Welt. Sie erfüllen uns zuweilen mit bewunderndem Erstaunen, oft freilich ermüden sie und lähmen den künstlerischen Genuß. Es gibt einen deutschen Roman ersten Ranges, der, um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, in auffallender Weise der Kunst Zolas vorgreift: Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“. Wie bei Zola, so erwächst auch hier die äußere Handlung und die innere Entwicklung des Helden in stetem Zusammenhang mit seinem Gewerbe, dem des Schieferdeckers. Diese Tätigkeit wird uns bis in die kleinsten technischen Einzelheiten vorgeführt. Wir sehen, wie der Dachdecker sein Schwebegerüst baut, wie er es verwendet, welche besonderen Schwierigkeiten er überwinden muß. Aber von Anfang bis zu Ende ist auch für den Leser alles technische Detail nur ein Hilfsgerüst, um ihn zwischen Himmel und Erde hinaufzutragen in das Reich der Phantasie, wo nichts unanschaulich, nichts unverstanden, aber auch nichts ohne inneres Leben, ohne unmittelbare Erwärmung und Erleuchtung durch Gefühl und inneres Schauen bleibt. Die Berufsarbeit selbst wird zum Symbol des inneren Lebens, das sich in seiner sinnbildlichen Bedeutung immer deutlicher enthüllt. Solange er sein Gewissen belastet fühlt, vermag der Held den Turm nicht zu besteigen, auf dem der verbrecherische Bruder den Untergang gefunden hat. Als er, um seine mutige Rettungstat zu wagen, sich selbst überwindet, ist sein allzu empfindliches Gewissen wieder frei. Diese Dichtung ist ein weit reineres Kunstwerk als einer der großen Zolaschen Romane, weil hier Anschauungsstoff und geistiger Gehalt sich vollkommen decken, weil genau soviel Einzelheiten, die der Beobachtung und dem Studium entstammen, verwendet sind, wie die innere Entwicklung bedarf, nicht mehr und nicht weniger. Auch bei Zola tritt die symbolische Verwendung des äußeren Anschauungsstoffes und besonders des berufsmäßigen Milieus deutlich und bisweilen mit einer gewissen Großartigkeit hervor: die Lokomotive in der Bête humaine, die große Bergwerkspumpe im Germinal werden zu dämonischen Symbolen der vernichtenden Kräfte, die in der Arbeit selbst und in den Seelen der Menschen, die sie vollführen müssen, lauern. Auch bei Zola werden Handlungen, Wollen und Empfinden seiner Menschen nur aus dem Einfluß ihrer Lebenskreise und ihrer Berufsarbeit verständlich. Aber die Fülle des aufgehäuften und ausgebreiteten Details geht weit über das künstlerische Bedürfnis, anzuschauen und zu verstehen, hinaus und überschreitet den Kreis dessen, was für jene Symbolik verwertet werden kann. So bleibt in all diesen Dichtungen ein starker prosaischer Rest, und es mag dahin gestellt sein, ob das verfehlte Streben des Dichters nach einer vermeinten Wissenschaftlichkeit die Schuld daran trägt, oder ob die falsche Theorie nur entstanden ist, um die künstlerische Unzulänglichkeit der M ethode zu rechtfertigen. Ähnlich wie die kleinere epische Erzählung zum Epos verhält sich die Novelle zum Roman. Auch sie wurde, die ursprünglichste Form der Prosadichtung, schon im Altertum gepflegt, und in der Renaissancezeit war sie besonders auf romanischem Boden beliebt und gewürdigt. Seit der Romantik ist sie in Deutschland immer mehr in den Vordergrund getreten; neben dem Roman nimmt sie seit zwei Menschenaltern das Interesse des literarischen Publikums zweifellos am stärksten in Anspruch. Fragt man nun nach dem Wesen der Novelle, so ist es gewiss, daß sie sich nicht bloß durch die Ausdehnung vom Roman unterscheidet. Goethe bezeichnete sie zu Eckermann (29. Januar 1827) mit einer sprachlich allerdings übeln Wendung als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“, und Spielhagen charakterisiert sie (Beiträge S. 245) folgendermaßen: „Die Novelle hat es mit fertigen Charakteren zu tun, die, durch eine besondere Verkettung der Umstände und Verhältnisse, in einen interessanten Konflikt gebracht werden, wodurch sie gezwungen sind, sich in ihrer allereigensten Natur zu offenbaren, also, daß der Konflikt, der sonst Gott weiß wie hätte verlaufen können, gerade diesen, durch die Eigentümlichkeit der engagierten Charaktere bedingten und schlechterdings keinen anderen Ausgang nehmen kann und muß.“ Will man das Wesen der Novelle richtig treffen, so wird man in dem Goetheschen Satz das Wort „ eine “ besonders unterstreichen müssen. Denn ihr Gegensatz zum Roman beruht in der Tat darauf, daß hier eine strengere Einheit der Handlung nur ausnahmsweise vorhanden, im modernen Bildungsroman sogar völlig unmöglich ist: denn die Entwicklung kann sich immer nur durch eine Reihe von Handlungen und Ereignissen vollziehen. Die Novelle dagegen wahrt die Einheit der Handlung, sie ist, im Anschluß an Goethe gesprochen, nichts als die Erzählung einer Begebenheit. Daher schließt sie Episoden, Parallelhandlungen und dergleichen aus. Die ältere, namentlich die italienische Novelle sucht in der Tat nur durch den Reiz der Begebenheit und die Anmut der Erzählungsweise zu interessieren. Die neuere deutsche Novelle hat sich tiefere Aufgaben gestellt. Seit Kleists Michael Kohlhaas ist es auch hier das psychologische Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen; sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): „Von dem alten Novellenstil hat die moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen. Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“ Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke (S. 353) sagt, „durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen. Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem seelischen Leben der Charaktere.“ Wie richtig dies ist, erkennen wir an vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung „Am toten See“ ganz von der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und in „der Stickerin von Treviso“ atmet der Geist der Frührenaissance. Ist das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter, besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: so in Eekenhof und Aquis submersus. 14. Dramatische Dichtung. In den Weihnachtstagen 1797 antwortete Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: „Daß der Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr ein.“ „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Beweg ich mich um die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis auch länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun u. s. f. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer beim Objekt bleiben, alles Zurücksehen, alles Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer fremden Gewalt folge.“ Das Drama also ist Gegenwartskunst: auf der Illusion der Gegenwart, auf dem Miterleben der dargestellten Vorgänge beruht alle dramatische Wirkung. Ungemildert durch das Gefühl des Zeitabstandes, der das Vergangene bei noch so lebhafter Vorstellung in die Ferne rückt, folgt unser Affekt der Handlung mit der ganzen Lebhaftigkeit und Stärke, welche gegenwärtiges Geschehen, Handeln und Erleiden zu entfesseln vermag. Mitleid und Furcht, aber auch Bewunderung und Hoffnung, Sympathie und Abneigung erwachen mächtiger und ausschließlicher. „Der zuschauende Hörer muß leidenschaftlich folgen.“ Er ist ganz durch die schnelle Folge dessen, was sich vor seinen Augen abspielt, in Anspruch genommen und findet, solange die dramatische Wirkung dauert, keine Zeit zu ruhigem Verweilen und Betrachten, keine Zeit, rückblickend zu vergleichen und zu erwägen, ja nicht einmal Zeit, die Gegenwart, die rasch in die Zukunft weiter schreitet, nach allen ihren Momenten zu überschauen. Nur das Wesentlichste und Wichtigste fällt ihm ins Auge, nur dies vermag er im unaufhaltsamen Fortschritt der Handlung aufzunehmen; wie für die epische Dichtung beschauliche Breite, so ist für die dramatische Kunst Konzentration auf die Hauptmomente des Geschehens das innerste Prinzip. Daher die Unbedenklichkeit in den Voraussetzungen, zum Teil auch in der Motivierung von Einzelheiten und Äußerlichkeiten der Handlung, die man bei Schiller oft bemerkt hat, die aber bei Shakespeare und Kleist ebenso ausgeprägt ist. Der Epiker hat wie seine Zuhörer Zeit, den seelischen Vorgang und das äußere Bild in seinen Einzelheiten mit und neben einander zu betrachten; der miterlebende dramatische Schöpfer hat wie der Zuschauer, den er fortreißt, dazu nicht die Ruhe. Seine Aufmerksamkeit ist auf die Hauptmomente der Handlung gerichtet, und diese sind wesentlich seelischer Natur. Nur ihr äußerer Ausdruck als Wort, Gebärde und Tat wird von diesem Interesse notwendig mitergriffen. Aber das Gegenständliche an sich und noch mehr die äußere Umwelt seiner Personen, das Landschaftliche u. s. w. bleibt, sobald die Handlung lebhaft wird, unter der Schwelle des Bewußtseins oder wird, wo sie zögert und den Zuschauer ruhiger läßt, doch nur als schmückendes Beiwerk empfunden. Daher ist auch die Möglichkeit der dramatischen Wirkung nicht an Dekoration und Kostüme gebunden, wie denn alle ursprüngliche dramatische Kunst von diesen Mitteln nichts weiß. Aber der Zwang zur Konzentration geht weiter. Auch das Seelenleben der handelnden Personen kann sich auf der Bühne nicht voll und breit ausladen. Nur ausnahmsweise und bevor die Handlung in Fluß kommt, vermag uns der Dramatiker mit einem ins Einzelne geführten Seelengemälde zu interessieren. Die epische Breite der Schilderung bleibt ihm auch hier versagt. Von vornherein muß er alle Aufmerksamkeit auf das Wesentliche, das ins Auge Springende richten. Scharf ausgeprägte, im Großen gesehene Züge bilden seine Charaktere: die feinen vermittelnden Schattierungen, abgetönte Stimmungen des Seelenlebens vermag er nur ausnahmsweise zu verwenden. Der Dramatiker arbeitet wie im Großen, so immer auch einigermaßen aus dem Groben heraus: jede zu weit gehende Verfeinerung ist hier zugleich eine Abschwächung des Eindrucks. Daher neigt die dramatische Poesie zu scharfen Kontrasten, ja, obwohl der Kontrast, wie wir im 10. Abschnitt gesehen haben, in jeder poetischen Gattung ein wesentliches Kunstmittel ist, so darf man die Dramatik im besonderen Sinne als die Kunst der Kontrastwirkung, als Schöpfung aus Kontrasten bezeichnen. Denn erst durch den Gegensatz tritt das Charakteristische als solches in voller Schärfe hervor; erst dadurch, daß wir Charaktere und Handlungsweisen voneinander abstechen sehen, werden wir uns ihrer Eigenart deutlich bewußt. Und dieser Gegensatz wird hier nicht durch eine ausgleichende und mildernde Darstellungskunst, wie die des Erzählers ist, überbrückt: er tritt im echten Drama in voller Schärfe vor unsere Augen und Ohren. Denn auch hier ist es vor allem die Sprache, in deren Eigenart sich das Wesen des Dramatischen ausprägt. Mag sie naturalistisch im Munde jeder Person das verschiedene Gepräge ihrer Herkunft und Umgebung tragen, mag sie zu einer gleichmäßigen Idealform stilisiert sein: immer muß sie den inneren Gegensatz zwischen den Charakteren zum Ausdruck bringen, und epigrammatisch zugespitzte Stichomythie darf man in diesem Sinne das Grundschema des dramatischen Dialogs nennen. „Zweistimmig zu sein ist der Sinn des Dramas. In dieser Zweistimmigkeit wurzelt alles Formale der Shakespeareschen Kunst.“ So drückt den Gedanken treffend ein moderner Dramaturg Julius Bab, Wege zum Drama, Berlin 1906. Die geistreiche kleine Schrift ist, wie schon die oben angeführte Stelle zeigt, nicht frei von Überschwang, aber sie ist von einem tiefen und richtigen Gefühl für das Wesen der dramatischen Kunst getragen und eröffnet eine Reihe lichtvoller Einblicke. aus, und nicht ohne Übertreibung, aber doch im Grunde richtig fügt er hinzu: „Wie in jedem kleinen Pfeiler des Straßburger Münsters die „Idee“, der Rhythmus des Ganzen steckt, so birgt jede sprachliche Wendung eines großen Dramas in sich das Wesen der dramatischen Idee: den tragischen Widerspruch notwendig zueinander strebender Mächte. ─ Der kleinste Teil des Kunstwerks endlich, der einzelne Satz, das Wort, das keine Zweiheit mehr zu umspannen vermag, wird dem Prinzip der Zweistimmigkeit, der großen Kontrastwirkung noch immer dadurch dienen, daß es die eine Seite, an der es allein zu bilden vermag, mit leidenschaftlichster Energie, mit fanatisch konzentrierter Einseitigkeit ausdrückt ─ gerade so die größte Wirkung des Widerspruchs verbreitend. Auf die Schärfe und Kraft des Ausdrucks legt dann der echte Dramatiker allen Wert, nicht auf das in sich Schöne oder logisch Zwingende der Sprachwendung.“ Aber ein charakteristischer Dialog oder eine Reihe von solchen ist noch kein Drama. Erst wo sich der Charakter der Personen und ihr Gegensatz in Entschlüssen und Handlungen entwickelt, wird er ganz anschaulich und reißt uns zu völligem Miterleben hin. Daher bezeichnet schon der Name Drama eine Handlung, und nur im aktiven Tun, nicht im passiven Erleben, wie häufig im Epos, wird der Held des Dramas vor uns lebendig. Im Epos, im Roman kann das Ereignis, ja unter Umständen der Zufall unser Interesse erwecken und beleben. Im Drama hingegen stört jedes rein äußerliche Eingreifen das, was uns eigentlich interessiert: den inneren Zusammenhang, der mit Notwendigkeit von bestimmten Charaktereigenschaften zu entsprechenden Taten und durch die Folge dieser Taten zu Leiden führt. Gegensatz, der sich in Handlungen äußert, ist Kampf. Jedes Drama also hat einen Kampf innerer und äußerer Art zum Gegenstande. Und wenn die Entwicklung dieses Kampfes nicht doch wieder als äußerlich und vom Zufall abhängig (also episch) erscheinen, wenn sie von innerer Notwendigkeit getragen sein soll, so muß er, wenn nicht zwischen gleichberechtigten, so doch zwischen gleich lebendigen Gegnern geführt werden. Wir müssen ihn gewissermaßen auf beiden Seiten miterleben. Daher ist es nur ein Zeichen echter dramatischer Veranlagung und Kunst, wenn die meisten Dramen Schillers, was man ihnen gelegentlich zum Vorwurf gemacht hat, nicht einen sondern zwei im Gegensatz zueinander stehende Helden haben, und in vielen Dramen der Antike finden wir dieselbe Erscheinung: Agamemnon─Klytämnestra, Antigone─Kreon u. s. w. Und selbst da, wo man mit Recht von einem Kampf des Helden gegen die Macht des Schicksals sprechen kann, erscheint diese Macht durch menschliche Gegner, wenn nicht verkörpert, so doch vertreten, wie im König Ödipus durch den Teiresias. Vom Gegenstand dieses Kampfes hängt der Charakter der Dichtung ab. Ist er ernster und idealer Natur, handelt es sich um Tod und Leben, um die großen Ziele des Daseins, so entsteht die Tragödie, ist er kleiner oder kleinlicher Art, oder wird er doch von einer Seite gezeigt und betrachtet, die ihn so erscheinen läßt, so entsteht das Lustspiel. Das gleiche Motiv kann bisweilen einen Gegenstand für Tragödie und Lustspiel bilden, wie etwa die Liebe zwischen zwei jungen Leuten von ungleichem Stande; es hängt dann eben davon ab, wie der Dichter die Bedeutung des Kampfes und der Gegnerschaft wertet. Das Formenprinzip beider Arten des Dramas ist also im Grunde dasselbe. Nur kommt's im Lustspiel nicht so genau darauf an, daß es immer gewahrt bleibt. Wenn wir lachen, fragen wir nicht, ob es die Kunst der objektiven Darstellung oder nur der subjektive Witz des Dichters ist, was uns lachen macht. Und wir lassen uns das Eingreifen des Zufalls, die Lösung des Konflikts durch einen vermenschlichten Deus ex machina ganz wohl gefallen, während solche Dinge in der Tragödie jede tiefere Wirkung zerstören. Die Charakterkomödie Molières freilich, die mit der scherzhaften Darstellung einen bedeutsamen und sehr ernst gemeinten Gehalt verbindet, verschmäht dergleichen Mittel ebenso wie das ernsthafte Drama überhaupt. ─ Aus allen bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daß Charaktere und Handlungen im Drama nicht voneinander getrennt denkbar sind. Schon in der ersten Konzeption des Dichters ist offenbar beides verknüpft. Der Dramatiker sieht weder Menschen, zu denen er sich die Handlungen, noch Handlungen, zu denen er sich die Menschen suchen müßte, sondern was er sieht und zur Darstellung bringen will, sind eben handelnde Menschen, von bestimmten Charakteren ausgehende bestimmte Handlungen; und sicher ist es allgemein gültig, wenn Gustav Freytag (Technik des Dramas S. 11) hervorhebt, „daß die Hauptteile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere, ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee in der Seele aufleuchten, zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildung erzeugend“. Die notwendige Verknüpfung zwischen Charakter und Handlung bildet somit den Kern und Mittelpunkt jeder wahrhaft dramatischen Dichtung. Diese Handlung nun ist in jedem echten Drama eine einheitliche. Das strenge Gesetz der Konzentration, welches das Wesen der dramatischen Poesie beherrscht, verlangt gebieterisch einen Mittelpunkt, um den sich das Interesse bewegt, ein Ziel, dem es zustrebt. Denn wie die Erfahrung immer wieder zeigt: wir vermögen nur einmal im Rahmen eines Dramas aus der vollen Empfindung heraus den Verlauf mit dem Helden zu erleben, die Reihen der Affekte lebendig mitzufühlen, welche Kampf, Sieg und Gefahr auslösen. Hat die Anspannung durch den Abschluß einer Handlung einmal nachgelassen, so ist sie niemals wieder in gleicher Stärke zu erreichen, und die Erneuerung bleibt stets eine Abschwächung statt der Steigerung, welche das allgemeine Gesetz der künstlerischen Wirkung verlangt. Daher darf die Handlung auf der Bühne nicht absetzen: der Zuschauer muß in leidenschaftlicher Anteilnahme und steter Spannung mitgerissen werden, von Akt zu Akt. Es ist undramatisch, wenn wir an irgend einer Stelle der Dichtung das Gefühl erhalten, sie könnte nun allenfalls zu Ende sein, oder gar, sie müßte hier eigentlich zu Ende sein. Das erstere ist nach dem vierten Akt von Goethes Götz der Fall, und wo der Fehler weit plumper ist, nach dem dritten Akt von Beer-Hofmanns schon einmal angeführtem Grafen von Charolais. Daher reicht denn die Person des Helden niemals aus, um dem Drama die Einheit zu geben, die sein Wesen erfordert. Daß es in der Hinsicht ─ trotz Aristoteles ─ mit dem Epos und dem Roman anders steht, daß die epische Einheit eine minder feste und geschlossene ist wie die des Dramas, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen. Besonders wo das Epos und der aus ihm entsprungene Roman Entwicklungsgeschichte, Bildungsgeschichte des Helden geworden ist, muß der Zusammenhang dieser Entwicklung die Einheit der Handlung ersetzen. Immerhin wird es auch hier vorteilhaft sein, wenn die Fäden nicht allzu lose geschlungen werden und in einem gut komponierten Roman wird nicht nur eine Steigerung, sondern auch eine gewisse Entsprechung der Ereignisse, eine Beschränkung der Nebenpersonen, so daß dieselben Menschen in verschiedenen Phasen des Verlaufs wiederkehren, angestrebt werden, wie wir das schon in Wilhelm Meister, von modernen Romanen aber besonders bei Dickens und Friedrich Spielhagen beobachten können. Allein mit diesen Kunstmitteln wird doch mehr einer Zersplitterung vorgebeugt, als daß eine einheitliche Handlung erzielt würde. Denn die Entwicklung eines Menschen setzt stets eine Reihe von aufeinanderfolgenden Einwirkungen von mehr oder weniger tief eingreifenden Ereignissen und Handlungen voraus, die weder zeitlich zusammenfallen, noch mit einiger Wahrscheinlichkeit sich um denselben Gegenstand drehen können. Hieraus folgt nun aber auch, daß eine solche Charakterentwicklung nicht in den Bereich der dramatischen Kunst fällt. Ein einzelnes Ereignis, sei es noch so schicksalsschwer, vermag die allmähliche Bildung eines Charakters niemals zu erklären, die Vielheit der Einflüsse, aus denen sie hervorgeht, nicht zu ersetzen. Im äußersten Falle wird es eine einzelne entscheidende Umwandlung herbeiführen, und eine solche finden wir denn auch zumal in der Tragödie nicht selten. Aber es ist zumeist eine Wandlung, die der Zerstörung oder Zersetzung des Charakters gleichkommt: unter den Folgen seiner eigenen Tat wird der Wille des Helden, um mit Schopenhauer zu sprechen, gebrochen. Leidenschaftliches oder doch energisches Streben schlägt in Resignation um, so bei Shakespeares Brutus, bei Schillers Maria Stuart. Oder der Wille wird bis zu gewaltsamer Überspannung gesteigert und gewissermaßen verzerrt, wie in Macbeth. In beiden Fällen bereitet die innere Wandlung nur die Katastrophe vor, ist eigentlich nichts als die innere Katastrophe vor der äußeren. Wo dagegen die entscheidende Wandlung in die aufsteigende Entwicklung fällt, wo sie im Mittelpunkt des psychologischen Werdens steht, da vermag sie allerdings den wesentlichen Inhalt dieser Entwicklung zusammenfassend zu veranschaulichen. So in Shakespeares Heinrich IV., wo der Tod des Königs, so in Don Carlos, wo der Opfertod Posas, so in Kleists Prinzen von Homburg, wo der richterliche Eingriff des Kurfürsten jedesmal ein entscheidendes Ereignis bildet, das die Wandlung des Helden herbeiführt. Auch Calderons Leben ein Traum und Grillparzers Gegenstück dazu veranschaulichen mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine solche Charakterwandlung. Aber diese Dichtungen bilden Ausnahmen; denn nur ausnahmsweise wird ein einziges Ereignis ein für allemal die fernere Charaktergestaltung entscheiden. Daher begnügen sich auch die größten Dramatiker und tiefsten Charakterzeichner wie Shakespeare und Schiller, von den Alten zu schweigen, zumeist damit, den fertigen Charakter in einer entscheidenden Handlung sich vor unseren Augen darstellen zu lassen. Schon viel, wenn der Dichter gelegentlich einmal auf die frühere Entwicklung seines Helden ein belehrendes Streiflicht wirft, wie ein solches auf Wallensteins Jugend aus Gordons Worten fällt: Wohl dreißig Jahre sind's. Da strebte schon Der kühne Mut im zwanzigjähr'gen Jüngling. Ernst über seine Jahre war sein Sinn, Auf große Dinge männlich nur gerichtet. Durch unsre Mitte ging er stillen Geists, Sich selber die Gesellschaft; nicht die Lust, Die kindische, der Knaben zog ihn an; Doch oft ergriff's ihn plötzlich wundersam, Und der geheimnisvollen Brust entfuhr, Sinnvoll und leuchtend, ein Gedankenstrahl, Daß wir uns staunend ansahn, nicht recht wissend, Ob Wahnsinn, ob ein Gott aus ihm gesprochen. Einen tieferen Einblick in das Werden der Menschen vermag uns der Dramatiker schon deshalb nicht zu eröffnen, weil er die Einwirkung des Milieus im besten Falle in wenigen großen Zügen, niemals aber wie der Epiker in den intimeren Einzelheiten entwickeln kann. Im Fortschritt der Handlung fehlt ihm wie uns die Zeit, diese zu beachten. Die Menschen des Dramatikers stehen als gewordene und ausgeprägte Charaktere vor uns, wie die, denen wir im persönlichen Leben begegnen. Was sie sind, interessiert uns in erster Linie; wie sie es geworden, höchstens in zweiter; und was sie sind, zeigt uns ihr Handeln. ─ Haben wir hiermit das Wesen der dramatischen Dichtungsform in seinen allgemeinen Zügen erkannt, so erhält sie nun ihre charakteristische Ausprägung erst durch ein Moment, das den beiden anderen Gattungen gänzlich fehlt: die Beziehung auf die Bühne. Zwar auch dem Lyriker und, wenn wir von dem Prosaroman absehen, dem Epiker schwebt die Vermittlung durch den Vortrag des Sängers oder des Rezitators vor. Aber seine Dichtung wahrt doch eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Sie hat ein inneres Leben, das auch vom Papier her ohne weiteres zu uns spricht und verständlich wird. Das Drama aber, soweit es Bühnenstück ist, wird erst durch den Regisseur und den Schauspieler lebendig, ähnlich wie eine Orchesterpartitur dem Nichtmusiker nur durch die Aufführung vermittelt werden kann. Die Phantasie des gegenständlichen Dichters kann daher zweierlei Art sein: entweder sie zeigt ihm die Vorgänge so oder doch annähernd so, wie sie sich im Leben, in der Wirklichkeit darstellen, oder sie richtet sich von vornherein auf das Theater, er sieht Bühnengestalten und Bühnenvorgänge. Die erste Art zu sehen, ist nämlich nicht etwa nur dem Epiker eigentümlich, sondern sie gehört dem gegenständlichen Dichter überhaupt, auch dem Dramatiker, soweit er eben nur Dichter ist, d. h. Phantasieerlebnisse gestaltet und übermittelt. Auch der Dramatiker muß, wenn er wirkliches Leben schaffen und uns wahre Menschen und ihre Taten lebendig machen will, Taten und Menschen unmittelbar sehen und erleben. Allein nun verschmelzen auf eigentümliche Weise in seiner Phantasie die Bilder des Lebens mit denen der Bühne, die seiner Menschen mit denen der Schauspieler. Wo diese Verschmelzung nicht eintritt, werden wir immer nur einen einseitigen und daher unvollkommenen Typus des Dramas vor uns haben, und dementsprechend wird auch der Eindruck hinter dem Höchsten, was die dramatische Kunst erreichen kann, zurückbleiben. Wenn der Dichter die Bühne und ihre Anforderungen gänzlich aus dem Auge verliert, wird sich das nicht nur bei der Aufführung seiner Stücke, nicht nur in einem Mangel an Bühnenwirkung rächen, sondern zumeist auch schon den dramatischen Charakter seiner Dichtung an sich schwächen und schädigen. Wo die Bühnenkunst uneingeschränkt waltet, da werden tiefe und echte dichterische Wirkungen selten zum Durchbruch kommen. Es ist denkbar und neuere Forschungen machen es nicht unwahrscheinlich, daß in dieser Doppelheit der Anlage der Dichter und ihrer Werke sich eine Ursprungsverschiedenheit der dramatischen Kunst ausspricht. Das Theaterspiel selbst ist, soviel wir wissen, überall aus der Lust an improvisierten Nachahmungen von Personen und Handlungen, an Verkleidungen und Vermummung, kurz aus der eigentlichen Lust am Spiel hervorgegangen, und ein Theaterstück war ursprünglich keine Dichtung im literarischen Sinne, sondern das Werk des Augenblicks oder einer Tradition, die mit und in den Aufführungen entstand. Die Kunstform der dramatischen Dichtung dagegen entstand aus der Freude an Rede und Gegenrede, die zu lebhaften Affekten gesteigerte mimische Aktionen hervortrieben. Die Geschichte des Theaters, zunächst des antiken, soweit wir sie verfolgen können, scheint das zu bestätigen. Einerseits sehen wir die Tragödie hohen Stils sich zur edelsten Kunstform entwickeln, andrerseits zieht sich das volkstümliche Spiel des Mimus durch das ganze Altertum hindurch. Von dem Wesen und der Bedeutung des Mimus haben uns die Forschungen Herm. Reichs (Der Mimus. Ein literarentwicklungsgeschichtlicher Versuch. 2 Bde. Berlin 1903) ein wertvolles, wenn auch vielleicht in einzelnen Teilen zu stark aufgetragenes Bild gewährt. ─ Über die Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs handelt scharf und geistreich Th. A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie, S. 108─111. Auf die Entwicklung beider Gattungen hat die Verbindung mit der Musik wesentlichen Einfluß geübt. ─ Auch bei der Entstehung des Dramas der neueren Zeit finden wir die Spuren einer ähnlichen parallelen Entwicklung, und in der Zwiespältigkeit des Shakespeareschen Dramenstils sieht man deutlich das Zusammentreffen zweier an sich verschiedener Formen der Kunstübung. Aus der Verbindung von Bühnenkunst und Poesie ist die dramatische Dichtung entstanden. So ist es denn begreiflich, daß von den beiden Elementen, die sie enthalten, bald das eine, bald das andere überwiegt. Interessant sind die Zeugnisse, welche diese Verschiedenheit psychologisch belegen. Der ausgeprägteste Typus des Bühnenschriftstellers ist Scribe. „Wenn ich eine Szene schreibe,“ sagte Legouvé zu ihm, „so höre ich, Sie aber sehen. Bei jedem Satz, den ich schreibe, kommt mir die Stimme der sprechenden Person ins Ohr. Sie, der Sie das Theater selbst sind, Ihre Schauspieler gehen und gestikulieren vor ihren Augen: ich ein Hörer, Sie ein Zuschauer.“ ─ „Nichts wahrer als dies,“ sagte Scribe, „wissen Sie, wo ich mich im Geiste befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre!“ ─ (Binet, Psychologie du Raisonnement, angeführt bei James, Principles of psychologie, II S. 60.) Dagegen schreibt Schiller an Goethe: „Ich wüßte nicht, was einen bei einer dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und wenn man daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der wirklichen Repräsentation der Bretter eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird.“ Man sieht, daß die Bühne seiner Phantasie schon nicht mehr so unbedingt und unmittelbar vorschwebte. Die ausgeprägteste künstlerische Theaterphantasie unter allen deutschen Dichtern besaß wohl Ferdinand Raimund. Er schwelgt in Bühnenbildern größtenteils phantastischer Art, sein geistiges Ohr hört nicht Menschen, sondern Schauspieler sprechen. Dennoch ist er Dichter genug, um seine Wirkungen nicht zu berechnen, sondern zu fühlen, und in die Bühnenphantastik mischen sich ihm Züge eines gesunden Wirklichkeitssinnes. Das Theater verbindet ihm eine überirdische Geisterwelt mit der Realität des Lebens. Etwas Ähnliches ist bei einem größeren, bei Richard Wagner, der Fall, wenigstens in den meisten seiner Werke. Und in der Tat liegt es ja auch im Wesen des Doppelkunstwerks, das er schafft, daß er es von vornherein als Darstellung auf der Bühne und nur als solche sieht und denkt. In den beiden tiefsten und bedeutendsten Tondichtungen freilich, die er geschaffen, dem Tristan und den Meistersingern, geht die schöpferische Phantasie über das Bühnenbild hinaus in die Höhen und Tiefen des reinsten Humors und der innerlichen Gefühlserlebnisse. Hans Sachs unter dem Fliederbaum, Tristan und Isolde in der nächtlichen Laube sind nicht für die Bühne erdacht, nicht auf dem Theater erschaut, sondern aus einer idealen Wirklichkeit auf die Bühne übertragen. Goethe dagegen ist ein Typus der entgegengesetzten Art. Die Theaterphantasie ist bei ihm, trotz seiner jugendlichen Neigung für das Puppentheater, auffallend schwach entwickelt und tritt fast nur da gleichsam als Lückenbüßerin ein, wo ihm die dichterische Gestaltungskraft versagt: im letzten Akt des Clavigo, an vielen Stellen des zweiten Teils des Faust, der in dieser Hinsicht einen starken Gegensatz zum ersten bildet, in den Festspielen und Operntexten. So erklärt sich denn auch die verhältnismäßig geringe Bühnenwirkung, die von den meisten seiner Dramen ausgeht. Schon die glänzenden und lebendigen Szenen, die der Götz vor uns entrollt, sind Bilder des Lebens, nicht der Bühne. Nun aber betrachte man den 4. und 5. Akt der Iphigenie, besonders aber den Tasso. Wie wenig vertragen die fein abgetönten Farben, die intimen Reize der seelischen Erlebnisse, die hier in tief innerlicher Gestaltung Leben gewonnen haben, das grelle Licht der Bühne mit seinen scharfen Kontrasten. Eben weil der Dichter die Wirklichkeit zu fein und zu echt sieht, versagt sich ihm die szenische Wirkung. Man vergleiche nur die Herausforderung zum Zweikampf im 2. Akt des Tasso mit der ähnlichen Szene bei Schiller, wo Don Carlos den Herzog Alba zum Zweikampf zwingt. Daß Antonio auf die Herausforderung nicht eingeht, auch in der Notwehr nicht, ist sicherlich das Wahrscheinlichere, der Wirklichkeit entsprechende; aber dadurch, daß es nicht zum Zweikampf kommt, bleibt die ganze Szene und namentlich das Auftreten des Herzogs ohne stärkere Bühnenwirkung, während im Don Carlos Alba gleichfalls den Degen zieht und die Königin nunmehr die Kämpfenden trennt: gröber und unwahrscheinlicher, aber beträchtlich wirksamer. Auch daß am Schluß, wo Tasso die Prinzessin umarmt, nur die nächsten Freunde den leidenschaftlich Rasenden überraschen, bringt die Schwere der Situation im Bühnenbilde nicht hinlänglich zur Geltung, daher man so oft eine naive Verwunderung über das Unbedeutende der Katastrophe aussprechen hört. Wie anders weiß uns wiederum Schiller die Gefahr anschaulich zu machen, in der sein Carlos schwebt, als seine Unterredung mit der Königin jäh unterbrochen wird und der spanische König an der Spitze seines ganzen Hofes, von allen seinen Granden gefolgt, die Bühne betritt. Der Begriff des Lesedramas tritt uns hier in seiner eigentlichen Bedeutung entgegen: es ist eine dramatisch empfundene, aber nicht für die Bühne gedachte Dichtung, zu intim und innerlich, um auf dem Theater wirksam zu werden; gleichwohl kann sie echt dramatisches Leben enthalten und bei der Lektüre oder beim Vorlesen zum intensiven Miterleben zwingen, wie das beim Tasso der Fall ist. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der Ausdruck freilich mit einer gewissen Geringschätzung gebraucht und auf Dichtungen angewendet, denen das dramatische, vielleicht das dichterische Leben überhaupt fehlt, wie Uhlands Herzog Ernst und seine zahlreichen Nachfolger. Alle Dichter der Weltliteratur, von denen große dramatische Wirkungen ausgegangen sind, vereinigen beide Arten, zu sehen und zu bilden, und es ist interessant, wie in ihren verschiedenen Werken, oft aber auch innerhalb derselben Dichtung in verschiedenen Szenen, bald die Bühne, bald die Wirklichkeit herrscht. Es wäre verlockend, das Gesagte an Shakespeare und Schiller, an Kleist und Hebbel zu veranschaulichen, aber es würde zu weit von dem Gang unserer Betrachtungen abführen. Nur auf Grillparzer will ich kurz hinweisen, weil sein Beispiel besonders belehrend ist. Er beginnt in der Ahnfrau mit einem echten Theaterstück, das ganz und gar von Bühnenphantasie beherrscht und getragen wird, um in seinen letzten Tragödien besonders dem Bruderzwist und der Libussa die Fühlung mit der Bühne mehr und mehr zu verlieren: geschichtliche Bilder und die Versenkung in inneres Leben erfüllen diese Dichtungen faßt ausschließlich. Die Werke seiner Glanzzeit jedoch, von „Sappho“ bis „Weh dem, der lügt“, zeigen fast alle eine ausgeglichene Verschmelzung von Bühne und Leben. Es ist begreiflich, daß Dramen, die für die Bühne gedacht sind, bei der Lektüre nicht völlig anschaulich werden können, wenn der Leser nicht beständig das Theater vor seinem geistigen Auge sieht. Dies aber ist im allgemeinen dem, der nicht Theaterpraktiker ist, schwer genug; daher man aus der bloßen Lektüre fast niemals zum völligen Verständnis etwa Shakespeares oder Ibsens gelangt und bei der Aufführung stets von einer Reihe von Zügen überrascht wird, die uns beim Lesen entgangen sind. Selbst die sehr ausführlichen Bühnenanweisungen, welche die meisten modernen Dichter ihren gedruckten Dramen mitzugeben pflegen, sind nur ein kümmerliches Mittel, um die Bühnenphantasie des Lesers anzuregen. ─ Das bisher dargelegte Verhältnis zwischen Bühne und Dichtung erklärt nun eine weitere wichtige Erscheinung, die Tatsache nämlich, daß dramatisch gedachte Vorgänge unter Umständen auf der Bühne unwirksam bleiben, andrerseits aber manche Dichtungen im Theater Eindruck machen, die ihrem inneren Wesen nach gar kein dramatisches Leben enthalten. Die moderne Bühnenkunst zumal, die mit allen malerischen Effekten ebensowohl wie mit den musikalischen zu rechnen weiß, vermag mit ihren Mitteln ebensowohl einer lyrischen Stimmung zu Hilfe zu kommen wie der spezifisch dramatischen Wirkung. Auf die innere Verwandtschaft zwischen Lyrik und Drama hat schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen. Beide kommen darin zusammen, daß sie innere Zustände darstellen und lebendig machen; nur daß die Lyrik bei dem einzelnen verweilt, ihn nach Seite des Gefühls und der Stimmung ausschöpft, während das Drama in schneller Entwicklung von einem zum anderen hinüberstrebt und den Zuschauer mitreißt. Daher hat denn die dramatische Dichtung aller Zeiten lyrische Momente aufgenommen, Stellen, wo der Zuschauer längere oder kürzere Zeit verweilen, für eine kurze Zeit zu Atem kommen, sich auf der erreichten Stimmung gleichsam ausruhen und wiegen kann. Es ist viel zu selten anerkannt worden, wie stark sich Schiller auf diese Kunst versteht, mit welcher Kraft und Tiefe der Stimmung er besonders seine Katastrophen vorzubereiten und durchzuführen weiß. Man denke an die unheimliche Schwüle der Dämmerstunde, in der Ferdinand mit dem Gift zu Luisen kommt, oder an die Trimeterszene in der Braut von Messina, in welcher Don Cäsar seinen Entschluß, zu sterben, dem Chor verkündet! und mit welcher Feinheit und Weichheit der Farbe zeigt uns der 5. Akt von Wallensteins Tod den Helden ganz von menschlichen Empfindungen erfüllt, dem verlorenen Lebensstern, dem toten Freunde nachtrauernd! Alle diese Szenen sind im starken Gegensatz zu der leidenschaftlich bewegten Handlung entworfen und empfunden, die kurz vorher noch die Bühne erfüllte und gleich darauf zur entscheidenden Katastrophe einsetzt. Selbst dem leidenschaftlich fortreißenden Temperament Shakespeares und Kleists fehlen solche Stellen nicht: Ophelias Tod und die Mondnacht in Belmont, die Szene unter dem Hollunderbusch und so manche Stellen der Penthesilea zeigen das. Freilich erst da, wo sie sich mit der Musik verbindet, kommt diese lyrische Wirkung zu voller Stärke. Die Chöre und Melodramen der antiken Tragödie zeigen das. Die Oper ist als eine eigene Gattung ganz und gar aus dem Gefühl hierfür hervorgegangen; sie beruht auf dem Bestreben, dramatisch gegebene Situationen lyrisch zu verwerten und auszuschöpfen. Allein sie verfuhr dabei höchst einseitig. Das dramatische Element vernachlässigte sie oder scheute sich doch niemals, es zu beeinträchtigen, und zwar nicht bloß um der lyrisch musikalischen Wirkung willen, sondern auch zugunsten eines unkünstlerischen Beiwerks dekorativer und balletmäßiger Effekte. Seit Gluck freilich machte sich in der deutschen Oper eine Gegenströmung geltend, und auf dem Gipfelpunkt einer längeren Entwicklungsreihe unternahm es Richard Wagner, das musikalische Drama im vollen Sinne des Worts an Stelle der Oper zu setzen: eine Erneuerung der antiken Tragödie mit ihren dramatischen und lyrischen Wirkungen, auf die Mittel des modernen Orchesters der modernen Bühne gestützt. Aus dem unkünstlerischen Gemengsel der alten Oper gestaltete er ein konsequentes Zusammenwirken mimischer, orchestraler und musikalisch-deklamatorischer Künste. Seiner durchaus dramatischen Gestaltungskraft, seiner ungewöhnlich originellen Bühnenphantasie ist es in den meisten seiner Werke tatsächlich gelungen, ein solches Zusammenwirken zustande zu bringen, während das dramatische Element das herrschende blieb, ─ nur etwa im Tristan überwiegt das lyrische, seinerseits zur höchsten Wirkung gesteigert. Freilich im Laufe eines Menschenalters hat es sich bereits gezeigt, daß nur die singuläre Begabung eines einzelnen schöpferischen Künstlers ein solches Kunstwerk ermöglicht hat. Eine Neugeburt der ganzen Bühnenkunst, wie sie Wagner erhoffte, ist aus seiner Wirksamkeit nicht hervorgegangen. Die lyrische Wirkung auf der Bühne ist nun freilich auch ohne Musik, oder wenigstens ohne entscheidende Mitwirkung des musikalischen Elements, durch das gesprochene Wort und die dekorative Kunst allein zu erreichen. Und es ist daher zu begreifen, daß moderne Dichter sich der Aufgabe zugewandt haben, unterstützt von feinfühligen Regisseuren und phantasievollen Theatertechnikern, die Kunst der Stimmung auf der Bühne zur Herrschaft zu bringen. Am ausgesprochensten ist dieses Streben bei Maeterlinck, dessen Bühnenkunst auf jede eigentliche Handlung, auf jeden Ansatz zur dramatischen Charakteristik verzichtet und ganz darauf gerichtet ist, den Stimmungsgehalt einer dargestellten Situation, bisweilen auch einer Reihe von solchen, durch die Künste der Bühne zur Geltung zu bringen. Es ist ihm dies auch zweifellos in einigen seiner Stücke gelungen, und es geht von solchen Bühnendichtungen eine starke, wenn auch rein momentane Wirkung aus, aber sie ist durchaus opernhaft, und es bleibt bei der Gedankenarmut und der absichtlich gesuchten sprachlichen Simplizität dieser Werke kein Eindruck zurück, der uns um eine echte Dichtung bereichern könnte. Es sind nur Elemente einer solchen, was wir empfangen und mitnehmen, ein schattenhaftes Spiel, kein wirklich gestaltetes Kunstwerk ist es, was an unseren Augen vorüberzieht. Zu den Dichtern, die mit einem ausgesprochenen Bühnensinn eine poetische Begabung verbinden und denen gleichwohl das dramatische Temperament abgeht, gehört auch Gerhart Hauptmann. Seine Dichtungen sind entweder lyrisch oder episch empfunden, aber ein eigentümlicher Theaterinstinkt treibt ihn immer wieder zur Bühne und weiß durch starke äußere Effekte das fehlende dramatische Leben zu ersetzen. Wo es wesentlich Stimmungsgemälde, lyrisch empfundene Bühnenbilder sind, die er uns vorführt, empfinden wir immerhin den Hauch echter Poesie, wenn auch kein dramatisches Leben. So ergreift uns in Hanneles Himmelfahrt das Leiden und der Traum eines sterbenden Kindes, in einigen Szenen der versunkenen Glocke das phantastische Spiel der Naturgeister. Wo jedoch der Dichter es unternimmt, auf die Bühne zu verpflanzen, was einer episch gestaltenden Phantasie allein eignet, wo ihm die Handlung ganz und gar aus dem Milieu hervorwächst, wo statt eines wollenden und handelnden Helden eine leidende, von Instinkten bewegte Masse Träger der Entwicklung ist, da verläßt ihn die dichterische Wirkung und er vermag sie nur durch die stärksten äußeren Effektmittel zu ersetzen. Klagende Frauen, wimmernde Kinder, Schüsse, ein plötzlicher Todesfall: dergleichen versagt auf der Bühne nie. Und es sind wesentlich solche Mittel, denen die Weber ihren ungewöhnlichen Erfolg verdanken; ─ hinzu kommt freilich noch die werbende Kraft des sozialen Grundgedankens, der aber keineswegs künstlerisch vertieft erscheint. Bezeichnend ist es, daß der Florian Geyer, der mit denselben Mitteln zu wirken sucht, dem aber die Aktualität des Weberstoffes fehlt, nirgends Fuß gefaßt hat. Und nicht wesentlich anders steht es da, wo der Dichter versucht, sich einzelne Charaktere aus ihrem Milieu entwickeln und vor unsern Augen ausleben zu lassen; hier ist es zumeist die dankbare Aufgabe, die dem Schauspieler gestellt wird, was Stücken wie Kollege Krampton, Rose Bernd und Fuhrmann Hentschel ihren Bühnenerfolg schafft. Es ist bezeichnend, daß sie beim Lesen völlig kalt lassen. Und doch würden die meisten dieser Gestalten, mit der starken und eigentümlichen Fähigkeit zum Nachempfinden des Volkslebens, die Hauptmann besitzt, wahrscheinlich zu echt dichterischer Wirkung kommen, wenn sie etwa in Novellenform episch behandelt wären. Auf der Bühne werden sie trotz ihres Modeerfolgs schwerlich ein langes Leben führen. Denn die epische Poesie ist einmal dem Theater innerlich fremd, weit fremder als die lyrische Dichtung mit ihren Stimmungswirkungen. Es gilt das nicht nur von den viel berufenen Erzählungen auf der Bühne, mit welchen technisch unbeholfne Schriftsteller die Handlung ersetzen, ─ spärlich verwandt, können solche Erzählungen sogar starke Wirkungen hervorbringen, wie denn die griechische Tragödie sie liebte, und auch Schiller, der doch genau wußte, was im Theater Eindruck macht, sie gern verwandte. Aber auch diese Wirkung beruht darauf, daß das, was erzählt wird, dramatisch gesehen ist, und selbst wenn die Erzählung rhetorisch ausgestaltet ist, doch mit jener Konzentration auf das eigentliche Geschehen, mit jener innerlichen Atemlosigkeit, die dem Drama eignet, vorgetragen und gehört wird. Man kann weit eher dramatische Wirkungen in epischen Formen erreichen als umgekehrt. Episch aber ist alle Verbreitung ins Detail; epischer Natur sind alle Gewebe, die aus den zahlreichen zarten Fäden gesponnen sind, die den Einzelnen mit seiner Umwelt verbinden. Was Hauptmann vergebens erstrebte, diesen Gegensatz zu überbrücken, das ist nun freilich einem Größeren gelungen. Man hat Henrik Ibsen, denn er ist dieser Größere, vorgeworfen, daß seine Dramen oder wenigstens ein Teil derselben keine Dramen, sondern dialogisierte Romankapitel seien. So z. B. Spielhagen, Beiträge S. 297─313. Und in der Tat läßt es sich nicht bestreiten, daß die bedeutendsten Dichtungen seiner späteren Periode: Nora, Gespenster, Rosmersholm, zum größeren Teil Probleme behandeln, die ihrer Natur nach nur dem Epiker zugänglich zu sein scheinen. Es ist durchaus Entwicklung, was er im Auge hat, Entwicklung von Charakteren und Situationen, und sie ist noch dazu überall in engstem Zusammenhang mit dem Milieu gedacht und gesehen. In der Tat sollte man glauben, daß nur der Epiker, der Romandichter uns die innere Geschichte Noras, Frau Alvings, Rebekka Wests anschaulich und glaublich machen könnte. Aber durch eine ganz eigenartige Technik, die ihrerseits einer entschieden dramatischen Phantasie und zugleich ausgesprochenem Bühnensinn entsprungen ist, vermag es Ibsen, den Widerspruch zu überwinden. Die älteren Dramen, klassische sowohl wie moderne, führen uns zumeist eine Handlung in ihrem ganzen wesentlichen Verlauf vor. Sie nehmen, wie das nicht anders möglich ist, bestimmte Anfangsglieder und gegebene Situationen als Voraussetzungen auf, aber auf dieser in der Exposition gegebenen Voraussetzung schürzen sie den Knoten vor unseren Augen, dessen Lösung der Schluß des Dramas bildet. Nur einige wenige Dramen der Weltliteratur sind anders komponiert: der Knoten ist vor Beginn der Handlung geschürzt, die Verwicklung gegeben, und das Drama bringt nur die Lösung. Schritt für Schritt wird die Vergangenheit enthüllt, die Spannung des Zuschauers richtet sich nicht sowohl auf das, was geschieht, als auf das, was längst geschehen ist, und die dramatische Steigerung beruht darauf, daß die Vergangenheit immer klarer hervortritt, zugleich aber auch in ihrer unheilvollen Bedeutung für die Gegenwart immer deutlicher erkannt wird. Die vollständige Enthüllung bedingt zugleich die Katastrophe. Es ist bekanntlich der König Ödipus, der diesen Typus dramatischer Komposition geschaffen hat; nach ihm gebildet ist die Braut von Messina, und ihr folgen wiederum ─ wenn auch in weitem Wertabstand ─ die Schicksalsdramen des beginnenden 19. Jahrhunderts, am deutlichsten Müllners Schuld. Aber in all diesen Enthüllungsdramen handelt es sich um sehr greifbare äußere Taten und Schicksale, um alte Verschuldungen, die das Geheimnis deckt und die Sühne fordern, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die Robustizität, fast möchte man sagen, die Brutalität des Geschehenen, der Tatsachen, die aus der Vergangenheit hervor die Gegenwart bedrohen, ist im König Ödipus bis zu einer kaum erträglichen Stärke geführt, in der Braut von Messina zwar gemildert aber eben dadurch phantastischer und unwahrscheinlicher geworden. Die Form der Enthüllungstragödie hat sich Ibsen angeeignet, aber er hat sie im höchsten Maße verfeinert, auf das psychologische Geschehen, die innere Entwicklung übertragen und dadurch im modernen Sinne lebendig gemacht: auf diese Weise hat er das Mittel gefunden, um eine innere Entwicklung dramatisch zu gestalten. Was wir erleben, was wir mit atemloser Spannung auf der Bühne sehen, ist immer nur vergangene Seelengeschichte, die in einem entscheidenden Augenblick enthüllt und dadurch wieder zur Gegenwart wird, zur tragischen Gegenwart, denn sie führt fast stets eine unvermeidliche Katastrophe herbei wie in Nora und Rosmersholm, oder erklärt dieselbe doch, wie in den Gespenstern. Daß freilich an der vollen Anschaulichkeit, mit der eine innere Entwicklung im Roman vor unser geistiges Auge treten kann, immerhin etwas fehlt, ist nicht zu leugnen. Die Umwandlung Rebekkas müssen wir einfach glauben, und Frau Alwings Empfinden dem ungeliebten Gatten und dem geliebten Freunde gegenüber ist keineswegs in allen seinen Fasern dargelegt. Dafür aber gewinnt der Dichter den Reiz eines wirklich dramatischen Geschehens, das in dem Vorgang der Enthüllung liegt, und eine dramatische Macht der Katastrophe, die im Roman schwerlich gleich wirksam sein würde. Nur in den späteren Dramen, die mit nachlassender Kraft geschrieben sind, besonders in John Gabriel Borckmann, fehlt die zwingende Kraft, mit der die Vergangenheit lebendig wird, und damit bleibt die dramatische Wirkung aus. Diese souveräne Technik nun aber ist Ibsen so eigentümlich, wie Richard Wagner die seinige, und nur durch ein ebenso singuläres Zusammentreffen epischer und dramatischer Begabung zu erklären wie Wagners Kunst aus der musikalisch dramatischen. So bleiben die beiden Dichter, die dem modernen Drama nach zwei verschiedenen Seiten hin die stärkste Steigerung verliehen haben, notwendig Einzelerscheinungen. Der Unterschied zwischen Entwicklungs- und Enthüllungsdrama, wenn diese Ausdrücke gestattet sind, gibt uns Veranlassung, die Kompositionsformen des Dramas überhaupt einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. Auf die technischen Einzelheiten freilich können wir nicht eingehen, sie gehören in die spezielle Dramaturgie, und man mag sich darüber aus G. Freytags Technik des Dramas oder in speziellerer Fassung aus Bulthaupts Dramaturgie H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig, zul. 1902─4. orientieren. Wohl aber müssen wir uns über die Verschiedenheit der künstlerischen Grundrichtung klar werden, welche für die Entwicklung der modernen dramatischen Form von entscheidender Bedeutung geworden ist. Jede wahrhaft dramatische Dichtung (wenn auch, wie wir sahen, nicht jedes Bühnenstück) geht ihrem Wesen nach darauf aus, eine Handlung darzustellen, an der sich die Charaktere der Personen offenbaren. Die Verkettung zwischen Charakter, Taten und Leiden bilden ein für allemal die innere Form jeder dramatischen Entwicklung. Ist dem nun so, und der gesamte Verlauf unserer bisherigen Betrachtung hat es erwiesen, so erscheint es müssig zu fragen, was für die Tragödie wichtiger sei, die Handlungen oder die Charaktere. Gleichwohl hat bereits Aristoteles im sechsten Kapitel der Poetik diese Frage diskutiert, und sie hat für die Entwicklung des neueren Dramas, besonders aber für den Kampf um die deutsche Tragödie, der im 18. Jahrhundert hauptsächlich von Lessing geführt worden ist, eine geschichtliche Bedeutung. Ein Gegensatz der ästhetischen Auffassung, der zu gleicher Zeit ein solcher des nationalen künstlerischen Geistes ist, tritt darin hervor. Aristoteles erklärt sehr entschieden, daß auf Handlung und Komposition mehr Gewicht zu legen sei, als auf die Charakteristik, ja, er behauptet, ohne Handlung könne es keine Tragödie geben, wohl aber ohne ausgeführte Charaktere. Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen, sondern von Handlungen und Leben. ─ Und somit hat denn der tragische Dichter nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen, sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die Was hier zum Ausdruck kommt, ist offenbar ein Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der überlieferten Praxis der griechischen Tragödie. Die großen attischen Tragiker suchen ihre Wirkung nicht durch tiefe Einblicke in das Innenleben ihrer Personen, noch durch feinere Ausgestaltung individueller Charaktere zu erreichen. Die Charakteristik bleibt durchweg im Typischen, wie das denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren sie ihr Publikum durch die Ausgestaltung der Handlungen, durch die Macht der Situation, die sie zu erfinden oder auszuwählen wissen, und die zwingende Verkettung der Taten und Umstände, die zur tragischen Katastrophe führen. Nicht mit Unrecht hat man im König Ödipus den Höhepunkt antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an, die Situationen und Entwicklungen in künstlerischer Weise zu verwerten, in sprachlicher Hinsicht den rhetorisch dialektischen Charakter, den die Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck zu bringen. Eine spannende und erschütternde Begebenheit in kunstvollster Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie. Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition. Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus, der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also im Irrtum, wenn er glaubte, diese deutsche Kunst auf die Antike gründen und zugleich die klassisch französische Dichtung ablehnen zu können. Wie der germanische Kunstgeist, wo er zu echtem und reinem Ausdruck kommt, überall dem Charakteristischen zustrebt, so tritt auch bei Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder einer raffiniert gestalteten Handlung, und daß auch Lessing den Hauptwert auf die Charaktere legt, ergibt sich nicht nur aus Dramen, wie Minna von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. ─ Ohne Handlung kann es keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία, ἄνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ' ἄν). Faktis könne er umspringen, wie er wolle; oder wenn er sich über die raffiniert ausgestaltete Handlung der Rodogune mit boshaftem Spott aufhält. Am entscheidendsten tritt dieser Gegensatz in dem Streit über die Einheiten auf der tragischen Bühne hervor. Lessing behandelt die Einheitsregeln der Franzosen, soweit sie Ort und Zeit betreffen, als belanglose Äußerlichkeiten, die es nicht wert seien, daß ihnen auch nur ein kleinster Teil des Inhalts geopfert werde. Und gewiß hat er dem pedantischen Zwang gegenüber, mit dem diese Regeln auf dem französischen Theater durchgeführt wurden, im einzelnen recht. Allein andrerseits übersah er oder wollte übersehen, daß in dieser Strenge und Enge der Formengebung doch ein ganz bestimmter Kunstgeist zum Ausdruck kam, dem die Gesetze der französischen Bühne durchaus entsprachen, und der in seiner Art berechtigt und lebendig war, weil er aus dem nationalen Geschmack und der Zeitrichtung des grand siècle hervorging. Nur daß dieser Geist durchaus romanisch war und zu dem inneren Wesen germanischer Poesie in schroffem Gegensatz stand. Dem strengen Formengefühl romanischer Kunst entsprach es, daß das Gesetz der Einheit in schärfster Ausprägung durchgeführt wurde. Es verlangt eine einfache, gradlinige Handlung, die ununterbrochen zum bestimmten Ziel führt, nicht mehr Personen als notwendig sind, um dies Ziel zu erreichen. Es verbietet, daß sich einzelne Teile, auch wenn sie im Zusammenhang des Ganzen stehen, zu selbständiger Wirkung, zu Episoden auswachsen; und dem entspricht es nur, wenn die Handlung auch nach Raum und Zeit beschränkt wird. Daß sich die französischen Ästhetiker zum Teil mit Unrecht auf den Aristoteles beriefen, ist für die Sache offenbar unwesentlich. Sie suchten nur, wie alle Renaissancekunst und -Dichtung, für ihre eigene Stilform die Anknüpfung an das Altertum. Freilich wurde, was sich für die griechische Tragödie, bei dem geringen Umfang der Stücke und bei den ebenso geringen technischen Hilfsmitteln der Bühne, von selbst verstand, hier mit einer gewissen Willkür und Gewaltsamkeit festgelegt und festgehalten; und die Fesseln, die der dichterischen Phantasie auf diese Weise angelegt wurden, mußten auf die Dauer notwendig zu Leere und Armut führen. Demgegenüber faßt die germanische Kunst bei Shakespeare sowohl wie bei Lessing das Prinzip der künstlerischen Einheit beträchtlich lockerer und läßt damit dem Dichter einen viel weiteren Spielraum. Die Handlung der Tragödie greift weit aus; sie umfaßt eine Fülle von Einzelheiten, die sich gern zu episodischer Selbständigkeit entwickeln. Sie setzt fast stets eine größere Anzahl von Personen in Bewegung, von denen mehrere ein Interesse für sich in Anspruch nehmen. Sie beschränkt weder den Schauplatz noch die Zeit der Handlung. Ja, die Episoden wachsen zuweilen zu einer zweiten Handlung aus, die mit der Haupthandlung nur durch die eine oder die andere vermittelnde Person oder einen ideellen Zusammenhang, nicht aber durch irgend welche Notwendigkeit, die in der Handlung selbst liegt, verbunden sind. So die Fallstaff-Szenen in Heinrich IV., die Gloster-Handlung im Lear, auch die Tragödie Max Piccolominis im Wallenstein, die der Dichter freilich, so fest er es vermochte, mit der tragischen Entwicklung des Helden selbst vernietet hat. Geradezu Prinzip der Komposition ist die Doppelhandlung im Lustspiel geworden. Aus dem Bedürfnis einer fortschreitenden und interessierenden Handlung einerseits, aus der Überlieferung der Clownrolle andrerseits, auf die das Publikum, vielleicht auch der Dichter, nicht verzichten mochte, entstand auf der englischen Bühne die Gewohnheit, Szenen ernsthaften Inhalts oder feinerer Komik mit Auftritten drastisch derben Humors abwechseln zu lassen, und beide Reihen sind dann immer nur durch äußere Fäden, durch eine oder die andere gemeinsame Person oder verbindende Wendung verknüpft. So in Shakespeares Was ihr wollt, in der bezähmten Widerspenstigen, im Sommernachtstraum und Viel Lärm um nichts; im Kaufmann von Venedig ist der Parallelismus sogar ein dreifacher. Auch das französische Lustspiel des 18. Jahrhunderts zeigt die Doppelheit ernsterer und komischer Szenen, zumeist im Gegensatz zwischen Herrschaft und Dienerschaft, und seit Lessings Minna von Barnhelm ist diese Doppelheit der Handlung auf der deutschen Bühne so üblich geworden, daß nur wenige umfangreichere Lustspiele einen schlanken und einfachen Gang der Handlung zeigen: unter den klassischen Komödien besonders Kleists Zerbrochener Krug und Grillparzers „Weh' dem, der lügt!“. Im allgemeinen haben die deutschen Dramatiker von Lessing an den Mittelweg zwischen dem allzu streng bindenden Formengesetz der Franzosen und der bisweilen allzu lockeren Kompositionsweise Shakespeares gesucht, und sie haben recht daran getan. Das moderne Milieudrama jedoch ist aus inneren Gründen zu der strengeren Fassung der Einheit zurückgekehrt. Insbesondere für Ibsens Dramatik, wie sie vorhin charakterisiert worden ist, ergibt sich die Einschränkung nach Ort, Zeit und Personenzahl nicht nur zumeist selbstverständlich aus dem Inhalt und der Form der Enthüllungstragödie, sondern sie gereicht auch dem künstlerischen Gesamteindruck zum wesentlichen Vorteil. Wenn der Dichter vor allem Gefühl und Verständnis dafür erwecken will, wie die Charaktere und Handlungen seiner Personen aus ihrer Umwelt erwachsen, so kann er offenbar nichts Besseres tun, als auch die Zuschauer für die Dauer des Stückes in dem Bannkreis dieser Welt festzustellen. Wir leben einige Stunden oder Tage in dem bestimmten Umkreis, dem die handelnden Personen angehören, wir atmen drei Akte hindurch die beklemmende Fjordluft der Gespenster, die mit leisem Moderduft durchzogene vornehme Atmosphäre von Rosmersholm. Eine Intimität des Nachempfindens und Miterlebens bis in die kaum ausgesprochenen Einzelheiten hinein wird hierdurch ermöglicht, die in weiter ausgreifenden Kompositionen, wo mehr Menschen und verschiedene Schauplätze an uns vorüberziehen, ein für allemal nicht erreicht werden kann. 15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen. Mit dem Unterschied der drei Gattungen ist zweifellos eine wesentliche Verschiedenheit der formenbildenden Dichterphantasie, ihrer Schöpfungen und Wirkungen gegeben, und die klassifizierende Poetik verfuhr nicht ohne Fug und Recht, wenn sie diese Verschiedenheit ihren Einteilungen zugrunde legte. Allerdings wird nicht jedes Gedicht restlos in einer der drei Gattungen unterzubringen sein; vielmehr werden die meisten größeren Dichtungen epischer und besonders dramatischer Art Stellen enthalten, die den Charakter einer der beiden anderen Gattungen tragen. Doch es wäre falsch, aus diesem Grunde dem Gattungsunterschied überhaupt die Bedeutung abzusprechen, wie das neuerdings bisweilen geschehen ist. So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält (Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): „Die schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten.“ In der klassischen Poetik freilich tritt uns die umgekehrte Übertreibung entgegen. Wenn wir in Schillers und Goethes Briefwechsel sehen, mit welcher skrupulösen Gewissenhaftigkeit beide Dichter auf die Reinheit der Gattung achten, wie etwa Goethe den Modernen den Vorwurf macht, „daß sie die Genres zu sehr zu vermischen geneigt sind“ und als ein Beispiel dafür sein eigenes Gedicht Hermann und Dorothea anführt, das sich „von der Epopöe entfernt und dem Drama annähert“, wenn man andrerseits sieht, welche Mühe sich Wilhelm v. Humboldt gibt, um gerade im Gegenteil nachzuweisen, daß das Goethesche Epos genau den Begriff seiner Gattung erfüllt, so bemerkt man, daß hier eine übertriebene, ja falsche Vorstellung von der Bedeutung und dem Werte der Gattungsunterschiede zugrunde liegt. In der Tat ist es offenbar, daß die klassische Poetik, von Lessings Streit um die Tragödie bis auf Humboldts Erörterungen über die epische Poesie, den einzelnen Dichtungsarten spezifische Wirkungen zuschreibt, die sie nicht nur formal, sondern auch dem Inhalt und der ethischen Bedeutung nach voneinander unterscheiden sollen. Charakteristisch ist z. B. der Satz bei Humboldt (a. a. O. S. 240): „Unter allen Dichtern steht der epische auf dem höchsten Standpunkt und genießt der weitesten Aussicht, und unter allen Dichtungsarten ist die epische am meisten fähig, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen und ihn für das Leben tauglich zu machen.“ Wie sonderbar liest sich diese Behauptung für uns, die wir Goethes Faust bis zum Abschluß kennen und damit nicht in Zweifel sein können, welcher Gattung das Gedicht angehört, von dem die Wirkung, die Humboldt schildert, am stärksten und allgemeinsten ausgeht! Wie das übertriebene Gewicht, das auf die Bedeutung der Gattungsunterschiede gelegt wurde, so entspringt auch die Frage, welche Gattung die zeitlich erste gewesen sei, einer irrtümlichen Auffassung. Zwar auch heute noch hört man die Behauptung nicht selten, daß alle Poesie mit der Lyrik angefangen und die übrigen Gattungen sich aus dieser entwickelt hätten. Im Gegensatz zu dieser alt verbreiteten Meinung suchte Wackernagel (Poetik S. 42 ff.) eingehend nachzuweisen, „daß die epische Poesie die älteste und daß alle Poesie zuerst nur episch gewesen“ sei. Allein die junge Wissenschaft der Anthropologie, die der Betrachtung menschlicher Entwicklung unabsehbare Fernblicke eröffnet hat, lehrt uns mit allen Ursprungsfragen vorsichtig und mehr als dies zu sein. Sie zeigt uns, daß die Vorstellung, die sich frühere Gelehrte von ursprünglichen Zeiten und Menschen gemacht haben, zum größten Teil falsch, ja phantastisch waren und daß, was an Sprache und Sitte, an Sage und Dichtung für ursprünglich gehalten wurde, tatsächlich zumeist eine unabsehbar lange Entwicklung hinter sich hat. Was nun aber die ältesten Erzeugnisse der Poesie anbetrifft, von denen wir wissen, so scheint es, daß dieselben keine der drei Gattungscharaktere deutlich zum Ausdruck bringen, vielmehr in gewissem Sinne allen dreien gleichmäßig angehören. Die Tanzlieder und religiösen Kultgesänge, von denen zu Anfang des 9. Abschnitts (S. 93) die Rede war, enthalten zum größten Teil dramatische wie lyrische und epische Elemente, und erst allmählich, wie sich die Poesie zur selbständigen Bedeutung entfaltete, sonderten sich die einzelnen Gattungscharaktere von einander ab. Besonders traten lyrische und epische Gedichte deutlich als solche heraus, während das Drama, wie uns der vorige Abschnitt gezeigt hat, stets lyrische und epische Partien beibehielt. ─ Ist die Poesie ursprünglich nur eine, entspringen ihre Gattungen bei aller Verschiedenheit der Funktionen, in welchen der formenbildende Trieb sich äußert, doch nur einer gestaltenden Grundtätigkeit der Phantasie, so ist verständlich, daß es Dichtungsformen gibt, in denen die Charakterzüge der verschiedenen Gattungen nicht nebeneinander, wie eben vom Drama gesagt wurde, sondern miteinander verbunden, ja verschmolzen auftreten: lyrische und epische, epische und dramatische Eigenart, ja bisweilen alle drei fließen hier ineinander über. Solche Gedichte bilden somit vermittelnde Zwischenformen; sie sind bedeutungsvoll und belehrend, weil sie besonders deutlich zeigen, daß die Grenzen, welche die Begriffe der Poetik wie die Sphären der Poesie voneinander trennen, nicht mechanisch starr und fest, sondern lebendig fließend sind. Den einfachsten Typus einer solchen Zwischenform zeigt die sogenannte Rollenlyrik, wie sie z. B. die Frauenstrophen mittelalterlicher Sänger und viele entsprechende Gedichte moderner Dichter darstellen. Um an einige der bekanntesten zu erinnern: Chamissos Frauenliebe und Leben, desselben Dichters Zyklen „Tränen“ und „Die Blinde“, etwa die Hälfte der Verse in Rückerts Liebesfrühling, Goethes „Nähe des Geliebten“ (abgedruckt oben S. 124), Mörikes Verlassenes Mädchen. Diese Gedichte gehören zweifellos der Lyrik an: sie schildern nur innere Zustände, Gefühle und Gedanken, und durch diese Innerlichkeit unterscheiden sie sich von der gegenständlichen Dichtung. Aber es sind nicht seine eigenen, nicht unsere Gefühle und Zustände, die der Dichter ausspricht, sondern die einer Gestalt seiner Phantasie, die wir uns gegenständlich vorstellen müssen: das ist wiederum dramatisch. Der Dichter versenkt sich ganz und gar in das Innere eines Menschen, in dessen Situation ihn seine Phantasie versetzt: wie etwa Chamisso in den Zustand des blinden Mädchens oder der Jungfrau, die dem ungeliebten Gatten hat folgen müssen („Tränen“). Wie nahe diese Art der Lyrik dramatischer Gestaltung kommt, zeigen die sogenannten Monodramen des 18. Jahrhunderts, von denen Goethes Proserpina das bekannteste ist, besonders aber auch die Gedichte in Gesprächsform, wie sie wiederum Goethe liebt. Sein Wanderer ist ein unerreichbar schönes Beispiel dieser Art: zwei typisch verschiedene Menschen werden einander gegenübergestellt; jeder zeigt sich ganz, wie er ist und empfindet; sogar eine innere Entwicklung bleibt nicht aus. Zum dramatischen Gedicht fehlt nur die Handlung. Noch entschiedener bahnt den Übergang zur dramatischen Form die sogenannte Maskenlyrik an, das Gegenstück zu der bisher betrachteten Rollendichtung. Redet hier eine fremde Person aus dem Munde des Dichters, so spricht dort der Dichter seine eigenen Gefühle und Zustände durch fremden Mund aus. Es ist subjektive Poesie in dramatischer Form, wie man umgekehrt die Rollenlyrik dramatische Dichtung in lyrischer Gestalt nennen könnte. Die meisten Monologe in Goethes Faust, vor allem der in Wald und Höhle „Erhabener Geist du gabst mir, gabst mir Alles“, aber auch der in der Osternacht „Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet“ und der gewaltige Schlußmonolog geben anschauliche Beispiele. ─ Am eigenartigsten ausgeprägt ist der Charakter der Zwischenform, zu welcher die verschiedenen Gattungen verschmelzen, in der Ballade. Der irreführende romanische Name, der „Tanzlied“ bedeutet, ist durch ein Mißverständnis auf eine Art von Dichtung übertragen, die mit dem Tanzlied an sich nicht mehr zu tun hat als irgend eine andere Form der Poesie, und die noch dazu im Norden weit mehr zu Hause ist als in südlichen Ländern. Aus dem Altertum ist uns kein Gedicht überliefert, das in diese Kategorie gehört. Dagegen tragen eine ganze Anzahl von Eddaliedern den ausgesprochenen Balladencharakter (vgl. S. 153): man denke an Odins Ritt zur Wala (Baldurs Traum), an Brynhilds Fahrt zu Hel und viele andere. Ebenso hat das Volkslied späterer Jahrhunderte, besonders das englische und deutsche ihn mit Vorliebe gepflegt. Erst mit dem wiedererwachenden Interesse für die Volksdichtung ist die Ballade in die moderne Kunstpoesie eingedrungen, durch Herder und Bürger eingeführt, durch Goethe und die Romantiker zur Vollendung gebracht. Sie bildet daher schon ihrem geschichtlichen Ursprung nach ein interessantes Gegenstück zu den meisten Formen der klassischen Dichtung, die der Renaissance oder dem Altertum entstammen. Man pflegt die Ballade meist als ein episch-lyrisches Gedicht zu bezeichnen, und in der Tat ist das Vorherrschen des Stimmungsgehalts in diesen Gedichten ebenso unverkennbar, wie die epische Grundlage. Eine episch gegebene Situation, oder eine Reihe von solchen, wird nach ihrem Gefühlsinhalt ausgeschöpft und zwar so, daß das Ganze sich zu einer durchaus einheitlichen Stimmung zusammenschließt, die dann auch in einer festgeschlossenen, oft liedmäßigen Form zum Ausdruck kommt. Allein ebenso deutlich ist, daß dieser Form fast stets auch ein mehr oder weniger dramatischer Charakter eignet. Schon durch die Konzentration auf die Hauptmomente der gegebenen Lage und Handlung, die jede epische Breite und Anschaulichkeit ausschließt und alles äußere Geschehen nur andeutet, oft genug sogar im Halbdunkel läßt, wird die Ballade der dramatischen Szene angenähert. Und enger noch wird diese Verwandtschaft dadurch, daß es auch in der Ballade fast stets Gegensätze innerer und äußerer Natur sind, die einander schroff gegenüber gestellt werden: aus dieser Kontrastwirkung geht eine einheitliche Gesamtstimmung zumeist düsterer, oft tragischer Färbung hervor. Daher erklärt es sich, daß in den meisten Balladen die Dialogform herrscht; viele, darunter eine Anzahl besonders eindrucksvoller, bestehen nur aus einem Dialog ohne jedes erzählende oder erläuternde Wort, so die berühmte Musterballade „Edward“, so Eichendorffs „Waldesgespräch“. In vielen anderen ist das epische Element auf Einleitung und Schluß beschränkt und besteht oft nur aus wenigen einführenden und abschließenden Worten, wie im Erlkönig, in Uhlands Bertran de Born; aber auch da, wo die Erzählung mehr Raum einnimmt, steht doch zumeist ein Dialog im Mittelpunkt des Ganzen. So schon in dem eben angeführten Eddalied von Odins Ritt zur Wala, so in Goethes Fischer, dem getreuen Eckart. In anderen freilich bildet eine entscheidende Handlung den Mittelpunkt, und hier wird denn begreiflicherweise der Dichter genötigt, im eigenen Namen zu erzählen; so in den meisten Uhlandschen Balladen: das Glück von Edenhall, des Sängers Fluch, der blinde König, in Heines Belsazar, Platens Grab im Busento. Charakteristisch aber ist es, daß in nahezu all diesen Gedichten der Dichter in der Gegenwart spricht oder doch, wenn er die Erzählung im Präteritum begonnen hat, auf dem Höhepunkt stets in das Präsens überspringt. Denn dies ist offenbar das innere Wesen der Ballade, daß die Grenze zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdichtung verwischt ist und das Nacherleben unmittelbar zum Miterleben wird. Die gestaltende Phantasie des Erzählers wird so von ihren Bildern hingerissen, dass sie die epische Form durchbricht und dramatisch wird; das lyrische Element bildet dann gewissermaßen den Ausgleich zwischen den beiden anderen Gattungscharakteren. Es liegt im Wesen der Zwischenform, daß sie sich bald der einen, bald der anderen Gattung entschiedener anzunähern vermag. Die Balladen der Romantiker, besonders Brentanos und Eichendorffs, tragen nicht selten einen ausgesprochenen lyrischen Charakter: der gegenständliche Inhalt wächst hier erst aus der Stimmung hervor, nicht umgekehrt, wie bei den bisher erwähnten Gedichten. Ein Beispiel ist das Eichendorffsche Gedicht „Der stille Grund“. Die Nixe, die den nächtlichen Wanderer in ihre Kreise lockt, ist nichts als die Verkörperung der mondbeglänzten Nacht, welche die Menschen wie die Täler weit und breit verwirret. ─ Andrerseits ist eine Verbindung des Balladenhaften mit der eigentlich epischen Erzählung ebenso wohl möglich, und die meisten großen und ausgeführten Balladen Goethes stellen eine solche dar. Dabei kann selbst in längerer Erzählung der dramatisch-lyrische Charakter überwiegen, wie das in Goethes Gott und Bajadere, aber auch schon in Bürgers Leonore der Fall ist. Es können aber auch rein epische und echt balladenhafte Teile eines Gedichts nebeneinander stehen, und die Kunst des Dichters zeigt sich eben darin, beide ohne fühlbare Diskrepanz ineinander überzuführen. Das Meisterstück dieser Gattung ist die Braut von Korinth. Der Anfang setzt vollkommen episch ein (siehe oben S. 82 f.); und die Erzählung wahrt diesen Charakter, bis sie mit der sich entflammenden Leidenschaft des Jünglings allmählich die beschauliche Ruhe aufgibt und selbst dramatische Färbung annimmt. Aber auch noch im Moment der höchsten Steigerung weiß der Dichter eine sehr glückliche Kontrastwirkung zu erreichen, indem er plötzlich retardierend in den epischen Ton zurückfällt: Unterdessen schleichet auf dem Gange Häuslich spät die Mutter noch vorbei, Horchet an der Tür und horchet lange, Welch ein sonderbarer Ton das sei. Klag- und Wonnelaut Bräutigams und Braut Und des Liebesstammelns Raserei. Unbeweglich bleibt sie an der Türe, Weil sie erst sich überzeugen muß .... Schillers poetische Erzählungen dagegen gehören durchweg, mit einziger Ausnahme des Ritter Toggenburg und allenfalls des Tauchers, der reinen Epik an; und wiewohl der Dichter gelegentlich versucht, durch Weglassung von Namen und Nebenumständen ihnen etwas vom Charakter der Ballade zu verleihen, so tragen sie gleichwohl diesen Namen mit Unrecht. In Goethes Dichtung können wir deutlich solche Balladen, die den ursprünglich volkstümlichen Charakter rein bewahrt haben, von solchen unterscheiden, denen durch Sprache und Ton, zum Teil auch durch den Inhalt das Gepräge der Kunstpoesie aufgedrückt ist. Und dieser Unterschied läßt sich durch die ganze weitere Geschichte der Balladendichtung verfolgen. Auch bei Uhland tritt er hervor: der getragene Ton seiner vorhin angeführten Gedichte hebt sich scharf ab von dem volkstümlich schlichten in „der Wirtin Töchterlein“, dem „Weißen Hirsch“ oder dem „Schifflein“. Im ganzen wahrt die Ballade der Romantiker mehr die volkstümliche Richtung, so, um einige der besten zu nennen, Heines Wallfahrt nach Kevlaar und sein weniger bekannter, aber dichterisch fast ebenso hoch stehender Ritter Olaf. Fontanes beste Balladen, wie Archibald Douglas und der James Monmouth, entfernen sich nicht durch ihren Ton, wohl aber durch die stark ausgeprägten Beziehungen auf die englische Geschichte vom volkstümlich Deutschen. In den letzten Jahrzehnten ist die Balladendichtung hohen Stils von Konrad Ferd. Meyer in einer Reihe von Gedichten ersten Ranges durch neue Töne bereichert worden (Die Parze, die Ketzerin, das Geisterross u. a.). Ist es notwendig noch ein Wort über die sogenannte didaktische Poesie anzufügen, oder dürfen wir diesen Pseudogattungsbegriff, von dem schon Goethe nichts wissen wollte, nun endlich begraben sein lassen? Man begegnet ihm freilich noch heute nicht selten, und sogar Viehoff und Bruchmann Viehoff, Poetik S. 463 f. Bruchmann, Poetik S. 98 f. halten ihn aufrecht. Allein Viehoff gibt selbst zu, daß „Zweck des didaktischen Gedichts nicht zu belehren, sondern durch Verstandes- und Vernunftvorstellungen zu erheben, zu begeistern, ästhetische Lustgefühle zu erregen“ sei. Und damit ist der Begriff der belehrenden Dichtung als solcher offenbar gerichtet. Er ist aus einem logischen Fehler in der Einteilung hervorgegangen, wie man mit Recht hervorgehoben hat, da er den drei Formengattungen als eine inhaltliche Kategorie zur Seite tritt. Entscheidender jedoch ist, daß es eine Poesie, die durch einen lehrhaften Zweck bestimmt wird, nicht geben kann. Belehrung in metrischer Form und dichterischem Ausdruck ist so wenig Poesie, wie farbige Illustrationen zu medizinischen und physikalischen Büchern Malerei sind. Der Irrtum ist, wie man gerade aus Viehoff deutlich ersieht, nur durch Verwechslung mit der Gedankenlyrik aufrecht erhalten. Allein wir wissen aus dem elften Abschnitt, daß diese Dichtung nicht lehren, sondern veranschaulichen und durch die Anschauung aufs Gefühl wirken will. Selbst die gnomische Poesie, die den lehrhaften Charakter am meisten trägt, verliert, wenn sie die Gefühlswirkung aufgibt und rein verstandesmäßig wirken will, den dichterischen Charakter. Auch die Fabel, auf die man sich gleichfalls beruft, ist nicht deshalb Poesie, weil sie moralische Wahrheiten überliefert, sondern nur deshalb, weil sie diesen Wahrheiten symbolisch anschauliche Gestalt verleiht. Diese Gestaltung kann an sich so poetisch sein, daß man die moralische Bedeutung darüber fast vergißt, wie das z. B. in den Lafontaineschen Fabeln der Fall ist; sie kann andrerseits durch die Kunst des Aufbaus und der Zuspitzung wirken, wie in der eigentlichen Aesopischen Fabel: von Lessings Fabeln z. B. darf man sagen, daß sie gewissermaßen epische Epigramme sind. Freilich nähern sie sich eben hierdurch, wie das Epigramm selber, dem rein Verstandesmäßigen und damit den Grenzen der Poesie. 16. Die Stoffgebiete der gegenständlichen Dichtung. Der Lyrik ist ihr Gebiet ein für allemal gegeben: es ist das Innenleben des Dichters, sein Fühlen und Denken. Und daß die äußeren Vorgänge, aus denen die inneren Erlebnisse des Lyrikers und somit indirekt seine Schöpfungen hervorgehen, für das Verständnis dieser Schöpfungen nicht wesentlich sind, ist bereits S. 120 f. gezeigt worden. Anders verhält es sich mit den gegenständlichen Gattungen der Poesie. Zwar kommt auch hier, wie wir (S. 47, 48) gesehen haben, einer systematischen Inventarisierung der Stoffe und Motive keine wissenschaftliche Bedeutung zu, und selbst die geschichtliche Behandlung der einzelnen Motive hat nur einen untergeordneten Wert für die Einsicht in das Wesen dichterischer Gestaltung. Betrachtet man aber die Stoff gebiete im großen, die dem Epiker und Dramatiker zu Gebote stehen und auf denen alle gegenständliche Dichtung erwächst, so lassen sich für das Verhältnis der Poesie zu bestimmten allgemeinen Seiten des geistigen Lebens doch mancherlei belehrende Aufschlüsse gewinnen. Der bloß genießende Leser, der literarische Laie, ist zumeist geneigt, einen besonderen Nachdruck auf den Unterschied zwischen erfundenen und übernommenen Stoffen zu legen; allein hier belehrt uns die geschichtliche Betrachtung in der Tat eines Besseren. Sie zeigt, daß dieser Unterschied nur ein relativer ist. Fast jede größere Dichtung geht aus Überlieferung und Erfindung hervor, nur daß beide in den verschiedenen Werken in ungleichem Maße gemischt sind. Auch der scheinbar völlig frei erfundene Stoff enthält immer Momente einer literarischen Überlieferung, und selbst die in einer festen Tradition übernommene Fabel wird der Dichter stets durch eigene Erfindungen seinem Geist und seinem künstlerischen Zweck anpassen. „Es erscheint uns“, sagt Fr. Spielhagen (Beiträge S. 34), „die Tätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß nicht etwa das eine Moment nach dem anderen einträte oder die beiden Momente nebeneinander wirksam wären, sondern daß sie fortwährend ineinander spielen: sich beständig eines in das andere umsetzen. Man kann sie deshalb wohl gedanklich immer auseinander halten, aber ihre Einzelexistenz in den seltensten Fällen überzeugend nachweisen. Von der einen Seite betrachtet, scheint dem Künstler alles gegeben, nichts von ihm erfunden: von der anderen alles von ihm erfunden, nichts ihm gegeben. Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben: jedes Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden muß.“ Ist somit dieser Unterschied nicht von prinzipieller Bedeutung, so kommt es vielmehr darauf an, die Gebiete festzustellen, die für Überlieferung und Erfindung den gemeinsamen Boden bilden. Das älteste und ehrwürdigste derselben ist der Mythos. Alle ursprüngliche Dichtung behandelt ausschließlich mythische Stoffe, und je weiter die literarische Forschung in entlegene Zeiten hineingeleuchtet hat, desto deutlicher hat sich gezeigt, daß die Ausbildung einer gestaltenden Mythologie von der Arbeit dichterischer Formgebung gar nicht zu trennen ist, vielmehr beides beständig ineinander greift. Dies gilt auch noch für Zeiten hoher Entwicklung, soweit sie den Zusammenhang mit der mythenbildenden Anschauung nicht verloren haben, vor allem also für die Epoche der griechischen Tragödie. Wir wissen, daß ein großer Teil der Gestalten und Fabeln, welche die philologische Überlieferung als griechische Mythologie zusammenfaßt, Erfindungen der großen Dichter des 5. Jahrhunderts sind. Erst mit dem Absterben des Mythos hört seine Weiterbildung auf. Wo sich nun aber der Mythos in lebendiger Entwicklung erhält, wo er, wie bei den Hellenen, einem künstlerisch regen Gestaltungstrieb entspringt und wiederum einen solchen befruchtet, da bringt er der Poesie unleugbar die größten Vorteile. Das Volksepos kann, wie die Literaturgeschichte lehrt, überhaupt nur auf solchem Boden erwachsen und gedeihen. Allerdings von seiner Entstehung können wir uns heute, nachdem die Fernsichten, die eine gefällige Phantasie der Wissenschaft zu eröffnen schien, als trügerisch erkannt sind, nur schwer eine Anschauung machen. Einen deutlichen Begriff aber von dem Wert, den der lebendige Mythos für den Künstler hat, gibt uns das Schaffen der griechischen Tragiker, das uns nach seinen wesentlichen Bedingungen und Charakterzügen wohl bekannt ist. Sicher ist es, daß die Empfänglichkeit eines nationalen Publikums auf keinem anderen Gebiete dem Dichter in gleicher Weise entgegenkommt, seine Produktion in demselben Maße erleichtert, wie auf dem mythologischen. Zunächst findet er hier das unmittelbarste Verständnis, denn der Mythos setzt bestimmte Anschauungen nur soweit voraus, als das Volk selbst sie hervorgebracht hat, in diesem Falle also nur die Kenntnis der Götter und ihrer Bedeutung sowie etwa der allgemeinsten poetischen und sozialen Verhältnisse der Heroenzeit. Zum Verständnis bedarf es also keinerlei „Bildung“ oder gar Gelehrsamkeit, keinerlei Welterfahrung, überhaupt keinen weiteren Gesichtskreis, als ihn eben der nationale Horizont bietet. Über diesen technischen Vorzug hinaus aber ist es noch wesentlicher, daß sich Dichter und Publikum auf einem Gebiete finden, welches beide von vornherein gleichmäßig interessiert. Die gemeinsamen Instinkte des Volkslebens, die Richtungen der volkstümlichen Phantasie kommen sich hier entgegen und beleben die Dichtung wie ihre Wirkungen. Die Lieblingshelden nationaler Überlieferung, Agamemnon und Orest, Herakles und Theseus, sind noch ehe sie gesprochen haben, lebendiger Teilnahme gewiß. Endlich kommt hinzu, daß der Stoff, eben weil er nicht an bestimmte geschichtliche oder soziale Voraussetzungen gebunden ist, eine nahezu unbegrenzte Bildsamkeit besitzt und jeder Weiterführung, jeder Neuschöpfung des Dichters freiesten Spielraum gibt, ja auch für diese das Interesse des Publikums gewissermaßen im voraus sichert. Es ist daher begreiflich, wenn neuere Dichter es als schmerzlichen Nachteil empfunden haben, daß ihnen nicht vergönnt war, aus dem Quellenreichtum eines nationalen Mythos zu schöpfen, daß ihnen die Wirkung auf ihr Volk durch das Fehlen eines solchen erschwert wurde. Diese Empfindung war es zum Teil, was unsere klassischen Dichter immer wieder zum Griechentum und seiner Poesie zurückzog; und die Romantiker träumten davon, aus modernen Naturanschauungen heraus eine neue Mythologie zu schaffen, die ihnen und ihren Nachfahren die Quelle einer neuen dichterischen Entwicklung werden sollte. R. Haym, Romantische Schule S. 648, 692. ─ Hierhin gehören auch die geistvollen Betrachtungen bei Richard Wagner, Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte Schriften und Dichtungen, 4. Band 3 S. 31 ff.). Dennoch ist nicht allein der Gedanke, einen Mythos künstlich zu produzieren, in sich widersprechend und unmöglich, sondern auch das Zurückgreifen auf den alten, wenn er einmal abgestorben und nur literarisch überliefert ist, erweist sich schwieriger und weniger fruchtbar, als man nach den zahlreichen Versuchen, die seit der Renaissance dazu gemacht worden sind, annehmen sollte. Nicht nur, daß jene Vorteile, die aus dem nationalen Charakter des Mythos entspringen, naturgemäß verloren gehen, sobald er zu fremden Völkern übertragen wird; es liegt auch in seinem allgemeinen Wesen begründet, daß seine Stoffe den Bedürfnissen der modernen Dichtung nur in sehr eingeschränktem Maße entgegenkommen. Der Vorzug, den diese Stoffe an sich besitzen, ist vor allem die Großzügigkeit des Geschehens, das sich durchweg um außerordentliche Taten und Ereignisse, um Leben und Tod, Herrschaft oder Knechtschaft, vererbten Fluch und seine Lösung bewegt. Diese großzügige Bedeutsamkeit erregt nicht nur ein unmittelbares Interesse an der Handlung, sondern erleichtert es dem Dichter auch, seine Darstellung in das Licht des Typischen zu erheben. Dagegen fehlt dem Mythos fast durchweg jeder tiefere psychologische Gehalt, ja es liegt in seiner Natur, daß er einer seelischen Vertiefung oder Verfeinerung im allgemeinen gar nicht fähig ist. Eben jene gewaltigen Gegensätze, die in übermenschlichen Zügen und machtvollen Eindrücken zu unserer Phantasie sprechen, entziehen sich einem eindringenderen psychologischen Verständnis, und die typische Natur der Handlungen und Charaktere verhält sich jeder Individualisierung gegenüber spröde. Die oft hervorgehobene Tatsache, daß die Dramatik der Alten zu einer individuellen Charakteristik nicht gelangt ist, daß, wie Goethe es ausdrückt, „die Personen der griechischen Tragödie eigentlich nur idealische Masken“ sind, hängt offenbar aufs engste mit dieser Natur ihrer Gegenstände zusammen (vergl. oben S. 179). Daher mag zwar eine stilisierende Formenkunst, wie es die klassische Tragödie der Franzosen war, sich mythischer Stoffe ohne Nachteil bedienen; einen solchen aber mit modernem Lebensgefühl zu erfüllen, ist nur ausnahmsweise einem überragenden Genius geglückt: Goethes Iphigenie ist das einzige vollkommene Beispiel in der modernen Poesie, und auch sie ist als Kunstwerk nur dadurch möglich geworden, daß der Dichter sich auf eine großzügige und dem Typischen angenäherte Seelenmalerei beschränkt hat. Nach ihr dürfen Grillparzers Goldenes Vließ und auch Hebbels Gyges genannt werden, wiewohl der Widerstreit zwischen dem Phantastischen, zum Teil auch Brutalen der Handlungen und dem verfeinerten psychologischen Empfinden der modernen Dichter hier schon unverkennbar hervortritt. Höchst lehrreich sind in dieser Hinsicht zwei Dramen aus den letzten Jahren: Hugo v. Hofmannsthals Elektra und desselben Dichters „Ödipus und die Sphinx“. Besonders die Elektra ist ein interessanter Versuch, die tragische Dichtung des Sophokles zu erneuern, indem die Handlung fast Szene für Szene dem großen attischen Tragiker entnommen, aber mit dem ganzen Raffinement moderner Individualpsychologie und gleichzeitig mit Gesichtspunkten kulturhistorischen Charakters erfüllt wird. Allein dieser Versuch, mit soviel Geist und Sprachgewalt er unternommen ist, scheitert an der Natur des Stoffes, und gerade Hofmannsthals Dichtung zeigt deutlich, warum er scheitern muß. Die Atridensage und ihre Darstellung wirkt auf uns nur so lange ästhetisch, wie wir sie in einer gewissen Entfernung und mit dem Gefühl des Abstandes sehen, nur solange die handelnden Personen als Heroen in übermenschlicher Größe und mit einer gewissen Fremdartigkeit vor uns hintreten. Sobald wir aber den Eindruck bekommen, daß diese Personen Menschen sind, die fühlen und empfinden, leiden und handeln wie wir selbst, so ist uns der Muttermord auf der Bühne, so sind uns die übrigen Greueltaten, von denen die Sage berichtet, unerträglich. Wenn wir sie glauben müssen ─ und der Dichter zwingt uns dazu ─, so fallen sie uns auf die Nerven, erregen Abscheu und lassen keine künstlerische Erhebung aufkommen. Diese deprimierende Wirkung hat wohl jeder erfahren, der Hofmannsthals Elektra einmal in einer guten Aufführung gesehen hat, und das absprechende Urteil der Vertreter der Altertumswissenschaften wird hieraus begreiflich, wenngleich es der dichterischen Bedeutsamkeit des Versuchs nicht gerecht geworden ist. Weit eher als für die psychologisch vertiefende Durchbildung sind mythische Stoffe für die musikalische Behandlung geeignet, wie ja auch die antike Tragödie zum Teil ein musikalisches Kunstwerk war. Es ist daher begreiflich, daß die Oper der späteren Renaissance und der klassischen Zeit mit Vorliebe sich solcher Stoffe bemächtigte, und niemand wird leugnen, daß in einem Werke wie Glucks Iphigenie in Tauris auch die dramatischen Momente des Stoffes mächtig zur Geltung kommen. So erklärt sich Richard Wagners zugleich künstlerisch durchgeführte und theoretisch ausgesprochene Anschauung vom Werte des Mythos. Ausführlich dargelegt in der S. 190 Note bezeichneten Stelle. Er sah in diesem den ein für allemal gegebenen und durch nichts anderes ersetzbaren Stoff für das musikalische Drama, das ja seinerseits ein Ersatz oder eine Weiterbildung der antiken Tragödie sein sollte. Auch ist ihm die dichterische Gestaltung einer Reihe von christlichen Sagenstoffen, die dem modernen Empfinden leicht zugänglich sind, in vollendetem Maße geglückt; am meisten im Tannhäuser, wo der typische Gegensatz zwischen dämonischer Sinnenlust und vergeistigter Liebe musikalisch und dramatisch zu gleich vollendetem Ausdruck gekommen ist, aber auch im Tristan und schon vorher im Fliegenden Holländer. Dagegen ist das Unternehmen, die schattenhaften, unserem Verständnis wie unserer Phantasie fast gänzlich fremd gewordenen Gestalten der nordischen Walhalla mit Leben und Blut zu erfüllen, gescheitert; und der Erfolg des Nibelungenrings ist, abgesehen von einer Anzahl dichterisch schöner Einzelheiten, fast ganz auf Rechnung der Musik zu stellen. Das gewaltsame Streben, die typische Bedeutsamkeit einer märchenhaften Handlung ins Philosophische zu steigern, kann innerliche Lebendigkeit und psychologische Vertiefung unmöglich ersetzen. Etwas Ähnliches ist auch von dem weit schwächeren Nibelungenepos Jordans zu sagen, das mit Wagners Ringdichtung ungefähr gleichzeitig entstanden ist und sich in derselben Richtung bewegt. Dahingegen ist es Hebbel zweifellos und als Einzigem geglückt, Handlung und Charakter des Nibelungenlieds zu tiefer und echt dramatischer Wirkung zu bringen, indem er es verstand, aus dem mythischen Geschehen einen geschichtlichen Gegensatz gewaltigster Art hervortreten zu lassen. Denn die Mythologie überhaupt ist nach dem heutigen Stande unsrer Kenntnis nicht so einseitig, wie man früher annahm, aus personifizierenden Naturanschauungen hervorgegangen: sie ist vielmehr stark mit Elementen geschichtlicher Erinnerung versetzt, und Dramen wie der Agamemnon des Äschylos, oder die Sieben gegen Theben müssen dem griechischen Publikum wohl den Eindruck geschichtlicher Dichtungen gemacht haben. Die Eigenschaften nun, welche der geschichtliche Stoff mit dem mythischen teilt, Großzügigkeit und typische Bedeutsamkeit, sind es zweifellos, die zuerst dramatische Dichter zu diesem zweiten großen Stoffgebiet hingezogen haben, und Aristoteles macht an der bekannten Stelle der Poetik (c. 9) offenbar zwischen beiden keinen Unterschied: ihm ist der typische Gehalt, den der Dichter in das einmal und zufällig Geschenene legt, das Wertvolle in der geschichtlichen Dichtung. καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν. ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου ἡ δ'ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει. Die klassische französische Tragödie (Cinna, Athalie) hält sich deutlich auf demselben Standpunkt. Aber auch Dichtungen wie Schillers Fiesko und besonders Goethes Egmont haben im Grunde noch das gleiche Verhältnis zur Geschichte. Lessing schreibt in einer Reihe von Stellen der Dramaturgie den Wert solcher Stoffe ausschließlich der Bedeutsamkeit der überlieferten Charaktere zu, während ihm die „Fakta“ gleichgültig erscheinen; daher er dem Dichter auch das Recht zuspricht, mit diesen umzuspringen, wie es ihm beliebt, solange nur die Charaktere nicht beeinträchtigt werden (Stück 23, 24, 31─34). Tatsächlich würde sich hiernach für die geschichtlichen Stoffe nahezu die gleiche Bildsamkeit und Veränderungsfähigkeit ergeben wie für die mythischen; denn auch hier stehen ja die Gestalten in großen Zügen fest, während die Handlungen im einzelnen vielfach verändert und zu dichterischen Zwecken umgeformt werden können: es würde somit ein Wesensunterschied kaum noch erkennbar sein. Nun aber hat das Interesse an der historischen Dichtung noch eine Quelle ganz anderer Art. Es ist der geschichtliche Sinn in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, der Reiz, den alles, was einmal war, unmittelbar auf uns ausübt, die Freude daran, eine vergangene Welt mit ihren Menschen und Verhältnissen, die uns so nah und doch so fern stehen, in der Phantasie anzuschauen und ihr Leben zu erneuen. Dieses Interesse ist um so stärker, wenn wir die dargestellte Welt als unsere Vergangenheit empfinden, d. h. wenn wir uns durch die Einheit der Nationalität oder der Kultur mit ihr verbunden fühlen. Die Historiendichtung in diesem Sinne tritt uns zuerst in der englischen Literatur, vor allem bei Shakespeare entgegen; und auch hierin zeigt sich der tiefe Gegensatz zwischen dem Charakter dieser und der französischen Renaissancedichtung. ─ Im Gegensatz zu den Franzosen, aber freilich auch zu Lessings rationalistisch einseitiger Auffassung, schuf dann Goethe mit dem Götz die erste geschichtlich empfundene Historiendichtung der Deutschen; mit liebevollem Verständnis wandte er sich der Vergangenheit des eigenen Volkes zu und bildete mit freudigem Interesse die nationalen Charakterzüge nach, die ihm als die dauernd wertvollen erschienen. Auf umfassendere geschichtliche Studien begründet, von tieferem Verständnis für vergangene Wirklichkeit und einer kräftigeren historischen Phantasie getragen, erstand im Wallenstein die größte geschichtliche Dichtung des 18. Jahrhunderts, ja, der deutschen Literatur überhaupt. Auf einer breiten Unterlage treuer und ins einzelne durchgeführter Schilderung der Menschen und Verhältnisse, der Soldaten, Offiziere und Staatsmänner des dreißigjährigen Krieges erhebt sich das monumentale Bild des Helden, plastisch zugleich und lebendig, seine nicht minder lebensvoll dargestellte Umgebung überragend, der künstlerisch entworfene allgemeine Typus einer genialen Herrschernatur und doch zugleich mit jeder Faser ein Sohn seiner Zeit, ihrer geschichtlich gegebenen Verhältnisse und Anschauungen. Schiller selbst hat die Höhe dieser Meisterschöpfung nicht wieder erreicht, und sie ist trotz allem, was man gegen Einzelheiten mit mehr oder weniger Recht eingewendet hat, in der Kraft und Tiefe ihrer Charakterschilderung, in dem Reichtum der historischen Anschauungen ein Vorbild für jede spätere geschichtliche Dichtung geblieben. Ihr gewaltiger Einfluß zeigt sich darin, daß die bloß typische und unhistorische Behandlung historischer Stoffe fortan unmöglich wurde. Zwar hat Schiller in der Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans in dieser Hinsicht selber Schritte nach rückwärts getan, besonders die Jungfrau ist ein interessanter Versuch, geschichtliche Ereignisse in die typische Allgemeinheit und Voraussetzungslosigkeit mythischen Geschehens aufzulösen. Auch vom Tell könnte man etwas Ähnliches sagen, wenn hier nicht das kulturhistorische und landschaftliche Element eine sehr bestimmte Ausprägung erhalten hätte. Aber im Demetrius ist der Dichter entschieden zu den Grundsätzen des Wallenstein zurückgekehrt, und die historische Dichtung des 19. Jahrhunderts bekennt sich fast ausnahmslos zu diesen Grundsätzen, d. h. sie strebt anschauliche Wiederbelebung der Vergangenheit in ihren festen Umrissen und ihrer geschichtlich bestimmten Eigenart an, natürlich ist es den Dichtern je nach ihrer Begabung in sehr verschiedenem Maße gelungen, das Ziel zu erreichen. ─ Von Anfang an ist diese Richtung aufs anschaulich Historische für die geschichtliche Roman- und Novellendichtung maßgebend gewesen, von der wir im 13. Abschnitt (S. 157) gehandelt haben. Walter Scott und Willibald Alexis, Viktor Scheffel wie W. Riehl und Konrad Ferdinand Meyer stimmen bei aller sonstigen Verschiedenheit ihres künstlerischen Charakters darin überein, daß sie die Vergangenheit in ihrem eigenartig bestimmten Leben, und nicht nur in ihrer typischen Bedeutsamkeit, lebendig machen wollen. Hiermit erwächst nun aber der Historiendichtung eine entscheidende Schwierigkeit. Das Bedürfnis nach psychologischer Vertiefung, nach Intimität in der Schilderung seelischer Zustände und Vorgänge, hat im Laufe der letzten Menschenalter immer mehr zugenommen und auch die Auffassung geschichtlicher Vergangenheit aufs entschiedenste beeinflußt. Weder auf der Bühne noch im historischen Roman ertragen wir die Könige, die mit der Krone zu Bette gehen, wie im Kindermärchen. Das weltgeschichtliche Posieren, die programmatischen Reden und Wendungen, an denen die ältere historische Dichtung so reich ist, erscheint dem verfeinerten geschichtlichen Gefühl hohl und äußerlich. Wir wollen die seelischen Seiten der Vorgänge, das menschlich Charakteristische auch in den Personen der Geschichte erblicken. Wenn uns die Dichtung dies nicht zu zeigen vermag, so wenden wir uns lieber an die großen Historiker selbst, um das, was sie bieten, aus erster Hand zu schöpfen. Denn auch die Kenntnis der Geschichte hat ja in den letzten Menschenaltern an Fülle und Leben wie an Tiefe und Innerlichkeit gewaltig gewonnen, und die Lebensarbeit der großen Geschichtsschreiber von Niebuhr und Ranke an ist auf die historische Bildung des deutschen Publikums nicht ohne Einfluß geblieben. Aber der Zuwachs an geschichtlichem Wissen und Verstehen bleibt hinter der Steigerung des historischen Sinnes und des psychologischen Bedürfnisses notwendigerweise zurück. Je schärfer wir den Blick einzustellen gelernt haben, desto deutlicher bemerken wir den Mangel scharfer Umrisse in den Fernen geschichtlichen Geschehens. Je mehr wir gelernt haben, uns selbst und das innere Leben unserer Zeitgenossen zu belauschen, desto stärker empfinden wir es, daß die Zeit, oft schon weniger Generationen, eine trennende Macht ist, daß die Menschen der Vergangenheit nicht so fühlten und wollten wie wir und daß auch die großen allgemein menschlichen Züge in den verschiedenen Zeiten und Breiten besondere Färbungen, unscheinbare und doch wesentliche Abweichungen zeigen, die wir schwer oder gar nicht fassen können. Daher kann es heutzutage nur einem außergewöhnlich glücklichen Zusammentreffen gelingen, eine Historiendichtung hervorzubringen, die unserem künstlerischen und geschichtlichen Bedürfnis gleichmäßig entspricht. Nur wo ein Dichter, der die Tiefen seelischen Geschehens zu erfassen und darzustellen vermag, sich mit andauerndem Studium in ein Zeitalter hineinlebt, für welches die Quellen einigermaßen reichlich fließen, nur da wird es ihm glücken, Menschen und Ereignisse lebendig zu machen, und kaum für mehr als ein solches Zeitalter wird die Kraft und der Raum eines Dichterlebens ausreichen. So hat es Konrad Ferdinand Meyer vermocht, die Zeiten der Renaissance und der Gegenreformation zu psychologisch echter und künstlerisch lebendiger Wirkung zu bringen. Mit der Hebung des historischen Sinnes hängt es ferner zusammen, daß jene Scheidung zwischen Tatsachen und Charakteren, durch die Lessing dem Historiendichter Freiheit schaffen wollte, sich nicht aufrecht erhalten läßt. Wir wissen zu genau, wie eng und notwendig beide miteinander verknüpft sind, als daß es uns möglich schiene, sie zu trennen: wenn Lessing es als gleichgültig ansieht, ob die liebende und eifersüchtige Elisabeth des Essex-Dramas achtundsechzig oder dreißig Jahre alt ist, so irrt er offenbar: es ist das nicht bloß ein äußerlicher Umstand, sondern er verändert den psychologischen Charakter der Vorgänge von Grund aus. Andrerseits erhöht auch die zunehmende Sicherheit und Verbreitung historischer Kenntnisse die Schwierigkeit seiner Aufgabe für den Historiendichter. Denn sie erschwert es ihm, dem Bedürfnis nach psychologischem Verständnis in der unmittelbarsten Weise, nämlich durch freie dichterische Phantasie, entgegenzukommen. Die Dichter des 18. Jahrhunderts machten sich keinerlei Gewissensbedenken daraus, geschichtliche Ereignisse da, wo sie nicht verständlich oder mit dem seelischen Leben ihrer Gestalten nicht im inneren Einklang schienen, nach Belieben abzuändern. Wir wissen, wie Goethe mit dem geschichtlichen Egmont, wie Schiller mit Elisabeth und Maria Stuart, mit den englisch-französischen Eroberungskriegen umgesprungen ist. Aber eine solche Methode ist nur da möglich, wo das Publikum die historische Wirklichkeit nicht kennt oder wenigstens kein lebendiges Bild von ihr hat. Schon Gustav Freytag bemerkt sehr richtig, daß der Dichter in dieser Hinsicht von dem Wissensstande seines Publikums abhängt. „Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein für seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete.“ (Technik des Dramas S. 15 10 .) Denn es ist unerträglich und muß jede künstlerische Wirkung hemmen oder vernichten, wenn die Vorgänge, die wir auf der Bühne sehen oder gar in ruhiger Beschaulichkeit lesen, mit unserem Wirklichkeitssinn in Zwiespalt geraten, wenn unser besseres Wissen dem Dichter widerspricht. Kurz, die geschichtlichen Stoffe haben die Vorzüge verloren, die ihnen früher mit dem Mythos gemeinsam waren. Sie haben ihre Bildsamkeit eingebüßt, und selbst die Großzügigkeit der Vorgänge gerät mit dem psychologischen Bedürfnis und dem verfeinerten historischen Sinn des modernen Geistes leicht in Widerspruch. Wir lassen uns die Al Fresco- Malerei Dahnscher Romane oder Wildenbruchscher Tragödien gefallen, allein sie haben, auch wenn sie uns im Augenblick erschüttern, für unser Gefühl etwas Opernhaftes und wir behalten keine nachhaltige Wirkung zurück. Noch weit entschiedener aber wachsen Ansprüche und Schwierigkeiten, wenn der Dichter einen Stoff aus der nahen und nächsten Vergangenheit behandelt. Man sieht wohl den Grund, warum es bisher zu einer dichterischen Gestaltung Friedrichs des Großen noch niemals, zu einer solchen Napoleons nur vereinzelterweise gekommen ist. Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238. Selbstverständlich soll mit diesen Betrachtungen nicht das Ende der Historiendichtung proklamiert werden. Nur steigende Schwierigkeiten, keine Unmöglichkeiten treten ihr hindernd entgegen. Und man darf vielleicht mit einer gewissen Zuversicht hoffen, daß der Dichter kommen wird, dem es gelingt, jene Schwierigkeiten zu überwinden und uns eine neue geschichtliche Poesie zu schaffen, die unserem Bedürfnis, unserer Weise, Geschichte zu sehen, entspricht. Ansätze dazu fehlen nicht. Auf Konrad Ferdinand Meyer ist bereits hingewiesen, und daß die jüngere Dichtergeneration wenigstens die Richtung sowohl wie die Hindernisse kennt, die ihr entgegenstehen, ist immerhin ein gutes Zeichen. Inzwischen geht aus diesen Betrachtungen doch eines mit Sicherheit und Klarheit hervor, daß es nämlich nicht Willkür noch Zufall, sondern innere Notwendigkeit ist, wenn die Dichter unserer Zeit sich mit fast ausschließlicher Vorliebe dem dritten der vorhandenen Gebiete, dem unmittelbaren Leben der Gegenwart zuwenden, wenn die sozialen Gegensätze, die seelischen Zustände und Verwicklungen des modernen Menschen ihnen fast durchweg die Gegenstände dichterischer Behandlung darbieten. Denn nur hier ist jene Intimität des Erlebens und Nacherlebens, jene Unmittelbarkeit und Fülle des Sehens möglich, aus der eine tiefe dichterische Wirkung auf die lebende Generation allein hervorgeht; und nur Stoffe, die in der Gegenwart erwachsen oder die frei gestaltet sind, bieten dem Dichter jene Bildsamkeit, die er bedarf und die dem Mythos und der Geschichte abhanden gekommen ist. Auch früheren Zeiten waren solche Stoffe nicht fremd: das Altertum hat im Mimus sowohl wie in der unter seinem Einfluß entwickelten nacharistophanischen Komödie Vorgänge und Typen aus dem zeitgenössischen Volksleben behandelt und auch den Sitten- oder Milieuroman gekannt, wie besonders Petronius beweist. Seit seiner Wiedergeburt im 18. Jahrhundert hat der Roman fast stets ins Leben gegriffen, und an seiner Hand entdeckte das bürgerliche Drama, das lange neben der mythologischen und historischen Dichtung ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, allmählich die reiche Welt von Stoffen, die auch der tragischen Bühne in nächster Nähe erwächst. Hatten die früheren Dramatiker mit Vorliebe sich dem Reiche des Mythos oder der Geschichte zugewandt, weil es ihnen mannigfaltiger, interessanter und erhabener schien, so fand der erwachende und erstarkende Wirklichkeitssinn der Gegenwart nur hier, was er bedarf: die Möglichkeit treuer Wiedergabe des äußeren, besonders aber des inneren Lebens. In dieser Hinsicht gewährt die Entwicklung Ibsens ein typisches Bild. Nach energischen Versuchen, ein Stück Geschichte seelisch zu vertiefen (die Kronprätendenten, Kaiser und Galiläer) und einem anderen, in völlig freiem phantastischem Bilde die innere Entwicklung eines Seelenlebens zur Klarheit zu bringen (Peer Gynt), ergreift der Dichter endgültig das Leben seiner Zeit und seiner Heimat mit seinen sozialen und psychologischen Erscheinungen, um hier erst zur Meisterschaft zu gelangen, einer Meisterschaft, die sich nicht nach außen, sondern nach innen entfaltet, nicht in größerer Ausbreitung, sondern in zunehmender Vertiefung kundgibt und aus der Beschränkung auf die Wirklichkeit ihre stärksten Wirkungen erzielt. Die Gegensätzlichkeit in der Wahl der Stoffe hängt ─ soviel hat uns diese Betrachtung gelehrt ─ mit einer tiefen Verschiedenheit der künstlerischen Instinkte und Richtungen zusammen. Eine solche aber wird sich auch in der Formgebung und darüber hinaus in der inneren Gestaltung, in der Eigenart des Gefühlslebens, mit dem die Dichtungen erfüllt sind, kund tun. Diesen weittragenden Besonderheiten der künstlerischen Richtung wollen wir uns nunmehr zuwenden. Vierter Teil. Die Richtungen der Poesie. ─── 17. Naturalismus und Idealstil. Die Poesie wird in dem ganzen Umfang ihrer inneren und äußeren Formen durch den Gegensatz der beiden Stilrichtungen beherrscht, welche man mit dem Namen Naturalismus und Idealstil bezeichnet. (Das Wort Realismus, das man früher für Naturalismus zu verwenden pflegte, drückt nicht mit gleicher Schärfe aus, worauf es ankommt, und wird daher besser für die gemilderte und abgeschwächte Form der Wirklichkeitsdichtung verwandt.) Dieser Gegensatz wird gewöhnlich durch die Streitfrage gekennzeichnet, ob in der Kunst die Wahrheit oder die Schönheit der letzte Zweck sei, und welches von diesen beiden Idealen sich dem andern unterzuordnen habe. Genauer gefaßt lautet das Problem: ist das Höchste, was die Kunst erreichen kann und will, die nachahmende Darstellung des Wirklichen oder strebt sie vielmehr eine Erhöhung der Wirklichkeit an? Es ist derselbe Gegensatz, der uns auf dem Gebiete der Plastik und Malerei als der Kampf der schönen und der charakteristischen Kunst entgegentritt. Die Mittel, die Wirklichkeit zu erhöhen, oder wie es unsere Klassiker gern ausdrückten, die Darstellung über das Gemeine zu erheben, findet die Poesie naturgemäß zunächst in den ihr eigenen Formenelementen, also in Sprache und Metrum, und hier tritt daher der Gegensatz zwischen naturalistischem und idealem Stil am deutlichsten hervor. Schon die bloße Anwendung eines festen Rhythmus erhebt die Sprache der Poesie über die der Wirklichkeit, ja sie ist äußerlich das sicherste Unterscheidungszeichen zwischen beiden. Daher wird der Idealstil stets einer metrischen Gestaltung zuneigen, der Naturalismus dagegen sie verwerfen. Der Weg von der naturalistischen Richtung der Sturm- und Drangperiode zum Klassizismus wird durch nichts so deutlich wie durch den Übergang von der Prosa, die in Goethes und Schillers Jugenddramen herrschte, zu der rhythmisierten Sprache und, in der weiteren Entwicklung, zu den Versen der Iphigenie und des Don Carlos. Ein strenger Naturalismus ist mit einer metrischen Form überhaupt nicht vereinbar. Wo die letztere auftritt, ist der erstere mindestens zu einem Realismus gemildert, der das Extrem vermeidet, wie z. B. in Kleists zerbrochenem Krug und noch mehr in Wallensteins Lager. Das eigentlich entscheidende Kennzeichen aber für den Stilunterschied bildet die Sprachbehandlung, daher ja auch der Ausdruck Stil dem Gebiete der Sprache entlehnt ist und oft auf ihn eingeschränkt wird. Der Naturalismus ahmt die Sprache des Lebens unmittelbar nach. Er vermeidet Vulgarismen nicht, er sucht sie vielmehr, soweit sie ihm charakteristisch erscheinen. Schillers Kabale und Liebe ist eine Fundgrube derb volkstümlicher, zum Teil vulgärer Redewendungen; das Argot des niederen Bürgertums, verderbte Fremdwörter u. dgl. werden auch an den tragischen Stellen nicht vermieden. Durch die modernen Neuerer, wie Zola und Gerhart Hauptmann, wird das freilich noch sehr viel mehr ins Extrem geführt. Eine besondere Neigung hat der Naturalismus begreiflicherweise zur Mundart. Das Eindringen fränkischer Formen und Frankfurter Wendungen kennzeichnet nicht minder wie die angewandte Prosa die neue Stilrichtung im Götz gegenüber Goethes Leipziger Lustspielen. Ja, in der eigentlich mundartlichen Dichtung findet der Naturalismus oft seine natürlichste Form; daher denn auch Werke, wie Anzengrubers Bauernkomödien und Romane, wie Gerhart Hauptmanns Weber den Höhepunkt des modernen deutschen Naturalismus bezeichnen. Dem gegenüber strebt der Idealstil eine durchweg erhöhte Sprachbehandlung an; er vermeidet nicht nur gemeine, sondern für gewöhnlich auch volkstümliche Ausdrücke überhaupt. Ein logisch durchbildeter Satzbau, edle und erhabene Bilder, eine kunstvolle und getragene Redeweise ersetzen ihm die Sprache des Lebens. Und das eigentümliche Geheimnis des echten Dichters ist es, nicht unnatürlich zu werden, indem er sich von der Natur entfernt. In der Natur der Lyrik, wie wir sie im elften Abschnitt kennen gelernt haben, liegt es, daß sie auf einen mehr oder weniger ausgesprochenen Idealstil angewiesen ist und sich dem Naturalismus verschließen muß. Eine naturalistische Wiedergabe reiner Gefühls- und Stimmungszustände in Worten ist eine Unmöglichkeit; denn das Gefühl an sich, das leidenschaftliche zumal, versagt sich dem Wort: es stammelt oder schreit, aber es weiß nicht zu sprechen. Die bloße Aussprache setzt eine innere Klärung und Vergeistigung voraus, und darin besteht schon eine gewisse Erhebung und Idealisierung. Dazu kommt, daß, wie gleichfalls schon hervorgehoben, diese Aussprache im allgemeinen nur dann interessiert, wenn sie in künstlerischen Formen stattfindet: eben deshalb bedarf die Lyrik des Rhythmus und des dichterisch schönen Ausdrucks. Selbst eine mundartliche Lyrik, wie die Klaus Groths, wird immer nur einen sehr gemilderten realistischen Charakter tragen können, und die neueren Versuche einer naturalistischen Lyrik, die wir oben (S. 107 f.) kennen gelernt, haben sich uns als völlig verfehlt erwiesen. Scheidet somit die Lyrik aus unseren Betrachtungen aus, so gelten die bisher erörterten beiden Momente des Stilgegensatzes für die beiden übrigbleibenden Gattungen in gleicher Weise. Anders verhält es sich mit dem dritten Formenelement: der Komposition. Es ist an sich klar, daß der Idealstil zu einem kunstvollen, zugleich einheitlich strengen und harmonisch gegliederten Bau neigen muß, während der Naturalismus das lockere Gewebe, in welchem die Wirklichkeit Handlungen und Ereignisse zu verknüpfen pflegt, nachahmt und dabei die Elemente künstlerischer Form, Steigerung und Kontrastwirkung, nur nebenbei im Auge behalten kann. Allein tatsächlich tritt dieser Gegensatz nur auf dem Gebiete der epischen Dichtung, insbesondere also im Roman in voller Schärfe hervor. Für das Drama, das zur Darstellung bestimmte wenigstens, treten die Prinzipien des Stils notwendigerweise hinter den Forderungen der Bühne zurück, und wir haben schon in dem Abschnitt über die dramatische Kunst gesehen, daß der Naturalismus hier, wenn auch aus ganz anderen Gründen, womöglich noch geschlossenere Einheit und Straffheit der Form erstrebt als sein Widerpart. Soll ein Ausschnitt aus dem Leben wirklichkeitsgetreu mit seinen Einzelheiten auf der Bühne wiedergegeben werden, so darf derselbe in keiner Hinsicht zu weit ausgedehnt werden. Ein oder höchstens zwei Milieus, eine geringe Anzahl von Personen, ein zusammengedrängter Zeitverlauf bilden Grenzen, die der naturalistische Dichter nicht wohl überschreiten kann. Die Einheiten der klassischen Tragödie der Franzosen, die für das Drama idealen Stils nur äußerliche Regeln sind, werden hier zur Notwendigkeit. Daher weist denn, wie uns S. 181 entgegentrat, fast das gesamte naturalistische Drama der Gegenwart diese strenge Einheit der Komposition auf. Weit freier steht der Romandichter seinem Stoffe gegenüber. Mit dem Verlauf der Erzählung ist es eher möglich, den Verlauf des wirklichen Lebens nachzubilden als mit der eingeengten Bühnenhandlung. Auch der Epiker kann kunstvoll zusammendrängen, wie es etwa Goethe in Hermann und Dorothea getan hat, die Handlung zu großen und entscheidenden Katastrophen zuspitzen und in dramatischer Weise zur Peripetie fortschreiten, etwa wie Dahn seinen „Kampf um Rom“ aufgebaut hat. Allein nichts hindert ihn, von dieser dramatischen Art der Erzählung abzugehen und dafür Geschehnisse äußerer und namentlich innerer Art so darzustellen, wie sie sich im Leben zu ereignen pflegen. Die wichtigen Ereignisse und Katastrophen, sagt Schopenhauer einmal, kommen nicht mit Trompeten und Fanfaren zum Vordertor herein, sondern ganz leise durch die Hintertür. Nicht ein außergewöhnlicher Vorgang pflegt das äußere, noch weniger aber das innere Leben der Menschen zu wandeln: vielmehr ein Glied reiht sich ans andere, unscheinbar zunächst wächst und erstarkt die Kette, die den Menschen bindet und in gewollte oder ungewollte Bahnen zieht. Eine entscheidende Leidenschaft wird in Wirklichkeit selten, wie in den Romanen alten Stils, durch den ersten Blick entflammt: langsam erstarkt der Einfluß, den ein Mensch auf den andern ausübt; von der Kindheit auf schlingen sich unsichtbare Fäden, die die Seele des Menschen und damit auch sein Schicksal lenken. Es ist der Vorteil, den die epische Dichtung vor der dramatischen voraus hat, daß sie diesen Fäden nachgehen, ihr langsames Wachstum verfolgen, ihren Verlauf in seinen Windungen aufdecken kann. Daher haben die großen Romandichter aller Zeiten, auch diejenigen, die dem Naturalismus ganz fern standen, nicht sowohl auf Konzentration der Form als auf Klarheit der Entwicklung den entscheidenden Wert gelegt: so Goethe im Wilhelm Meister und in den Wahlverwandtschaften, so Balzac und Georges Sand, so Dickens oder George Elliot: sie haben somit im gewissen Sinne der naturalistischen Technik vorgearbeitet. Diese freilich, wo sie ausgeprägt auftritt, gestaltet noch entschiedener aus dem einzelnen und einzelsten ins Ganze. Es gleicht ein Tag dem andern wie im Alltagsleben der Wirklichkeit. Die gleichen Szenen wiederholen sich mit kleinen Abweichungen, anfangs kaum merklich, aber die Unterschiede verstärken sich im Laufe der Entwicklung, die Leidenschaften wachsen allmählich oder sterben ebenso allmählich ab. Der Schluß, die Katastrophe erscheint als ein notwendiges, als ein längst erwartetes Glied der Kette, die wir vor uns haben ablaufen sehen; so in Balzacs Eugenie Grandet, in Flauberts berühmtem Musterroman „Madame Bovary“, in Zolas „L'oeuvre“ und besonders deutlich in „Une page d'amour“: drei Menschen in derselben Stube dreiviertel Jahre hindurch immer wieder in der gleichen oder ähnlichen Situation, alle Jahreszeiten spielen gleichsam von außen hinein, und langsam, langsam sehen wir das Unvermeidliche kommen. In ganz derselben Weise sind Guy de Maupassants Bücher „Une vie“, „Fort comme la mort“ künstlerisch gestaltet. Daß der Naturalismus auf Spannung im dramatischen Sinne des Wortes bei dieser Art von Komposition verzichten muß, sieht man wohl. Ein ästhetischer Schaden ist das nicht, und für die künstlerische Darstellung seelischer Entwicklung scheint hiermit doch die eigentlich entsprechende Form gefunden zu sein. Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman „Zwischen Himmel und Erde“, obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die „Maria Magdalena“ seines Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik. Endlich noch zu einem vierten Punkt, in welchem die beiden Stilarten sich unterscheiden. Es ist die Verwendung des Häßlichen und Abstoßenden oder auch des Gemeinen und Niedrigen, Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz „Über die Verwendung des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“ sie behandelt, im moralischen. nicht in sprachlicher, sondern in sachlicher Hinsicht. Der Idealstil in der ganzen Strenge, wie ihn etwa die französische Tragödie des grand siècle oder Goethe und Schiller in ihrer klassischen Epoche auffaßten, läßt das ästhetisch Häßliche schlechterdings nicht zu. Nur große und edle Gegenstände werden in edlen und schönen Formen behandelt; alles was auf widrige Vorstellungen führen kann, wird verworfen oder doch gemildert. So etwa die Verbrennung Jeanne d'Arcs, so alles, was die Anschauung von Krankheit und körperlichen Schmerzen hervorruft. „Keine Träne fließt hier mehr dem Leiden, Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.“ Der konsequente Naturalismus dagegen, dem es nur auf die Wahrheit, nicht auf die Schönheit der Darstellung ankommt, will die Wirklichkeit in ihrem ganzen Charakter und mit all ihren Zügen wiedergeben: Milderung erscheint ihm als Fälschung, Vermeidung des Abstoßenden als Schönfärberei. Zwar ist der Unterschied in der dichterischen Praxis kein so durchgreifender und entschiedener, wie man es gewöhnlich glaubt und wie es auf dem Gebiete der bildenden Künste wohl auch tatsächlich der Fall ist. Es gibt Dichtungen, die unzweifelhaft dem hohen Stil angehören und gleichwohl vor einer realistischen Schilderung des Abstoßenden nicht zurückschrecken: so der Philoktet, so auch der Schluß des König Ödipus, wo der Held geblendet erscheint. Die Blendung Glosters bei Shakespeare mutet fast naturalistisch an, zumal wenn man die Behandlung des ähnlichen Motivs in desselben Dichters König Johann dagegen hält; und doch ist der König Lear eines von denjenigen seiner Dramen, in denen der Idealstil am entschiedensten herrscht. Andrerseits vermag auch der naturalistische Dichter das ästhetisch Häßliche zu vermeiden, wenn er seine Stoffe und sein Milieu dementsprechend wählt, so wie es Ibsen in den meisten seiner Dramen, mit Ausnahme etwa der Gespenster und des Klein Eyolf, getan hat. Seine Handlungen spielen sich durchweg zwischen Menschen ab, die auf einer gewissen Höhe der Kultur stehen, wenn nicht der moralischen, so doch der ästhetischen, und das Abstoßende drängt sich hier nicht wie in der Schilderung der unteren Schichten der Gesellschaft unabweisbar auf. Immerhin bleibt im ganzen auch in der Praxis ein deutlicher Unterschied. Er trifft vielleicht weniger das Häßliche an sich als das Niedrige, d. h. das kleinlich Häßliche: also etwa die niederen oder abstoßenden Seiten des körperlichen Lebens. Es bezeichnet den extremsten Naturalismus, wenn der Reitersknecht in Goethes Götz erzählt: „Ich hab um Urlaub gebeten, meine Notdurft zu verrichten“, oder wenn Carlos im Clavigo sagt: „Ihr Verliebten habt keine Augen, keine Nasen.“ Kein moderner Naturalist hat mehr gewagt. Und in der Tat wird man sagen dürfen, daß ein kultivierter Kunstgeschmack sich durch solche Wendungen notwendigerweise abgestoßen fühlt, da wenigstens, wo sie in der ernsten oder tragischen Dichtung auftreten. Anders freilich verhält es sich in der komischen Poesie. Hier erscheint in der Tat die Grenze sehr weit, die dem Dichter und seiner Wirkung gezogen ist, und in Romanen wie der Don Quichote oder Rabelais' Gargantua, aber auch in einer Posse wie Molières Malade imaginaire gibt es nichts, wovor der Dichter zurückschreckt, und wenig, was nicht gleichwohl heute noch mehr oder weniger komisch wirkt. Daß freilich verschiedene Zeiten und Kulturstufen gerade diesen Gegenständen gegenüber verschieden empfinden, haben wir schon einmal berichtet; es wird uns bei der Betrachtung des Komischen noch entgegentreten. ─ Haben wir nunmehr ein deutliches Bild von den beiden entgegengesetzten Stilrichtungen, ihrem Wesen und ihren Mitteln gewonnen, so ergibt sich doch schon aus allem Bisherigen, daß es nicht Sache der Poetik sein kann, den Streit zugunsten der einen oder der anderen zu schlichten. Schon mit den Anfängen aller menschlichen Kunst verknüpft, wird sich dieser Gegensatz durch die Entwicklung der Poesie ziehen, solange es eine solche gibt, und es wird von dem Bedürfnis und der Geschmacksrichtung der einzelnen Epochen und Kulturen abhängen, wohin sie neigen. Durch Streit und Wechsel wird diese Entwicklung, wie alles, was sich in der Natur und im Menschen rührt und regt, befruchtet und befördert. Soviel aber wird ein unbefangenes und geschichtlich begründetes Urteil feststellen dürfen: was die ästhetische Theorie und was insbesondere die Programmschriften beider Richtungen an Forderungen und Gesetzen aufstellen, sind Extreme. Der Wert, den ein lebendiges Kunstwerk hat, wird niemals davon abhängen, wie weit es einer dieser extremen theoretischen Forderungen entspricht. Ja, die bedeutendsten Dichtungen der Weltliteratur stellen sehr selten reine Typen der einen oder der anderen Gattung dar; sie bewegen sich zwischen beiden und neigen nur mehr zu dieser oder jener hin. Sehr richtig bemerkt Dessoir Ästhetik S. 64 über die naturalistische Theorie: „Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen Stil nennen, hängt nur lose mit den theoretischen Überlegungen zusammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus ─ als eine zeitweilig auftretende Praxis ─ vornehmlich Auflehnung gegen absterbende Anschauungen und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von Wirklichkeitsausschnitten handelt es sich also, sondern zunächst um eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen Formen, deren Zeit abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und indem an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird, entsteht begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schönheitswahn durch die Wahrheit verdrängt worden sei. Da die Menschen geschichtliche Wesen sind und mit der wechselnden Ordnung der Dinge veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von Wert und Sinn des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegenwart anzusehen und das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden Form auszudrücken vermag, kommt sich als Naturalist vor. Naturalismus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene Ideale.“ Und wie könnte es auch anders sein! Die Pfade, die allzu scharf auf der Grenze entlanglaufen, führen auf Abwege, welche die Poesie vermeiden wird. Das Kunstwerk, das nur schön sein will, wird gar zu leicht leer. Die bloße Schönheit der Form, die des Charakteristischen entbehrt, wird leblos, und die Gefahr liegt nahe, daß das fehlende Leben durch ein falsches Pathos, durch theatralische Posen, daß das Künstlerische durch das Künstliche ersetzt wird. Dieser Unnatur ist die ideale Kunst auf die Dauer weder in der Poesie, noch in der Bildnerei jemals völlig entgangen: große feierliche Linien ohne Inhalt, allzu gesuchte, ja affektierte Bewegungen, pathetische Worte ohne alle Wärme sind ihre Symptome. Die entgegengesetzte Gefahr droht der naturalistischen Kunst. Die Auswahl des Charakteristischen und Individuellen kann gar zu leicht ins Kleinliche, Zufällige, Ideenlose verfallen. Ja, in allen Epochen, wo der Naturalismus als Programm in bewußtem Gegensatz zu dem einseitigen Schönheitskultus des idealen Stils auftritt, wird er eine natürliche Neigung zeigen, das Häßliche ganz besonders hervorzukehren, das Charakteristische ausschließlich oder doch vorwiegend im Unschönen zu finden, wie es die moderne Dichtung vielfach getan hat. Allein die Fähigkeit, Lust durch Unlust hervorzurufen, hat ihre Grenzen, und wo diese überschritten werden, wo die Wirkung im Peinlichen befangen bleibt, widerspricht die Kunst ihrem eigenen Wesen. Der allgemeine Gegensatz der beiden Stilrichtungen tritt am anschaulichsten hervor, wenn wir ihn in seiner Bedeutung für die Methode dichterischer Charakteristik betrachten. Denn die Aufgabe, die für alle dramatische wie epische Poesie ein für allemal die wichtigste ist, die Darstellung menschlicher Charaktere in ihrer Eigenart und ihren Lebensäußerungen, wird von naturalistischen und idealistischen Dichtern verschieden angefaßt und gelöst. Die Methode der naturalistischen Kunst beruht vor allem darauf, daß sie die Fülle einzelner, an sich zufällig erscheinender Züge, welche die Wirklichkeit darbietet, soweit das technisch möglich ist, in das Charakterbild mit aufnimmt: sie verfährt mithin individualisierend. Die Idealkunst dagegen zeichnet in großen Umrissen, verschmäht alles, was zufällig erscheinen kann, und schwächt das Individuelle ab, indem sie es auf allgemeine Grundzüge zurückführt; mit einem Wort: sie sucht das Typische wie jene das Individuelle. Das Verfahren des Dichters entspricht völlig demjenigen des Porträtmalers. Die Porträtmalerei zeigt uns deutlich den Unterschied zwischen der naturalistischen Wiedergabe des Gesehenen, in der uns die Eigentümlichkeiten der Gesichtszüge bis auf kleine und unbedeutende Einzelheiten, wie Warzen und Narben, deutlich entgegentreten, und einer Auffassung, welche die Wiedergabe solcher Einzelheiten grundsätzlich verschmäht und den Charakter nur in seiner typischen Bestimmtheit, z. B. als majestätisch, tapfer oder dergleichen darstellen will. So verhalten sich etwa die Bildnisse von Hans Holbein oder Van Dyk zu den meisten Porträts von französischen und deutschen Malern aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dem entsprechend charakterisiert der naturalistische Dichter seine Personen mit einer Fülle individueller Einzelheiten, Eigentümlichkeiten des Temperaments, bestimmten persönlichen Gewohnheiten. Fast jede Gestalt von Dickens gibt Beispiele hierfür, aber auch der Hofmarschall von Kalb oder der Musikus Miller in Kabale und Liebe, der Mohr in Fiesko und, um in die Neuzeit zu greifen, die Gestalten Flauberts und Zolas wie Tolstois und Dostojewskis zeigen uns das Gleiche. Vor allem ist auch hier die Sprache Mittel und Kennzeichen der charakterisierenden Kunst. Sie wird individuell behandelt, nach Rang und Bildungssphären abgestuft; auch der einzelne wird durch eigentümliche Gewohnheiten und Redewendungen von den anderen unterschieden. Alles das vermeidet der Idealstil. Die Sprache seiner Dichtungen ist gleichmäßig vornehm und getragen; die Personen werden durch Eigenschaften allgemeiner Art gekennzeichnet, die sie zwar von anders gearteten Menschen unterscheiden, aber zugleich mit ähnlich gerichteten zu einer Kategorie verbinden. Die Art, wie die streng ideale Kunst charakterisiert, läßt sich etwa an Goethes Iphigenie und Wilhelm Meister oder an Schillers Tell am besten veranschaulichen. Es sind bestimmte, große, allgemeine Züge, welche jede einzelne Person zugleich kennzeichnen und ins Typische erheben. Naturgemäß erscheinen aber die typische und die individualisierende Zeichnung weit seltener in ihrer extremen Schärfe als in zahllosen Abstufungen und Zwischenschattierungen in der Poesie. Die Unendlichkeit des Kleinen und Einzelnen, aus der das Individuum besteht, kann kein Künstler wiedergeben, und wenn er es könnte, würde vieles von dem, was er zeigt, niemanden interessieren. Auch der charakterisierende Naturalist bedarf mithin einer Auswahl unter den vorhandenen Zügen, so gut wie der Idealist; er nimmt nur mehr von der Wirklichkeit auf als jener, und schon dies beweist, daß es sich in der künstlerischen Praxis immer nur um ein solches Mehr oder Weniger handelt. Wo nun aber die Charakteristik sich sehr ins Kleine und Einzelne verbreitet, wird sie fast stets einen komischen oder doch wenigstens humoristischen Eindruck hervorbringen: daher der Dichter, dessen Stärke lebenstreue und scharfe Schilderung der Charaktere in ihren Einzelheiten ist, immer etwas vom Humoristen haben wird, wie Dickens oder Fritz Reuter. Zumal wo kleine Züge des täglichen Lebens mit dem Ernst einer außergewöhnlichen und bedeutsamen Situation kontrastieren, wirken sie komisch, wie etwa in Kein Hüsung die Schilderung des alten Knechts, der sich zum sonntäglichen Kirchgang rasiert. Dem naturalistischen Dichter wird es freilich oft genug willkommen sein, wenn sich in dieser Weise der humoristische Eindruck in das Tragische mischt: man denke etwa an den Erguß des Musikus Miller in Kabale und Liebe, als ihm Ferdinand den Beutel Geld geschenkt hat, mit dem er dem Ahnungslosen das Leben seiner Tochter bezahlen will. Allein die idealisierende Kunst widerstreitet dieser Vermischung, sie strebt nach einfachen großen Linien und Wirkungen. Sie verliert dadurch, daß sie das Individuelle zurücktreten läßt, unleugbar etwas von der Lebendigkeit, die eben nur am Individuellen haftet, allein sie verschmerzt das in dem Bewußtsein einer höheren Aufgabe: im Individuellen das Typische, im Wirklichen die tiefere Wahrheit und allgemeine Notwendigkeit zu zeigen. Wo nun freilich die Auswahl eine allzu strenge ist und die individuellen Züge zu sehr verblassen, werden die Charaktere farblos und blutleer, wie das z. B. in der klassischen Tragödie der Franzosen der Fall ist. Ja, sie werden in ihrer typischen Allgemeinheit zu bloßen Schemen, die schließlich nichts weiter als abstrakte Sinnbilder sind: statt der Typen schafft der Dichter Allegorien. Mehrfach ist dies in Goethes späteren dramatischen Dichtungen der Fall, selbst in der Pandora und der viel bewunderten und viel gescholtenen Helena. Die zahlreichen einzelnen Schönheiten sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier keine gesehenen und erlebten Charaktere zu einem allgemeingültigen Bilde veredelt, sondern daß geistvolle Ideen in Gestalten verkörpert sind, die zwar menschliche Züge und zum Teil sehr anmutvolle Züge tragen, aber kein inneres Leben haben und kein Miterleben möglich machen. Die Allegorie, das Spiel mit dem Sinnbild, ist in der Poesie dann berechtigt und dichterisch wirksam, wenn es sich darum handelt, einen abstrakten Gedanken anschaulich und lebendig zu machen, also in Gedichten, die der Gedankenlyrik angehören, wie etwa in Goethes „Meine Göttin“. Sie muß aber stets ihre Wirkung verfehlen, wo sie in der dramatischen oder epischen Dichtung mit dem Anspruch auftritt, Teilnahme für Handlungen oder Gestalten zu erwecken, die nichts als Verkörperungen allgemeiner Ideen sind. Daher finden wir denn, wenn auch nicht bei allen, so doch bei einigen der größten Dichter der Weltliteratur das deutliche Streben, den Gegensatz zu überbrücken und die Vorzüge beider Stilarten zu vereinigen. Shakespeare verfährt bekanntlich so, daß er die ernsten oder tragischen Szenen, die bei ihm durchweg auf den Höhen der Gesellschaft spielen, im pathetischen Idealstil, die Volksszenen dagegen auch in den Tragödien naturalistisch behandelt. Dieses Nebeneinander von zwei Stilarten ist freilich nur ein unbeholfenes Mittel, um den Anforderungen beider Richtungen zu genügen, und es ist ebenso begreiflich wie berechtigt, daß unsere deutschen Klassiker statt dessen die Vereinigung beider auf einer mittleren Linie gesucht haben. Ihnen schwebte eine Menschendarstellung vor, die zugleich typische Bedeutung haben sollte, ohne doch abstrakt zu werden, und individuelle Anschaulichkeit, ohne in peinliche Wiedergabe äußerer Wirklichkeit zu verfallen. Das ist es, was Goethe als symbolische Kunst bezeichnete, und eine solche strebte er sowohl wie Schiller in immer neuen Stilformen an, nachdem sie die naturalistische Epoche, mit der ein jeder von beiden seine Schöpferlaufbahn begonnen, überwunden hatten. Begreiflich, ja notwendig war es, daß sie sich dabei bald dem einen, bald dem anderen Extrem mehr näherten: es ist eben nicht eine Linie, sondern vielmehr eine breite Zone, die beide Richtungen scheidet. Goethe findet mit genialem Takt in der Iphigenie, im Tasso und im Egmont, er findet nicht minder in seinen Romanen künstlerische Formen und Gestalten, welche den Begriff des Symbolischen verwirklichen. Dagegen neigt er in seinen späteren Dramen, schon in der natürlichen Tochter und noch mehr im zweiten Teil des Faust, bedenklich zum einseitig Typischen; in Pandora und Helena führt diese Neigung, wie eben bemerkt, über die Grenze hinaus, jenseits welcher die Allegorie beginnt. Schillers Entwicklungsgang ist schon S. 194 in den Grundzügen angedeutet: im Wallenstein ist es ihm am vollkommensten gelungen, den Ausgleich zwischen individuellem Leben und symbolischer Bedeutsamkeit zu schaffen. Auch er nähert sich dann Schritt für Schritt immer mehr der einseitig typisierenden Methode. Schon in der Maria Stuart tritt das Individuelle gegenüber der Charakterzeichnung im Wallenstein stark zurück. In der Jungfrau von Orleans unterscheiden sich z. B. die einzelnen Ritter, seien es Franzosen oder Engländer, so gut wie gar nicht voneinander; nicht einmal für Lionel hat der Dichter einen persönlichen Zug gefunden, der die Leidenschaft seiner Heldin erklärlich machte. In der Braut von Messina ist zwar das Geschlecht, dessen Untergang die Tragödie behandelt, durch bestimmte Eigenschaften entschieden charakterisiert, aber die Individualität der einzelnen Glieder desselben erscheint doch wieder sehr beträchtlich ins Typische gemildert und damit abgeschwächt, ─ man betrachte z. B. die Gestalt der Beatrice. Im Wilhelm Tell ist dem handelnden Volke ein Gesamtcharakter deutlich aufgeprägt, allein die einzelnen unterscheiden sich wiederum im wesentlichen nur nach Alter, Stand und höchstens nach Temperament; ─ der Titelheld allein ist, wenn auch in großen Zügen, individuell gesehen. Im Demetrius dagegen kehrte der Dichter in allem Wesentlichen zur Methode des Wallenstein zurück und erreichte nach längerem, für die kurze Dauer seines Lebens allzu langem Umweg wieder die volle Höhe dichterischer Gestaltungskraft. Mit der Methode der Charakteristik hängt die Art der Milieuschilderung unmittelbar und notwendig zusammen. Auch diese wird der idealistische Dichter nur in allgemeinen und typischen Zügen behandeln, ja, er wird sie oft genug nur andeuten, wie Goethe im Tasso, oder er wird sogar gänzlich von ihr absehen, wie die klassische französische Dichtung, Molière eingeschlossen, getan hat. Für den naturalistischen Dichter ist dagegen die anschauliche Charakteristik der Verhältnisse und Umgebung, aus der seine Menschen hervorgehen, unentbehrlich, denn diese letzteren sind erst durch sie verständlich. Ja, er wird dazu neigen, seine Menschen nur als Teilerscheinungen eines charakteristischen Milieus aufzufassen und dadurch dem einzelnen ein Interesse zu entziehen, das er freilich dem Ganzen dafür wieder zuwendet. So in einem großen Teil des Zolaschen Romanzyklus Rougon Macquart, so besonders in Gerhart Hauptmanns Webern und seinem Florian Geyer. Das Typische ist zwar anschaulich, aber es verkörpert eine allgemeine Idee. Daher ist man geneigt, in dem Dichter idealer Richtung auch immer zugleich einen Ideendichter zu sehen, d. h. zu glauben, daß er nicht von der lebendigen Anschauung des Wirklichen, sondern von allgemeinen Gedanken über das Wirkliche ausginge, die er dann lebendig zu verkörpern suche. In Wahrheit ist bei keinem echten Künstler diese Gefahr groß, selbst nicht bei so gedankentiefen Dichtern, wie unsere Klassiker waren. Goethe ist, wie wir gesehen haben, in seinen späteren Lebensjahren vereinzelt in sie verfallen, Schiller, dem allgemeinen Vorurteile zum Trotz, fast niemals; nur Max und Thekla bilden eine leicht erkennbare Ausnahme. Auch Hebbel, der ein Grübler war, von psychologischen und kulturhistorischen Problemen bewegt und erfüllt, ist doch niemals von allgemeinen und lehrhaften Gedanken, sondern stets von konkreten Anschauungen des Lebens und der Geschichte ausgegangen; und ein Werk, wie Grillparzers Sappho, das einen allgemeinen Gedanken zum deutlichsten Ausdruck bringt, ist zunächst nichts anderes als die Verkörperung innerer Erlebnisse des Dichters. Daß solche Erlebnisse und Anschauungen im Laufe einer Dichtung auch in der Form allgemeiner Gedanken ausgesprochen werden, liegt nahe. Will man sie dann als Grundgedanken oder Idee des Werkes bezeichnen, so ist dieser Ausdruck am Ende nicht besser und nicht schlechter wie viele andere; nur darf er nicht zu der Meinung verführen, daß der Dichter von einem solchen Gedanken in seiner abstrakten Form ausgegangen sei oder daß es gar im Wesen seiner Kunstrichtung liege, von einer solchen auszugehen. Dagegen zeigt die Literaturgeschichte umgekehrt die zunächst befremdliche Tatsache, daß der Naturalismus, auf die Dauer, wenigstens fast stets in eine ethische oder soziale Tendenz verfällt. Es scheint das ein Widerspruch und ist doch natürlich genug. Jene gutmütige Verliebtheit in die Dinge, von der Goethe spricht (vgl. S. 70), der nichts unbedeutend erscheint, was ist, und der die treue Darstellung der Natur in all ihren Zügen als Ziel künstlerischen Strebens vorschwebt, kann keine wahre Dichtung, wenigstens keine der gegenständlichen Gattungen entbehren. Allein die bloße ideenlose Wiedergabe eines Stücks Wirklichkeit kann wohl in den bildenden Künsten befriedigen, weil hier die Schwierigkeiten der Technik so erheblich sind, daß sie unter Umständen das höchste Interesse in Anspruch nehmen. In der Poesie dagegen wird eine solche, wenn sie überhaupt möglich ist, niemals dem Dichter oder seinen Hörern genügen; er wird daher stets danach streben, dem Wiedergegebenen ideelle Bedeutsamkeit, typischen Wert zu verleihen. Das erreicht der Idealist, indem er, wie es Goethe und Schiller gern ausdrückten, statt der äußeren Wirklichkeit eine „höhere Wahrheit“ darstellt und in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die großen allgemeinen Gesetze und Züge des Seins zur Anschauung bringt. Der „Wirklichkeitsdichter“ jedoch wird mit dem Anspruch auftreten, den Hörer darüber zu belehren, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, und wenn er sich dem inneren, insbesondere dem sittlichen Leben oder den sozialen Erscheinungen des äußeren Lebens zuwendet, so kann es kaum ausbleiben, daß sich mit dieser Belehrung ein deutlich hervortretendes Werturteil verbindet, daß mithin in die Dichtung eine außerkünstlerische Tendenz eindringt. So in Schillers Räubern und Kabale und Liebe, so in Zolas Rougon Macquart, so in Gerhart Hauptmanns Webern und in Dostojewskis Raskolnikow. ─ Mit dem bisher Gesagten dürfte der grundlegende Unterschied des naturalistischen und des Idealstils einigermaßen erschöpfend veranschaulicht sein. Es berührt sich derselbe nun aber mit einem nicht minder bedeutungsvollen Gegensatz, aus dem er in manchen Punkten Erklärung und richtige Beleuchtung empfängt: dem Gegensatz zwischen objektiver und subjektiver oder, wie es Schiller genannt hat, naiver und sentimentalischer Dichtung. Bestimmt jener den Charakter des Stils, die Methode der Darstellung, so betrifft dieser die innerliche Auffassung, die Anschauungsweise, mit welcher der Dichter seinem Stoff gegenübertritt. Es wird notwendig sein, auch diesen Wesensunterschied und seine Konsequenzen einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. 18. Naive und sentimentalische Dichtung. Schiller ist es bekanntlich, der die Begriffe naive und sentimentalische Dichtung in die Poetik eingeführt, systematisch ausgestaltet und für die literarische Betrachtung verwertet hat. Seine gleichnamige Abhandlung in den Horen (1795/96) ist bis heute der tiefgreifendste Versuch einer Klassifizierung der Poesie auf Grund nicht formaler oder stofflicher Unterschiede, sondern der Verschiedenheit der Anschauungsweise der Dichter, ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Daher darf auch die moderne Poetik nicht an dieser bedeutenden Schrift vorübergehen, ohne von ihr zu lernen. Freilich bedürfen ihre Gedankengänge in mehr als einer Hinsicht der Klärung und Ergänzung, wenn sie sich noch heute als fruchtbar erweisen sollen. „Der Dichter ist entweder Natur oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“ Das Wesen des Einen beruht auf der „möglichst vollständigen Nachahmung des Wirklichen“, das des Anderen „auf der Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf eins hinausläuft, der Darstellung des Ideals“. „Und dies sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische Genius äußern kann.“ Dies der Grundgedanke der Schrift. Er scheint einfach genug, und dennoch zeigt sich bald, daß der Begriff, auf dem er beruht und der im ganzen Verlaufe der Abhandlung als der herrschende hervortritt, der der Natur, keineswegs eindeutig klar ist. In den Eingangsworten wird unter diesem Ausdruck ganz einfach die leblose und lebendige Welt um uns herum „in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften“ verstanden, und diesen wird der Mensch angereiht, soweit er „in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt“ zur Erscheinung kommt. Diese Welt wird nun ganz im Goetheschen Sinn als einheitliche, organische und harmonische Schöpfung betrachtet, deren klare und schöne Gesetzmäßigkeit in jedem ihrer Teile, auch dem kleinen und kleinsten, zum Ausdruck kommt. „Wir lieben in ihnen das still schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.“ Nun aber mischt sich in diesen Begriff ein Element anderen und zwar moralischen Inhalts. Die Natur ist nicht an sich naiv, sondern sie wird es erst durch unsere Betrachtung, und unser Wohlgefallen an ihr ist „kein ästhetisches, sondern ein moralisches“. „Zum Naiven wird erfordert, daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage.“ Die Vollkommenheit der Natur wird zum Spiegelbild für den fortgeschrittenen Menschen, der sich von ihr entfernt hat, ein Spiegelbild, das ihm seine Schwächen und Gebrechen zeigt und ihn die Harmonie, die ihm selbst fehlt, schmerzlich vermissen lehrt. Die Natur wird zum Ideal und als solches der Wirklichkeit nicht gleichgestellt, sondern entgegengesetzt. „Von der wirklichen Natur“, sagt Schiller, „kann die wahre Natur, die das Subjekt naiver Dichtungen ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden.“ „Der Dichter sucht die Natur, aber als Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat.“ Die Begriffe Natur und Ideal fallen für ihn somit im wesentlichen zusammen, und daher ist im Fortgang der Abhandlung z. B. die Sehnsucht nach der verlorenen Natur ganz gleichbedeutend mit der nach dem Ideal. Es ist also ein moralischer Begriff, den der Dichter in die künstlerische Betrachtung hineinträgt, und er bezeichnet im wesentlichen nichts anderes als die geistige und sittliche Harmonie des Menschen, den Inbegriff der Humanität, wie ihn das klassische Zeitalter faßte. „Die Natur macht den Menschen mit sich eins, die Kunst trennt und entzweit ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück.“ An diesem moralischen Ideal mißt der sentimentalische Dichter die Wirklichkeit und findet sie unzulänglich. Die verlorene Harmonie bildet den eigentlichen Inhalt seiner Dichtung, ─ verloren, denn sie hat einst bestanden, sie war einst eine Tatsache des Lebens, nunmehr aber ist sie bloß ein Gedanke, der erst realisiert werden soll. Diese Begriffsgebilde führen uns unmittelbar auf die Elemente, durch die Schillers Weltanschauung im allgemeinen bestimmt ist. Sie wären nicht zu verstehen, wenn wir nicht wüßten, daß Rousseaus Welt- und Naturansicht es ist, die auf Schillers Denkweise entscheidend eingewirkt hat; sie ist hier zusammen mit den Grundzügen Kantscher Ethik zu einem eigenartigen Lehrgebäude gestaltet, das den Bedürfnissen des Dichterphilosophen, seine Kunst auf dem Grunde einer zugleich ethischen und ästhetischen Weltanschauung zu verstehen und zu würdigen, entspricht. Was wir im zweiten Abschnitt dieses Buches (S. 8 ff.) über den Charakter der klassischen Ästhetik im allgemeinen erkannt haben, das tritt uns hier an einem typischen Beispiel entgegen. Schiller engt durch eine moralische Anschauungsweise, die geschichtlich und psychologisch verständlich, aber nicht im Wesen der Kunst begründet ist, die Begriffe gewaltsam ein, die er seiner ästhetischen Betrachtung zugrunde legt. Er bezeichnet als die Aufgabe der Poesie, „der Menschheit ihren möglichst völligen Ausdruck zu geben“; er formuliert scharf die zwei möglichen Arten, in denen diese Aufgabe erfüllt werden, in denen „sich überhaupt der poetische Genius äußern“ kann: erstens „die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen“ und zweitens „die Darstellung des Ideals“. Wenn aber diese Alternative erschöpfend sein soll, so darf das Ideal, von dem hier die Rede ist, offenbar nicht nur nicht einem einzelnen moralischen System entnommen sein, sondern man hat überhaupt keinen Grund, ihm einen einseitig moralischen Inhalt zu geben. Es ist wiederum allein aus dem Einfluß der Kantischen Ethik verständlich, wenn Schiller nur die Sehnsucht nach der Vollkommenheit, nicht aber die nach höherer Glückseligkeit für würdig eines Dichters erklärt. Hier stoßen wir auf die Schranken, die Schillers Philosophie am schärfsten von der modernen Lebensanschauung, wie auch schon von der Goethes trennen. Einen ästhetischen Grund, zwischen beiden Idealen zu scheiden, kann es nicht geben; es macht für den künstlerischen Charakter eines Gedichtes keinen Unterschied, ob der Dichter die allgemeinen oder nur seine persönlichen Zustände und Wünsche im Auge hat. Sehen wir nun aber von dieser Einseitigkeit ab, die nicht im Wesen der Sache sondern in der Persönlichkeit Schillers ihren Grund hat, so bleibt uns als herrschender Gesichtspunkt für die Einteilung der Poesie das Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit einerseits, zu seinen Idealen andrerseits. Dieses Verhältnis hat Schiller mit klassischer Klarheit und Folgerichtigkeit bestimmt, und die Einteilung, die sich ihm ergibt, ist in ihren wesentlichen Zügen unanfechtbar. Hiernach verhält sich der Dichter zu seinem Gegenstande entweder naiv (wir können auch objektiv dafür sagen) oder sentimentalisch (subjektiv ). Der objektive Dichter strebt die reine Wiedergabe („die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen“) an. Die völlige Versenkung in seinen Gegenstand ist der entscheidende Charakterzug: seine Person als solche, sein Urteil, seine Empfindungsweise tritt nirgends hervor. Der subjektive Dichter dagegen steht seinem Gegenstand mit dem Bewußtsein eines Kontrastes gegenüber; indem er sein Ideal, wir dürfen jetzt sagen: sei es allgemeiner oder persönlicher, sei es sittlicher oder selbstsüchtiger Art, auf die Wirklichkeit anwendet, kommt ihm der Widerstreit zwischen beiden zum Bewußtsein, ein Widerstreit, der freilich in der Phantasie überwunden werden und zur Darstellung des erreichten Ideals führen kann. Hieraus ergibt sich nun die weitere Einteilung der sentimentalischen Poesie. Schiller nennt sie elegisch, wenn sie das verlorene Ideal als Ziel der Sehnsucht, satirisch, wenn sie die Wirklichkeit als Gegensatz zum Ideal darstellt, idyllisch, wenn sie die erträumte Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Die Phantasie nämlich vermag, wie eben angedeutet, jenen Gegensatz zu überwinden und das Ideal als erreicht vorzustellen und auszumalen. Schillers Gedichte „das Glück“ und „der Genius“ möchten am besten veranschaulichen, was er unter dem Begriff des „ Idylls “ versteht, im größeren Stil auch Dantes Paradies. Im allgemeinen aber liegt es in der Natur der Sache, daß Gedichte dieser Gattung selten sein werden, daß die Stimmung, aus der sie hervorgehen, die erreichte Harmonie des verwirklichten Ideals, für gewöhnlich nur als Teil und zumeist als Schluß einer größeren Dichtung auftreten wird, wie in der Apotheose des Faust. Wir haben den Grund schon früher (S. 65 f., vgl. S. 110 f.) gesehen, wir wissen, warum Schillers Herakles- Idyll nicht zustande gekommen ist: der Dichter bedarf wie der Musiker der Disharmonien, und die Darstellung des erreichten Ideals schließt sie aus. Viel umfangreicher ist daher die Zahl der Dichtungen, welche das Ideal als verloren betrachten und beklagen. Schiller faßt sie als elegische Gattung zusammen: das Wort bedeutet in dem allgemeinen Sinn, in welchem er es verwendet, soviel wie Sehnsuchtspoesie. Schillers Götter Griechenlands bilden den Typus dieser Gattung, aber gerade sie lassen deutlich erkennen, daß die Sehnsucht des Dichters keineswegs bloß einer sittlichen Vollkommenheit gilt, wie es seine Theorie verlangt. Viele Oden Klopstocks, besonders deutlich die „frühen Gräber“, zeigen das gleiche. Von Goethe sind „Jägers Abendlied“ und „das zweite Nachtlied des Wanderers“ bezeichnende Beispiele. Von Heine gehört ein großer Teil des Zyklus „die Nordsee“ (besonders „Nachts in der Kajüte“) und vieles aus dem „Buch der Lieder“ hierher. Denn es ist ja wohl klar, daß auch erotische Gedichte, in denen die Vereinigung mit der Geliebten das ersehnte Ideal darstellt, dabei nicht ausgeschlossen bleiben können. Einen wesentlich anderen Charakter erhält die Dichtung endlich drittens, wenn sie den Ton nicht auf das vermißte Ideal, sondern auf die unvollkommene Wirklichkeit legt und hiermit nach Schillers Ausdruck satirisch wird. „Der Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideal“ bildet den Gegenstand des satirischen Dichters. „Es ist nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung; aber worauf hier alles ankommt, diese Abneigung selbst muß wieder notwendig aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen.“ Die Satire kann entweder scherzhaft oder pathetisch und strafend sein. Jenes ist sie, wenn sie die Unvollkommenheit des Wirklichen nur von seiten des Verstandes, dieses, wenn sie von dem Gebiete des Willens aus, unter dem Gesichtspunkt des Sittengesetzes das Leben beleuchtet. Für die scherzhafte oder spottende Satire führt Schiller neben Lucian den Don Quichote, Sternes Yorik, Wielands Dichtungen und mit minderer Anerkennung Voltaire an; für die pathetische „Juvenal, Swift, Haller“. ─ Ob die Grenzlinie zwischen beiden Arten ebenso richtig gezogen ist, wie sie scharf erscheint, werden wir später (S. 232 f.) Gelegenheit haben zu untersuchen. Jedenfalls ist die Einführung des Begriffs der pathetischen Satire einer der fruchtbarsten Gedanken dieser geistvollen Abhandlung: wie die großen Satiriker des späteren Roms, besonders Persius und Juvenal, erst hierdurch an die richtige Stelle treten, so rücken auch Schillers eigene Jugendwerke in ein neues Licht. Überhaupt sind diese Gesichtspunkte und Einteilungen für die literarhistorische wie für die kritische Betrachtung höchst wertvoll. Schon die Charakteristiken älterer und zeitgenössischer Dichter, die Schiller selbst an sie knüpft, beweisen das. Gewisse Forderungen, wie die, welche er gegenüber dem einseitigen Naturalismus und Idealismus erhebt, können nicht besser und tiefer begründet werden, als das hier geschieht. Gleichwohl erheben sich gegen das Hauptergebnis seiner Betrachtungen noch einige wesentliche Bedenken, die zwar nicht zu einer Widerlegung, wohl aber zu einer Einschränkung führen. Offenbar nämlich ist es ein Irrtum Schillers, wenn er glaubt, aus der Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Poesie zwei absolut verschiedene Kunstgattungen und gar zwei ebenso entgegengesetzte Arten von Dichtern ableiten zu können. Er selbst gibt zu, daß jedes wahre Genie naiv sein muß („seine Naivetät allein macht es zum Genie“), daß auch der sentimentalische Dichter im einzelnen durch naive Schönheit rühren muß („ohne das würde er überhaupt kein Dichter sein“), und daß man „nicht nur in demselben Dichter, auch in denselben Werken häufig beide Gattungen vereinigt antrifft“. Schon aus den angeführten Wendungen scheint daher hervorzugehen, daß jede Dichtung als solche zunächst naiv oder genauer objektiv sein, d. h. daß sie ein unmittelbares Erlebnis, ein Stück Wirklichkeit darstellen oder wenigstens andeuten muß. In der sentimentalischen Dichtung kommt nun noch etwas hinzu; sie enthält objektive Darstellung und subjektives Sentiment, und ihre Arten und Möglichkeiten unterscheiden sich nach der Verschiedenheit dieser begleitenden Empfindung, während sie andrerseits auf der gemeinsamen Grundlage beruhen, aus der auch die naive Dichtung erwächst. In der Tat kann es nur in der Lyrik Dichtungen geben, in denen die objektive Grundlage, das Erlebnis als solches, gänzlich getilgt oder doch nur durch leise Andeutungen ersetzt ist. Wir haben solche Gedichte in unserer Betrachtung der Lyrik kennen gelernt: ich erinnere zur Veranschaulichung an Novalis' Hymnen an die Nacht, an Goethes Ganymed, an Hölderlins Schicksalslied; auch manche Liebeslieder gehören hierher, besonders kleinere, die nichts als der Ausdruck der Sehnsucht oder des Glücks sind. Freilich kann auch, wie Schiller richtig bemerkt, ein rein innerliches Erlebnis objektiv dargestellt, also ein sentimentalischer Stoff naiv behandelt werden. Mit dem Beispiel, das Schiller dafür gibt, dem Werther, vergreift er sich freilich; aber vielen Volksliedern („Wenn ich ein Vöglein wär'“) und manchen ihnen nachgebildeten Gedichten, wie Eichendorffs „Wohin ich geh' und schaue“, wird niemand den Charakter der Naivetät absprechen. ─ Diese rein subjektiven Gedichte also stellen ein Extrem dar, dem als Gegenpol die rein objektiven Dichtungen entsprechen würden. Das Volksepos der Griechen und der Deutschen, die Dramen Shakespeares bilden solche Gegenpole. Der objektive Charakter dieser Dichtungen ist zweifellos. „Das Objekt besitzt der Dichter gänzlich, sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, sondern will, wie das Gold, in der Tiefe gesucht sein. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk, er ist das Werk und das Werk ist er; man muß des erstern schon nicht wert oder nicht mächtig oder schon satt sein, um nach ihm nur zu fragen.“ Diese Charakteristik ist ebenso schön wie zutreffend. Ob aber darum das Subjekt des Dichters gänzlich ausgetilgt ist, wird man gleichwohl bezweifeln müssen, wie uns das unsere Betrachtung der epischen Poesie gelehrt hat. Die Parteinahme des Dichters, wenn er Kämpfe, zumal wenn er den Untergang seiner Helden schildert, ist selbst bei Homer, besonders aber im Nibelungenlied, fühlbar genug, auch wenn sie nicht unmittelbar ausgesprochen wird (vgl. oben S. 147 f.). Shakespeares Bestreben, eine moralische Weltordnung zur Geltung zu bringen, tritt in fast allen seinen Dramen deutlich genug hervor. Zwischen beiden Extremen nun aber zieht sich verbindend eine lange Kette hin, deren Glieder die verschiedensten Dichterindividualitäten darstellen und stets aus einer verschiedenen Mischung objektiver und subjektiver Elemente gebildet sind. Auch hier also gibt die Wirklichkeit nicht die Schärfe einer zugespitzten Begriffsantithese wieder, wie Schiller sie liebte, sie zeigt vielmehr, ebenso wie bei dem Verhältnis von Naturalismus und Idealstil, eine skalenartige Reihe, die von einem Gegensatz zum anderen führt. Endlich fragt es sich, ob Schiller mit seiner Klassifikation, insbesondere mit der Dreiteilung der sentimentalischen Poesie, tatsächlich alle möglichen Stellungnahmen des Dichters zur Wirklichkeit und zum Ideal erschöpft hat. Wie steht es mit der Weltauffassung des Tragikers, wie mit der des Humoristen? Schiller setzt zwar offenbar die Tragödie mit der ernsthaften Satire, die Komödie mit der scherzhaften gleich. Allein hierdurch werden beide Begriffe enger umgrenzt, als es der literarischen Überlieferung und der dichterischen Praxis entspricht, und es ist daher vielmehr wahrscheinlich, daß wir in der Tragik sowohl wie im Humor eigenartige Positionen vor uns haben, die den von Schiller aufgestellten selbständig zur Seite treten. Die Untersuchung ihres Wesens wird uns darüber belehren. Bevor wir jedoch das Wesen des Humors und sein Verhältnis zur Satire durchschauen können, ist es nötig, die Natur des Komischen überhaupt ins Auge zu fassen, aus der beide erst völlig verständlich werden. 19. Das Komische. Die Frage nach der Natur des Komischen zeigt uns eine sonderbare Erscheinung. Täglich in Leben und Lektüre stoßen wir auf Gegenstände und Vorgänge, die wir als lächerlich oder belustigend empfinden, und doch, sobald wir uns fragen, durch welche Eigenschaft diese Wirkung hervorgebracht wird, so gleitet sie uns gleichsam aus der Hand und weicht vor unseren Augen ins Nebelhafte zurück. Auch die Wissenschaft hat vergeblich versucht, durch psychologische Analyse dem Phänomen auf den Grund zu kommen; sie ist bisher noch nicht zu einer einheitlichen Auffassung gelangt. Die Erklärungen, welche die Ästhetik im Laufe ihrer Entwicklung vom Wesen des Komischen aufgestellt hat, bieten ein buntes, verworrenes Bild; eine Auffassung wird von einer anderen bekämpft und verdrängt, die frühere gelegentlich von einem späteren Denker wieder aufgenommen; nicht selten, zumal in der neuesten Zeit, treten uns auch Versuche entgegen, Abweichendes zu vereinigen oder zu verschmelzen. Lehrreich ist zunächst ein kurzer Überblick: selbstverständlich kann es sich nur um die geschichtlich wichtigsten oder sachlich bedeutendsten Erklärungsversuche handeln. Auch hier steht Aristoteles an der Spitze. Seine oft angeführte Definition des Lächerlichen lautet: es sei „eine schmerzlose und unschädliche Unzulänglichkeit und Häßlichkeit“. (τὸ γελοῖόν ἐστιν ἁμάρτημα τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ οὐ φθαρτικόν. Poetik Kap. 5.) Nicht länger noch eingehender ist die Definition Lessings (Dramaturgie Stück 28). „Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.“ Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke Bd. 18 S. 202 f.): „Wenn nun der Verstand eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln Perspektive einer anderen wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunftidee und das Komische den angeschaueten Unverstand?“ Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung § 13: „Das Lachen entsteht jedesmal aus nichts anderem als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und dem realen Objekt, das durch ihn in irgend einer Beziehung gedacht worden war, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. ─ Je richtiger nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer und greller andrerseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen.“ Unter den neueren Psychologen ist zuerst Fechner dem Problem des Komischen näher getreten. (Vorschule der Ästhetik I S. 221 ff.) Er führt „die Fälle, welche den Charakter der Ergötzlichkeit, Lustigkeit, Lächerlichkeit tragen“, auf das „Prinzip der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen“ zurück. Insbesondere „erwecken uns Vergleiche wie Wortspiele um so größeres Gefallen und finden wir sie um so leichter lustig und selbst lächerlich, je treffender, leichter faßlich die einheitliche Verknüpfung einerseits, je größer die Verschiedenheit oder der anscheinende Widerspruch, der dadurch vermittelt wird, andrerseits, je ungeläufiger, unerwarteter, überraschender, fernerliegend die Weise der Verknüpfung drittens ist.“ Etwas abweichend Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl., Bd. 2): „Beim Komischen stehen die einzelnen Vorstellungen, welche ein Ganzes der Anschauung oder des Gedankens bilden, untereinander oder mit der Art ihrer Zusammenfassung teils in Widerspruch, teils stimmen sie zusammen. So entsteht ein Wechsel der Gefühle, bei welchem jedoch die positive Seite, das Gefallen, nicht nur vorherrscht, sondern auch in besonders kräftiger Weise zur Geltung kommt, weil es, wie alle Gefühle, durch den Kontrast gehoben wird.“ ─ Schon der englische Philosoph Hobbes macht gelegentlich die Bemerkung, das Gefühl des Komischen entspringe „dem plötzlich auftauchenden Selbstgefallen, das sich ergeben aus der Vorstellung einer Überlegenheit unseres Selbst in Vergleich mit der Inferiorität anderer oder der Inferiorität, die wir selbst empfunden“. Eine eingehendere Lehre vom Komischen hat Karl Groos (Einleitung in die Ästhetik, Gießen 1892) auf die gleiche Auffassung begründet. Scharfsinnig unterscheidet er zwischen dem Komischen, soweit es außerhalb der Kunst uns entgegentritt, und dem ästhetisch Komischen. Das erstere führt er ganz und gar auf jenes Gefühl der Überlegenheit über etwas Verkehrtes zurück. „Wir haben bei jedem Komischen das behagliche Pharisäergefühl, daß wir nicht sind wie dieser Verkehrten einer.“ (S. 392.) Dieses Gefühl gilt uns selbst, insofern wir, um die Verkehrtheiten zu verstehen, genötigt waren, einen Augenblick an ihr teilzunehmen, in sie einzugehen. Dieses letztere Moment ist nun der Ursprung des ästhetisch Komischen. Denn das Wesen der ästhetischen Anschauung beruht „in der inneren Nachahmung“, und wenn diese in dem ganzen Prozeß eine herrschende Stellung einnimmt, so tritt „der feinere Genuß des ästhetischen Verhaltens ein“, „die gröbere außerästhetische Lust an der eigenen Überlegenheit wird zurückgedrängt“. (S. 406). „Die Erhöhung unseres Selbstgefühls wird nicht mehr der eigentliche Zweck sein, sondern nur noch die heitere Grundstimmung bilden, mit der wir spielend immer wieder in die innere Nachahmung des Verkehrten eingehen.“ ─ „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts,“ so die bedeutsame Definition Kants in der Kritik der Urteilskraft § 54. „Wir lachen nicht, weil wir uns etwa klüger finden als ein Unwissender, oder sonst über etwas, was uns der Lust hierin Wohlgefälliges bemerken ließe.“ Auf dieser Grundanschauung baut Lipps (Komik und Humor. Eine psychologische ästhetische Untersuchung. Hamburg und Leipzig 1898) seine eingehende und scharfsinnige Theorie des Komischen auf, indem er sie mannigfach modifiziert und bereichert. „Das Gefühl der Komik entsteht, indem ein ─ gleichgültig ob an sich oder nur für uns ─ Bedeutungsvolles oder Eindrucksvolles für uns oder in uns seiner Bedeutung oder Eindrucksfähigkeit verlustig geht.“ Oder wie es an einer andern Stelle heißt: „Das Gefühl der Komik ensteht überall, indem der Inhalt einer Wahrnehmung, einer Vorstellung, eines Gedankens den Anspruch auf eine gewisse Erhabenheit macht oder zu machen scheint, und doch zugleich eben diesen Anspruch nicht machen kann oder nicht scheint machen zu können.“ In diese Reihe von Begriffsbestimmungen habe ich diejenigen nicht aufgenommen, die, wie es hauptsächlich bei den Romantikern und den von ihnen beeinflußten Philosophen geschehen ist, das Komische von einem metaphysischen oder ihm verwandten, allgemein ästhetischen Standpunkt aus zu erfassen suchen, und ebensowenig die rein psychologischen und physiologischen Theorien, denen es ausschließlich auf den Zustand des Subjekts, nicht auf das objektiv Komische, das uns hier allein interessiert, ankommt. Und doch sieht man beim ersten Blick, wie wenig den angeführten Lehren gemeinsam ist, wie gänzlich verschieden die Art, in der sie sich des Gegenstandes zu bemächtigen suchen. Freilich, auch das tritt schon bei kurzer Betrachtung hervor, daß unter den angeführten Definitionen einige offenbar zu weit, andere hingegen zu eng sind, und überdies den meisten etwas Schiefes anhaftet, das von dem eigentlichen Untersuchungsgebiet abführt. Zu weit ist, wie man auf den ersten Blick sieht, die Definition des Aristoteles. Baumgart, der konservativste unter den modernen Vertretern der Poetik, sieht freilich in dieser Definition immer noch die einzige stichhaltige Erklärung und sucht in einem längeren Abschnitt seines Werkes (Handbuch der Poetik, Stuttgart 1887) das Wesen der komischen Dichtung hieraus abzuleiten. Allein in Wahrheit gibt der griechische Denker nichts als ein übrigens rein negatives Kennzeichen an, indem er feststellt, daß die komische Wirkung den Gedanken an etwas Schädliches ausschließt; wenn er aber behauptet, daß jedes unschädliche Häßliche und Mangelhafte lächerlich wirke, so kann uns die Erfahrung täglich vom Gegenteil überzeugen. Weder ein häßlicher Mensch, noch ein mißgestaltetes Tier erregt ohne weiteres unser Lachen, und nicht minder falsch wäre die Umkehrung des Gesetzes, als ob alle komische Wirkung durch etwas Häßliches oder Mangelhaftes hervorgebracht würde. Lessings Bestimmung wendet sich in ihrem Zusammenhang, wie man nicht übersehen darf, gegen die engherzige moralisierende Äesthetik seiner rationalistischen Vorgänger: es kommt ihm darauf an, zu zeigen, daß die Wirkung der Komödie, wie das Gefühl des Komischen überhaupt, nicht notwendigerweise durch einen moralischen Mangel hervorgebracht werden müsse. Seine Äußerung hat, wie viele andere in der Dramaturgie, wesentlich negative Bedeutung, sie will eine Schranke niederreißen, nicht aber eine Theorie des Komischen begründen. Kein Wunder also, wenn sie, als Definition genommen, zu weit ausfällt und dem Wortlaut nach Gegenstände unter den Begriff des Komischen zu fassen scheint, die in Wahrheit nichts weniger als komisch sind, nämlich alles Verkümmerte und Verkrüppelte. Auch die Erklärungen Fechners und Wundts sind nicht erschöpfend, wie das namentlich in Fechners Darstellung hervortritt. Die Verknüpfung des Mannigfaltigen kann auf die verschiedenste Weise zustande kommen, und phantastische Gedankensprünge brauchen nichts Komisches zu enthalten: ein Centaur ist an sich keine belustigende Vorstellung, und selbst die Idee, eine solche Gestalt im modernen Leben erscheinen zu lassen, braucht, wie man sich aus einer schönen Novelle Paul Heyses überzeugen kann, keineswegs als Witz zu wirken. Etwas anders steht es mit der Schopenhauerschen Erklärung des Komischen. Sie bringt unzweifelhaft ein logisches Verhältnis, das bei jeder Art der komischen Wirkung hervortritt, richtig zum Ausdruck; aber mit diesem Kennzeichen ist weder die psychologische Wirkung, noch das reale und objektive Wesen des komischen Gegenstandes irgendwie erklärt. Vor wie nach werden wir also genötigt, nach diesem Wesen zu forschen. Inhaltvoller und bedeutsamer als diese rein formalistischen Erklärungsversuche sind die Lehren von Hobbes und Groos einer-, Kant und Lipps andrerseits. Dennoch überzeugt man sich leicht, daß das Gefühl der Überlegenheit nicht ausreicht, um den ganzen Umkreis komischer Wirkungen zu erklären. Am deutlichsten tritt das bei den Erscheinungen, von denen Fechner ausgeht, also bei Wortspielen und witzigen Vergleichen, hervor. Wem soll sich der Hörer da überlegen fühlen, sofern sie nicht etwa zufällig auf Kosten eines Dritten gemacht sind? Man betrachte etwa die scherzhafte Rätselfrage. Wenn die Komik hier wirklich auf dem Gefühl der Überlegenheit (sei es auch uns selbst gegenüber) beruhte, so könnten wir sie offenbar nur empfinden, wenn wir die Lösung selber fänden, nicht aber wenn wir sie von einem andern hören müßten; und gerade auf das letztere ist doch diese ganze Art von Scherzen berechnet. Aber auch die Dichtung fügt sich nur sehr gezwungen unter Groos' an sich geistreiche Erklärung. Wenn wir über die Amme in Romeo und Julia oder über den Kapuziner in Wallensteins Lager lachen, so liegt uns doch wohl jeder (auch unbewußte) pharisäische Vergleich unserer eigenen Persönlichkeit mit diesen Gestalten, aus dem ein Gefühl unserer Überlegenheit hervorgehen könnte, völlig fern. Auch ist Groos feinfühlig genug, um diese Idee abzuweisen, aber sollten wir uns wirklich, wie er behauptet, wenn auch nur momentan, soweit mit diesen Gestalten identifizieren, daß wir schließlich über uns selbst lachten? Das ist geistreich konstruiert, aber entspricht nicht dem psychologischen Vorgang, den wir an uns oder anderen beobachten können. ─ Man muß die Erörterungen, mit denen Lipps die einzelnen Arten des Komischen feststellt und durchgeht, selbst lesen, um zu sehen, daß für sie ganz Ähnliches gilt. Auch ihnen ist in allzu viel Fällen der Charakter des Gezwungenen und Gewundenen aufgedrückt. Das ganze Gebiet der Charakterkomik insbesondere will sich der Definition nicht einordnen, und auch sonst tritt in einer Reihe von Einzelheiten die Diskrepanz hervor. Auffallend namentlich ist es, wie oft die komischen Beispiele, die Lipps aus dem Leben anführt, gar nicht komisch wirken. Dennoch wird man das Buch nicht aus der Hand legen ohne das Gefühl, daß hier wie auch bei Groos Elemente und Ansätze zum Verständnis des Problems gegeben sind, die jede ernsthafte Untersuchung zu berücksichtigen hat. Alle diese Erklärungsversuche gehen darauf aus, das Wesen des Komischen in seinen verschiedenen Erscheinungen auf einen gleichartigen psychologischen Vorgang oder eine ebenso einheitlich bestimmte objektive Eigenschaft zurückzuführen. Sie alle setzen voraus, daß es eine solche einheitliche Grundlage des Komischen gebe, in welcher Gestalt es sich auch darstellen möge. Allein diese Voraussetzung hat sich bisher nicht bestätigt. Keiner der eingeschlagenen Wege hat zur Lösung des Problems geführt, so mancher wertvolle Beitrag im einzelnen auch zu Tage gefördert ist. Das Lächerliche zeigt sich uns nach wie vor in einer Reihe heterogener Erscheinungen, unter verschiedenen Bedingungen auftauchend und durch verschiedene Ursachen hervorgerufen. Diese Erscheinungen lassen sich auf eine Anzahl von Grundformen zurückführen, und für einzelne derselben hat einer oder der andere der angeführten Denker eine einleuchtende Lösung gefunden. Daher ist es begreiflich, wenn er in solchen Fällen das Gesamtwesen der Komik aufgedeckt zu haben meint; allein berechtigt ist dieses Verfahren nicht, da es offenbar die Spezies für die Gattung setzt und um des Begriffs willen den Tatsachen Gewalt antut. Die wissenschaftliche Methode verlangt, daß die einzelnen Klassen von Erscheinungen zunächst einzeln beschrieben und erklärt werden: ergibt sich dabei die erwünschte Einheit, um so besser; ergibt sie sich nicht, so müssen wir eben bei der Verschiedenheit stehen bleiben. Denn an sich ist es nicht einzusehen, warum jene Einheit als Grundlage überhaupt vorhanden sein muß. Die Arten der komischen Wirkungen könnten sehr wohl auf verschiedenen psychologischen oder ästhetischen Vorgängen beruhen, und was sich zu einer systematischen Einheit nicht untereinander fügen will, das könnte doch neben einander seine Richtigkeit haben. Versuchen wir es daher, für die einzelnen Typen des Lächerlichen, wie sie sich dem unbefangenen Blick darstellen, ein Verständnis zu gewinnen. Wir werden dabei unserer Aufgabe gemäß die komischen Wirkungen, wie sie in der Dichtkunst hervortreten, in erster Reihe ins Auge fassen, allein wir müssen die unmittelbaren Erfahrungen des Lebens zu Hilfe rufen, soweit sie uns durch fruchtbare Analogien das Wesen der ästhetischen Vorgänge zu erschließen vermögen. Eine solche Betrachtung zeigt uns nun zunächst, daß das, was die Menschen als komisch empfinden, nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen dasselbe ist, vielmehr sich mit der fortschreitenden geistigen Entwicklung verändert. Primitive Völker und Zeiten werden durch andere Dinge belustigt und erheitert als hoch kultivierte, Kinder durch andere als Erwachsene, ein Publikum aus den unteren Volksklassen durch andere als die oberen Zehntausend. Daher werden wir nur dann hoffen dürfen, zu einem Verständnis für das Wesen der Komik zu gelangen, wenn wir diese Verschiedenheit von vornherein mit in Rücksicht ziehen. Denn deutlicher als viele andere Erscheinungen auf dem Gebiete der Dichtkunst zeigt sich das Komische als ein Entwicklungsphänomen, und die höheren und feineren komischen Wirkungen sind nur als Produkte eines längeren geistigen Fortschritts zu betrachten. Man muß mithin das Lächerliche zunächst in seinen primitiven Formen zu erfassen suchen; man muß mit der Frage beginnen, was die einfachsten und natürlichsten Menschen als lächerlich empfinden, um dann zu den höheren und komplizierteren Formen der Komik aufzusteigen. Dabei dürfen wir, einer oft beobachteten Übereinstimmung folgend, die Empfindungsweise primitiver Völker und Menschen derjenigen gleichsetzen, die wir noch heute an Kindern und ungebildeten Leuten beobachten, und die Erfahrung über die einen durch die Kenntnis der anderen ergänzen. ─ Schon auf dieser ursprünglichen Stufe zeigt sich nun, daß die komische Wirkung durch mehrfache, von Grund aus verschiedene Eindrücke hervorgerufen wird. Es gibt gewisse Vorstellungen und Gegenstände, die auf ein naives Publikum immer belustigend wirken, offenbar nur darum, weil sich an sie ein Überschuß von Lustgefühl knüpft. Dies sind in erster Reihe sexuelle Vorgänge und Vorstellungen, und zwar in groben und sinnlichen Erscheinungsformen. Wenn in unserem Norden und in unserer Zeit die unverhüllte Darstellung solcher Dinge nicht nur polizeilich verboten ist, sondern in der Tat das Schamgefühl auch vieler ungebildeten Menschen verletzt, so zeigt der naivere Orient, etwa in den türkischen Schattenspielen, über die Reich a. a. O. eingehend berichtet, noch heute die ursprüngliche Empfindungsweise. Wie das unverhüllt Geschlechtliche im Munde naiver Völker verwertet und gewertet wird, davon geben uns die vor kurzem erschienenen Sammlungen südslavischer Erzählungen von S. Krauß ein mehr anschauliches als anmutiges Bild. Aber auch in der Blütezeit hellenischer Kultur ist der unzweideutig sexuelle Vorgang und das, was mit ihm in unmittelbarem Zusammenhang steht, ─ man braucht nur an Aristophanes' Lysistrata oder die Eingangsszene der Ritter zu erinnern, ─ offenbar ein Hauptmittel, um das Wohlgefühl und die Heiterkeit des Publikums hervorzurufen, wie denn die Komödie des größten attischen Lustspieldichters den Charakter des Phallusspiels nirgends verleugnet. Ein Gegenstück zu der Zote in diesem gröbsten Sinne bildet die Unfläterei, die Darstellung oder doch Benutzung des Niedrigen und Ekelhaften, die, um einen Ausdruck Tiecks zu gebrauchen, „an der tierischen Natur des Menschen ergötzt“. Wie weit hierin die ältere attische Komödie ging, in welcher Ausdehnung sie von diesem Mittel Gebrauch machte, und wie sicheren Erfolg sich die Dichter davon versprachen, davon zeugt fast jede Seite des Aristophanes. In den Eingangsworten der Frösche gibt er ein kleines Register von „Witzen“ dieser Art, „wie sie das Publikum allezeit belacht“, aber der große Komiker, der hier über seine Konkurrenten und seine Zuschauer spottet, hat es tatsächlich niemals verschmäht, auf die gleiche Weise die Lacher auf seine Seite zu bringen. Wer nun südliche Völker kennt, weiß, daß nicht etwa die Durchbrechung des gesellschaftlichen Anstands und der Konvention die komische Wirkung erzielt, ─ das „Naturalia non sunt turpia“ galt und gilt dort heute noch für das Volksleben nicht weniger als für die Volksbühne. Die erheiternde Wirkung kann also wiederum nur durch Lustgefühle niederer Ordnung hervorgebracht sein, die sich an die Vorstellung der animalischen Funktionen knüpfen und sich im Kampfe mit dem Widrigen und Ekelhaften behaupten. Gesteigert wird nun jedes Lustgefühl, wenn es unerwartet hervorgerufen wird, also da, wo die sexuellen und ihnen verwandten Bilder plötzlich und überraschend erweckt werden. Dies geschieht am einfachsten in doppelsinnigen Worten und Wendungen, in der Zweideutigkeit. Der ungebildete Mensch ist im allgemeinen für eine andere Art des Wortwitzes gar nicht empfänglich; aber auch in dem, was sich die Herrengesellschaft der höheren Klassen zur Belustigung erzählt, nehmen die Zoten an Zahl wie dem Interesse nach, das sie erregen, den ersten Platz ein. Und ein Blick über die komische Literatur von Aristophanes bis auf Voltaire und Heine zeigt uns das gleiche Bild. Aber freilich, es ist in der entwickelteren Kultur der modernen Gesellschaft nicht mehr die bloße primitive Freude am Geschlechtlichen, was der Zweideutigkeit ihren Reiz verleiht; vielmehr kommt hier wesentlich in Betracht, daß die sexuellen Vorgänge so gut wie die ihnen verwandten animalischen Funktionen als unanständig aus dem Gesprächskreise, in dem die gute Gesellschaft sich bewegt, verbannt sind: aus dem Vorstellungsbereich der Menschen aber können sie gleichwohl nicht verbannt werden, und so tauchen sie denn naturgemäß in Gespräch und Umgang immer wieder auf, aber verhüllt und gleichsam vermummt, zum Vergnügen der Hörer. Indessen dieses Vergnügen wird nun nicht mehr bloß durch den verhüllten Gegenstand erregt, sondern die Hülle selbst, die ihn verdeckt und zugleich durchscheinen läßt, belustigt. Und je zierlicher sie gestaltet ist, je artiger der Doppelsinn sich gibt, desto mehr mischt sich Freude am Spiel, also ein höheres ästhetisches Element, in die bloße sexuelle Lustempfindung; zuletzt bleibt der sinnliche Untergrund nur noch der Träger eines wesentlich ästhetischen Vergnügens. Die französische Literatur im achtzehnten Jahrhundert, ebenso auch Heines ihr geistverwandte Schriften zeigen den Übergang deutlich: ihre Zweideutigkeiten sind fast durchweg feiner und witziger als das, was das Altertum in dieser Hinsicht hervorgebracht hat. Selbst unseres biedern Uhlands Ballade „Graf Eberstein“ gibt ein Beispiel einer also verschleierten und verfeinerten sexuellen Spitze. Von hier aus ist denn nur noch ein Schritt, bis das Spiel mit den Worten den ursprünglichen Boden verläßt und sich auf andere Gebiete, zum Beispiel das satirische, fortpflanzt oder auch als reines Formenspiel gleichsam in der Luft sein Wesen treibt. Manche Dialoge Shakespearescher Komödien machen das anschaulich. Und wie der junge Goethe solche Wortspiele schätzte, davon legt die bekannte Stelle im elften Buche von Dichtung und Wahrheit Zeugnis ab. Ein Schritt in anderer Richtung führt vom Wort- zum Gedankenwitz im tieferen Sinn. Der Klang als verbindende Einheit wird ersetzt durch einen vermittelnden Gedanken, der den Doppelsinn verbindet. Aus der gegebenen, scheinbar einfachen Vorstellung springt plötzlich eine andere, völlig verschiedene hervor, während uns doch jener Zusammenhang des Entgegengesetzten im Bewußtsein bleibt. Oder umgekehrt ─ zwischen widersprechenden Vorstellungen tritt eine Verwandtschaft, eine Gleichheit hervor, die sich zumeist nur auf einen Teil, oft nur einen untergeordneten erstreckt. In beiden Fällen entsteht eine analoge Wirkung wie im Wortwitz; der Widerstreit zwischen Gegensatz und Gleichheit wird zum lustvollen Spiele, das wir als komisch empfinden. Schon die oben angedeutete Schlußwendung in Uhlands Graf Eberstein ist mehr ein Gedanken- als ein Wortspiel, denn der Witz würde bleiben, auch wenn das gleiche Wort („Schlößlein“) verändert und etwa durch das farblose „Du“ ersetzt wäre; und Jean Paul macht mit Recht darauf aufmerksam, daß, was in einer Sprache als Wortspiel erscheint, unter Umständen in einer anderen als Gedankenwitz auftreten kann. Den Übergang zwischen Wort- und Gedankenwitz veranschaulicht recht drastisch das Gespräch zwischen Just und Franziska in Minna von Barnhelm III 2. ─ Was ich soeben zu entwerfen versucht habe, ist eine Art entwicklungsgeschichtlicher Erklärung. Sie führt vom animalisch sinnlichen Gebiet in das des freien Formenspiels. Zu der bloßen Lust an einem bestimmten Vorstellungskreis tritt zunächst als steigerndes Element die Überraschung, und hieraus erwachsend der Gegensatz zweier Bedeutungen oder Beziehungen. Dieser Gegensatz in seinem Wettstreit mit der verknüpfenden Einheit des Wortes oder der Vorstellung wird schließlich an sich lustvoll und gewinnt damit einen selbständigen Wert ästhetischer Natur. Ist diese Vermutung richtig, so ist damit eine Gattung der Komik in ihrer Wurzel bloßgelegt und in ihrem Wesen erklärt. Aber es gibt mehrere solcher Gattungen, und ihre Wurzeln sind verschieden. Versuchen wir eine zweite in gleicher Weise zu analysieren. Auf derselben primitiven Stufe, wo die sinnlichen Vorstellungen als solche erheiternd wirken und eine embryonale Form des Komischen bilden, finden wir, daß Eindrücke ganz entgegengesetzter Art eine gleiche Wirkung auszuüben: körperliche Unförmlichkeit, auffallende Häßlichkeit oder Ungeschicklichkeit, die man bei anderen wahrnimmt, erregen Lachen, nicht minder geistige Beschränktheit und Einfalt. So hielten sich die Fürsten des Mittelalters Bucklige und Zwerge als Hofnarren, so erregt noch heute der Clown im Zirkus (man denke an die Spezialität des „dummen August“) immer erneutes Gelächter. Woher kommt das? An sich muß, so sollte man meinen, der Anblick von etwas Häßlichem und Abstoßendem eher Unlust als Lust erwecken, und auf Menschen einer höheren Kulturstufe wirkt er ja auch so. Das erheiternde Moment kann hier in der Tat schwerlich in etwas anderem liegen, als in einem naiven Gefühl der Überlegenheit. Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller erheiternden Wirkung angesehen. Man beobachte Kinder, die etwa auf der Straße spielen: was erregt ihre Heiterkeit? Zunächst lassen sie eine natürliche Spottlust aneinander aus; jedes unter ihnen, das etwas Abnormes in der Erscheinung hat, das ungewöhnlich oder schlechter als die anderen angezogen ist, das hinkt oder stottert, wird verlacht oder verhöhnt. Plötzlich ist das alles vergessen: es erscheint ein Betrunkener, der über die Straße schwankt, sofort ist die ganze Schar lachend und johlend hinter ihm drein. Er droht und poltert, das erhöht nur die allgemeine Freude, denn sie wissen: er steht nicht mehr fest auf den Füßen und vermag sich seiner Peiniger nicht zu erwehren. Daß diese Heiterkeit Schadenfreude ist, daß sie aus dem mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein hervorgeht: wir sind die Stärkeren, die Gesünderen, wird kaum ein Zuschauer bezweifeln. Und nicht anders empfindet ein naives Publikum, wenn es den Betrunkenen auf der Bühne oder den täppischen Clown, der vom Pferde fällt, im Zirkus sieht. Die primitiven Spottlieder von Naturvölkern, von denen Grosse (Die Anfänge der Kunst, S. 228) Beispiele gibt, zeigen das in einfachster Form. Dies Gefühl der Überlegenheit, Schadenfreude oder Spottsucht kann genau so wie die oben geschilderten lusterregenden Vorstellungen zum Untergrund oder zum Inhalt des Wort- oder Gedankenspiels werden. Dann entsteht das Pasquill, der beißende Witz, der in unzähligen gröberen oder feineren Formen das Leben und die Weltliteratur durchzieht. Andrerseits aber kann man schon auf der primitiven Stufe eine eigentümliche Mischung beider Arten von komischen Wirkungen beobachten, die durch bestimmte Eindrücke regelmäßig hervorgebracht wird. So verhält sichs z. B. beim Anblick von Prügelszenen. Schon bei wirklichen Schlägereien ist die Sympathie naiver Zuschauer, wie man täglich beobachten kann, zumeist auf Seiten des Siegenden, so lange wenigstens, als er sie nicht durch Brutalität gegen den Besiegten verscherzt. Der Unterliegende wird verlacht, und auf der Bühne gar ist der Geprügelte immer die komische Figur. Hier kommt offenbar beides zusammen: der Eindruck der Kraft, die der Sieger entwickelt, tritt in eine Reihe mit jenen Vorstellungen animalischer Lustgefühle und erzeugt gleiche Lust wie sie; dem Besiegten gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung, die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit. Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich oft wiederkehren. Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben. Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen. Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen Faktor der Wirkung auf. Das wichtigste dieser Elemente ist ein Wert- oder Größengegensatz. Etwas, das zunächst als bedeutend, groß, kraftvoll erscheint, löst sich in etwas Unbedeutendes, Kleines auf. Kant legt dabei den Ton auf den Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung. „Das Lachen“, heißt es bei ihm, „ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.“ In der Tat hat er damit eine bestimmte Art komischer Wirkung richtig erfaßt und beschrieben. Der Vers des Horaz „Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“, gibt das Schema dieser Art von Komik. Eine Volksmenge wartet zusammengedrängt und gespannt vor dem Dome auf das Erscheinen eines fürstlichen Brautpaars. Nach langem Harren öffnet die schwere Tür sich langsam und unter allgemeiner Spannung erscheint ein kleiner Groom, der einen Schoßhund hinausführt. Wer hat nicht gelegentlich einmal das Gelächter gehört, das in solchen Lagen sich zu erheben pflegt, die schlechten oder guten Witze, die aus der Menge ertönen? Man sollte meinen, die Enttäuschung ärgere: offenbar ist das Gegenteil der Fall, sie erheitert. Der Löwenkampf im Don Quichote! Der wahnsinnige Ritter hat den Wärter gezwungen, den Käfig zu öffnen. Die Umstehenden sind voller Angst geflüchtet und erwarten von fern den tragischen Vorgang, der sich entwickeln muß. Don Quichote geht dem Löwen, „der wirklich von außerordentlicher Größe und furchtbar erregendem Aussehen war“, zu Fuß entgegen, um einen ritterlichen Kampf zu bestehen. Der nächste Moment scheint eine schreckliche Katastrophe bringen zu müssen. „Die Bestie steckte den Kopf aus dem Käfig hervor und sah sich nach allen Seiten mit glühenden Augen und Blicken um, ein Anblick, geeignet, selbst die leibhaftige Tollkühnheit in Schrecken zu setzen. Plötzlich aber, nachdem sie sich, wie gesagt, überall umgeschaut hat, kehrt sie dem Ritter ihr Hinterteil zu und geht gelangweilt wieder in den Käfig zurück.“ Auf dem gleichen Gegensatz beruht die komische Wirkung in Gedichten, die, scheinbar ernsten Charakters, statt der erwarteten Pointe plötzlich eine Banalität geben. Walter von der Vogelweide schildert in einem bekannten Lied, wie er in einer schönen Sommerlandschaft an einem kühlen Bronnen im Schatten einer Linde eingeschlafen war und den schönsten Traum seines Lebens träumte. Das Schreien einer Krähe erweckt ihn. Zornig und voll Kummer fährt er auf, die holde Phantasie ist verschwunden. Trost kann ihm nur eine wunderalte Wahrsagerin geben, die ihm den Traum deuten will. Und was weiß sie zu sagen? „Zwei und eins, die machen drei, dann noch sagt sie mir dabei, daß mein Daum ein Finger sei.“ ─ Auf einen ganz ähnlichen Effekt kommt der berühmte Schluß von Heines Seegespenst hinaus, wo der phantastische Träumer mit den Worten geweckt wird: „Doktor, sind Sie des Teufels?“ Und durchaus typisch ist das kleine Gedicht aus der „Heimkehr“: Die Jahre kommen und gehen, Geschlechter steigen ins Grab, Doch nimmer vergeht die Liebe, Die ich im Herzen hab'. Nur einmal noch möcht' ich dich sehen, Und sinken vor dir aufs Knie, Und sterbend zu dir sprechen: „Madam, ich liebe Sie!“ Die bisher geschilderten komischen Wirkungen beruhen nun zwar auf dem überraschenden Gegensatz zwischen Erwartung und Erfüllung und entsprechen somit der Kantschen Definition. Dennoch ist dies nicht die notwendige Grundform, sondern nur eine, allerdings die wirksamste Gestalt, in welcher die hier in Rede stehende Gattung des Komischen auftreten kann. Schon das muß zu denken geben, daß auch hier, wie bei der Situationskomik, der Zuschauer vor der Bühne keineswegs immer überrascht zu werden braucht, um eine Wendung lächerlich zu finden. In Kleists Meisterlustspiel Der zerbrochene Krug sehen wir die Entdeckung des Sünders Adam lange vorher kommen, ehe die Personen auf der Bühne sie gemacht haben, und doch tut das der erheiternden Wirkung nicht den mindesten Eintrag. Wir werden vielmehr ganz allgemein sagen müssen: überall, wo ein Hohes und Bedeutungsvolles in ein Nichtiges und Kleines umschlägt oder sich als ein solches enthüllt, wirkt der Gegensatz komisch. Daher hat Lipps ganz recht, wenn er (Komik und Humor S. 137) die Kantische Definition erweitert und den Begriff der Spannung in den der psychischen Disposition umdeutet. Die Überraschung erhöht freilich stets diese Wirkung, ist aber keineswegs unbedingt nötig, um sie hervorzurufen. Auf den Kontrast zwischen Hohem und Niedrigem ist fast die ganze Komik des Don Quichote gestellt. Alles was der törichte Held für groß und bedeutungsvoll hält, ist in Wahrheit nichtig und gewöhnlich, und der Dichter läßt uns von vornherein darüber nicht im Zweifel. Gleichwohl versagt ihm die komische Wirkung nicht. Man lese etwa das Kapitel (T. I, 31), wo Sancho Pansa über seine Botschaft an Dulcinea von Toboso berichtet: „Du kamst an,“ sagte Don Quichote, „womit beschäftigte sich denn die Königin der Schönheit? Ohne Zweifel fandest du sie, wie sie Perlen aufreihte oder für ihren gefangenen Ritter ein Sinnbild in Gold stickte?“ „So fand ich sie nicht,“ antwortete Sancho, „sondern sie worfelte gerade ein paar Scheffel Weizen auf der Tenne ihres Hauses.“ „Aber sage mir weiter, was machte sie mit meinem Brief, als du ihn übergabst? Küßte sie ihn? Drückte sie ihn an ihre Stirn? Gab sie sonst durch irgend eine Geberde zu erkennen, wie wert ihr der Brief war? Oder was tat sie?“ „Als ich ihr den Brief geben wollte,“ sagte Sancho, „stand sie eben im dicksten Staube, den ein Haufen geworfelten Weizens verursacht hatte. ,Legt euren Brief nur dort auf den Sack, Freund,' sprach sie, ,ich habe nicht eher Zeit, ihn zu lesen, bis ich all den Weizen, der hier liegt, geworfelt habe.'“ u. s. w. Immermanns Münchhausen, dessen Schloßroman in vielen Stücken den Einfluß des Don Quichote zeigt, bildet ein würdiges Gegenstück zu diesem klassischen Vorbild. Der alte Baron mit seinen Legitimitätshoffnungen, das ältliche Fräulein Emerenzia, die den Bedienten Karl Buttervogel solange für einen Fürsten, den früheren Angebeteten ihres Herzens, hält und als solchen behandelt, bis er selbst daran glaubt, der Schulmeister Agesel, der ein Nachkomme des Lacedämonierkönigs Agesilaos zu sein vermeint, sie alle wirken durch den Gegensatz zwischen einer banalen Wirklichkeit und der überspannten Höhe ihrer Einbildungen. Und hier ebenso wie im Don Quichote ist der Leser von vornherein über den Wahn unterrichtet, in dem die Personen sich bewegen; ihre Narrheiten und Mißverständnisse wie deren Lösungen überraschen kaum in einzelnen Punkten, und doch wirkt die Darstellung im höchsten Grade erheiternd. Daher ist denn in solchen Fällen ein Hin und Her zwischen dem Kleinen und dem Großen, zwischen Ernst und Scherz, ein beständiges Wiederanknüpfen des Gegensatzes möglich, und der Charakter des Spiels tritt dabei besonders deutlich hervor. Die künstlerische Disposition zu solchem Spiel war es, was die Romantiker „Ironie“ nannten und in so vielen ihrer Dichtungen auszudrücken strebten: die Auflösung der Stimmung in ihr Gegenteil, die erneute Wiederanspannung und Auflösung. Belehrend ist in dieser Hinsicht Tiecks Komödie Die verkehrte Welt, wo ─ freilich mit einer Absichtlichkeit, welche die erheiternde Wirkung beeinträchtigt, ─ die dargestellte Handlung beständig in die Darstellung der Bühne als solcher umschlägt, Dichter, Theaterdirektor und Maschinist unter den handelnden Personen auftreten und die Bühne einen Ort der Handlung, zugleich aber die Bühne selbst darstellt. ─ Tiefsinniger und zwingender sind die Phantasieschöpfungen E. Th. A. Hoffmanns. Er liebt es, seinen Personen eine groteske Doppelnatur zu verleihen: alltägliche Menschen, subalterne Beamten oder Handwerker erscheinen plötzlich als Zauberer oder Dämonen, um alsbald wieder in die alte Banalität zurückzusinken. Der Archivarius Lindhorst ist eigentlich ein mächtiger Geisterfürst, die Stiftsdame von Rosengrünschön eine gute Fee; der Magister Tinte, der die armen Kinder peinigt, die ihm zur Erziehung übergeben sind, ist in Wahrheit eine große Brummfliege oder ein Dämon in der Gestalt einer solchen, und der König Daukus Carota, der um die Hand der hübschen kleinen Baronesse wirbt, eine Mohrrübe. ─ Auch Heine kennt nicht nur den Umschlag vom Erhabenen ins Lächerliche, von dem wir eben ein Beispiel sahen; er weiß auch den umgekehrten Weg zu finden, und viele seiner späteren Gedichte, besonders aber der Atta Troll, zeigen das echt romantisch-ironische Wechselspiel zwischen Erhabenem und Banalem. Schon die Möglichkeit dieses Spiels zeigt, daß es einseitig ist, wenn man die komische Wirkung immer nur aus dem Umschlagen des Großen ins Kleine ableiten will, nicht auch umgekehrt aus dem Sprung vom Kleinen ins Große. Richtig ist, daß der erstere Weg der gewöhnlichere ist, allein der Grund ist zunächst nur der, daß das Bedeutende und Eindrucksvolle in vielen Fällen Affekte hervorruft, welche die erheiternde Wirkung stören oder aufheben: es erregt Furcht oder doch Respekt. Wo das nicht der Fall ist, wirkt der Wandel vom Kleinen ins Große nicht minder komisch wie der umgekehrte. In dieser Tatsache liegt die einzige Erklärung für eine Reihe komischer Wirkungen, besonders auf künstlerischem Gebiet. In einem der bekanntesten Lieder der Edda fährt der bärtige Schlachtengott Thor als Jungfrau verkleidet zu dem Riesen Thrym, der die Göttin Freya zur Braut begehrt, um durch diese List seinen Hammer wieder zu erlangen, den der Riese geraubt hat. Das Brautmahl wird geschildert: „Thor aß einen Ochsen, er aß acht Lachse“ und entlockt dem glücklichen Bräutigam den verwunderten Ausruf: „Nie sah ich je Bräute so viel Braten schlingen, nie mehr des Mets ein Mädchen trinken.“ Diese Komik der Übertreibung ins übermäßig Große ist es recht eigentlich, die wir als grotesk bezeichnen. Auf ihr beruht Rabelais' Gargantua und die deutsche Nachbildung Fischarts; nicht minder die Schilderung der Riesen in Gullivers Reisen und in Chamissos Riesenspielzeug. Nicht ganz so einfach und durchsichtig wie bei den zuerst behandelten beiden Klassen des Komischen (des Wort- und Gedankenwitzes und der Situationskomik) ist es, dem psychologischen Ursprung der zuletzt geschilderten Wirkungen nachzugehen. Allein es ist verständlich, daß das plötzliche Nachlassen angespannter Geisteskräfte, der Wandel einer Disposition, die auf schwere oder gar peinliche Eindrücke gefaßt war, zu einer heiteren Gleichmütigkeit lustvoll empfunden wird. Daher wird denn auch die absichtliche Rückkehr aus der zweiten Stimmung in die erste, der Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zu einem erheiternden Spiel, denn er weckt das Gefühl latenter und überschüssiger Geisteskräfte. Und daher erklärt sich endlich auch die Wirkung des Grotesken und der Übertreibung. Der Vergleich mit dem richtigen Vorbild, das Bewußtsein, jeden Augenblick zum Normalen zurückkehren zu können, nimmt dem Übermaß alles Bedrückende und verwandelt das Ganze in ein freies Spiel der Vorstellungen. Das Groteske kann freilich auch bis an die Grenze des Grauenhaften führen: wo uns nicht nur eine äußerliche Übertreibung ins Große, sondern eine Steigerung ins Dämonische entgegentritt, da entstehen Wirkungen, die aus Lachlust und Grauen gemischt sind und in denen bald das eine, bald das andere Element die Oberhand behält. Wenn der Riese in der Thrymskvidha der vermeintlichen Braut „kußlüstern“ naht, so flammen Thors Augen so furchtbar auf, daß jener entsetzt zurückfährt; aber es erfolgt sofort wieder eine Erklärung Lokis, die ganz ins Komische fällt. Verwandte Wirkung rufen die gemalten Totentänze des 15. und 16. Jahrhunderts hervor, welche schauerliche Gerippe in lächerlichen Verrenkungen zeigen, und dem entspricht die Goethesche Behandlung des Totentanzes in der bekannten Ballade. Grotesk in diesem Sinne ist die Schilderung der Hexen in Macbeth. Und mit der höchsten Virtuosität weiß E. Th. A. Hoffmann diese Doppelstimmung hervorzurufen und in beide Extreme hinein zu steigern. Aber die Komik der Übertreibung ist auch einer anderen Entwicklung fähig, die von den bisher geschilderten einfachen Verhältnissen stufenweise zu Erscheinungen höherer Ordnung und Bedeutsamkeit hinaufführt. Es entsteht nämlich eine neue Reihe komischer Wirkungen, wenn nicht der ganze Mensch in unnatürlichem und phantastischem Maßstabe vergrößert erscheint, sondern nur einzelne Züge im Verhältnis zu den übrigen übertrieben hervortreten. Das Wesen der gezeichneten Karikatur beruht ganz und gar auf solchen Verschiebungen des natürlichen Gleichmaßes. Eine bekannte Methode der gewöhnlichen Witzblätter ist es, den Körper eines Menschen kleiner wiederzugeben als den Kopf, was immer lächerlich wirkt. Künstlerischen Wert freilich erhält die Karikatur erst dann, wenn es typische oder individuelle, charakteristische Züge sind, die in dieser Weise hervorgehoben werden. Genau auf dem gleichen Verhältnis oder Mißverhältnis beruht die Charakterkomik in der Dichtung. Wie dort einzelne Züge der äußeren Erscheinung im Mißverhältnis zu den anderen hervortreten, so werden hier einzelne Charakterzüge zu besonderer Größe und Bedeutung aufgetrieben. Die Komik, die auf diese Weise entsteht, ist einer großen Reihe von Abstufungen vom Groben zum Feinen fähig, sie bewegt sich zwischen den typischen Masken eines Pierrot und Dottore, zwischen Shakespeares betrunkenen Kesselflickern und Polizeisoldaten oder den Rekruten Heinrichs V. einerseits und der nur eben ins Komische getauchten Charakteristik eines Paul Werner oder Just andrerseits, ja in ein und derselben Dichtung zwischen Beckmesser und Hans Sachs, zwischen Schmok und Bolz. Je äußerlicher die hervortretenden Züge sind, desto gröber ist die Schilderung und der Effekt; auffallende Gewohnheiten, sich stereotyp wiederholende Redensarten im Munde derselben Person sind unfehlbare, doch grobe Mittel das Publikum zum Lachen zu bringen. Aber auch wo die Charakteristik innerlicher ist, weist sie noch sehr verschiedene Schattierungen auf. Je stärker die einzelnen Züge hervortreten, je ausschließlicher sie herrschen, desto drastischer ist die Wirkung, gerade wie in der Karikatur ein Kopf wirkt, der ganz Nase oder ganz Stirn zu sein scheint: man denke an Molières Geizigen, der ganz Geiz, oder den bürgerlichen Edelmann, der ganz Eitelkeit zu sein scheint, an Holbergs Barbier Gert Westphaler, der überhaupt keine andere Eigenschaft zu besitzen scheint als Schwatzhaftigkeit, wie denn überhaupt das ganze moralisierende Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts diese Methode befolgt. Wenn aber die Gestaltung feiner und innerlicher wird, so treten neben dem komischen Hauptzug auch die übrigen Charaktereigenschaften anschaulich hervor, und wir gewinnen auf diese Weise das Gesamtbild eines lebendigen Menschen, den wir verstehen, ja mit dem wir vielleicht sympathisieren, während wir zugleich über ihn lachen. Die komische Wirkung beruht dann darauf, daß sich das innere Wesen entweder in einer extremen und barocken Weise äußert oder in einem Selbstwiderspruch zutage tritt. Das wird vor allem bei Dickens in einer Reihe von Gestalten anschaulich: Herr Pickwick, Herr und Frau Micawber, Betsey Trotwood u. a. Auch Fritz Reuter hat besonders in der Stromtid ähnliches erreicht. Auf dieser höchsten Stufe der Charakterkomik tritt dann nicht selten das erwähnte primitive Mittel wieder auf, die einseitige Hervorhebung einzelner Züge der Erscheinung, einzelner Gewohnheiten und Redewendungen. Aber es ist hier nur Mittel zur Charakteristik, zur Veranschaulichung der lebendigen Erscheinung, und geht nicht darauf aus, unmittelbar Gelächter zu erregen, wie in der Posse. Dickens weiß solche äußerliche Züge mit vollendeter Meisterschaft zu schildern und zu benutzen; wir haben einige Beispiele davon schon oben (S. 88) herangezogen. ─ Auch für die Charakterkomik gilt zweifellos die Einschränkung des Aristoteles: die komische Wirkung tritt nur da ein, wo uns der Gedanke an Schädliches oder Gefährliches fern liegt. Erscheint daher die hervorstechende Eigenschaft in ihrer Übertreibung für den Träger selbst oder für seine Umgebung gefährlich, ist der Selbstwiderspruch, in den ein Charakter sich verwickelt, für sein inneres oder äußeres Leben verderblich, so schlägt die Komik in Ernst um, und unser Spott verwandelt sich in Furcht oder Mitleid. Dies aber kann sehr wohl durch eine bloße Steigerung derselben Eigenschaft geschehen, über die wir vorher gelacht haben. Hierauf beruht die Möglichkeit der Tragikomik, einer dem Grotesken verwandten Mischgattung der Poesie, durch die jene widersprechenden Empfindungen abwechselnd oder auch zugleich erregt werden. Molières beste Lustspiele, besonders der Misanthrop und der Geizhals, wirken, auf uns Heutige wenigstens, in dieser Weise. Auch Shakespeares Shylock gehört hierher, und nicht weniges von Ibsen, besonders die Wildente und eine Anzahl von Episoden seiner späteren Dramen. Freilich, das unausgeglichene Nebeneinander solcher Wirkungen steht in künstlerischer Hinsicht weit unter der wirklichen Verschmelzung ernster und komischer Wirkungen im Humor, wovon im folgenden Abschnitt zu reden sein wird. ─ Drei Gruppen komischer Wirkungen sind uns in den obigen Betrachtungen entgegengetreten, jede von ihnen durch einen gemeinsamen psychologischen Ursprung und eine fortschreitende Entwicklung von primitiven zu höheren und künstlerischen Formen gekennzeichnet: wir konnten die beiden ersten als Wort- und Gedankenwitz und als Situationskomik bezeichnen; für die dritte fehlt ein gemeinsamer Name: wir wollen sie zusammenfassend Komik des charakteristischen Gegensatzes oder schlechthin Charakterkomik nennen. In ihren entwickelteren Formen beruhen sie alle drei auf einer Kontrastwirkung, sei es zwischen Wortlaut und Bedeutung, zwischen Verwandtschaft und Diskrepanz oder zwischen Unterlegenheit und Überlegenheit, Kleinheit und Größe. Aber dieses gemeinsame Kennzeichen ist rein formaler Art und dazu in den primitiven Formen des Komischen nicht einmal überall vorhanden. Auch die Überraschung ist, wie wir gesehen haben, für die meisten Arten komischer Wirkungen kein grundlegender, sondern nur ein verstärkender Bestandteil. Daher müssen wir vorläufig bei jenen drei Grundformen der Komik stehen bleiben, und es der psychologischen Ästhetik überlassen, nach einer gemeinsamen Grundtatsache des Seelenlebens zu suchen, die alle drei aus einem mehr als bloß formalen Prinzip abzuleiten und verständlich zu machen imstande ist. Dagegen können wir feststellen, daß alle drei Kategorien sich wenigstens in den höheren Arten der komischen Dichtung nicht nur äußerlich zusammen finden, sondern einander verstärken und vertiefen. Witz und Situationskomik empfangen erst Bedeutsamkeit und tieferen Sinn, wenn sie Gegensätze des Werts oder der Charakteristik zum Ausdruck bringen: das Spiel mit Gedanken, namentlich aber mit Worten wird sonst gar zu leicht fad, und die Situationskomik allzu rasch schal, wenn sie nicht durch eine tiefere Gegensätzlichkeit von innen Leben empfängt. Die Charakterkomik andrerseits kann die komische Situation kaum entbehren, wenn sie wirklich Lachen erregen will, und auch der Witz wird ihr zu Hilfe kommen müssen. Ihre volle künstlerische Bedeutung freilich erhält sie erst, wenn die rein komische Wirkung zum Humor oder zur Satire vertieft wird. Diesen dichterischen Richtungen wollen wir uns nunmehr zuwenden. 20. Satire und Humor. Wenn der lächerliche Kontrast zwischen Großem und Kleinem, Bedeutsamem und Nichtigem sittlichen Gehalt annimmt, so tritt der rein komische Charakter zurück, und es entstehen neue aus Ernst und Scherz, aus ästhetischen und ethischen Bestandteilen zusammengesetzte und verwickeltere Wirkungen. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen entsprechend der doppelten Möglichkeit des komischen Umschlagens, die uns vorhin entgegengetreten ist: vom Großen ins Kleine und vom Kleinen ins Große. Entweder das scheinbar Wertvolle, dasjenige, was allgemeine Anerkennung findet oder Ansprüche auf solche erhebt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als wertlos und niedrig, oder umgekehrt: das Mißachtete, scheinbar Wertlose enthüllt sich dem schärferen Blick als wertvoll und bedeutsam. Im ersteren Falle entsteht die Satire, im zweiten der Humor. Mit Recht sagt Lipps, Komik und Humor S. 163: „Die Komik erhält höhere Bedeutung erst, wenn Werte, die auch außerhalb der Komik bestehen, in sie eingehen.“ Er meint eben sittliche Werte, wendet aber den Gegensatz in dem Folgenden nur zur Erklärung des Humors an, während ihm die parallele Stellung der Satire entgeht. Ethisches Empfinden als solches kann niemals lächerlich sein oder erheiternd wirken. Je stärker mithin in beiden Gattungen das sittliche Gefühl durch den Inhalt oder die Art der Darstellung erregt wird, desto weniger bleibt von der komischen Wirkung übrig. Der sittliche Affekt tilgt bisweilen das Gefühl des Komischen so völlig aus, daß nur geringe Reste davon bemerkbar sind; nicht selten aber ist er verhältnismäßig schwach, so daß er die komische Kontrastwirkung als solche nicht stört. Hier liegt der Unterschied zwischen der ernsthaften (pathetischen) und der scherzenden Satire, zwischen dem scherzhaften und dem rührenden Humor. Nach dem Gesagten ist es klar, daß diese Unterschiede graduell, nicht, wie Schiller meinte, absolut sind. Jede Art von Humor enthält, wenn auch in ungleichen Mischungen, beide Elemente, und zwischen der Satire, die über die moralischen Gebrechen der Menschen lächelnd spottet, und derjenigen, die sie mit Skorpionen züchtigt, liegt wenigstens eine große Reihe vermittelnder Zwischenstufen. Die Ästhetiker pflegen zwischen subjektiver und objektiver Komik zu scheiden, je nachdem das Lächerliche als beabsichtigte Wirkung, mithin als Witz, oder als ein unbeabsichtigtes Verhalten des Objektes erscheint. Allein einen wesentlichen Unterschied macht das nicht, wenigstens für die ästhetische Betrachtung nicht, und wir konnten daher diesen Gesichtspunkt im vorigen Abschnitt einfach übergehen. Die Situationen, die der Lustspieldichter schafft, erscheinen objektiv komisch, während sie doch seiner subjektiven Absicht entspringen; er braucht nicht, aber er kann zugleich witzige Personen einführen, die das subjektiv Komische als solches vertreten. Bedeutsamer ist dieser Unterschied der Methode für den Humoristen und den Satiriker. Die Wertung, von der beide ausgehen, gehört stets dem Subjekt des Dichters an, sie muß ihm feststehen, bevor er seine Dichtung schafft. Aber es ist ein wesentlicher Unterschied der künstlerischen Methode, ob ein Dichter es vermag, diese Wertunterschiede sich selbst objektiv darstellen und voneinander abheben zu lassen, oder ob er es für nötig hält, persönlich hervorzutreten und mit seinen eigenen Worten oder auch durch Reden, die er offensichtlich zu diesem Zweck den Personen in den Mund legt, sein Werturteil zu verkünden. Viele Humoristen, wie selbst Jean Paul und Wilhelm Raabe, neigen zu dem letzteren Verfahren, das bequemer ist. Künstlerisch höher aber steht und zwingender wirkt die objektive Art, wie sie Dickens und auch Fritz Reuter eignet. Denn was uns die Betrachtung der epischen Poesie im allgemeinen gezeigt hat (siehe oben S. 147), das gilt auch von der humoristischen Darstellung im besonderen: das persönliche Hervortreten des Dichters ist stets eine Schwäche und stört, ja zerstört die künstlerische Wirkung. Noch entschiedener als der Humorist ist der Satiriker genötigt, wenn er wirklich Dichter sein und nicht zum bloßen Tendenzschriftsteller herabsinken will, auf direkte Belehrung oder Bußpredigt zu verzichten. Er muß uns erleben lassen, was er uns lehren will. Seine Menschen müssen sich vor unseren Augen entfalten, sich ganz naiv nach ihrer Eigenart geben: hierdurch werden wir in den Stand gesetzt, ja genötigt, sie zu durchschauen und den Widerspruch zwischen Schein und Wesen, zwischen äußerer Geltung und innerem Wert mit eigenen Augen zu sehen. Das Wort Ironie bedeutet bekanntlich Verstellung. Die Alten wandten es auf Sokrates an, weil er in seinen Unterredungen die Jünglinge und Männer, die er belehren wollte, scheinbar als die Wissenden behandelte, bei denen er, der Unwissende, sich Rats zu erholen gedächte, ─ um ihnen eben hierdurch ihre Unwissenheit anschaulich zu machen. Ein solcher Ironiker ist jeder echte satirische Dichter: er behandelt die Menschen ihren eigenen Ansprüchen gemäß als bedeutend und wertvoll, um eben hierdurch die Hohlheit dieser Ansprüche zu zeigen. Mit diesem Verfahren also beabsichtigt der Satiriker uns entweder zu erheitern oder in Entrüstung zu versetzen. Schiller hat, wie wir oben gesehen haben, in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung zuerst auf diesen Unterschied hingewiesen; er führt ihn darauf zurück, daß die scherzhafte Satire intellektuelle, die pathetische aber sittliche Gebrechen und Mängel geißele. Die erstere seien wir allzeit geneigt, scherzhaft zu nehmen; die letzteren seien niemals Gegenstände der Belustigung, sondern immer nur der Abneigung, ja, wenn sie sich steigern, der Empörung. Dieser geistvollen Aufstellung steht die Tatsache entgegen, daß der gleiche Gegenstand gar nicht selten in verschiedenen Bearbeitungen sowohl der ernsthaften als auch der scherzhaften Satire zugrunde liegen kann, wie etwa in Schillers eigener Dichtung der Fanatismus des zelotischen Pfaffen beim Pater in den Räubern Empörung erregt, beim Kapuziner in Wallensteins Lager aber komisch wirkt. Der Hochmut des reichen Strebers, ja sogar die übergroße Zuneigung der jungverheirateten Frau zu ihrer Familie, beides alte und oft rein komisch verwandte Motive, werden in Björnsons Fallissement und seinen Neuvermählten sehr ernsthaft behandelt. Es hängt also offenbar der Charakter der Satire nicht sowohl vom Stoff als von der Auffassung und Behandlung des Dichters ab. Und doch hat Schiller auch hier nicht ganz unrecht. Nahezu jedes moralische Gebrechen nämlich, besonders aber jeder Mißstand des gesellschaftlichen und des öffentlichen Lebens, läßt sich nicht nur von der sittlichen, sondern auch von der intellektuellen Seite auffassen: der abgeklärten Lebensweisheit erscheint der Lasterhafte einfach als Tor. Diese Auffassung nun ist es, welche der scherzhaften Satire zugrunde liegt. Sie behandelt tatsächlich die Fehler und Schwächen der Menschen als Narrheiten und die Zustände, die aus ihnen hervorgehen, als Verirrungen, die dem Spott des Weiterblickenden preisgegeben werden. Diese Grundstimmung der spottenden Satire hat Schiller selbst in schönen Worten gekennzeichnet: „Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ Es ist die Stimmung, die uns aus Goethes Cophtischem Lied entgegentönt: „Lasset Gelehrte sich zanken und streiten, Streng und bedächtig die Lehrer auch sein! Alle die Weisesten aller der Zeiten Lächeln und winken und stimmen mit ein: Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren! Kinder der Klugheit, o habet die Narren Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!“ Freilich muß noch eine zweite Forderung erfüllt sein, um die scherzhafte Satire möglich zu machen. Es ist die aristotelische Grundbedingung aller komischen Wirkung überhaupt: wir dürfen nicht sehen, daß die moralische Verkehrtheit schädliche Folgen hat; sonst schlägt unsere lächelnde Mißachtung in Entrüstung um, und die Satire wird ernsthaft, ja pathetisch. Offenbar aber hängt es auch hier mehr vom Verfahren des Dichters als vom Stoff ab, ob er unseren Blick auf diese Folgen lenken will oder nicht. Der spielwütige Offizier, der seine Familie ruiniert, ist bei Iffland eine sehr ernsthafte Gestalt, der Abenteurer und Falschspieler Riccaut bei Lessing eine durchaus komische. Nur deshalb bleibt Schillers Kapuzinerpredigt innerhalb des rein Komischen, weil sie auf die Soldaten keine Wirkung ausübt: würden wir etwa (was dem Verlauf des Dramas besser entspräche) sehen, daß die Hetzereien des Pfaffen die Stellung des Feldherrn untergrüben, so würde die Satire ernsthaft und die Wirkung auf den Zuschauer nicht mehr belustigend sein. Ein Umschlag von der pathetischen in die scherzhafte Satire und umgekehrt ist daher nicht immer leicht durchführbar, da beide eben von verschiedenen Standpunkten aus ihren Gegenstand betrachten. Gleichwohl kommt er nicht selten vor. Schon Aristophanes zeigt uns im Auftreten des Äschylos in den Fröschen und in der Streitszene zwischen den beiden Anwälten in den Wolken, wie sich aus spottendem Scherz ein furchtbar richtender Ernst erheben kann. Ähnliches sehen wir in manchen Molièreschen Lustspielen, namentlich im Misanthrop. Umgekehrt schlägt bei Schillers Hofmarschall von Kalb der pathetische Ernst der satirischen Grundstimmung in drastischen Spott um. Es gibt keine Lebenskreise, keine gesellschaftlichen Zustände, wo nicht Schein und Wahrheit, äußere Geltung und innere Hohlheit in irgend welchen Punkten kontrastieren, mithin keine, die dem Satiriker nicht Stoff böten. Der einfachste Fall und gleichsam die Grundform für die übrigen ist offenbar der, wo eine bewußte Heuchelei sich unfreiwillig selbst entlarvt: in diesem Sinn ist Molières Tartuffe das unsterbliche Vorbild jeder dramatischen Satire. Es ist jedoch keineswegs notwendig, daß dem Mißverhältnis zwischen Wahrheit und Schein immer heuchlerische Absicht zugrunde liegt, vielmehr wird es weit öfter naive Selbstüberschätzung sein, welche den Menschen über seinen eigenen Wert täuscht und fortwirkend auch andere zu täuschen vermag. Oder auch das Umgekehrte tritt ein: der Respekt, den Außenstehende empfinden, flößt dem Respektierten eine hohe Meinung von sich selber ein: Molières Femmes savantes, Ibsens Bund der Jugend zeigen diesen Typus. Endlich ist auch eine Mischung von beiden möglich: halb mit bewußter Absicht, halb ohne eine solche täuscht ein Mensch den anderen über seinen Wert. Diese verwickeltere Gattung von Charakteren (die vielleicht im Leben die häufigste ist) schildert Ibsen mit besonderer Vorliebe in den verschiedensten Schattierungen: von dem Konsul Bernick in den Stützen der Gesellschaft an, der sich vom kalten Heuchler nur wenig unterscheidet, bis zu dem fast naiven Komödianten Hjalmar Ekdal und dem genialen Baumeister Solneß. Mit furchtbarem Ernst hat Chamisso in dem Gedicht „Die Erscheinung“, wohl dem Tiefsten, was er geschrieben hat, das typische Bild einer solchen Natur entworfen. Sehen wir nun von der Psychologie der Charaktere ab und betrachten die Gegensätze selbst, welche den satirischen Dichtern Stoff bieten, so finden wir zunächst, daß eine Reihe von allgemeinen Typen mit Vorliebe von moralisierenden Dichtern behandelt werden. Der aufgeblasene und innerlich hohle Vornehme, der übersättigte und gelangweilte Reiche sind besonders in dem zum Moralisieren so geneigten 18. Jahrhundert immer wieder dargestellt und gegeißelt worden. So erscheinen sie bei den deutschen Fabeldichtern, so in des biederen Gellert treuherzigen Erzählungen, so auch in Wielands anmutiger und harmloser Kunst. Ein leichter Zug von Selbstgefälligkeit ist in den meisten dieser Darstellungen bemerkbar. Erweitert und vertieft aber wird dieser an sich etwas seichte Gegensatz zu einer allgemeinen Verspottung der Zivilisation und ihrer vermeintlichen Werte gegenüber der Einfalt und Einfachheit natürlicher Zustände: vor dem unbestochenen und unbefangenen Urteil eines schlichten Gemütes halten sie nicht stand, sie zeigen sich in ihrer Hohlheit und Verlogenheit. Es ist dies bekanntlich der Lebensgedanke Rousseaus, den Schiller eben deshalb unter die pathetischen Satiriker rechnet; zum Motiv der satirischen Dichtung ist er freilich nicht erst durch seinen Einfluß geworden. Schon in Molières Misanthrop bildet er das Thema, und in Voltaires Ingénu ist es bereits der ehrliche Hurone, der Naturmensch, in dessen Erlebnissen und Schicksalen die Zivilisation bloßgestellt wird, wie später in Seumes Kanadier, der „ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, von Kultur noch frei, im Busen fühlte“. Diese Verurteilung der Zivilisation tritt selten oder niemals ohne bestimmte Beziehung zu den gesellschaftlichen Zuständen und Bildungsformen des Zeitalters auf, in welchem der Dichter lebt. Noch einen Schritt weiter, und wir haben die eigentliche Zeitsatire vor uns, der es nicht sowohl darauf ankommt, allgemeine moralische Urteile zu fällen, als die bestimmten Gebrechen der Zeit und der Gesellschaft, welcher der Dichter angehört, bloßzustellen und zu geißeln. Dies ist bei weitem die häufigste Art der Satire überhaupt. Zur Kunstform entwickelt erscheint sie begreiflicherweise besonders in Zeiten des beginnenden oder fortschreitenden Verfalls einer hohen Kultur. So trat im Altertum Aristophanes auf, als die nationale hellenische Entwicklung eben ihren Höhepunkt überschritten hatte; so die großen römischen Satiriker Persius, Juvenal und Martial im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit. Auch in Deutschland bezeichnen Logau und Grimmelshausen den Niedergang des nationalen Lebens. Im großen Stile freilich entfaltet sich die moderne Zeitsatire erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß der Aufklärung, zunächst und am schärfsten bei den Franzosen, wo Montesquieus Lettres Persannes und besonders Voltaires Schriften, endlich Beaumarchais' Figaro Muster der Gattung wurden. Sie zeigen, wie der Satiriker, ohne die Grenzen des scherzhaften Spiels zu überschreiten, dem bedeutendsten, ja furchtbarsten Ernst Ausdruck geben kann. Die Deutschen besitzen weniger Veranlagung zu dieser Mischung von bitterem Ernst und leichtem Spott; bei uns war es die pathetische Satire, in welcher die Verurteilung der Zeit ihren Ausdruck fand. In den Dichtungen der Sturm- und Drangperiode, am kraftvollsten und leidenschaftlichsten in Schillers Jugenddramen, tritt der Protest gegen den unnatürlichen Zustand des verderbten Staatswesens und der geknechteten Gesellschaft hervor. Im 19. Jahrhundert ist es besonders das junge Deutschland und hier wiederum Börne und Heine, welche die politische und soziale Satire in den Mittelpunkt des literarischen Interesses rücken. Heines Wintermärchen und viele seiner kleineren Gedichte schlagen eine ganz neue Tonart an, welche die schwanke Leiter der Gefühle von pathetischem Ernst bis zum skrupellosen Spott hinabführt. Eine Reihe verwandter, wenn auch schwächerer Erscheinungen bezeugen, wie tief aus den Zuständen und den Bedürfnissen der Zeit heraus diese Stimmungen erwachsen waren. Die satirische Zeitschilderung ernsthaften Charakters hat in Gutzkow einen bedeutenden, wenn auch keineswegs künstlerisch vollendeten Vertreter gefunden: in seinen beiden großen schon früher angeführten Romanen „Die Ritter vom Geist“ und „Der Zauberer von Rom“ hat er noch in seinen späteren Jahren alles übertroffen, was das junge Deutschland, aus dem er hervorgegangen war, in der gegenständlichen Darstellung geleistet hat. Im übrigen hat es uns Deutschen, seitdem die Revolution von 1848 mit ihren Nachwehen verklungen ist, an einem Satiriker großen Stils gefehlt. Nicht als ob die Zustände einem solchen keinen Stoff gäben, sondern vermutlich nur, weil der Zufall der Persönlichkeit, der doch auch in der Literaturgeschichte waltet, ihn uns versagt hat. Die kleineren satirischen Talente unserer Zeit zersplittern ihre Kraft in den Witzblättern oder streben nach Augenblickserfolgen auf dem Theater, wobei denn die Polizeigewalt einerseits, der Geschmack des Publikums andrerseits der Gattung von vornherein bescheidene Grenzen setzen. Von der Unerbittlichkeit, die dem echten Satiriker eignet, zeigt sich auf der heutigen deutschen Bühne wie in der Literatur kaum hier und da ein Ansatz: am ehesten noch bei Gerhart Hauptmann, in dessen Webern und Biberpelz die pathetische und die scherzhafte Satire zu wirksamem Ausdruck kommt. Ganz anders steht es in den übrigen Ländern: in Rußland, wo die unerträglichen Zustände die Satire der Entrüstung gleichsam mit Naturgewalt hervorgetrieben haben ─ man braucht nur an Namen wie Gogol, Turgeniew, Dostojewski und Tolstoi zu erinnern ─, in Skandinavien, wo zwei kraftvolle Völker, erst vor kurzem zu politischem und sozialem Bewußtsein gelangt, einen natürlichen Ausdruck dafür in der Dichtung Ibsens, Björnsons, Kjiellands finden, vor allem aber wiederum bei den Franzosen, die zweifellos für die Satire besonders veranlagt sind. Dafür legen Bücher wie Daudets Numa Roumestan oder Guy de Maupassants Bel ami glänzende Zeugnisse ab; und in Zolas großen Sittenromanen tritt die satirische Schilderung der Zeit mit einem so furchtbaren Ernst und einer solchen Größe der Anschauung auf, daß man trotz ihrer dichterischen Mängel, über die wir uns bereits oben (S. 161 f.) klar geworden sind, manche Teile dieser Schöpfungen unmittelbar neben Juvenals Verse stellen darf. Hier herrscht durchaus jene Unerbittlichkeit, die wir in den modernen deutschen Schöpfungen vermissen und die den großen Satiriker kennzeichnet. Die Verspottung einzelner Stände braucht an sich keine sittliche Bedeutung haben, sie kann sich in den Grenzen der reinen Komik halten, wie die gutmütige Heiterkeit, mit der Hans Sachs Bauern und Landsknechte, Handwerker und Wirte durchhechelt, die Belustigung, die der prahlende Soldat in den verschiedensten Zeiten und Ländern erregt hat, oder das harmlose Vergnügen, das Hagedorns und Lessings komische Erzählungen mit der Verspottung der Ärzte, der Gelehrten und der Frauen erregten. Solche Scherze sind keine echten Satiren, sondern nur ein leichtes Spiel mit überkommenen Vorurteilen und Standestypen. Erst dann empfängt dieses Spiel Lebensblut und Bedeutsamkeit, wenn die Schwächen der einzelnen Stände als sittliche Mängel der Zeit hervortreten, wenn also auch die Standesverspottung Zeitsatire wird. Erst durch eine solche Beziehung wird aus der komischen Figur des Lessingschen Patriarchen oder dem Grafen in Beaumarchais' Figaro eine satirische Schöpfung. Und leicht verwandelt sich dann die scherzhafte Satire in düsteren oder pathetischen Ernst. In Zolas eben genannten Romanen, in den Dichtungen der neueren Norweger ist diese Art der satirischen Standesschilderungen besonders häufig und zwar zumeist durchaus ernsthaft. Man denke an Ibsens Typen des Großkaufmanns in den Stützen der Gesellschaft, des korrekten und herzlosen Beamten in der Nora und dem Volksfeind, des wohlmeinenden aber beschränkten Geistlichen in den Gespenstern. Neben die politische und soziale tritt als eine besondere Abart der Gattung die literarische Satire; eine Abart, denn sie setzt statt der sittlichen ästhetische oder intellektuelle Werte ein und steht mithin der reinen Komik näher als jene. Daher ist sie auch fast stets scherzhaft gehalten und erscheint zumeist als Parodie oder als Travestie. Der Charakter der Travestie ist, daß sie das Erhabene als gemein, das der Parodie, daß sie das Gemeine als erhaben behandelt. Die Travestie stellt das dem Inhalt nach Bedeutsame in trivialen oder lächerlichen Formen dar, wie Shakespeare und Gryphius die Geschichte von Pyramus und Thisbe, oder sie versetzt es willkürlich mit Banalitäten, wie Offenbachs mythologischen Operetten. Gerne lehnt sie sich dabei an eine bestimmte dichterische Vorlage ernsten Charakters an, wie Blumauers Äneide. Auch die Parodie begnügt sich oft damit, einer Vorlage hohen Stils die Form zu entlehnen und diese auf einen möglichst heterogenen Inhalt zu übertragen, wie in der berühmtesten parodistischen Dichtung des Altertums, dem Froschmäusekrieg. Aber diese Klasse von Scherzen, die ganz auf dem Gegensatz zwischen Inhalt und Form beruhen, bleibt immer äußerlich und auf das niedere Gebiet der Komik beschränkt; zu einer tieferen Bedeutsamkeit gelangen beide erst, wenn sie die Schwächen und Unzulänglichkeiten, die dem Erhabenen und Großen anhaften, hervorheben, also den Inhalt selbst verspotten und damit ins Gebiet der Satire treten: Lucians Göttergespräche und Shakespeares Troilus und Cressida geben Beispiele davon. Auch hier hebt sich deutlich die harmlose Art, die nur zur Erheiterung scherzend Schwächen hervorhebt, ohne es böse zu meinen, von dem ernsthaften, mit satirischen Waffen geführten Kampf ab, der den Gegner durch Spott vernichten will. Von der ersteren, der harmlosen Gattung gibt Mauthners anmutiges parodistisches Büchlein „Nach berühmten Mustern“, ein Beispiel; die letztere tritt uns begreiflicherweise besonders da entgegen, wo, nach einem Ausdruck Goethes, eine literarische Epoche sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch entwickelt. So schon in den Fröschen des Aristophanes und seinen zahlreichen sonstigen Verhöhnungen des Euripides. Hier ist es die neu aufkommende Richtung, die ironisch abgelehnt wird; von dauernderer Wirksamkeit freilich pflegen die Spottgeschosse zu sein, welche umgekehrt eine vorwärts stürmende Jugend gegen das Althergebrachte und Geltende richtet. Goethes satirische Jugenddramen, besonders seine Bekämpfung der Rokokoantike in „Götter, Helden und Wieland“ haben den scherzhaft verspottenden Ton in der deutschen Literatur angeschlagen. Verstärkt und verschärft haben ihn die Romantiker, so besonders Tieck in seinen Lustspielen, auch Brentano im Märchen vom Schulmeister Klopfstock und gelegentlich auch E. Th. A. Hoffmann. Aber viel schneidender und vernichtender war der Kampf, den die folgende Generation gegen die Romantik selbst und ihre Ausläufer führte; das zeigen Platens satirische Komödien, Immermanns Münchhausen und vor allem Heines Atta Troll, dieses Meisterwerk seiner Gattung, das in seiner Mischung von Scherz und Ernst, Unart und Grazie, ätzender Bosheit und überlegener Heiterkeit von allen modernen Satiren dem Aristophanes am nächsten kommt. „Oft adelt er was uns gemein erscheint, Und das Geschätzte wird vor ihm zu Nichts.“ So charakterisiert Goethe die Art, wie der Dichter Menschen und Leben wertet. Wenn in dem zweiten dieser Verse das Wesen der Satire zum Ausdruck kommt, so kennzeichnet der erste die Natur des Humors. Das immer wiederkehrende Thema aller Humoristen ist der Wert des scheinbar Wertlosen, die Bedeutsamkeit dessen, was die Menschen verachten und zurücksetzen. Das Leben und die Gesinnung der Armen und Niedrigen birgt Schätze, die der Dichter hebt; der Häßliche und Absonderliche, über den die Menge lacht, trägt in sich Reichtümer des Geistes und des Gemüts. Ja, der Ausgestoßene, der Verbrecher birgt unter abstoßender Hülle menschliche, bisweilen edle Charakterzüge. Überall also ist es der Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Erscheinung und Wesen, Schätzung oder vielmehr Unterschätzung und wirklichem Wert. Die Umkehr des Themas der Satire ist unzähliger Variationen fähig, und in solchen erscheint sie denn auch in der Dichtung, wenigstens der neueren. Denn die Antike mit ihrem naiven Wirklichkeitssinn und ihrer Wertschätzung der Harmonie zwischen Äußerem und Innerem war begreiflicherweise nicht geneigt, diese Gegensätze hervorzuheben und künstlerisch zu verwerten. Um so deutlicher treten sie in der Vielspältigkeit und Zerrissenheit des modernen Lebens hervor, und um so entschiedener hat sich die moderne Dichtung, die ein Abbild dieses Lebens ist, seiner bemächtigt. In dem häßlichen jungen Entlein Andersens, das von jedermann verachtet und mißhandelt wird, steckt ein stolzer schöner Schwan, der, erwachsen, zum bewundernden Erstaunen aller seine Schwingen entfaltet. Dieses Märchen stellt das Grundthema des Humors in typischer Sinnbildlichkeit dar, und typisch ist auch die Nutzanwendung des Dichters: „Es schadet nichts, auf einem Hühnerhof geboren zu sein, wenn man nur aus einem Schwanenei gekrochen ist.“ ─ Das verachtete Krähwinkel, die kleine Stadt mit der lächerlichen Enge ihrer Straßen und ihres Lebens birgt unter den Vielen, die in dieser Enge verkümmern, einen wahrhaft großen Menschen, wie Jean Pauls Siebenkäs, oder doch kluge Köpfe und warme Herzen, wie in Raabes Horn von Wanza. ─ In der engen und niedrigen Dachstubenwohnung verläuft eine ganze Jugend mit allem Reichtum an Phantasie und Liebe. (Coppée, Toute une jeunesse.) ─ In der Schusterwerkstatt sitzt ein Denkergeist, der sich zu tiefsinniger Spekulation, ja, zu hoher Lebensweisheit durchgerungen hat: schon eine Lieblingsvorstellung des jungen Goethe, die Raabe in den ersten Kapiteln des Hungerpastors zu künstlerischer Vollendung gebracht hat; die Glaskugel über dem Tisch, in der sich die wenigen Sonnenstrahlen fangen, die in die düstere Werkstatt hineinfallen, wird zum Symbol des Lichts, das in die Dunkelkeit des Erdenlebens strahlt. Auf dem Polizeibureau lebt in dem scheinbar ausgetrockneten Aktuar bei seinem abstoßenden Geschäft ein tiefes Gefühl, und sein scharfer Blick für alles Menschliche erkennt in dem jungen, auf der Straße aufgegriffenen Wildling inneren Wert und sittliche Kraft. (Raabe, Die Leute aus dem Walde.) ─ Die verkommene Gesellschaft von Abenteurern und Verbrechern, die sich in Bret Hartes Kalifornischen Novellen im Brüllerlager zusammengefunden haben, ergreift ein väterlich menschlicher Instinkt beim Anblick des armen kleinen Wurms, das die Lagerdirne sterbend zurückgelassen hat; sie werden gemeinschaftlich Väter, ziehen es auf und finden ein vergängliches, aber inniges Glück darin. Zwei Tonarten lassen sich in diesen Variationen desselben Themas unterscheiden. Tritt in der Schilderung des Dichters mehr das Komische oder groteske Äußere hervor, das den inneren Wert umhüllt, so nähert sie sich der reinen Komik; verweilt sie mehr auf dem inneren Wert, von dem das Äußere absticht, so nähert sie sich dem Ernst: im ersteren Fall entsteht der scherzhafte, im zweiten der rührende Humor. Ein anschauliches Bild dafür, wie beide den gleichen Gegenstand, in diesem Falle die Treue eines äußerlich unscheinbaren oder verkommenen Dieners behandeln, erhalten wir, wenn wir den Prachtkerl Sam Weller aus den Pickwickiern neben Lessings Just stellen. Die meisten von den bisher angeführten Beispielen gehören der rührenden Gattung an, wie ihr denn Jean Paul sowohl als auch Raabe vorwiegend huldigen; von der scherzhaften geben viele Gestalten von Boz und nicht minder die meisten Charaktere Reuters, vor allem in der Stromtid, packende Beispiele. Aber so komisch Unkel Bräsig oder der Jude Moses in Sprache und Gebaren erscheinen, so wenig vergessen wir, daß hinter diesem komischen Äußeren ein ernsthafter Wert steckt, wie sehr wir auch über sie lachen, wir bleiben uns dieses Wertes bewußt und es ist niemals ein verächtliches oder spöttisches Lachen, das sie erregen. Es liegt im Wesen der Sache, daß rührender und scherzhafter Humor ineinander übergehen. Keine größere humoristische Dichtung wird sich so leicht ganz in den Schranken der einen von beiden Gattungen halten, auch wenn ihr herrschender Charakter durch dieselbe bestimmt wird. Bei Dickens vermischen sich beständig beide Arten der Wirkung; aber auch Jean Paul hat scherzhafte Stellen: man denke an den Anfang der Flegeljahre (die Testamentsverlesung), und in Reuters Dichtungen fehlt es keineswegs an rührenden. Aber trotz dieser Erweiterung seiner Schranken läuft der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel, wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor, wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel, der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik, S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer zu großen Weichheit.“ So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen, die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt. Es springt ins Auge, daß satirische und humoristische Anschauung in vielen Fällen nichts als die beiden Kehrseiten derselben Auffassung sind: eben indem der wahre Wert des Menschen unabhängig von äußeren Gütern und äußerem Glanz auftritt, erscheinen diese letzteren selbst wertlos; und umgekehrt treten jene erst in ihrem wahren Wert hervor, indem man die Wertlosigkeit des äußeren Scheins erkennt. In der Tat, Humor und Satire gehören nicht nur im künstlerischen Sinne zusammen: sie bilden vereint eine Art der Weltbetrachtung, aus der die poetische Darstellung erst Richtung und Kraft empfängt. Wie die Romantiker und die philosophische Ästhetik unter ihrem Einfluß das Wesen des Humors formulierten, mit großen Worten und metaphysisch unbestimmten Begriffen, ist für die heutige Philosophie ebenso veraltet und verschollen wie für die Kunstlehre; Definitionen wie die, daß der Humor „das Unendliche im Endlichen“ darstelle, sagen uns nichts mehr. Aber doch bleibt dieser Ästhetik das Verdienst, zuerst darauf hingewiesen zu haben, daß hinter jenen künstlerischen Richtungen eine Weltanschauung steckt, die sich in ihnen ausspricht. Zu einer richtigen Erkenntnis hat auch hier bereits Schiller den ersten Ansatz gemacht: er findet in der scherzhaften Satire den Ausdruck einer besonderen Lebensansicht, einer überlegenen Heiterkeit der Weltbetrachtung. Wir kennen die schöne Stelle in der naiven und sentimentalischen Dichtung bereits (S. 233), aber wir sehen nun auch, daß sie einseitig ist. Nicht nur Scheinwerte verspotten, sondern zugleich die wahren Werte finden und schätzen, nicht nur Laster und Torheiten lachend geißeln, wenn sie sich in Glanz und Flitter hüllen, sondern mit gerührtem Lächeln Tüchtigkeit und Kraft erkennen, auch wo sie von Staub und Lumpen verborgen sind: beides zusammen erst verleiht die wahre Überlegenheit über den Eitelkeitsmarkt des Lebens, welche Menschen und Dinge nach ihrem wahren Wert zu schätzen sicher ist und in dem scheinbar Dauernden die Hinfälligkeit, in dem Vergänglichen die ewige Bedeutsamkeit der Dinge erkennt. Nur aus dem Bewußtsein dieser überlegenen Erkenntnis geht die erhabene Heiterkeit hervor, für die alle Disharmonien der Welt und des Lebens in einen gewaltigen und lustvollen Akkord zusammenklingen. Es ist die Stimmung jenes Kophtischen Liedes, die Stimmung, die in erhabenen Tönen aus Beethovens achter Symphonie erklingt. Als der dichterische Ausdruck einer solchen Stimmung und der Weltanschauung, aus der sie hervorgeht, empfängt der Humor seine höchste Bedeutung. 21. Über das Tragische. Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle, auch wenn es nicht über das Gemeine triumphiert, sich doch in seiner Sphäre behauptet. Der Träger der sittlichen Werte braucht nicht äußerlich über die Schlechten, die ihm entgegenstehen, zu siegen, wie das bei manchen Humoristen, besonders bei Dickens, gewöhnlich der Fall ist, aber er muß sich in seiner Art erhalten und durchsetzen, zufrieden in dem Bewußtsein inneren Reichtums und in der Geringschätzung äußeren Glanzes und Glücks. Wo das nicht der Fall ist, wo der Held im Kampf um seine Selbstbehauptung untergeht, da entsteht die Tragik. Wie kann nun ein solcher Vorgang ästhetische Lust erwecken? Das ist das Grundproblem für jede Theorie des Tragischen. Denn eben durch die ästhetische Lust, die es erregt, unterscheidet sich das Tragische von dem einfach Traurigen oder auch Empörenden. Daß Elemente der Unlust den ästhetischen Genuß, dem sie beigemischt sind, zu steigern vermögen, ja daß eine solche Beimischung jeder größeren dichterischen Schöpfung unentbehrlich ist, das ist uns schon in einem früheren Abschnitt (S. 110) entgegengetreten. Allein wenn wir Wertvolles zugrunde gehen sehen, wenn ein Held, der unser menschliches Interesse erregt, der unsere Sympathie oder Bewunderung erweckt, in Leiden und Kampf sich aufreibt, so müßte das so eindeutige, entschiedene Unlustempfindungen erregen, daß es zunächst unverständlich bleibt, wie aus ihnen irgendwelches Vergnügen hervorgehen kann. Was also, müssen wir mit Schiller fragen, ist der „ Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen? “ Das Wesen des Tragischen ist eines der am meisten behandelten und umstrittenen Probleme der Ästhetik. Unendlich viel ist darüber geschrieben, aber die meisten und geschichtlich bedeutendsten Untersuchungen über den Gegenstand fassen die eben gestellten Grundfragen nicht scharf genug ins Auge oder halten sie doch nicht entschieden genug als Mittelpunkt fest. Aristoteles hat sich in seiner berühmten Definition der Tragödie ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας ... δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν. Poet. c. 5. ─ Vgl. auch oben S. 3 f. so ausschließlich an die psyschologischen Wirkungen gehalten, daß er den objektiven Inhalt der tragischen Dichtung überhaupt nicht berücksichtigt. Diese Wirkungen sind bei ihm Mitleid, Furcht und die durch beide hervorgebrachte Katharsis. Die letztere, lange Zeit ein rätselhafter und viel umstrittener Begriff, ist erst vor wenigen Jahrzehnten durch Bernays' kritische Untersuchungen einigermaßen geklärt: es ist ein medizinischer Terminus, der Entladung bedeutet. Durch die Erregung von Furcht und Mitleid wird eine Entladung von diesen Affekten hervorgebracht. Das ist auch jetzt noch nicht in allen Einzelheiten klar, aber so viel scheint sicher zu sein, daß Aristoteles die Unlustgefühle der Furcht und des Mitleids als die Grundlage ansieht, aus der das Lustgefühl der Erleichterung und Befreiung hervorgeht. Hiernach würde schon er das Problem in seiner Eigenart erfaßt und in seiner Weise zu lösen gesucht haben. Da aber seine Definition, wie gesagt, auf das objektive Wesen des Tragischen gar nicht eingeht, so ist sie, so paradox es klingen mag, für die Ästhetik nicht eben fruchtbar gewesen, oder doch nur, indem sie einen immer erneuten Streit der Meinungen angeregt und hierdurch das Nachdenken über das Problem gefördert hat. Als nämlich die französischen und deutschen Klassiker des 17. und 18. Jahrhunderts das Wesen des Tragischen zu bestimmen suchten, konnten sie in die nur halb verständliche und dazu noch durch die Textüberlieferung verdorbene Definition mit einiger Kunst allemal das hineinlegen, was sie gerne herauslesen wollten. So gab ihr Corneille und die ihm folgende französische Ästhetik eine ausschließlich moralische Deutung. Er interpretierte: die Tragödie sei eine Dichtung, die durch Schrecken und Mitleid Läuterung von den dargestellten Leidenschaften herbeiführe. Gemeint war, die Tragödie führe Leidenschaften, etwa Ehrgeiz oder Eifersucht, vor, um durch ihre schreckenerregenden Folgen und das Mitleid mit ihren Opfern die Zuschauer zu bessern. Die Beziehung auf die „dargestellten“ Leidenschaften war freilich ebenso willkürlich wie die Vertauschung der Begriffe Furcht und Schrecken. Und diese Blöße gab Lessing den Anlaß, die allzu platte und plump moralisierende Deutung mit Erfolg zu bekämpfen. Was er indessen selbst in den berühmten Abschnitten 74 ff. der Hamburgischen Dramaturgie an ihre Stelle setzte, war sachlich nicht eben stichhaltiger: eine geistreiche, aber gesuchte und gewundene Interpretation, die den griechischen Philosophen noch dazu mit dem Wesen aller künstlerischen Wirkung in Widerspruch setzt. Auf eine vermeintliche Parallelstelle aus einer anderen Aristotelischen Schrift sich stützend, deutete Lessing gegen sprachliche und sachliche Wahrscheinlichkeit das Wort Furcht als das auf uns selbst bezogene Mitleid, so daß der Satz den Sinn erhielt: die Tragödie bringt dadurch, daß sie unser Mitleid für andere und unsere Furcht für uns selbst erregt, eine „Reinigung dieser und dergleichen Affekte“ hervor. Diese Reinigung soll nach der Meinung des Hamburgischen Dramaturgen darin bestehen, daß sie uns vor „beiden Extremis“ d. h. vor Überschwänglichkeit sowohl wie vor Abstumpfung wahrt. Die Erklärung ist sprachlich und sachlich gleich haltlos; auch ist sie nicht minder einseitig moralisierend als die der Franzosen. Nur den einen Fortschritt bezeichnet sie, daß sie die bessernde oder läuternde Wirkung wenigstens nicht mehr von dem Inhalt im einzelnen erwartet, als ob die Tragödie eine zu Besserungszwecken erfundene Fabel sei, sondern sie vielmehr auf die Charakterverfassung des Zuschauers überhaupt bezieht. Es schwebt etwas wie Veredlung der Gesamtpersönlichkeit vor, wiewohl Lessing weder den Ausdruck gebraucht noch den Gedanken selbst in seiner Tiefe erfaßt hat. Dieser Gedanke nun aber bildet ganz und gar den Lebensnerv in Schillers Lehre von der tragischen Kunst. Nachdem er in seinen beiden ersten ästhetischen Arbeiten zwei verschiedene, aber gleichmäßig verfehlte Ansätze zur Lösung des Problems gemacht hatte, gelangte er in der Abhandlung Vom Erhabenen, insbesondere in dem Abschnitt Über das Pathetische, der als selbständiger Aufsatz in die Werke übergegangen ist, zur endgültigen Begründung seines Standpunktes, und dieser bezeichnet einen entschiedenen Fortschritt über die Lehre seiner Vorgänger. Zwar auch für Schiller ist die tragische Wirkung ethischer Natur und das Tragische selbst ein moralisches Phänomen, aber nur deshalb, weil ihm ethische und ästhetische Werte und Wirkungen überhaupt untrennbar zusammenfließen, weil für ihn das Gute und das Schöne nur verschiedene Formen desselben Ideals darstellen und jede ästhetische Wirkung zugleich eine ethische ist. Er knüpft an Kants Begriff des Erhabenen an, den er ganz ins Ethische umdeutet. Der erhabene Charakter ist der, bei dem das Sittengesetz über das Triebleben herrscht; er bewährt sich als solcher, indem er den Naturtrieb zugunsten der sittlichen Vernunft unterdrückt; er leidet und stirbt, um das sittliche Ideal zu wahren. Eben dies, das Erhabene im Leiden darzustellen, ist das Wesen der tragischen Kunst. Sie erregt unser Mitleid, indem sie uns Leiden und Untergang zeigt, aber sie erfüllt uns mit einem erhabenen Lustgefühl, wenn wir sehen, wie das Gute und Große im Menschen über Leiden und Tod triumphiert. Es ist klar, daß hier zum erstenmal eine inhaltvolle und verständliche Antwort auf jenes Grundproblem des Tragischen gegeben ist. Daß freilich auch in Schillers Lehre eine Einseitigkeit liegt, zeigt die Art, wie er sich mit den großen Bösewichtern auf der tragischen Bühne abfindet: nur durch eine gekünstelte und wenig zwingende Wendung vermag er hier die Beziehung auf das sittlich Erhabene festzuhalten. Trotz dieser Einseitigkeit scheint mir Schillers Grundanschauung bis heute der Wahrheit am nächsten zu kommen, wenigstens von keiner anderen übertroffen zu sein: unsere weitere Untersuchung wird das bewähren. Auch von den metaphysischen Philosophen, die auf Kant und Schiller folgten, haben sich die bedeutendsten mit dem Wesen des Tragischen beschäftigt, sowohl Schelling wie Schopenhauer und besonders Hegel, dessen Lehre dann für die Ästhetik auch in diesem Punkte von weitreichendem Einfluß geworden ist. Allein man merkt nur zu deutlich, daß diese Denker nicht von dem Problem als solchem ausgegangen sind, um es wissenschaftlich zu lösen, sondern vielmehr von vornherein in der tragischen Kunst eine Bestätigung ihrer metaphysischen Anschauungen suchten und fanden. Die Methode, die sie dabei verfolgen, ist überall dieselbe: sie greifen diejenigen Erscheinungsformen des Tragischen aus dem Gesamtgebiet heraus, die am leichtesten im Sinne jener Anschauungen gedeutet werden können; die übrigen vernachlässigen sie oder deuten sie gewaltsam um. So leiden die meisten dieser Theorien an dem doppelten Fehler, daß sie einmal ─ ebenso wie uns das bei den Lehren vom Komischen entgegentrat ─ zu eng sind und die Fülle der Erscheinungen nicht erschöpfen, und zweitens, daß sie aus allgemeinen Ideen konstruiert und nicht aus der Erfahrung abgezogen sind. So sieht Schelling im Wesen des Tragischen den Widerstreit des Einzelnen und Endlichen mit dem Absoluten; Hegel findet in ihm den künstlerischen Ausdruck für die Selbstentzweiung der Idee, Schopenhauer den Beweis für die pessimistische Wertung der Welt: die Tragödie bringe dem Zuschauer zum Bewußtsein, daß das Dasein Leiden und das Nichtsein vorzuziehen sei. Noch enger und daher noch verfehlter sind die meisten Deutungen, welche die von diesen originalen Denkern, besonders von Hegel, abhängige spätere deutsche Ästhetik aufgestellt hat, wie die einseitige Schuldtheorie Friedrich Vischers, Carrières u. a., auch Hebbels und Otto Ludwigs. Hierüber siehe Volkelt, Ästhetik des Tragischen, 2. Aufl. S. 101 ff. und 150 ff. und an anderen Stellen. Auf keine dieser Theorien können wir hier näher eingehen; sie tragen weder ihren Methoden noch ihren Voraussetzungen nach wissenschaftlichen Charakter, so viel sie auch im einzelnen an geistvollen Ideen und tiefem Gefühl für die tragische Kunst zum Ausdruck bringen. Erst mit der psychologischen Wendung, welche die Ästhetik des letzten Menschenalters genommen hat, ist die Behandlung unseres Problems von metaphysischen und moralischen Elementen befreit und in das Gebiet der Erfahrungswissenschaft gerückt worden. Unter den Arbeiten, die ihm seither gewidmet sind, ist Volkelts „Ästhetik des Tragischen“ nicht nur die umfangreichste, sondern auch die vielseitigste und lehrreichste, während die kürzere Schrift von Lipps „Der Streit über die Tragödie“ zwar scharf gedacht und klar geschrieben, aber doch nach Auffassung und Darstellung einigermaßen dürr und einseitig ist. ─ Wir kehren nach diesem geschichtlichen Überblick zu unserem Ausgangspunkt zurück und stellen aufs neue die Frage: wie ist es möglich, daß aus Mitleid und Furcht, aus Abneigung und Grauen, aus den tiefsten Unlustempfindungen der menschlichen Seele die höchste ästhetische Lust hervorgehen kann? Denn daß die Tragödie von allen Arten der Dichtung am meisten zugleich erschüttert und erhebt, darüber sind sich Ästhetiker wie Dichter fast durchweg einig. Sie läßt uns in Abgründe des menschlichen Herzens blicken, führt in die Tiefen des Leides, spannt uns in banger Erwartung auf einen Ausgang, der stets die Hoffnung täuscht und die bängsten Befürchtungen bestätigt. Und doch gewährt sie uns gerade hierdurch eine erhabene Verzückung, wie sie sonst nur noch die gewaltigsten Meisterwerke der Musik hervorzurufen vermögen. Aber gerade in der Stärke und Tiefe dieser Gemütserregungen wird man vielleicht nicht mit Unrecht einen Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen finden. Schon Schiller und vor ihm Mendelssohn urteilten so, und in jüngster Zeit erst hat Volkelt die „Lust der Gefühlslebendigkeit“, das Wohlgefühl, das durch „starke Erregung, Erschütterung, Durchschüttelung, Aufwühlung“ hervorgerufen werde, als eine Quelle des tragischen Genusses bezeichnet. Ästhetik des Tragischen S. 296 2 ; vgl. desselben Verfassers System der Ästhetik, Bd. I S. 352. Hierin liegt zweifellos etwas Richtiges und Wesentliches. Alles was zu Phantasie und Gemüt spricht, jedes Kunstwerk, das uns innerlich bewegt, steigert unsere Lebensgefühle; das Herz merkt nach dem schönen Goetheschen Ausdruck, „daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen“. Auch im Leben sind nicht alle Affekte, die an sich den Charakter des Schmerzes oder doch der Unlust tragen, einer leisen Beimischung lustvoller Erregungsgefühle völlig bar. Hier freilich ist die Grenze, wo die Leidenschaft nur noch Leiden bringt, schnell erreicht; anders in der Kunst, wo die im Unterbewußtsein schlummernde Gewißheit, daß das Gesehene und Gehörte nur Illusion ist, auch die stärksten Erschütterungen begleitet und dadurch soweit mildert, daß sie zur Lust werden können. Daher ist begreiflicherweise diejenige Dichtung, welche den Affekt aufs höchste steigert, auch die Quelle des höchsten künstlerischen Genusses. Aus eben diesem Grunde, und nur aus diesem, ist man berechtigt, gerade in der dramatischen Form der Tragödie die höchste, weil wirkungsvollste Darstellung des Tragischen zu sehen: an sich wird es durch das Epos, durch Roman und Novelle durchaus nicht unzulänglicher verkörpert. Dennoch ist die Frage nach dem Wesen des Tragischen hiermit noch nicht gelöst, zum mindesten nicht im letzten Grunde erschöpft. Denn naturgemäß müßte man annehmen, daß ein Kampf, der uns so tief erregt, eine Handlung, die uns so gewaltig spannt wie der Verlauf einer echten Tragödie, nur dann unser Gefühl befriedigt, wenn sie mit dem Sieg des Helden schlösse. Aber das Gegenteil ist der Fall: erst der Untergang des Helden gibt der tragischen Wirkung die volle Wucht, und er erst ruft in den meisten Fällen das Gefühl der Erhebung hervor, das wir als die Quelle der höchsten tragischen Lust, als das Ergebnis der tragischen Handlung empfinden. Der Schluß des Wilhelm Tell hinterläßt längst nicht eine so tiefe Wirkung wie der der Jungfrau von Orleans oder der Braut von Messina, die Sophokleische Elektra wirkt bei weitem nicht so mächtig wie das tragische Ende in Äschylos Choëphoren. Tatsächlich also werden Lust und Erhebung nicht trotz dem Untergang sondern gerade durch den Untergang des Helden hervorgerufen. Wie ist das möglich? Daß das Wertvolle zugrunde geht, daß der Edle leidet und stirbt, kann an sich unter keinen Umständen Lust erwecken. Was bleibt also übrig? Offenbar nur dies eine, daß der Wert, dessen Träger der Held ist, seinen Untergang überdauert, ja, gerade durch Leiden und Tod in voller Kraft und Bedeutung hervortritt, sich in diesem Sinne als ein Ewigkeitswert enthüllt. So wird es begreiflich, daß die echte Tragödie mit dem Untergang des Helden schließt und eben hierdurch die höchste tragische Lust hervorruft. Denn diese Lust ist nichts anderes als das Gefühl der Erhebung über das einzelne menschliche Schicksal, über Leiden und Tod; und dieses kann nur hervorgerufen werden, wenn es uns zur Anschauung kommt, daß es Mächte und Werte gibt, die alles das überwältigen und überdauern. Welcher Art nun können diese Mächte sein? Schiller erkannte als eine solche ausschließlich die sittliche Kraft an; die Freiheit im Kantischen Sinne, d. h. das Vermögen, Pflicht über Neigung, das Sittengesetz über die Triebe zu stellen, war ihm unmittelbar oder mittelbar die alleinige Grundlage des Erhabenen und Pathetischen. Wir haben schon oben gesehen, daß diese Umgrenzung zu eng ist. Aber ein erster Fall, in dem das Wesen des Tragischen typisch hervortritt, ist damit richtig bezeichnet: der Held verkämpft in Tun und Leiden ein sittliches Ideal; indem er sich für dasselbe opfert, tritt es in seiner ganzen Bedeutung, in seiner ganzen Macht und Höhe hervor. So Antigone, so Shakespeares Brutus und Lessings Emilia. Begreiflicherweise vertreten fast alle Schillerschen Helden diesen Typus. Aber auch in Hebbels Gyges, in Ibsens Brand und seinem Volksfeind erscheint er. Der umgekehrte Fall nun ist der, daß der Held die sittliche Idee verletzt oder bekämpft, aber im vergeblichen Kampfe erliegt. Dieses letztere geschieht entweder indem er die triumphierende Idee anerkennt, sich der verletzten zur Sühne opfert, wie Sophokles' Ajas und Shakespeares Coriolan, Schillers Karl Moor und Don Cesar, Goethes Stella und Ottilie, Hebbels Golo und Ibsens Rebekka; ─ oder indem er ihr widerwillig zum Opfer fällt: Klytämnestra, Richard III. und Macbeth, Franz Moor und Fiesco, Grillparzers Jason und sein König Ottokar. Die erstere Art wird man gut tun als das Tragische der Schuld und Sühne, die zweite als das des Verbrechens und der Strafe zu bezeichnen. Freilich, der äußere Triumph der Moral über ihre Gegner wirkt an sich nicht tragisch. Der Untergang Jagos, Edmunds im Lear und ähnlicher Bösewichter erfüllt uns zwar mit Genugtuung, befriedigt unser Gerechtigkeitsbedürfnis, aber das Gefühl der tragischen Erhebung hat damit nichts zu schaffen. Worin liegt der Unterschied, was fehlt hier zur tragischen Wirkung? Darüber kann uns ein dritter Fall belehren. Es ist der, daß der Held nicht für ein sittliches Ideal, sondern für persönliche Ziele kämpft und leidet. Instinkte, die an dem Maßstab der Moral gar nicht gemessen werden können, erfüllen und lenken ihn: Liebe, Ehrgeiz, die Lust zu wirken und zu herrschen. Diese Triebe wachsen zu Mächten aus, die den Menschen völlig beherrschen; er leidet und stirbt lieber, als daß er ihnen entsagte; sie erscheinen als Naturgewalten, die ihn erfüllen, mit seinem innersten Selbst verwachsen. „Verbiete du dem Seidenwurm, zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt“, diese Antwort Tassos bezeichnet die tragische Gewalt solcher Mächte. Aber was bleibt von ihnen, wenn sie ihr Gefäß zerbrochen haben, was überdauert hier den Untergang des Helden? Es ist offenbar der Gesamteindruck der Persönlichkeit in ihrem einzigen individuellen Wert, der zurückbleibt, wenn ein Werther, ein Wallenstein untergeht. Das Gefühl, daß, was in einem höheren Sinne einmal lebendig war, auch lebendig bleibt, solange es noch empfunden und angeschaut werden kann; daß in diesem Sinne die Persönlichkeit den Tod überdauert, das ist es, woraus die tragische Erhebung hervorgeht. Solche Menschen wagen das Äußerste, um ihr Selbst zu behaupten, sie leiden und sterben lieber, als daß sie sich selber untreu werden. Das schönste typische Beispiel ist Goethes Egmont. Er bleibt nicht aus Leichtsinn in Brüssel, wie es ihm eine schulmeisternde Weisheit untergelegt hat, sondern weil er seiner Natur nach nicht mißtrauen kann und will, weil er lieber zugrunde geht, als daß er sein innerstes Wesen, das auf rascher und reiner Wirksamkeit, auf frohem Lebensgenuß, auf offenem Vertrauen beruht, preisgäbe. So spricht er es dem Vertrauten gegenüber aus, und mit dem Bewußtsein, sich selbst treu geblieben zu sein, sieht er dem gewissen Tod ins Auge. „Eines jeden Tags hab' ich mich gefreut; an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht getan, wie mein Gewissen sie mir zeigte.“ In diesem Sinne darf er uns zurufen: „Euer Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.“ Überhaupt liebt Goethe diese tragische Selbstbehauptung, wie er denn von dem Wert und der Naturgewalt der Persönlichkeit überzeugt ist. Fast alle seine Gestalten haben etwas davon, im Einklang mit dem Orphischen Urwort, nach dem keine Macht und keine Zeit die Persönlichkeit zerstückeln kann. Moderne Menschen werden vielleicht geneigt sein, diesen Kampf um eine eigene Persönlichkeit ebenfalls als einen sittlichen, die Erhaltung der Individualität als eine moralische Idee zu bezeichnen. Über das Wort braucht man nicht zu streiten: es mag wohl so sein. Daß aber dieses Ideal immerhin etwas anderes ist, als was die überlieferte Ethik als sittlich bezeichnet, ist klar. Weder Romeo noch Werther noch Grillparzers Hero und Leander handeln sittlich, auch Wallenstein nicht, sicherlich wenigstens nicht nach der Meinung seines Dichters, wiewohl er ganz aus dem Gefühl seiner Persönlichkeit heraus und nur zur Selbsterhaltung in jenem höheren Sinne zur Tat schreitet. „Zeigt einen Weg mir an aus diesem Drange, hilfreiche Mächte, einen solchen zeigt mir, den ich vermag zu gehen!“ Noch deutlicher beweisen das die Gestalten jener tragischen Verbrecher wie Richard III. und Franz Moor: in ihren Anlagen und Trieben liegt der Gegensatz gegen die Moral begründet. Überhaupt läßt sich diese dritte Art der Tragik wohl theoretisch, aber nicht praktisch von den beiden ersten völlig abtrennen. Denn dem tragischen Helden, der unsern Anteil erregen soll, muß immer auch unabhängig von der Sache, die er verkämpft, ein Persönlichkeitswert zukommen. Eben im Tragischen des Verbrechens und der Strafe zeigt sich das am deutlichsten. Nur wo der Schuldige uns durch Geisteskraft imponiert, wie jene großen Bösewichter Shakespeares, oder durch Liebenswürdigkeit bestrickt, wie Goethes Adelheid, nur wo uns sein Untergang, wenn nicht mit Mitleid, so doch mit dem Gefühl: „Es ist schade um ihn!“ erfüllt, nur da ist eine tragische Wirkung möglich; sonst bleibt es bei der moralischen Bewertung, die Schiller in einem bekannten Spottgedicht so drastisch beschrieben hat. Je mehr es dem Dichter gelingt, unsere Sympathie für die Persönlichkeit seines Helden zu erwecken, desto kraftvoller und bedeutsamer tritt der Wert der sittlichen Idee hervor, der er unterliegt. Es beweist nichts und erschüttert uns nicht, wenn wir schwache oder gleichgütige Naturen an ihr scheitern sehen, wohl aber, wenn wir ihr solche, die wir lieben und bewundern, gewissermaßen zum Opfer bringen müssen. Daher ist es ein oft angewandtes künstlerisches Mittel tragischer Dichter im Epos wie im Drama, ihre Bösewichter kurz vor der Katastrophe sympathischer erscheinen zu lassen als vorher. Schon der Nibelungendichter hat es instinktiv angewandt, als er seinen Hagen mit Volker Freundschaft schließen und die Todeswache halten ließ. Dasselbe erreicht Shakespeare durch Richards III. Monolog nach der Traumszene, und die Kunst, den Helden vor dem Untergang mit einer Gloriole von Menschlichkeit und Heldengröße zugleich zu umweben, ist im fünften Akt von Wallensteins Tod zur ergreifendsten Wirkung gesteigert. Es gibt nun freilich auch eine ganze Anzahl tragischer Dichtungen, denen es an einem erhebenden Moment der genannten drei Arten überhaupt fehlt, und mit einem gewissen Recht unterscheidet Volkelt daher das Tragische der niederdrückenden Art von dem der befreienden. Hier triumphiert am Schluß kein Ideal über Zeit und Tod; die Persönlichkeit wird von innen heraus aufgerieben und zerstört; wir sehen nur Vernichtung, keinen Wert, der sie überdauert. So ist es in vielen Shakespeareschen Tragödien, namentlich der letzten Epoche: im Hamlet, im Lear, vor allem im Othello. Hebbels Maria Magdalena, Ibsens Gespenster und Wildente und eine ganze Anzahl moderner naturalistischer Dramen, namentlich auch Gerhart Hauptmanns Weber, Fuhrmann Henschel u. a. gehören hierher. Aber es ist nicht zu leugnen, daß allen solchen Tragödien etwas tief Unbefriedigendes anhaftet, daß ein Ausgang ohne Erhebung und Versöhnung entweder gleichgültig läßt, wie die Schlächterei am Schluß des Hamlet, oder gar ein Gefühl von ohnmächtiger Empörung hervorruft, wie im Othello und der Maria Magdalena. Mag man daher auch immerhin literarhistorisch berechtigt sein, solche Entwicklungen und Ausgänge tragisch zu nennen ─ dem Wesen der tragischen Kunst, ja, der künstlerischen Wirkung überhaupt entspricht der Eindruck nicht, den sie hinterlassen. Ein Überschuß von Unlust bleibt zurück, der sich mit dem Begriff des ästhetischen Genusses nicht verträgt: das Gesetz des künstlerischen Abschlusses, wie wir es im zehnten Abschnitt kennen gelernt haben, ist verletzt. Ist uns mit dem Bisherigen das Wesen des Tragischen deutlich geworden, so müssen wir nunmehr die Bedingungen ins Auge fassen, durch die es sich in der Dichtung verwirklicht. Zunächst, woher rührt das Leiden des Helden? Welches sind die tragischen Gegenmächte, an denen sein Wollen und Tun scheitert? Sie können offenbar rein äußerer Natur sein, so daß ihnen im Innern des Helden nichts entspricht: Sophokles' Antigone, Goethes Götz und Egmont, Grillparzers Ottokar geben Beispiele davon. Der Gegensatz kann bis zum Dämonischen gesteigert werden wie in Äschylos' Prometheus oder Shakespeares Richard III., und doch ist diese Art der Tragik die am wenigsten tiefe; sie vermag uns mehr zu erschüttern als zu ergreifen. Alles innere Geschehen findet in unserem Innern tieferen Wiederhall als äußere Ereignisse. Daher steigert und vertieft sich die tragische Wirkung, wenn die Gegenmächte, an denen der Held scheitert, innerer Art sind, wenn eine tragische Veranlagung seinen Willen spaltet und er so an sich selbst zugrunde geht. Freilich, da alles innere Geschehen den Anstoß durch äußere Ereignisse erhält, so kann es keine dichterische Handlung geben, die rein innerlich verläuft; doch kann die äußere Handlung so unbedeutend sein, daß ihr tatsächlich keine andere Aufgabe zufällt, als den tragischen Ablauf im Innern in Bewegung zu setzen. Im allgemeinen wird das häufiger in der Romandichtung der Fall sein als im Drama, da die Bühne einer bewegten äußeren Handlung nicht entbehren kann: so im Werther, in den Wahlverwandtschaften, in George Eliots Mühle am Floß, in Guy de Maupassants „Fort comme la mort“ und in Zolas „L'Oeuvre“. In Gottfried Kellers Grünem Heinrich und Jakobsens Niels Lyhne ist tatsächlich die äußere Handlung so gut wie ganz aufgezehrt von der inneren Entwicklung. Aber auch das moderne Drama neigt vielfach zu solchem rein seelischen Verlauf, nachdem Goethes Tasso das erste Beispiel gegeben hat: Ibsens Nora und Baumeister Solneß und ihre deutschen Nachahmungen wie Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen beweisen das. Die häufigste und wirksamste Art des tragischen Verlaufs ist die, daß sich mit äußeren Gegenmächten innere verbinden. Im Kampfe gegen die Außenwelt geschieht es, daß sich die Triebe des Helden entzweien und, in dem doppelten Konflikt geht er zugrunde. So Shakespeares Coriolan, Schillers Wallenstein und Jungfrau, Grillparzers Sappho und Hebbels Judith. Dieses Zusammenwirken wird bestimmt und erleichtert durch den Charakter des Helden einerseits, durch die Art der äußeren Gegenmächte andrerseits. Charaktere, die ganz aus einem Guß sind, wie Goethes Götz und Egmont, können nicht mit sich selbst in Konflikt kommen, sondern nur dem äußeren Zusammentreffen feindlicher Konstellationen erliegen. Die äußeren Gegenmächte wiederum, wenn sie nur feindlicher und verneinender Art sind, wenn sie weder für den Helden, noch an sich irgend welche Werte vertreten, sind nicht imstande innere Kämpfe hervorzurufen. Der Untergang etwa in heldenmütigem Kriege wirkt an sich nicht tragisch, wie man sich z. B. aus Körners Zriny überzeugen kann: der Held, der sich begeistert für sein Vaterland opfert, erweckt Bewunderung, aber kein Mitleid, da er nicht innerlich leidet. Ebensowenig ist es tragisch, wenn er durch Ränke zugrunde gerichtet wird, denen er ahnungslos zum Opfer fällt. Daher hat das Intriguenstück wohl auf der komischen, aber nicht auf der tragischen Bühne Heimatsrecht gefunden. Sobald aber auch auf der Gegenseite Werte persönlicher oder ideeller Natur stehen, vertieft sich die Tragik, und erhöht sich dementsprechend die Wirkung. Wenn der Held nicht gegen Feinde, sondern gegen Blutsverwandte und Freunde kämpfen muß, wenn er Pflichten und Ideale verletzt, die er verehrt, wenn er leidet, auch da, wo er siegt, dann erregt er unser Mitleid von vornherein in weit höherem Maße. Darum hatten die antiken Tragödiendichter eine Vorliebe für die schreckensvollen Stammsagen der Atriden und Labdakiden, darum stellt Schiller in der Mehrzahl seiner Dramen Kämpfe zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Bruder dar, oder er läßt, noch ergreifender, die nächsten Freunde durch den Gegensatz der Willensrichtung in unheilbaren Zwiespalt geraten. Und noch mehr vertieft sich die Tragik, wenn mit diesen menschlichen Beziehungen zugleich sachliche oder ideelle Werte auf beiden Seiten wirksam sind. So in Shakespeares Coriolan und im Julius Cäsar, in Hebbels Agnes Bernauer und seiner Kriemhild. In allen diesen und vielen anderen tragischen Dichtungen bildet den Mittelpunkt der Kampf zweier Werte, der den einheitlichen Willen von innen heraus spaltet und bricht und so den tragischen Ausgang notwendig herbeiführt, ─ sei es nun ein Konflikt zwischen Neigung und Pflicht oder zwischen zwei entgegenstehenden sittlichen Geboten. Tragische Verwicklungen dieser Art bedürfen nicht des Hasses und der Bosheit; sie ergreifen am tiefsten, wenn der tragische Gegensatz zur Verletzung, ja zur Vernichtung führt, ohne daß die handelnden Personen einander verletzen und vernichten wollen; wenn Othellos furchtbares „Die Sache will's“ das herrschende Motiv der Handlung bildet. Goethes Clavigo und die Wahlverwandtschaften, Grillparzers Sappho, Hebbels Gyges und die bereits genannte Agnes Bernauer sind Beispiele. Es bedarf in solchen Fällen nun freilich einer Konstellation feindlicher Umstände, um den Konflikt zustande zu bringen, und die Schwierigkeit für den Dichter beruht darauf, diese Konstellation weder rein zufällig noch durch eine äußere Schicksalsmacht fatalistisch bestimmt erscheinen zu lassen. Ganz freilich ist der Zufall aus dem äußeren Geschehen ein für allemal nicht auszuscheiden, aber räumt ihm der Dichter an irgend einer Stelle einen entscheidenden Einfluß ein, so zerstört er das Gefühl der inneren Notwendigkeit, das uns zwingt, an seine Welt zu glauben. So ist in Schillers Jungfrau das entscheidende Zusammentreffen mit Lionel, noch mehr aber der Umstand, daß Johanna dem Feinde den Helm vom Kopf reißt und sein Gesicht sieht, ein reiner Zufall, der auch als solcher wirkt. Auch in Shakespeares Romeo spielt der Zufall bedenklich mit: wäre Lorenzos Brief rechtzeitig in die Hände des Helden gekommen, so wäre der tragische Ausgang vermieden. Der Zufall kann uns nicht tragisch erschüttern, sondern nur überraschen und verwundern; herrschen muß Notwendigkeit, auch im Verlauf der äußeren Handlung. Allein diese Notwendigkeit darf kein Fatum sein, keine dunkle und absichtlich wirkende Macht, die aus dem Verborgenen das Tun und Leiden des Menschen beherrscht und ihn gegen den eigenen Willen zwingt. Sie darf es nicht sein, weil die Vorstellung von einer solchen Schicksalsmacht jeder Vernunft widerspricht und nur für eine ganz primitive Lebensanschauung glaublich erscheinen könnte. Die Naivität, mit der Homer seine Moira Sieg oder Tod seiner Helden entscheiden läßt, ist für jede entwickeltere Denkweise unmöglich. Es ist daher in der Tat noch keinem Trauerspieldichter eingefallen, das Schicksal selbst als dämonisch persönliche Macht ausdrücklich einzuführen oder anzuerkennen, und in diesem Sinne hatten unsere Müllner und Grillparzer recht, wenn sie sich dagegen verwahrten, Schicksalsdramen geschrieben zu haben. Mit gleichem Recht weist U. v. Wilamowitz-Möllendorff in der Einleitung zum Ödipus nach, „daß von einem Schicksal als einer Ursache, einer wirkenden Kraft bei Sophokles nirgends die Rede ist und keine Rede sein könnte“. Allein ob das Schicksal selbst die bestimmende Macht ist oder von den Göttern bestimmt wird, macht am Ende doch keinen wesentlichen Unterschied. Das Entscheidende für die Schicksalstragödie bleibt, daß ihre Menschen durch eine äußere unbekannte Gewalt zu Wollen, Tun und Leiden gezwungen werden: Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick, Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, Der muß es sich selber erbauend vollenden. Mit diesen Worten hat Schiller diese Anschauung zu klassischem Ausdruck gebracht. Die Mittel, durch die ein solcher Schicksalszwang möglich ist, sind immer eine Reihe von Zufällen, vor allem aber das Geheimnis, das über den entscheidenden Umständen, besonders der Herkunft des Helden liegt. Zufall und Geheimnis verketten sich nun so, daß eine deutliche Absichtlichkeit in dem Gesamtzusammenhang der Geschehnisse hervortritt, eine Absichtlichkeit, die wir auf die Götter, auf eine vergeltende Gerechtigkeit oder etwas dem Ähnliches zurückführen müssen. Um aber eine sittliche Macht zu sein, um als Symbol einer gerechten Weltordnung gepriesen zu werden, wie es am Schlusse der Ahnfrau geschieht, verfährt diese ewige Macht viel zu hinterlistig und tückisch, viel zu ungerecht und hart. Sie trifft zumeist den Schuldlosen, um den Schuldigen zu bestrafen. Zudem vermag uns selbst diese Absichtlichkeit nicht immer den Zufall, mit dem sie spielt, als mehr denn Zufall erscheinen zu lassen. Alles dies gilt offenbar schon von dem Urtypus des Schicksalsdramas, dem König Ödipus. Was man auch darüber sagen mag, der Verlauf dieser Tragödie ist entsetzlich, ja empörend, und er wird auf ein unbefangenes Gemüt wohl immer so wirken, wie er denn allem Anschein nach auch auf sein ursprüngliches Publikum im Athenischen Theater so gewirkt hat. Die überaus hohe Wertschätzung, welche diese „Enthüllungstragödie“ (siehe oben S. 177) im späteren Altertum, namentlich aber bei unseren deutschen Klassikern gefunden hat, ist nur aus der technischen Meisterschaft zu verstehen, mit der sie gearbeitet und durch die sie in formaler Hinsicht in der Tat vorbildlich ist. Falsch ist es auch, was manche neueren Ästhetiker gewollt haben, die grundsätzliche Anschauung, die den König Ödipus beherrscht, als typisch für die gesamte griechische Tragik anzusehen und hieraus einen Unterschied zwischen antiker und moderner Tragödie ableiten zu wollen. Nur in einigen wenigen Euripideischen Dramen wird, soviel uns bekannt ist, dem von den Göttern verhängten Geschick eine ähnliche Macht eingeräumt, und wir wissen, wie skeptisch Euripides selbst den Sagen und Historien gegenüber stand, die er dramatisierte. Aber sowohl in Äschylos' Prometheus wie in Sophokles' Elektra und Philoktet, noch deutlicher aber in der Medea und anderen Stücken des Euripides tritt die entgegengesetzte Auffassung deutlich hervor. Der Mensch wird von innen her durch seine Natur, seine Leidenschaften und Erlebnisse zu seinen Handlungen bestimmt, und diese sind es, die ihm sein Schicksal bereiten. Wenn in diesen Tragödien und im tragischen Epos (Ilias) die Götter den Sinn der Menschen lenken, ihren Zorn oder ihre Begierde erwecken oder beschwichtigen, so ist das eine Art von naiv gläubiger Psychologie, aber kein Fatalismus. Daher ist denn auch die deutsche Schicksalsdramatik, die es unternahm, „in des Zufalls grausenden Wundern“ das furchtbare und geheimnisvolle Walten einer ewigen göttlichen Macht zu zeigen, ein haltloses Gebilde, das schwerlich zu vorübergehender Wirkung gelangt wäre, hätte ihm nicht die skrupellos geschickte Bühnentechnik der Werner und Müllner dazu verholfen. Ja, selbst Schillers Braut von Messina ist trotz der Fülle dichterischer Schönheiten nur ein verfehlter Versuch, die antike Tragik in einem Sinne wieder lebendig zu machen, der ihr als Gesamterscheinung gar nicht eigen war. Geistvoll, ja tiefsinnig hat Schiller das Schicksal in die alles beherrschende Gewalt der Natur und ihrer Gesetze umgedeutet. Aber die dichterische Fruchtbarkeit dieses Gedankens ist durch das Orakelwesen und die übrigen geheimnisvollen Zufälle, die er einführt, doch wieder getrübt und veräußerlicht. Die tragische Notwendigkeit also muß, wie die dichterische Notwendigkeit überhaupt, eine innerliche sein. Sie kommt nur zustande, wenn die Idee der Dichtung, die den Untergang des Helden als Konsequenz des tragischen Gegensatzes erfordert, mit einer psychologischen Anlage und Entwicklung zusammentrifft, die zum Untergang treibt. Nur aus einer lückenlosen psychologischen Entwicklung wird uns die Handlung überhaupt verständlich, aber der ideale Zusammenhang erst vermag dem psychologischen Geschehen den Charakter des Typischen, allgemein Gültigen zu geben. Wo dieser fehlt, erscheint auch das psychologisch Richtige leicht vereinzelt und zufällig. Das ist in nicht wenigen modernen Dramen der Fall, besonders da, wo die Entwicklung auf pathologischen Zuständen fußt oder solche zum Austrag bringt, so z. B. in Halbes Jugend, auch in einigen Episoden Ibsenscher Dichtungen, wiewohl man diesen Vorwurf dem nordischen Dramatiker oft in zu weit gehender Weise gemacht hat. Aber auch umgekehrt kann die psychologische Notwendigkeit niemals durch die bloß moralische ersetzt werden, sonst wird die Entwicklung unglaubhaft und daher unbefriedigend. Im Don Carlos wird Posas Entschluß, für seinen Freund und die Sache der Freiheit zu sterben, durch die Idee des Dramas gefordert, aber weder durch die Lage, in der sich der Held befindet, noch durch seinen Charakter ausreichend motiviert. Ein Beispiel völlig anderer Art, aber doch eine ähnliche Schwäche der Dichtung bezeugend, ist der Schluß von Ibsens Nora: die Idee des Stückes, die Konsequenz des tragischen Gegensatzes erfordert, daß sich die Heldin von dem Gatten trennt, der ihrer nicht würdig ist; aber der Dichter hat nicht vermocht, es zwingend glaubhaft zu machen, daß diese Frau wirklich Kraft und Härte genug hat, um ihren Mann und vor allem ihre Kinder zu verlassen. Nur wo beide, die Idee und die psychologische Entwicklung, zusammenwirken, da entsteht die tragische Notwendigkeit im höchsten Sinne des Worts, das Gefühl, daß das, was wir da vor uns sehen, wie ein Stück Natur, gar nicht anders sein und geschehen könne, jener Eindruck des Zwingenden, der, wie wir wissen, das entscheidende Kennzeichen künstlerischen Wertes überhaupt ist. Was nun durch die tragische Entwicklung herbeigeführt wird, ist immer nur eins: der Held kämpft, leidet und stirbt für seine Ziele. Dieses ist offenbar auf zwei Wegen möglich. Er wählt (oder wagt doch) Leiden und Tod, wiewohl ihm die Möglichkeit offen stünde, beides zu vermeiden, wenn er seine Ideale preisgäbe, ─ oder er erduldet nur passiv das Unabänderliche, überwindet es aber innerlich dadurch, daß er ungebrochen und ungebeugt bleibt. Man könnte sagen: er behauptet seine Persönlichkeit entweder durch Leiden oder im Leiden. Auf diesen wesentlichen Unterschied hat Schiller in der Abhandlung über das Pathetische aufmerksam gemacht; er unterscheidet das Erhabene der Handlung von dem der Fassung. Mit Recht, nur darf man nicht vergessen, daß der eigentliche Gegenstand der tragischen Dichtung, vornehmlich aber der dramatischen, das Tragische der Handlung ist und dem der Fassung im allgemeinen nur eine sekundäre Bedeutung zukommt. In vielen, ja den meisten antiken Tragödien fehlt dieses letztere ganz, nicht minder in Shakespeares Richard III. Das Umgekehrte jedoch ist bei großen Dramatikern so gut wie niemals der Fall. Nur ein Tragiker zweiten Ranges, wie Andreas Gryphius, konnte seiner Gemütsverfassung und seinen Erlebnissen gemäß eine Vorliebe dafür haben, unverschuldetes, aber mit Würde getragenes Leiden darzustellen. Selbstverständlich kann auch das bloße Unterlassen eines Tuns eine erhabene Handlung sein, sobald es nämlich aus der bewußten Absicht, Leiden auf sich zu nehmen, hervorgegangen ist, wie Johannas Schweigen im vierten Akt der Jungfrau von Orleans, wie der Entschluß, für den Glauben zu sterben in Calderons Standhaftem Prinzen, Corneilles Polyeucte und dem christlichen Trauerspiel überhaupt. Ob freilich ein solcher Entschluß hinreicht, den Mittelpunkt einer dramatischen Handlung zu bilden, und ob die Märtyrertragödie somit gerechtfertigt ist, wird man billig bezweifeln. Im allgemeinen wird es auf der tragischen Bühne so zugehen, daß der Wille und das Tun des Helden sein Leiden herbeiführt: daß, mit Schiller zu reden, das Erhabene der Handlung die dramatische Entwicklung beherrscht. Ist nun aber Leiden und Tod durch die Willenshandlung des Helden unabwendbar geworden und bricht die Katastrophe herein, dann ist es natürlich, wenn auch nicht notwendig, daß das Tragische der Handlung in das der Fassung übergeht und die Seelengröße, die sich vorher im Handeln und Kämpfen gezeigt hat, nun im Dulden hervortritt. Daher pflegt die Stimmung des erhabenen Duldens den letzten Teil der Tragödie zu beherrschen und das Ende zu verklären. Vor allem Schiller hat es verstanden, diesen Wandel vom Tun zum Leiden ergreifend darzustellen, wie er denn überhaupt der Meister der tragischen Katastrophe ist und wir Modernen ihm mit Recht, wie die Alten dem Euripides, nachrühmen können, daß er der tragischste unter den tragischen Dichtern ist. In den letzten Worten der Gräfin Terzky z. B. kommt das Erhabene der Fassung unnachahmlich schön zum Ausdruck: Sie denken würdiger von mir, als daß Sie glaubten, Ich überlebte meines Hauses Fall. Wir fühlten uns nicht zu gering, die Hand Nach einer Königskrone zu erheben ─ Es sollte nicht sein ─ doch wir denken königlich Und achten einen freien, mut'gen Tod Anständiger als ein entehrtes Leben. Wallensteins Nachruf an Max Piccolomini oder die letzten Auftritte der Braut von Messina haben an Tiefe und Macht der tragischen Stimmung nicht ihresgleichen, und wenn auch der letzte Akt der Maria Stuart durch den Kontrast, den die jammernde Umgebung zu der erhabenen Ruhe der Heldin machen soll, sehr wider den Willen des Dichters etwas weichlich geraten ist, so tritt doch in den Eingangs- und Schlußworten Marias die echt tragische Grundstimmung voll und ergreifend hervor. Auch der Ausgang von Goethes Egmont übrigens und nicht minder der kleine Monolog des Prinzen von Homburg „Nun o Unsterblichkeit, bist du ganz mein“, schließen sich würdig an. ─ Ist der Tod der Gipfelpunkt des Leidens oder der Erlöser, der vom Leiden befreit? Offenbar kann beides der Fall sein, noch richtiger vielleicht: es muß in jeder echt tragischen Katastrophe etwas von beiden zusammenkommen. Für den naiven Menschen ist der Tod ein Übel schlechthin, das schlimmste, das ihn treffen kann. Dementsprechend sehen wir denn auch, daß im Volksepos durchweg der Tod so aufgefaßt wird. Selbst dem Achill, der aus eigener Wahl ein frühes Heldenende einem ruhmlosen Leben vorgezogen hat, legt der Dichter der Hadesfahrt in der Odysse einen Widerruf in den Mund: der kleinste Tagelöhner, der sich des Lebens erfreue, sei glücklicher als er. Aus demselben Gefühl heraus beklagt auch in der Tragödie Antigone ihren frühen Tod. Moderne Dichter freilich haben die Naivität, mit der die antiken Menschen ihre Lebensliebe und Todesfurcht zum Ausdruck bringen, nur vereinzelt darzustellen gewagt, besonders Goethe im Egmont und Kleist im Prinzen von Homburg. Wo der Tod so aufgefaßt wird, ist es ohne weiteres erklärlich, wenn er schlechthin als Strafe für den Verbrecher erscheint. Die ganze Handlung des Nibelungenliedes von Siegfrieds Tod bis zum Untergang der Burgunden beruht auf dieser Auffassung: der Tod des Schuldigen ist das einzige Ziel des Rächers, dem Tode zu entgehen der Preis des Verteidigungskampfes. Kein versöhnendes Moment mischt sich hier in den Gedanken des Sterbens; es ist die Strafe schlechthin, wie denn die ganze Überlieferung der Blutrache auf dieser Auffassung beruht. Aus derselben Anschauung heraus ist die Ermordung der Klystämnestra in der antiken Tragödie zu verstehen, und ebenso erscheint in Macbeth und Richard III. der Tod als die letzte Strafe für ein verbrecherisches Leben. Allein schon hier mischt sich in die Darstellung des Dichters und in die Empfindung des Zuschauers, wenigstens im Keim, ein anderes Element: wir fühlen, daß der Untergang wie furchtbar er erscheint, doch zugleich Erlösung von einem qualvollen Dasein bedeutet. Im Macbeth zeigen uns die letzten Worte, die der Held mit dem verderbenbringenden Gegner wechselt, daß der Tod auf dem Schlachtfeld ihm schlimmeres erspart; und in dem großen Monolog Richards III. nach der Traumszene hat uns der Dichter durch einen plötzlichen Ausbruch die erschütternden Seelenqualen seines Helden gezeigt, die im Untergrunde des Bewußtseins im Halbschlummer wühlen und von denen nur der Tod ihn erlösen kann. Von diesen Gedanken nun ─ der Tod als Erlöser von den Qualen eines zertrümmerten Daseins und vor allem eines schuldigen Gewissens ─ weiß die antike Dichtung noch nichts; nur ein erster Ansatz dazu findet sich etwa im Ödipus auf Kolonos. Diese Anschauung gehört erst der durch die Schule des Christentums gegangenen Menschheit an; erst hier erscheint der Tod als erlösende und versöhnende Macht. Der Selbstmörder auf der antiken Bühne legt in leidenschaftlicher Aufwallung Hand an sich, wie Hämon und Euridice in der Antigone, oder aus Scham wie Ajas; Shakespeares Brutus aber und Grillparzers Sappho töten sich im vollen Gefühl der Todessehnsucht, dem Bewußtsein, daß das Sterben die Erlösung von einem unerträglichen Dasein für sie ist. Zugleich tritt hier jene läuternde und erhebende Macht des Todes hervor, die Schiller so schön beschreibt: Der Tod hat eine reinigende Kraft, In seinem unvergänglichen Palaste Zu echter Tugend reinem Diamant Das Sterbliche zu läutern und die Flecken Der mangelhaften Menschheit zu verzehren. Auch hiervon weiß die Antike, naiver und robuster wie sie in ihrer Lebensauffassung ist, noch nichts. In dem Nachrufe dagegen, den Shakespeares Antonius seinem Gegner Brutus widmet, oder in dem herrlichen Schlußmonolog der Sappho tritt diese Stimmung deutlich hervor. Und doch mischt sich in beiden Fällen der Gedanke der Sühne für begangene Schuld, wenn auch nur in leisen Untertönen, in den Schlußakkord. Beide sind nicht schuldig im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber beide leiden unter dem Bewußtsein von Taten und Folgen, die sie zu Boden drücken und die nicht ungeschehen zu machen sind. Bleibt nun aber in den zuletzt genannten beiden Dramen das Moment der Sühne immerhin ein untergeordnetes gegenüber dem Gedanken der Erlösung, so fließen in vielen, ja den meisten modernen Tragödien beide Auffassungen zu untrennbarer Einheit zusammen: so ist's schon im Othello; so tötet sich Schillers Don Cäsar, um sich „richtend zu strafen“ und doch zugleich auch, um durch freien Tod die Kette des Geschicks zu brechen und sich über Schuld und Leiden zu erheben. So erscheint Wallensteins Ermordung als Strafe für doppelten Verrat am Kaiser und an dem alten Waffengefährten, und doch erspart sie ihm den Schimpf der Erniedrigung, der Gefangenschaft oder eines unstet flüchtenden Lebens. Als Erlösung und Sühne zugleich erscheint auch das Ende der beiden Liebenden in den Wahlverwandtschaften, ja, so stark empfinden wir den Tod als Friedensbringer und Erlöser, daß uns tragische Handlungen, die nicht mit dem physischen Untergang des Helden schließen, unbefriedigt und unruhig lassen, wie man am Schluß von Goethes Tasso oder von Hebbels Judith beobachten kann. ─ Das führt uns auf eine letzte Frage, die in neuerer Zeit mehrfach umstritten worden ist: ist die tragische Dichtung, wie wir es von der humoristischen gesehen haben, der Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung des Dichters, setzt sie eine solche voraus oder verkündet sie dieselbe? Wir wissen, daß die metaphysischen Ästhetiker des 19. Jahrhunderts diese Frage unbedingt bejahten. Selbstverständlich waren Hegel und die Seinigen, waren Schelling und Schopenhauer nicht der Meinung, daß Dichter oder Zuschauer ihre Systeme kennen und ihre Lehren in abstrakto anerkennen müßten. Schopenhauer hat sich niemals eingebildet, daß die großen Trauerspieldichter die Lehren des Pessimismus verstandesmäßig verträten und ihre Zuschauer dazu bekehren wollten. Wohl aber war jeder von ihnen der Meinung, daß das Wesen des Tragischen nur aus seiner metaphysischen Anschauung heraus theoretisch verständlich sei, daß folglich gefühlsmäßig der tragische Dichter diese Anschauung teile. Daher zeigen denn auch, wie die metaphysischen Systeme selber, so die Theorien des Tragischen, die aus ihnen hervorgingen, vollkommen entgegengesetzten Inhalt und widerlegen sich selbst, sobald man sie untereinander oder mit den Tatsachen vergleicht. In diesem Sinne, aber nur in diesem, hat Lipps recht, wenn er bestreitet, daß die Tragödie mit dem Inhalt einer bestimmten metaphysischen Anschauungsweise irgend etwas zu tun habe, während Volkelt zum entgegengesetzten Urteil neigt. Allein andrerseits ist doch klar, daß allgemein gültige Werte, und ohne solche ist das Tragische nicht denkbar, nur auf dem Boden gemeinsamer Anschauungen erwachsen können. Metaphysisch begründet brauchen diese nicht zu sein, wohl aber sind sie ethischen Charakters: sie fließen eben aus einer bestimmten Weise, das Leben selbst und seine einzelnen Erscheinungen zu beurteilen. Ein Publikum etwa, das in der Geschwisterliebe oder im Patriotismus kein sittliches Ideal sähe, würde von der Antigone oder der Jungfrau von Orleans keine tragische Wirkung empfangen können; und ganz allgemein setzt die Möglichkeit der tragischen Erhebung voraus, daß es Ideale gibt, für die es lohnt zu leiden und zu sterben, Werte, die höher als das Leben zu schätzen sind. Es ist die Grundstimmung der Tragödie, die Grundanschauung jedes tragischen Dichters, die Schiller in dem berühmten Schlußwort der Braut von Messina zum Ausdruck bringt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht!“ In diesem Sinne kann man wohl von einer tragischen Weltanschauung sprechen; sie schließt eine optimistisch seichte Wertschätzung des Lebens und seiner Güter aus, aber sie ist darum nicht pessimistische Verzweiflung am Leben, sondern vielmehr ein todestrotziger oder todesfreudiger Idealismus, der in stolzer Entschlossenheit den Kampf mit Gefahren und Leiden aufnimmt, weil er Werte kennt, die über Zeit und Tod erhaben sind, der vielleicht sogar den Untergang sucht, um diese Überzeugung zu bewähren. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Schriftsteller und Werke. (Hauptstellen sind fett gedruckt.) A lexis, Willibald, Allgem. 85, 195; Cabanis 157; Hosen des Herrn von Bredow 157. Andersen, Allgem. 238; Märchen 27. Anzengruber 199. Aristophanes, Allgem. 235, 238; Die Frösche 60, 220, 233, 237; Lysistrata 219; Die Ritter 219; Die Wolken 60, 233. Aristoteles, Allgem. 168, 215, 216, 229; Poetik 3 f., 36, 109, 157, 178 f., 179 Anm., 180, 192, 215, 242 f. Äschylos, Allgem. 60, 106, 192; Agamemnon 192; Choephoren 246; Prometheus 250, 253; Die Sieben gegen Theben 192. Äsop 188. B ab, Julius, Wege zum Drama 165. Balzac 201; Eugenie Grandet 201. Batteux, Principes de Littérature 5. Baumgart, Handbuch der Poetik 216, 240. Beaudelaire 132. Beaumarchais, Figaros Hochzeit 223, 235, 236. Beer-Hoffmann, Der Graf von Charolais 63, 168. Behaghel, Otto, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen 35 Anm. Bernays, J. 242. Bibel, Die, Psalter 94, 96; Das hohe Lied 94. Bielschowsky, Goethes Leben 30, 32, 54. Biese, Alfred, Die Entwicklung des Naturgefühls. 46 Anm. Binet, Psychologie du Raisonnement 171 Anm. Björnson, Allgem. 236; Ein Fallissement 232; Die Neuvermählten 232. Blumauer, Aeneide 237. Bodenstedt 99. Boileau, Art poétique 2, 4. Börne 235. Brentano, Allgem. 125, 186; Lustige Musikanten 102; Schulmeister Klopfstock 238. Bret Harte, Kalifornische Novellen 239. Bruchmann, K., Psychologische Studien zur Sprachgeschichte 91; Poetik 93, 187. Brunetière, Ferd., L'évolution de la poésie lyrique en France 132 Anm. Bücher, Arbeit und Rhythmus 92 f., 95. Bulthaupt, Dramaturgie 178. Bürger, Allgem. 153, 184; Gedichte 101, 105, 113. Burke, A philosophical Inquiry into the origin of our ideas of the sublime and the beautiful, 15 Anm. Burkhardt, Jacob, Kultur der Renaissance 46 Anm. C alderon, Das Leben ein Traum 169; Der standhafte Prinz 255. Carrière 245. Cervantes, Don Quichote, 202, 212, 224, 225, 226. Chamisso, Allgem. 54; Gedichte 183; 234. Cohn, Jonas 77 Anm., 81 Anm. Coppée, F., Toute une jeunesse 239. Corneille, Allgem. 4, 243; Rodogune 180; Cinna 193; Polyeucte 255. D ahn, Felix, Allgem. 196; Kampf um Rom 200. Dante, Divina Comedia 212. Daudet, Numa Roumestan 236. Dehmel, Richard, Gedichte 107. Dessoir, M., Aesthetik 40, 81 Anm., 203 Anm. Dickens [Boz ], Allgem. 85, 158, 168, 201, 204, 205, 231, 240, 241; David Copperfield 88, 229; Pickwickier 239. Dilthey, W., Allgem. 134, 135; Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine zu einer Poetik 6 Anm., 19 ff., 38, 39; Das Erlebnis und die Dichtung 119 Anm., 135 Anm. Dostojewski, Allgem. 205, 236; Raskolnikow 209. Dubos, Réflexions critiques sur la Poésie, sur la Peinture et la Musique 4. E dda 135 Anm., 153, 184, 185, 227, 228. Eichendorff, Allgem. 80, 121, 123, 132; Gedichte 130, 185, 186, 214. Elliot, G., Allgem. 201; Mühle am Floß 250. Elster, E., Prinzipien der Literaturwissenschaft 40 Anm. Eschenbach, Wolfram von, Parzival 51, 152, 155. Euripides, Allgem. 59, 253, 255; Medea 253. F echner, G. Th., Allgem. 114, 116 Anm., 217; Vorschule der Aesthetik 16 f., 109 Anm., 110, 215. Fitger, A., Allgem. 136; Gedichte 117, 137. Flaubert, Allgem. 77, 205; Madame Bovary 158, 201. La Fontaine 187. Fontane, Th., Gedichte 113, 187; 187. Frenssen, Jörn Uhl 156; Hilligenlei 156. Freytag, Gustav, Technik des Dramas 2, 112, 113 Anm., 167, 178, 196; Soll und Haben 71, 158, 240; Journalisten 228. Friedländer, Ludw., Sittengeschichte Roms 46 Anm. Froschmäusekrieg, Der, 237. G eiger, E., Beiträge zu einer Aesthetik der Lyrik 31 Anm., 39, 123 Anm. Gellert 136, 153, 234. George, Stefan 77, 126, 133. Gerber, Die Sprache der Kunst 89 Anm., 90. Gluck 174; Iphigenie in Tauris 192. Goethe, Allgem. 8, 28 ff., 36, 41, 43, 67, 72, 87, 99, 102, 123, 124, 127, 132, 135, 138, 140, 153, 156, 158, 172, 184, 191, 201, 208, 211, 221, 246; Gedichte 31, 114, 134, 137; 32, 51, 54 f., 115, 121; 32 f., 86, 121, 136; 33, 111, 115, 120, 133, 135, 212; 53, 111, 134; 53, 111; 54; 54, 111, 114, 121, 130; 82, 97; 82 f., 97; 186; 102; 102, 185; 104, 183; 105, 113, 186; 106; 111; 111, 117, 120, 128; 111, 117; 111; 113, 114, 128, 137; 113; 113, 185; 114, 213; 115, 120; 129; 128; 130; 136; 136; 136; 137; 139; 184; 185; 206; 228; 233, 241; Xenien 139; Hermann und Dorothea 30, 86, 154, 200; Dramen: Leipziger Lustspiele 199; Singspiele 223; Clavigo 172, 202, 251; Egmont 56, 112, 193, 195, 206, 248, 250, 255, 256; Faust 56, 57, 64, 66, 68, 69, 71, 89, 91, 109, 172, 182, 184, 206, 207, 212; Götz 36 f., 168, 172, 193, 199, 202, 248, 250; Iphigenie 51, 70, 91, 172, 191, 198, 205, 206; Stella 247; Tasso 30, 51, 53, 63, 69, 86, 114, 172, 206, 207, 247, 250; Prosaschriften: Schiller Briefwechsel 5, 36, 61, 69 f., 137, 139, 148, 158, 163 f., 171 Anm., 182; Aus meinem Leben 239; Götter, Helden und Wieland 237; Wahlverwandtschaften 201, 250; Werther 56, 86, 141, 155, 214, 247, 248, 250; Wilhelm Meister 115, 123, 155, 156, 157, 158, 168, 201, 205; Eckermann 28 f., 31, 162; Goethejahrbuch 1905 30, 54. Gogol 236. Goncourt, Brüder De 77. Gottfried von Straßburg, Allgem. 100; Tristan 51, 152, 155. Gottsched, kritische Dichtkunst 2, 6. Gregory, F., Anm. 182. Grillparzer, Ahnfrau 173, 252; Bruderzwist 47, 173; Goldenes Vließ 191, 247; König Ottokar 247, 250; Libussa 173; Des Meeres und der Liebe Wellen 248; Sappho 173, 208, 250, 251, 256, 257; Weh' dem, der lügt! 173, 181. Grimm, H. 30. Grimmelshausen, Simplicissimus 155, 156, 235. Groos, Allgem. 2, 17, 218; Einleitung in die Aesthetik 216. Grosse, E., Kunstwissenschaftliche Studien 39 f.; Die Anfänge der Kunst 222. Groth, Klaus 199. Gryphius, Allgem. 254; Herr Peter Squenz 237. Gudrunlied 58. Gutzkow, Allgem. 145; Der Zauberer von Rom 71, 158, 235; Die Ritter vom Geist 71, 235. H afis 67. Hagedorn 153, 236. Halbe, Max, Jugend 254. Haller 213. Hamerling 154. Hans Sachs 96, 171, 236. Hartmann von Aue, Allgem. 103, 152; Gregorius 47; Iwein 58. Hauptmann, G., Allgem. 175 f.; Biberpelz 236; Einsame Menschen 250; Florian Geyer 175, 207; Fuhrmann Henschel 69, 176, 249; Hanneles Himmelfahrt 175; Kollege Krampton 176; Rose Bernd 176; Die versunkene Glocke 175; Vor Sonnenaufgang 66; Die Weber 175, 199, 207, 209, 236, 249. Haym, R., Die romantische Schule 10 Anm.; 12 Anm.; 190 Anm. Hebbel, Allgem. 173, 208, 245; Tagebücher 35, 39, 127; Maria Magdalene 65, 201 Anm., 249; Gyges 191, 247, 251; Nibelungen 192, 251; Judith 250, 257; Agnes Bernauer 251. Hegel 13, 22, 244, 257. Heine, Heinrich, Allgem. 102, 104, 123 f., 128, 129 f., 132, 220, 235; Gedichte 107, 129, 113, 114, 115, 117, 129, 185, 187, 187, 212, 212, 224 f., 226, 238. Heinrich von Veldekel 52. Heinzel, Stil der altgermanischen Poesie 96 Anm. Herder, Allgem. 7, 11 f., 76, 77, 79, 140, 151, 153, 184; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie 11; Versuch einer Geschichte der Dichtkunst 11; Fragmente über die neuere deutsche Literatur 12; Erstes kritisches Wäldchen 76; Anmerkung über das griechische Epigramm 138 Anm. Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im XIX. Jahrhundert 12 Anm.; Geschichte der englischen Literatur im XIX. Jahrhundert 16 Anm. Heyse, Paul, Allgem. 163, 217; L'arrabiata 163; Am toten See 163; Die Stickerin von Treviso 163. Hildebrand, Ad., Das Problem der Form 21 Anm. Hildebrandslied 153. Hobbes 216, 217. Hoffmann, E. T. A., 27, 85, 87, 226, 228, 238. Hofmannsthal, H. von, Allgem. 133; Tod des Tizian 102 f., 105; Elektra 191; Ödipus und die Sphinx 191. Holbein, Hans, 204. Holberg, Meister Gert Westphaler 228. Hölderlin, Allgem. 135; Hyperion 85, 107, 114, 156, 213. Holz, Arno, Revolution der Lyrik 107 f. Home 15. Homer, Allgem. 45, 67, 68, 89, 94, 95, 112, 140 ff., 145, 147, 152, 214, 252; Ilias 58, 90, 144, 146, 253; Odyssee 58, 144, 256. Horaz, Allgem. 95, 106, 224; Ars poetica 2; Oden 104 Anm. Hugo, Victor 122. Humboldt, W. von, Allgem. 43, 141, 142 ff., 145, 148, 150, 173, 182 f.; Abhdlg. über Hermann und Dorothea 10, 78, 139, 142, 145 ff., 182. Hutcheson, An Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue 15 Anm. I bsen, Henrik, Allgem. 60, 69, 173, 176, 177 f., 197, 236; Baumeister Solneß 234, 250; Brand 71, 247; Bund der Jugend 234; Gespenster 176, 177, 181, 202, 237, 249; John Gabriel Borkmann 178; Kaiser und Galiläer 197; Klein Eyolf 202; Kronprätendenten 197; Nora 71, 176, 177, 237, 250, 254; Peer Gynt 197; Rosmersholm 176, 177, 181, 247; Stützen der Gesellschaft 234, 237; Volksfeind 237, 247; Wildente 229, 234, 249. Iffland 233. Immermann, Münchhausen 226, 238. J acobsen, Niels Lyhne 156, 250. James, Principles of psychologie 171 Anm. Jean Paul, Allgem. 85, 87, 156, 231, 239, 240; Vorschule der Aesthetik 215; Flegeljahre 239; Siebenkäs 238. Jordan, Nibelunge 154, 192. Justi, Winckelmann und seine Zeit 8. Juvenal 212, 235, 236. K alidâsa 67. Kant, Allgem. 8, 135, 210, 217, 223 Anm., 224, 244; Kritik der Urteilskraft 216. Keller, Gottfried, Der grüne Heinrich 85, 128 f., 156, 250. Kinkel, G., Otto der Schütz 154. Kjielland 236. Kleist, Heinrich von, Allgem. 173; Der Prinz von Homburg 63, 164, 169, 174, 255, 256; Der zerbrochene Krug 181, 199, 225; Penthesilea 113, 117, 174; Michael Kohlhaas 162. Klopstock, Allgem. 86, 101, 105 f., 121, 122, 135, 140; Gedichte 113, 114, 121, 121. Konrad von Würzburg 101, 153. Körner, Chr. Gottfr., Briefwechsel mit Schiller 134. Körner, Th., Zriny 250. Krauß, S. 219. Kürenberger, Der 54. L achmann, Karl 58. Lange, Konrad, Das Wesen der Kunst 140. Leibniz 8. Lenau, Nikolaus, Allgem. 115; Gedichte 116. Lessing, Allgem. 6, 35, 80, 138, 139, 140, 180, 182, 188, 217; Dramaturgie 5, 10, 64, 178, 179 f., 193, 195, 215, 243; Laokoon 5, 16, 66, 75, 121, 140, 151; Dramen: Emilia Galotti 36 f., 65, 247; Minna von Barnhelm 179, 181, 221, 228, 233, 239; Nathan der Weise 179, 236, 240. Liliencron, Detlev von 98. Lipps, Komik und Humor 216, 217, 223 Anm., 224 Anm., 231 Anm., Der Streit über die Tragödie 245, 258. Litzmann, Goethes Lyrik 54. Logau, Allgem. 235; Sinngedichte 138. Lucian 212, 236. Ludwig, Otto, Allgem. 245; Shakespeare-Studien 25 f.; Nachlaß 26; Bernauerin 27; Zwischen Himmel und Erde 27, 161, 201 Anm.; Maccabäer 27. Luther 136. M aeterlinck 175. Mallarmé, Stephane, Allgem. 126; Enquête sur l'évolution littéraire 131 Anm. Martial 139, 235. Matthias Claudius, Gedichte 84, 88. Maupassant, Guy de, Fort comme la mort 201, 250; Bel ami 236. Mauthner, Nach berühmten Mustern 237. Meistersinger, Die 96. Mendelssohn, Moses, Allgem. 245; Briefe über die Empfindungen 16. Meyer, Konrad Ferdinand, Allgem. 85, 154, 194, 195, 196; Jürg Jenatsch 27; Die Richterin 27; Gedichte 114, 187, 187, 187. Meyer, Richard M., Stilistik [Handbuch des deutschen Unterrichts III] 89 Anm. Meyer, Th. A., Stilgesetz der Poesie 78 ff., 87 ff., 90, 151, 171. Mielke, H., Der deutsche Roman des XIX. Jahrhunderts 154, 163. Minnesänger, Die 95, 103. Minor, Neuhochdeutsche Metrik 94 Anm., 97. Molière, Allgem. 167, 207; Misanthrop 229, 233, 234; Tartuffe 234; Malade imaginaire 203; Femmes savantes 234; Avare 228, 229; Bourgeois Gentilhomme 228. Montesquieu, Lettres Persannes 235. Mörike, Allgem. 123, 132; Gedichte 84, 85, 183. de la Motte Fouqué 132 Anm. Müllner, Allgem. 252, 253; Die Schuld 177. N ibelungenlied 58, 90, 94, 95, 112, 144, 148, 152, 214, 256. Novalis, Hymnen an die Nacht 107, 213. O ffenbach 237. P aul Gerhard 136. Persius 213, 235. Petronius 197. Pindar 135. Platen, Allgem. 99 f., 134 Anm., 238; Gedichte 185. Plato 8. Pniower, Goethes Faust 57. Poe, E. A., Allgem. 85, 87; Maske des roten Todes 27, 88; Untergang des Hauses Usher 27. du Prel, Karl, Allgem. 127; Psychologie der Lyrik 34 Anm. R aabe, Wilhelm, Allgem. 231, 240; Hungerpastor 156, 239, 240; Horn von Wanza 238; Leute aus dem Walde 239. Rabelais, Gargantua 202 f. Racine, Athalie 193. Raimund, Ferd. 171. Raumer, R. von 55. Reich, H., Der Mimus 171 Anm., 219. Reuter, Fritz, Allgem. 205, 231, 240; Kein Hüsung 205; Stromtid 229, 239. Riehl, A., Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philologie. Band XXI, XXII 31 Anm. Riehl, W., 194. Rimbaud, Artur, 132. Roetteken, H., Poetik 49, 81 Anm. Rousseau, Allgem. 8, 140, 234; Neue Heloïse 155. Rückert, F., Allgem. 98, 133 Anm., 136; Hymnen 99; Weisheit des Brahmanen 133; Gedichte 117, 134, 137; 117 f.; Liebesfrühling 183. S and, G. 201. Sappho 51. Sardou 223. Scaliger, Julius Cäsar, Poetik 1, 4. Scribe 171 Anm. Scheffel, Allgem. 194; Trompeter von Säckingen 154. Schelling 13, 244, 257. Scherer, Wilhelm, Allgem. 23, 30, 43, 48; Poetik 17 f.; Aufsätze über Goethe 50, 58. Schiller, Allgem. 8, 36, 68, 72, 87, 127, 134 Anm., 135 f., 140, 150, 153, 158, 160, 165, 166, 173, 176, 186, 202, 206, 208, 231, 233, 234, 235, 242, 243 f., 245, 248, 251, 252; Gedichte 65, 111, 137; 65; 111; 115, 134, 212; 115; 117; 137, 212; 138; 151; 186; 186; 212; Goethe Xenien 139; Dramen: Braut von Messina 47, 90 f., 92, 113, 174, 177, 207, 246, 247, 253, 257, 258; Demetrius 160, 194, 207; Don Carlos 70, 109, 169, 172, 198, 254; Fiesco 193, 205, 247; Jungfrau 45, 64, 97, 112, 194, 246, 250, 251, 255, 258; Kabale und Liebe 63, 65, 174, 199, 205, 209, 233; Maria Stuart 168, 194, 195, 207, 255; Räuber 48, 209, 232, 247, 248; Tell 194, 205, 207, 246; Wallenstein 47, 56, 65, 113, 169, 174, 181, 193, 199, 207, 208, 217, 232, 233, 247, 249, 250, 255, 257; Briefwechsel: Goethe Briefwechsel 5, 36, 61, 69 f., 137, 139, 148, 158, 163 f., 171 Anm., 182; Körner Briefwechsel 134; Humboldt Briefwechsel 65; Prosaschriften: Philosophische Schriften 8; Abhandlung vom Erhabenen 10, 243; Naive und sentimentalische Dichtung 28, 209 ff., 232, 241, 254; Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen 13, 143; Über die Verwendung des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst 201 Anm. Schlegel, Aug. Wilh., Allgem. 67; Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst 12; Vorlesungen über das Sonett 1803/04 98. Schlegel, Friedrich, 10, 141, 144, 147, 150. Schmidt, Erich, Urfaust 58. Schopenhauer 89 Anm., 168, 200, 244, 257; Die Welt als Wille und Vorstellung 215. Schubart, Novellen 47. Scott, Allgem. 194; Ivanhoe 157; Quentin Durward 157. Seume, Kanadier 234. Shaftesbury, Allgem. 135; Charakteristics of men, manners, opinions, times 7 f. Shakespeare, Allgem. 63, 134 Anm., 164, 165, 171, 173, 179, 180, 206, 214, 221; Bezähmte Widerspenstige 181; Coriolan 247, 250, 251; Hamlet 58, 64, 174, 249; Heinrich IV. 169, 181, 223; Heinrich V. 228; Julius Caesar 113, 168, 247, 251, 256, 257; Kaufmann von Venedig 174, 181, 229; König Johann 202; Lear 66, 113, 181, 202, 247, 249; Macbeth 47, 64, 168, 228, 247, 256; Othello 113, 247, 249, 251, 257; Richard III. 65, 247, 248, 249, 250, 254, 256; Romeo und Julia 217, 248, 251; Sommernachtstraum 181, 237; Troilus und Cressida 45, 237; Viel Lärm um Nichts 181; Was ihr wollt 181. Sophokles, Allgem. 67; Ödipus 47, 71, 112, 166, 177, 179, 191, 202, 252, 253, 256; Antigone 112, 166, 247, 250, 256, 258; Elektra 112, 166, 246, 247, 253, 256; Philoktet 202, 253; Ajas 247, 256. Spielhagen, F., Allgem. 141, 144, 145, 146, 147, 151, 156, 159, 160, 162, 168, 176; Beiträge zur Theorie und Technik des Romans 142 Anm., 144 ff., 188; In Reih' und Glied 158; Hammer und Ambos 158. Spinoza 8, 135. Sterne, Yorik 212. Storm, Eekenhof 163; Aquis submersus 163. Swift 212. T aine, H., Histoire de la littérature anglaise 16. Tasso, Torquato 68. Thackeray 240. Tieck, Allgem. 68, 219, 237; Verkehrte Welt 226. Tolstoi, Allgem. 205, 236, 240; Macht der Finsternis 66. Turgeniew 236. U hland, Herzog Ernst 172; Gedichte 115, 185, 185, 185, 185, 187, 187, 187, 220. V erlaine, Paul 83 f., 131. Viehoff, Poetik 97, 110 Anm., 111 Anm., 187. Vischer, F., Allgem. 141, 245; Aesthetik 13. Volkelt, Aesthetik des Tragischen 245, 249, 258; System der Ästhetik 245. Voltaire, Allgem. 212, 220, 235; Pucelle 45; L'ingénu 234. W ackernagel, W., Allgem. 55, 141; Poetik, Rhetorik, Stilistik 14, 89, 146, 183. Wagner, Richard, Allgem. 60, 171, 174, 178, 192; Oper und Drama 190 Anm.; Fliegende Holländer 75, 192; Tristan 171, 174, 192; Meistersinger 171, 228; Tannhäuser 192; Nibelungenring 192. Walther von der Vogelweide 90, 91, 101, 103 f., 115, 122, 224. Weltli, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung 98 Anm. Werner, R. M., Lyrik und Lyriker 38 f., 121, 133 Anm., 134 Anm., 137 Anm., 138, 138 Anm. Werner, Zacharias, 253. Wieland 212, 234. Wildenbruch, E. von, Allgem. 196; Heinrich und Heinrichs Geschlecht 63; Das neue Gebot 63; Hexenlied 154. Wilamowitz-Möllendorff, U. von 252. Winckelmann, Allgem. 9; Geschichte der Kunst des Altertums 7 f. Wolff, Julius 154. Wölfflin, Heinrich, Die klassische Kunst 21 Anm. Wundt, Wilhelm 38, 215 f., 217; Psychologie 40 Anm., 93 Anm. Z ola, Allgem. 77, 80, 158 f., 161, 205, 236, 240; Le Roman expérimental 159 Anm.; Bête humaine 161; Germinal 161; L'oeuvre 201, 250; Une page d'amour 201; Les Rougon Maquart 158, 207, 209. ────── Genauer Titel einiger öfter verkürzt angeführten Bücher. Aristoteles. Über die Dichtkunst. Herausgegeben von Dr. Franz Susemihl. 2. Aufl. Leipzig 1874. Baumgart, Hermann. Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart 1897. Bruchmann, K. Poetik. Naturlehre der Dichtung. Berlin 1898. Bücher. Arbeit und Rhythmus. 3. Aufl. Leipzig 1902. Dessoir, Max. Ästhetik. Stuttgart 1906. Dilthey, Wilhelm. Die Einbildungskraft der Dichter. Bausteine zu einer Poetik. (Philosophische Aufsätze, Zeller gewidmet.) Straßburg 1887. Fechner, G. Th. Vorschule der Ästhetik. Leipzig 1876. Freytag, Gustav. Technik des Dramas. Leipzig 1905. Geiger, Emil. Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik. Halle 1905. Haym, R. Die romantische Schule. Berlin 1870. Hettner, H. Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In drei Teilen. (5 Bände.) Braunschweig. 4. verbesserte Auflage. 1881 ff. Humboldt, Wilhelm von. Abhandlung über Hermann und Dorothea. Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 2. Lipps, Th. Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung. Hamburg und Leipzig 1898. Meyer, Theodor A. Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901. Minor. Neuhochdeutsche Metrik. 2. Aufl. Straßburg 1902. Du Prel, Karl. Psychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie. Leipzig 1879. Scherer, Wilhelm. Poetik. Berlin 1888. Shaftesbury. Charakteristics of men, manners, opinions, times. London 1711. Spielhagen, Friedrich. Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883. Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Reutlingen und Leipzig 1846─57. Viehoff, H. Poetik. Herausgegeben von Kiy. 1888. Volkelt, Johannes. Ästhetik des Tragischen. 2. Aufl. München 1906. Wackernagel, Wilhelm. Poetik, Rhetorik und Stilistik. Akademische Vorlesungen. Herausgegeben von Ludwig Sieber. Halle 1873. Werner, R. M. Lyrik und Lyriker. Hamburg und Leipzig 1890. Bielschowsky: Goethe Sein Leben und seine Werke. Zwei Bände Erster Band. Mit einer Titelgravüre: Tischbeins Goethe in Jtalien. 46.─49. Tausend. Jn Leinwand M. 6.─, in feinstem Halbfranz M. 8.50 Zweiter Band. Mit einer Titelgravüre: Stielers Goethe-Porträt. 43.─45. Tausend. Jn Leinwand M. 8.─, in feinstem Halbfranz M. 10.50 Karl Berger: Schiller Sein Leben und seine Werke. Zwei Bände Erster Band. Mit einer Titelgravüre: Graffs Schiller im 29. Lebensjahr. 3. Auflage, 7.─10. Tausend. Jn Leinen M. 6.─, in feinstem Halbfranzband M. 8.50. Zweiter Band erscheint bestimmt zu Weihnachten 1908 Eugen Kühnemann: Schiller Mit einer Wiedergabe der Schillerbüste von Dannecker 3. und 4. Auflage (6.─10. Tausend) XII, ca. 39 Bogen 8° Elegant gebunden M. 6.50 (Erscheint im Mai 1908) Herder. Sein Leben und seine Werke Von Eugen Kühnemann Mit Porträt Fein gebunden M. 7.50 Grillparzer. Sein Leben und seine Werke Von Aug. Ehrhard, deutsch von Moritz Necker Mit Porträts und Faksimiles VI, 531 Seiten 8° Jn Leinen M. 7.50 Neue Freie Presse: „Ein scharf umrissenes, aus dem besten Material hergestelltes Bild von der Persönlichkeit Grillparzers nach der menschlichen wie nach der künstlerischen Seite.“ Janus, Blätter für Literaturfreunde: „Als die beste der bisherigen Grillparzer= Biographien zu rühmen und zu empfehlen.“ C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München Soeben ist vollständig geworden Shakespeare Der Dichter und sein Werk von Max J. Wolff Zwei Bände. 30 und 31 Bogen 8°. Mit einer Nachbildung des Droeshout- und Chandos-Porträts in Gravüre Jn Leinwand gebunden M. 12.─, in feinstem Liebhaberband M. 17.─ Aus den Urteilen: Dr . Eugen Kilian (Literarisches Echo): „Wolffs vortreffliches Buch steht unter den Werken, die in schöner und geschmackvoller Form ein Gesamtbild von Shakespeares geistiger Persönlichkeit und seiner Zeit zu geben suchen, in vorderster Reihe und verdient die weiteste Verbreitung in allen Kreisen des deutschen Volkes.“ Professor Dr . Hermann Conrad (im Tag): „Hohes Lob verdient der erstaunliche Fleiß, mit welchem der Verfasser die ältere und vor allem die neueste Shakespeare-Literatur bewältigt hat, um ein auf der Höhe heutiger Forschung stehendes Werk zu schaffen.“ Dr . Moritz Necker (Die Zeit): „Über die Summe unserer kunstwissenschaftlichen Bildung verfügt Max J. Wolff als wahrer Meister. Jn allen Sätteln der Kritik ist er heimisch. Er ist Kulturhistoriker, Philolog, Dramaturg und Kunstphilosoph in einer Person und ein durchaus freier, unabhängiger Geist, der sich keiner Autorität beugt, nichts annimmt, was er nicht selbst geprüft hat, und der dabei in seinem Buche doch alles vereinigt, was die kaum übersehbare Shakespeareforschung an positiven und auch an negativen Resultaten errungen hat ... Die Einheitlichkeit in der Shakespeareschen Persönlichkeit hat unseres Wissens noch kein Forscher so tief und klar erfaßt und gezeichnet wie Max J. Wolff.“ Franz Servaes (Neue freie Presse): „Es gelingt dem Verfasser in ungewöhnlich hohem Grade, uns die Persönlichkeit Shakespeares in ihrem historischen Gefüge zu vergegenwärtigen. Die Art, wie das zeitliche und örtliche Milieu hierzu verwandt wird, ist in ihrer methodischen Anwendung schlechtweg meisterhaft.“ Geheimrat Dr . Wilhelm Münch (Nationalzeitung): „Jn Max J. Wolff spricht zu uns ein trefflicher Kenner des Dichters ... Die lange vertretene Anschauung, daß wir Shakespeare als Menschen eigentlich schlechterdings nicht kennten und uns nicht vorstellen könnten, muß nachgerade (infolge mancher englischen und deutschen Arbeiten, und nicht zum wenigsten nach der vorliegenden) aufgegeben werden.“ Dr . E. Traumann (Frankfurter Zeitung): „Zunächst ist das Werk durch eine in deutschen Landen sehr seltene Eigenschaft ausgezeichnet: es ist vorzüglich geschrieben. Klar und doch lebendig; bei aller Wissenschaftlichkeit für jedermann verständlich und genußreich, weil es die reichen Früchte mühsamer Arbeit unaufdringlich und in schmackhaftester Gestalt darbietet; dabei in allen Fragen von durchaus selbständigem Urteil und besonders im wichtigsten Punkte, der Erfassung des künstlerischen Momentes, von einer Festigkeit, Reife und Durchbildung, daß man sich bald ohne Bedenken der Führerschaft des Darstellers überläßt.“ Professor Dr . Alfred Biese (Koblenzer Zeitung:) „Die Verlagsbuchhandlung, die einem ,Goethe' von Bielschoswky, einem ,Schiller' von Berger nun einen ,Shakespeare' an die Seite stellte, wußte sehr wohl, daß damit ein Vergleich wachgerufen wurde, den nur echte, wirkliche Trefflichkeit bestehen konnte. Und sie darf dem Vergleiche Trotz bieten, denn es ist ein wirklich tüchtiges, ja ausgezeichnetes Buch geschaffen worden.“ C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München Deutsche Literaturgeschichte von Alfred Biese Erster Band. Von den Anfängen bis Herder. 640 Seiten 8°. Mit Proben aus Handschriften und Drucken und mit 36 Bildnissen 1.─8. Tausend. Jn Leinwand M. 5.50, in Halbfranz M. 7.─ Der zweite Band erscheint zu Weihnachten 1908 Aus den Besprechungen über den ersten Band: Professor Dr . Franz Muncker: „Jn den letzten Jahren sind ja mehrere populäre Literaturgeschichten erschienen .. Wie der Fachmann viele jener Werke fast nur verurteilen kann, so darf er der Arbeit Bieses sich ehrlich freuen. Möge es ihr gelingen, jene verfehlten oder schwächeren Werke aus der Gunst der Leser zu verdrängen!“ Richard M. Meyer (Deutsche Literatur-Zeitung): „Jn dem Chorus der neuen deutschen Literaturgeschichten nimmt das Buch einen klar charakterisierten Platz ein, den es würdig ausfüllt.“ Oskar Bulle (Beil. zur Allg. Ztg.): „Die schwierige Arbeit der Bewältigung, Sichtung und Anordnung des reichen Stoffes hinterläßt in Bieses Darstellung kaum eine Spur: fast wie ein behagliches Plaudern, bei dem für den Zuhörer die Beruhigung besteht, daß der Plauderer seinen Gegenstand gründlich beherrscht, klingt seine Erzählung von den dichterischen Schöpfungen unseres Volkes.“ Geheimrat Dr . Chr. Muff (Kreuzzeitung): „Das Ganze ist eine wundervolle, im schönsten Zusammenhange verlaufende Erzählung, in der alles Entstehen klargelegt, alles Eigenartige erläutert wird.“ Ministerialrat Dr . A. Baumeister: „Hier spricht und erzählt ein wahrhaft dichterisches Gemüt, mitempfindend und innerlich warm, ja begeistert für jede Regung schöner und edler Seelen.“ Geheimrat Wilhelm Münch (Nationalzeitung): „Bei Biese durchdringt sich Ernst der wissenschaftlichen Betrachtung mit frohem Gefühl für alles echt Lebendige. Auch beseelt ihn zugleich große Liebe zu allem echt Vaterländischen und Wertvollen.“ Geheimrat Dr . Max Dreßler (Karlsruher Ztg.): „Weises, treffendes, wohlüberlegtes Urteil; höchster Takt; überaus woltuende sichere Bestimmtheit. Dem Kenner ein Genuß, dem Lernenden ein werter Schatz.“ Dr . Fritz Böckel (Tägl. Rundschau): „Neben der lichten, lebendigen und warmherzigen Darstellung verdient die großzügige Auffassung der Aufgabe das höchste Lob.“ Dr . E. Thyssen (Oberhess. Zeitung): „Mir ist keine ausführliche deutsche Literaturgeschichte bekannt, die in ähnlich volkstümlicher Weise ohne tendenziöse Verfärbung und in gleich behaglich=gediegener, oft auch kunstvoller Darstellung bei vorzüglicher Ausstattung und billigem Preis ebensosehr für den weitesten Kreis der Gebildeten zu empfehlen wäre.“ C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München Soeben ist erschienen: Zwischen Dichtung und Philosophie Gesammelte Aufsätze von Johannes Volkelt Professor der Philosophie an der Universität zu Leipzig VII, 389 Seiten gr. 8°. In Leinen M. 8.─ In Liebhaberhalbfranzband M. 10.50 Inhalt: I. Lebens- und Weltgefühle in der Lyrik des jungen Goethe ─ II. Fausts Entwicklung vom Genießen zum Handeln in Goethes Dichtung ─ III. Die Philosophie der Liebe und des Todes in Schillers Jugendgedichten ─ IV. Was Schiller uns heute bedeutet ─ V. Jean Pauls hohe Menschen ─ VI. Grillparzer als Dichter des Zwiespaltes zwischen Gemüt und Leben ─ VII. Grillparzer als Dichter des Willens zum Leben ─ VIII. Grillparzer als Dichter des Komischen ─ IX. Die Lebensanschauung Friedrich Theodor Vischers ─ X. Kunst, Moral und Kultur ─ XI. Bühne und Publikum. System der Ästhetik von Johannes Volkelt, Professor an der Universität Leipzig Erster Band. XVII, 592 Seiten. Gr. 8° In Leinwand geb. M. 12.─ „Da es nicht des Ortes ist, von dem Reichtum des Inhalts auch nur eine kurze Uebersicht zu geben, und noch weniger meine Sache, über Einzelheiten, die mir nicht zusagen, mit dem Verfasser rechten zu wollen, so darf ich nur herzlichen Dank und aufrichtige Bewunderung nicht unausgesprochen lassen sowohl für die eigne großartige Leistung des Werkes als auch für die gerechte und anerkennende Beiziehung der großen Vorgänger und rüstigen Mitarbeiter an dem umfangreichen ästhetischen Gebiet.“ (Min.Rat Dr. A. Baumeister in den „ Lehrproben “ 1905) „... Ich bin überzeugt, daß das scharfsinnige mit reichstem Material versehene Werk, das uns die mannigfachsten Einblicke in literarische Strömungen verschafft, die gebührende Beachtung finden wird und zwar hoffentlich weit über die Grenzen der eigentlichen Fachwissenschaft hinaus.“ (Prof. Th. Achelis in der „ Gegenwart “ ) „... Volkelt ist gewiß nicht geneigt, mit der Tradition schlankweg zu brechen, allein noch weniger denkt er daran, das eigengeartete Neue deshalb abzulehnen, weil ästhetische Präjudizfälle dafür fehlen. Mit besonderer Behutsamkeit wägt er jeden Anspruch, hält an dem Recht des Urteils fest, ohne dem Vorurteil zu verfallen. Am sympathischesten berührt die lebendige Vertrautheit mit der Kunst der Jahrtausende wie der unmittelbaren Gegenwart, die ungesucht aus seinen Werken spricht und ihm eine Fülle treffender konkreter Beispiele für die Theorie liefert. Volkelt verlangt vom Aesthetiker, damit er vor Einseitigkeit bewahrt bleibe, eine umfassende Menschlichkeit, der keine Art, Mensch sein, fremd und unverständlich ist, eine reichhaltige und vielseitig entwickelte Innenwelt, damit er nicht seine persönliche Eigenheit als allgemeingültig hinstelle. Diese wichtige, berechtigte Forderung erfüllt seine vorsichtig abwägende, jeder Modifikation liebevoll nachgebende Art durchaus; ein Wortschatz von seltener Fülle und Biegsamkeit unterstützt ihn dabei. ...“ (Prof. Emil Reich in der „ Neuen Freien Presse “ ) „Zahllose Mißverständnisse, welche in der Gegenwart die Diskussion ästhetischer und künstlerischer Probleme erschweren, empfangen durch die methodologischen Erörterungen des ersten Abschnitts willkommene Klärung. Volkelt steht der Kunst nicht als ein verbissener Theoretiker, sondern als ein weitherziger, aufnahmsfreudiger moderner Mensch gegenüber.“ (Prof. Dr. Fr. Jodl in der „ Oesterr. Rundschau “ ) C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München Ästhetik des Tragischen von Johannes Volkelt Professor der Philosophie an der Universität zu Leipzig Zweite neubearbeitete und stark vermehrte Auflage 488 Seiten gr. 8° Elegant gebunden M. 10.─ Adolf Matthias in der Düsseldorfer Zeitung: Jeder, der nicht theoretisch voreingenommen ist, muß anerkennen, daß die vor Volkelt vorhandenen Theorien des Tragischen, soviel Wertvolles sie auch enthalten, sich mit der reichen, vielgestaltigen Fülle dessen, was uns in den Dichtungen als tragisch ergreift, keineswegs decken, ja meistens sogar von recht unduldsamer Art sind. Hier aber haben wir es „ nicht mit einem Buche zu tun, in welchem ästhetischer Doktrinarismus uns anlangweilt“. Artur Drews in den Preuß. Jahrb.: Es lag dem Verfasser daran, der Theorie des Tragischen mehr Vielfältigkeit, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit zu geben, sie von einengenden Vorurteilen, woher sie auch kommen mögen, zu befreien. „Und in der Tat, wenn irgend einer unter den modernen Denkern hierzu berufen ist, so ist es Volkelt, der mit eindringendem Scharfsinn, feinstem Zergliederungsvermögen und unbestechlicher Objektivität zugleich eine so umfassende Kenntnis insbesondere auch der neueren und neuesten Literatur vereinigt, wie sicherlich nur wenige unter den professionierten Philosophen.“ Hubert Roetteken: Poetik Erster Teil: Vorbemerkungen. Allgemeine Analyse der psychischen Vorgänge beim Genuß einer Dichtung 20 Bogen 8° Geheftet M. 7.─, gebunden M. 8.─ Die Jdee im Drama bei Goethe, Schiller, Grillparzer, Kleist von Dr. Michael Lex VI, 314 Seiten 8° Geheftet M. 4.─, gebunden M. 5─ Märchen, Sage und Dichtung von Friedrich Panzer 56 Seiten 8° Geheftet M. 1.─ C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München Statuen deutscher Kultur Herausgegeben von WILL VESPER Bisher erschienen folgende Bändchen: 1. Die Germania des Tacitus. Deutsch von Will Vesper Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─ 2. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Neudeutsch von Will Vesper Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 3. Das Hohelied Salomonis in drei- undvierzig Minneliedern. Neudeutsch von Will Vesper Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─ 4. Luthers Dichtungen. Ausgewählt von Will Vesper Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50 5. Vorgoethesche Lyriker. Ausgewählt von Hans Brandenburg Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50 6. Hölderlins Dichtungen. Ausgewähtt von Will Vesper Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 7. Jean Pauls Träume. Ausgewählt von Will Vesper Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─ 8. Meier Helmbrecht von Wernher dem Gärtner. Neudeutsch von Will Vesper Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 9. Novalis' Märchen. Ausgewählt von E. Sulger-Gebing Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 10. Brentanos Gedichte. Ausgewählt von Herm. Todsen Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50 11. Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts. Ausgewählt v. Will Vesper Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50 12. Geßners Idyllen. Ausgewählt von Will Vesper Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 13. Die Geschichte von Gisli dem Geächteten. Deutsch von Friedrich Ranke Leicht geb. M. 1.60, in Leder M. 3.─ 14. Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen. Novelle. Herausgegeben von Alexander von Bernus Leicht geb. M. 2.50, in Leder M. 4.50 15. Eichendorffs Gedichte. Ausgewählt von Will Vesper Leicht geb. M. 1.20, in Leder M. 3.─ 16. Philipp Otto Runge: Gedanken und Gedichte. Ausgewählt von Sulger- Gebing Leicht geb. M. 1.80, in Leder M. 3.50 Hermann Hesse (zur Veröffentlichung an den Verleger): „Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu sagen, daß ich an diesem sehr guten und dankenswerten Unternehmen eine wahre Freude habe. Ich wünsche den „Statuen“ eine große Verbreitung.“ Rudolf Herzog (Berliner Neueste Nachrichten): „Ziehen wir bis heute die Summe, so bleibt ein starkes und freudiges Interesse für die Folgeerscheinungen der Sammlung, die nationales Empfinden und nationalen Stolz zu stärken und zu festigen mitberufen ist.“ C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München