EMIL STAIGER GRUNDBEGRIFFE DER POETIK EMIL STAIGER GRUNDBEGRIFFE DER POETIK ATLANTIS VERLAG ZÜRICH Copyright 1946 by Atlantis Verlag AG. Zürich Druck: Buchdruckerei Winterthur AG. Printed in Switzerland Ludwig Binswanger gewidmet EINLEITUNG U nter «Grundbegriffen der Poetik» werden hier die Begriffe episch, lyrisch, dramatisch und allenfalls tragisch und komisch verstanden ─ in einem Sinne jedoch, der sich von dem bisher üblichen unterscheidet und gleich zu Beginn erklärt werden muß. Der Titel Poetik bedeutet zwar längst nicht mehr eine praktische Lehre, die Ungeübte instand setzen soll, regelrechte Gedichte, Epen und Dramen zu schreiben. Aber die neueren Schriften, welche unter dem Namen Poetik gehen, gleichen den älteren immerhin darin, daß sie das Wesen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen in bestimmten Mustern von Gedichten, Epen und Dramen vollkommen realisiert sehen. Diese Art der Betrachtung stellt sich dar als Erbe der Antike. In der Antike nämlich war jede poetische Gattung erst in einer beschränkten Zahl von Mustern vertreten. Lyrisch etwa hieß eine Dichtung, die nach Anlage, Umfang und zumal in der Metrik dem entsprach, was die neun klassischen Lyriker Alkman, Stesichoros, Alkaios, Sappho, Ibykos, Anakreon, Simonides, Bacchylides und Pindar geschaffen hatten. So konnten die Römer Horaz als Lyriker gelten lassen, Catull dagegen nicht, weil er andere Versmaße wählte. Seit der Antike haben sich aber die Muster unübersehbar vermehrt. Wenn die Poetik weiterhin allen Einzelbeispielen gerecht werden will, begegnet sie Schwierigkeiten, die kaum zu lösen sind und deren Lösung wenig Ersprießliches mehr verspricht. Sie muß ─ um bei der Lyrik zu bleiben ─ Balladen, Lieder, Hymnen, Oden, Sonette, Epigramme miteinander vergleichen, jede dieser Arten durch ein bis zwei Jahrtausende verfolgen und etwas Gemeinsames als den Gattungsbegriff der Lyrik ausfindig machen. Dies aber, was dann für alles gilt, kann immer nur etwas Gleichgültiges sein. Außerdem verliert es seine Geltung in dem Augenblick, da ein neuer Lyriker auftritt und ein noch unbekanntes Muster vorlegt. Die Möglichkeit einer Poetik ist deshalb nicht selten bestritten worden. Man weiß sich etwas damit, dem historischen Wandel «vorurteilslos» zu folgen, und lehnt jede Art von Systematik als ungehöriges Dogma ab.   Dieser Verzicht ist wohl zu verstehen, solang die Poetik den Anspruch erhebt, alle je geschaffenen Gedichte, Epen und Dramen in bereitgestellten Fächern unterzubringen. Da kein Gedicht wie das andere ist, sind grundsätzlich so viele Fächer nötig, als es Gedichte gibt ─ womit sich die Ordnung selbst aufhebt.   Wenn es aber kaum möglich ist, das Wesen des lyrischen Gedichts, des Epos, des Dramas zu bestimmen, ist eine Bestimmung des Lyrischen, Epischen und Dramatischen allerdings denkbar. Wir brauchen den Ausdruck «lyrisches Drama». «Drama» bedeutet hier eine Dichtung, die für die Bühne bestimmt ist, «lyrisch» bedeutet ihre Tonart; und diese wird als entscheidender für ihr Wesen angesehen als die «Äußerlichkeit der dramatischen Form». Wonach wird hier die Gattung bestimmt?   Wenn ich ein Drama als lyrisch oder ein Epos ─ wie Schiller «Hermann und Dorothea» an Goethe 26. Dezember 1797. ─ als dramatisch bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch ist. Ich weiß dies nicht, indem ich mich an alle vorhandenen lyrischen Gedichte und Dramen erinnere. Diese Fülle verwirrt mich nur. Ich habe vielmehr vom Lyrischen, Epischen und Dramatischen eine Idee. Diese Idee ist mir irgendeinmal an einem Beispiel aufgegangen. Das Beispiel wird vermutlich eine bestimmte Dichtung gewesen sein. Aber nicht einmal dies ist nötig. Die, um mit Husserl Logische Untersuchungen, 4. Aufl. Halle 1928, Bd. II, 1, S. 91 ff. zu reden, «ideale Bedeutung» ‚ lyrisch‘ kann ich vor einer Landschaft erfahren haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom; den Sinn von ‚dramatisch ‘ prägt mir vielleicht ein Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne mag mehr oder minder lyrisch, episch, dramatisch sein. Ferner können an Unsicherheit die «bedeutungverleihenden Akte» leiden. Doch eine Idee von «lyrisch», die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von «rot», objektiv, meinem Belieben entrückt.   Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine richtige Idee von «rot». Gewiß! Doch diese Frage betrifft nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine Idee von «rot» muß dem entsprechen, was man gemeinhin «rot» nennt. Sonst brauche ich ein falsches Wort. So muß die Idee von «lyrisch» dem entsprechen, was man gemeinhin, ohne klaren Begriff, als lyrisch bezeichnet. Das ist nicht der Durchschnitt dessen, was nach äußeren Merkmalen Lyrik heißt. Niemand denkt bei «lyrischer Stimmung», «lyrischem Ton» an ein Epigramm; doch jedermann denkt dabei an ein Lied. Niemand denkt bei «epischer Ruhe», «epischer Fülle» an Klopstocks «Messias». Man denkt am ehesten an Homer, ja nicht einmal an den ganzen Homer, sondern an vorzüglich epische Stellen, denen sich andere, mehr dramatische oder mehr lyrische, anschließen mögen. An solchen Beispielen müssen die Gattungsbegriffe herausgearbeitet werden.   Insofern besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen dem Lyrischen und der Lyrik, dem Epischen und dem Epos, dem Dramatischen und dem Drama. Die Kardinalbeispiele des Lyrischen werden vermutlich in der Lyrik, die des Epischen vermutlich in Epen zu finden sein. Daß aber irgendwo eine Dichtung anzutreffen sei, die rein lyrisch, rein episch oder dramatisch wäre, ist nicht von vornherein ausgemacht. Unsere Untersuchung wird im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangen, daß jede echte Dichtung an allen Gattungsideen in verschiedenen Graden und Weisen beteiligt ist und daß die Verschiedenheit des Anteils die unübersehbare Fülle der historisch gewordenen Arten begründet.   Man könnte noch fragen, ob die Dreizahl lyrisch ─ episch ─ dramatisch selbstverständlich vorausgesetzt werden dürfe. Irene Behrens Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 1940. hat gezeigt, daß sie erst am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufgekommen ist. Aber auch da bezeichnen die Namen nicht unsere Ideen, sondern bestimmte poetische Muster. So verzichten wir vorläufig darauf, auf diese Frage einzutreten, und übernehmen die eingebürgerten Titel als Arbeitshypothese. Ob alle Arten möglicher Dichtung von da aus beurteilt werden können, muß erst der Gang der Betrachtung zeigen.   Die Beispiele sollten grundsätzlich der ganzen Weltliteratur entnommen werden. Es wird sich aber kaum vermeiden lassen, daß die Auswahl den Standort des Betrachters verrät. Die deutschen und die griechischen Dichter werden bevorzugt, einzig deshalb, weil ich mit diesen am besten vertraut bin. Mein Standpunkt verriete sich aber auch, wenn ich in slawischer, nordischer oder gar außereuropäischer Dichtung besser belesen wäre. Es wäre immer noch einer, dessen Muttersprache deutsch ist, der dieses Schrifttum zu beschreiben sich anheischig macht. Solche Grenzen bleiben gezogen, man mag sich stellen, wie man will. Der Schaden ist freilich nicht so groß, wie wenn es sich um eine Poetik im alten Sinne handeln würde. Dennoch könnte es sein, daß alles in einer Hinsicht betrachtet wird, die nur für das deutsche Sprachgebiet von einigem Interesse ist. Dies zu entscheiden, steht mir nicht zu.   Ich schließe nur die Bitte an, man möge ein Urteil über die Teile der Darstellung auf den Schluß verschieben. Es liegt am Problem, daß noch mehr als sonst das Einzelne nur im Rahmen des Ganzen richtig aufgefaßt werden kann. Insbesondere werden viele zunächst recht unbestimmte Begriffe wie «Innerlichkeit», «Geist», «Seele» erst allmählich ausgewiesen. Da der Ausweis aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.   Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt, daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch» sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche Propädeutik, als Instrument für den Interpreten, das eine rasche Verständigung über allgemeine Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen, welche dem besonderen Schaffen der einzelnen Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen, insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie. Darin berührt sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung der individuellen Realität vom rein idealen Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen Strenge durchgeführt. LYRISCHER STIL: ERINNERUNG 1. A ls eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils gilt «Wanderers Nachtlied» von Goethe. Es ist schon oft beschrieben worden, wie in den ersten beiden Versen «Über allen Gipfeln Ist Ruh ...» in dem langen «u» und der folgenden Pause die schweigende Dämmerung hörbar wird, wie in den Zeilen «In allen Wipfeln Spürest du ...» das Reimwort auf «Ruh» nicht ebenso tief beschwichtigt, weil der Satz nicht schließt, die Stimme also gehoben bleibt, und dies der angedeuteten letzten Regung in den Bäumen entspricht; wie endlich die Pause nach «Warte nur, balde ...» gleichsam das Warten selber sei, bis im Schlußvers «Ruhest du auch ...» in den beiden letzten langgezogenen Worten sich alles beruhigt, sogar das unruhigste Wesen, der Mensch.   Ähnliche Betrachtungen ließen sich anstellen über die Strophe Verlaines: «Et je m'en vais Au vent mauvais,   Qui m'emporte Deçà, delà, Pareil à la   Feuille morte.»   Der zweite Vers klingt fast wie der erste, nur daß der Nasal ─ so scheint es ─ in nachlässigem Spiel verschoben ist. Die Wörter «vais ─ mauvais, delà ─ à la» können kaum als Reime gelten; die Zunge bildet denselben Vokal, als ob sie sinnlos lallen wollte. Das flüchtige «la» als Reimwort nimmt der Sprache noch das letzte Gewicht. So werde, könnte man sagen, etwas hoffnungslos Verspieltes hörbar; die Laute schon flößen die Stimmung ein, die uns der Anblick im Winde treibender herbstlicher Blätter bereitet.   Wenn wir unserm Gefühl für antike Verse trauen dürfen, möchte man auch im Schluß der bekannten sapphischen Strophe Ἄστερες μὲν ἀμφὶ κάλαν σελάνναν in dem Adoneus Λαῖτμ' ἔπι καὶ γᾶν die klare und weite Ruhe hören, die der volle Mond über Land und Meer legt.   In solchen Beobachtungen gefällt sich die Stilkritik. Es läßt sich nichts dagegen sagen. Der Laie jedoch, der schlichte Freund der Dichtung, ist unangenehm berührt. Er meint, man wolle dem Dichter eine Absicht unterschieben, wo das Absichtslose erfreut und jede Spur von Absicht verstimmt.   Der sogenannte Kenner hat Grund, das Urteil des Liebhabers nicht zu verachten. Denn wahr ist auch sein Erkennen nur, solang er zugleich Liebhaber bleibt. Doch es ist vielleicht möglich, den Streit zu schlichten. Der Kenner müßte nur zugeben, daß hier keine Lautmalerei vorliegt. Lautmalerische Verse sind uns in großer Zahl aus den Epen Homers bekannt, etwa aus Vossens Übertragung der vielzitierte, vielgerühmte und angefochtene Hexameter: «Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.» Oder das «Dumpfhin kracht' er im Fall», das ausgezeichnet das griechische δούπησέν τε πεσών auf deutsch wiedergibt; oder der Vers, der das Liebeswerben Kalypsos um Odysseus schildert: Αἰεὶ δὲ μαλακοῖσι καὶ αἱμυλίοισι λόγοισι ... (I, 56).   Hier werden lautliche Mittel der Sprache auf einen Vorgang angewandt. «Anwenden auf ...» bedeutet, daß die Sprache und der beschriebene Vorgang voneinander geschieden sind. Wir sagen deshalb mit Recht, die Sprache gebe den Vorgang «wieder». Der Begriff «imitatio» ist am Platz. Das sprachliche Nachahmen ist eine Leistung, von der sich einigermaßen Rechenschaft ablegen läßt: diese Folge von lauter Daktylen gibt das Gepolter des Marmors wieder, dieser Reichtum von Vokalen die Verführungskünste Kalypsos. Solche Nachweise verstimmen kaum, weil der Leser die Absicht voraussetzt oder doch immerhin für möglich hält, und weil der Nachweis nur die Freude des Dichters an dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu bestätigen scheint.   Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang sprachlich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in «Wanderers Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre, und dort die Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern der Abend erklingt als Sprache, von selber; der Dichter «leistet» nichts. Es gibt hier noch kein Gegenüber. Die Sprache geht in der Abendstimmung auf, der Abend in der Sprache. Deshalb muß der Nachweis einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deutung nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern. Denn das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn es je bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist als jeder physiognomische Nachweis, eine Seele tiefer als jeder Erklärungsversuch der Psychologie.   Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik. Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei ─ mutatis mutandis und ohne Werturteil ─ der Programmusik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler sein als ein solches unmittelbares Verlauten von Stimmung. Daher ist jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen Gedicht ganz unentbehrlich und unersetzlich. Wen es nicht ekelt, der setze in «Wanderers Nachtlied» statt «spürest» «merkest» ein; er streiche nur das «e» in «Vögelein» und frage sich, ob die Zeile damit nicht ernstlich beeinträchtigt sei. Wohl sind nicht alle Gedichte so empfindlich wie gerade dieses. Aber je lyrischer ein Gedicht ist, desto unantastbarer ist es. Kaum wagt man, es vorzulesen, aus Scheu, die Silben, im Widerspruch zum Ton des Dichters, zu dehnen oder zu kürzen, zu leise oder zu stark zu betonen. Epische Hexameter sind viel robuster. Ihr Vortrag ist, in gewissen Grenzen wenigstens, lernbar. Lyrische Verse aber, wenn sie schon vorgetragen werden sollen, tönen nur richtig, sofern sie aus tiefer Versenkung, aus einer weltabgeschiedenen Stille neu erstehen ─ selbst wenn es heitere Verse sind. Sie brauchen den Zauber der Eingebung, und alles, was den Verdacht der Absicht erregen könnte, verstimmt auch hier.   Das ist es, was die Übertragung in fremde Sprachen erschwert oder ausschließt. Bei Lautmalereien mag sich ein findiger Übersetzer vielleicht behelfen. Ganz unwahrscheinlich ist es aber, daß gleichbedeutende Wörter verschiedener Sprachen dieselbe lyrische Einheit der Laute und ihrer Bedeutung ergeben. Ein Beispiel führt Ernst Jünger im «Lobe der Vokale» In «Blätter und Steine», Hamburg 1934. an. Es ist die lateinische Strophe: «Nulla unda Tam profunda Quam vis amoris Furibunda.» Wenn die Gewalt der Liebe hier mit dem Wasser verglichen wird, so beschwören die Reimworte «unda, profunda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls, aus der das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen kann. Die deutsche Übersetzung lautet: «Keine Quelle So tief und schnelle Als der Liebe Reißende Welle.» Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das verdoppelte «l». Wir meinen wieder, das Wasser zu hören, aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die eilig strömende Flut. Und dies ist eine andere Liebe, nicht verhaltene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft. Dem entsprechen die neuen oder veränderten Wortbedeutungen. «Schnelle» stand nicht im lateinischen Text, auch «reißende» nicht. Der Einklang von Laut und Bedeutung ist also ebenso rein wie im Original. Das Ganze jedoch ist völlig verwandelt.   Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen und dramatischen Versen. Denn jedermann glaubt doch etwas zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn er die fremde Sprache nicht kennt. Er hört die Laute und Rhythmen und wird, diesseits des diskursiven Verstehens, von der Stimmung des Dichters berührt. Die Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe deutet sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im Lyrischen bewahrt.   Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte, die auch mit Worten angestimmt werden kann. Der Dichter selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die Rede ist. Liebe ─ Tod ─ Wasser, irgendein holdes Ungefähr genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt, wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden. Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein, sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches ausgelassen: «Viel Wandrer lustig schwenken Die Hüt' im Morgenstrahl ...» «Weg, du Traum! so gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist ...» «Was soll all der Schmerz und Lust?»   In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen Kräftefelder, nach denen die Worte sich ordnen, offenbar mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch Richtigen und Gewohnten.   Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv oder Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch unverwelklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes blühen. Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen mit Eckermann ist einmal von serbischen Liedern die Rede 18. Januar 1825. . Eckermann freut sich an den Motiven, die Goethe in Worte gefaßt hat: «Mädchen will den Ungeliebten nicht», «Liebesfreuden verschwatzt», «die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen». Er bemerkt dazu, die Motive seien an sich schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem Gedicht verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:   «Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie und denken dabei bloß an die Empfindung, an die Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln.»   Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler, bezeugt. Er hat es sogar gewagt, zu erklären, erst eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln. Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein» wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen. Und widerlegt nicht eines der berühmtesten Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet, an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten der Weltliteratur gehöre.   Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte, die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff der Form, der, wie man ihn auch wenden mag, doch immer ein zu Formendes und eine formende Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird, voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer Form und eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung sich nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden, wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse und Heimkehr des Helden, in die eine «Form», den Hexameter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht, hineingegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen entstehen die Metren, Reime und Rhythmen in eins mit den Sätzen. Keins ist vom andern zu lösen, und also sind diese nicht Inhalt und jene nicht Form.   Daraus scheint nun aber zu folgen, daß in lyrischer Dichtung so viele metrische Gebilde vorliegen müssen, als Stimmungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon ist allerdings in der historischen Lyrik sichtbar. Der alten Poetik, welche die Gattung nach metrischen Kennzeichen zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße, «varietate carminum», Schwierigkeiten. Es bleibt ihr am Ende nichts anderes übrig, als eben diese «varietas» kennzeichnend für die Gattung zu finden. Die Namen «Asclepiadeus», «alkäische», «sapphische» Strophe zeigen zudem, daß ursprünglich wenigstens jeder Meister des Melos seinen eigenen Ton singt, ein Ideal, das im Mittelalter wieder zu neuer Geltung gelangt. Das Höchste jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder Dichter, sondern jedes Lied seinen eigenen Ton, seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es denn auch in den kurzen Liedern aus Goethes ersten Weimarer Jahren, in «Rastlose Liebe», «Herbstgefühl», vollkommener noch in «Wanderers Nachtlied», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'», weil dieses wunderbare Gedicht nicht nur in jeder Zeile die feinste metrische Schmiegsamkeit verrät, sondern überhaupt in keiner metrischen Rechnung mehr aufgeht und also vor jeglicher Nachahmung geschützt ist. Ferner wären hier die kurzen Lieder Mörikes zu nennen: «Er ist's», «In der Frühe», «Septembermorgen», «Um Mitternacht», «Auf den Tod eines Vogels».   Dennoch ist es falsch, der Einzigartigkeit des metrischen Rahmens zu große Bedeutung beizumessen und die ungezählten Gedichte, die sich in gleichgebauten jambischen und trochäischen Versen bewegen, von vornherein minder lyrisch zu nennen. Auch innerhalb desselben metrischen Rahmens sind rhythmische Wandlungen möglich, die jeder Individualität der Stimmung vollkommen Genüge tun. Mörikes «Verborgenheit» zum Beispiel ist in den landesüblichsten trochäischen Vierzeilern gehalten: «Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dies Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein!» Dennoch stimmt der Ton vollkommen mit der Aussage überein! Eine sanft abwehrende Gebärde, ein Zurückweichen wird vernehmlich in dem leisen Nachdruck, der auf der ersten Silbe liegt, und in der folgenden, durch das Komma markierten scheuen Pause: «Laß, o Welt, o laß mich sein!» Es ist, als ob der Dichter dem Liebeswerben der Welt zuvorkommen wollte. Der dreimalige Einsatz mit «l» mag noch das Seine zu diesem Gefühl beitragen ─ auch hier sind nur Andeutungen möglich; dann geht es gelassener weiter; die Abwehr hat genügt; die Welt läßt dieses Herz nun sein.   Ganz anders klingt die dritte Strophe: «Oft bin ich mir kaum bewußt, Und die helle Freude zücket Durch die Schwere, so mich drücket, Wonniglich in meiner Brust.» Der metrische Rahmen bleibt sich gleich. Die Melodie ist jetzt aber steigend. Die ersten Silben «oft» und «durch» haben jedenfalls nicht den Nachdruck von «laßt», «locket», «laßt». Dagegen gewinnt das Ende der Verse. «Bewußt», «zücket», «drücket» ist betonter als «sein», «haben» und als die beiden letzten Silben von «Liebesgaben». Weil der Ton sich gegen das Ende steigert, ist diese Strophe zart beschwingt, während die erste mit ihrem sinkenden Ton gleichsam zurückweicht. Hugo Wolf hat dies gewürdigt und die dritte Strophe mit einer besonderen Melodie bedacht. Seine Komposition enthüllt den Sinn der Verse so, daß auch der empfindlichste Liebhaber nicht verstimmt ist. 2.   Gedichte wie «Wanderers Nachtlied», «Er ist's», «In der Frühe» geben den reinsten Begriff von dem, was Fr. Th. Vischer das «punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt» nennt Ästhetik, 2. Aufl. München 1923, Bd. VI, S. 208. . Es sind Gedichte von wenigen Zeilen. Alle echt lyrische Dichtung dürfte nur von beschränktem Umfang sein. Das geht schon aus dem Gesagten hervor und wird sich im Folgenden wieder bewähren. Der lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich ─ das will buchstäblich verstanden sein ─ der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der einen oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten ist unwillkürlich. «Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.» Gerade Mörike hat freilich an seinen Gedichten lange gefeilt. Doch dieses Feilen ist etwas anderes, als wenn ein Dramatiker seinen Plan überdenkt oder wenn ein Epiker neue Episoden einfügt oder das Alte noch deutlicher zu gestalten versucht. Der Lyriker lauscht immer wieder in die einmal angetönte Stimmung hinein, er erzeugt sie aufs neue, so wie er sie auch im Leser erzeugt. Und schließlich gewinnt er den unterwegs verlorenen Zauber der Eingebung zurück oder gibt doch mindestens ─ wie viele Dichter sinkender Zeiten, denen ein großes Erbe ward ─ den Schein des Unwillkürlichen. Conrad Ferdinand Meyer hat diesen Weg sehr oft vom ersten Entwurf bis zur letzten Fassung zurückgelegt. Meyer kann aber schwerlich als Prototyp des Lyrikers gelten. Anders hat Clemens Brentano gedichtet, über die Laute gebeugt und improvisierend zum Erstaunen der Freunde. Wir hören es seinen Liedern an, wie sie von selber aufklingen in ihm: «Von den Mauern Widerklang ─ Ach! ─ im Herzen frägt es bang: Ist es ihre Stimme?» «Wie klinget die Welle! Wie wehet ein Wind! O selige Schwelle, Wo wir geboren sind!» Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift ─ Brentano hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.   Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische eine Idee ist, die sich ─ nicht aus menschlicher Schwäche des Dichters, sondern ihrem Wesen nach ─ als Dichtung nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs durch das Epische oder Dramatische bedarf.   Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen, wenn der Dichter dahintreibt im Auf und Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit, deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da wird ein Ideal des ununterbrochenen lyrischen Daseins erstrebt, das künstlerisch nicht mehr möglich ist und zu völliger Selbstauflösung führt.   So bliebe die lyrische Dichtung also auf den engsten Raum beschränkt? Ich füge ein Zwischenbeispiel ein, Goethes Gedicht « Auf dem See. Und frische Nahrung, neues Blut Saug ich aus freier Welt; Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf. Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum! so gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist. Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.»   Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit Auftakt, klingt keck und frisch; der zweite, mit den längeren Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält; im dritten wird die Fahrt mit leicht gedämpftem Entzücken fortgesetzt. Dreimal findet das «punktuelle Zünden der Welt» im Dichter statt, jedesmal anders, so daß nicht eigentlich von drei Strophen die Rede sein kann. Die Eingebungen werden nur aneinandergereiht, weil sie sachlich und zeitlich zusammengehören. Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht oder ob ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Abstand der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind lyrische Momente einer Fahrt. Was die Momente einigt, ist nicht in Stimmung und Sprache ausgeprägt, sondern ist ein Zusammenhang, der nur biographisch besteht und, gebührend erweitert, alle Gedichte Goethes als «Bruchstücke einer Konfession» zusammenschließt.   So bleibt die Frage noch immer in Kraft: Wie kommen längere Lieder zustande, die in sich selbst geschlossen sind?   Was lyrische Dichtung vor dem Zerfließen bewahrt, ist einzig die Wiederholung. Doch irgendwelche Wiederholung eignet aller Poesie. Die allgemeinste ist der Takt als Wiederholung gleicher Zeiteinheiten. Hegel vergleicht den Takt mit den Säulen- und Fensterreihen der Architektur und weist darauf hin, daß das Ich nicht unbestimmtes Fortbestehen und haltungslose Dauer sei, sondern sich erst durch Sammlung und Rückkehr in sich selbst als Selbst gewinne:   «Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den Takt in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist umso vollständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit weder der Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die Zeit hineingesetzt ist» Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV, S. 161. .   Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexameter oder das Maß eines Lieds, sofern ein solches fixierbar ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre nicht der Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so meint er damit, daß «in Wirklichkeit» ja niemals ─ es sei denn in metronomischem Vortrag ─ gleiche Takte fallen, sondern die Gleichheit nur als eine über mehr oder minder großen Schwankungen sich behauptende regulative Idee vernommen wird. Es ist der Widerstreit von Takt und Rhythmus, wie ihn auch Heusler beschreibt Deutsche Versgeschichte, Bd. I, Berlin und Leipzig 1925, S. 17 ff. . Ob Takt und Rhythmus bei natürlichem Vortrag sich einander nähern oder weit auseinandergehen, ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten so sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen. In Mörikes «Verborgenheit» tritt die Gleichheit des Taktes in den einzelnen Strophen hinter dem Wechsel des Rhythmus zurück und scheint nur noch wie ein Auge zu sein, das unauffällig die Verse bewacht und vor Auflösung behütet. In «Wanderers Nachtlied» aber ist der Takt überhaupt nicht mehr deutlich erkennbar; verschiedene Regelungen sind möglich, je nachdem die Dauer der Silben und der Pausen eingeschätzt wird. Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall würden zerrinnen.   Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in Richtung auf die Prosa, sondern zugunsten eines im Einklang mit der Stimmung sich wandelnden Rhythmus. Das ist nur der metrische Ausdruck dafür, daß in lyrischer Dichtung ein Ich und ein Gegenstand einander noch kaum gegenüberstehen. Bei Schiller dagegen ist der Abstand besonders groß, was der schroffen Antithese einer in allem Wandel identischen Person und eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik entspricht.   Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht aus den beiden metrisch gleichgebauten Strophen: «Ich wandre durch die stille Nacht, Da schleicht der Mond so heimlich sacht Oft aus der dunklen Wolkenhülle, Und hin und her im Tal Erwacht die Nachtigall, Dann wieder alles grau und stille. O wunderbarer Nachtgesang: Von fern im Land der Ströme Gang, Leis Schauern in den dunklen Bäumen ─ Wirrst die Gedanken mir, Mein irres Singen hier Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»   Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie in den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit». Doch auch in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich diese Strophen kaum. Der etwas schwere Auftakt in der ersten wiederholt sich an derselben Stelle in der zweiten: « Oft aus der dunklen Wolkenhülle ...» « Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...» ebenso im letzten Vers der etwas leichtere, aber immer noch fast unmerklich akzentuierte Auftakt: « Dann wieder alles grau und stille ...» « Ist wie ein Rufen nur aus Träumen ...» Die Gewichte sind auffallend ähnlich verteilt. Einzig im vierten Vers ist der Rhythmus empfindlich verändert: «Und hin und her im Tal ...» «Wirrst die Gedanken mir ...» Daß weitere, nicht mehr faßliche Unterschiede bestehen, sei nicht bestritten. Sie kommen aber gegen die rhythmische Ähnlichkeit im Ganzen nicht auf. Das heißt: Die Musik der ersten Strophe wird in der zweiten wiederholt. Dieselbe Saite klingt noch einmal, gibt einen zweiten, ganz ähnlichen Ton, dessen Schwingung sogar die Unterschiede der Aussage zu verschleiern scheint wie ein mit Pedal gehaltener Akkord, über dem eine Melodie sich fortsetzt.   Noch einen Schritt weiter führt uns Mörikes «Um Mitternacht». «Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Waage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;» Und kecker rauchen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. Das uralt alte Schlummerlied, Sie achtets nicht, sie ist es müd; Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch, Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch. Doch immer behalten die Quellen das Wort, Es singen die Wasser im Schlafe noch fort Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage.»   Im selben Vers ist von dem gleichgeschwungnen Joch der Zeit die Rede, im selben Verspaar von den Quellen; und endlich münden die beiden Strophen sogar in dieselben Worte aus. Die rhythmische Wiederholung hebt, wie gegen allmählich schwindenden Widerstand der Rede, die sich fortsetzen möchte, die Unterschiede der Aussage auf.   Solche Wiederholung ist einzig in lyrischer Dichtung möglich. Man sage nicht, auch in Epen Homers würden Verse wörtlich wiederholt. Wir lesen freilich immer wieder: «Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte» «Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle ... » Hier aber werden nur dieselben Worte, die der Dichter schon früher brauchte, für eine neue Mahlzeit und einen neuen Morgen gewählt. Die lyrische Wiederholung dagegen meint mit denselben Worten nichts Neues, sondern dieselbe einzigartige Stimmung klingt noch einmal auf.   Die verschleierte Wiederholung wie in Eichendorffs «Nachts» kommt seltener vor und kann die lyrische Stimmung höchstens über zwei, drei Strophen ausdehnen. Was weitergeht, ermüdet. So läßt man sich in Brentanos «Spinnerin» die Wiederholung das erste Mal gern gefallen; die zweite wirkt bereits monoton. Die wörtliche Wiederholung dagegen heißt Kehrreim und ist in jüngster und ältester Dichtung vieler Völker üblich. Freilich sind die meisten Kehrreime anders angeschlossen als in Mörikes «Um Mitternacht». In diesem Gedicht ist nämlich der Ton lyrisch vom Anfang bis zum Schluß. Der Kehrreim unterscheidet sich in seinem Aggregatzustand kaum von den ersten Versen der Strophe. Meist aber, zumal in Volksliedern und in volksliedmäßigen Gedichten, fällt er auf durch musikalischere Diktion. Ja, er scheint nicht selten alles Lyrische in sich zu sammeln, während die übrigen Verse mehr zum Epischen oder Dramatischen neigen. Unzählige Beispiele gibt Brentano. In seinen längeren Gedichten wird immer wieder ein balladenhafter Vorgang oder auch ein Erlebnis in ziemlich saloppen Versen erzählt und gleichsam kapitelweise durch einen bezaubernden Kehrreim abgeschlossen: «O wie blinkte ihr Krönlein schön, Eh die Sonne wollt untergehn.» «O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.» Im Zusammenhang der Strophen: «Ich träumte hinaus in das dunkle Tal Auf engen Felsenstufen, Und hab mein Liebchen ohne Zahl Bald hier, bald da gerufen. Treulieb, Treulieb ist verloren! Mein lieber Hirt, nun sage mir, Hast du Treulieb gesehen? Sie wollte zu den Lämmern hier Und dann zum Brunnen gehen. ─ Treulieb, Treulieb ist verloren ...»   Die wechselnden Verse solcher Lieder werden meist in einer mehr rezitativischen Weise vorgetragen, von einem Einzelsänger womöglich, damit die «Geschichte» verstanden wird. Beim Kehrreim fallen die Zuhörer ein. Der Gesang schwillt an. Das Musikalische überwiegt die Bedeutung der Worte.   Der Kehrreim kommt aber auch am Anfang und in der Mitte der Strophen vor: «Nach Sevilla, nach Sevilla ...» «Einsam will ich untergehen ...» «Nun soll ich in die Fremde ziehen ...» Brentano ahmt hier wieder die Volkslieder aus «Des Knaben Wunderhorn» nach. Und diese Beispiele zeigen wohl am deutlichsten, was der Kehrreim leistet. Der Dichter schlägt die Saite, die unwillkürlich in seinem Herzen erklang, mit Wissen und Willen abermals an und lauscht dem Ton zum zweiten, dritten, vierten und fünften Male nach. Was sich als Sprache von ihm gelöst hat, erzeugt dieselbe Stimmung wieder, ermöglicht eine Rückkehr in den Moment der lyrischen Eingebung. Dazwischen mag er erzählen oder über die Stimmung reflektieren. Das Ganze bleibt doch lyrisch gebunden. Der Kehrreim am Strophenende ist davon nicht grundsätzlich unterschieden. Das Lyrische wird nur künstlich zurückgestellt, und es ist sinngemäß, wenn der Kehrreim dann in der Überschrift erscheint, wie in «Treulieb, Treulieb ist verloren». Denn damit beginnt es in Wahrheit auch hier. Der Kehrreim ist die musikalische Quelle des ganzen Gedichts.   Als Wiederholungen anderer Art sind noch die Gebilde zu nennen, die, wie das Rondell, eine Kreisbewegung beschreiben oder in irgendwelcher Verflechtung auf frühere Verse zurückkommen: «Verflossen ist das Gold der Tage, Des Abends braun und blaue Farben: Des Hirten sanfte Flöten starben, Des Abends blau und braune Farben; Verflossen ist das Gold der Tage.» (Georg Trakl)   In größerem Rahmen ist Strindbergs Bühnenstück «Nach Damaskus» so angelegt. Wenn der Dichter von der Mitte an die Bühnenbilder in umgekehrter Folge wiederholt und schließlich wieder zum ersten zurückkommt, gewinnt das Ganze in der Tat eine lyrische Färbung. Der Zuschauer wird nicht hingerissen (vergl. Seite 162) sondern, ähnlich wie im «Traumspiel», eingewiegt.   Die lyrische Wiederholung drängt sich nun weiter bis ins Einzelne vor. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel bietet wieder Brentano: «Die Welt war mir zuwider, Die Berge lagen auf mir, Der Himmel war mir zu nieder, Ich sehnte mich nach dir, nach dir! O lieb Mädel, wie schlecht bist du! Ich trieb wohl durch die Gassen Zwei lange Jahre mich; An den Ecken mußt ich passen Und harren nur auf dich, auf dich! O lieb Mädel, wie schlecht bist du!» Das wiederholte «nach dir», «auf dich» leitet deutlich von den mehr rezitativischen Versen zum Kehrreim über. Eine Komposition drängt sich geradezu auf. Die ersten drei Verse dürften melodisch wenig ausgeprägt sein. Der vierte würde sich gegen den Schluß zu schmerzlich-innigem Gesang erheben, zu einer Musik, die dann im Kehrreim, völlig entbunden, ausströmen könnte. Das Lyrische verdichtet sich in dieser Strophe gegen das Ende. Es verdichtet sich immer, wo einzelne Wörter oder Wortgruppen wiederholt sind: «Nach seinem Lenze sucht das Herz In einem fort, in einem fort ...» (C. F. Meyer) «Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut ...» (A. v. Droste) «O Lieb, o Liebe! so golden schön ...» (Goethe) «Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus ...» «Aveva gli occhi neri, neri, neri ...»   Auch solche Wiederholungen sind allein in lyrischer Sprache möglich, oder, anders ausgedrückt: wo immer wir solchen Wiederholungen begegnen, empfinden wir die Stelle als lyrisch Vgl. aber schon hier die ganz anderen Wiederholungen im pathetischen Stil, Beispiele S. 160. . Der Sinn ist derselbe wie beim Kehrreim. Das «punktuelle Zünden der Welt» wiederholt sich; der angeschlagenen Saite lauscht der Dichter noch einmal nach.   Das leitet uns schließlich über zum Reim. Es kann sich freilich nicht darum handeln, dem Reim, dessen Bedeutung sich in der Geschichte der Dichtung immerzu wandelt, nach allen Seiten gerecht zu werden. Wir müssen nur wissen, daß seine Vieldeutigkeit die größte Vorsicht gebietet.   Der Reim kommt erst in der christlichen Dichtung auf und scheint bestimmt, die metrische Vielgestaltigkeit der antiken Lyrik, die allmählich schwindet, zu ersetzen. Es ist, als würde die Musik aus einer anderen Quelle geschöpft. Gedichte, die beides verbinden, gereimte sapphische Strophen zum Beispiel, wirken darum nicht eben erfreulich, als sei des Guten zuviel getan. Dennoch kann der Reim, indem er das Ende der Verse markiert, vorwiegend metrische Qualitäten besitzen. Humboldt hat gerade dies an Schillers Versen gerühmt An Schiller, 18. August 1795. . Hier aber stehen jetzt nur die Reime mit klangmagischer Wirkung in Frage, Reime, die also nicht so sehr gliedern, als vielmehr magnetisch weiterziehen und über die Unterschiede der Aussage hinwegzutäuschen geeignet sind. Eine der wunderbarsten Proben sind die Reime und Assonanzen in Brentanos «Romanzen vom Rosenkranz»: «Allem Tagewerk sei Frieden! Keine Axt erschall im Wald! Alle Farbe ist geschieden, Und es raget die Gestalt. Tauberauschte Blumen schließen Ihrer Kelche süßen Kranz, Und die schlummertrunknen Wiesen Wiegen sich in Traumes Glanz. Wo die wilden Quellen zielen Nieder von dem Felsenrand, Ziehn die Hirsche frei und spielen Freudig in dem blanken Sand ...»   So geht es weiter, dreiundsechzig Strophen lang, in dem immer gleichen hypnotischen Wechsel von «i» und «a». Dieselben Laute heben immer wieder dieselbe Stimmung herauf. Und es müßte schon ein musikalisch unempfindlicher Leser sein, der nach dem ersten Lesen anzugeben wüßte, wovon der Dichter im Einzelnen spricht. Abend ─ Frieden ─ Schlaf: das bleibt im Gemüt erhalten als das Eine, während das Viele darunter weiterfließt, ein unaufhaltsamer Strom. 3.   Die Einheitlichkeit der Stimmung ist im Lyrischen umso nötiger, als der Zusammenhang, den wir sonst von einer sprachlichen Äußerung erwarten, hier manchmal nur ungenau und oft genug überhaupt nicht ausgeprägt ist. Die Sprache scheint im Lyrischen auf vieles wieder zu verzichten, was sie in allmählicher Entwicklung von parataktischer zu hypotaktischer Fügung, von Adverbien zu Konjunktionen, von temporalen Konjunktionen zu kausalen in Richtung auf logische Deutlichkeit gewonnen hat.   Spittelers «Bescheidenes Wünschlein» beginnt: «Damals, ganz zuerst am Anfang,   wenn ich hätte sagen sollen, Was, im Fall ich wünschen dürfte,   ich mir würde wünschen wollen ...» Das ist anmutig, aber nur deshalb, weil es in freundlicher Ironie der wahren Natur des Lyrischen spottet. Spitteler macht aus der Not eine Tugend und unterstreicht mit übertriebenen logischen Konstruktionen seinen Mangel an lyrischer Begabung. Doch wenn ein Liederdichter sich ernsthaft in so deutlicher Logik ausspricht, vermissen wir an dem Lied die Musik. Denn Denken und Singen vertragen sich nicht. Ein Gedicht Hebbels, das «Lied» überschrieben ist, beginnt mit den Strophen: «Komm, wir wollen Erdbeern pflücken,   Ist es doch nicht weit zum Wald, Wollen junge Rosen brechen,   Sie verwelken ja so bald! Droben jene Wetterwolke,   Die dich ängstigt, fürcht ich nicht; Nein, sie ist mir sehr willkommen,   Denn die Mittagssonne sticht.» Die Schuld an dem frostigen Eindruck tragen vor allem die scheinbar harmlosen Wörtlein «doch», «ja», «nein», «denn». Fallen sie weg, so nähern sich diese belehrenden Verse schon eher dem Lied: «Wir wollen Erdbeern pflücken, Es ist nicht weit zum Wald, Und junge Rosen brechen, Rosen verwelken so bald ...»   Nicht gegen alle Konjunktionen sind Lieder gleich empfindlich. Am unangenehmsten scheinen die kausalen und finalen zu wirken. Gelegentlich ein «wenn» oder «aber» beeinträchtigt die Stimmung kaum. Das Selbstverständlichste jedoch ist eine schlichte Parataxe wie etwa in Eichendorffs «Rückkehr»: «Mit meinem Saitenspiele, Das schön geklungen hat, Komm ich durch Länder viele Zurück in diese Stadt. Ich ziehe durch die Gassen, So finster ist die Nacht, Und alles so verlassen, Hatt's anders mir gedacht. Am Brunnen steh ich lange, Der rauscht fort, wie vorher, Kommt mancher wohl gegangen, Es kennt mich keiner mehr. Da hört' ich geigen, pfeifen, Die Fenster glänzten weit, Dazwischen drehn und schleifen Viel fremde, fröhliche Leut'. Und Herz und Sinne mir brannten, Mich trieb's in die weite Welt, Es spielten die Musikanten, Da fiel ich hin im Feld.»   Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht. Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes Lied «An den Mond», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'», bei Verlaine, ja weiter zurück sogar auf lyrischen Höhepunkten des Barock, des sonst so leidenschaftlich auf logische Fugen erpichten Jahrhunderts, wie etwa in Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stunden der süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten, sondern der feinste Kunstverstand, was hier, zumal in der letzten Strophe, die lyrische Sprache schafft: «Ich schwamm in Freude, Der Liebe Hand Spann mir ein Kleid von Seide, Das Blatt hat sich gewandt, Ich geh' im Leide, Ich wein' itzund, daß Lieb' und Sonnenschein Stets voller Angst und Wolken sein.»   Ein einziger Nebensatz steht am Schluß. Gerade hier läßt aber auch die lyrische Wirkung fühlbar nach und geht das Singen in Sprechen über. Ein solches «daß» gehört offenbar zu den unlyrischen Konjunktionen. Die Volkslieder schließen sich hier an, und aus der Antike sei wieder Sappho erwähnt, jener lyrische Urlaut, der aus der Ferne von zweieinhalb Jahrtausenden als vertrautes Geheimnis herübertönt: Δέδυκε μὲν ἀ σελάννα καὶ πληίαδες· μέσαι δὲ νύκτες  ‚  παρὰ δ ‘ ἔρχετ' ὤρα· ἔγω δὲ μόνα κατεύδω .   Doch mit dem Begriff «parataktisch» ist lyrische Sprache noch nicht genügend bestimmt. Denn auch die epische ist parataktisch, so daß man ebenso sagen könnte: je parataktischer, desto epischer (vergleiche Seite 120). Im Epischen aber sind die Teile selbständig, im Lyrischen sind sie es nicht. Das zeigt sich in neuerer Dichtung schon orthographisch, indem hier ganze Sätze oft nur durch Komma abgetrennt werden. Es wäre nicht nur öde Pedanterie, sondern Stilwidrigkeit, in Eichendorffs «Rückkehr» oder in Goethes «An den Mond» nach dem Duden verfahren zu wollen. Der lyrische Fluß geriete ins Stocken. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn wir etwa die Prosa Eichendorffs mit der Prosa Kleists oder Lessings vergleichen. Hier die reichste Interpunktion, dort eine Scheu, schärfer trennende Zeichen zu setzen, die an die Gepflogenheiten im Briefstil von Frauen gemahnt. Es sind dieselben «Frauenzimmer», die Goethe in den Gesprächen mit Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen Dichtung oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.   Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der Teile daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch einer loseren Folge von Satzteilen oder gar einzelnen Wörtern weicht: «Und hin und her im Tal Erwacht die Nachtigall, Dann wieder alles grau und stille ...» Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang der zweiten Strophe: «O wunderbarer Nachtgesang: Von fern im Land der Ströme Gang, Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...» Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen, sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind: noch ehe die Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder zerronnen. Das stetige Fließen verhindert den Abschluß eines einzelnen Teils. So auch in Annette von Drostes «Im Grase»: «Süße Ruh', süßer Taumel im Gras, Von des Krautes Arome umhaucht, Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut, Wenn die Wolk' am Azure verraucht, Wenn aufs müde, schwimmende Haupt Süßes Lachen gaukelt herab, Liebe Stimme säuselt und träuft Wie die Lindenblüt' auf ein Grab.» Oder bei Goethe: «Dämmrung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern; Doch zuerst emporgehoben Holden Lichts der Abendstern!» Manchmal ist eine grammatische Beziehung der Teile zwar zu finden, aber sie wird, vom unbefangenen Leser mindestens, nicht gesucht, zum Beispiel in Eichendorffs «Wanderlied»: «Durch Feld und Buchenhallen, Bald singend, bald fröhlich still, Recht lustig sei vor allen, Wer's Reisen wählen will!» Das wäre grammatisch so zu fassen: Wer's Reisen wählen will, der sei durch Feld und Buchenhallen bald singend, bald fröhlich still, vor allen recht lustig. ─ Über die Sinnlosigkeit einer solchen Erklärung des grammatischen Sinns braucht wohl kein Wort verloren zu werden.   Nicht selten bleiben sogar nur einzelne unverbundene Wörter zurück: «Tote Lieb', tote Lust, tote Zeit» steht in der zweiten Strophe von Annette von Drostes «Im Grase» ohne jeden Bezug nach vorwärts und rückwärts. Und vollends scheint Brentanos berühmter Kehrreim: «O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit ...» wie Wasser des Lebens zu sein, das sich der Dichter durch die Hand rinnen läßt: Es bleibt nichts Ganzes, Umrissenes, nur diese flüchtigen, aber ahnungsvollen Worte kehren immer wieder als Ertrag eines lyrischen Daseins.   Wo immer auch in einer Erzählung das Band des Satzes aufgelöst ist, empfinden wir die Stelle als lyrisch, in Eichendorffs «Julian», einer kleineren Verserzählung, etwa die Verse: «Drauf von neuem tiefes Schweigen, Und der Ritter schritt voll Hast ...» Oder im «Spiritus familiaris des Roßtäuschers» der Annette von Droste: «Tief tiefe Nacht, am Schreine nur der Maus geheimes Nagen rüttelt!»   Einzig im pathetischen Stil sind gleichfalls unvollständige Sätze und sogar einzelne Wörter möglich. Ihr Sinn ist aber ein ganz andrer. Pathetische Unvollständigkeit bedeutet eine Forderung (vergleiche Seite 165). Der Lyriker fordert nichts; im Gegenteil, er gibt nach; er läßt sich treiben, wohin die Flut der Stimmung ihn trägt.   Es hieße darum, genau genommen, diese sprachlichen Befunde mißverstehen, wenn man sie als Ellipsen interpretieren wollte. Der Begriff Ellipse besagt, daß in einem grammatischen Gefüge etwas fehlt, was zwar zum Satz gehört, doch zum Verständnis entbehrlich ist. Setzt man das Fehlende ein, so deckt sich die grammatische Fügung des Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren Beispielen aber wäre es unmöglich, etwas einzusetzen, ohne den lyrischen Sinn zu fälschen. «Von fern im Land der Ströme Gang»: Wird hier «rauscht» eingefügt, so gewinnt der Satz schon eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters fern liegt. Und soll in der ersten Strophe von «Im Grase» der Hauptsatz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen werden, daß wir ergänzen: «Süße Ruh ist im Grase; tiefe Flut ist, wenn die Wolk' am Azure verraucht», so leuchtet uns ein, daß der lyrische Ton gerade diesem «ist» widerstrebt und daß auch dort, wo der Dichter «ist» sagt, schwerlich ein Sein im Sinne des bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den pessimistischen Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort: «Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht ...?»   Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches. Eine Frau hat keinen «Körper» für ihn, nichts Widerständiges, keine Konturen. Sie hat vielleicht eine Glut der Augen und einen Busen, der ihn verwirrt, aber keine Brust im Sinne einer plastischen Form und keine fest geprägte Physiognomie. Eine Landschaft hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen, unbekümmert um die Zusammenhänge des Raumes und der Zeit. Und wo die Bilder fester stehen, wie in vielen Gedichten Gottfried Kellers, fühlen wir uns schon weit vom innersten Kreis des Lyrischen abgerückt. In Goethes Lied «An den Mond» fließt räumlich und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen, nicht anders in Mörikes «Im Frühling» und in der «Durchwachten Nacht» der Droste. Wir nennen das Sprünge der Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache von grammatischen Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch Sprünge sind solche Bewegungen nur für die Anschauung und den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen, wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf sie nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden sind. 4.   So wenig innerhalb eines Gedichts logische Fugen nötig sind, so wenig bedarf das Ganze einer Begründung. In epischer Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch einigermaßen klargestellt sein, bevor die Geschichte anheben kann. Erst recht setzt der Dramatiker einen Schauplatz voraus, und was an Begründung des Ganzen noch mangelt, das trägt er nach. Auch ein Gedicht kann zwar mit einer Art Exposition beginnen. Mörike zum Beispiel teilt gern den Anlaß eines Gefühls mit: «Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel ...» Nötig ist dies aber nicht. Eichendorffs «Gärtner» beginnt gleich mit dem vollen Geständnis der Liebe: «Wohin ich geh und schaue ...» Eine Situation, in der diese Worte möglich sind, mag sich der Leser beliebig aus dem Titel ergänzen, wenn er dazu ein Bedürfnis fühlt und den Auftritt im «Leben eines Taugenichts», aus dem die Verse in die Liedersammlung übergegangen sind, nicht kennt. Ein Gedicht von C. F. Meyer hebt an: «Geh nicht, die Gott für mich erschuf! Laß scharren deiner Rosse Huf Den Reiseruf!» Wer will eine Reise antreten? Wer versucht die Scheidende zurückzuhalten? Wir erfahren es nur ganz unbestimmt, so, daß viele mögliche Situationen zugrundegelegt werden können. Bei Marianne von Willemers Versen: «Was bedeutet die Bewegung? Bringt der Ost mir frohe Kunde?» gibt die Biographie die Auskunft, daß Goethe von Frankfurt abgereist ist und nun der Wind wie ein Bote von ihm herüberweht. Eine solche Auskunft mag die Freude an einem Gedicht erhöhen. Dennoch ist sie entbehrlich und wird von den meisten Lesern nicht verlangt. Noch weniger wird sich jemand einfallen zu lassen, zu fragen, welche Himmelsrichtung gemeint sei in Mignons Versen: «Allein und abgetrennt Von aller Freude, Seh ich ans Firmament Nach jener Seite.» Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen. Wie viele lieben und singen sie, ohne den Roman zu kennen!   Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen Konjunktionen beginnen: «Und frische Nahrung neues Blut ...» (Goethe) «Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...» (Goethe) «Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...» (Rilke)   Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen einer Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle im Lauf eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein sich in Musik. Das ist die «Gelegenheit», die Goethe veranlaßt hat, jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht zu nennen. Die Gelegenheit als solche steht in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Sie läßt sich biographisch, psychologisch, soziologisch, historisch oder biologisch begründen. Goethe hat in «Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst die Gelegenheit zu vielen Gedichten aus dem Zusammenhang seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat dies mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten, weil der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft selber nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten, weil sie unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare Verständlichkeit beruht jedoch nicht etwa darauf, daß der Leser die Worte auf eine ähnliche Gelegenheit seines eigenen Lebens bezieht. Wo dies geschieht, findet gerade keine reine Aufnahme statt. Was eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt, anderes mißachtet. Oft ist keine Beziehung möglich, und wenn sie besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost gespendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen lebt. Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen ─ im weitesten Sinne des Wortes ohne Grund. Nur wer nicht mitschwingt, fordert Gründe. Nur wer die Stimmung nicht unmittelbar zu teilen vermag, muß sie möglich finden und ist auf Begreiflichkeit angewiesen.   Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum und dichtet für sich. Doch eine solche Behauptung will erläutert sein. Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht. Die Ernte von Jahren wird gesammelt und einem Publikum vorgelegt. Gewiß! Doch hier schon, in einem Gedichtband, nimmt sich, mit Goethe zu reden, das «leidenschaftliche Gestammel geschrieben gar so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter hat nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn der Gedichtband vorliegt, was fängt das Publikum damit an? Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur so, wie man ein theatersicheres Drama auch lesen kann. Sie kommen im Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator, der vor vollem Saal ausgesprochen lyrische Dichtung vorträgt, macht fast immer einen peinlichen Eindruck. Schon eher möglich ist der Vortrag im kleinen Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir uns verlassen dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück nur in der Stille einsamen Lesens auf. Und auch dieses Aufblühen ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts spricht uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern uns über den eitlen Dichter, der sich die Mühe nahm, dergleichen aufzuschreiben, zusammenzustellen und seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt zuzumuten. Auf einmal aber, in einer besonderen Stunde, ergreift uns eine Strophe, ein ganzes Gedicht. Später schließen sich weitere an; und wir erkennen fast bestürzt, daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wirkung einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt, noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. Das Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine Seele gestimmt ist wie die Seele des Dichters. Und also erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit, die rein nur von Gleichgestimmten in der Einsamkeit erhört wird.   Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit Du anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches Du-sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der Dichter «ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte Liebe aber spricht ein Du, von dem das Ich weiß, daß es nicht eingeht.   Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet, der Sinn der Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann, Brahms, Hugo Wolf und Schoeck sind Meister der Kunst, in wenigen, einleitenden Takten eine Beschwörungsformel zu geben, die alles, was nicht zum Text gehört, verbannt und die Trägheit des Herzens löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen deutscher Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des Dichters hinwegmusiziert.   Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich zu verbindlicher Neigung zu seinem Nachbarn genötigt fühlt, oder wie ein Finale Beethovens, dem man zutraut, daß es alle zum Aufstehen in einem entschlossenen Ruck zu bewegen vermöchte. Der Beifall, der bei solcher Musik am Platz ist, verletzt uns nach lyrischen Liedern. Denn da waren wir einsam und sollen nun auf einmal wieder mit anderen sein.   Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze der epischen und dramatischen Poesie zu finden, vom Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum Publikum ausgegangen Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797. . Ähnliches ließe sich für die Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:   Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte angeht, braucht keine Überredungskunst. Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden soll, braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer Dichtung ist unfein, so unfein, wie wenn ein Liebender der Geliebten die Liebe mit Gründen erklärt. Und ebensowenig, wie er genötigt ist, zu begründen, muß er bestrebt sein, dunkle Worte aufzuhellen. Wer in der gleichen Stimmung ist, besitzt einen Schlüssel, der mehr erschließt, als geordnete Anschauung und folgerichtiges Denken. Es wird dem Leser zumute sein, als habe er selbst das Lied verfaßt. Er wiederholt es im Stillen, kann es auswendig, ohne es zu lernen, und spricht die Verse vor sich hin, als kämen sie aus der eigenen Brust.   Doch eben weil uns lyrische Dichtung so unmittelbar erschlossen ist, bereitet die mittelbare, diskursive Erkenntnis Schwierigkeiten. Das heißt: Es ist leicht, ein Gedicht zu erfassen, genauer: es ist weder leicht noch schwer, sondern es macht sich von selbst oder gar nicht. Doch über lyrische Verse reden, sie beurteilen und das Urteil gar begründen, ist fast nicht möglich. Ja, das Urteil wird gerade den lyrischen Wert kaum je betreffen und sich an anderes halten, was in jedem Gedicht immer auch noch da ist, an die Bedeutung des Motivs zum Beispiel oder ein kühnes Gleichnis. Der Unterschied zur dramatischen Poesie tritt hier ins hellste Licht. Ein Drama von Ibsen, Hebbel oder Kleist zu verstehen und bis ins Einzelne zu durchschauen, ist nicht leicht. Doch wenn es verstanden ist, fällt die Begründung der Erkenntnis nicht mehr schwer. Denn der Gegenstand selber ist nach allen Seiten begründet. Er gehört derselben Schicht an wie die Sprache, die erklärt und schließt. Deshalb nimmt sich die Ästhetik mit Vorliebe des Dramas an, während die Lyrik oft ein apokryphes Dasein führt oder mit Verlegenheit behandelt wird. Daher auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue, noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar. Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue, noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen Ansprüchen also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfahrene Leser finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird, schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten sie Mirakel schreien ─ mit Fug und Recht! Denn ein unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende, wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft oder Evidenz geht ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste, was sich auf Erden finden läßt. Dennoch vereint er die Hörenden inniger als jedwedes andere Wort. Sofern aber alle echte Dichtung in die Tiefe des Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses Ursprungs an ihr glänzt (vergleiche Seite 223), gründet alle Dichtung im Unergründlichen, einem «sunder warumbe» eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung mehr nötig ist. 5.   Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe allen bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde liegt, so muß sich dies Eine als solches erweisen und nennen lassen. Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.   Dieser Satz will näher untersucht und durch neue Befunde ergänzt sein.   Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem Lyrischen eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es spricht uns an oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt, sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden. Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie aus der eigenen Brust. Vor epischer und dramatischer Dichtung scheint eher Bewunderung am Platz. Der Anteil an lyrischer Poesie verdient den intimeren Namen Liebe.   In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache größte Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im Hören setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich ─ nicht wie im Sehen, dem Gesehenen ─ gegenüber. Die Phänomenologie der Sinne ist zwar noch wenig ausgebildet; und eben in diesen Bereichen finden wir uns von Mehrdeutigkeiten verwirrt. Immerhin läßt sich wohl soviel sagen: Wenn wir ein Bild betrachten wollen, treten wir ein wenig zurück, damit wir es übersehen und das im Raum Verteilte als ein Ganzes aufzufassen imstande sind. Der Abstand ist hier wesentlich. Beim Hören von Musik spielt Nähe und Ferne nur insofern eine Rolle, als die Instrumente aus einer bestimmten Entfernung am besten klingen. Der richtige Abstand vom Instrument ist etwa mit der günstigsten Beleuchtung von Bildern zu vergleichen. Er schafft jedoch kein Gegenüber wie beim Bild, das uns «vor-gestellt» wird und das wir uns wieder, wenn es nicht mehr da ist, vorzustellen vermögen. Vielmehr gilt von der Musik das Wort Paul Valérys, der erklärt, Musik hebe den Raum auf. Wir seien in ihr, sie sei in uns. Der wahre Hörer sei «esclave de la présence générale de la musique», eingeschlossen mit ihr wie eine Pythia in der Kammer voll Rauch Paul Valéry, Eupalinos, Paris 1924, S. 126. . Das Gleichnis, auf das Lyrisch-Intime bezogen, scheint vielleicht zu mächtig. Und freilich wäre beizufügen, daß nicht alle Musik als lyrisch bezeichnet werden darf. Eine Fuge von Bach ist nicht lyrisch. Ob bei einer Fuge ein Abstand bestehe, und welchen besonderen Sinn dies habe, kann hier nicht ausgeführt werden. Lyrisch ist aber jene Musik, die Schiller in der Schrift vom Erhabenen mit so scharfen Worten verurteilt:   «Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur auf die Sinnlichkeit anzulegen, und schmeichelt dadurch dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird Schillers Werke, vollständige historisch-kritische Ausgabe, Leipzig 1910, Bd. XVII, S. 402. .»   Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten Worten beschreibt:   «Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde Stimme ─ was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunkeln Majestät aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen, hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der Leichtsinnige grauset und zittert ─ nicht über Gedanken, sondern über Silben, über Töne der Kindheit; und es war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: ‚Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen! ‘» Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.   Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist «ich». Er sagt es aber anders als der Verfasser einer Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet. Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so wenig, wie er sich «begreift». Die Worte «gestalten» und «begreifen» setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag, so dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch sich Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt. Nur scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr gemessen wird, liegt das Thema hier näher als in der Selbstbiographie. Denn wer ein Tagebuch schreibt, macht sich zum Gegenstand einer Reflexion. Er reflektiert, er beugt sich auf das eben Vergangene zurück. Damit er sich zurückbeugen kann, muß er sich vorher weggebeugt haben. Und in der Tat! Der Begriff bewährt sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tagebuchschreiber befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht, spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch aus.   Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht das Präsens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre, Beispiele aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung, daß auch das Präteritum einen anderen Sinn hat als im Epischen. Wir lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr» (Seite 40). Seltsam schwankt der Dichter zwischen Präsens und Präteritum, als komme es nicht so genau darauf an. Einzig im letzten Vers: «Da fiel ich hin im Feld» ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen. Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das zurückliegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand aufgefaßt wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht mehr. Eichendorff ist aus dem Zauber erwacht und spricht ihn wie verstört vor sich hin; das Lied ist aus. Die anderen Präterita aber, die mit dem Präsens vertauscht werden könnten, stellen keinen zeitlichen Abstand her. Das Vergangene, das sie meinen, ist nicht fern und nicht vorbei. Ungestaltet, unbegriffen bewegt es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist: «Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, Wo die Silbersaite, angeschlagen, Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,   Der mein Leben lang,   Erst heut noch, widerklang, Ob die Saite längst zerrissen schon.»   Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung» Zu F. O. Müller, 4. November 1823. und meint damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, «Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht: «Und da duftet's wie vor alters, Da wir noch von Liebe litten ...» Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes Ereignis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir können sagen, wo dieser Duft uns früher einmal die Sinne betäubte. Daß Düfte so sehr der Erinnerung und so wenig dem Gedächtnis gehören, hängt zweifellos damit zusammen, daß wir sie nicht gestalten, ja oft genug sogar kaum benennen können. Ungestaltet, unbenannt, werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur von dem, was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand macht, sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung bezogen» Vgl. dazu Schiller a. a. O. Bd. XVIII, S. 51. .   Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit ─ jetzt dieser Ton, jetzt wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt ihn so, daß er nicht angeben kann, wie das Spätere sich zum Früheren verhält. Wo deshalb ein Zusammenhang ausdrücklich hergestellt, Konturen ausgezogen oder gar Teile durch logische Konjunktionen wie «weil», «demnach» aufeinander bezogen werden, da ist das Gleiten unterbrochen. Wir fühlen uns ernüchtert oder, was dasselbe heißt, unbewegt, ans feste Ufer abgesetzt, da wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten weitertragen lassen und dazu eingeladen waren. «Mag der Grieche seinen Ton Zu Gestalten drücken, An der eignen Hände Sohn Steigern sein Entzücken; Aber uns ist wonnereich, In den Euphrat greifen Und im flüßgen Element Hin und wider schweifen ...»   So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenübergestellt. Wenn die dritte Strophe dann freilich vom geballten Wasser in der reinen Hand des Künstlers spricht, so scheint sich klassische Ästhetik doch wieder gegen die Lyrik behaupten zu wollen, es sei denn, der Vers bedeute nur das Wunder, daß dies Flüssige in der Lyrik dennoch Sprache werden kann, ein Rätsel, an dessen Lösung sich erst ein späterer Abschnitt versuchen wird. Hier genügt uns, einzusehen, daß die Ungehörigkeit des Begriffs der Form, die parataktische Folge ohne scharfe Begrenzung der Teile, die Nötigung, durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art die sonst unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich wieder aus dem Fehlen des Abstands begreift, das alle lyrischen Phänomene charakterisiert.   Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen Dichtung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-Abstand bezeichnen können, wenn die Begriffe Subjekt und Objekt nicht ebenso mißverständlich und mehrdeutig wären wie der Begriff der Form. «Das Lyrische ist nicht objektiv»: so lautet die Formel, die seit der idealistischen Ästhetik gang und gebe ist. Dieselbe Formel, positiv gewendet, scheint lauten zu müssen: «Das Lyrische ist subjektiv». Daraus ergibt sich dann leicht eine Dreiteilung der Poesie nach folgendem Schema: Lyrik ─ subjektive, Epos ─ objektive Poesie; das Drama ─ eine Synthese von beiden, worin sich das idealistische Denken nach dem Gegensatz Ich ─ Nicht-Ich, Geist ─ Natur, oder die Hegelsche Dialektik bestätigt findet. Als System oder Metaphysik ist der Idealismus für die Geisteswissenschaften längst nicht mehr verbindlich. Die Begriffe «subjektive» und «objektive Poesie» sind aber geblieben und gehen neue Verbindungen ein. So wird etwa die Objektivität des Epos dahin ausgelegt, daß es die Wirklichkeit darstelle, wie sie unabhängig von der Person des Dichters bestehe. «Objektiv» heißt dann soviel wie «sachlich» und weiterhin «allgemeingültig». Die Lyrik dagegen soll die Spiegelung der Dinge und Ereignisse im individuellen Bewußtsein zeigen. Schon hier verwirren sich die Begriffe. Wenn «unabhängig von der Person» so viel wie «an sich» bedeuten soll, so ist die Bestimmung offenbar falsch. Kein Gegenstand ist «an sich» zugänglich. Gerade weil er Gegenstand ist, gegenüber steht, kann er nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden, in einer Perspektive, die eben die Perspektive des Dichters, seiner Zeit oder seines Volkes ist (vergleiche Seite 90). «Objektiv» ist also nicht identisch mit «unabhängig vom Dichter».   Der Gegensatz wird aber auch noch in anderem Sinne ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen wird, ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber «innerlich» besagen? Etwa so viel wie «introvertiert»? Dies würde das Wesen des Lyrischen fälschen. Der psychologische Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert» hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch» zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf den extravertierten Typus.   Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten ─ der epischen ─ Stufe gehört (vergleiche Seite 103). Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen» und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden.   Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese Einsicht aufblitzt, dann aber wieder von seinem Begriff der Subjektivität verdunkelt wird. Er führt die Lyrik ein mit den Worten:   «Die einfache Synthese des Subjekts mit dem Objekte, worin jenes diesem sich unterordnet (im Epos), kann dem Geiste der Kunst nicht genügen; er fordert eine weitere Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt in das Subjekt eingeht und von ihm durchdrungen wird. » Fr. Th. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Aufl. München 1922─23, Bd. VI, S. 197.   Dieser Zusatz ist bedeutend, wird aber im folgenden kaum beachtet. Der «Eingang der Welt in das Subjekt» gilt fast ausschließlich als Wesen der Lyrik. Ähnlich schildert er das Gefühl in der Darstellung der Musik:   «Dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenschlags von Subjekt und Objekt; es verhält sich zum Bewußtsein wie Schlaf zum Wachen, das Subjekt sinkt in sich hinein und verliert den Gegensatz zur Außenwelt.» a. a. O. Bd. V, S. 10.   Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb, wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt. Es wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in die Außenwelt. Denn «ich» bin im Lyrischen nicht ein «moi», das sich seiner Identität bewußt bleibt, sondern ein «je», das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment des Daseins aufgeht.   Hier ist nun der Ort, den fundamentalen Begriff der Stimmung zu erklären. «Stimmung» bedeutet nicht das Vorfinden einer seelischen Situation. Als seelische Situation ist eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist eine Stimmung gerade nichts, was «in» uns besteht. Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter Weise «draußen», nicht den Dingen gegenüber, sondern in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt, durchwaltet vom Entzücken des Frühlings oder verloren an die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen, immer aber «eingenommen» von dem, was uns als körperlichen Wesen ─ in Raum oder Zeit ─ gegenübersteht. Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der Seele redet Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt am Main 1941, S. 17─36. . Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus bewährt sich Amiels Wort «Un paysage quelconque est un état de l'âme». Nicht nur von Landschaften gilt dieses Wort. Alles Seiende vielmehr ist in der Stimmung nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen Poesie.   Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig», weder längst verrauschter Scherz und Kuß, noch der Nebelglanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht, Busch und Tal füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig» soll buchstäblich genommen werden. Er soll ein Gegenüber bezeichnen. So dürfen wir sagen, daß der Erzähler Vergangenes vergegenwärtigt. Der lyrische Dichter vergegenwärtigt das Vergangene so wenig wie das, was jetzt geschieht. Beides vielmehr ist ihm gleich nah und näher als alle Gegenwart. Er geht darin auf, das heißt, er «erinnert». «Erinnerung» soll der Name sein für das Fehlen des Abstands zwischen Subjekt und Objekt, für das lyrische Ineinander. Gegenwärtiges, Vergangenes, ja sogar Künftiges kann in lyrischer Dichtung erinnert werden. Goethes «Mailied» erinnert, was, von außen gesehen, Gegenwart ist; Mörikes «Im Frühling» erinnert am Schluß «alte unnennbare Tage»; manche Oden Klopstocks erinnern die künftige Geliebte oder das Grab.   Nicht als ob nun dennoch die «lyrische Innenwelt» erneuert würde! «Erinnerung» bedeutet nicht den «Eingang der Welt in das Subjekt», sondern stets das Ineinander, so daß man ebenso sagen könnte: der Dichter erinnert die Natur, wie: die Natur erinnert den Dichter. Das Zweite würde vielleicht sogar der Erfahrung vieler lyrischer Dichter mehr entsprechen als das Erste. Die Gnade oder der Fluch der Stimmung zum mindesten wäre besser gewürdigt.   Doch nähert sich in dieser Erklärung das Lyrische nicht dem Mystischen? In Hofmannsthals «Gespräch über Gedichte» finden sich Sätze, die dem hier Vorgetragenen nahe stehen und ebenso nahe jener Mystik, von der im «Traum von großer Magie» und in «Ad me ipsum» Hg. von W. Brecht, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1930. die Rede ist:   «Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten und tiefsten Zustände unseres Inneren in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten, mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft, mit einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du von einem hohen Wagen abspringst; eine schwüle sternlose Sommernacht; der Geruch feuchter Steine in einem Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus einem Laufbrunnen über deine Hände sprüht: an ein paar tausend solcher Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle deine Sehnsucht, alle deine Trunkenheiten. Mehr als geknüpft: mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran, daß ─ schnittest du sie mit dem Messer von diesem Grunde ab, sie in sich zusammenschrumpften und dir zwischen den Händen zu nichts vergingen. Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück. Zwar ─ unser «Selbst»! Das Wort ist solch eine Metapher. Regungen kehren zurück, die schon einmal früher hier genistet haben. Und sind sie's auch wirklich selber wieder? Ist es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von einem dunklen Heimatgefühl hierher zurückgetrieben wird? Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag» Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Teil, Berlin 1934, S. 236. .   Später wird noch hinzugefügt, das «wir und die Welt nichts Verschiedenes sind». Was heißt aber «Welt»? Hier offenbar so viel wie «das Seiende insgesamt». Mit diesem All, das ewig und göttlich ist, fühlt der Mystiker sich identisch. Er schließt die Augen ─ μύει ─ vor dem Vielen, zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im Ewigen als dem «sunder warumbe» Gottes auf.   Das «sunder warumbe» des lyrisch gestimmten Menschen dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem Ton, nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln erstirbt. «Es wandelt, was wir schauen, Tag sinkt ins Abendrot ...» Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare Ruhe in Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die lyrische Stimmung zur mystischen Ruhe klärt, wie immer im Leben eins unmerklich ins andere übergeht. Die Wissenschaft aber, die zur Scheidung der Begriffe genötigt und verpflichtet ist, muß deutlich sagen, was «lyrisch», was «mystisch» heißen soll, damit im fließenden, schwankenden Dasein Orientierung möglich sei. 6.   Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist den lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt. Wir müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen, was in Gedichten steht, und ein lyrisches Wort ebenso als Zeugnis des Menschen gelten zu lassen wie eine dramatische Sentenz. Wieder dürfen wir uns zunächst auf Vischer, den feinsten Kenner des Lyrischen unter den Lehrern der Ästhetik berufen. Er macht darauf aufmerksam, daß der Lyriker, um den dunklen Seelenzustand auszusprechen, die Bilder der leiblichen Sphäre entnehme. «Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer ... Mein armer Kopf Ist mir verrückt, Mein armer Sinn Ist mir zerstückt ...» «Es schwindelt mir, es brennt Mein Eingeweide ...» Alle neueren Beispiele sind aber schon überboten von Sapphos Gedicht: Ὤς σε γὰρ ἴδω βρόχε', ὤς με φώνας οὖδεν ἔτ' εἴκει , ἀλλὰ κὰμ μὲν γλῶσσά μ' ἔαγε, λέπτον δ ' αὔτικα χρῶ πῦρ ὐπαδεδρόμαικεν , ὀππάτεσσι δ' οὖδεν ὄρημμ', ἐπιρρόμ- βεισι δ ' ἄκουαι , ἀ δέ μ' ἴδρως κακχέεται, τρόμος δὲ παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας ἔμμι, τεθνάκην δ ' ὀλίγω ' πιδεύης φαίνομαι ... «Seh ich dich an nur kurze Zeit, so versagt mir die Stimme. Meine Zunge ist gelähmt und ein feines Feuer unterläuft mir die Haupt urplötzlich. Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren. Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift mich Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dem Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»   Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand reflektiert» a. a. O. Bd. VI, S. 204. . Wie in der Schilderung des Gefühls und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit. Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik». So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint, weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.   Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe «Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt, auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder «Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben». Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; sondern die Seele selbst ist leiblich und wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper, aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung nicht ins Innere hineingenommen. Nur der Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt, dann ist sie gerade nicht «in sich», sondern «außer sich». Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die Ferne des geliebten Landes. Leiblich fühlen wir also nicht uns als Individualität oder als Person oder lebensgeschichtlich bestimmtes Selbst. Wir fühlen die Landschaft, den Abend, die Liebste ─ oder, genauer noch: Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir gehen im Gefühlten auf.   Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich» insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige. «Durch das Labyrinth der Brust» wandeln vergangene unaussprechliche Tage der Liebe. «Im Herzen die Gedanken» (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale «innen», das die Brust, das Herz als eine Art Hohlform deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie «nicht gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig machen zu jenen Erinnerungen des im Raume gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr oder weniger rein zum Ausdruck kommt. «O Lieb', o Liebe, So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn ...» In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie» noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie», das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»: «O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe! Welch neue Welt bewegest du in mir? Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?» «Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der Vers von den «Fischlein im Busen» bestimmt, von «Ich in dir» dann etwa das Fliegen der Seele, so weit der Himmel reicht. Und wieder in dem Gedicht «Im Frühling», wo die Wolke «mein Flügel» wird und wo sich der Atem der Frühlingslandschaft mit dem Atem der Seele zu einem wohligen Auf und Nieder vereint.   Im «Wanderer in der Sägemühle» träumt Kerner, was ihm vor Augen steht, erinnert die Landschaft und die Mühle; und solche Erinnerung ist möglich, weil er in dem Rinnsal, das die Schaufelkammern füllt und senkt, die Schwermut seines versiegenden Lebens, in dem schönen Ton der Schneide, die schmerzhaft durch das Tannenholz fährt, den schmerzlichen Ursprung seines Dichtens, und in der Bereitung des Sarges, des Todes, den letzten Sinn seines Lebens fühlt.   Am kühnsten spricht sich wohl Eichendorff aus: «Schweigt der Menschen laute Lust: Rauscht die Erde wie in Träumen Wunderbar mit allen Bäumen, Was dem Herzen kaum bewußt, Alte Zeiten, linde Trauer, Und es schweifen leise Schauer Wetterleuchtend durch die Brust.»   Die Erde rauscht ─ erstaunlich ist der Akkusativ ─ alte Zeiten. Sie rauscht, was dem Herzen kaum bewußt ist. Die Seele geht restlos in der Landschaft, die Landschaft in der Seele auf.   Von allen Seiten winkt nun aber bereits das unerschöpflichste Thema lyrischer Poesie, die Liebe. Die meisten großen Lyriker sind große Liebende gewesen ─ um nur erste Namen zu nennen: Sappho, Petrarca, Goethe, Keats. Der epische Dichter ist, oft schon in jungen Jahren, ein alter Mann. An großen Dramatikern, etwa an Kleist oder Hebbel, erschrecken, zumal im Umgang mit Frauen, harte und grausame Züge. Der lyrische Dichter dagegen ist «weich». «Weich» bedeutet, daß die Konturen des Selbst, des eigenen Daseins nicht fest sind: «Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.»   Der Selbstsinn schmilzt. So rühmen wir an der lyrischen Sprache den «Schmelz». Schmelz ist Verflüssigung des Festen. Uns schmelzt die Liebe und das Lied. Drum ist Musik, nach Shakespeares Wort in «Was ihr wollt», «der Liebe Nahrung», und «denkt die Liebe», nach Tieck, «in Tönen». Die Sprache entfaltet hier den ganzen Reichtum des lyrischen Ineinander. Die altbewährte Formel lautet: «Du bist mîn, ich bin dîn». Darin spricht sich «Hingabe» aus. Der Liebende «vertieft sich» ─ welch ein Wort! ─ ins Antlitz der Geliebten. Die Liebenden sind eins im Frühling und in der Nacht, die beide umfängt, den störenden Körper dem Blick entzieht und die Fühlbarkeit des Leibes, der in der Umarmung nur einer ist, erhöht.   Alle Momente des Lyrischen: Musik, Verflüssigung, Ineinander, hat Brentano im Mythos von der Loreley zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut. Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden, tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen, und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen des Walds, in allem, was gleitet, wogt und schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist keine Freiheit mehr, kein Eigenwille ─ wie denn der lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben, außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.   Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische, Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942. . Aber die Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst. 7.   Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen der Stimmung gesprochen (2) und verstehen dies Momentane jetzt besser aus der Natur des Ineinander, das heikel und allzeit gefährdet ist. Jeder Widerstand löscht es aus und stellt das Gegenüber her. Ein Widerstand aber, etwas, das nicht übereinstimmt, ist es bereits, wenn den im Abendfrieden beruhigten Dichter plötzlich ein Hase aufschreckt, wenn ihm ein Tropfen auf die Hand fällt. Der Epiker würde eine solche Störung höchstens als Zeitverlust buchen. Der Lyriker findet die unwiederholbare Stimmung für immer vernichtet ─ eine tragikomische Gebrechlichkeit, die der Humor von jeher bemerkt und belächelt hat, etwa in Buschs «Balduin Bählamm», der sich in den Himmel vertieft und plötzlich das Krabbeln des Ohrwurms spürt. Dabei bedürfte es nicht einmal des lästigen Insekts und jener anderen lustig erdachten Unglücksfälle, um sein Gedicht zu vereiteln. Auch der Himmel, der Mond, der Baum kann plötzlich gegenständlich werden ─ er braucht nur genauer hinzusehen. Dann stimmt die Landschaft nicht mehr und stimmt mit der Seele nicht mehr überein. Der Mond stimmt nicht als astronomischer Körper oder als Kraterfeld, sondern etwa als Silbergondel; der Hügel stimmt als duftiger Streifen, der Wald als Rauschen oder als Schimmern von Lichtern und Schatten, der See als Glanz. Lyrisch ist das Flüchtigste; und wird das Feste, Gegenständliche wahrnehmbar, so endet die flüchtigste Dichtung, das Lied.   Soll aber dieses Enden selbst noch ausgesprochen werden, oder bricht der Lyriker einfach ab? Wir haben gesehen, wie er anhebt (4), oft unvermittelt mit «und» oder «auch». Die Frage nach einem möglichen Schluß gewährt vielleicht noch tiefere Einsicht. Wir lesen Eichendorffs «Auf einer Burg»: «Eingeschlafen auf der Lauer Oben ist der alte Ritter; Drüber gehen Regenschauer, Und der Wald rauscht durch das Gitter. Eingewachsen Bart und Haare, Und versteinert Brust und Krause, Sitzt er viele hundert Jahre Oben in der stillen Klause. Draußen ist es still und friedlich, Alle sind ins Tal gezogen, Waldesvögel einsam singen In den leeren Fensterbogen. Eine Hochzeit fährt da unten Auf dem Rhein im Sonnenscheine, Musikanten spielen munter, Und die schöne Braut die weinet.»   Das ist ein ganz beliebiger Ausschnitt aus der Stimmung einer Landschaft. Im letzten Vers zwar scheint sich das Gefühl ein wenig zu verdichten. Vielleicht genügte das, um den Dichter aufzuwecken und ihn etwa an die Geschichte des Mädchens denken zu lassen. Doch es könnte noch lange so weitergehen. Dieses Gedicht schließt nicht eigentlich ab.   Anders «Im Grase» der Annette von Droste. Nach den ersten beiden Strophen, die zum Wunderbarsten der lyrischen Weltliteratur gehören, wo die Dichterin sich mit ihrem müden, schwimmenden Haupt in der sommermüden, schwimmenden Luft, das Niedersinken ihres Daseins im Niedergaukeln von Düften und Stimmen fühlt ─ nach diesen Strophen fährt sie fort: «Stunden, flüchtger ihr als der Kuß Eines Strahls auf den trauernden See ...» redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage nach. Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite Hälfte ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern, ein wenig rhetorisch aufgehöht.   Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt und noch zu lange durchgehalten wird, das kann in wenigen Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht unter Umständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist «Wanderers Nachtlied» ein Beispiel: «Warte nur, balde Ruhest du auch.»   Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der Abendlandschaft klar. Im Augenblick des Verstehens aber hört das lyrische Dichten auf; der Zustand wird zum Gegenstand. Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo es mit der Erinnerung hinauswill, so im «Zwielicht», wo sich als Einheit der scheinbar disparaten Traumbilder am Schluß, nach einem Gedankenstrich der Besinnung, plötzlich ergibt: «Hüte dich, bleib wach und munter!»   Dies war in jeder Zeile verborgen. Es tritt hervor, und das Lied ist aus. Ebenso in der «Frühlingsnacht»: «Über'n Garten, durch die Lüfte Hört' ich Wandervögel zieh'n, Das bedeutet Frühlingsdüfte, Unten fängt's schon an zu blühn. Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! Alte Wunder wieder scheinen Mit dem Mondesglanz herein. Und der Mond, die Sterne sagen's, Und in Träumen rauscht's der Hain, Und die Nachtigallen schlagen's: Sie ist deine, sie ist dein!»   Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu Ende.   In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel heißt: «Wunderlicher Bau, In sich bewegt und von sich selbst gehalten, Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten und Hochgebirge vor den ersten Sternen und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»   Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf «kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des «stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam und behält ─ als Dichter ─ zweifellos Recht. Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort: « Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.»   Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer Grundlegung der Poetik trifft (Seite 10) und die der Leser sich jederzeit vor Augen zu halten gebeten ist: Der Künstler redet vom lyrischen Gedicht, der Dilettant jedoch vom Phänomen des Lyrischen. Wir lesen an lyrischen Gedichten das Phänomen des Lyrischen ab. So konnte es nicht fehlen, daß wir auf einen Widerspruch zwischen dem Lyrischen und dem vollen Wesen der Sprache aufmerksam werden mußten. In der Sprache nämlich als Organ der Erkenntnis setzen wir uns mit allem Dasein auseinander und stellen bestimmte Zusammenhänge der Dinge her. Die Sprache selbst setzt auseinander, um das Auseinandergesetzte im Satzgefüge wieder zu einen. Die lyrische Stimmung dagegen wurde als Ineinander charakterisiert, das keiner Zusammenhänge bedarf, weil alles bereits in der Stimmung geeinigt ist. Jedes einzelne Wort stellt fest (vergleiche Seite 99) und ordnet die vergänglichen Erscheinungen in ein Dauerndes ein. Der lyrisch Gestimmte aber gleitet; sobald er feststellt, ist er ernüchtert. So findet er sich tatsächlich von einigem, was die Sprache leistet, bedrängt, von ihrer Intentionalität, die als solche ein Gegenüber bildet, und ihrer «Logik», wenn λόγος (von λέγω ) «Zusammengerafftsein des Vielen» besagt. Wenn er sich lyrisch äußern will, muß es ihm deshalb gelingen, gerade diese Wesenszüge der Sprache nach Möglichkeit zu verdunkeln. Wir haben dergleichen bemerkt in der Auflösung des syntaktischen Gefüges (3), in der Reduktion der Sätze auf einzelne unzusammenhängende Worte (3), in einer Scheu vor der allzudeutlich feststellenden Kraft des Hilfszeitworts «ist» (3), vor allem in der Musik der Sprache, die ihre Intentionalität oder Gegenständlichkeit gleichsam aufsaugt Vgl. dazu insbesondere auch die Seite 57 zitierten Worte Herders. . Ganz gelingt dies freilich nie, es sei denn in jenen wenigen Silben, die nichts mehr bedeuten und nur noch klingen, wie «eia popeia, αἴλινον , om». Solche Silben aber ergeben nie und nimmer ein Gedicht, so wenig wie eine Folge von Akkorden schon eine Symphonie, von Farbtönen ein Gemälde ergibt. Drum, weil sogar die reinste lyrische Art, ein Lied, schon Dichtung ist, kann selbst ein Lied die Idee des Lyrischen nie ausschließlich realisieren. Es besteht aus Wörtern, die immer zugleich Begriffe sind, nicht nur aus Silben; aus Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammenhang bedeuten, obwohl ein solcher jetzt nicht gemeint ist. Und es beginnt und führt irgendwo hin, wenngleich ein Ziel des Gleitens nicht in der Natur des Lyrischen liegt. In den Gedichten, die mit einer Klärung der Gefühle enden, treten die verschleierten Hintergründe der Sprache, zumal die begrifflichen Kräfte, wieder in Erscheinung: Das lyrische Gedicht hört auf. In den Gedichten, denen am Ende die Sprache versagt, überbordet dagegen die Innigkeit der Seele, die keinerlei Auseinandersetzung kennt: das lyrische Gedicht hört auf. Lyrisches Dichten aber ist jenes an sich unmögliche Sprechen der Seele, das nicht «beim Wort genommen» sein will, bei dem die Sprache selber noch ihre eigene feste Wirklichkeit scheut und lieber sich jedem logischen und grammatischen Zugriff entzieht. Es wird sich zeigen, daß in epischer und dramatischer Poesie die hier verwischten Wesenszüge der Sprache deutlich ausgeprägt sind. Und dies besagt, daß jede Dichtung an allen drei Gattungsideen mehr oder minder beteiligt ist, da sich keine, als Sprachkunstwerk, dem vollen Wesen der Sprache ganz zu entziehen vermag. 8.   Es bleibt noch übrig, von den Grenzen der lyrischen Poesie zu sprechen und zu sagen, was sie dem Dichter und Leser schuldig bleiben muß. Öfter fanden wir uns genötigt, vom «Wunder» der lyrischen Sprache zu reden. Sie ist unbegreiflich und kein Verdienst, da niemand sie zu erzwingen vermag. So gilt auch von ihr Duhamels Satz: «Miracle n'est pas œuvre» Eintrag im Gästebuch der Berner Freistudenten. . Der lyrische Dichter leistet nichts (1). Drum, wenn der Epiker fleißig, der Dramatiker gar verbissen sein muß, darf er so träge sein wie Mörike oder so willenlos wie Brentano. Episches nämlich will gesammelt, Dramatisches will erzwungen sein. Lyrisches aber wird eingegeben. Auf die Eingebung warten, ist das Einzige, was der Lyriker tun kann. Wer jedoch stets der Gnade harrt, der darf sich auch nur auf Gnade verlassen und keiner Wirkung der Kraft, des Willens und der Geduld gewärtig sein. Selbst das ängstliche Feilen von Liedern ist davon nicht ausgenommen. Wo nicht der Kunstverstand ein Lied herstellt ─ was freilich auch möglich ist ─ können auch neue Nuancen nur aus neuen Eingebungen hervorgehn.   «Miracle n'est pas œuvre» heißt ferner: «Gedichte sind Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen Küssen entstehen keine Kinder». Das ist so scherzhaft und ergiebig wie vieles, was Goethe in ästhetischen Fragen zum Besten gegeben hat. Er meint zunächst ─ um im Bilde zu bleiben ─ daß Lyrisches nicht gezeugt, nicht ausgetragen und nicht geboren wird. Zeugen, Austragen und Gebären, das träfe nur zu auf ein Dichten, das im «Stoff» den Keim des Lebens weckt und ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber weiterhin, es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir haben gesehen, daß die lyrische Stimmung selber grundlos ist und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4). Eben deshalb aber legt sie auch in den Hörern keinen Grund und stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds ist einzigartig und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt werden. Die Stimmung ist durchaus individuell und kann nur Gleichgestimmte vereinigen, aber keine Gemeinschaft, im umfassenden Sinne des Wortes, bilden. Es ist auch nicht möglich, auf Grund eines Liedes eine Erfahrung zu gewinnen, die sich anderwärts wieder bewährt. Man kann nicht reifen an reiner Lyrik, weil sie durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine Verantwortung. Auch Verantwortung findet ja immer nur statt, wo ein Gegenüber besteht.   Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört er auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben zerstören, indem sie Widersprüche im Weltbild eines Geschlechts aufdeckt (vergleiche Seite 199). Der Lyriker, der vom Strom des Daseins getragen wird und in jedem Moment den früheren Moment vergißt, der also keinen Zusammenhang herstellt, wird auch des Widerspruchs nicht gewahr. In einem Gedicht Brentanos heißt es: «Nacht ist voller Lug und Trug, Nimmer sehen wir genug In den schwarzen Augen; Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl, Ach! ich seh ihr viel zu viel In die schwarzen Augen! Sonne wollt' nicht untergehn, Blieb am Berg neugierig stehn; Kam die Nacht gegangen; Stille Nacht, in deinem Schoß Liegt der Menschen höchstes Los Mütterlich umfangen.» Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zu viel in ihre Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander. Es stört den Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er setzt nichts voraus.   Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos, ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine dichterische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen, wie es in jeder Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch einmal Unbegabten gelingen. Es gibt in der deutschen Dichtung manche Zufälle dieser Art, etwa die wenigen Lieder Luise Hensels, Marianne von Willemers oder das «Zu spät» Friedrich Theodor Vischers. ─ Doch Epen und Dramen beweisen noch mehr. Ein Epos beweist eine Einheit des Daseins, weiterhin eine Einheit des Volks (vergleiche Seite 142). Ein Drama kann beweisen, daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.   Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der Widerstand eines fremden Daseins einsetzen könnte, hört sein Dichten jeweils auf. Er bedenkt nicht, was dieses Aufhören bedeutet: daß jenes Leben, das Musik war, nun wieder fremd und äußerlich ist. Er spürt es wohl und trauert darüber. Aber so lang er es spürt, vermag er sich nicht als Dichter zu äußern. Ihm bleibt nur übrig, neue Gunst der Übereinstimmung zu erwarten. Dann singt er abermals einige Verse, um alsbald wieder zu verstummen. Ein ungeheuerliches Dasein, das die Beseligungen der Gnade mit einer erschütternden Hilflosigkeit in allem, was Verdienst ist, erkauft, das Glück der Übereinstimmung mit einer im Alltag blutenden Wunde, für die auf Erden kein Heilkraut blüht. EPISCHER STIL: VORSTELLUNG 1. D as Kernstück einer Poetik bildet meist die Unterscheidung von Epos und Drama. Der Dichter fragt sich, ob ein Stoff sich besser für die Bühne oder für eine Erzählung eigne, und sucht nach einem Kriterium. In dieser Absicht haben auch Goethe und Schiller die Möglichkeiten epischer und dramatischer Dichtung geprüft. Seltener wird die epische Dichtung gegen die lyrische abgegrenzt. Denn diesen Unterschied sieht jedermann ein, und Zweifel, welche Gattung zu wählen sei, sind ausgeschlossen. Doch wenn, wie hier, die Frage nach dem Grund der poetischen Gattungsbegriffe ohne praktische Absicht gestellt wird, verdient auch das scheinbar Selbstverständliche ungeteilte Aufmerksamkeit. Da wäre denn zunächst die «varietas carminum» in lyrischer von der Stetigkeit des Verses in epischer Dichtung abzuheben.   Das eine Maß, der Hexameter, behauptet sich von der ersten bis zur letzten Zeile der «Ilias» und der «Odyssee», ja in der gesamten griechischen Epik. Welche Vorzüge diesem Vers die Gunst der Dichter durch Jahrhunderte sichern, bekümmert uns hier noch nicht. Wir stellen zunächst nur fest, daß Gleichmaß zum Wesen der epischen Dichtung gehört. Klopstocks «Messias» ist auch insofern minder episch, als er manchmal in freie Rhythmen übergeht, ebenso Leutholds «Penthesilea», wo die Erzählung in eine weitgespannte Strophe mit ganz verschiedenen Versen eingelegt ist.   Das Gleichmaß bedeutet den Gleichmut des Dichters, der keiner Stimmung verfällt, dem nicht bald so, bald wieder anders zumut ist. Homer steigt aus dem Strom des Daseins empor und steht befestigt, unbewegt den Dingen gegenüber. Er sieht sie von einem Standpunkt aus, in einer bestimmten Perspektive. Die Perspektive ist in der Rhythmik seines Verses festgelegt und sichert ihm seine Identität, ein Stetiges in der Erscheinungen Flucht.   Ein Urbild solchen Gegenübers ist jene Szene der «Ilias», da Zeus die Pferde anschirrt, auf den Ida fährt und von dort auf die Feste Troia herabblickt, um über das Kriegsglück zu entscheiden; oder die Teichoskopie, der Blick von den Mauern herab im dritten Gesang, wo Priamos sich von Helena die griechischen Helden nennen läßt. So, vom gesicherten Standpunkt aus, schaut sich Homer das Leben an. Er nimmt nicht selber daran Teil. Er geht nicht auf im Geschehen. Es trägt ihn nicht, wie den lyrischen Dichter, dahin. Wie wenig er selbst bewegt ist, verrät sich in jenen Abschweifungen, an die man sich zwar mit der Zeit gewöhnt, die aber jeden, der sie zum erstenmal liest, in Erstaunen versetzen. Zum Beispiel im vierten Gesang: Agamemnon treibt das Heer zum Kampf; er findet Diomedes müßig und fährt ihn unwirsch an: «Wehe mir, Tydeus' Sohn, des feurigen Rossebezähmers, Wie du erbebst! wie du bang umschaust nach den Pfaden des Treffens!» Homer ist weit entfernt, die Gemütsbewegung des Königs zu teilen. Vielmehr überträgt sich seine Beschaulichkeit auf Agamemnon, der, unbekümmert um die dringliche Lage, eine Geschichte von Tydeus' Tapferkeit zu erzählen beginnt: «Nie hat Tydeus wahrlich so gar zu verzagen geliebet, Sondern weit den Genossen voraus in die Feinde zu sprengen. Also erzählt, wer ihn sah in der Kriegsarbeit: denn ich selber Traf und erblickt' ihn nie; doch strebet' er, sagt man, vor andern. Vormals kam, sich entfernend vom Krieg, der Held in Mykene Gastlich, samt Polyneikes, dem Göttlichen, Volk zu versammeln, Weil sie mit Streit bezogen die heiligen Mauern von Thebe; Und sie fleheten sehr um rühmliche Bundesgenossen. Jen' auch wollten gewähren und billigten, was sie gefordert; Doch Zeus wendete solches durch unglückdrohende Zeichen ...» (IV, 370 ff.) Und so fort über zwanzig Verse, nach deren gelassenem Vortrag sich Agamemnon wieder zum Grimm aufrafft: «So war Tydeus einst, der Ätolier! Aber der Sohn hier Ist ein schlechterer Held in der Schlacht, doch ein besserer Redner.»   Was Tydeus vor Theben geleistet hat, das weiß sein Sohn Diomedes längst. So hätte wohl eine kurze Erinnerung an den tapferen Vater der Ungeduld Agamemnons eher entsprochen. Wie aber könnte Homer der Versuchung zu fabulieren je widerstehen? Ähnlich im sechsten Gesang beim Abschied Hektors von Andromache (407─434). Der Anfang von Andromaches Rede entspricht durchaus ihrem bangen Gefühl. Sie malt sich den Tod ihres Gatten aus. Sie stellt sich vor, wie sie dann allein sei. Denn ihre Eltern sind beide tot. Den Vater hat Achill erschlagen ─ da scheint Homer plötzlich innezuhalten: Wie war das eigentlich mit Achill? Er hat durchaus die Freiheit, jederzeit aufzubrechen, wohin er will. Und also läßt er jetzt die schmerzbewegte Frau ausführlich schildern, wie dies zugegangen ist, wie Achill die Mutter gegen ein großes Lösegeld wieder freigab, wie er dem Toten die Waffen ließ und einen Grabhügel schichtete, den die Nymphen mit Ulmen bepflanzten. Und erst nachdem sie auch das Schicksal ihrer sieben Brüder erzählt hat, fährt sie, wieder bewegter, fort: «Hektor, siehe du bist mir Vater jetzo und Mutter, Und mein Bruder allein, und du mein blühender Gatte.» Andromache schweift ab, weil Homer von der schmerzlichen Stimmung nicht bedrängt ist oder doch wenigstens nicht darin aufgeht.   Der Abstand, den er nimmt, mag sich in manchen Partien der Dichtung verringern. Ganz schwindet er nie. Homer und Troia, Homer und die Irrfahrten des Odysseus bleiben sich immer gegenüber. Man kann darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten. Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet. Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt, der dasteht mit dem Stab in der Hand ─ um Vischers Worte zu gebrauchen a. a. O. Bd. VI, S. 129. ─ und auf die erscheinenden Bilder weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im Gleichmaß des Verses hörbar wird.   Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, so, daß es uns vor Augen und eben deshalb gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt: «Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.» Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal, was er beides in seinem Jahrhundert schon vorfand. Noch deutlicher wird der Abstand gewahrt durch die wiederholte Versicherung, damals, als der Krieg stattfand, seien die Menschen noch stärker gewesen. Die Formel « οἷοι νῦν βροτοί εἰσιν , wie jetzt die Sterblichen sind» setzt immer wieder das eigene Dasein gegen das große vergangene herab. Das Gleiche aber muß sich auch diese Vergangenheit wieder gefallen lassen. Denn unter den Helden tritt Nestor auf und erklärt mit dem Dünkel des Alters: «Denn schon vormals pflog ich mit stärkeren Männern Gemeinschaft, Als ihr seid; und dennoch verachteten jene mich nimmer! Solche Männer ersah ich nicht mehr und ersehe sie schwerlich.» (I, 260─63) Die Zeitgenossen Homers sind schmächtig, verglichen mit Hektor und Achill. Aber auch diese Helden sind schwach, verglichen mit denen noch älterer Zeit. So liegt das Schwergewicht des Daseins in den Tiefen des Vergangenen, und keine Gelegenheit wird versäumt, in diese Tiefen hinunterzuloten. Treten die Männer zum Zweikampf an, so fragen sie nach Namen und Herkunft; und der Befragte erzählt die Geschichte des Stamms bis hinauf zu den ältesten Vätern, zum Gott gar, der ihn begründet hat. Wenn Agamemnon das Szepter ergreift, erfahren wir die Geschichte des Szepters, wer es verfertigt, wer es getragen, wie es von Zeus auf Hermes, von Hermes auf Pelops überging und in die Hand Agamemnons kam. Das Ehebett des Odysseus hat seine Geschichte. Irgendein Krug, ein Gerät wird gelegentlich einer Herkunftssage gewürdigt.   Was dies bedeutet, erhellt am klarsten aus dem berühmten Zwiegespräch zwischen Glaukos und Diomedes im sechsten Gesang der «Ilias». Diomedes stellt die übliche Frage: «Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewoh ner?» Glaukos aber gibt eine Antwort, die völlig aus dem Rahmen fällt: «Tydeus' mutiger Sohn, was fragst du nach meinem Geschlechte? Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte der Menschen; Einige streuet der Wind auf die Erd' hin, andere wieder Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges Wärme: So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet.» (VI, 145─150) Widerwillig bequemt er sich dann, von seinem Geschlecht zu sprechen. Ob Homer damit die Sinnesart der Lykier, eines mutterrechtlichen Volkes, darstellen wollte, das bleibe hier dahingestellt. Wir sehen nur, daß Glaukos den Wert des epischen Gedenkens verkennt. Denn eben dies ist seine Leistung, daß es die bedrängende Flüchtigkeit der Menschen und Dinge besiegt. Der epische Dichter fragt: Woher? Die Frage erschließt die Dimension, von der das lyrische Sein, das selbst im Strom der Zeit mitschwimmt, nichts weiß. Denn «woher?» kann ich nur fragen, wenn ein festes «hier» besteht, wie andrerseits das «hier» sich aus dem Wissen um ein «woher» bestimmt. Die Antwort auf die Frage verankert das Fragliche in einem Grund. Der Grund ist die Vergangenheit, die, ein Abgeschlossenes, stillsteht und sich nicht mehr ändern kann. Zu diesem Vergangenen muß der Fragende selber wieder Stellung beziehen. So bildet sich das Gegenüber, in dem der Fragende sowohl wie das Befragte «festgestellt» sind.   Und eben darauf kommt es an. Die Frage nach dem Vergangenen, die Glaukos nicht beantworten will, gehört zum wesentlichsten Tun des epischen Menschen: Er stellt fest. Dies kann und will der Lyriker nicht. Denn er selber ist bewegt in eins mit dem Bewegten, so daß er nie dazu kommt, zu sagen: «Das ist» (vergleiche Seite 46). «Mauern sieht er und Paläste Stets mit andern Augen an.» (Goethe) Die Sonne, die am Morgen aufgeht, ist seine Hoffnung und sein Mut. Die Sonne, die abends untergeht, ist grandiose Erschütterung. Ein Wissen, daß es dieselbe Sonne ist, die auf- und untergeht, schwingt freilich mit, schon weil er sich der Sprache bedient und «Sonne» sagt. Aber es ist nicht von Belang. Die Selbigkeit tritt hinter dem Wandel der stimmungsvollen Erscheinung zurück.   Im Epischen dagegen wird gerade die Selbigkeit betont. Weil der Epiker selber beharrt, vermag er einzusehen, daß etwas wiederkehrt und dasselbe ist. Wie sehr ihn diese Entdeckung beglückt, verraten in den homerischen Epen noch die stereotypen Formeln: «der reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene mit Augen der Eule, der Herrscher im Donnergewölk Zeus». Hektor, Achill, Athene, Zeus sind ein für allemal festgelegt. So haben sie sich ausgewiesen. So werden sie immer wieder genannt. Und immer ist es dieselbe Eos, die rosenfingrig am Morgen erscheint, derselbe Schlaf, der die Glieder löst. Auch wenn die Troer schmausen und später die Griechen, wenn sich Athene oder Iris vom Olymp herabschwingt, wird das Gleiche im Verschiedenen mit denselben Worten erzählt: «Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle.» «Und sie schwang sich herab vom Gipfel des hohen Olympos.» Freilich läßt sich dieser Brauch aus dem improvisierten Vortrag erklären. Der Rhapsode bedarf eines größeren Vorrats bereits geprägter Verse, die er gelegentlich einschiebt, um inzwischen das Folgende zu bedenken. Doch diese historische Begründung schließt die ästhetische Deutung nicht aus. Die Freude an der Wiederkehr des Gleichen, der Triumph, daß nun das Leben nicht mehr unaufhaltsam dahinströmt, sondern Dauerndes ist, und Gegenständliches fest besteht und sich identifizieren läßt, das ist so mächtig, daß es jeder unverbildete Leser noch heute als beseligende Ahnung von frühen Tagen der Menschheit spürt. Denn was in den stereotypen Formeln Homers bereits zum bewährten Mittel hoher Kunst geworden ist, es scheint den Vorgang zu beschließen, den Herder in der Schrift vom Ursprung der Sprache zu deuten unternahm.   Die Sprache gründet nach Herder in der «Besinnung» oder «Reflexion»:   «Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie aus dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das erste Urteil der Seele ─ und ─   wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset uns ihm das Εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die Menschliche Sprache erfunden!   Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab; es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht ─ seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal ─ das Schaf blöket! sie hat Merkmal gefunden: der innere Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht ─ sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal ─ es blökt, und nun erkennet sie's wieder. «Ha! du bist das Blökende!» fühlt sie innerlich, sie hat es Menschlich erkannt, da sie's deutlich, das ist, mit einem Merkmal erkennet und nennet ...» Sämtliche Werke, herausgegeben von B. Suphan, 5. Bd., Berlin 1891, S. 34 f.   Im Wort, das nicht mehr bloß Ausdruck ist wie der «Schrei der Empfindung» (vergleiche Seite 58), das etwas bedeutet, wird jeweils ein Gegenstand festgestellt, so, daß ich ihn und seinesgleichen jederzeit wieder erkennen kann. Desselben Wiedererkennens ─ einer elementaren Leistung der Sprache ─ scheint sich Homer in seinen stereotypen Formeln noch zu erfreuen. Sie stellen ein Ding, einen Vorgang als so beschaffen, als so verlaufend fest. Sie stellen ihn «vor» ─ so dürfen wir sagen, um das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Stellen von einem festen Standpunkt aus, terminologisch einzubeziehen. Vorstellung in diesem Sinn ist das Wesen der epischen Poesie. 2.   Die epische Sprache stellt vor. Sie deutet auf etwas hin. Sie zeigt. Der Gegensatz zur lyrischen Sprache wurde bereits erwähnt in der Unterscheidung von Lautmalerei und Musik (Seite 16). In lyrisch-musikalischer Sprache klingt eine Stimmung auf. Epische Lautmalerei will etwas mit sprachlichen Mitteln verdeutlichen. Auf ein Verdeutlichen, Zeigen, Anschaulich-machen kommt es hier überall an. Spitteler nennt es das «königliche Vorrecht» des epischen Dichters, «alles in lebendiges Geschehen zu verwandeln» Vgl. dazu: Lachende Wahrheiten, Zürich 1945, S. 232 ff. und so den Augen darzustellen. Auch Seelenzustände, erklärt er, setze der Dichter in Erscheinungen um. Er selber hat dies ausgiebig getan. Wir kennen die Tiere des Prometheus, den Löwen und die Hündlein des Herzens, die er erwürgt, oder aus dem «Olympischen Frühling» den Willen des Zeus, der, eine Kugel, dem Ziel entgegengeschleudert wird und die gläsernen Willen der andern zerschmettert. Sogar in Prosa will Spitteler nicht auf dieses epische Vorrecht verzichten. In «Imago» findet sich folgende Schilderung der eigenen Seele:   «Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein übriges und unternahm einen Rundgang durch die Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen und Weisheit austeilend. Das edle Getier faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden. Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten, sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur noch ein kleines Weilchen wohl verhielten; endlich zum guten Schluß ließ er den Löwen die Treppe hinunterbrüllen: ‚Seid ihr nun überzeugt?‘   ‚Wir sind überzeugt.‘   ‚Gut, so betragt euch auch danach und gebt gegenseitig aufeinander acht‘» Gesammelte Werke Bd. IV, Zürich 1945, S. 366 f. .   Der grimmige Humor versöhnt mit dieser sonderbaren Mischung von modernster Psychologie und altertümlicher Darstellung. Sonst wäre uns nicht ganz wohl dabei. Denn Spitteler ist tatsächlich, wie er ja selbst bekennt, genötigt, Seelisches in Erscheinungen umzusetzen. Homer setzt Seelisches nicht um. Er kennt es noch gar nicht anders denn als «Vor-kommnis» oder als «Eräugnis». Gefühle hausen in der Brust wie die Winde in der Höhle des Aiolos. Der neunte Gesang der «Ilias» hebt an: «So dort wachten die Troer vor Ilios. Doch die Achaier Ängstete grauliche Furcht, des starrenden Schreckens Genossin; Und unduldsamer Schmerz durchdrang die Tapfersten alle. Wie zween Winde des Meers fischwimmelnde Fluten erregen, Nord und sausender West, die beid' aus Thrakia herwehn, Kommend in schleuniger Wut; und sogleich nun dunkles Gewoge Hoch sich erhebt, und häufig ans Land sie schütten das Meergras: Also zerriß Unruhe das Herz der edlen Achaier.» In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers: «Also ward in den Brüsten der Griechen der θυμός zerrissen.»    Θυμός , Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe, die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist. Von Menelaos heißt es im 17. Gesang: «Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im Zwerchfell ...» (V. 106) Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben, werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so, daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber führt. So lesen wir im selben Gesang: «Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen Gemüte ...» Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet. So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die Rede sein könnte: «Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.» (I, 545) «Aber der Worte, welche die Freier im Zwerchfell be brütet, War nicht lange Zeit unkundig Penelopeia.» (Od. IV, 675─6) «Aber wohlan, so lasset uns gehn und schweigend voll enden Jenes Wort, das uns im Zwerchfell allen beschlossen.» (Od. IV, 776─7) Die Unmöglichkeit einer solchen wörtlichen Übersetzung leuchtet ein. Es lohnt sich aber, im Anschluß an den griechischen Text zu zeigen, daß selbst der Gedanke hier noch ein Körperding ist, das irgendwo im Innern bewahrt wird und dann gelegentlich durch das bekannte «Gehege der Zähne» zum Vorschein kommt.   Ein Dichter jedoch, der alles anschaut und sich vorstellt, wird nicht lange in solchen Bereichen verweilen, die als Gegenstände darzustellen, immerhin einige Mühe bereitet. Er wendet lieber den Blick nach außen ─ denn eine Außenwelt gibt es hier, so wie es jetzt auch eine Innenwelt gibt ─ und betrachtet, was sich dem Auge an unermeßlichem Reichtum des Lebens darstellt: Waffen, Krieger, Schlachtengetümmel, wunderbare Länder und Menschen, das Meer, den Strand, die Tiere und Pflanzen, den Hausrat und die Gebilde der Kunst. Das bloße Nennen schon und zu sagen: So sieht es aus! bereitet ihm Lust. Das Erz ist glänzend, das Meer weinfarben, die Trauben sind dunkel, der Schwan ist langhalsig; die Rinder sind aufrecht gehörnt, die Schiffe hochgeschnäbelt, die Hunde hurtig; die Mädchen sind schön gelockt, Hektor ist helmumflattert, Chryseis ist schönwangig, Thetis silberfüßig, Athene eulenäugig, Hera weißarmig. Der Reichtum an Wörtern ist unübersehbar, und schon dieser Reichtum muß als eine entscheidende dichterische Leistung der ältesten Epik gewürdigt werden. Hier ist gesagt, was an Göttern und Menschen und allen Dingen bezeichnend sei. Und damit werden dem Hörer die Augen geöffnet, das Leben in seiner wohlunterschiedenen Fülle anzuschauen. Die Bildlichkeit des homerischen Sehens wird vorbildlich für die griechische Welt.   Die schöpferische Kraft von Homers Blick bewährt sich zumal in der bildenden Kunst. Finsler Georg Finsler, Homer, 2 Bde, Leipzig 1913 und 1918. gelangt zur Überzeugung, daß der Dichter Kunstwerke schildere, die es zu seiner Zeit noch nicht gab, so zum Beispiel den Schild Achills, die goldenen und silbernen Hunde, die des Alkinoos Haus bewachen, oder das Szepter Agamemnons und den Mischkrug des Menelaos. Es sind darum auch nicht Menschen, die solche Werke schaffen; es ist Hephaist, der göttliche Künstler; und diesem von Homer geschauten Künstler eifern die späteren Künstler Griechenlands nach. Auch beim Gestalten der Götterbilder bleiben sie im Banne Homers. Zeus mit der gewaltigen Lockenmähne, Athene in der Rüstung des Vaters, Apollon mit dem langen Haupthaar, der Leier und dem silbernen Bogen, Hermes mit den Sandalen, die ihn über Land und Meer hintragen: jahrhundertelang war die griechische Kunst um diese homerischen Motive bemüht und lernte allmählich bilden, was der Dichter gesehen mit den Augen des Geistes. So hat er in Wahrheit den Griechen, nach dem Wort Herodots, die Götter geschaffen. Doch dieses Schaffen der Götter ist nur ein Teil seiner allgemeineren Leistung, daß er weithin die leuchtende Sichtbarkeit des Lebens erschlossen hat.   Um zu sehen, bedarf es des Lichts. Im Licht, das die epische Rede, das eigentlich «apophantische» Wort, verbreitet, steht der Olymp und das menschliche Reich in klar gezogenen Umrissen da. Im Licht zu leben, ist darum auch das höchste Glück des homerischen Menschen. Zeus ist der Gott der größten Helle, im wörtlichen und übertragenen Sinn. Die Helle der Berghöhe ist um ihn, und Helle auch insofern, als kein Geheimnis mehr seine Erscheinung umwittert. Man mag darin immerhin einen Verlust an magischer Mächtigkeit beklagen. Der Epiker gibt sie gerne preis und lüftet den Schleier des Heiligen immer wieder, der Sichtbarkeit zulieb. Die Sonne wird so zum Licht des vielberufenen homerischen Rationalismus. Die Helle Homers ist Aufklärung, als solche nüchtern, aber stark, gesund, dauerhaft und bestimmt. Freilich wird sie erkauft mit unüberwindlicher Scheu vor der Nacht und dem Tod. Fällt ein Held im Kampf, so lesen wir die stereotype Formel: «Schreiend brach er ins Knie, vom Schleier des Todes beschattet» oder:   «jenem umflorte Gleich die Augen der nächtige Tod und das mächtige Schicksal.»   Das lyrische Dasein kennt ein solches Grauen vor dem Dunkel, vor dem Tod, wo die Augen sich schließen, nicht. Im Gegenteil! Es sinkt ins Nächtige als in Tiefen der Innigkeit hinein und fühlt sich umflutet, geborgen. Zwar wäre es irreführend, zu sagen, zum Lyrischen gehöre mehr die Nacht, zum Epischen der Tag. Denn möglich ist auch ein lyrisches Licht. Das ist aber eher ein Flimmern und Gleißen, stellt kein Gegenüber her und läßt sich darum mit dem Dunkel vertauschen, das gleichfalls nicht auseinandersetzt. Den epischen Menschen dagegen beraubt das Dunkel seiner Wesentlichkeit. Er sieht nichts mehr, und da sein Dasein im Sehen begründet ist, «ist» er nicht mehr. Die Götter verlassen den Sterbenden. Er sinkt ins μὴ ὄν , ins Nichtige, wofür die Schatten des Hades das halbverlegene Gleichnis eines Dichters sind, der selbst das Unsichtbare noch irgendwie sichtbar machen muß. Die Hadesfahrt ist das ungeheuerste Wagnis des göttlichen Dulders Odysseus. Die Linie, die hier der Held überschreitet, ist eine schärfere Grenze der Welt als die Säulen des Herkules, die das Schiff des Danteschen Ulyß passiert.   Ausgeschlossen bleibt hier auch ein anderer Bereich, der freilich für den lyrischen Menschen nahe mit der Nacht und dem Tode verwandt ist, die Liebe. Homer kennt wohl die Gattentreue und hat ihr in Andromache und Penelope ein Denkmal gesetzt. Er kennt auch die Lust am Besitz der Frau. Der troianische Krieg entbrennt um Helenas, der Zorn des Achill um Briseis' willen. Aber von Liebesglück und Liebessehnsucht findet sich keine Spur. Briseis ist wie ein Becher Wein; der Durstige trinkt und wendet sich wieder den kriegerischen Geschäften zu. Achilleus wäre nicht minder erbost, wenn Agamemnon ihm eine Waffe oder ein Kleinod entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender Sühne bereit erklärt: «Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde Becken; Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des Wettlaufs ... Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der Arbeit, Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert, Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter be siegten. Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet, Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör ich's, Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet, Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe sich nahet.» (122─134)   Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau», ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden. Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt bereits ein zarter lyrischer Hauch, wie überhaupt diese spätere Dichtung hin und wieder, auch in den duftigen Landschaftsgemälden, in ihren schmelzenden Farben sich dem Lyrischen nähert.   Ähnlich dürfte die Stellung des Dionysos zu bewerten sein. Die «Ilias» kennt zwar diesen Gott. Diomedes erzählt die Geschichte von Lykurg, vor dessen Gewalttat Dionysos sich erschrocken im Meer verbarg. Doch von der Macht des orgiastischen Gottes weiß das Epos nichts. Er kommt auch im Olymp nicht vor. Er wäre ein Feind der Wohlunterschiedenheit aller Gestalten und des unverrückbaren Gegenübers der Dinge.   So, da die Nacht, der Tod, der Eros, der trunkene Gott hier ausgeschlossen oder doch an den Rand gedrängt sind, triumphiert in ganzer Weite das Licht und mit dem Licht die körperliche, umrissene Gegenständlichkeit, gemäß dem Wort aus Goethes «Faust»: «Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht, Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön ...» 3.   Demnach zeigt das Epische Verwandtschaft mit der bildenden Kunst, ähnlich wie das Lyrische Verwandtschaft mit der Musik bewies. So wie sich im lyrischen Wort jedoch die feste gegenständliche Bedeutung nie aufheben läßt, so kann sich die epische Rede nie dem Nacheinander der Zeit entziehen. Denn Epik ist nicht bildende Kunst und Lyrik ist nicht Musik, sondern beides ist Poesie. Wohl mag der Dichter versuchen, das «ut pictura poesis» so zu erfüllen, daß er in Worten das Nebeneinander im Raume darzustellen versucht. In Hallers «Alpen» stehen die Verse: «Hier ringt ein kühnes Paar, vermählt den Ernst dem Spiele, Umwindet Leib um Leib und schlinget Huft um Huft, Dort fliegt ein schwerer Stein nach dem gesteckten Ziele, Von starker Hand beseelt durch die zertrennte Luft. Den aber führt die Lust, was edlers zu beginnen, Zu einer muntern Schar von edlen Schäferinnen. Dort eilt ein schnelles Blei in das entfernte Weiße, Das blitzt, und Luft und Ziel im gleichen Jetzt durch bohrt; Hier rollt ein runder Ball in dem bestimmten Gleise Nach dem erwählten Zweck mit langen Sätzen fort. Dort tanzt ein bunter Ring mit umgeschlungnen Händen In dem zertretnen Gras bei einer Dorfschalmei ...»   Haller fügt bei, diese ganze Beschreibung sei nach dem Leben gemalt. Man wird sie jedoch wenig anschaulich finden, und zwar deshalb, weil der ständige Wechsel der Blickrichtung, das «hier» und «dort», die Aufmerksamkeit zerstreut, und weil der Leser im Fortgang der Rede die nebeneinander stehenden Teile des Bildes nicht im Gedächtnis behält. Damit ist die Frage berührt, die Lessing im «Laokoon» stellt und im sechzehnten Abschnitt mit den bekannten Thesen zu beantworten sucht:   «Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.   Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.   Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblick ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann die Ursache einer folgenden und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.   Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. Insofern nun diese Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.»   Diese Sätze sind ebenso oft bewundert wie angefochten worden. Zunächst einmal wäre klarzustellen, daß Lessing offenbar nur die Grenzen der epischen Dichtung ziehen will. Die lyrische Poesie beschreibt überhaupt nicht und stellt keine Gegenstände, weder Körper noch Handlungen, vor. Vom Lyrischen hat nun Lessing zwar noch keinen ausgeprägten Begriff. Doch wie es damit bestellt sei, deuten etwa folgende Zeilen an:   «Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia Teil vor Teil zeiget ... sondern weil er es mit der wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht so leicht zu erwecken ist, glauben wir ebendes Anblickes zu genießen, den er genoß.» (XXI. Abschnitt.)   Der Leser setzt hier nicht die Teile zu einem plastischen Körper zusammen, sondern er macht die Steigerung der Wollust mit, die den Dichter beim Anblick von Corinnas Lessing sagt fälschlich Lesbia; er verwechselt die Geliebte Ovids mit derjenigen Catulls. Schönheit erregt. Dasselbe wäre von der Beschreibung Alcinas bei Ariost zu sagen, die Lessing wohl zu Unrecht tadelt. Es kommt auch da nicht auf die Vorstellung aller einzelnen Teile an. Das Porträt ist wie in Duft getaucht, und dieser Duft bezaubert und trägt uns als Stimmung von Stanze zu Stanze dahin.   Nur also dann, wenn das Gegenüber sich reinlich bildet und der Dichter, im genauesten Sinne des Wortes, Gegenständliches zeigen will, besteht die Frage Lessings zu Recht. Ist sie aber gelöst, wenn dem bildenden Künstler Körper, dem Dichter dagegen Handlungen zugewiesen werden? Was Lessing unter Handlung versteht, erörtert ein Laokoonfragment aus dem Nachlaß:   «Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen, heißt eine Handlung Hugo Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. 1880, S. 444. .»   Das ist jedoch eher die Bewegung der dramatischen Poesie. Im dramatischen Kunstwerk sind wir von Anfang an auf das Ende gespannt (vergleiche Seite 171), und jeder Teil stimmt mit den übrigen, wie Lessing an anderer Stelle sagt, «zu einem Endzweck überein a. a. O. S. 603. .» Wo aber Spannung vorherrscht, ist keine ruhige Vorstellung mehr möglich. Da wird das Gegenständliche bloßes Mittel zum Zweck, während der Epiker doch sich des Gegenstands um sein selber willen erfreut. Vom Unterschied der Gattungen ist in Lessings «Laokoon» nicht die Rede. Und jedes reale poetische Kunstwerk hat, wie immer wieder bemerkt sei, in verschiedenen Graden und Arten an allen drei Gattungsideen teil. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß Lessing an die Dichtung allzusehr den dramatischen Maßstab anlegt, schon in der Abhandlung über die Fabel, wo er sich alle Schilderungen, die mit der moralischen Schlußpointe nichts zu schaffen haben, verbittet und wenig Verständnis hat für die reizvollen epischen Züge bei Lafontaine.   Damit wird jedoch Lessings These höchstens zurechtgerückt, nicht widerlegt. Der Widerstreit zwischen Vorstellung und fortschreitender Rede bleibt bestehen. Es fragt sich nur, ob der epische Dichter ihn nicht auf eine Weise schlichte, welche der Anschauung besser gerecht wird als die dramatische Zielstrebigkeit.   Im sechsten Gesang will Diomedes wissen, ob Glaukos, den er noch nie gesehen, ein Sterblicher oder ein Gott sei, und richtet folgende Rede an ihn: «Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewoh ner? Nie ersah ich ja dich in männerehrender Feldschlacht Vormals; aber anjetzt erhebst du dich weit vor den andern, Kühnen Muts, da du meiner gewaltigen Lanze dich darstellst. Meiner Kraft begegnen nur Söhn' unglücklicher Eltern! Aber wofern du, ein Gott, herabgekommen vom Himmel, Nimmer alsdann begehr ich, mit himmlischen Mächten zu kämpfen. Nicht des Dryas Erzeugter einmal, der starke Lykurgos, Lebete lang, als gegen des Himmels Mächt' er ge strebet: Welcher vordem Dionysos des Rasenden Ammen ver folgend Scheucht' auf dem heiligen Berge Nyseion; alle zugleich nun Warfen die laubigen Stäbe dahin, da der Mörder Lykurgos Wild mit dem Stachel sie schlug; auch selbst Dionysos voll Schreckens Taucht' in die Woge des Meers, und Thetis nahm in den Schoß ihn, Welcher erbebt', angstvoll vor der drohenden Stimme des Mannes. Jenem zürnten darauf die ruhig waltenden Götter, Und ihn blendete Zeus der Donnerer; auch nicht lange Lebt' er hinfort, denn verhaßt war er allen unsterblichen Göttern. Nicht mit seligen Göttern daher verlang ich zu kämpfen. Wenn du ein Sterblicher bist und genährt von Früchten des Feldes; Komm dann heran, daß du eilig das Ziel des Todes erreichest.» (123─143)   Die Sage von Lykurg ist entbehrlich, wenn es einzig darauf ankommt, zu erfahren, wer Glaukos sei. Sie ist ─ mit Lessing zu reden ─ kein Teil, der zum Endzweck übereinstimmt. Weitere Beispiele ließen sich häufen. Nur eines der deutlichsten, aus dem sechzehnten Gesang der «Ilias», sei noch genannt. Der Kampf zwischen den Troern und den Griechen nähert sich einem Höhepunkt. Schon lodern die Flammen aus dem Schiff des Protesilaos. Dringendste Hilfe tut not. Achill erkennt die große Gefahr und ruft seinem Freunde zu: «Hebe dich, edler Held Patrokleus, reisiger Kämpfer! Denn ich seh in den Schiffen des feindlichen Feuers Gewalt nun! Eh' sie die Schiff' einnehmen, und kein Entfliehn noch vergönnt wird, Hüll in die Waffen dich schnell; und ich selbst versammle die Völker!» (126─129)   Wir hören also: es eilt. Doch damit, daß dies gesagt ist, hat Homer dem Endzweck seinen Tribut gezollt. Nun wird erzählt, wie sich Patroklos rüstet. Eine Bemerkung über den schweren Speer Achills wird eingeflochten. Sodann versäumt der Dichter nicht, den Stammbaum der Pferde zu erwähnen. Die Myrmidonen besammeln sich. Ihren Andrang schildert Homer in einem ausgedehnten Gleichnis. Dann wird die Geschichte einiger Unterführer der Myrmidonen erzählt. Einer von ihnen ist Menesthios, der Sohn des himmelentsprossenen Stromes Spercheios und der Polydora; als Vater aber wurde öffentlich Boros, der Sohn Perieres' genannt. Ein zweiter Führer ist Eudoros. Auch von ihm wird erzählt, wer ihn gezeugt und geboren und wo und wie er die Jugend verbracht. Dann hält Achill eine Rede. Nach der Rede spendet er den Göttern, und wieder wird ausführlich geschildert, wie er den Becher aus dem Schrein nimmt, wie Schrein und Becher ausgesehen, wie er den Becher wieder versorgt und endlich aus dem Zelt hervortritt, um dem Aufbruch zuzuschauen. Jetzt erst, nach 120 Versen, gelangt die Handlung an ihr Ziel: «Jene nunmehr um Patroklos, den Mutigen, wohlge rüstet Zogen einher, in die Troer mit trotziger Kraft sich zu stürzen.»   Es kommt also nicht auf den Endzweck an. Sondern, wenn der Dramatiker sich der Menschen und Dinge nur bedient, um große Entscheidungen darzutun, so sind dem Epiker große Entscheidungen nur ein Anlaß, möglichst viel von dem, was gewesen ist, zu erzählen. Er schreitet nicht fort, um ans Ziel zu gelangen, sondern er setzt sich ein Ziel, um zu schreiten und alles aufmerksam zu betrachten. Von da aus hat Schiller die epische von der dramatischen Exposition, die buchstäblich nur en passant erfolgt, unterschieden. Er schreibt darüber am 25. April 1797 an Goethe:   «Da er (der Epiker) uns nicht so auf das Ende zutreibt wie dieser (der Dramatiker), so rücken Anfang und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.»   Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten, Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt nicht zurecht Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, München 1945. .   Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben. Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen. Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt, daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken, schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich, im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren. Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee». Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden über die Freier den lang erwarteten Schluß, von dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, tut der Dichter das Möglichste, die Spannung dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, die Wunder der fremden Länder und Meere, der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.   In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit den Worten aus:   «Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe bei jedem Schritte An Goethe, 21. April 1797. .»   Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker inne und sieht sich von festem Standpunkt aus einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat, aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen, zu denen ihn der polemische Eifer hinriß. 4.   Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:   «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter des epischen Gedichtes aus .»   Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig. Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit» kann ich nichts anfangen. Sogar ihre Rhythmik wird mir erst vernehmlich, wenn ich weiß, daß sie von Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht «Heimkehr», getragen von dem lyrischen Strom des Ganzen, die Seele berührt. Der epische Hexameter aber ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht im Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet. Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man sich leicht, wenn man Hexameter ohne Zäsur richtig gebauten gegenüberstellt: «Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des schattenden Ölbaums ...» (Klopstock) «Also bestatteten jene / den Leib des reisigen Hektor» (Homer-Voß) «Weisere Männer bedürfen minder der Könige Freundschaft ...» (Herder) «Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und vernünftig ...» (Goethe) Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen, damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein leichter Stift ist sie nur, wohl unterschieden von der viel rigoroseren Zäsur des Alexandriners, die den Vers so scharf in zwei Teile trennt, daß man gezwungen ist, die Trennung als Entgegensetzung zu fassen und einen logischen Bezug der beiden Hälften herzustellen.   Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt. Bei Homer, der bereits ein später Meister des Hexameters ist, kommt freilich auch der Zeilensprung vor, der die Geschlossenheit einzelner Verse manchmal gefährdet. Der ursprüngliche Sinn des Maßes bleibt aber erkennbar.   Die rhythmische Geschlossenheit erzeugt die gegenständliche. Unzählige Hexameter vermögen uns, völlig losgelöst von ihrer Umgebung, um ihrer runden Bildlichkeit willen, zu erfreuen. Von den stereotypen hier abzusehen, Verse wie etwa die folgenden: «Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen» (Ilias I, 49) «Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel, Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen schrumpfen auf Feigen.» (Odyssee VII, 120─1) Oder aus Epen der deutschen Klassik: «Und sie empfing an der Pforte der Hund mit freundlichem Wedeln.» (Voß, Luise) «Festlich und heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.» (Goethe, Reineke Fuchs)   Die Beispiele zeigen zugleich, daß die Länge des Verses der üblichen Länge eines übersichtlichen Hauptsatzes entspricht. So stellt sich grammatisch die Selbständigkeit der Teile als Parataxe dar, als eine Parataxe jedoch, bei der es nun, im Gegensatz zur lyrischen, durchaus angebracht ist, jeden Vers mit einem Punkt zu beschließen. Wir können das nicht an Homer ablesen. Dafür bezeugt der griechische Text auf andere Weise eine Selbständigkeit der Teile, die sich im Deutschen kaum mehr nachahmen läßt, die aber auch in andern jugendlichen Sprachen zu bemerken ist, und wie das Epische überhaupt, eine unwiederholbare frühe Stufe des menschlichen Daseins bedeutet. Ein Blick in Kägis griechische Schulgrammatik genügt, um das Wesentliche zu sehen. Wenn Homer einmal zu einer längeren hypotaktischen Fügung ausholt, so bricht er nicht selten plötzlich ab und entzieht sich der Spannung durch Anakoluth. Ein Beispiel, das Thassilo von Scheffer Th. v. Scheffer: Homer, Ilias, Berlin 1920. auf deutsch noch wiederzugeben vermag, steht im sechsten Gesang der «Ilias»: «Wie er nun aber zu Priamos' herrlichem Hause gelangte, Rings errichtet mit Hallen geglätteter Säulen ─ doch drinnen Waren Gemächer an fünfzig mit glatten steinernen Wänden, Eines neben dem andern gebaut; des Priamos Söhne Ruhten dort schlafend zur Seite der ehlich verbundenen Gattin; Doch für die Töchter erhuben sich drüben am anderen Ende Zwölf gedeckte Gemächer im Hof aus glattem Gemäuer, Eines neben dem andern; die Schwiegersöhne des Königs Ruhten dort schlafend zur Seite der keuschen, würdigen Frauen ─ Dort nun schritt ihm die milde, gütige Mutter entgegen, Die gerad zu Laodike ging, der schönsten der Töchter.» (242─252)   In neuzeitlicher Dichtung läßt sich dergleichen höchstens als bewußt archaische Manier rechtfertigen. Bei Homer ist es ganz natürlich, offenbar deshalb, weil er die Unterordnung des Nebensatzes bei weitem nicht so deutlich empfindet wie wir. So hat auch das Relativpronomen bei ihm noch demonstrative Bedeutung und leitet einen Hauptsatz ein. Er sagt also nicht: ‚Ich habe das Haus gesehen, das an der Straße steht ‘, sondern: ‚Ich habe das Haus gesehen, das steht an der Straße ‘. Und bis ins Kleinste setzt sich das fort. Wir pflegen zu sagen, daß eine Präposition einen Kasus regiere. Bei Homer jedoch bewahren die Kasus noch einige Selbständigkeit. Der Genetiv von ‚Haus ‘ kann ‚aus dem Haus ‘ bedeuten, der Dativ ‚im Haus ‘. Die Präpositionen wiederum werden noch adverbial verwendet, ‚vor ‘ also in der Bedeutung von ‚davor ‘, ‚in ‘ in der Bedeutung ‚darin ‘. Sie können deshalb vor oder hinter dem zu bestimmenden Wort stehen. Dann regiert nicht eine Präposition einen Kasus, sondern eine Postposition tritt zu einem Kasus erläuternd hinzu.   Weitere Beispiele würden immer nur dasselbe zeigen: daß der Sinn für grammatische Bezüge noch wenig ausgebildet ist, daß kleinste Satzteile sogar, die später rein funktionale Bedeutung gewinnen, noch ziemlich fest in sich selber bestehen. Dies aber ist nur der grammatische Niederschlag des von Schiller erkannten Gesetzes.   Wir haben es jetzt weiter hinauf zu verfolgen und schließen die Gleichnisse an. Sie sind sehr häufig schon grammatisch nur lose mit ihrer Umgebung verbunden, indem der Dichter gerne aus der Konstruktion «wie ─ so» ausbricht und sie erst nachträglich, unbekümmert um strenge Fügung, wieder aufnimmt, so im folgenden Gleichnis, bei dem ich die Vossische Übertragung syntaktisch dem Urtext anzunähern versuche: «... und er fiel in den Staub wie die Pappel, Die in gewässerter Aue des großen Sumpfes emporwuchs, Glatten Stammes, doch oben entwachsen ihr grünende Zweige; Diese haut der Wagner jetzt ab mit blinkendem Eisen, Daß er sie beuge zum Kranz des Rades am zierlichen Wagen; Die aber liegt nun welkend am Bord des rinnenden Baches: So Anthemios' Sohn Simoeisios ...» (Ilias IV, 482 ff.)   Schon aus dem Satzbau ist ersichtlich, daß sich das Gleichnis selbständig macht. Prüfen wir es auf seinen Inhalt, so finden wir, daß es einzig durch die Vorstellung des Sinkens und Liegens mit der Handlung verbunden bleibt. Antike Erklärer haben zwar bei jeder Gelegenheit versucht, möglichst viele Bezüge ausfindig zu machen. So wird das Gleichnis von Athene, die den Pfeil wegscheucht wie die Mutter die Fliege vom schlafenden Kindlein, so ausgelegt, daß die Mutter die Sorge der Göttin um Menelaos bedeute, der Schlaf des Kindes die Ahnungslosigkeit des Bedrohten ─ und so fort! Obwohl das in diesem Beispiel noch nicht zu ausgesprochenem Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen scheint ihm als tertium comparationis durchaus zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen dem epischen Gang.   Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch, der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen, das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern wächst sich selbständig aus zum Bild.   Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast beliebig vermehren oder vermindern. In der langen Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee» wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel, an Umfang der «Ilias» angeglichen worden. Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium. Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich zu dem Problem zu äußern.   Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena ad Homerum» den Freunden Homers bereitet haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang stand die Sache so, daß die Philologie mit nachsichtigem Lächeln auf Leser herabsah, die sich die eine Dichterpersönlichkeit und das einheitliche Kunstwerk um keinen Preis ausreden lassen wollten. Gegenwärtig scheinen auch Philologen wieder eher geneigt, auf große kompositionelle Bezüge in der «Ilias» aufmerksam zu machen und demgemäß zum mindesten von der Vorherrschaft eines einzigen gewaltigen dichterischen Genius zu sprechen Vgl. W. Schadewaldt, Iliasstudien, Abh. der sächs. Akad. der Wiss., phil.-hist. Klasse, 1938; Renata von Scheliha, Patroklos, Basel 1943. . An solchen Untersuchungen mag uns manches vielleicht gewaltsam, künstlich oder gelehrtenhaft anmuten. Vieles ist jedoch überzeugend und dürfte als bleibende Erkenntnis in die Homerforschung eingehen. Trotzdem wird es nie gelingen, die «Ilias» so zu interpretieren, daß sie sich, wie die Liebhaber möchten, als ein organisches Gebilde darstellt. Denn darum dreht sich im Grunde der Streit. Noch immer protestiert der Laie im Namen Goethes gegen Wolf. Und Goethe fühlte sich von dem Ergebnis der Wolfschen Kritik so beunruhigt, weil er sich eine Dichtung nicht anders denn als organisches Gebilde vorstellen konnte. Nehmen wir diesen Begriff aber ernst ─ so ernst, wie ihn Goethe selber nahm ─ dann müssen wir sagen: ein Organismus ist ein Gebilde, in dem jeder einzelne Teil zugleich Zweck und Mittel ist Kant: Kritik der Urteilskraft, Inselausgabe 1924, S. 260 ff. , also selbständig und funktional in einem, wertvoll an sich selbst und gleichzeitig auf das Ganze bezogen. Ein solcher Organismus ist zweifellos Goethes «Hermann und Dorothea», die «Odyssee» und die «Ilias» aber nicht. Aus einem Organismus kann man nicht große Stücke ausschneiden, ohne das Leben des Ganzen zu gefährden. Die «Ilias» aber könnte man auf die Hälfte, ja auf ein Drittel verkürzen, ohne daß jemand, der den Rest nicht kennte, etwas vermissen würde. Das ist nur möglich, weil auch im Großen die Selbständigkeit der Teile gewahrt bleibt. Man mag sie erklären, wie man will, aus der Häufung von altüberlieferten Einzelgesängen oder aus der besonderen Situation des Rhapsoden, der jeden Tag ein Stück von mäßiger Länge vorzutragen hatte: Finsler dürfte Recht behalten mit seiner vorsichtigen Erklärung:   «Selbst wenn also ein einziger Dichter die Ilias erfunden hätte, müßte der Schwerpunkt der poetischen Tätigkeit auf die einzelnen Teile und nicht auf den Zusammenhang des Ganzen fallen» a. a. O. Bd. I, S. 315. .   Der Schwerpunkt der poetischen Tätigkeit! Das schließt nicht aus, daß der Dichter ─ oder ein Dichter, der irgendwann auftrat und episches Gut zusammenzog ─ sich auch von gewissen großen kompositionellen Erwägungen leiten ließ und etwa darauf bedacht war, eine wohlberechnete Spannung bis zum Tode Hektors zu erzielen Vgl. dazu jetzt Ernst Howald, Der Dichter der Ilias, Erlenbach 1946. . Von unserm Standpunkt aus hieße das, daß hier der Spätling Homer bereits die Grenzen des Epischen überschreitet und eine Dichtung vorbereitet, die dann im Drama vollendet wird. Doch er bereitet sie nur vor. Gegen die Beharrlichkeit des Einzelnen dringt er nie ganz durch. Sogar in den «modernsten» Gesängen der «Ilias» bleibt eine Fülle von Versen, Szenen, Taten, Vorgängen, die im Hinblick aufs Ganze entbehrlich sind und im Sinne strenger Komposition als Fehler bezeichnet werden müßten. Wer drum sein Augenmerk vor allem auf eine große Linie richtet und zwischen weit voneinander entfernten Szenen Fäden zu ziehen beginnt, der blickt am Schwerpunkt der poetischen Tätigkeit Homers vorbei und gibt zu verstehen, daß ihm die Einfalt epischer Dichtung nicht genügt.   Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache Addition. Im Kleinen wie im Großen werden selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht immer weiter. Ein Ende wäre nur zu finden, wenn es gelänge, den gesamten orbis terrarum abzuschreiten und schlechthin alles, was irgendwo ist oder war, zu vergegenwärtigen. Der Langeweile, die dabei droht (die zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte), kann der Epiker mit durchaus eigentümlichen Mitteln begegnen, indem er nämlich durch den folgenden Teil den früheren überbietet und so den Hörer beständig fesselt. Der Dramatiker überbietet nicht. Er fesselt auch nicht, sondern er spannt. Die Ungeduld im Dramatischen entsteht aus der Erkenntnis, daß den früheren Teilen noch etwas fehlt, daß sie noch einer Ergänzung bedürfen, um sinnvoll oder verständlich zu sein. Diese Ergänzung ist das Ende, auf das im Dramatischen alles ankommt. Ganz anders das epische Überbieten! Da wird ein Einzelnes vorgestellt als selbständiges Stück. Damit das Interesse nicht nachläßt, muß das nächste Stück noch reicher, noch schrecklicher oder lieblicher sein, so, um ein kürzeres Beispiel zu nennen, im sechszehnten Gesang der «Ilias», wo Homer im Drang des Erzählens aufatmend zu den Musen fleht und das Ringen weiter und weiter steigert, bis schließlich der Brand in den Schiffen loht: «Also redeten jen' im Wechselgespräch miteinander. Aias bestand nicht fürder; ihn drängten zu sehr die Ge schosse. Denn ihn bezwang Zeus' heiliger Rat, und die mutigen Troer, Werfend Geschoß; daß schrecklich der leuchtende Helm um die Schläfen Ringsumprallt von Geschoß aufrasselte; denn es umprallt' ihn Stets das gebuckelte Erz; und links erstarrt' ihm die Schulter, Stets vom Schilde beschwert, dem beweglichen: dennoch vermocht' ihn Keiner umher zu erschüttern, mit Todesgeschoß, ihn umdrängend. Häufig indes und schwer aufatmet' er, und es umfloß ihn Rings von den Gliedern herab der Angstschweiß; nimmer Erholung Ward ihm vergönnt; ringsher ward Graun an Graun ihm gereihet. Sagt mir anitzt ,ihr Musen, olympische Höhen bewoh nend, Wie nun Feuer zuerst einfiel in der Danaer Schiffe. Hektor heran sich stürzend auf Aias' eschene Lanze Schwang das gewaltige Schwert, und dicht an der Öse des Erzes Schmettert' er grade sie durch; und der Telamonier Aias Zuckt' umsonst in der Hand den verstümmelten Schaft, da geschleudert Fern die Spitze von Erz mit Getön hinsank auf den Boden. Aias erkannte nunmehr, in erhabener Seel' aufschau ernd, Göttergewalt, daß gänzlich des Kampfs Anschläge vereitle Der hochdonnernde Zeus und den Troern gönne den Siegsruhm; Und er entwich dem Geschoß. Da warfen sie brennendes Feuer Schnell in das Schiff, und plötzlich durchflog unlöschbar umher Glut.» (101─24)   Vollkommen entfaltet sich diese Kunst natürlich erst in größerem Raum. Ein Meisterstück ist der Freiermord in der Odyssee. Niemand ahnt, wie gefährlich ein solches Thema ist, wie es ermüden könnte, wenn einer nach dem andern erlegt wird. So steigert es sich, so fesselt der Dichter durch Überbieten und durch Kontraste. Denn auch der Kontrast will noch als vorzüglich episches Kunstmittel gewürdigt sein. Er ist, wie das Überbieten, nicht durch das Kommende, sondern von rückwärts her, durch das eben Dargestellte bestimmt. Auch als Künstler also blickt der Epiker mit Vorliebe zurück. Das Ziel jedoch, dem eine Handlung als solche notwendig zustreben muß, hat wenig Einfluß auf sein Verfahren, sein Tempo und seine Anordnungen: Es ist mehr nur ein Vorwand zum Schreiten, wie wenn sich jemand im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder in das nächste Dorf einschlägt. 5.   Unter den «Teilen» haben wir den Anfang, die Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die einzigartige Kraft Homers.   Hegel erklärt in seiner «Ästhetik», der Alexanderzug könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre, sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der «Ilias». Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur im Sinn eines «primus inter pares». Wehe ihm, wenn er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen! Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen, man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern, die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen: «So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!» In diesen Versen scheint sich jedoch ein älterer Mythos erhalten zu haben, die Spur einer ungeheueren Welt, von der Homer sonst nichts mehr weiß. Im übrigen ist es mit der Macht des Zeus durchaus nicht so gut bestellt. Es wird zwar ständig versichert, daß alle Entscheidung in seinen Händen ruhe. Hera, Ares, Athene, Poseidon jedoch sind öfter anderer Meinung, murren, wenn Zeus Befehle erteilt, und erkühnen sich gar, mit List und Betrug den Willen des Höchsten zu umgehen. Dann muß sich Zeus gleichfalls mit Schlauheit oder mit Poltern und Drohen behelfen ─ genau wie Agamemnon im Kriegsrat. Das Schauspiel ist peinlich für den Herrn. Doch eben deshalb treten sämtliche Götter und Helden so herrlich hervor. Sie sind nicht auf den Einen bezogen. Jeder hat seine besonderen Wünsche und Angelegenheiten. Jeder ist eine frei entfaltete Individualität.   Ebenso bewahrt der Mensch gegenüber den Göttern Selbständigkeit. Man hat Homer zwar schon im Altertum nachgesagt, seine Helden seien Marionetten in den Händen der Himmlischen. Wer aufmerksam liest, bemerkt jedoch bald, daß ein solcher Tadel nicht am Platz ist. Allerdings heißt es oft, ein Gott habe dies dem Menschen eingegeben; er habe seinen Verstand betört oder seinen Sinn zum Guten gelenkt. Doch das schließt die Freiheit des Handelns nicht aus. Der Mensch kann sich dem Willen der Götter fügen oder widersetzen. Er selbst trägt die Verantwortung und ist sich dessen durchaus bewußt. Und so geht es sogar noch weiter hinab. Auch die Tiere gewinnen Selbständigkeit. Die Rosse weinen um Patroklos, so daß sie Zeus einer Antwort würdigt. In einer gewaltigen Steigerung, wo sich Homer nicht mehr anders zu helfen weiß, verleiht er sogar den Pferden Sprache. Und wenn dies vereinzelt dasteht, fügt es sich doch natürlich in seine Welt. Jedes Ding drängt nach eigenem Leben. Die Lanze zittert vor Lust, die Weiche des Gegners zu treffen. Die Pfeile des Odysseus geben schwirrend den Ton der Rache an.   Wo das Besondere so hervortritt, bleibt das Allgemeine noch blaß. Hegel hat dies so ausgedrückt, daß die epische Dichtung in jene Mittelzeit falle, «in welcher ein Volk zwar aus der Dumpfheit erwacht ... aber alles, was später festes religiöses Dogma oder bürgerliches und moralisches Gesetz wird, noch ganz lebendige, von dem einzelnen Individuum als solchen unabtrennbare Gesinnung bleibt» Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe Bd. XIV, Stuttgart 1928, S. 333. .   Ein Vergleich mit neueren Zuständen rückt diese Sätze ins hellste Licht. Der moderne Mensch ist Bürger, Glied einer Kirche, einer Nation. Er arbeitet in einem bestimmten Beruf und reiht sich damit ins Erwerbsleben ein. Er gehört Interessengemeinschaften an. Sein Dasein geht, weit mehr als er sich bewußt ist, in Funktionen auf, in Funktionen der Politik, der Wirtschaft, der Moral, der Gesellschaft, allgemeiner Bereiche, auf die er sich notgedrungen ausrichten muß. Ein homerischer Held kennt nichts dergleichen. Er lebt und handelt aus eigener Kraft. Sein kleines Land, nach unsern Begriffen ein Großgrundbesitz, kann ihn ernähren. Sein Tun und Lassen regelt keine Vorschrift, denn Vorschriften gibt es nicht. Er nimmt das Motiv aus seiner «Gesinnung», die seine besondere Natur und Überlieferung ausgebildet hat. So bildet er eine Welt für sich ─ nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß, der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden und dem Gesamtplan der «Ilias» und der «Odyssee». Wie der Gesamtplan dazu da ist, den Episoden Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz, sondern weil er jetzt gut handeln will. Es ist nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich, an der ein Einzelner im platonischen Sinne «teilhaben» müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden persönlichem Temperament.   In einer solchen Welt sieht der Dichter den Menschen anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt mit einem Vor-urteil heran. Das Vorurteil besteht darin, daß wir jede Persönlichkeit im Hinblick auf feste Ideen und Werte würdigen. Wir messen sie mit einem Maßstab; und nur was in den Bereich des Maßstabes fällt, kommt in Betracht ─ ähnlich wie ein Gericht an einem Angeklagten nur interessiert, was mit seiner Tat in Beziehung steht. Niemand fragt danach, ob der Dieb musikalisch ist oder die Landschaft liebt. Der Epiker kennt kein Vorurteil. Deshalb erscheint der Mensch vor ihm in reichster Mannigfaltigkeit. Achill, im Zorn auffahrend, später die Laute spielend, des Patroklos Freund, der unmenschliche Gegner Hektors, der mild Gestimmte im letzten Gesang: eines tritt nach dem andern hervor, so wie die Gelegenheit es bringt, unbehindert von der Idee des Ganzen eines Charakters, von dem Bedürfnis, eine Bilanz zu ziehen. Nachträglich ist es allerdings möglich, die vielen Eigenschaften Achills in ein Gesamtbild zusammenzuziehen. Man mag sich daran versuchen wie an dem vielgestaltigen Leben selbst. Homer leistet solchem Beginnen nicht Vorschub. Er zeigt, was jeweils sichtbar wird. Der Zusammenhang aber bekümmert ihn nicht.   Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir bedenken, daß die homerische Welt die Schrift nicht kennt. Homer scheint zwar geschrieben zu haben. Er sieht in der Schrift aber etwas Modernes und ermißt ihre große Leistung noch kaum. Weil er ältere Zeiten schildert, vermeidet er es, sie zu erwähnen ─ ein Umstand, den wir offenbar gar nicht hoch genug veranschlagen können. Die Schrift ist nämlich gleichsam der Ort der dauernden, vom einzelnen Menschen abgelösten Gültigkeit. Die Tafeln des Gesetzes im Alten Testament werden aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen, wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert. Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.   Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.   Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise, die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet uns doch, das Viele zusammenzuziehen und Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt, erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom Schläfchen Homers ─ «quandoque bonus dormitat Homerus» ─ darf hier wohl als antikes Zeugnis für die Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt werden.   Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht. Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen gelesen? In dieser Verwunderung spüren wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher, so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit so, wie wir uns selbst verwandelt haben. Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen, als ob es sich um einen Fremden handeln würde, eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen sein sollen.   Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das Ereignis des Reifens, ja sogar schon des bloßen Alterns. In der «Ilias» fällt das weiter nicht auf, da die Handlung dort im Ganzen nur einundfünfzig Tage füllt. Odysseus aber ist immer der Mann in mittleren Jahren, schon wie er nach Troia kommt, dann während des Feldzugs, der zehn Jahre dauert, und während der Heimfahrt, die wieder ein volles Jahrzehnt beansprucht. Ebenso Penelope. Nach zwanzig Jahren erscheint sie noch als dieselbe reife, umworbene Frau, als die sie Odysseus verlassen hat, und darf nach seiner Rückkehr noch langer glücklicher Ehe entgegensehen.   Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Epos und dem Roman, der, nach spätantiken Vorläufern, als eine christliche Erfindung den Menschen in zeitlicher Spannung als wesentlich sich entwikkelndes Wesen zeigt.   So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den Tag hinein. Er freut sich des Tages und seines Lichts und sorgt sich nicht ängstlich darüber hinaus, weder um das Ende der Tage noch um eine nähere Zukunft. Gibt es hier aber nicht dennoch Vorausblick? Sind nicht Orakel und Seher da, Kalchas bei den Griechen, Helenos bei den Troianern, Teiresias, dem Odysseus in Tiefen des Hades begegnet? Gewiß! Und sie werden umständlich befragt. Aber ─ das ist das Verblüffende ─ bei aller Ehrfurcht vor der Kunst des Sehers, bei aller kindlichen Neugier nimmt man doch seine Sprüche nicht ernst. In der tragischen Dichtung sind ganze Schicksale durch Orakel bestimmt, sei es, daß der Held, wie Orest, nach dem Beschluß des Gottes handelt, sei es, daß er sich ihm widersetzt, wie König Ödipus, und dem, was verfügt ist, zu entrinnen versucht. Sein Handeln bleibt an die Zukunft gebunden, deren Antizipation im Orakel die Spannung des Dramas erzeugt. Den Griechen in der «Ilias» aber ist längst geweissagt, daß Troia nach zehn Jahren fallen werde. Sie handeln, als wüßten sie eigentlich nichts davon, unternehmen Mauerstürme, die vorläufig nicht zum Ziel führen können; sind untröstlich über einen Rückschlag, und selbst die bewunderte Haltung Hektors, der ausspricht: «Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hin sinkt» und dennoch weiterkämpft auf verlorenem Posten, dürfte wirklich nichts weiter als frische epische Gedankenlosigkeit sein. Schon daß Menelaos (IV, 164) dieselben Worte spricht und Hektor sie später nur wiederholt, entwertet den Ausspruch in seinem Mund. Und wie er dann gegen die Schiffe stürmt, ist sein Jubel über den nahen Sieg von keinem noch so geheimen Wissen um sicheren Untergang mehr beschattet. Wer das behauptet, liest tragische Züge in den Helden Homers hinein und sieht einen Hektor, wie ihn Shakespeare in «Troilus und Cressida» dargestellt hat, nicht aber den Kämpfer der «Ilias». Die Auslegung der Jahrtausende lastet schwer auf den homerischen Epen. Niemand entrinnt ihr heute mehr ganz, wie sehr auch unser historischer Sinn seit den Tagen vor Herder geschärft sein mag. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die einfachste, «uninteressanteste» Auslegung die richtigste sei und eine lichtvollere Schönheit erschließe, als jedes interessante Gespinst.   Doch nicht nur die Menschen, sondern sogar die Götter nehmen die Zukunft nicht ernst, obwohl sie vor ihnen doch klarer daliegt und die Seher selber ihre Weisheit nur von den Göttern beziehen. Dieselbe Aufregung wie bei den Kriegern beim Wechsel der Geschicke, derselbe Unmut oder Triumph, obwohl der Untergang Troias feststeht und vor dem Blick der ewigen Wesen schon jetzt als Wirklichkeit gelten könnte. Das führt zu jenen Auftritten, die uns Modernen solches Ergötzen bereiten, weil wir, menschliche Leser, das Ganze im Auge behalten, während die Götter wie Kinder im Nächsten verhaftet sind: «Jene nun sah erbarmend die lilienarmige Here, Wandte sich schnell zu Athen' und sprach die geflügelten Worte: Weh mir, o Tochter des Zeus, des Donnerers, wollen wir noch nicht Retten das sterbende Volk der Danaer, auch nur zuletzt noch? Welche das böse Geschick nunmehr vollendend ver schwinden, Unter des Einen Gewalt! Da wütet er ganz unerträglich, Hektor, Priamos' Sohn, und viel schon tat er des Frevels. Drauf antwortete Zeus' blauäugige Tochter Athene: Wohl schon hätte mir dieser den Mut und die Seele ver loren, Unter der Hand der Argeier vertilgt im heimischen Lande; Aber es tobt mein Vater mit übelwollendem Herzen, Grausam und stets unbillig und jeden Entschluß mir vereitelnd. Nicht gedenkt er mir dessen, wie oft vordem ich den Sohn ihm Rettete, wann er gequält von Eurystheus' Kämpfen sich härmte. Auf zum Himmel weinte der Duldende; aber es sandt' ihm Mich zur Helferin schnell von des Himmels Höhe Kronion. Hätt' ich doch solches gewußt im forschenden Rate des Herzens, Als er hinab in Aïs verriegelte Burg ihn gesendet, Daß er dem Dunkel entführte den Hund des graulichen Gottes! Niemals wär er entronnen dem stygischen Strom des Entsetzens! Nun bin ich ihm verhaßt; doch den Rat der Thetis vollführt er, Welche die Knie ihm geherzt und die Hand zum Kinn ihm erhoben, Flehend, daß Ruhm er gewähre dem Städteverwüster Achilleus. Aber er nennt mich einmal blauäugiges Töchterchen wieder!» (VIII, 350─373)   Einzig Zeus sieht etwas weiter, ist schwerer aus seiner Ruhe zu bringen, macht Vorbehalte und plant und erwägt in größerem Stil die Geschicke der Menschen. Dafür ist aber auch immer mit tiefstem Respekt von seinem Weitblick die Rede. Er heißt « εὐρύοπα , Weitauge». Sein Denken, von keinem anderen Gott und erst recht von keinem Menschen erreicht, wird vorbildlich in dem genaueren Sinn, daß Zeus so ist, wie der Mensch zu werden sich eben jetzt, in Homer, am Ende der epischen Kultur anschickt, jetzt, da die Schrift bekannt geworden und da sich die epische Parataxe bereits in eine, wenngleich noch lockere, Ordnung des Ganzen zu fügen beginnt. Denn stets verehrt der Mensch als Gott den Geist, der eben erst dämmert in ihm, zu dem sein Dasein angelegt ist. Der höchste Gott ist die Zukunft des Menschen, so hier die ratio des Zeus, die menschlich zu erfüllen ein Ziel der Geschichte des griechischen Volkes ist.   Doch selbst der Weitblick des Zeus ist begrenzt. Auch er ist nicht ganz frei von Sorge und Angst um das, was auf Erden geschieht. Denn über ihm waltet noch ein Höheres, von dem er sich immer abhängig weiß, Moira, in deren Dunkel nun wirklich alles und jedes zusammenhängt. Moira aber ist in der epischen Welt der deus absconditus, unergründlich, undurchsichtig, das Geheimnis, das jenseits allen Erkennens und allen Ahnens bleibt, das Schicksal, das als Vorsehung zu deuten, dessen Plan zu erforschen, hier noch in keines Menschen Sinn kommt. 6.   Lyrische Dichtung ist ungeschichtlich, hat keinen Grund und keine Folgen; sie spricht nur Gleichgestimmte an; ihre Wirkungen sind zufälliger Art und vergehen, wie eine Stimmung vergeht.   Das Epos dagegen hat in der Geschichte seinen genau bestimmten Ort. Hier bleibt der Dichter nicht allein. Er steht in einem Kreis von Hörern und erzählt ihnen seine Geschichten. So wie er sich selbst das Geschehene vorstellt, stellt er es seinem Publikum vor. Und wenn er weiterzieht und seine Geschichten sich im Land verbreiten, erweitert das Publikum sich zum Volk.   Das Gegenüber von Dichter und Hörern entsteht aber nicht, weil es der Zufall einer Begegnung gerade so fügt. Käme ein Mann und trüge in griechischer Sprache vor einem griechischen Hörerkreis die Sage von Gilgamesch vor, so würde er schwerlich angehört, oder doch mit großem Befremden und ohne nachhaltigen Dank. Die Hörer anerkennen Homer, weil er die Dinge so darstellt, wie sie sie selber zu sehen gewohnt sind. Sie wiederum sehen sie so, weil ihren Vätern ein Dichter sie so gezeigt hat. Ihr Verhältnis gründet also in einer Überlieferung, die sich zwar in dunkler Urzeit verliert, grundsätzlich aber als Stiftung eines Dichters verstanden werden darf Vgl. Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, München 1936. , der den schlummernden Rhythmus und das Wort seines Volkes vernimmt und trifft und in der Dichtung dem Volk den Grund anweist, auf dem es zu stehen vermag. Dann wirken die Keime der Sprache weiter, und schließlich ist alles so festgestellt, wie die Griechen es sehen, aufgenommen und aufgereiht in unaufhörlicher Parataxe: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.» Nirgends ist dieses Wort so sehr am Platz wie in epischer Poesie. Denn das Epos ist die ursprünglichste Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor, in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet, sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern, die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich wird.   Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten. Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint. Rein Episches ist später nicht mehr möglich, aus dem einfachen Grund, weil «Ilias», «Odyssee» und der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung der Schrift legt es nahe. Sie fordert geradezu auf, den Dingen in erleichterter Übersicht eine neue Seite abzugewinnen. So ist Homer zugleich das Ende der mündlichen und der epischen Welt. Nur Völkern, die nichts von ihm wissen, wenn sie ins Licht der Geschichte treten, gelingt noch epische Dichtung nach Homer. Wir haben von ihnen nicht zu reden, da alles Historische hier allein zur Erläuterung des Systematischen dient. Wir haben auch nicht zu untersuchen, warum das Epische nirgends zu so großer Blüte gelangt wie in Hellas. Wir halten uns an den Größten, der denn doch einzig den Namen «Vater» verdient, und streifen in der Geschichte des Epos nur einige Hauptkapitel, die auf Homer bezogen und geeignet sind, das Wesen seiner Dichtung noch besser zu beleuchten.   Von einer Geschichte des Epos kann nach alledem nur die Rede sein, sofern der Begriff poetische Werke bezeichnet, die äußerlich, nach der Weise ihres Vortrags, als Epen gelten, Erzählungen also von größerem Umfang, die in Versen gehalten sind. Epen in diesem Sinne entstehen auch nach Homer in großer Zahl. Was einfache Nachahmung homerischen Dichtens ist, lassen wir außer acht. Von Nachahmung aber und nicht von Weiterarbeit an der epischen Reihe müssen wir sprechen, sobald die Naivität des epischen Daseins zerstört ist. Das sichtbarste Dokument solcher Zerstörung ist die Kritik des Xenophanes, der gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts in Hexametern, also selbst noch befangen in der Sprache Homers, gegen die Götterlehre und die Moral der homerischen Dichtung eifert. In seinen «Sillen» stehen die Sätze:   «Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt ( ἀνέθηκαν ), was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl. Berlin 1934, 21 B 11 (I, 132,2). .»   Hier haben sich «Gut» und «Böse» bereits von den Einzelgestalten abgelöst und sind zu abstrakten Werten geworden, die ihrer Erscheinung nur angehängt werden. Die unbekümmerte Selbständigkeit des Einzelnen ist damit vernichtet.   «Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ... bilden a. a. O. 21 B 15 (I, 132, 19). .»   Hier wird ein Zusammenhang von Gott und Mensch zum Problem, den Homer noch nicht ahnt. Gleichgültig, wie es Xenophanes löst: Sobald es nur angedeutet ist, sind beide, Götter und Menschen, fragwürdig und nicht mehr möglich in epischer Dichtung. Dem Epiker nämlich genügt es, zu wissen, daß etwas ist, woher es stammt, und daß er es nennt in seinem Werk.   «Wenn Gott von allen der mächtigste ist, so kann er auch nur einer sein; denn wären es zwei oder drei, so wäre er nicht der mächtigste und beste von allen a. a. O. 21 A 28 (I, 117). .»   Hier zieht Xenophanes einen Schluß, mit dem der ganze Olymp versinkt. Homer zieht keine Schlüsse, redet beteuernd von dem mächtigsten Gott und läßt die andern Götter, die seine Macht beschränken, daneben bestehen. So hält er freilich der Logik nicht stand. Und wo sich Logik durchsetzt, wird er vielleicht zwar noch als Künstler geehrt; das Schöne jedoch, das er verkündet, ist nicht mehr, wie ehedem, auch das Wahre.   So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit ohne geschichtegründende Kraft, blüht epische Dichtung weiter, bei den Griechen und bei den Römern, die schon in Ennius und erst recht in Vergil den Griechen verpflichtet sind.   Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos nicht mehr möglich zu sein. Die «Selbständigkeit des Teils» ist hier in jedem Sinne aufgehoben. Der Mensch wird zum Gegenstand eines Heilsplans. Er findet sich vor, belastet mit dem Sündenfall Adams und in Erwartung des jüngsten Gerichts. Sein Dasein ist ausgerichtet auf eine gewaltige Zukunft, auf ein Jenseits, vor dem die sichtbare Welt zum bloßen Durchgang und das Körperliche zu einem dünnen Schleier wird. Der Epiker dieser Welt ist Dante. Die Transparenz der paradiesischen Räume und Gestalten, Gottes ungeheuere magnetische Kraft, die alle Wesen nach oben zieht, zeigt klar die neue Orientierung, für die ein Verweilen und alle Selbstherrlichkeit nur Sünde bedeuten kann. Nun gibt es freilich auch in Dantes «Divina commedia» einen Bereich, der nicht zu Gott geschaffen ist, dieser heiligen Spannung entzogen bleibt und insofern eher dem epischen Dasein gleicht; doch dieser Bereich ist die Hölle. Der Streit, ob Dante im «Inferno» oder im «Paradies» sein Höchstes geboten habe, wogt hin und her. Wer auf dem Standpunkt Dantes steht, muß dem «Paradies» den Vorzug geben. Wer aber den Maßstab des Epischen anlegt, wird das Inferno mächtiger finden. Denn hier tritt alles sichtbarer hervor. Fest stehen die einzelnen Gestalten da, undurchsichtig, in einer Körperlichkeit, die dem Auge Widerpart hält. Dieselben Züge jedoch, die den an Homer geschulten Betrachter erfreuen, bedeuten im Zusammenhang des Danteschen Gedichts Verworfenheit. Verworfen ist, wer in sich selbst besteht und wessen Körper wesentlich wird; verworfen, wessen Zweck in jedem Punkte seiner Bewegung liegt und nicht in jenem glorreichen Ende, auf das hin Gott den Menschen geschaffen. Eine denkwürdige Situation! Die epische Welt ist zur Hölle geworden, weil sie die neue Bewegung nach oben, welche im Christentum anhebt, nicht teilt. Ähnlich steht es bei Milton und Klopstock. Auch da gerät das Höllische besser nach dem Maßstab der epischen Kunst. Und da sich Klopstock im Technischen seines Dichtens eng an Homer anschließt, kann über ihn das Urteil nicht schwanken: Stilistisch einstimmig sind allein die Schilderungen der gottlosen Sphäre.   Historischer Forschung ist aufgetragen, zu untersuchen, welche Wandlung das Epos in christlicher Zeit durchmacht, wie etwa im Nibelungenlied, bei Ariost und Tasso Dramatisches oder Lyrisches mehr hervortritt. Dagegen sei hier noch auf das Tierepos hingewiesen, auf «Reinke de vos», der unter allen neueren Epen gewiß das am meisten epische ist. Die Tiere stehen nicht in der Spannung von Sündenfall und jüngstem Gericht. Sie machen keine Entwicklung durch. Ein Fuchs ist ein Fuchs und ein Dachs ist ein Dachs, unwiderruflich festgestellt in seiner Beschaffenheit von Gott, und kann deshalb mit stereotypen Epitheta ausgestattet werden. Das Tier lebt in den Tag hinein. Es hat seinen eigenen Lebenskreis. Jedes ist eine Welt für sich und vermag sich als solche auch gegen die Monarchie des Löwen zu behaupten. So ist denn Reineke Fuchs tatsächlich ein neuer listenreicher Odysseus. Und wundern kann es uns nicht, daß er in Tiergestalt Auferstehung feiert. Die Menschen nämlich sind anders geworden. Die Tiere aber sind geblieben, was sie waren von Anbeginn.   Neben den Tieren wären dann weiterhin die Kinder und Toren zu nennen, Till Eulenspiegel, und was an Schalksnarren sonst in Epen sein Wesen treibt. Sie kennen keine Verantwortung gegenüber dem, was allgemein gilt, so wenig wie die homerischen Helden, die leben und handeln nach eigenem Sinn. Wenn so die Komik des Naiven in die Nähe des Epischen rückt, so darf uns das wohl kaum beirren. Auch Homer, sobald wir ihn mit unserm modernen Bewußtsein lesen, nötigt uns oft ein Lächeln ab. Er selber lächelt freilich nicht, wenn die Götter sich zanken oder Zeus seine Neigung zu den Troianern mit dem Wein und Gedüft begründet, das Priamos ihm gespendet hat. Wir aber lächeln, weil es uns von mühsameren Gottesgedanken entspannt, weil überall das homerische Epos von Sorgen der modernen Kultur und Anstrengungen des Geistes befreit.   In der klassischen Epoche des deutschen Schrifttums blüht, begünstigt von Vossens Homerübersetzung, das Epos abermals auf. Die «Luise» von Voß, Goethes «Hermann und Dorothea», Hebbels «Mutter und Kind», die «Idylle vom Bodensee» von Mörike stehen in vorderster Reihe. Die Technik des Vortrags ist bis ins Einzelne der homerischen nachgebildet. Neu sind aber die Gegenstände. Die Dichter wählen idyllische Themen. Nur im Idyll vermögen sie noch die Selbständigkeit der einzelnen Glieder des Lebens einigermaßen zu wahren. Träten sie aus dem Idyll heraus, in das weite Feld der modernen Geschichte, der großen politischen Institutionen, so würde ihre homerische Technik an den Gegenständen zuschanden. Wo alles mit allem durch die genaueste Organisation verflochten ist, der einzelne Bürger mit dem Staat, der Staat mit dem Recht und der öffentlichen Moral, Moral und Recht mit der Religion, da ließe sich in parataktischer Darstellung überhaupt nichts mehr fassen. Nur die sorgfältigste Abstraktion von allem, womit der Tag eines Menschen des letzten Jahrhunderts unübersehbar verflochten ist, erlaubt eine klassizistische Epik, deren Ängstlichkeit der einzige Goethe zu besiegen oder zu verbergen gewußt hat.   Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den Rahmen einer Idylle, weicht auch «Hermann und Dorothea» vom Stil der homerischen Epik ab. Goethe selber hat das ständige, wenn auch sanfte Vorwärtsdrängen, das Fehlen retrogradierender Motive als unepisch bezeichnet. Und wenn Schiller in seinem Brief vom 26. Dezember 1797 von der «Enge des Schauplatzes», von der «Sparsamkeit der Figuren», dem «kurzen Ablauf der Handlung» spricht und in solcher Konzentration eine Hinneigung zur Tragödie feststellt, wenn er außerdem auf die «innige Beschäftigung des Herzens» und das «pathologische Interesse» hinweist ─ womit, nach unsern Begriffen, nur lyrische Qualitäten gemeint sein können ─ so sehen wir, wie dieses Epos eigentümlich zwischen den Gattungen steht, wie es ─ nicht nur in jenem allgemeinen Sinne, der für jedes Sprachkunstwerk als solches zutrifft ─ am Lyrischen sowohl wie am Epischen und Dramatischen Anteil hat. Dasselbe gilt nun aber auch von der «Achilleis», wo Goethe wieder eine zielstrebige Handlung wählt und wo die Liebe des Helden zu Polyxena eine so ausgeprägt lyrische Episode gebildet hätte, daß es kaum möglich gewesen wäre, ihr mit homerischen Versen und homerischer Technik gerecht zu werden. Dafür neigt die «Iphigenie auf Tauris», wie Schiller in demselben Brief bemerkt, zum Epischen. Und wenn wir erwägen, daß in den Gedichten, sogar in vielen Liedern Goethes, das Motiv, das Vorstellbare, eine bedeutende Rolle spielt, daß andrerseits selbst «Wanderers Nachtlied» und das Lied «An den Mond» von einem zusammenfassenden Schluß gekrönt werden, so geht uns auf, daß Goethes Wesen in ausgezeichneter Weise an allen drei Gattungsideen beteiligt ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß seine dichterische Kraft organisch bildet. Ein Organismus ist, nach der Deutung in Kants «Kritik der Urteilskraft», ein Gebilde, dessen Teile Selbstzweck zugleich und Mittel sind. Die Selbständigkeit der Teile entspricht dem Gattungsgesetz des Epischen, die Funktionalität der Teile dem Gattungsgesetz des Dramatischen, die individuelle Modifikation des organischen Typus dem Lyrischen, das immer zufällig und individuell ist. Es wäre gut, den Begriff des Organischen künftig wieder in diesem unzweideutigen Sinne zu gebrauchen und ihn nicht wahllos als ästhetisches Wertprädikat herumzubieten.   Endlich kommen wir in diesem Zusammenhang noch auf Spitteler, den Dichter, der es bewiesen hat, daß seine Kraft im Epischen lag, der im «Olympischen Frühling» ein umfangreiches Epos geschaffen hat, das nicht übersehen werden darf, wie sehr uns auch ein eigentümliches Unbehagen anwandeln mag. Bei allen Bedenken und Zweifeln, die sich zumal auf Spittelers Sprache beziehen, läßt sich doch nicht verkennen, daß hier epische Züge wahrnehmbar sind von einer Deutlichkeit und Reinheit, wie sonst in keiner neueren Dichtung. Eine leuchtende, überwältigende Bilderfülle schlägt uns entgegen. Alles ist sichtbar, nicht nur die ungezählten Dinge und Götterwesen, sondern auch jene Welt, die uns als innere, unsichtbare gilt; seelische Regungen, Leidenschaften, alles nimmt körperliche Gestalt an. Und bis hinunter zum Unscheinbarsten behauptet ein jedes sein eigenstes Dasein. Ursprungssagen, Vorgeschichten, ausführlichste Beantwortungen der alten epischen Frage «Woher?» überraschen den Leser und machen sich breit, unbekümmert um das Ziel, dem die Erzählung als Ganzes zusteuert. Die Dichtung besteht aus Episoden, die sich weglassen, vermehren ließen. Die Haupthandlung scheint auch hier nur ein Vorwand, um möglichst viel Einzelnes anzubringen. Einen Schluß hat der Dichter, nach seinem eigenen Geständnis, nicht gefunden. Der Schluß rückt, mit Schiller zu reden, in seiner Dignität sehr nahe zum Anfang, der wiederum nicht als Exposition, weil er irgendwo hinführt, sondern um sein selbst willen interessiert.   Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft mit Homer ─ die, wie alles Gattungsmäßige, kein Werturteil begründen kann ─ fällt hier besonders ins Gewicht. So darf auch noch von manchen Unvereinbarkeiten die Rede sein, von topographischen Widersprüchen zum Beispiel, die es verbieten, alle Aussagen über den Olymp und das Menschenland in ein Ganzes zusammenzudenken. Man sieht sich gezwungen, mit einer Art naiver Sorglosigkeit zu lesen, obwohl dann Spitteler andrerseits wieder durch allegorische Anspielungen Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle der Dichtung stört.   Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte Spannung in die Zukunft verliert, die Idee des Fortschritts, die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels dialektische Spirale. Die Antwort auf ein «Wozu?» bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die völlige Zwecklosigkeit des Daseins bei jeder Gelegenheit betont. Hängt nicht damit die Wiederkehr eines echten epischen Stils zusammen? Die Umwelt des Dichters freilich gibt ihre neuzeitliche Beschaffenheit nicht preis. So kann denn das neue Epos auch nichts mit ihr zu schaffen haben. In schroffstem Gegensatz zu Homer baut Spitteler eine ersonnene, erträumte Welt der Schönheit auf und erfindet Mythen, die keinen Kreis, geschweige denn ein Volk angehen. Ja, bei diesen Mythen bleibt er sogar auf die Namen und Charaktere der griechischen Götter angewiesen, was nun mit aller Schärfe die Bodenlosigkeit einer wirklich epischen Dichtung in unseren Tagen beleuchtet.   Künftiger Forschung bleibt es vorbehalten, diese historischen Andeutungen gehörig auszuführen. Hier dienen sie nur der Erkenntnis Homers, der Einsicht, daß epische Dichtung in seinem Sinne nicht wiederkehren kann. Das Epische selber freilich bleibt «aufgehoben» in aller Poesie als unentbehrliches Fundament. Sogar der Lyriker findet nur Worte, weil sie der Epiker ausgesprochen (vergleiche Seite 223). Erst recht baut sich alles Dramatische auf dem festen Grunde des Epischen auf. DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG D ie Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen Stils vom Wesen der Bühne abzuleiten und hoffen, nachdem die Theorie des Epos und erst recht der Lyrik wenig praktischen Nutzen verspricht, doch auf dramatischem Gebiet den Dichter beraten und fördern zu dürfen. Nun ist kein Zweifel, daß jeder Dichter, der Bühnenstücke zu schreiben gedenkt, sich eine genaue Kenntnis der Möglichkeiten der Bühne verschaffen muß und daß der Rat des Erfahrenen den Weg zum Ziel beträchtlich abkürzt. Allein, die Bühne eignet sich für ganz verschiedene Dichtungsarten. Ein modernes Gesellschaftsstück, das ganz im Dialog aufgeht, entspricht ihr nicht minder als eine barocke Zauberoper, in der das Wort eine untergeordnete Rolle spielt; ein vaterländisches Festspiel mit lebenden Bildern bewährt sich in ähnlichem Raum wie eine Tragödie von Sophokles. Doch niemand würde es wagen, all dies ohne Wahl «dramatisch» zu nennen, während die Bühnenfähigkeit nicht wohl bezweifelt werden kann. Andrerseits gibt es eine dramatische Poesie von höchstem Rang, die auf der Bühne nicht gedeiht oder gar nicht für die Bühne bestimmt ist, zum Beispiel die Novellen, aber auch einige Dramen von Heinrich von Kleist, bei denen das Geschehen nicht die nötige Schaubarkeit gewinnt. «Bühnenmäßig» und «dramatisch» bedeutet also nicht dasselbe. Indes, es widerspräche aller überlieferten Terminologie, wenn man den engsten Zusammenhang der beiden Begriffe leugnen wollte. Wäre er etwa so zu finden, daß das Dramatische nicht vom Wesen der Bühne her verstanden wird, sondern umgekehrt die historische Einrichtung der Bühne aus dem Wesen des dramatischen Stils? Phänomenologische Betrachtung läßt nur diese Deutung zu. Aus dem Geist dramatischer Dichtung ist die Bühne erschaffen worden, als einzig gemäßes Instrument für eine neue Poesie. Dies Instrument aber, einmal vorhanden, steht nun auch für andere dichterische Intentionen zur Verfügung und wird im Lauf der Jahrhunderte aufs mannigfaltigste ausgewertet. Im Folgenden soll dies deutlicher werden. Hier stehe es nur als Erklärung, warum der Abschnitt nicht mit der Bühne beginnt, sondern sich zunächst, obzwar in ständiger Fühlung mit dem Drama, zwei Arten des spannenden Stils zuwendet, die auch außerhalb der Bühne möglich und berechtigt sind, dem Pathos nämlich und dem Problem. 1.   Die Sprache des Pathos könnte leicht mit der lyrischen Sprache verwechselt werden. Ähnlich wie der lyrisch Gestimmte steht auch der pathetisch Erregte manchmal als Einzelner da und gibt in unmittelbaren, oft nur gestammelten Worten seine Bewegung kund. Im Drama verwandelt sich der regelmäßige Vers des Dialogs auf Höhepunkten des Pathos nicht selten in kompliziertere Gebilde, die äußerlich von lyrischen Strophen kaum zu unterscheiden sind, so in den Kommoi des Sophokles oder in einigen Monologen Corneilles. Und wie der lyrische Dichter den Satz in Satzfragmente, ja sogar in einzelne Wörter auflösen kann, zerstört auch der Pathetiker oft grammatische Zusammenhänge und springt in seiner Rede gleichsam von einem Gipfel zum andern hinüber. Ὦ πασᾶν κείνα πλέον ἁμέρα ἐλθοῦσ' ἐχθίστα δή μοι · ὦ νύξ, ὦ δείπνων ἀρρήτων ἔκπαγλ' ἄχθη · O, der mir anbrach, jener Tag, Mehr denn alle feindlichster mir! Nacht! Unsäglichen Gelags Schreckliche Leiden!» (Sophokles Elektra 201-4) «Père, maitresse, honneur, amour, Noble et dure contrainte, aimable tyrannie ...» (Corneille, Cid I, 3)   «Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel! Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Verdammnis geflochten ─ Augen in Augen wurzelnd ─ Haare zu Berge stehend gegen Haare ─ auch unser hohles Wimmern in eins geschmolzen ─ und jetzt zu wiederholen meine Zärtlichkeiten, und jetzt ihr vorzusingen ihre Schwüre ─ Gott! Gott!» (Schiller, Kabale und Liebe IV, 4)   Man hat das Pathos darum nicht selten der lyrischen Gattung zugeordnet, von anderem Standpunkt aus mit Recht, da Pathos und Lyrik, wie in der Ode, leicht ineinander übergehen und eine neue, in eigentümlicher Spannung gehaltene Einheit bilden Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, S. 23─24. . Nachdem wir jedoch die Idee der Lyrik in einem sehr bestimmten Sinn so rein wie möglich herausgestellt haben, sind wir gezwungen, das Pathos als eine besondere Gattung anzuerkennen. Ist die Ordnung des Ganzen sinnvoll, so kann uns ein solcher Zwang nur willkommen und klaren Begriffen förderlich sein.   Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch auseinanderzusetzen. Πάθος wird in den Wörterbüchern mit «Erlebnis, Unglück, Leid, Leidenschaft», aber auch noch mit vielen anderen Ausdrücken übersetzt. Cicero meint De finibus bonorum et malorum III, 10. , er müßte streng genommen «morbus» dafür sagen, zieht aber dann den angemesseneren Ausdruck «perturbatio» vor. ─ Damit kommen wir nicht weit. Wir sehen wohl, daß ein Unglück im Drama Pathosszenen auslösen kann und daß sich die Leidenschaft oft in pathetischen Worten und Gebärden äußert. Aber die tiefe Leidenschaft von Goethes Tasso ist nicht pathetisch, und ein Unglück wie das von Hauptmanns Fuhrmann Henschel wirkt gerade durch seine unpathetische Stille.   Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden. In der Nikomachischen Ethik (B, 4) wird die menschliche Seele eingeteilt in πάθη, δυνάμεις und ἕξεις . Πάθη bezeichnet die «Leidenschaften», im allgemeinsten Sinne des Worts. Der Mensch wird durch Leidenschaften bewegt. In der Rhetorik ( Γ , 7) verlangt Aristoteles deshalb von einer guten Rede, daß sie sachgetreu, den Verhältnissen angemessen und außerdem «pathetisch» sein, das heißt, auf Leidenschaften wirken und so den Menschen bewegen müsse. Auch die Möglichkeit des leeren Pathos wird schon angedeutet:   «Die Hörer teilen das Pathos ( συνομοιοπαθεῖν ) des pathetischen Redners, auch wenn er nichts sagt. Deshalb überwältigen viele ihr Publikum mit bloßem Lärm.»   Nun wird uns klar, daß sich unser moderner Ausdruck vom griechischen unterscheidet. Wir verstehen unter Pathos nicht so sehr die Leidenschaft selbst, als vielmehr die pathetische Rede, die Leidenschaften, πάθη , erregt. Allein, auch mit dieser Erklärung können wir uns noch nicht zufrieden geben. Pathetische Rede, die uns bewegt, scheint nun erst recht in die Nähe der bewegenden lyrischen Sprache zu rücken. Von den Griechen dürfen wir hier wohl keine Auskunft mehr erwarten. Alles, was bewegt, aus dem Maß und der Ruhe des Geistes rückt, ist für sie in gleicher Weise «patho»- logisch. Sie haben keinen Anlaß, zwischen Lyrik und Pathos zu unterscheiden. Für uns aber spitzt sich die Frage so zu: Wie unterscheidet sich die pathetische von der lyrischen Bewegung?   Das Lyrische, wurde gesagt, erweicht (Seite 75). Es war die Rede von lyrischem Schmelz. Das Schmelzende wird uns eingeflößt als eine flüssige Substanz, die alles Feste löst und unser Dasein in seinem Fluß mitträgt. Die Wirkung ist unmerklich, innig. Sie setzt das Einverständnis einer gleichgestimmten Seele voraus. Wo dies Einverständnis fehlt, geht sie vorüber und ist nichts.   Das Pathos wirkt nicht so diskret. Es setzt einen Widerstand voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit, und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen. Aus dieser ganz anderen Situation sind alle Stilmerkmale verständlich. Das Pathos wird nicht eingeflößt, sondern eingeprägt oder eingehämmert. Der Satzzusammenhang löst sich nicht, wie in lyrischer Dichtung, träumerisch auf. Sondern alle Kraft der Rede ballt sich in einzelnen Wörtern zusammen, so schon in dem παρακοπά , παραφορά, φρενοπλανής der Aischyleischen Eumeniden, so auch in Don Diegos Monolog im «Cid», wo neuere Orthographie erlaubt, durch Ausrufezeichen den ganz unlyrischen Sinn der Worte sicherzustellen: «O rage! o désespoir! o vieillesse ennemie!» (I, 4)   Ebenso meint die Wiederholung hier nicht hingegebenes Lauschen auf den einen bezaubernden Klang. Das Wort, auf das es ankommt, das die Seele des Hörers erschüttern soll, wird mit der größten Anstrengung des Gemüts immer wieder hinausgeschleudert: «Rome, l'unique objet de mon ressentiment! Rome, à qui vient ton bras immoler mon amant! Rome, qui t'a vu naître, et que ton cœur adore! Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!» (Corneille, Horace IV, 5) Schließlich verbreitet auch die kompliziertere Rhythmik auf Höhepunkten des Pathos keineswegs eine Stimmung. Sie will durch stärkste Schläge, wie ein Gewitter, die Atmosphäre reinigen. Gryphius, dem kaum je ein unmittelbarer lyrischer Ton geglückt ist, leistet hier manchmal Ungeheures, wie in dem Verzweiflungsmonolog der Kaiserin Julia im «Papinian»:   «Götter! schaut ihr dieses an!   Schaut ihr und mögt ruhig sitzen?   Ist kein Strahl der treffen kan?» Waffnet ihr euch nur umsonst mit den Donner-schwangern Blitzen Oder tragt ihr eure Pfeil' auf die Laster-losen Eichen? Oder kan dis Mord-Geschrey nicht an eur Gehöre reichen?     O Weh!     O Ach!   Heilge Themis! Rach! O Rach!   Heilge Themis, wo du nicht   Vor gekrönte taub und blind;   Wo noch iemand Urthel spricht;   Wo noch eine Straffen sind;   Blitze! verheere! zustöre! verbrenne!   Wüte! verderbe! verwüste! zutrenne! Reiß alle Grundfest um, auf die der Mörder baut! Zuschmetter was ihn schützt! zustoß auf was er traut!»                     (II, V. 311 ff.)   Wie willentlich die Musik dieser Verse ist, dürfte niemand verkennen. Kaum ein Leser ist wohl imstande, sie gleich vom Blatt ohne Anstoß wiederzugeben. Er muß beachten, ob ein Vers mit oder ohne Senkung beginnt, und muß mit Bewußtsein von den Trochäen zu den Daktylen, von den Daktylen zu den Jamben übergehen. Das heißt: der Dichter tut ihm Gewalt an; und er will ihm Gewalt antun.   Damit ist bereits gesagt, daß die pathetische Rede, abermals im Gegensatz zur lyrischen Sprache, ein Gegenüber voraussetzt, ein Gegenüber aber, das sie nicht, wie die epische, anerkennt, sondern aufzuheben trachtet, sei es so, daß der Redner den Hörer gewinnt, oder so, daß der Hörer von der Gewalt der Rede vernichtet wird. Als Beispiel sei der «Tell», die Rede Stauffachers auf dem Rütli, erwähnt, wo die Worte «eine große Bewegung unter den Landleuten» auslösen und schließlich alle, emporgerissen zur Begeisterung des Sprechers, an ihre Schwerter schlagen und seine letzten Worte wiederholen: «Wir stehn vor unser Land, vor unsre Kinder.» Ein συνομοιοπαθεῖν , wie es sich vollkommener nicht ereignen könnte!   Selbst wo ein Einzelner ohne bezeichneten Hörer sich pathetisch äußert, der tragische Held im Monolog zum Beispiel, aber auch der Dichter in eigener Person wie Gryphius, Schiller in ihren gedankenlyrischen Versen, bleibt das Gegenüber immer noch selbstverständlich vorausgesetzt, nicht nur in dem Sinn, daß auch solche Verse nach Rezitation vor einem Publikum verlangen, sondern in dem entscheidenderen, daß hier der Redner sich selbst zuspricht und mit höheren Kräften das Niedrige seines Daseins verdammt oder überredet.   Dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer Rede Gewalt. Wenn das Pathos aber echt ist, erleidet auch der Redner Gewalt. Darunter verstehe ich nicht eine unheilvolle Situation, in der sich der Redner vielleicht gerade befindet, nicht die Not der Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns, der Julia im «Papinian» bedrängt. Aus solchen Leiden braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt, die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit. Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit. Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede drängt, ist die Macht.   Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden. Liebe, Machtgier ─ das ginge noch an. Aber Freiheit, Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen, das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und die er dann allerdings «mit» Leidenschaft vertreten kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen, das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen, was wirklich werden soll. Nur darum vermag er auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist. Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was? das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes Ideal gesetzt.   Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff entzünden. Aber es ist nicht angewiesen auf die Vermittlung des Begriffs. Es ist eine unmittelbare Bewegung, die sich selbst in ihrer Herkunft und Richtung nicht zu verstehen braucht. Im Unterschied zur lyrischen Bewegung aber hat sie beides, eine Herkunft und ein Ziel. Der pathetische Mensch, so müssen wir sagen, ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung ist gerichtet wider das Bestehende.   Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle großen Pathosszenen daraufhin zu überprüfen. Das Pathos der politischen Rede fügt sich ohne weiteres ein. Das Pathos des Schmerzes scheint ohnmächtig. Doch was hier sein soll, ist die Anerkennung des ungeheuren Leids, im Helden selbst und allen, die ihm nahen, die Höhe des Bewußtseins, das den Schmerz erfassen muß. Welche andere Bedeutung hätte sonst die Ungeduld im Pathos der Antigone und in den Schreien Philoktets? In den Fürsten der Barocktragödien erscheint der pathetische Anspruch in Person. Sie drücken ihre Umgebung hinab und weisen über sich hinaus auf den göttlichen Ursprung ihrer Macht.   Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was im Pathos bewegt. Oder, von der andern Seite aus gesehen, das Pathos ist erhaben. Die Höhe erscheint als Wesenszug. Wir sprechen darum vom «hohen» Pathos. Wenn wir aber sonst die Begriffe «hoch» und «tief» vertauschen können und zum Beispiel sagen, etwas sei uns zu hoch, wenn es zu tief ist, so reden wir nie von tiefem Pathos. Und der Ausdruck «niederes» Pathos wäre völlig unangebracht. Wollen wir eine pathetische Rede tadeln, so nennen wir sie gestelzt. Wir deuten damit einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals los.   So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären, zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein». Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden, auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich, als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch nicht ist.   Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde Rhythmus, der von der Spannung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung, und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende, Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh ist! «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener Tag war! «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten» werde ich sein ─ will Ferdinand sagen, wenn er sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein», das wird in allem Pathos intendiert, die Wirklichkeit im Gefüge des Bewußtseins oder der Realität, die jetzt, beim Sprechen, noch nicht erreicht ist.   Außer der Sprache gehört zur pathetischen Äußerung aber auch die Gebärde. Wir kennen die zum Himmel gereckten Arme, die den auf die Erde gestellten Menschen überhöhen und den unsichtbaren Ursprung der Bewegung beteuern ─ Stauffacher spricht den Sinn der Gebärde aus: «Wenn unerträglich wird die Last ─ greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte ...» Ebenso Antigone, die sich auf der Götter Satzung beruft. Aber auch Medea oder Hekabe, die schmerzzerrissen die Arme reckt und die Hände ringt, will irgendetwas herniederziehn ─ sie weiß nicht was, sie findet es nicht. Was sein soll, kann sie noch nicht fassen. Und doch bewegt sie die Gewalt dessen, was geschehen, was eintreten muß von oben her aus dem Bereich des Möglichen. Diese Gebärde gleicht darum der Gebärde des flehentlichen Gebets. Andere pathetische Gebärden sind gegen die Hörer gerichtet: die Hand, die einen horizontalen demonstrativen Bogen von der Brust des Sprechenden weg beschreibt und Raum schafft für die Intention, die Finger, die geballten Fäuste, die den Begriff wie ein Ding ergreifen und einschlagen in die bestehende Welt.   Wer aber so spricht und sich so gebärdet, der kann sich nicht wie ein schlichter Erzähler mitten unter den Hörern aufhalten. Er muß von ihnen irgendwie geschieden und unterschieden sein, auf einem erhöhten oder anders ausgezeichneten Podium stehen, Kothurn und Maske tragen oder über eine Rampe hinweg die Masse des Publikums erschüttern. Die Bühne in irgendeiner Form, und sei es nur die Rednerbühne, wird vom pathetischen Stil mit unausweichlicher Konsequenz gefordert. Der erste Mensch, der auf einen Stein, auf eine Erhöhung gesprungen ist, um einigen Leuten zuzusprechen, um ihnen zu zeigen, daß er voraus sei, hat schon die Bühne vorbereitet. Die Rampe, oder was immer es sein mag, läßt die Täuschung nicht aufkommen, daß bereits Einigkeit bestehe, wenn der Redner zu sprechen beginnt. Augenfällig zeigt sie, was noch geleistet werden, wie weit der träge Hörer sich noch erheben muß; sie aktiviert die pathetische Kraft. Wenn neuere Theaterdichter also die Rampe beseitigen wollen, so heißt das nur, daß ihnen der Sinn für die pathetische Rede abgeht, daß sie vom Theater anderes, vielleicht gar lyrische Wirkungen oder epische Schaustellungen erwarten. Auch auf diese Weise können bühnenfähige Stücke entstehen. Und manches ist hier möglich, was sich in pathetischer Dichtung verbietet: psychologische Feinheit in der Mimik zum Beispiel, in der Stimme, zarte Andeutungen im Dialog. Dergleichen büßt über die Rampe hinweg, je schroffer sie ist, an Wirkung ein. Goethes «Tasso», die Dramen Ibsens sind nur als Kammerspiele möglich. Wenn die Rampe auch da noch, obgleich nur als schmale Linie, bestehen bleibt, so ist ihr stilistischer Wert verändert. Sie scheidet die Welt des künstlerischen Scheins von der Wirklichkeit und darf darum gerade nicht überspielt werden. Der pathetische Mime dagegen will die Rampe überspielen. Je schärfer sie scheidet, je weiter sich der Raum des Profanen, des Publikums dehnt, desto gewaltiger ist sein Triumph. Zu verlieren hat er nichts. Denn der pathetische Held ist psychologisch gar nicht differenziert. Das eine Pathos beherrscht ihn ganz. Schmerz, Glaube, Machtgier sind von grandioser Eindeutigkeit und brennen alles andere, was die Seele bergen könnte, aus. Das Pathos verzehrt die Individualität. Von der Besonderheit seines Daseins weiß der Hingerissene nichts. Stauffacher auf dem Rütli läßt den Biedermann von Steinen, der sein Los beklagt, weit hinter sich. Polyeucte kümmert sich nicht um sein Haus, um seine private Existenz und kennt nur eines, als Zeuge christlichen Glaubens in den Tod zu gehen. Unmißverständlich stellt Sophokles den pathetischen neben den nüchternen Menschen: Ismene und Chrysothemis bedenken ihre Herkunft, ihr Geschlecht, ihre Verletzlichkeit. Elektra und Antigone sind rücksichtslos in jedem Sinn und einzig belebt von ihrem Ziel.   Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit fragwürdige, schillernde Tiefe des Menschen vermissen. Doch hier geht es ja gar nicht um das Wirkliche, sondern um das, was sein soll. Wenn dies irgend Anspruch auf Verwandlung des Bestehenden macht, so muß es selbst und müssen, die ihm dienen, unwahrscheinlich sein ─ innerhalb einer Grenze freilich, welche die Ahnung eben noch als Möglichkeit des Menschen erreicht. Dem Publikum, den übrigen Gestalten des Dramas, sogar sich selber kommen die pathetischen Helden unwahrscheinlich vor. Antigone in ihrem Schmerz vergleicht sich nicht mit andern Jungfrauen Thebens, sondern mit Niobe, die auf den Höhen des Sipylos vor Schmerz zu Stein geworden ist. Marwood bei Lessing kündigt sich als «eine neue Medea» an. Nur die einfachgroßen mythischen Urgestalten der πάθη werden der Höhe des Bewußtseins gerecht.   Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die Umwelt, das Milieu, das Atmosphärische geht ihn nichts an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch für den Dichter nicht. In der antiken Tragödie und im Drama der französischen Klassik fehlen die Szenenangaben ganz. Es gibt dafür freilich historische Gründe, die aber entbehrlich sind für eine rein ästhetische Würdigung. Der blaue Himmel über der Szene oder die prächtige Architektur sind dem pathetischen Stil eines Sophokles oder Corneille einzig gemäß. Nur in solchen unbeengten Räumen konnte der Dichter es wagen, zu jenen ebenso mächtigen wie einfachen Vorgängen auszuholen, bei deren Anblick ein ganzes Volk oder eine ganze Gesellschaft über sich selbst emporgerissen wurde.   In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende Kraft. Es bewirkt, mit Schiller zu reden, eine gewaltige «Präzipitation». Manche antike Tragödien können der Handlung fast entraten und dennoch unwiderstehlich präzipitieren. In der «Elektra» zum Beispiel erfolgt die einzige Tat erst ganz zuletzt. Aber Elektra und Orest sind so bewegt von dem, was sein soll, Klytaimnestra fürchtet es so, daß die magnetische Kraft des Endes über alle Begriffe geht. In den «Persern» ist das einzige Ereignis die Nachricht von der Niederlage bei Salamis. Aber die Angst vor dem Bericht und, wie er eintrifft, die Bemühung, das Entsetzliche zu fassen und auf die Höhe des Schmerzes zu kommen ─ eines persischen Schmerzes, der für die Hörer der größte Jubel ist ─ dies alles drückt das Gegenwärtige in jedem Augenblick so herab und arbeitet sich so rastlos vorwärts, daß das Werk an Spannung jedes moderne Intrigenstück weit übertrifft. Dann, wenn die Höhe des Schmerzes erreicht ist, sagen die griechischen Tragiker wohl \̔Αλις, ἀποπαύεσθε νῦν , «Lasset nun ab, es ist genug». Die Leere des Pathos ist aufgefüllt. Es steht nichts mehr aus. Die Gestalten des Dichters sowohl wie die Zuschauer sind am Ziel. 2.   Wir haben vom Pathos aus einen Weg zum Verständnis der Bühne zu finden geglaubt. Freilich wurden dabei nur bestimmte Möglichkeiten der Bühne sichtbar. Es gibt indes auch eine unpathetische spannende Poesie. Die ersten Proben, die wir betrachten, haben nichts mit dem Theater zu tun. Nach einem längeren Umweg aber wird sich hier ein zweiter Zugang zur Bühne öffnen. Ich beginne mit einer kleinen belanglosen Verserzählung von Lessing:   « Faustin Faustin, der ganze funfzehn Jahr Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war, Ward, von dem Wucher reich gemacht, Auf seinem Schiffe heimgebracht. «Gott», seufzt' der redliche Faustin, Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern' erschien, «Gott, strafe mich nicht meiner Sünden Und gib mir nicht verdienten Lohn! Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn Gesund und fröhlich wieder finden.» So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder. Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh. Er fand sein Weib und seine beiden Kinder, Und ─ Segen Gottes! ─ zwei dazu.»   Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur um der Schlußzeile willen erzählt wird. Ohne diese Pointe hätte das Ganze keinen Wert. Wir lesen von Anfang an in Erwartung eines Ziels. Wir sind gezwungen, so zu lesen, weil uns nichts Einzelnes fesselt. Die Ungeduld verschärft sich nach dem Gebet, wo das «Er» am Verseingang wiederholt wird, und erreicht nach «Segen Gottes!» den Gipfel: Zwei Worte nur bleiben, die das Ganze retten müssen. Sie fallen; wir sind überrascht und blicken vergnügt auf das Ganze zurück. Erst jetzt erkennen wir, warum Faustin sich durch Wucher bereichern muß. Wir dürfen am Schluß dem Lachen zulieb kein Mitleid empfinden, und Gottes witzige Gnade besteht gerade darin, daß die Frau mit ihrem Pfunde gewuchert hat. Vom Ende aus sind alle Einzelheiten des kurzen Gedichts bestimmt. Der Zweck des Dichters liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung, auch nicht in der Art Bewegung, wie in der Lyrik, sondern in ihrem Ziel. Alles kommt ─ im wahrsten Sinne des Wortes ─ auf das Ende an.   Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein, so zu verfahren. Er ist ein Meister des Epigramms, von dem er behauptet, daß es sich in «Erwartung» und «Aufschluß» gliedern müsse und daß der erste Teil, die Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite, der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck gewinne. Als Muster nennt er Martial: «Quod magni Thraseae consummatique Catonis   Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis; Pectore nec nudo strictos incurris in enses,   Quod fecisse velim te, Deciane, facis. Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam:   Hunc volo, laudari qui sine morte potest.» (I, 9) Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken «kommt» alles «an».   Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern den Geist an.   Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen glaubt.   «Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen zu können, muß sie so kurz sein als möglich Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker, 7. Bd., Stuttgart 1891, S. 470. .»   Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die Fabel von den Sperlingen so:   «Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein, sie fanden sie alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen.»   Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich ausgestattet und uns mit einer Schilderung des Gebäudes sowohl wie der Vögel entzückt. Lessing legt nur Wert darauf, die Relativität des Zwecks oder vielleicht den Unterschied von Nutzen und Schönheit einzuprägen. Asketisch läßt er alles weg, was nicht unmittelbar dieser Absicht dient. Lafontaines Fabeln scheinen ihm ─ bei aller Pracht ─ ins Epische entartet zu sein.   Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil anschließen wollen und nennen das Beispiel nur, weil es unübertrefflich den Stilunterschied erklärt. Dichtungen, wie sie uns hier begegnen, dürfen wir weder episch noch pathetisch oder lyrisch nennen. Sie lassen sich auch nicht, wie die Ballade oder die Ode, als «gemischte» Arten interpretieren. Sie sollen «problematisch» heißen, indem wir den Ausdruck «Problem» in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen, wonach er das «Vorgeworfene» meint, das Vorgeworfene, das der Werfende in der Bewegung einholen muß. Der Vorwurf in der Fabel Lessings ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit, der Vorwurf in Martials Epigramm die Sentenz von der Tugend in Leben und Tod, und im «Faustin» die Pointe mit dem unerwünschten Segen Gottes. Zu diesem Vorwurf muß ein Ausgangspunkt der Bewegung gegeben sein. Das Gedicht durchmißt die gerade Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel.   So geschieht es im idealen Fall, für den sich am ehesten unter den Epigrammen Muster finden lassen. Wenn es sich um Erzählungen handelt, so sind, je nach der Beschaffenheit des Stoffs und nach der Neigung des Dichters, alle Stufen von mehr problematischer zu mehr epischer Darstellung möglich. Ja, denselben Gegenstand könnte man sich verschieden dargestellt denken. So zweifelte Goethe, ob sich sein Plan «Die Jagd» für die epische Gattung eigne, ob hier nicht alles zu sehr in gerader Linie vom Anfang zum Ende gehe, worauf ihn Schiller mit dem Hinweis beruhigte, daß nicht bloß der Weg, sondern auch die Art des Gehens dem Belieben des Dichters anheimgestellt sei An Goethe, 15. April 1797. . Wählt der Dichter die epische Gangart, so wird uns seine Erzählung fesseln. Verfährt er dagegen mehr problematisch, so versetzt er uns in Spannung. Spannung wird von der Unselbständigkeit der Teile ausgelöst. Kein einziger Teil ist sich selber oder dem Leser genug. Er bedarf der Ergänzung. Der folgende Teil genügt wieder nicht, er wirft eine neue Frage auf oder fordert ein neues Supplement. Erst am Schluß steht nichts mehr aus und wird die Ungeduld befriedigt.   Von Unselbständigkeit der Teile war aber auch im lyrischen Stil die Rede. Gewiß, doch in anderem Sinn. Teile der lyrischen Dichtung sind unselbständig und nicht aufeinander bezogen. Das zeigte sich grammatisch in den kurzen, auch wenn sie vollständig waren, oft nur durch Komma getrennten Sätzen (Seite 42). Hier dagegen sind unselbständige Teile aufeinander bezogen. Der Anfang hat vielleicht den Charakter eine Prämisse, das Ende den einer Konklusion. Es ist nicht nötig, diese Beziehung auch grammatisch auszudrücken. Der Dichter kann Hauptsatz an Hauptsatz reihen und es dem Leser überlassen, den rechten Zusammenhang herzustellen. Drückt er ihn aber aus, so werden die Konjunktionen in seiner Sprache eine bedeutende Rolle spielen. «Um zu, weil, damit, dergestalt daß, infolgedessen, obgleich, zwar, wenn»: das ganze System der konzessiven, konsekutiven und zumal finalen Fügungen drängt sich hervor. Die epische Parataxe wird von der weitläufigsten Hypotaxe verdrängt, wie in den Novellen Kleists, die an Problematik ein Äußerstes riskieren und manchmal fast den Eindruck erwecken, der Dichter möchte am liebsten die ganze Geschichte in einem Satz erzählen, so, daß sich auch grammatisch kein einziger Teil mehr bloß an den andern anschließt, sondern der Stellenwert jedes Motivs in der logischen Ordnung genau fixiert ist Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, S. 82 ff. . Ähnlich aufzufassen ist Lessings Prosa mit ihren erregenden Fragesätzen und jenen Doppelpunkten, durch die das Gesagte gleichsam gestaut wird, damit der folgende Satz die größtmögliche Energie eines Schlusses gewinne ─ überhaupt die ausgiebige Interpunktion, wo immer sie uns begegnen mag, bei Lessing, Schiller, Kleist oder Hebbel. Sie zeigt, daß nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.   In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen, zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts Blindes» An Goethe, 2. Oktober 1797. ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen, mit denen wir bisher aus praktischen Gründen das Wesen der problematischen Dichtung erläutert haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis, nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten Momenten» Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797. hervorzuheben. Er wird von Zeit zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das «Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze dunkel bleibt.   Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen, die man von jeher an den dramatischen Dichter gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt. Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen, Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu vermocht. Sogar im deutschen Sturm und Drang, dessen Bühnenwerke doch ganz den Manen Shakespeares verpflichtet sind, fällt Schiller auf, der die Zersplitterung in kurze Szenen vermeidet und schon in «Kabale und Liebe» ein räumlich und zeitlich sehr geschlossenes Stück vorlegt. Der reife Ibsen vollends wählt ein Haus oder einen Raum als Schauplatz, drängt die Handlung in einen Tag oder gar in wenige Stunden zusammen und steht in dieser Hinsicht den griechischen Tragikern ohne äußere Notwendigkeit wieder so nahe wie Corneille und Racine.   Das bedeutet: den Zwang zur Sammlung, den das antike Theater ausübt, heißt auch eine große Gruppe von neueren Bühnendichtern willkommen, offenbar eben jene, welche die problematischen Dichter umfaßt. Sie machen wohl mehr oder weniger von der Möglichkeit des Szenenwechsels Gebrauch und erlauben sich öfter auch, die Handlung über die klassischen vierundzwanzig Stunden auszudehnen. So peinlich wie Corneille setzt sich niemand mehr mit dem alten Gesetz auseinander. Den tieferen Sinn und Wert jedoch, der ihm eigen ist, verkennen sie nicht. Was Goethe im «Götz» aussprechen will, was Shakespeare im «König Lear» verkündet, das läßt sich allerdings besser ohne antikisierende Rücksichten sagen. Doch Corneille, Racine, Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Hebbel, Ibsen: diesen Dichtern ist es gemäß, die Zeit zu verkürzen, den Raum zu verengen, aus einem ausgedehnten Geschehen den prägnanten Moment zu wählen ─ einen Moment kurz vor dem Abschluß ─ und nun von da aus das Viele zur sinnlich faßbaren Einheit zusammenzuziehen, damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: sie konzentriert.   Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt. Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel. Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen aus der Idee des problematischen Stils, wo der Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn, man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes vorbereitet, ein Geschäft, das im griechischen Theater zum Teil dem Chor übertragen ist. Die Akte erleichtern die Übersicht. Sie ziehen eine Art Zwischenbilanz.   Ähnliche Zwischenbilanzen finden sich aber auch innerhalb der Akte. So fassen die Helden und Gegenspieler gelegentlich ihre Meinung, ihren Willen in einer Sentenz zusammen. Lange sehen wir uns das Gegenüber von Max und Wallenstein an, ohne daß es uns restlos klar wird. Wenn Wallenstein dann aber anhebt: «Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit ...» so zieht er eine Summe des Vergangenen und erlaubt uns, dem Kommenden als dem Streit zwischen Idealismus und Realismus entgegenzusehen. Dieselbe Bedeutung können bildhaft einprägsame Vorgänge gewinnen. Wenn Zawisch in Grillparzers «Ottokar» die Zeltschnur durchhaut und dem gesamten Heer den knienden König zeigt, so wissen wir, woran wir sind, wie es um Ottokar, um die Vasallen und um die Macht des Kaisers steht. Wenn Penthesilea den Bogen fallen läßt, so gibt sich der Vorgang als Epoche des Amazonenstaates kund und ruft das entscheidende Gespräch mit Achill in unser Gedächtnis zurück.   Es ist bei diesen Bildern und Vorgängen wesentlich, daß sie etwas bedeuten. Rein epische Bilder bedeuten nichts. Sie wollen für sich betrachtet werden und sprechen allein das Auge an. Die niederfallende Zeltwand dagegen, der klirrende Bogen Penthesileas deutet auf etwas hin, beleuchtet jäh die zurückgelegte Strecke und wirft einen Schein voraus auf den Weg, der dem Dichter und Leser bevorsteht. Wir haben uns etwas dabei zu denken.   Hier leistet nun die Bühne dem Dichter wiederum einen wertvollen Dienst. Weil es nicht darauf ankommt, den Bogen, das Zelt als solches darzustellen ─ so wie Homer den Bogen des Pandaros oder das Zelt Achills beschreibt ─ weil diese Dinge nur da sind, um einen großen Zusammenhang zu enthüllen, schätzt sich der Dichter glücklich, das Schildern in einer Szenenangabe dem Bühnenbildner anvertrauen zu dürfen, und wendet sich gleich zur Diskussion, zur Deutung dessen, was sichtbar ist. Man mache sich diesen Unterschied klar! Wer den Dreißigjährigen Krieg in epischer Weise erzählt, muß Wallensteins oder Gustav Adolfs Erscheinung beschreiben. Er muß die wechselnden Schauplätze schildern, das Schlachtfeld von Lützen, Pilsen, Eger. Der Bühnendichter beschränkt sich darauf, ein Personenverzeichnis zusammenzustellen und über den Aufzug «Eger» zu schreiben. Er fügt vielleicht noch nähere Angaben über das szenische Bild hinzu, nimmt sich jedoch nicht einmal die Mühe, gefällige Sätze zu formulieren. Damit setzt er das Epische zur bloßen Voraussetzung herab. Ebenso faßt es der Zuschauer auf. Wenn sich vor Ibsens «Hedda Gabler» der Vorhang hebt, so weiß er, daß er nun nicht ein schönes Zimmer begaffen, sondern sich überlegen soll, wozu die Bühne so angelegt ist. Am Anfang weiß er noch nicht Bescheid. Erst allmählich geht ihm auf: Ibsen entfaltet die Eleganz, um einen Aufwand sichtbar zu machen, der über Tesmans Kräfte geht. Das Bild des Generals hängt an der Wand, um dem Publikum anzuzeigen, daß die Heldin, Hedda Gabler, an ihren Vater und seine vornehme Lebensweise gebunden bleibt. Durch die Fenster schimmert das farbige Laub des Herbstes, um ihr Gemüt mit Welken und Vergehen zu ängstigen. Der Dichter gibt ihr leicht schütteres Haar, um sie wenigstens in einen Nachteil gegen Frau Elvsted zu setzen und ihrer Eifersucht Nahrung zu geben. Alles ist durch ein «um zu» bestimmt und fordert die Frage «Worumwillen?» So geht es auch in den Gesprächen fort. Jeder Satz, so ungezwungen und zufällig alles aussehen mag, hat seine ganz bestimmte Absicht. Man wäre beinah versucht, zu sagen, zum vollen und sicheren Verständnis sei kein einziger Satz des Stücks entbehrlich. Die Funktionalität der Teile ist bis ins Letzte durchgeführt. Und wenn man zunächst noch annehmen möchte, das Drama laufe auf eine interessante Charakterstudie hinaus, so überzeugt man sich schließlich, daß auch Hedda selber zu etwas da ist, dazu nämlich, die Frage nach dem Wert der bürgerlichen Gesellschaft, nach dem Verhältnis von adliger Einzigartigkeit und durchschnittlicher Ordnung, von unfruchtbarer Schönheit und lebenerhaltender Öde aufzuwerfen. Die Handlung deutet auf ein «Problem» ─ im herkömmlichen Sinn des Begriffs, der aber nur eine Steigerung des «Vorwurfs» im weiteren Sinne bildet. Das ideelle Problem ist das, worauf es in letzter ─ vom Dichter aus gesehen in erster ─ Hinsicht ankommt. Und wie die Sentenzen im Gespräch eine Art von Zwischensumme ziehen, so ließen sich Schlußsentenzen denken, welche das Ganze zusammenfassen oder weitergeben als Frage. Schiller hat sich dazu in der «Braut von Messina» entschlossen, ermutigt durch das antike Beispiel, wo öfter der Chor in der Exodos das erlittene Schicksal den ewigen Gesetzen des Daseins einfügt. Im allgemeinen wird der Dichter jedoch nicht so ausdrücklich verfahren und sich lieber mit einer möglichst umfassenden Gebärde begnügen, von der das Lebendige nicht, wie von einer Sentenz, erdrosselt zu werden Gefahr läuft: so Hebbel in den «Nibelungen», wo Dietrich dem Hunnenkönig die Kronen abnimmt und im Namen des Heilands über die Menschheit zu herrschen verspricht ─ Verheißung, daß die heidnische Welt, auf der die Trilogie, das Denken und Wollen der Helden beruht, zu Ende ist und die christliche Welt aufgeht.   Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen sich erst am Schluß. Wenn der Zuschauer nicht bis zuletzt im Ungewissen bleiben, wenn er sich irgendwie zurechtfinden soll, so muß ihn der Dichter behutsam führen. Er kann ihm gleich von vornherein sagen, wo es hinaus will. Der Prolog des Euripides leistet oft diesen Dienst. Lessing hat dieses Verfahren gerühmt und darauf hingewiesen, daß nur der Stümper meine, das Unerwartete habe im Drama die größte Wirkung. Dennoch dürfte ein Vorbericht aus dem Munde eines allwissenden Gottes nicht eben die beste Lösung der freilich schwer zu lösenden Aufgabe sein. Es handelt sich ja nicht darum, im voraus den ganzen Weg zu verraten, sondern um eine Orientierung, um einen Wegweiser, der uns angibt, ob wir uns rechts oder links halten sollen. Man pflegt zu sagen: Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Solche vorausgeworfene Schatten will der Dichter nach Möglichkeit zeigen, in Vorahnungen, in banger Erwartung, in Zeichen, die noch nichts Bestimmtes, aber doch etwas Unheilvolles oder Erfreuliches ankündigen. Man denke etwa an Appianis Stimmung in der «Emilia Galotti», an Adams Unbehagen in der ersten Szene des «Zerbrochenen Krugs». Mache dich auf das Schlimmste, mache dich auf die Bestrafung des Schurken gefaßt! rufen Lessing und Kleist dem Publikum zu. An Mitteln, die Zukunft vorwegzunehmen, ohne sie doch schon zu enthüllen, bieten sich unzählige an. Der Meister weiß sie gehörig anzuwenden, der Dilettant vergreift sich. Nur sorgsamste Interpretation kann hier das Rechte vom Falschen scheiden.   Immerhin dürfen zwei bewährte Mittel herausgehoben werden. Das eine ist das antike Orakel. Seine gewaltige dichterische Bedeutung, die sich so oft bei Sophokles, am reinsten im «König Ödipus» auswirkt, beruht darauf, daß dem Gott, Apoll, der Ausgang des Schicksals längst bekannt ist, daß aber der Mensch es nicht lassen kann, die Zukunft als ungewisses Ergebnis seiner Freiheit anzusehen. Damit ist beides vollkommen erreicht. Der Zuschauer weiß, worauf es hinaus will. Er kann jedes Wort und jede Gebärde schon auf die letzte Szene beziehen. Zugleich aber plant und hofft er noch mit dem Helden, und um so leidenschaftlicher, als die Untrüglichkeit des Orakels nicht außer allem Zweifel steht ─ ein idealer Fall, der die deutlichste Antizipation der Zukunft mit der lebendigsten Spannung vereint und das mächtig erregende Doppellicht der «tragischen Ironie» ausstrahlt.   Das andere ist Zeugung und Geburt. Das Thema der Gretchentragödie, das Thema von Hebbels «Maria Magdalene» oder von Kleists «Marquise von O.» ist deshalb so ergiebig, weil das Geschehen hier im buchstäblichsten Sinne mit der Zukunft schwanger geht, weil die Zeugung begründet, was zu bestimmter Zeit ans Tageslicht treten und Wirkungen, die man nicht deutlich voraussehen, aber doch ahnen kann, zeitigen wird.   Schließlich hat aber jeder Vorsatz, jedes entschlossene Unternehmen den Charakter einer Zeugung. Der planende, hoffende, handelnde Mensch nimmt immer schon künftiges Dasein vorweg. Und wenn er auch nie gewiß sein kann, ob die Zukunft den Plan, die Hoffnung erfüllt, wenn er sein Handeln dem dunklen Schoß des Schicksals anvertrauen muß, so ist sein Wille doch für den Hörer ein Zeichen, wohin er vorausdenken soll. Darin gründet die Regel, daß der Held eines Dramas tätig sein soll; ein leidender Held sei undramatisch. Ihr Sinn erschöpft sich in der Erkenntnis, daß Künftiges antizipiert werden muß. Wenn dies anderswie gelingt, so mag der Held immerhin leidend sein ─ wie Elektra, Aias, Bérénice, Maria Stuart, Hebbels Klara oder Ibsens John Gabriel Borkmann.   Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos drängt vorwärts wie das Problem. Jenes will, dieses fragt. Wollen und Fragen aber sind eins in einer futurischen Existenz, die, je nach Temperament und Kraft, sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die Fragen eines Problems allzu abstrakt zu werden drohen, so, daß nur die raffinierteste Kunst den Anteil des Publikums sichern kann, so zwingt das Pathos zur Sympathie und drängt die Fragen nicht dem Geist, sondern dem Herzen des Hörers auf. In der antiken Tragödie, im Drama der französischen Klassik, bei Schiller ist die Vereinigung von Pathos und Problem vollkommen. Im «König Ödipus» gar ist das Pathos des Helden mit dem Fragen identisch. Mehr zum Pathos neigt die italienische Oper, während das Drama Kleists, Grillparzers, Hebbels, Ibsens sich auf Probleme konzentriert und mit anderen als pathetischen Mitteln den Anteil an den Fragen zu gewinnen und zu erhalten weiß. 3.   Die Möglichkeit problematischer und pathetischer, oder, um beides in einem zusammenzufassen, dramatischer Dichtung beruht im Grunde darauf, daß der Mensch als solcher sich immer voraus ist. Ich gebe ein Beispiel solchen Vorausseins. Wer irgendetwas als etwas erkennt, ja wer es bloß wahrnimmt, verfügt bereits über einen Sinnzusammenhang, in dem es artikulierbar wird. Derselbe Gegenstand kann zu verschiedenen Sinnzusammenhängen gehören und dem entsprechend Verschiedenes sein. So tritt der Bauer auf sein Land und betrachtet im Hinblick auf den Ertrag die Erde als fruchtbar, die Neigung des Hügels als ungeeignet zur Bepflanzung. Der Offizier betrachtet im Hinblick auf taktische Zwecke dasselbe Land als Schußfeld, als toten Winkel, als Deckung. Der Maler, im Hinblick auf ein Gemälde, sieht große Linien und Farbenkomplexe. Ohne den «Hinblick auf ...», der im voraus gegeben sein muß, sieht keiner etwas. Was der Hinblick auf ... im voraus, «a priori», wenngleich anhand der Dinge erschließt, nennt Heidegger «Welt» Vgl. Vom Wesen des Grundes, 2. Aufl. 1931. In «Sein und Zeit» ist der Weltbegriff noch nicht eindeutig bestimmt. . Wir sprechen demnach von der Welt des Bauern, des Malers, des Offiziers und meinen damit nicht die Summe der Dinge, mit denen sich jeder beschäftigt, sondern die Ordnung, den κόσμος , in dem sich etwas erst als etwas zu zeigen vermag.   Im gleichen Sinne reden wir von der antiken und von der christlichen Welt, der Welt der Bibel, Dantes, Shakespeares. Dasselbe Seiende nimmt sich auch hier in verschiedenen Welten verschieden aus. Der menschliche Körper bei Sophokles ist nicht dasselbe wie bei Dante, obwohl sich in anatomischer, biologischer oder in irgendeiner anderen allgemeingültigen Hinsicht derselbe Gegenstand darstellt. Die Unterschiede je nach verschiedenen Welten sind Unterschiede des Stils Vgl. E. Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, Trivium, Jahrg. III, 1945, S. 189 ff. , so daß wir den Ausdruck «Welt» in ästhetischer Forschung ohne Bedenken mit dem Ausdruck «Stil» vertauschen dürfen. Jeder echte Dichter hat seinen Stil, das heißt seine eigene Welt.   Ist sich dann aber nicht auch der lyrische und der epische Dichter voraus? Dichten nicht auch sie im Hinblick auf ..., und wird nicht auch ihnen alles erst in einer Welt zugänglich, die a priori erschlossen ist und sich an Dingen zeigt und bewährt? Kein Zweifel! Der Lyriker und der Epiker wären sonst überhaupt keine Menschen und redeten keine menschliche Sprache. Wie jeder, der einen Satz ausspricht, beim ersten Wort schon die Fuge, in welche die Worte gehören, erspäht haben muß, so muß auch jeder, der etwas bemerkt, ein Ganzes kennen, worein es gehört. Es gibt für den Menschen nichts Einzelnes. Er ist das ζῷον λόγον ἔχον , das Wesen, das sammelt, zusammenfaßt.   Doch damit geben wir nur wieder zu, daß jede Dichtung als solche an allen Gattungen Anteil haben müsse, so wie in jedem sprachlichen Ausdruck, und sei er noch so primitiv, das ganze Wesen der Sprache beteiligt oder doch mindestens angelegt ist. Wir kennen in Wirklichkeit nur vornehmlich lyrische oder vornehmlich epische und dramatische Poesie. Diese drei Möglichkeiten aber sind nun gerade auch durch ihr Verhältnis zur Welt abgestuft. Der lyrische Dichter weiß nichts von Welt. Er ist auch in dieser Beziehung «weltfremd». Jetzt rührt ihn dies an, jetzt ein anderes. Obwohl ihn nichts berühren, obwohl er nichts Berührendes auffassen könnte, wenn keine Welt erschlossen wäre, so fragt er doch nie nach einem Ganzen und kümmert sich um den Zusammenhang nicht. Den epischen Dichter dürfen wir mit dem Seefahrer oder dem Wanderer vergleichen. Er zieht mit seinem Helden aus, um fremde Länder und Menschen zu sehen. Er befährt den orbis terrarum. Immer wieder Neues begegnet seiner Neugier. Das Alte versinkt wie eine Stadt am Horizont. Doch weil er alles unter dem gleichen, unter seinem Gesichtspunkt betrachtet, findet er wohl, daß alles, was ist, zu ein und demselben Kosmos gehört. Die Inthronisierung des Zeus durch Homer bedeutet, daß die Welt, aus der dem Dichter die Dinge begegnen, in seinem Bewußtsein aufzudämmern beginnt. Zeus ist aber mehr dem Namen nach als faktisch der höchste Gott. Die anderen Götter fechten ihn an, und über ihm, in einem undurchdringlichen Dunkel, waltet Moira. Das heißt, die Welt ist gleichsam noch offen. Die Umrisse stehen für das bewußte Erkennen Homers nicht eindeutig fest, und statt sich zu schließen, verlieren sie sich im Nebel seiner Vergeßlichkeit, die nur nach Neuem begehrt und Unstimmigkeiten, Widersprüche mit leichtem Herzen auf sich beruhen läßt.   Ganz anders der dramatische Geist! Ihm ist nichts daran gelegen, nur immer wieder Neues zu sehen. Sein Interesse bezieht sich weniger auf die Dinge selber als auf das, woraufhin er sie ansieht. Er nimmt sie als Zeichen, als Bewährung oder Verdeutlichung seines Problems. Unter «Problem». verstanden wir den «Vorwurf» im wörtlichen Sinn des Begriffs, das Vorgeworfene, das der Werfende einzuholen berufen ist. Es kann sich dabei um eine hübsche Pointe handeln wie im «Faustin» von Lessing oder um einen moralischen Satz wie in der Fabel Aesops. Im höchsten Sinne handelt es sich um ideelle Problematik. Die «Idee», von der in dramatischer Dichtung so oft die Rede ist, darf keineswegs nur als beliebiger Vorwurf neben anderen gelten. Sie steht in einer aufwärts führenden Reihe am obersten Platz. Die Frage «Worumwillen?» nämlich, die den dramatischen Dichter leitet, kann sich zwar aus Schwäche wohl bei dem und jenem zufrieden geben. Wenn sie jedoch mit Kraft gestellt wird, drängt sie unablässig weiter und findet Ruhe erst, wenn sich ein letzter Sinn des Daseins zeigt. Dieser letzte Sinn, dies letzte Worumwillen ist jene Welt, die immer schon, als unbegriffene Ordnung, das Begehren, das Erkennen, das Fühlen und Handeln bestimmte, sich aber jetzt zur expliziten «Weltanschauung» kristallisiert. So wird dieselbe Welt, die schon in Luthers Sprache dunkel waltet, in Goethes «Faust» zur bewußten Idee Vgl. dazu: Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von Sprachgeschichte und Geistesgeschichte, Zürich 1945, S. 35 ff. . Dieselbe Welt, die Homers Hexameter trägt, erhellt sich zu den Begriffen der vorsokratischen Philosophie.   Auf die bewußt erfaßte Welt hin ordnet der dramatische Dichter die Einzelheiten des Dramas an und rastet nicht, bis alles in der einen Idee zusammenhängt, auf sie verweist und durch ihr Licht vollkommen klar und durchsichtig wird. Was mit der Idee nichts zu schaffen hat, das läßt er als gleichgültig beiseite. Sein Werk wird deshalb, von außen gesehen, ärmer sein als die epische Dichtung. Seine Gestalten haben nicht jene unbekümmerte Vielseitigkeit, die uns an homerischen Helden entzückt. Die vielen Geräte, die bei Homer herumstehen, die Waffen, die Pferdegeschirre, die Krüge und Becher sind verschwunden, sofern nicht ein Gerät zufällig, wie der zerbrochene Krug bei Kleist, als corpus delicti in Frage kommt oder anderweitig bedeutsam wird. Dem Essen und Trinken wird in der Regel keine Beachtung mehr geschenkt. Der Dramatiker sieht darüber hinweg, wie über alles, was nichts mit dem, worauf es ankommt, zu schaffen hat.   Insofern gleicht er dem Richter, dem ein Fall zur Beurteilung vorgelegt wird. Der Richter wird bestrebt sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen. Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft. Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft, ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht. Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus, bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein feststand, kommt alles an.   Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische und problematische, finden sich auch unter diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen. Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß, entschließt sich und schreitet sodann zur Tat. Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt. Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden oder mildernden Umständen etwa in Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert. Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.   Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter; die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie erscheint nicht selten der Fürst, um den Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug», hat das alte Thema ins Komische gewendet und im «Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen, «eulengleichen» Richter genommen und einem höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen wie für die Akten eines Prozesses.   Nicht die Vollkommenheit (das heißt die stilistische Einstimmigkeit) eines Dramas, wohl aber sein Rang, seine tiefere Bedeutung ist mitbestimmt durch die höchste Instanz, vor die der Prozeß gezogen wird. Ein Kotzebue, ein Wildenbruch gibt sich bereits mit niederen Instanzen, dem Staat, der Wohlfahrt der Gesellschaft, zufrieden. Bei den Griechen spielt sich alles unmittelbar vor den Göttern ab. Doch manchmal wird eine Frage auch einer Instanz nach der andern vorgelegt, die Zuständigkeit immer wieder bestritten, bis schließlich eine Behörde spricht, über die hinaus es nicht weitergeht. Daraus ergibt sich die kunstreichste Spannung. Von Pfeiler zu Pfeiler strebt das Gewölbe zur schwindelerregenden Kuppel hinauf.   Das größte Beispiel in deutscher Sprache bietet Schillers «Wallenstein». So wie die Tragödie jetzt abgeteilt ist, äußern sich im ersten Teil, in «Wallensteins Lager», die Soldaten zum Plan und zur Person ihres Feldherrn. Sie wissen nicht genau Bescheid und finden sich unbedenklich mit Vermutungen und Gerüchten ab. Ihr Horizont, ihre Welt ist eng. Es geht ihnen einzig um den Krieg. Das frohe Soldatenleben soll dauern. Wer dafür eintritt, ist ihr Mann. Die Kunde von andern Möglichkeiten und Werten dringt zwar auch ins Lager, so durch den Bürger, der den Rekruten zurückhalten will, und durch den Kapuziner, der christliche Tugend predigt. Der Bürger aber wird verspottet. Den Kapuziner läßt man zwar gelten, weil auch ein Pfaffe ins Lager gehört. Sobald er jedoch eine praktische Folgerung zieht und Wallenstein verunglimpft, ist seine Autorität dahin. Ein anderes ist die heilige Kirche, ein anderes der unheilige Krieg. Die Soldaten verzichten auf Konsequenz. Eben deshalb hat das Lager noch einen entschieden epischen Zug. Es ist eher ein Schaustück als ein Drama. Das Einzelne steht herum und macht sich als solches breit, wie im Geist der Soldaten das eine kommt und das andere geht.   Das zweite Stück, «Die Piccolomini», spielt in der Sphäre der Offiziere. Von ihnen wird bereits ein höheres Bewußtsein ihres Tuns verlangt. Sie haben Wallensteins Plan und die eigene Entscheidung auf ihre Ehre und den vor dem Kaiser geleisteten Eid zu beziehen. Einige denken die Sache durch, andere nehmen sie leicht, wie Isolani, dessen Gehaben sich unmittelbar an das der Soldaten anschließt. So bildet der zweite Teil eine Brücke zwischen dem Lager und dem Feldherrn. Anschaulich wird diese Zwischenstellung im Bühnenbild des vierten Akts, wo vorn, im Raum der Verantwortung, die Schrift zur Unterzeichnung aufliegt, im Hintergrund ein Bankett stattfindet, der Wein die Besinnung raubt und die große Frage «Worumwillen?» ertränkt. Die Offiziere bewegen sich zwischen Vorder- und Hintergrund hin und her ─ wie eben der Mensch sich zwischen Ernst und Gleichgültigkeit gewöhnlich bewegt.   Im dritten Teil, in «Wallensteins Tod», wird, abgesehen von wenigen Szenen, die frühere Zustände rekapitulieren und nur als Folie dienen müssen, die Gleichgültigkeit allmählich verbannt. Jeder Auftritt, jedes Wort hat seine dramatische Funktion. Wallenstein legt sich Rechenschaft ab und prüft den Entschluß vor allen Instanzen, die mitzusprechen berufen sein könnten. Eine der niedersten ist sein Stolz. Der Kaiser hat ihn beleidigt. Es reißt ihn hin, die Beleidigung zu vergelten. Wenn er hier stehen bliebe, ragte er nicht einmal über Butler hinaus. Er fragt aber weiter nach dem Recht. Die Gräfin Terzky redet ihm ein, das Recht verlange Gegenrecht. Der Kaiser aber habe Wallenstein öffentlich Unrecht zugefügt und durch den Arm seines Feldherrn unrechtmäßige Taten ausgeführt. Diesen Gedanken anzuerkennen, ist Wallenstein umso eher bereit, als er auch eine, nach seiner Hierarchie, noch höhere Instanz, das Wohl des Staates, das Heil der Menschheit zu Rate zieht. Der Kaiser ist schwach und vermag dem bedrängten Deutschland den Frieden nicht zu schaffen, während sich Wallenstein, gestützt auf das Heer, diese Leistung zutrauen darf. Schließlich dringt sein Blick noch über die Gegenwart hinaus und versucht, das Urteil der Weltgeschichte zu lesen. Der Sieger ist's, der die Geschichte schreibt. Wie Julius Cäsar wird auch Wallenstein ruhmbedeckt vor der Nachwelt stehen.   In dieser Argumentation klärt sich die realistische Welt und hellen die dunklen Gefühle sich zu scharf geprägten Begriffen ab. Der astrologische Glaube krönt die Idee, die Wallensteins Leben beherrscht. Es scheint nichts Höheres zu geben. Max Piccolomini aber treibt die Frage «Worumwillen?» noch weiter und appelliert an eine Instanz, die jenseits alles Irdischen gilt, an das Urteil der absoluten Person. Wohl lebt der Mensch, um tätig zu sein, um sich zu rühren und durchzusetzen. Doch wenn er sich vor die Wahl zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden, ja nur schon vor die Wahl zwischen irdischem Fortbestand und Pflicht gestellt sieht, so hat er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich als die höchste Gerichtsbehörde kund.   Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt, auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem, auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der Vollzug des Urteilsspruchs.   Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden. Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus», ruft ihrem Gatten zu: «O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!» (V. 1057)   Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem, entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe, bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd alles ins Rechte gefügt hat ─ Held des Dramas, dessen Bewegung auf ein Ziel, wenn möglich ein letztes Ziel des Menschen, gerichtet ist. 4.   Vielleicht geht aber die Bewegung sogar noch über das Ziel hinaus, so, daß die Frage «Worumwillen?» zuletzt ins Leere stößt. ─ Heinrich von Kleist hat schon als junger Mensch die Idee seines Lebens entworfen Vgl. den «Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden». . Wahrheit und Tugend werden als höchster Sinn bezeichnet. Ein Weg wird beschrieben, auf dem der Mensch dieses Ziel mit absoluter Gewißheit erreichen muß. Die Briefe Kleists bezeugen, daß er mit preußischer Folgerichtigkeit, mit der «nordischen Schärfe des Hypochonders» Goethe zu Falk um 1809. , sein Leben im Großen und Kleinen nach seinem Entwurf eingerichtet und jede Stunde, jede Tat, ja jeden Gedanken auf die eine umfassende Idee bezogen hat. Bald zeigt sich aber, daß er den scheinbar sicheren Weg nicht gehen kann, nicht etwa deshalb, weil er es an der nötigen Anstrengung fehlen ließe ─ im Gegenteil, deshalb, weil er auch nicht zu dem leisesten Kompromiß bereit ist. Der Wille zur Tugend scheitert an unvermeidlichen Kollisionen der Pflichten. Er weiß nicht, ob er als Offizier oder ob er als Mensch handeln soll. Der Wille zur Wahrheit stößt auf die durch Kant vermittelte Erkenntnis, daß eine Wahrheit unabhängig vom Sein des Menschen undenkbar ist. So führt die Mühe um sein Problem zur Einsicht, daß es sich selbst widerspricht.   «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich habe nun keines mehr» An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801. .   Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.   Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem. Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung des Körpers nicht begnügen. Penthesilea stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung, das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der «gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft selber ad absurdum geführt und bewiesen, daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen, sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.   Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt eines Menschen oder wohl gar eines Volks oder Standes gesprengt.   Dieser Gebrauch des Worts bedarf indessen einer Rechtfertigung. Es stammt aus dem Griechischen und kennzeichnet die Poesie der Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides. Nun läßt sich nicht verkennen, daß viele Bühnenwerke dieser Dichter, die alle Tragödien heißen, der Tragik im eben umschriebenen Sinn entbehren. Die «Orestie» des Aischylos, der Sophokleische «Philoktet», die «Iphigenie bei den Taurern» von Euripides enden nicht tragisch. Vielmehr wird das im Lauf des Geschehens oft gefährdete Verhältnis zwischen den Menschen und den Göttern am Schluß entschieden wieder befestigt, so, daß kein Zweifel bleibt und jedermann weiß, woran er ist. Ebensowenig stimmt die aristotelische Lehre von der Katharsis, wie man sie auch auslegen mag, zu unsrer Erklärung des Begriffs. Unser Begriff hängt allein zusammen mit der von Goethe, Schelling, Hegel und Hebbel versuchten Deutung einer bestimmten Grenzsituation, in der die Weltanschauung des Idealismus in eine Krise gerät. Diese Deutung aber trifft wieder nur eine besondere Möglichkeit dessen, was wir als tragische Krise bezeichnen, nämlich nur gerade jene, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Freiheit und Schicksal hervorgeht. Von solcher Befangenheit möchte sich die neue Begriffsbestimmung befreien. Nicht allein die Krise der idealistischen Welt soll tragisch heißen, sondern die jeder möglichen Welt, der antiken sowohl wie der bürgerlichen, der christlichen wie der germanischen. Und nicht nur die Krise, sondern ein unwiderrufliches Scheitern sei gemeint, eine tödliche Verzweiflung, die nicht mehr weiß, wo aus und ein. Dieses Ereignis zu benennen, brauchen wir ein bestimmtes Wort. Als einziges ähnlicher Intention bietet sich der im deutschen Idealismus gebräuchliche Ausdruck an. Wir nehmen dabei den Widerspruch zur älteren Tradition in Kauf und sind uns bewußt, daß bei weitem nicht jedes Bühnenwerk, das «Tragödie» heißt, als «tragisch» bezeichnet werden darf. Auch dies bedeutet kein Werturteil. Viele nicht tragische, wenngleich schmerzliche und erschütternde Werke Shakespeares sind zweifellos bedeutender als die tragische «Familie Schroffenstein». Schillers spätere Dramen, in denen ein letzter Sinn nicht in Frage gestellt wird, haben ihre schätzbaren Vorzüge gegenüber den tragischen «Räubern».   Überhaupt ist «Tragik», so verstanden, zunächst kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die Metaphysik. Ein Skeptiker, der an der Wahrheit scheitert, dem es mit seiner Skepsis ernst ist, der, verzweifelnd, seinem sinnlosen Dasein ein Ende bereitet; ein gläubiger Mensch, dessen Ringen um Gott durch ein entsetzliches Ereignis, wie jenes Erdbeben von Lissabon im 18. Jahrhundert, gleichsam verhöhnt wird, so, daß er sich nicht mehr zurechtfinden kann; ein Liebender, der, wie Werther, vom einzigen Wert der Leidenschaft überzeugt ist und wahrnehmen muß, daß seine Leidenschaft ihn selbst und die andern vernichtet: sie alle sind tragische Gestalten und geraten in jene Grenzsituation, in der alle Orientierung und also im Grunde das menschliche Dasein aufhört. Ihr Gott ist gestürzt, und ohne Gott vermag ein Mensch nicht als Mensch zu bestehen.   Also nicht irgendein Unglück ist tragisch, sondern nur ein Unglück, das dem Menschen seinen Halt, das letzte Ziel, auf das es ankommt, raubt, so, daß er von nun an taumelt und ganz von Sinnen ist. Dahin deutet auch der bekannte Satz, daß der Zufall nicht tragisch sei, daß tragisches Geschehen eine gewisse Notwendigkeit haben müsse. Insofern trifft das zu, als ein vereinzeltes Ereignis den Grund des Glaubens kaum zu erschüttern vermag. Das Tragische aber vereitelt nicht einen beliebigen Wunsch oder eine beliebige Hoffnung, sondern zerstört die Fugen des Sinnzusammenhangs, der Welt. Wenn die Idee eines Daseins freilich, wie etwa die Welt des Rationalismus, den dämonischen Zufall ausschließt, wenn sich der Mensch des Glaubens versichert, daß nichts geschehen kann, was einer der seinigen verwandten Vernunft widerspricht, dann ist auch der Zufall tragisch, und ein Ziegelstein, der vom Dach fällt und das Hirn eines großen Talents zerschmettert, wird den konsequenten Rationalisten nicht minder verstören als Kleist die Entdeckung der Subjektivität der Wahrheit.   Damit das Tragische als eigentliche «Welt»-Katastrophe eintreten kann, muß eine Welt erschlossen und als umfassende Ordnung verstanden sein. Soll das Tragische wirksam werden und seine tödliche Kraft ausstrahlen, so muß es einen Menschen treffen, der konsequent in der Idee lebt und von der Gültigkeit der Idee sich nicht das Geringste abmarkten läßt. Beide Möglichkeiten erfüllt nur der dramatische Geist. Wir haben ihn kennen gelernt als Kraft, die das Einzelne fest zusammenhält und auf das Letzte, das Problem, bezieht. Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet sich dem Nächsten zu. Erst recht vermag der Lyriker keine tragische Einsicht zu gewinnen. Sieht er doch überhaupt nichts und spricht er doch ─ als Lyriker ─ nur, solang er eins ist mit den Dingen. Der dramatische Geist jedoch ist stets der Gefahr des Tragischen ausgesetzt. Nicht daß sie immer hereinbrechen müßte, sobald er sein Werk zu Ende führt. Es ist wohl möglich, daß zuletzt alles, worauf er es abgesehen hat, stimmt und ihn befriedigt als Bewußtsein einer dauerhaften Struktur. Je konsequenter er aber ist, je kräftiger er die Frage «Worumwillen?» ständig vorwärts treibt, desto eher dringt er bis zur Grenze des Unvereinbaren vor. Denn jede Idee, jede Welt ist endlich. Und nur vor einem unbekannten Gott geht alles Lebendige auf. Tragik also erweist sich als ein zwar nicht gefordertes, aber jederzeit mögliches Resultat dramatischen Stils.   Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus dem Hinterhalt. Er blickt voraus auf sein Problem, auf seinen Gott oder seine Idee. Was mit der Idee nichts zu schaffen hat, das läßt er ─ so wurde angedeutet ─ beiseite und achtet nicht darauf. Nun kann es jedoch geschehen, daß, was er beiseite läßt, zwar nichts mit seiner Idee zu schaffen hat, aber keineswegs gleichgültig, sondern feindlich ist. So mißachtet der Prinz von Homburg, gebannt wie er ist von seinem Ziel, die Ordre des Feldmarschalls, überhört die Warnung des Kurfürsten, übersieht die Lage des Brückenkopfs am Rhyn. So mißachtet Wallenstein im Vertrauen auf seine Sterne die Fragwürdigkeit seiner nächsten Umgebung und ist, wie es heißt, mit sehenden Augen blind. Aus dem, was beide übersehen, ersteht die wesentliche Gefahr. Das Urteil des Kurfürsten vernichtet Homburgs Idee der Harmonie des Lebens, die prästabiliert schien für sein Ich, vernichtet seine romantische Welt. Oktavios Verrat zerstört die mit der größten Umsicht angestellte Berechnung, in der doch Wallenstein alle Faktoren von der Stimmung der Soldaten bis hinauf zu Jupiters strahlendem «Ja!» beachtet zu haben glaubte.   Homburg ist voreilig. Jedermann sieht das. Aber Wallenstein, obwohl er als Zauderer auftritt, ist es auch. Denn Vor-eiligkeit charakterisiert jede menschliche universale Idee. Der Geist eilt vor zum Letzten über die unerschöpfliche Fülle der lebendigen Möglichkeiten hinaus. Er blendet ab, was außerhalb des Sinnes liegt, auf den es ihm ankommt. So schwingt sich die Theodizee zur Idee der besten der möglichen Welten auf und nimmt das Leid und das Übel nicht ernst. So setzt sich der Leidenschaftliche über die Forderung der Gesellschaft hinweg, während umgekehrt der gute Bürger die Sprache einer alles verzehrenden Leidenschaft verkennt. Kein Gott, auf den ein Mensch sein Dasein ausrichten mag, ist so weit und so groß, daß nicht andere Götter ausgeschlossen, andere verraten werden müßten. Die Welt der Antike schließt sich ab, indem sie die Innerlichkeit ausschließt. In der Welt des asketischen Christentums kommen die Sinne nicht zu ihrem Recht und rächen sich durch Rebellion. Überall ist es so, daß   «Dien' ich einem, mir Das andere fehlet ...» Hölderlin: «Der Einzige».   Und je treuer der Dienst ist, je folgerichtiger sich der Mensch ihm hingibt, desto weniger kann er dem Fluch entrinnen, daß ihm «das andere fehlt». Der Schwankende aber verfährt nicht besser, sondern verfehlt sich an allen und verwischt nur seine Endlichkeit. Endlichkeit ist die Schuld, die mit dem Wesen des Menschen schon besteht und jede wirkliche Schuld begründet Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 280 ff. .   Die Frage nach der tragischen Schuld, so wie sie oft in der Ästhetik gestellt wird, erweckt den Verdacht, daß sie eher bestimmt sei, über das Tragische zu beruhigen, als seine im Menschen selber angelegte Möglichkeit aufzudecken. Sie gibt den Anschein, «unschuldige Schuld» sei nur das Schicksal Einzelner, die ein besonders dämonisches Unglück heimsucht. Die Schuld liegt aber schon vor der Tat und wird durch verantwortungsbewußtes, entschlossenes Handeln bloß evident. Auch der Schwärmer eilt vor, ja er gerade am unbedenklichsten. Dennoch stellt seine Schuld sich nicht in deutlichen Katastrophen dar. Wer wäre voreiliger als der romantische Mensch, dessen Dasein der Prinz von Homburg im ersten Aufzug repräsentiert? Die Schlegel, Tieck und Novalis jedoch sind dem Tragischen niemals ausgesetzt. Damit es sich zeige, muß die Idee in der Gegenwart durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend, so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im Wesen des Menschen besteht.   Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies «wider Sternenlauf und Schicksal» geschehen sei. Sein folgerichtiger Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet, bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels «Maria Magdalene» nicht mehr er selbst, wenn die Tugend des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird. Er «versteht die Welt nicht mehr». Was kann er künftig noch sinnen und tun?   Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, die Goethe gefühlt An Schiller, 9. Dezember 1797. , die sich im Untergang Kleists bewährt hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende Dämmerung über die Seele legt. So kommt das Tragische rein oder unmittelbar in der Dichtung nie zu Wort. Der es aussprechen könnte, ist bereits aus der Sphäre des einem anderen Menschen verständlichen Daseins gerückt. Verständlichkeit beruht auf der Gemeinschaft einer begrenzten Welt. Ihr Rahmen aber wird ja gerade in tragischer Verzweiflung gesprengt.   Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die «Familie Schroffenstein» mit Johanns schrillem Gelächter am Schluß, das unmittelbar den Ausbruch des Wahnsinns auch im Dichter befürchten läßt und den Zuschauer eisig, wie ein Hauch aus lebensfeindlichen Zonen, anweht. Kleists Erstling ist eben deshalb ein künstlerisch beinah unerträgliches Werk. Später hat Kleist die Katastrophe der Wahrheit oder der Liebe von einer höheren Warte aus dargestellt. In Alkmene, in den letzten Gebärden und Worten Penthesileas, im Glanz von Homburgs zweiter Mondnacht ist die Möglichkeit eines gnadenhaften Zustands ausgesprochen, den Gottes unbegreifliche Willkür dem Menschen wohl einmal gewähren kann, eine Möglichkeit, die Kleist im Auge behielt, so lange er lebte, an der er erst in den letzten Tagen für seine Person verzweifelt ist. Schiller führt im «Wallenstein» die Tragödie des Realismus durch. Er selber aber hat hier den Boden des Realismus, auf dem er als junger Dichter stand, bereits verlassen und sieht von der Höhe der Kantischen Freiheit dem Schicksal seines Helden zu. Das heißt, der Dichter ist imstande, den Rahmen einer Welt zu sprengen, weil sich ihm das Dasein in einer weiteren Welt zusammenfügt. Dies bedeutet der Vorgang, den die Ästhetik seit langem «Versöhnung» nennt. Der Prinz von Homburg wird nach dem Tod, den er als Romantiker duldet, versöhnt im Ausblick auf eine Welt, in der kein Gegensatz zwischen diskursiver Erkenntnis und Intuition mehr besteht. Wallenstein selbst wird nicht versöhnt, wohl aber der Zeuge seines Geschicks, der sich vom Dichter auf den Standpunkt des Idealismus geleitet sieht, sobald der Grund des irdischen Hoffens und Planens unter den Füßen schwindet. Mit fast pedantischer Deutlichkeit hat Hebbel die Sprengung des engern, die Bildung eines weiteren Rahmens gezeigt, indem er die bürgerliche Welt in «Maria Magdalene», die Welt des orientalischen Despotismus in «Herodes und Mariamne», die germanische Welt in den «Nibelungen» jedesmal in die christliche auflöst. Im «König Ödipus» von Sophokles aber gewinnen wir den Eindruck, daß der Dichter den Rechtsanspruch des Menschen, den neuen Glauben zurückweist und mit starrer Treue bei dem Glauben seiner Väter verharrt.   In der Versöhnung beruhigen sich der Dichter und das Publikum. Es wäre aber wohl möglich, daß hier das Weiterdrängen von neuem einsetzt, daß die weitere Welt so gut wie die frühere wieder in Frage gestellt wird. Ein Ende ist nicht abzusehen. Denn über ein Endliches kommt der Mensch, wie sehr er sich mühe, nie hinaus. Und im Endlichen gibt er sich nicht zufrieden. So ist es ein Glück für ihn, daß auch die Kräfte seines Geistes begrenzt sind, daß er ermattet und aufhört zu fragen, daß er nicht wach bleibt, sondern entschlummert und von der Natur das lebensnotwendige Geschenk des Vergessens alltäglich erhält. 5.   Der Mensch ist aber ein zähes Geschöpf, und dasselbe Geschick der Endlichkeit, das ihn mit tragischer Verzweiflung bedroht, eröffnet ihm einen unerwarteten Ausweg ins Behagen des Komischen. Wenn wir vom Tragischen erklärten, daß es den Rahmen einer Welt sprengt, so gilt vom Komischen, daß es aus dem Rahmen einer Welt herausfällt und außerhalb des Rahmens in selbstverständlicher, fragloser Weise besteht Vgl. zum Folgenden: Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich, 1939, S. 173 ff. .   Dieses Aus-dem-Rahmen-Fallen zeigt sich am deutlichsten etwa in jenen Gepflogenheiten der Komödie, die sich von Aristophanes bis zur Gegenwart erhalten haben: daß eine Person auf einmal, statt zu ihrem Partner oder zu einem idealen Zeugen, zum Publikum spricht, das Publikum zum Beistand gegen einen Widersacher aufruft oder dem Orchester ängstlich ein Geheimnis anvertraut. In der Parabase der antiken Komödie ist dieses Verfahren sanktioniert und bereits so selbstverständlich geworden, daß es, weil erwartet, kein unmittelbares Gelächter mehr auslöst.   Aus dem Rahmen fällt aber auch der aristophanische Phallos und Wanst, eine ungeheure rote Nase oder ein Ohr, das als Löffel absteht. Den Rahmen bildet hier der Bezugszusammenhang eines organischen Ganzen, das wir im Sinne haben, wenn wir einen menschlichen Körper betrachten. Eine apriorische Erwartung wird getäuscht, ein Entwurf braucht plötzlich nicht durchgeführt zu werden.   Dasselbe gilt von Lautphänomenen der Sprache, die unser Gelächter erregen. Wenn wir in Nestroys «Judith»-Parodie die verblüffenden Verse lesen: «Aber sehr frugal speist der Holofernes, Nur ein Huhn mit Salat und ein Schnitzel, ein käl bernes...» so wird unsere Aufmerksamkeit durch den an den Haaren herbeigezogenen, über alles Maß aufdringlichen Reim vom Sinnzusammenhang abgelenkt. Statt die Spannung durchzuhalten, in die uns das Ziel des Satzes versetzt, fahren wir gleichsam seitlich aus und ergötzen uns an dem zwecklosen Lautspiel. Bei gewöhnlichen lyrischen Reimen lachen wir nicht, weil da der zartere Einklang nur den Sinn zum Schweben und Klingen bringt, nicht aber aus dem Netz der Sinnbezüge herausfällt. Ebenso ist ein Takt nicht komisch, der unauffällig die Worte eines Verses gliedert, wohl aber ein Takt, der sich, wie in Schillers Ballade «Der Gang nach dem Eisenhammer» oder in Versen von Wilhelm Busch, als solcher bemerkbar macht und der Anstrengung, einem Sinn zu folgen, spottet.   Was aus dem Rahmen fällt, muß erfreulich und unmittelbar sich selbst genug sein. Ein Schauspieler, der seine Rolle nicht beherrscht und sich umsieht, ob ihm jemand helfe, ist an sich nicht komisch, sondern ein Ärgernis. Über einen Buckel wird ein erwachsener Mensch nicht lachen, weil er die Leiden sich vorstellen kann, die dies Übel der Mißgestalt bereitet. Phallos, Wanst und Hinterteil dagegen mögen noch so sehr zu Anomalien gediehen sein, ihre Hypertrophie scheint nur auf übermäßigen Lebensgenuß zu deuten. Ein Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet uns ein, hat es leichter als wir und gibt ein höchst beachtliches Beispiel. Ein sprachliches Versehen lenkt uns gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was sich selber genügt und dem unbesonnenen Dasein schmeichelt.   Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen. Genau besehen ist es damit aber gar nicht so schlimm bestellt. Jeder vermag doch mindestens seine eigenen Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der Ort. Nur durch wenige Hinweise sei die allzu knappe These erläutert.   Kant in der «Kritik der Urteilskraft» sagt:   «Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts Inselausgabe, Leipzig 1924, Bd. VI, S. 213. .»   Was Kant «Erwartung» nennt, entspricht dem a priori der «Welt», des Entwurfs, dem, worin sich der Mensch bei allem Erkennen, bei allem Erleben voraus ist. Diese Erwartung wird aber nicht in nichts aufgelöst ─ das wäre Enttäuschung ─ sondern sie fällt dahin, weil etwas sichtbar wird, das unmittelbarer, zusammenhangloser existiert.   Aus «erspartem Aufwand» hat Sigmund Freud das Behagen des Lachens erklärt Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 4. Aufl. Leipzig 1925. .   Friedrich Theodor Vischer versucht, die «Erwartung» des nähern so zu bestimmen, daß er erklärt, sie sei veranlaßt «durch ein sich ankündigendes, in mehr oder minder pathetischem Schwung begriffenes Erhabene» Über das Erhabene und das Komische, Stuttgart 1837, S. 158. . Aufgelöst werde sie durch «das Bagatell eines bloß der niedern Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal unter die Beine gerät und es zu Falle bringt.»   Damit wird die Erwartung aber nun offenbar zu eng bestimmt. Die Komik des «Don Quijote» zwar und was ihr ähnlich ist, klärt sich so auf. Bei vielen Streichen Eulenspiegels dagegen ist die Erwartung nicht erhaben, sondern höchstens vernünftig. Vischer betrachtet also nur die freilich besonders ergiebige Möglichkeit, daß Gelächter aus der Ersparung eines erhabenen Entwurfs entsteht.   Schopenhauer deutet das Lachen aus der «Wahrnehmung der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten». Im zweiten Teil der «Welt als Wille und Vorstellung» stehen die folgenden Sätze:   «Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält das Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht: denn es ist gar nicht dem Irrtum unterworfen, bedarf keiner Beglaubigung von außerhalb, sondern vertritt sich selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt zuletzt daraus, daß dieses mit seinen abstrakten Begriffen nicht herab kann zur endlosen Mannigfaltigkeit und Nüancierung des Anschaulichen. Dieser Sieg der anschauenden Erkenntnis über das Denken erfreut uns. Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der tierischen Natur unzertrennliche Erkenntnisweise, in der sich alles, was dem Willen unmittelbares Genügen gibt, darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses und der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegenteil: es ist die zweite Potenz des Erkennens, deren Ausübung stets einige, oft bedeutende Anstrengung erfordert, und deren Begriffe es sind, welche sich so oft der Befriedigung unserer unmittelbaren Wünsche entgegenstellen, indem sie, als das Medium der Vergangenheit, der Zukunft und des Ernstes, das Vehikel unserer Befürchtungen, unserer Reue und aller unserer Sorgen abgeben Sämtliche Werke, hg. von O. Weiß, Leipzig 1919, Bd. II, S. 120. .»   Zahlreiche Beispiele unterstützen das Überzeugende dieser Erklärung. Das Verhältnis der beiden Ebenen, zwischen denen das Lachen sich abspielt, die «Fallhöhe», wie wir sagen wollen, ist unübertrefflich dargestellt. Einzig die beiden Begriffe «Denken» und «Anschauen» bleiben zweifelhaft. Nicht jedes Entwerfen ist ein Denken. Auch der Wunsch, die sinnliche Neugier, das dumpfe Gefühl der Furcht entwirft. Wenn im «Sommernachtstraum» auf einmal Zettels Eselskopf erscheint, so haben wir überhaupt nichts gedacht, sondern bänglich-romantische Waldesstimmung findet sich unverhofft der prallsten Körperlichkeit gegenüber. Ja, der Hinblick auf den Zusammenhang eines organischen Ganzen, für den der Wanst und Phallos komisch wird, ist eine entwerfende Anschauung. Gelächter aber entsteht bei jeder Art von Entwurf, die sich als ungemäß erweist, als ungemäß im Sinne einer zu weiten Spannung. Wir werden entspannt von dem, was, allgemeiner als Schopenhauer es ausdrückt, das höhere Wesen des Menschen ausmacht, von der synthetischen Anstrengung, die nach dem Schema «Voraussein» und «Zurückkommen auf ...» jedwede Erfahrung, jede Erkenntnis erst ermöglicht. Nicht immer sinken wir dabei gleich bis zum Tierischen herab. Aus dem Rahmen des Erhabenen fällt schon das Alltägliche oder Nüchterne heraus und ist lächerlich, so etwa bei Keller aus Viggi Störtelers hochgeschraubten Liebesbriefen die Nachschrift mit dem Kleinkram des Ladens, der sich in einem schlichten kaufmännischen Brief nicht lächerlich ausnähme. Vom Alltag mag es dann weiter hinab zum Naiven oder Unflätigen gehen. Wesentlich ist nur, daß das Faktische einen geringeren Aufwand an Spannkraft erfordert als das Entworfene, daß dieselbe Anstrengung, die einen Entwurf zu bewähren sucht, sich plötzlich als übersetzt erweist. Bei dem Namen John Kabys-Häuptle schalten wir von dem angelsächsischen Nimbus auf ein wohlbekanntes strotzendes Gewächs unseres Gartens um. Bei Shakespeares Pompeius Steiß erfolgt der Umschlag gleich von römischer Größe zum würdelosesten Körperteil, auf dem denn aber doch jeder, wie er sich auch gebärde, sitzen muß.   Es ist nicht immer leicht, die Beispiele komischer Wirkung zu analysieren, und oft genug wehrt sich etwas im Menschen gegen das Phänomen und die Deutung. Immer gilt es zu fragen, wovon und wohinein das Gelächter entspannt. Eine bescheidene Fallhöhe weist die Komödie des Rationalismus auf. Als Held tritt der eingebildete Kranke, der Hypochondrist, der Geizige auf, das heißt ein Mensch, der andern und sich selber das Leben unnötig schwer macht. Tellheims sublimer Ehrbegriff in «Minna von Barnhelm» stellt eine letzte, schon sehr verfeinerte Spielart dar. Hier geht das Gelächter aus von einem irgendwie übersteigerten Ernst und endet in der Gewißheit eines selbstverständlichvernünftigen Lebens, das keiner Anstrengung bedarf, um richtig und angenehm zu sein, also noch nicht in Niederungen, sondern auf der Ebene, die dem anmutsvollen Alltag einer guten Gesellschaft als Aufenthalt dient. Von dieser Ebene aber geht nun etwa das Lachen in Goethes Farce «Götter, Helden und Wieland» aus, um bei der derben Fraglosigkeit von Herakles' Vitalität zu enden. Auch hier ist die Fallhöhe nicht sehr groß. Sie reicht zwar bis zu den Gründen der elementaren Sinnlichkeit hinab (die Goethe freilich nur schonend aufdeckt), aber sie setzt nicht sehr hoch an. Von der Höhe pompösesten Anspruchs bis zu viehischer Unflätigkeit entspannt die Komödie des deutschen Barock, «Horribilicribrifax» zum Beispiel, vor dem wir Heutige fast erschrecken, aber auch die antike Komödie ─ ich nenne die «Lysistrata», wo die ernsteste Frage «Krieg oder Frieden?», das Heil der eigenen Polis, auf die Befriedigung des Geschlechts hinausläuft, so daß der geile Politiker gern die staatlichen Erwägungen preisgibt, um nur das nächste Ziel, zu dem ihn der Trieb gebieterisch drängt, zu erreichen.   Der zartere Leser wird sich fragen, wie solchen Werken der Rang einer großen Dichtung zuzubilligen sei. Allein, im Gelächter, das Komik auslöst, liegt ein ungeheurer Triumph und eine unumstößliche Wahrheit. Wiederum wird der Mensch auf die Grenzen seiner Endlichkeit aufmerksam, aber nun so, daß er nicht umhin kann, diese Endlichkeit zu bejahen. Er plant, entwirft, bedenkt und bezieht. Er ist sich selber immer voraus und sucht das Ganze des Lebens unter einem Gesichtspunkt zusammenzufassen. Eben deshalb aber bleibt er auch immer hinter sich selber zurück; und wie das Tragische überfällt ihn das Komische aus dem Hinterhalt, doch nicht, um ihn zu zerstören, sondern um ihn gleichsam mit dem Ruf: Halt! Wozu auch? zum Stillstand zu bringen. Sosias im «Amphitryon» findet die heikelsten Untersuchungen über das Wesen der Identität entbehrlich, und etwas in uns stimmt ihm zu, ein Trotz des Lebens, das sich sein unmittelbares Recht nicht rauben läßt und wohlig jede Begründung verschmäht.   Es dürfte uns klar sein, wie das Komische zum dramatischen Stil gehört. Der Komiker spannt, um zu entspannen. Er tut so, als wolle er hoch hinaus, um in dem Augenblick, da wir den Aufwand machen, den Aufwand zu ersparen und etwas vorzuweisen, das sich ohne weiteres selbst verbürgt. «Wozu?» ─ «Wozu auch?» ─ das ist die Rhythmik, in der sich unser Verständnis bewegt. Das Problem, das Pathos hebt sich immer wieder selber auf. Freilich kommt die Einheit des dramatischen Werks dabei in Gefahr. Die Zielstrebigkeit wird unterbrochen. Aristophanes fängt in den «Fröschen» gleich schon mit einem Lacheffekt an. Der Hörer erwartet eine Handlung und bereitet sich aufzupassen. Statt dessen erscheint Dionysos mit dem Sklaven Xanthias, der ihn fragt, ob er, nach der Gepflogenheit der Komödiendichter, etwas Unflätiges sagen solle. Dies rüpelhafte Reden und Tun macht gleich die Voraussicht überflüssig. Zudem enthält es eine Polemik gegen die Konkurrenten des Dichters. Er fällt aus dem Rahmen der Illusion, noch ehe sich dieser recht gebildet. Doch damit kommen wir nicht weiter. Wir sind auf ein Stumpengeleise geraten und müssen abermals in den Zusammenhang einer Handlung eingeführt werden. Und so geht es nun immer weiter im Antagonismus von dramatischer Spannung und komischer Entspannung. Auch neuere Komiker halten es so. Ich erinnere nur an die Szene in Raimunds «Diamant des Geisterkönigs». Eduard, der freundliche Held, ist bedrängt. Wir blicken auf eine Entscheidung, sei es zum Guten oder zum Schlimmen, hin. Schließlich wird unter großen Veranstaltungen der Geist seines Vaters beschworen. Der Geist erscheint und spricht die Worte: «Ich bin dein Vater Zephises und habe dir nichts zu sagen als dieses», um sofort wieder zu verschwinden. Es kommt nichts dabei heraus, oder vielmehr, was herauskommt, ist ein Lautspiel, bei dem sich unser Spieltrieb freilich so amüsiert, daß wir auf die erhoffte Entscheidung vorläufig verzichten können. So landen wir ungezählte Male, im Widerspruch zum dramatischen Zweck, bei dem, was wesentlich zwecklos, doch ohne Zweifel höchst befriedigend ist.   Je mehr ein Dichter zum Komischen neigt, desto eher wird er versucht sein, dramatische Spannung nur als Ausgangslage des Lachens zu erzeugen und sich in lauter lächerlichen Einzelheiten zu verzetteln. Aristophanes, Plautus, Shakespeare in seinen derbsten Stükken, Molière in den Farcen, Gryphius, Raimund gebärden sich hier ganz hemmungslos. Doch immer wieder wird die Komödie hochliterarisch reformiert. Dann setzt sich jener Typus durch, in dem die einheitliche Spannung durchhält, das Lächerliche aber nur noch leise an den Rändern der Handlung spielt, der Typus, den in deutscher Sprache am reinsten «Minna von Barnhelm» verwirklicht. Einzigartig aber ist Kleists Komödie «Der zerbrochene Krug». Die Form des Gerichts garantiert von Anfang bis zum Schluß den dramatischen Zug. Der Richter ist selbst der Schuldige und deshalb eifrig bemüht, von dem, worauf es ankommt, abzulenken. Die Komik seiner Diversionen und Ausreden wird zum Widerstand, den der Gerichtsrat Walter brechen muß. Der Widerstand steigert wieder die Spannung. Eins spielt dem anderen in die Hände. Es ist das geistreichste Spiel, das je der Sinn eines Bühnendichters erdacht, im Komischen so vollendet wie im Tragischen «König Ödipus».   Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß Kleist, der am meisten tragische unter den neueren Bühnendichtern, auch der am meisten komische Dichter ist. Wenn jener Ausspruch des Sokrates am Schluß von Platons «Symposion», der Tragiker müsse auch Komiker sein, wirklich etwas Entscheidendes sagen soll, dann muß er dies bedeuten: daß der Tragiker sein Geschäft nur bis zum vernichtenden Ende durchführen kann, wenn er zuletzt, statt in den Abgrund des Nichts, auf den Boden des Komischen fällt und über den Trümmern seiner Welt das Urgelächter dessen anstimmt, der weiß: der Geist vermag nicht ohne physische Basis wirklich zu sein, die physische Basis aber kann des Geistes entraten und ist sich selbst in elementarer Lust genug. VOM GRUND DER POETISCHEN GATTUNGSBEGRIFFE D ie Aufgabe der ersten drei Abschnitte war, die poetischen Gattungen zu scheiden und jede für sich herauszuarbeiten. Sie ließ sich nur in unbeirrbarer Ideation erfüllen, das heißt so, daß an Dichtungen lyrische, epische und dramatische Züge im Hinblick auf a priori erfaßte Ideen abgelesen wurden. Es läge nahe, dieses Verfahren mit Goethes Typologie zu vergleichen. In einem Brief an Sömmering vom 28. August 1796 heißt es:   «Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen.»   Das Organ wird nicht aus der Erfahrung, aber wohl an ihr und durch sie gebildet, so wie das Auge durch Licht zum Licht, der Adler durch Luft zur Luft gebildet und ausgestattet erscheint. Die Idee der Urpflanze ist ein Organ, das Mannigfaltige der Pflanzenwelt zu erfassen; die Idee des osteologischen Typus erlaubt, die Tierwelt zu übersehen. Im Sinn eines solchen a priori möchte auch die Idee des Lyrischen, Epischen und Dramatischen gelten.   Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen Pflanze zur Urpflanze, des einzelnen Tiers zum Typus des Tiers. Keine einzelne Pflanze stellt zwar rein den Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.   Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.   Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, ἐλελεῦ , αἴλινον , om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung», wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der Silben hervordrängt, dürfen wir von lyrischer Wirkung sprechen.   Im epischen Stil dagegen behauptet das einzelne, einen Gegenstand bezeichnende Wort sein hohes Recht (Seite 99). Schon im Wortschatz der homerischen Epen glaubten wir, die Leistung des Epikers anerkennen zu müssen. Die Fülle der Worte stellt die Fülle des wechselnden Lebens fest, und wir schätzen den epischen Dichter, weil er uns die Fülle des Lebens vorstellt.   Die Funktionalität der Teile, das Wesen des dramatischen Stils, ist ausgeprägt im Ganzen des Satzes, wo das Subjekt in einem Bezug zum Prädikat, der Nebensatz in einem Bezug zum Hauptsatz steht und ein Vorblick aufs Ganze nötig ist, um die einzelnen Teile zu verstehen.   Wie aber nun in Sätzen entweder die Bezüge der Teile oder die einzelnen Vorstellungen oder die Lautelemente mächtiger sind, so wirkt sich in einer Dichtung je nachdem das Lyrische oder das Epische oder Dramatische deutlicher aus, ohne daß deshalb das andere fehlte oder auch nur, als in einem sprachlichen Kunstwerk, je ganz fehlen könnte. Ja, derselbe Satz wird, je nachdem ich ihn meine, mehr lyrisch oder mehr episch oder dramatisch tönen. Zum Beispiel die Zeile aus Eichendorffs «Rückkehr» (Seite 41): «Da hört' ich geigen, pfeifen ...»   Im Zusammenhang des Gedichts erklingen diese Worte in jenem rhythmisch und melodisch schwebenden Ton, der jede Silbe in die Magie der schmerzlichen Stimmung einbezieht. Derselbe Satz könnte in einer mehr nüchternen, epischen Verserzählung stehen, etwa in einem Hexameter: «Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und pfeifen.» Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung der Musik erweckt. Die Vorstellung ihrerseits würde zur Funktion eines übergeordneten Ganzen, wenn es etwa darum ginge, daß ein bedrohter Wanderer, der ängstlich seines Weges zieht, etwas Unbestimmtes im Dunkel erblickt, mit Spannung lauscht und später von diesem Augenblick mit den Worten erzählt: «Da hört' ich ─ geigen, pfeifen! Frohe Menschen ─ und fühlte mich geborgen.»   Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität an so einfachen Beispielen deutlich zu machen, wie es andrerseits schwierig wäre, hypotaktischen Satzgefügen lyrische Reize abzugewinnen. Das Beispiel fördere nur die Einsicht, daß die Stilistik Grund hat, neben dem äußerlich Wahrnehmbaren den nicht nachweisbaren Ton zu beachten.   Die Reihe Silbe ─ Wort ─ Satz erklärt nun aber auch, warum die Gattungen in der Folge lyrisch ─ episch ─ dramatisch aufgeführt wurden. Die später genannten Gattungen sind auf die früheren angewiesen. Ich kann wohl Silben bilden ─ und tue es auch, als Kind oder im Affekt ─ ohne dabei ein Wort zu sagen und einen Gegenstand zu bezeichnen. Aber ich kann kein Wort aussprechen, ohne zugleich eine Silbe zu bilden, und ebenso keinen Satz formulieren, ohne einzelne Wörter und mit den Wörtern Silben zu gebrauchen. So ist die dramatische Gattung auf die epische Gattung angewiesen. Das Gegenständliche sinkt in ihr zur bloßen Voraussetzung herab (Seite 181). Es muß jedoch vorhanden sein, damit es in Zusammenhang gebracht und beurteilt werden kann. Ist seine Sichtbarkeit reduziert, so wird der dramatische Stil abstrakt, wie manchmal in den Novellen Kleists, der bei genauestem Beziehen der Teile die Teile selbst nur flüchtig ausführt. Daß die epische Gattung auf die lyrische angewiesen bleibt, sieht weniger selbstverständlich aus. Indes, wer etwas vor-stellen will, muß erst damit eins gewesen sein. Sonst geht es ihn und uns nichts an, und seine Darstellung ist «trocken» ─ eben weil sie des lyrischen als des flüssigen Elements entbehrt. Ursprüngliche Akte der Vorstellung setzen das Ineinander voraus. Sie können von gar nichts anderem ausgehen.   Das Lyrische also ist der letzte erreichbare Grund alles Dichterischen (vergleiche Seite 54), das «sunder warumbe», die Fülle der Tiefe, aus der es entspringt, um aufzusteigen zur Höhe dramatischer Poesie, über die hinaus es nicht weitergeht, es sei denn in die Grenzsituationen des Tragischen oder des Komischen, in denen der Mensch sich selbst, als sinnliches oder als geistiges Wesen, zerstört.   Diese Folge darf aber nicht literaturgeschichtlich ausgelegt werden, so, als ob behauptet würde, das Dichten eines einzelnen Menschen oder eines ganzen Volkes beginne mit dem Lyrischen und ende mit dem Dramatischen. Lyrisches als lyrische Dichtung, Episches als epische Dichtung tritt erst in dem Augenblick hervor, da sich die Sprache der Poesie, mehr oder weniger deutlich, schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren Lage eines Volkes, eines Dichters einige Klarheit verschaffen.   Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch ─ episch ─ dramatisch, Silbe ─ Wort ─ Satz entspricht den von Cassirer Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923. beschriebenen Stufen der Sprache: die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die «Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns nur auf Schritt und Tritt der hellsten Erleuchtung freuen dürfen. Die Sprache entwickelt sich ihrer Natur nach vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Aus schriftlicher Überlieferung kann dies freilich mehr nur erschlossen als im Einzelnen nachgewiesen werden. Denn wenn eine Sprache sich schriftlich fixiert, ist der Prozeß schon weit gediehen. So führt die Untersuchung, wie schon bei Wilhelm von Humboldt, hinter die Literatur zurück und beschäftigt sich ausgiebig mit primitiven Völkern. Eine Fülle von Zeugnissen steht zur Verfügung. Sie stimmen weithin überein. Jede Sprache entwickelt sich in der angezeigten Richtung, nicht anders als jeder Mensch sich vom Kind zum Jüngling, vom Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt. In neuerem Geist bewährt sich Herders Roman von den Lebensaltern der Sprache. Und wie sich schon Herder sowohl auf einzelne Menschen als ganze Völker bezieht, ist auch bei Cassirer ersichtlich, daß jeder Einzelne noch den Weg nimmt, den die Vorzeit hat bewältigen müssen. Das kleine Kind bleibt lang auf die Phase des emotionalen Ausdrucks beschränkt, bis seine Äußerungen allmählich intentionale Bedeutung gewinnen und feste Gegenstände bezeichnen. Gegenstände zu beziehen, Zusammenhänge herzustellen, ist eine weitere Errungenschaft, die, allen Eltern unvergeßlich, die ständige Frage «Warum?» markiert. Freilich ist das Spätere immer schon im Früheren angelegt, so wie im Knaben der Jüngling schlummert, das Blatt schon auf die Blüte weist. Und ebenso geht auf den höheren Stufen das Überwundene nicht verloren. Es ist nicht vorbei, es ist «aufgehoben». In einem Augenblick des Staunens kann dem erwachsenen Mann ein Wort entfahren, das einen Gegenstand feststellt, als sähe er ihn zum erstenmal, mit dem Glück, mit der Ursprünglichkeit des Knaben. Und im Affekt bricht, ohne zu bedeuten, der «Schrei der Empfindung» los, der einer noch nicht diskursiven Möglichkeit der Verständigung angehört.   Sollte es noch befremden, wenn die Folge lyrisch ─ episch ─ dramatisch in diese Zusammenhänge gerückt wird? Längst ist uns deutlich geworden, daß die Gattungen sich auf etwas beziehen, das nicht nur zur Literatur gehört. Jetzt sehen wir klar, wie es damit bestellt ist. Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt, und Lyrik, Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen, des Bildlichen und des Logischen das Wesen des Menschen konstituieren, als Einheit sowohl wie als Folge, worin sich Kindheit, Jugend und Reife teilen.   Doch dies bedarf der Erläuterung. Cassirer deutet den Weg vom Emotionalen zum Bildlichen und zum Logischen als fortschreitende Objektivierung, in der sich erst so etwas wie eine gültige Gegenständlichkeit bildet. Darauf sind wir vorbereitet durch die Kategorie des Abstands. In lyrischem Sein ist noch kein Abstand eines Subjekts von einem Objekt. Das Ich schwimmt im Vergänglichen mit. Im Epischen bildet sich das Gegenüber einer Perspektive. Im Akt des Anschauens festigt sich der Gegenstand und zugleich das Ich, das diesen Gegenstand betrachtet. Doch Ich und Gegenstand sind im Sich-zeigen und Schauen noch aneinander gebunden. Eines entsteht und bewährt sich am andern. Im dramatischen Sein jedoch wird der Gegenstand gleichsam ad acta gelegt. Der Mensch betrachtet nicht, sondern beurteilt. Das Maß, der Sinn, die Ordnung, die dem Schauenden einst auf seiner epischen Wanderschaft, immer anhand der Dinge und Menschen, aufgegangen ist, wird nun von den Gegenständen gelöst und an sich, abstrakt, erfaßt und behauptet, so, daß Neues einzig im Hinblick auf dieses «Vor-urteil» Geltung erlangt. Der Weltentwurf hat sich kristallisiert. Die Welt, das geistige Selbst, wird «absolut», das bedeutet «abgelöst» und in der Ablösung «schlechthin gültig». Von solcher Höhe blickt der Dramatiker auf das wechselnde Leben hinab.   Fühlen ─ Zeigen ─ Beweisen: in diesem Sinn erweitert sich der Abstand. Bedenken wir den abstrakten Charakter dramatischer Auffassung des Lebens und andrerseits das Innige, Unbeweisbar-Verständliche lyrischer Stimmung, so zögern wir nicht länger, das dramatische Wesen als Geist, das lyrische aber als Seele zu bezeichnen, wie dies bisher schon, ohne die Worte auszuweisen, geschehen ist. Doch dürfen wir Geist und Seele nicht als Eigenschaften oder Vermögen ansehen, die der Mensch besitzt. Auch jede theologische Auslegung dieser Begriffe halten wir fern. Was wir Seele nennen, hat nichts zu tun mit jenem unsterblichen Teil des Menschen, der im Körper wohnt. Was wir als Geist bezeichnen, ist nicht ein inneres, von Gott entzündetes Licht. Sondern bei beiden handelt es sich um fundamentale Seinsmöglichkeiten, die keine andere Wirklichkeit haben als das Wie des Seienden, der Gegen- und Zustände, die sich erschließen. Seele ist die Flüssigkeit einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität, in der sich ein größeres Ganzes darstellt.   Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen, was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat, eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen, was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht, was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem Epigramm: «Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht er scheinen?    Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr» ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt. Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber aufzuheben, erklärte sich uns aus der auseinandersetzenden Kraft der ausgebildeten Sprache (Seite 82), die niemals bloß musikalisch, sondern immer zugleich intentional ist, das heißt, ein Gegenüber erzeugt. Braucht aber Schiller nicht die Begriffe Geist und Seele synonym? Das wäre ihm in einem so prägnanten Gedicht kaum zuzutrauen. Nicht der Geist an sich, nur der lebendige Geist kann dem Geist nicht erscheinen. Das Leben aber spendet die Seele. Sie ist die Fülle des Lebens selbst, seine unmittelbare Erschlossenheit, ein Gnadenschatz, der nicht erworben, der als Geschenk aus wesentlich unbekannter, mit keinem Wort der Sprache zu nennender Hand empfangen wird. Aus dieser Fülle des Lebens muß sich nun zwar der denkende Geist erheben und über alles, was ihm geschenkt ist, seine scharfe Helle verbreiten, wie Jupiter sich bei Hölderlin über das dunkle Reich Saturns erhebt. Aber er «schäme des Dankes sich nicht!» Wenn er sich eigenmächtig wähnt, wenn dann der strömende Quell versiegt, so bleibt ihm nichts als das tote Gesetz, ein Entwurf, der nichts Entworfenes birgt. Alsbald ist er auch dem Betrug und dem Irrtum ausgesetzt. Schelling sagt: «Es gibt zwar einen geistreichen, aber keinen seelenvollen Irrtum» Schelling, Werke, hg. von Manfred Schröter, IV. Hauptband, München 1927, S. 361. . Auch da sind die Begriffe Geist und Seele in unserem Sinne gebraucht. Die Seele kann nicht irren, weil sie ja selber keine Stellung bezieht, sondern eins ist mit dem Strom des Geschehens. Der Geist kann irren, weil er das Wahre vom Fühlen und vom Schauen löst und in Zeichen, in Wörtern und in der Schrift bewahrt. In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die Polarität von Person und Zustand wird in einer Weise beschrieben, daß jeder leicht das Verhältnis von dramatisch und lyrisch darin entdeckt und eine Kantische Lehre sich phänomenologisch zurechtzulegen vermag. Wie niemand nur als Zustand oder nur als Person existieren kann, wie jener dunkel bleibt, diese leer, so kann kein Mensch nur als Geist oder Seele, männlich oder weiblich, dramatisch oder lyrisch existieren. Als Geist erstarrt, als Seele zerrinnt er. Im Dramatischen droht ihm der Tod des Zerbrechens, das tragische Scheitern seiner Welt. Im Lyrischen droht ihm Auflösung ─ er kann sich selber nicht mehr halten. Darüber wußte Franz Baader Bescheid, der das Fließende und das Starre als äußerste Zonen bezeichnet, in denen kein Leben zu gedeihen vermag Franz Baader, Sämtliche Werke, Leipzig 1851─60. III, 269 ff. . Ein Vorrang des lyrischen oder dramatischen Seins ist also pathologisch, Brentano einerseits, der als Dichter und Mensch vor unsern Augen zerrieselt, Kleist andrerseits, dessen Grausamkeit, dessen Schärfe und Härte uns erschreckt. Das Epische finden wir in der Mitte. Das Fließende hat sich soeben gefestigt, das ständige Selbst entdeckt sich erst. Wir kennen für dieses «gesunde» Dasein keinen allgemein üblichen Titel, es sei denn, «Körper», «Körperlichkeit» (gemäß S. 108), doch nicht im Sinn eines Gegenstandes, sondern in dem eines Wie-Seins (wie S. 227 u.).   Solche Tafeln sind aber bedenklich. Wer sie aufstellt, muß sich darüber klar sein, was sie eigentlich leisten. Sie teilen das Gemüt des Menschen keineswegs so auf wie die Namen Kopf, Rumpf und Gliedmaßen die menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das, wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch «... wenn wir unterschieden haben, Dann müssen wir lebendige Gaben Dem Abgesonderten wieder verleihn Und uns eines Folge-Lebens erfreun.» Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283. Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt ─ wie das griechische Wort χλωρός aus dem Farbenspektrum ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.   Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch ─ episch ─ dramatisch zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt, so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt ihn fort. «Hielte diesen frühen Segen Ach, nur Eine Stunde fest! Aber vollen Blütenregen Schüttelt schon der laue West. Soll ich mich des Grünen freuen, Dem ich Schatten erst verdankt? Bald wird Sturm auch das zerstreuen, Wenn es falb im Herbst geschwankt. Willst du nach den Früchten greifen, Eilig nimm dein Teil davon! Diese fangen an zu reifen, Und die andern keimen schon; Gleich mit jedem Regengusse Ändert sich dein holdes Tal, Ach, und in demselben Flusse Schwimmst du nicht zum zweitenmal.» Goethe a. a. O. XIV, S. 490. Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch einmal erinnern sollten, in lyrischer Stimmung gleicht es sich nicht. Der Jüngling erinnert sich seiner Kindheit anders als der Mann und der Greis. Es gibt hier keine Identität. «Du nun selbst! Was felsenfeste Sich vor dir hervorgetan, Mauern siehst du, siehst Paläste Stets mit andern Augen an. Weggeschwunden ist die Lippe, Die im Kusse sonst genas, Jener Fuß, der an der Klippe Sich mit Gemsenfreche maß. Jene Hand, die gern und milde Sich bewegte, wohlzutun, Das gegliederte Gebilde, Alles ist ein andres nun. Und was sich an jener Stelle Nun mit deinem Namen nennt, Kam herbei wie eine Welle, Und so eilt's zum Element.» Die letzte Strophe lautet dann aber: «Laß den Anfang mit dem Ende Sich in Eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüberfliehn! Danke, daß die Gunst der Musen Unvergängliches verheißt, Den Gehalt in deinem Busen Und die Form in deinem Geist.»   Wir würden den «Gehalt im Busen», den Goethe schon als geprägt annimmt, noch nicht vom Vergänglichen unterscheiden. In der «Form im Geist» jedoch, die dem Vergänglichen Dauer verleiht, erkennen wir das epische Dasein, das die Dinge als solche feststellt und, sie dem Gedächtnis überliefernd, erklärt: So sind sie beschaffen! Da schaut sich der Mensch vom Ufer der Gegenwart aus den Strom des Vergänglichen an. Und wenn wir die «Form», ein Körperliches, dem Epischen zugewiesen haben, betrachtet der «Geist» das gestaltete Leben im Hinblick auf das, worauf es ankommt. Er stellt die Frage «Worumwillen?». Das heißt: das lyrische Dasein erinnert, das epische vergegenwärtigt, das dramatische entwirft. Was mit Erinnern, mit Vergegenwärtigen und Entwerfen gemeint ist, sollte deutlich geworden sein. Doch da wir uns jetzt an die immer beirrende temporale AusIegung wagen, ist keine Erläuterung überflüssig.   Der lyrische Dichter, so wurde gesagt (Seite 67), kann Gegenwärtiges und Vergangenes, ja sogar Künftiges erinnern. Dagegen kommt jetzt dem Erinnern offenbar präteritale Bedeutung zu. Doch darin liegt kein Widerspruch. Wenn wir sagen, der lyrische Dichter sei befähigt, Gegenwärtiges, Vergangenes und Künftiges zu erinnern, so nehmen wir die Dimensionen bereits als vergegenwärtigte Zeit, wie sie uns auch auf dem Zifferblatt und im Kalender auf noch abzureißenden Blättern vor Augen steht. Das lyrische Erinnern jedoch ist Rückkehr in den Mutterschoß in dem Sinn, daß ihm alles wieder in jenem vergangenen Zustand erscheint, aus dem wir aufgestanden sind. An sich ist im Erinnern freilich überhaupt noch keine Zeit. Es geht im Momentanen auf. Doch vom Standpunkt der Gegenwart aus gesehen, ist Erinnerung das Vergangene schlechthin. Daß nicht nur Theorie so spricht, bezeugt das Gefühl: Ich sinke zurück! das den Erinnernden überkommt, auch wenn er Künftiges erinnert, wie jener schmerzliche Lyriker in der «Wiederholung» Kierkegaards Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Aufl. Jena 1909, S. 122 ff. . Er ist im Sein, das je schon war, bevor eine Gegenwart aufging, und mit allem, was ihn erfüllt, begibt er sich in dies frühere Sein zurück, so, daß es ihm nun das nächste, ja ununterscheidbar eins ist mit ihm selbst, der sich und jede zeitliche Orientierung darin verloren hat.   Was der Lyriker erinnert, vergegenwärtigt der Epiker. Das heißt, er hält sich das Leben, wie immer es auch datiert sei, gegenüber. Ob er vom Sündenfall Adam und Evas oder vom Jüngsten Gericht erzählt: er stellt uns alles so vor Augen, als hätte er es mit Augen gesehen. Wir sagen also nicht, er halte sich auf bei dem, was jetzt geschieht. Das trifft nur dann zu, wenn er sich einmal entschließt, seine eigene Zeit zu schildern, wie Goethe in «Hermann und Dorothea». Wohl aber bildet er Gegenwart und begründet vergegenwärtigtes Leben, indem er zeigt, woher es kommt. Seine Kunst ist am leichtesten zu verstehen, weil sich unser alltägliches Dasein meist in epischen Bahnen bewegt. Auch wir vergegenwärtigen uns gemeinhin Vergangenes und malen uns, vergegenwärtigend, Künftiges aus. Ein solches Verhalten zum Künftigen aber hat nichts mit dramatischem Dasein zu tun. Sondern da wäre nun zu sagen:   Was der Epiker vergegenwärtigt, entwirft der Dramatiker. Er lebt so wenig «im» Künftigen wie der Epiker «in» der Gegenwart. Aber sein Dasein ist gerichtet, gespannt auf das, worauf es hinaus will. Das, worauf es hinaus will, worauf es ankommt, faßt er im voraus ins Auge. In problematischer Dichtung ist ihm von vornherein klar, worauf es ankommt; in pathetischer sichtet er noch und sucht im Dunkel nach einem Ziel. Doch hier wie dort zieht er sich gleichsam in eine vorausgesetzte Zukunft nach. In solchem Voraussetzen gründet das Urteil. Beurteilen kann ich nur, sofern ich etwas im Hinblick auf eine vorausgesetzte Ordnung betrachte. Der Ausdruck «Hinblick auf ...» faßt alle Möglichkeiten dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.   Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden, das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers «Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik», «Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften zur Reife gediehen ist. Da finden wir zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche Namen für Möglichkeiten des menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit», der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:   «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen: entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert a. a. O. S. 336. .»   Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.   «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit ... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist ein Zurückbringen auf a. a. O. S. 340. .»   Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich dichterisch aus im lyrischen Stil.   «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen existentialen Sinn in der Gegenwart a. a. O. S. 346. .» «Vergessen», «Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung, gehören hierher.   Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.   Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren zusammen die «Sorge», womit in «Sein und Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet wird.   Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen. Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit», zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten. Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener, halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften von «Sein und Zeit» sich zunächst im Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit» anzueignen und dann die Brücke von ontologischer zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst «auf halbem Weg der Idee begegnet» (Goethe), sieht sich bald veranlaßt, dieses Geschäft im Stillen zu verrichten, um nur von dem zu reden, was ihm eigentlich am Herzen liegt. Die Poetik verliert dabei nichts. Denn wenn sie, obzwar im ständigen Hinblick auf die Idee der ursprünglichen Zeit, die drei poetischen Gattungen aus der Sache selbst zu entwickeln versucht, so muß sie auch unmittelbar überzeugen, und keine Philosophie vermöchte «von außen» ein Ergebnis zu sichern, das nicht empirisch begründet ist. Immerhin fühlen wir uns bestärkt, wenn die Poetik die Ontologie, die Ontologie die Poetik bewährt. Wir möchten hoffen, einen Sektor jener exakten Wissenschaft vom Dasein, welche die Ontologie verkündet, ausgearbeitet zu haben. Um so verführerischer ist die Hoffnung, als die Zeit ja keineswegs erst von Heidegger in den Vordergrund des philosophischen Denkens gerückt worden ist. Seit der transzendentalen Ästhetik Kants kommt das Problem nicht wieder zur Ruhe. Die Philosophie des Idealismus umkreist es mehr oder minder bewußt. Kierkegaard und Nietzsche finden sich eigentümlich darauf verwiesen. Bergson gelingt ein großer Schritt, der wieder jüngere Forscher, wie Minkowski und Gaston Bachelard G. Bachelard: La dialectique de la durée, Paris 1936. , zur Ablehnung oder Zustimmung nötigt. Husserls «Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins» Hg. von M. Heidegger, Halle a. d. S. 1928. greifen mit phänomenologischer Methodik das «uralte Kreuz der deskriptiven Psychologie und Erkenntnistheorie» an. Noch viele Namen wären zu nennen. Die Frage verzweigt sich mehr und mehr und enthüllt, indem sie sich ausdehnt, erst den Ernst ihrer Rätselhaftigkeit. Insbesondere zeigt sich die Schwierigkeit, der Zeit als «innerem Zeitbewußtsein» oder als «Form der Anschauung» mit sprachlichen Mitteln beizukommen. Die drei Begriffe Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft reichen bei weitem nicht aus, da sie offenbar schon ein eingebürgertes Vorurteil über die Zeit enthalten. Gegen das Vorurteil, das in der Sprache verankert ist, müssen Erkenntnisse mühsam durchgesetzt werden, ein Geschäft, das dem weiteren Publikum von jeher Mißvergnügen bereitet.   Noch immer wird aber die Zeit als Phänomen unter anderen aufgefaßt. Erst Martin Heidegger hat in ihr das Sein an sich zu vermuten gewagt und widmet dieser einen Idee seine ganze philosophische Existenz. Sein Werk ist noch nicht abgeschlossen. Es scheint, als habe sich ihm selber während der Arbeit an «Sein und Zeit» ein weiterer Horizont eröffnet, in dem das Erreichte modifiziert und zu höherer Bedeutung gesteigert wird. So wäre es kaum zu empfehlen, einzelne Resultate zu übernehmen oder gar sich ängstlich seiner noch nicht endgültig fixierten, oft gewaltsamen Sprache anzuschließen. Wesentlicher als jedes Ergebnis ist die Gewalt der Frage selbst. Wie seinerzeit die Frage Kants: «Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?» eine neue Epoche der Geisteswissenschaften heraufgeführt hat, so dürfte der Frage nach dem Sein als Zeit geschichtebildende Kraft innewohnen. Ob sie sich auszuwirken vermag, darüber entscheidet ein Geschick, dessen Sinn wir nicht zu ermessen vermögen. Indes ist heute schon deutlich, daß uns die geistige Überlieferung im Licht von Heideggers Frage auf neue Weise zu eigen werden kann. Ausgerichtet auf die Zeit, hellt das scheinbar Auseinanderstrebende sich einheitlich auf. Die Geistesgeschichte ist nicht mehr, wie für Schopenhauer, ein Narrenhaus, wo keiner den andern hören will und keiner das Wort des andern versteht. Sondern es stellt sich heraus, daß die Größten im Grunde alle dasselbe sagen.   Insbesondere erfährt die «Zwangsvorstellung des deutschen Idealismus», die Dreizahl und der Dreitakt, aus der Zeit ihre Legitimation. Wir haben die Dimensionen oder, wie wir mit Heidegger sagen müßten, die drei «Extasen» der Zeit in den poetischen Gattungen dargestellt. Da kann uns nicht entgehen, daß sich die Dreizahl in der Ästhetik auch in andern Zusammenhängen aufdrängt. Wir unterscheiden drei Arten des Lächerlichen, Witz, Komik und Humor. Die Vermutung liegt nahe, daß Humor das Lyrisch-Lächerliche, Komik das Episch-, Witz das Dramatisch-Lächerliche sei. Ähnlich könnte die Dreizahl Musik, bildende Kunst, Poesie verständlich werden. Hegels und Vischers Ästhetik ziehen schon ähnliche Parallelen, ohne den wahren Grund ihrer Möglichkeit, das Walten der reinen Zeit, zu erfassen.   Aber hier ist eine Warnung am Platz. Nichts wäre verderblicher als ein vages Spiel mit temporalen Begriffen. Gar nichts leistet, wer Resultate einer bestimmten Untersuchung anderorts leichthin wieder probiert. Einzig die gründlichste Kenntnis der Sache gibt wissenschaftlicher Darstellung Wert. Als heuristisches Prinzip jedoch, dessen kein Forscher entraten kann, er mag sich noch so frei von jeder Art der Voraussetzung wähnen, dürfte die temporale Interpretation sich immer wieder bewähren.   Aber auch dies ist kein Arcanum, das jedem, der es besitzt, von vornherein irgendwelche Ergebnisse sichert. Im Gegenteil! Die Methode kann, wie die Hegelsche Dialektik, nur schaden, wenn sie sich nicht mit dem unmittelbaren Gefühl für künstlerische Werte paart. Wir haben gesehen: der dramatische Geist ist nichts, wenn ihm die epische Basis und also weiterhin die unergründliche Tiefe des Lyrischen fehlt. So taugt auch kein wissenschaftliches Urteil, das gleich aus festen Begriffen zusammengesetzt ist, statt sich aus dem Dunkel der Innigkeit langsam abzuklären. Mit andern Worten: der Fachmann ist eitel und wird jedwede Einsicht vereiteln, wenn er nicht immer auch Liebhaber bleibt. Liebe jedoch kann niemand wollen und lernen, am wenigsten glückliche Liebe, die alles Lebendigen Ursprung ist.   Was insbesondere die Wissenschaft von der Dichtung betrifft, so haben wir die Bedeutung unseres Resultats sogar noch weiter einzuschränken. Wir sind überzeugt, den Grund von Lyrik, Epos und Drama entdeckt zu haben. Die Zufälligkeit der äußeren Erscheinung eines Gedichts, ob es sich als Erzählung, als Bühnenstück oder als Epigramm, Ballade, Hymne, Ode darstellt, ließen wir gänzlich außer acht und suchten uns das Lyrische, Epische und Dramatische klar zu machen. Waren die Begriffe richtig, dem Sprachgebrauch gemäß erläutert, so mußte sich freilich eine Beziehung zu Lyrik, Epos und Drama ergeben. So fanden wir denn auch den reinsten lyrischen Stil in Liedern, den reinsten epischen Stil im homerischen Epos, während die Bühne, für mancherlei Zwecke geeignet, zunächst als Konsequenz des dramatischen Stils begreiflich wurde. Vom Standpunkt der deutschen Sprache aus zeigen sich hier keine ernstlichen Schwierigkeiten. Wohl gibt es auch deutsche Bühnendichter, die keinen dramatischen Zug aufweisen. Doch neben den großen Klassikern der Bühne kommen sie für die Begriffsbestimmung des Dramas kaum in Betracht. Ebenso gibt es unzählige deutsche Gedichte, die gar nicht lyrisch sind. Dennoch bildet das lyrische Lied die Mitte dessen, was Lyrik heißt. Im Englischen, in den romanischen Sprachen dagegen sieht alles ganz anders aus. Der Engländer wird es kaum verstehen, daß Shakespeare nicht als unzweideutig dramatischer Dichter gelten soll. Der Italiener denkt, wenn er «lirica» sagt, an Petrarcas «Canzoniere». Für uns aber ist Petrarcas Werk kein Prototyp des lyrischen Stils.   Solche Differenzen sind ärgerlich und können kaum behoben werden. Indes, genau besehen, liegt hier nur ein technisches Problem vor, wie es sich immer stellt, wenn Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, miteinander zu reden beginnen. Wenn wir dem Engländer mitteilen können, was mit den Gattungsbegriffen gemeint ist, läßt er sich eine Auslegung von Shakespeares Bühnendichtung mit unseren Kategorien vielleicht gefallen. Ausgeschlossen wäre es nicht, daß manches damit erfaßt werden könnte, was bisher unausgesprochen blieb. Ebensowenig würden wir von vornherein daran verzweifeln, Calderon oder Lope de Vega temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.   Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich vermutlich zeigen ─ was auch von Hölderlins Ode gilt ─ daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen, eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen? Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren. Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche Ordnung ist und bald die Stimmung wie von selber trägt. Außerdem aber gründen die horazischen Maße gar nicht im «Wesen», im «Geist» oder in der «Seele» des Dichters. Horaz spielt auf Alkaios, Sappho, Anakreon, Asklepiades an. Er spielt auf die Griechen auch an in seinem Satzbau und in seinen Motiven, und der Reiz seiner Poesie besteht weithin in der artistischen Freiheit und souveränen Kraft, fremde Gebärden und Töne wiederzugeben und sich, seelisch unbeteiligt, in einer Kunstwelt zu bewegen. Wer Horaz auslegen will, hat darauf sein Augenmerk zu richten. Jede andere Interpretation muß zu falschen Ergebnissen führen. Ob dies für den ganzen Horaz oder nur für Teile seines Werks zutrifft, das brauchen wir hier, wo uns einzig an einem Beispiel liegt, nicht zu beachten.   Das Beispiel aber steht für ganze Bereiche einer Poesie, die der deutsche, an Goethe gebildete Literarhistoriker leicht übersieht, oder, wenn er sie sieht, nicht zu schätzen weiß, die im weltliterarischen Rahmen jedoch, zumal bei den romanischen Völkern, einen so hohen Rang einnimmt und geschichtlich so viel bedeutet, daß jeder, der sie mißachtet, nur die engen Grenzen seiner Bildung, seiner literarischen Einsicht verrät. Und ist diese Dichtung denn immer so klar von einer «ursprünglichen» geschieden? Ich brauche nur Mörike oder Goethes «Westöstlichen Divan» zu nennen, um in Erinnerung zu rufen, wie oft, sogar in der Goethezeit, der Anklang, artistisches Spiel, am Wesen und Wert einer Dichtung beteiligt ist. Solche Züge zu erfassen, ist die Fundamentalpoetik kein geeignetes Instrument. Denn da sie die Dichtung in der reinen Zeit als dem Sein des Menschen verankert, genügt sie unmittelbar nur Werken, die aus dem Grunde dieses originalen Seins erschaffen sind. Unmittelbar! So müssen wir sagen. Denn mittelbar läßt sich wohl auch von hier aus ein Zugang zum rein Kunstmäßigen finden. Dazu jedoch bedarf es eines zarten geschichtlichen Instinkts, eines Sinnes für künstlerische Nuancen, den systematische Forschung zwar zu leiten, doch nie zu wecken vermag. Abermals also sei betont, daß die Fundamentalpoetik nur die historische Forschung vorbereitet, ja, daß sie sogar als Propädeutik immer lückenhaft bleiben muß.   Und noch ein Letztes füge ich bei. Soeben fiel der Ausdruck «Wert». Vom Wert einer Dichtung aber war bis jetzt ausdrücklich nie die Rede. Eine Poetik, wie sie hier vorliegt, kann keine ästhetische Wertung begründen. Man mag dies, je nachdem, als empfindlichen Nachteil oder als Vorzug buchen. Ein Vorzug ist es, wenn jede Wertung nur von einer bestimmten historischen Situation aus möglich ist, ein Nachteil, wenn es, wie wir zu glauben gezwungen sind, eine absolute Rangordnung von Werten gibt. Was wir glauben und was die wissenschaftliche Forschung verantworten kann, vermöchte ich heute noch nicht zu vereinen. So bleibe diese Frage offen. INHALT Einleitung 7 Lyrischer Stil: Erinnerung 13 Epischer Stil: Vorstellung 89 Dramatischer Stil: Spannung 155 Vom Grund der poetischen Gattungsbegriffe 219