POETIK RHETORIK UND STILISTIK ACADEMISCHE VORLESUNGEN VON WILHELM WACKERNAGEL HERAUSGEGEBEN VON LUDWIG SIEBER ────── HALLE VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES 1873 POETIK RHETORIK UND STILISTIK ACADEMISCHE VORLESUNGEN VON WILHELM WACKERNAGEL HERAUSGEGEBEN VON LUDWIG SIEBER ────── HALLE VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES 1873 VORWORT. Wackernagels Vorlesungen über Poetik, Rhetorik und Stilistik, mit deren Herausgabe die Familie des Verstorbenen mich beauftragt hat, sind der Hauptsache nach im Sommer des Jahres 1836 und im darauf folgenden Winter entstanden. Sie fallen also in den Beginn seiner academischen Lehrthätigkeit in Basel und in die Zeit der Arbeit an dem noch immer mustergültigen Deutschen Lesebuche. Mit diesem umfangreichen Werke, dessen erster Band den Verfasser auch kurz vor seinem Tode wieder in Anspruch nahm, und nicht minder mit der leider unvollendet gebliebenen Geschichte der deutschen Litteratur stehn denn auch diese Vorträge im innigsten Zusammenhang; die in jenen beiden Werken geübte litterarhistorische Kritik findet hier nicht selten ihre principielle Begründung und Rechtfertigung. Aber es war wohl nicht allein diese Erwägung, welche die Hinterlassenen Wackernagels veranlasste, die vorliegenden Vorlesungen dem Drucke zu übergeben und weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Auch der freudige und bei keiner von den häufigen Wiederholungen ausbleibende Beifall, den das gesprochene Wort bei den zahlreichen Zuhörern fand, und die unermüdliche Sorgfalt, womit der Verfasser bis in die letzten Lebensjahre seine Vorträge zu verbessern, zu glätten und zu erweitern bemüht war, haben sicherlich und mit Recht die Veröffentlichung als wünschenswerth erscheinen lassen. Freilich ist nicht zu leugnen, dass das Buch eine wesentlich andre, eine weit bessere und vollkommenere Gestalt würde erhalten haben, wenn Wackernagel selbst sich zur Herausgabe hätte entschliessen können; aber auch so, wie es nun vorliegt, wird mannigfache Belehrung und Anregung von ihm ausgehn, und von den vielen Schülern des Verfassers wird es nun gewiss Manchen freuen, mit reiferer Einsicht und klarerem Verständnisse gedruckt lesen zu können, was er in jüngeren Jahren mit Begeisterung aus dem Munde des verehrten Lehrers gehört hatte. Ueber mein Verfahren bei der Herausgabe habe ich Folgendes zu bemerken. Die Grundlage bildete das Manuscript des Verfassers, dessen getreue Wiedergabe ich mir durchweg zur Pflicht gemacht habe. Die Zusätze und verbessernden Randbemerkungen, die im Laufe von drei Jahrzehenden zu einer bedeutenden Zahl anwuchsen, sind nach Wackernagels Andeutungen mit behutsamer Schonung in den ursprünglichen Text eingereiht, und auch die häufigen Bleistiftnotizen, deren Entzifferung nicht immer leicht war, habe ich nach Kräften zu verwerthen gesucht. An manchen Stellen, wo die Gedanken mehr nur angedeutet als stilistisch ausgeführt waren, und wo sich statt vollständiger Sätze nur einzelne bezeichnende Worte fanden, wurde ergänzt, was der Satzbau und der Zusammenhang durchaus zu fordern schienen. Ebenso glaubte ich die Eintheilung in Hauptabschnitte und Capitel consequenter durchführen zu sollen, als es in der Handschrift des Verfassers der Fall ist. Sonst aber habe ich mich jeglicher eigenen Zuthaten enthalten. Am Schlusse des Capitels, das vom Stil des Verstandes handelt (S. 363─368), fehlt im Manuscript derjenige Abschnitt, in welchem vom Rhythmus der Perioden die Rede ist. Da die betreffenden Blätter im Nachlasse des Verfassers nicht aufzufinden waren (vielleicht sollten dieselben einer Umarbeitung unterworfen werden), so musste die Lücke so gut als möglich aus einigen, freilich nicht stenographischen Collegienheften ergänzt werden. Seine theoretischen Erörterungen pflegte Wackernagel durch Mittheilung zahlreicher Proben und Musterstücke zu beleben, von denen er die meisten dem mit Rücksicht auf diese Vorlesungen entworfenen Deutschen Lesebuch (LB.) entnahm. Beim Drucke konnte von einer Einreihung dieser begründenden Belege nur in seltenen Fällen die Rede sein; ich musste mich mit Verweisungen begnügen, die gern und mit Nutzen nachschlagen wird, wer dem Buche ein eingehenderes Studium widmet. Vom sechsten Bogen an ist bei den Citaten aus dem ersten, altdeutschen Theile des Lesebuchs neben der vierten auch noch die fünfte, nach dem Tode des Verfassers von Max Rieger besorgte Auflage berücksichtigt. Auf Wackernagels Litteraturgeschichte habe ich mit Rücksicht auf das höchst willkommene Register, welches Ernst Martin der neuen Ausgabe beigegeben hat, nur in besonders wichtigen Fällen verwiesen. Die Manchem vielleicht auffallende Weitläuftigkeit, womit in der Rhetorik die Rede undmbesonders die Predigt behandelt ist, hat ihren Grund in der grossen Zahl von Studierenden der Theologie, welche Wackernagels Vorlesungen zu hören pflegten. Eine Reihe von Bemerkungen über den Roman und sein Verhältniss zur Geschichtsschreibung (S. 80 fgg.) wird der Leser in der Rhetorik (S. 241 fgg.) fast wörtlich wiederfinden; diese Wiederholung, deren Beseitigung mir nicht erlaubt schien, erklärt sich durch den Umstand, dass sich Wackernagel zuweilen veranlasst sah, von den drei Haupttheilen in dem einen Semester diesen, in dem andern jenen als selbständiges Colleg vorzutragen. Es erübrigt noch in Erinnerung zu rufen, dass zwei grössere Abschnitte der Poetik schon vor einer längeren Reihe von Jahren sind veröffentlicht worden. Die Abhandlung über die epische Poesie (S. 42─119) findet sich im Schweizerischen Museum für historische Wissenschaften, herausgegeben von Gerlach, Hottinger und Wackernagel, 1, 341. 2, 76 und 243; den Abschnitt, welcher von der dramatischen Poesie handelt (S. 171 bis 230), liess Wackernagel im Jahre 1838 als academische Gelegenheitsschrift erscheinen; diese hat jedoch damals, wie es scheint, keine grosse Verbreitung gefunden. Eine Vergleichung der ursprünglichen Fassung dieser beiden Aufsätze mit dem vorliegenden Drucke wird zeigen, dass keine Seite ohne erhebliche Aenderungen geblieben ist. Zum Schlusse kann ich nicht unterlassen, den verschiedenen älteren und jüngeren Freunden, welche mir die von ihnen nachgeschriebenen Collegienhefte zur Benützung mitgetheilt haben, für den geleisteten Dienst den verbindlichsten Dank zu sagen. Besonders aber sei hier in dankbarer Gesinnung auch des überaus freundlichen Beistandes gedacht, womit Herr Prof. Dr. Moritz Heyne die Herausgabe dieser Vorlesungen seines Vorgängers gefördert hat. Basel, den 14. August 1873. Ludwig Sieber. ÜBERSICHT DES INHALTES. EINLEITUNG. Sittlichkeit, Wissenschaft und Kunst als menschliche Gegenbilder der göttlichen Allgüte, Allweisheit und Allmacht 1 . Das Schöne; Begriff und Etymologie des Wortes 2 . Einbildungskraft, Gefühl und Verstand als Mittel zur Aufnahme des Schönen 3 . Die Kunst als schöne Darstellung des Schönen 5 . Sinnliche und geistige, fixierende und transitorische Künste 6 . Die Dichtkunst verglichen mit den bildenden Künsten 7 . Wesen und Begriff der Kunst 9 . Unterschied zwischen Poesie und Prosa 10 . POETIK. VORBEMERKUNG. Wesen und Ziel der Poetik 15 . I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN. 1. DAS WESEN DER POESIE. Die Poesie als schöne Darstellung des Schönen durch das Wort 16 . Bedeutung der Einbildungskraft für die Conception der poetischen Idee; Antheil des Gefühls und des Verstandes 17 . Ebenmässiges Zusammenwirken der drei Seelenkräfte als Grundlage der Einheit, Einfachheit und Objectivität des poetischen Kunstwerkes 18 . Adel und Anmuth 19 . Vorwalten einzelner Kräfte: phantastische, gemüthliche, sentimentale, reflectierende Poesie 19 . Unvermittelter Widerstreit zwischen den drei Seelenkräften. Conflict der Einbildung mit dem Verstande: das Lächerliche, Spott und Ironie 21 . Beseitigung des Verstandes durch die Einbildung: das Erhabene 22 . Conflict der Einbildung mit Gefühl und Gemüth: Wehmuth, Laune 23 ; Humor 24 . Bewältigung des Gefühls durch die Einbildung: das Grausenhafte 25 . Darstellung der poetischen Idee durch die Sprache 28 . Zweck der künstlerischen, besonders der poetischen Darstellung 28 . Rhythmische Gliederung der poetischen Rede 33 . 2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE. Die Poesie älter als die Prosa. nicht viel jünger als die Sprache 35 . Sagen vom Ursprung der Poesie 36 . 3. BENENNUNGEN DER POESIE. Etymologie der von Griechen, Römern und Deutschen der Dichtkunst und den Dichtern beigelegten Namen 39 . II. VON DER POESIE IM BESONDERN. 1. DIE EPISCHE POESIE. Epik die älteste Gattung der Poesie; Belege aus Geschichte und Sage 42. Innere Gründe 44. Wesen der epischen Poesie 47. Erste Stufe: das Epos der nationalen Objectivität. Gestaltungen der epischen Anschauung: Sage 48 ; Mythus 50 ; Märchen 52 ; Thiersage 55 . Die Nation als Subject der epischen Poesie 57 . Mündliche Ueberlieferung; ihr Einfluss auf Anschauung und Darstellung. Gesang mit Saitenspiel 59 . Sänger von Gewerbe 60 . Einfachheit des alten Epos 61 . Anschaulichkeit desselben 62 . Umfang 63 . Epische Wiederholungen 63 . Metrische Form 64 . Ursprung der Lyrik und des Dramas 66 . Zweite Stufe: das Epos der individuellen Subjectivität 70 . 1) Epische Epik 71 . Rhapsoden 72 . Epopöien 73 . Episoden 75 . Ilias, Odyssee, Nibelungen 76 . Selbständige Epopöien 78 . Erzählungen 79 . Untergang des Epos; Geschichtsschreibung und Roman 80 . Wesen und Gesetze der reinen Epik: Einheit des geschichtlichen Verlaufes und der Person 83 , der Zeit und des Ortes 84 . Breite 85 . Objectivität 85 . Möglichkeit der Reproduction 86 . Einmischung der Mythologie 87 . Historische Stoffe 88 . Erfundene Stoffe 89 . Komische Epopöien 90 . Erzählungen 91 . 2) Lyrische Epik 92 . Hymnen und Threnen 92 . Nenien 93 . Lyrische Epik der modernen Völker 94 . Volkslieder 96 . Balladen und Romanzen 98 . 3) Didactische Epik 100 . Idyll 102 . Satire 105 . Fabel 109 . Parabel 110 . Geschichte der Fabel 111 . Sprichwort 116 . 2. DIE LYRISCHE POESIE. Vergleichung der Lyrik mit der Epik 119 . Historisches Verhältniss beider 124 . 1) Epische Lyrik 126 . Heroides 126 . Mimische Poesie 127 . Elegie 128 . Epigramm der Empfindung 138 . Lyrische Gelegenheitspoesie 141 . Pindar 142 . Leich 147 . Kirchenlied 148 . Weltliche Gelegenheitspoesie 150 . Ode 151 . 2) Didactische Lyrik 153 . Reines Lehrgedicht 153 . Spruch, Sentenz, Gnome 154 . Beschreibende Poesie 155 . Satire des Archilochus 158 . Epistel 158 . Epigramm der Lehre und des Spottes 159 . Sprichwörtliche Sprüche, Priamel, Räthsel 161 . Didactische Gelegenheitspoesie 162 . Lehrgedicht 165 . 3) Lyrische Lyrik 167 . Lied 170 . 3. DIE DRAMATISCHE POESIE. Ursprung des Dramas 171 . Wesen und Begriff desselben 173 . Geschichtliche Entwickelung 175 . Der Chor der Griechen 177 . Der Chor Schillers und Platens 181 . Gesetze der dramatischen Kunst. Einheit und Verwickelung der Handlung 184 . Eine Hauptperson 185 . Eine Hauptbegebenheit 186. Ununterbrochener Verlauf der Handlung 188 . Hauptglieder der Handlung: Exposition und Verwickelung 189 ; Auflösung 190 . Eintheilung in Acte 191 . Einheit der Zeit und des Ortes 193 . Illusion 195 . Scenerie und Decorationen 197 . Metrische Form des Dramas 197 . Aufführbarkeit 200 . Arten der dramatischen Poesie. Die Namen Tragödie und Comödie 202 . Innerer Unterschied beider 203 . Wesen und Zweck der Tragödie 206 . Furcht und Mitleid 207 . Charactere 208 . Historische Wirklichkeit der Tragödie 210 . Costüm 214 . Bürgerliches und historisches Trauerspiel 215 . Wesen und Gebiet der Comödie 216 . Ihre Wirklichkeit 218 . Charactere 219 . Freie Erfindung der Handlung 221 . Subjectivität des komischen Dichters 222 . Der komische Chor 223 . Abarten der dramatischen Poesie: Schauspiel 224 . Satyrspiel 226 . Rührendes Lustspiel, bürgerliches Schauspiel 227 . Singspiel 228 . Oper und Operette 229 . Vaudeville, Melodrama, Monodrama, Cantate, Oratorium 230 . RHETORIK. VORBEMERKUNG. Begriff der Rhetorik 235 . I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN. Wesen und Namen der Prosa 237 . Alter und Ursprung derselben 238 . Arten 239 . Gebrauch der Schrift 240 . II. VON DER PROSA IM BESONDERN. 1. DIE ERZÄHLENDE PROSA. Entstehung aus der epischen Poesie 240 . 1) Geschichtsschreibung: Verfahren des Historikers im Vergleich mit dem des Epikers 242 . Pragmatische Geschichte 243 . Idee und Einheit 244 . Gebiete: Biographie, Specialgeschichte und Universalgeschichte 245 . Historische Darstellung 246 . Anordnung 248 . 2) Roman: Einheit 250 . Erfundene und historische Stoffe 251 . Characteristik 252 . Dialog und Brief 253 . Komischer, satirischer, humoristischer, didactischer Roman 254 . Erzählung 255 . Novelle 256 . Novellencyclus 258 . Abarten der erzählenden Prosa: Gespräch 258 ; Beschreibung 259 ; Characteristik 262 . 2. DIE LEHRENDE PROSA. Entstehung aus der didactischen Lyrik 264 . 1) Abhandelnde Prosa 266 : Abhandlung 267 . Lehrbuch 268 . Dialog und Brief 269 . 2) Rednerische Prosa 271 : Arten der Rede, politisch 272 , gerichtlich 273 , geistlich 273 . Lobrede 275 . Schulrede 276 . Bau der Rede: Dreitheiligkeit 277 . 1) Exordium 279 : Captatio benevolentiae 280 ; Narratio facti 281 ; Expositio 282 . Besonderheiten des Exordiums in geistlichen Reden 284 . Predigt und Homilie 288 . Propositio und Partitio 289 . Gebet 291 . 2) Disputatio 294 : Erklärung und Beweisführung 296 . Besonderheiten in geistlichen Reden 298 . 3) Conclusio 299 : Recapitulatio 300 ; pathetischer Theil 301 ; Beschluss 302 . Schlussgebet 305 . Schematische Tabelle 306 . Die Rede verglichen mit dem Drama 307 . STILISTIK. VORBEMERKUNG. Begriff und Zweck der Stilistik 311 . I. VOM STIL IM ALLGEMEINEN. Das Wort Stil 312 . Definition 313 . Subjective und objective Seite des Stils 314 . Manier 315 . Gattungen und Eigenschaften des Stils 317 . Niederer, mittlerer und höherer Stil 320 . Uebersicht der Vertheilung von Poesie und Prosa unter die drei Hauptgattungen des Stils 321 . II. VOM STIL IM BESONDERN. 1. DER STIL DES VERSTANDES. Benennungen der Prosa 323 . Umfang der ersten Stilgattung 324 . Arten derselben 325 . Deutlichkeit, der allgemeine Character des verständigen Stiles 326 . Deutlichkeit in der Wahl der Worte 327 . Reinheit und Richtigkeit 327 . Verstösse gegen die Reinheit: 1) Archaismus 329 ; 2) Provincialismus 331 ; 3) Barbarismus 333 ; 4) Neologismus und Purismus 338 . Angemessenheit 340 . Verstösse dagegen: 1) Uneigentlichkeit 341 ; 2) Katachrese 342 ; 3) Vocabula solemnia 342 ; 4) Amphibolie 342 ; 5) Allgemeinheit 343 ; 6) Verwechslung der Synonyma; 7) Pleonasmus; 8) Tautologie; 9) Anhäufung von Synonymen 344 . Deutlichkeit in der Anordnung und Verknüpfung der Worte 345 . Periodenbau 345 . Begriff der Periode 345 . Anforderungen an dieselbe: 1) Ueberschaulichkeit, erreicht durch Hervorhebung 346 und durch Ebenmass 350 ; 2) Wohlklang 362 . 2. DER STIL DER EINBILDUNG. Umfang und Arten der zweiten Stilgattung 368 . Anschaulichkeit, ihr characteristisches Erforderniss 369 , und erreicht durch Sinnlichkeit und durch Lebendigkeit. Sinnlichkeit in der Wahl der Worte 371 . Archaismus und Provincialismus im Stil der Einbildung 372 . Barbarismus 374 . Macaronische Poesie 375 . Niedre und höhere Sinne 376 . Edler und unedler Ausdruck 377 . Sinnlichkeit für das Gehör; Lautmalerei 379 . Sinnlichkeit für das Gesicht: Figuren und Tropen im Allgemeinen 380 . Fehler im Gebrauch derselben: Ueberhäufung 382 ; Katachrese 384 . Figuren: Epitheton ornans 385 ; Umschreibung 386 ; Vergleichung und Gleichniss 387 ; Anspielung (Allusio) 389 . Tropen: Metonymie 390 ; Wortspiel (Annominatio) 391 ; Synecdoche 393 ; Metapher 394 ; Allegorie 396 ; Personification 396 ; Anrede (Apostrophe) 399 ; Praesens historicum 400 ; Infinitivus historicus 400 ; Hyperbel 401 ; Litotes 402 ; Ironie 402 ; Oxymoron 404 ; Euphemismus 404 . Lebendigkeit in der Anordnung und Verbindung der Worte 406 ; a) in Rücksicht auf deren Gehalt. Mittel zur Bewegung des Ruhigen: Asyndeton 409 ; Gradation (Climax) 410 ; Ellipse und Aposiopese 412 . Mittel zur Beruhigung des Bewegten; α ) durch Verharren: Polysyndeton 413 ; Cumulation 414 ; Tautologie 415 ; Parallelismus 416 ; Inversion; Hysterologie 417 ; β ) durch Wiederholung: Epische Wiederholung 418 ; Anacoluthie 420 ; Theilung und Zusammenzählung; Refrain 422 ; Anaphora; Epiphora 425 ; Epanalepsis (Anadiplosis); Epanodos 426 ; Epizeuxis; Symploke 427 ; Polyptoton; Annominatio 428 ; Echo 429 . b) in Rücksicht auf die Gestalt der Worte: Wohlklang 430 . Wohllaut: Vermeidung des Hiatus durch Apocope und Synalöphe 433 ; Ausschmückung des Verses durch wiederkehrenden Gleichlaut 437 ; Allitteration und Reim 438 ; Reimprosa 441 ; Assonanz 442 . 3. DER STIL DES GEFÜHLS. Leidenschaftlichkeit, das characteristische Merkmal der dritten Stilgattung 443 . Arten derselben 444 . Ethos und Pathos 445 . Abstufungen des lyrischen und des oratorischen Stils 446 . 1) Oratorische Prosa 448 ; 2) Lyrische Poesie 450 . DRUCKFEHLER. S. 57 Zeile 15 von unten lies Thiersage statt Thierfabel. „ 298 „ 9 „ „ „ § 38 statt § 8. EINLEITUNG. Die drei hauptsächlichen Eigenschaften, die der Glaube und die Glaubenslehre in dem Wesen Gottes unterscheidet, seine Allgüte, Allweisheit, Allmacht, spiegeln sich auch in seinem ersten und liebsten Geschöpfe wieder, in dem Menschen, der nach Genes. 1, 27 zum Bilde Gottes geschaffen ist; aber sie sind verwischt und verdunkelt unter dem Staube der Sündlichkeit, weshalb schon Paulus sagt: „Wir haben aber solchen Schatz in irdischen Gefässen, auf dass die überschwängliche Kraft sei Gottes, und nicht von uns“ 2. Cor. 4, 7. Nicht die Fülle jener Eigenschaften, ja nicht einmal einen Theil derselben besitzt er: nur ein sehnsüchtiges Streben danach ist ihm geblieben und die Pflicht in diesem Streben so rein und eifrig zu sein, als es in den Schranken des sinnlichen und vergänglichen Leibes möglich ist. Gott ist allgütig: der Mensch ringt danach oder soll danach ringen, das Gute zu thun und das Böse zu lassen; er hat die Sittlichkeit. Gott ist allweise: der Mensch strebt nach Erkenntniss dessen, was in ihm und um ihn und über ihm ist, nach beständiger Erhöhung und Erweiterung dieser Erkenntniss; er hat den Wissenstrieb. Gott ist allmächtig: der Mensch sucht der Allmacht Gottes nachzuschaffen, nach seinem Vermögen und mit seinen Mitteln vollkommene Schöpfungen hinzustellen; er hat den Kunsttrieb. Gottes ist die volle Güte: des Menschen nur der Trieb der Sitte; Gottes die Weisheit: des Menschen nur die Wissenschaft; Gottes die Macht: des Menschen nur die Kunst. Oder mit andern Worten, die Fülle und der Glanz des göttlichen Reichthums scheint aus der verlangenden Seele der Menschheit zurück als das Streben nach dem Guten, dem Wahren, dem Schönen, und das zugleich nach all diesen drei Seiten hin gerichtete Streben ist es, zu welchem der Apostel Paulus die Gläubigen ermahnt, Philipp. 4, 8: „Weiter, lieben Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach.“ Denn führt man die gehäufte Fülle dieser Worte auf einen einfacheren Ausdruck zurück, so ergeben sich die drei Begriffe des Wahren, des Guten, des Schönen. Es soll und muss aber das Streben des Menschen zugleich nach all den drei Seiten hin gerichtet sein; denn wie jene Eigenschaften der Gottheit von einander unzertrennlich sind, wie die Allmacht nicht kann gedacht werden ohne die Allgüte und die Allweisheit, so giebt es auch kein rechtes Streben nach dem Schönen, dem nicht das Streben nach dem Wahren und dem Guten zur Seite gienge, und es kann keine Kunst bestehn, die verlassen wäre von Sittlichkeit und von menschlicher Weisheit. Gleichwie aber in den Wirkungen der Gottheit bald die eine, bald die andre jener Eigenschaften deutlicher sich offenbart, so wird auch in dem aufringenden Streben der Menschheit jetzt dieser, jetzt jener Trieb erkennbarer und mit überwiegender Wirksamkeit hervortreten, und in solcher Weise ist es dann auch möglich, die Kunst von der Sitte und der Wissenschaft, das Schöne von dem Guten und dem Wahren abzusondern. Wir haben nunmehr, wie es in den Zwecken dieser Vorlesung liegt, noch des nähern zu betrachten, was denn schön sei, und was denn unter Kunst müsse verstanden werden. Vom Begriffe des Schönen giebt es eine Unzahl von Definitionen, und die abweichendsten und im Ausdrucke einander aufs mannigfachste widerstreitenden. Aber meistentheils eben auch nur im Ausdrucke: der wechselt nach der jedesmaligen Ausbildung der wissenschaftlichen Sprache und je nach der philosophischen Schule, aus welcher die Definition hervorgegangen. In der Sache selbst, dem wesentlichen Gehalte nach kommen ziemlich alle in einer Erklärung überein, die so trifft und erschöpft, als es möglich ist bei dergleichen abstracten Gegenständen, in der Erklärung, dass die Schönheit in der Vollkommenheit beruhe, d. h. um es weitläuftiger zu sagen, in der übereinstimmenden Verbindung aller Theile zum Ganzen. Schönheit ist also da, wo Einheit ist in Mannigfaltigkeit. Durch diese Definition wird es gerechtfertigt, dass vorher der Schönheitssinn ist dargestellt worden als das menschliche Nachbild und Gegenbild der göttlichen Allmacht: denn wo anders zeigt sich die wahre Vollkommenheit, die wirklich übereinstimmende Verbindung der Einzelheiten zum Ganzen, die in der That abgeschlossene Einheit des Mannigfaltigen, wo anders also die höchste Schönheit als in den Schöpfungen der göttlichen Allmacht? Und umgekehrt mag dann wieder dieses Verhältniss des menschlichen Geistes zum göttlichen der gegebenen Definition zur Bewährung und Bekräftigung dienen. Auch aus den Worten, welche verschiedene Sprachen für den Begriff des Schönen besitzen, bestätigt sich jene Erklärung: noch ehe die Philosophen mit ihren chemischen Absonderungs- und Zergliederungskünsten über ihn gekommen sind, hat mehr als ein Volk das Richtige geahnt und getroffen und in dem gewählten Ausdrucke ausgesprochen. Die althochdeutsche Sprache hatte für schön das Wort vakar, die altnordische fagr (man denke an Harald Hârfagr, d. h. Schönhaar, den Stifter des einigen norwegischen Reiches c. 875), und beide sind etymologisch verwandt mit παχύς dicht, fest. Nicht so philosophisch bedeutsam ist unser Wort schön. Philosophen wie Kant und Hegel leiten dasselbe von scheinen her, was jedoch etymologisch unmöglich ist; es gehört vielmehr zu schauen. Die althochdeutsche Form skaoni bezeichnet, was man gern schaut, was angenehm in die Augen fällt: aber bald wird das Wort auch als der Ausdruck für das Vollständige, Vollkommene aufgefasst: ein schöner Tag ist also ein vollständig heller Tag im Gegensatz zur Dämmerung und zum Zwielicht. Von schön stammt auch schonen, d. h. ganz und unverkümmert lassen. Wie schön, so geht auch das griechische καλός auf den Gesichtssinn, es ist verwandt mit dem deutschen hell und von gleicher Wurzel wie κέλομαι, καλέω , calare. Der Zusammenhang des Hellen und des Schönen zeigt sich auch in λευκός , das sowohl das Leuchtende als auch das Schöne bezeichnet. Noch mag bemerkt werden, weil es die Zusammengehörigkeit des Schönen und des Guten, die Kalokagathie, auch auf sprachlichem Wege und auch für das Deutsche bestätigt, dass Ulfilas in der gothischen Bibelübersetzung den Begriff schön mit gôds d. h. gut, den Begriff gut mit fagrs d. h. schön ausdrückt: so z. B. Luc. 14, 34. 35, wo gôd dem griechischen καλόν und fagr dem griechischen εὔθετον entspricht. Im Mittelhochdeutschen gelten vuoge und gevüege nicht nur von künstlerischer Geschicklichkeit, sondern auch von sittlicher Schicklichkeit und Wohlanständigkeit. Welche Mittel sind es nun, durch die der Geist des Menschen das Schöne in sich aufnimmt und sich desselben bemächtigt? Drei Seelenkräfte treten hier in Wirksamkeit. Zuerst und hauptsächlich die Einbildungskraft, die entweder Erinnerung ist oder Phantasie, entweder reproduciert oder produciert, entweder als Gedächtniss früher gewonnene Vorstellungen nur erneuert oder aber nach Analogie solcher älterer Vorstellungen als Phantasie neue erzeugt und schafft. Ganz und gar neue nicht, nie ganz unerhörte, noch gar nie dagewesene: immer noch Analogien von Gedächtnissbildern. Selbst die ausschweifendste Phantasie schafft immer nur mit Gestalten, welche ihr die Erinnerung an die Hand giebt. Die Einbildungskraft gewährt die unzertrennte Anschauung des Schönen, giebt das Ganze mit und in den Theilen, die Theile in und mit dem Ganzen. Sie ist das eigentliche Substrat des menschlichen Triebes zum Schaffen und Gestalten, auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst, oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft, welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die dritte Kraft, der Verstand, dem Streben nach dem Wahren, dem Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung; er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders, während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft. Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht, andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen das Streben nach dem Wahren das vorwaltende ist: grade so wirken auch bei der Conception des Schönen die genannten drei Seelenkräfte nicht überall, nicht zu allen Zeiten, nicht bei Jedem in der gleichen Mischung, sondern es giebt Völker und Zeiten, es giebt Künstler und Kunstgattungen, in denen die Einbildungskraft, andere, in denen das Gefühl, andere, in denen der Verstand die stärkste und wirksamste Feder des geistigen Mechanismus ist. Nur wenigen Erwählten ist es gegeben, gleich eifrig und gleich glücklich das Gute, das Wahre, das Schöne anzustreben; nur wenigen Künstlern, nur einzelnen Kunstgattungen und Zeiten und Völkern eben solchen Reichthum an Einbildung aufzuweisen als Feinheit des Gefühls und Klarheit des Verstandes; wie unter den Künstlern Michel Angelo und Goethe, unter den Kunstgattungen der Malerei und dem Drama, unter den Völkern den alten Griechen und theilweise den Deutschen. Bis jetzt haben wir nur gesehen, wie der menschliche Geist in sich das Schöne anschaue: lassen Sie uns nunmehr betrachten, auf welche Weise er diess Innerliche nun auch äusserlich wahrnehmbar mache, auf welchen Wegen die bis dahin nur noch geistige Schöpfung in die äussere Sinnenwelt eintrete. Es giebt der Weisen mehrere, der hauptsächlichen Wege zwei: die Benennung dieser äusserlichen Darstellung ist aber stäts dieselbe, nämlich Kunst, τέχνη , ars. Alle drei Worte erleiden freilich auch eine weitere Anwendung, auch manche bloss mechanische Fertigkeit, deren Zweck nicht das Schöne, nur das Nützliche, Zweckmässige, Bequeme ist, wird so genannt; auch die Beschäftigung, deren Ziel nur die Wahrheit ist, die Wissenschaft (liberales artes), auch die Grammatik, welche früher Sprachkunst hiess. Diese weitere Ausdehnung ist besonders im Deutschen etymologisch vollkommen begründet: Kunst ist von können in derselben Weise gebildet wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen, und wurde früher von innerer geistiger Fähigkeit gebraucht im Gegensatz zu mögen, das eine äussere Befähigung ausdrückt. Indessen im engeren Sinne, in der Sprache der Wissenschaft, bedeutet Kunst s. v. a. Darstellung des Schönen als solchen und die Fertigkeit zu solcher Darstellung. Dieser Beschränkung des Sinnes entspricht auch die Etymologie des griechischen und des lateinischen Namens. Τέχνη ist nicht von τεύχω (machen) abzuleiten, es gehört vielmehr zu τίκτω (aor. ἔτεκον ) und bezeichnet also eine Schöpfung; ars wie artus (Glied) gehört zu ἄρω, ἀραρίσκω füge, verbinde: vorher aber ist ausgeführt worden, wie der Kunsttrieb des Menschen nur ein Nachhall von Gottes schöpfender Allmacht sei ( τέχνη ), und wie das Fügen und Verbinden (ars) zum Wesen des Schönen gehöre. Kunst, ars, τέχνη bezeichnen also die Darstellung des Schönen als solchen, oder wenn man will die schöne Darstellung des Schönen. Darstellung des Schönen, diess allein genügt nicht: denn das Schöne muss auch als Schönes in die Sinnenwelt eintreten, muss als solches, muss auf eine der inneren Conception entsprechende äussere Weise dargestellt werden, wenn die Darstellung soll eine künstlerische heissen dürfen. Ein schöner Gedanke in unschöner Rede, in ungeschickter und falscher Zeichnung dargestellt ist kein Kunstwerk: er hat aufgehört schön zu sein. Es giebt nun zwei Hauptwege das Schöne als solches darzustellen, zwei Hauptrichtungen der Kunst, unterschieden nach den Mitteln der Darstellung: es können diese Mittel mehr geistiger, sie können mehr sinnlicher Natur sein. Sinnlich sind die Mittel, wenn die Idee, wenn die schöne Anschauung eigentlich verkörpert, wenn sie dem Auge, ja sogar dem sinnlichen Gefühl wahrnehmbar gemacht, wenn das geistig Schöne nur sinnlich schön gestaltet wird. Es ist ein sinnliches Mittel, wenn der Mensch seinen eigenen Leib schön stellt und schön bewegt, und der Tanz gehört zu den Künsten sinnlicher Art; es ist ferner ein sinnliches Mittel, wenn man rohen Stoff, welchen die Natur darbietet, der inneren Conception gemäss schön gestaltet; die Architectur, die Bildhauerei, die Malerei sind also sinnliche Künste. Diese drei, die also fremden, ausserhalb des Menschen liegenden Stoff gestalten, fasst man deshalb zusammen unter der gemeinsamen Benennung der bildenden Künste. Ihre Darstellungen haben Bestand ein für allemal: das Gebäude, die Statue, das Gemälde sind für immer fertig, sind unveränderlich morgen so wie heute: die schönen Formen des Tanzes dagegen sind mit dem Tanze selbst vorüber. Die bildenden Künste haben mit der einmaligen Production das Ihrige gethan: die Tanzkunst bedarf immer wiederholter Reproduction, sie leistet nur vorübergehende Kunstübung, sie hat transitorischen Charakter. Eben dadurch unterscheiden sich die bildenden Künste auch von derjenigen Kunst, welche sich zu ihren Darstellungen geistiger Mittel bedient, von der Poesie, der Dichtkunst. Der Dichter braucht weder Steine noch Holz, weder Fleisch noch Bein: er bildet seine schöne Anschauung in Gedanken und in vernehmbar, hörbar gewordenen Gedanken, in Worten, und zwar sind, damit das Schöne auch schön dargestellt werde, sowie die Gedanken auch die Worte schön; seine Worte sind, jedes für sich und alle in ihrer Verbindung wohllautend; sie sind, damit sich auch in ihnen das Gesetz der Schönheit darlege, welches Einheit des Mannigfaltigen fordert, in rhythmische Reihen gegliedert: er spricht in Versen. Aber auch das Kunstwerk des Dichters ist an und für sich von vorübergehender Art und bedarf, um zu existieren, immer erneuter Reproduction; es hat nicht den durch die Materie fixierten und gesicherten Bestand wie die Erzeugnisse der bildenden Kunst. Denselben transitorischen Character besitzt unter den sinnlichen Künsten der Tanz; insofern macht dieser den Uebergang von den sinnlichen Künsten zur Poesie. Ebenso steht auch neben der Poesie noch eine andre geistige Kunst, welche von dieser Seite aus den Uebergang zu den sinnlichen Künsten bildet, die Musik; deren Erzeugnisse sind gleichfalls transitorischer Natur und verlangen gleich denen der Poesie und der Tanzkunst die Reproduction, ihre Darstellungsmittel aber sind viel sinnlicher beschaffen als die der Poesie, sie denkt nicht wie die Poesie in Worten, sondern in Tönen, sie giebt der schönen Anschauung die äussere Gestaltung in oft nur unarticulierten Lauten, sie verleiht, wo sie Instrumentalmusik ist, der Materie, dem Holz, dem Metall, der Saite zwar gleichsam eine Sprache, aber doch nur gleichsam. Immerhin sehen Sie, wie die Tonkunst und die Tanzkunst ihrer ganzen Art und Wesenheit nach sich der Kunst der Poesie annähern, und wie diese drei transitorischen Künste, Dichtkunst, Tonkunst, Tanzkunst können zusammen gruppiert werden gegenüber jenen drei fixierenden, Architectur, Sculptur, Malerei. In der That sind auch auf beiden Seiten die drei ursprünglich mit einander verbunden. Sculptur und Malerei haben lange im Dienste der Architectur gestanden, ehe sie sich zu selbständiger Geltung ausbildeten; Musik und Tanzkunst sind noch heute verbunden, Poesie und Musik waren es überall, auch in Deutschland viele Jahrhunderte hindurch: auf der griechischen Bühne sehen wir alle drei mit einander verschwistert: der Chor tanzt und singt seine Lieder. Schon aus dem bisher Besprochenen ersehen Sie, wie weit Dichtkunst und bildende Kunst auseinandergehen, wie sie aus der gleichen Wurzel die eine linkshin, die andre rechtshin gewachsen sind. Dennoch ist nichts geläufiger, als beide durch einander zu werfen, und nichts so gäng und gäbe, als Eigenthümlichkeiten der einen Kunst in Wort und That auf die andre zu übertragen und z. B. nicht bloss von malerischen Gedichten zu reden, sondern auch wirklich Gedichte abzufassen, welche prätendieren Gemälde zu sein; so hat ja Matthisson eine ganze Anzahl seiner Gedichte Gemälde betitelt. Lassen Sie uns darum noch auf einen weiteren Unterschied beider Künste einen schnell vorübergehenden Blick werfen. Die bildenden Künste können nichts Fortschreitendes darstellen: der Bildhauer z. B. kann uns den Apoll nicht vorführen, wie er jetzt den Pfeil ergreift, nun ihn auf den Bogen legt, nun ihn abschiesst, nun dem fliegenden nachsieht: er kann immer nur einen dieser Momente herausgreifen. Freilich wird er überall wo möglich einen solchen wählen, aus welchem der Beschauer leichtlich vorwärts und rückwärts, auf vorhergegangene und nachfolgende Momente der Thätigkeit schliessen kann, welcher also die Phantasie des letzteren am leichtesten dahin bringt, mit der Phantasie des Künstlers in verwandtschaftlich mitwirkenden Verkehr zu treten. Er wird also wie z. B. der Meister des belvederischen Apollo diesen Gott darstellen, wie er so eben geschossen hat und nun in stolze Ruhe zurückgetreten dem Pfeile nachblickt: denn nun belebt sich dem Anschauenden Alles, und er sieht in Gedanken auch den Drachen, welchem der Pfeil zufliegt. Oder er wird, wie die Maler das wohl verstehen, etwa aus einer blossen Falte des Gewandes errathen lassen Raph. Mengs, Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei, S. 69: „Alle Falten haben bei Raphael ihre Ursachen, es sei durch ihr eigen Gewicht, oder durch Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.“ Vgl. ausserdem, was Lessing im Laokoon (XVIII) gegen diese Worte eingewendet, und was Sturz inseinen Schriften (1, S. 192) zu ihrer Vertheidigung vorgebracht hat. , aus welcher Stellung, welcher Lage oder Bewegung die dargestellte Figur in die momentan fixierte übergegangen sei. Und so kann der bildende Künstler überall einen Fortschritt in der Handlung wohl andeuten, wohl errathen lassen, aber eigentlich darstellen kann er einen solchen nie. Grade entgegengesetzt verhält es sich mit dem redenden Künstler, mit dem Dichter. Das Vorwärtsschreiten, das dem bildenden Künstler benommen ist, ist ihm nicht nur gestattet, sondern sogar geboten und unvermeidbar. Sein Material, die Gedanken, die Worte, sind in beständig bewegter Progression. Ein Satz, ein Vers schiebt den andern auf die Seite und stellt ihn in den Schatten der Vergangenheit und halber Vergessenheit; jedes Gedicht, mag es auch gar keinen historischen Stoff behandeln, hat dennoch in sich nothwendiger Weise einen historischen Verlauf. Diess verwehrt dem Dichter jeden Gegenstand, welcher Fixierung eines Momentes verlangen würde: er kann wohl in einer Kreislinie zu dem Punkte zurückkehren, von welchem er ausgegangen, aber von Anfang bis zu Ende eines Gedichtes auf demselben Punkte verweilen, das kann er unmöglich, und versucht er es, so wird er etwas liefern, was keiner Kunst mehr angehört, was kein Kunstwerk, was nicht schön ist: denn er will fixieren, und doch schreiten seine Gedanken, Worte, Verse vorwärts; er will ein Werk der Dichtkunst liefern, und doch gestaltet er seine Anschauung so, wie sie nur der bildende Künstler in seinen Stein, auf seine Leinwand festbannen kann. Dieser Unterschied zwischen der Poesie und den bildenden Künsten, dass also jene von Moment zu Moment progressiv und successiv, diese auf einen Moment fixiert darstellen, diesen wesentlichen und folgereichen Unterschied zuerst recht hervorgehoben zu haben, ist eins der vielen Verdienste Lessings; es ist das der hauptsächliche Zweck seines Buches „Laokoon oder über die Grenzen der Poesie und Malerei“ (1766) gewesen; Herder hat diesen Gegenstand sodann in seinen „Kritischen Wäldern oder Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend“ (1769) weiter ausgeführt und theilweise berichtigt, theilweise aber auch verwirrt. Wir werden späterhin noch mehr als einmal davon handeln. Kehren wir zur Kunst im Allgemeinen zurück. Kunst ist nicht, wie ein älterer deutscher Aesthetiker sie erklärt hat, diejenige mechanische Handgeschicklichkeit, durch welche vermittelst gewisser Werkzeuge ein natürlicher Körper zur Waare gemacht wird: sondern es ist die Kunst die schöne Darstellung des Schönen, oder um es philosophischer, terminologischer zu geben, die schöne Objectivierung des subjectiv angeschauten Schönen. Zwar hat der, welchen wir als Gründer aller Poetik ehren müssen, Aristoteles hat in seinem Buche περὶ ποιητικῆς Poet. 1, 1. 26, 2. Rhet. 1, 11, 23. Vgl. auch Plat. Republ. p. 373. 595. die Sache ganz anders aufgefasst: er erkennt das Wesen, den Ursprung und das Ziel aller Kunst lediglich in der μίμησις , in der Nachahmung: zwei in der Natur aller Menschen beruhende Ursachen haben nach ihm zur Poesie geführt, der Trieb nachzuahmen und die Freude, die uns eine Nachahmung gewährt. Man hat diese Erklärung in neueren Zeiten meistentheils fallen lassen, und billig: denn wo soll die Kunstlehre bei ihr die Architectur, wo die Musik, wo die Lyrik, wo sogar auch das Epos hinbringen: keine von diesen Gattungen und Arten der Kunst ahmt nach. Freilich gäbe es nur Sculptur und Malerei, und wäre die einzige Art der Poesie das Drama, so würde jene Erklärung einen grossen Schein von Richtigkeit haben. Es erweist sich bald, wie Aristoteles zu einer so ungenügenden und einseitigen Definition hat gelangen können. Einmal weicht er die ganze Schrift hindurch nirgend von dem rein empirischen Standpunkt, so dass er sich um das erste und letzte Princip der Kunst, um das Schöne, kaum mit einer Silbe kümmert, und es lagen seiner Empirie nur die Werke der griechischen Kunst und Dichtkunst vor; sodann hat er auch unter den bildenden Künsten die Architectur ganz übersehen, er zieht sie nicht ein einziges Mal in Betracht; ebenso nennt er unter den Arten der Poesie die lyrische nur ein Mal, nennt sie, und weiter nichts. Jene Definition hat er wirklich auch nur vom Drama entnommen, da ihm diess aus allerlei Erwägungsgründen als die vollendetste und vorzüglichste Art erschien und höher gestellt als das Epos. Wollen wir aber dieses Uebersehen der bedeutendsten Arten der Kunst, mag es nun bei ihm ein zufälliges oder ein geflissentliches sein, wollen wir es nicht auch verschulden, so wird mit jener unsrer Definition am besten geholfen sein, bei welcher die Nachahmung als Grund und Zweck der Kunst, als Anfang und Ende einer Kunstbestrebung, freilich ganz ausgeschlossen bleibt. Und in der That ist bei aller wahren Kunst die Nachahmung immer nur ein äusserliches Hilfsmittel, nicht Zweck, nur Durchgangspunkt; selbst die Menschengestalt, die uns der Bildhauer oder der Maler vor Augen bringt, ist nicht der ausser ihm liegende Gegenstand seiner künstlerischen Thätigkeit gewesen, es hat seine Thätigkeit, wenn wir von dem gewöhnlichen blossen Portraitmaler absehen, nicht in blosser Nachahmung jenes äusserlich Gegebenen bestanden, so wenig als der Musiker, als der Architect, als der lyrische Dichter irgend nachahmen: sondern ebenso wie für den Dichter die Sprache bloss die Form ist, in welcher und durch welche er seine Anschauung objectiviert, ebenso ist für den Maler und für den Bildhauer die Menschen-, die Thiergestalt auch nur die helfende Form, die er eben deshalb wählt, weshalb sich der Dichter einer Sprache bedient, nämlich um seine Anschauung auch andern Menschen wahrnehmbar und fasslich zu machen. Natürlich wird er dann um eben dieses Zweckes willen bestrebt sein seinen steinernen, seinen gemalten Menschen den natürlichen so ähnlich zu machen als möglich; in so fern und auf dieser Stufe ist dann freilich auch die Nachahmung seine Aufgabe; aber darum ist sie nicht das Wesen seiner Kunst, sie ist und bleibt immer nur ein nebengeordnetes Hilfsmittel; die Aussenwelt liefert ihm nicht die Gegenstände der Anschauung, sie gewährt ihm nur die Formen derselben. Das bezeugt z. B. auch Raphael, wenn er in einem Briefe, der uns aufbewahrt ist, eingesteht, dass ihm immer weniger die Natur, immer weniger die Antike genüge, dass er jemehr und mehr nur aus seiner Idee male. Kunst also ist überall, wo eine schöne Anschauung schön objectiviert wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das, was man darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, oder wo beides, Gehalt und Form den Anforderungen des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen. Ein Flachmaler, welcher ein Blech, ein Brett durch den farbigen Ueberstrich nur haltbarer macht, ist kein Künstler; ein Haus, das nur der Bequemlichkeit des Bewohners dient und dienen soll und kann, ist kein Kunstwerk. Hier liegen denn auch die Grenzen zwischen der Poesie und der Prosa. Diese Form ist da an der Stelle, wo es keine schöne Anschauung zu objectivieren giebt. Während die Poesie vor allem der Einbildungskraft dient, dient die Prosa dem Verstande; während bei der Poesie die Anschauungen der Einbildungskraft das erste und ursprüngliche sind und diese dann von dem Gefühl nur genehmigt und von dem Verstande nur geordnet und geregelt werden, stehn bei der Prosa die Urtheile und die Erfahrungen des Verstandes obenan, und die Einbildung mag sie nur etwa mehr beleben, das Gefühl sie erwärmen; während mithin Poesie der Ausdruck des Schönen ist, ist Prosa der Ausdruck des Wahren. Das Darstellungsmittel, die Sprache, haben beide mit einander gemein: aber dort, bei der Poesie, wird von der sprachlichen Darstellung vor allem Schönheit, hier, bei der Prosa, vor allem Verständlichkeit verlangt: darum wird auch nur dort die schöne metrische Gestaltung gefordert, hier ist sie verboten, und der erste Zweck bei der Gliederung prosaischer Sätze und Perioden ist möglichst grosse Deutlichkeit. Poesie und Prosa, das sind nun die Gegenstände, deren ausführliche Behandlung vor uns liegt: die Gesetze der Poesie erörtert die Poetik, die der Prosa die Rhetorik; insofern aber beider Ausdrucksmittel die Sprache ist, haben sie in dieser Beziehung viele Regeln mit einander gemein: diese sollen in der Stilistik zusammengefasst werden. POETIK. Es wäre thöricht, Poetik zu lehren und zu lernen, wenn man dabei einen Unterricht im Dichten, eine Anweisung zur Poesie, nichts grösseres oder nichts geringeres als dieses beabsichtigte. Wir haben gesehen, wie zu jeder künstlerischen, also auch zu einer poetischen Conception eine Dreiheit von Seelenvermögen in Anspruch genommen wird: diese sind aber keineswegs bei allen Menschen in gleicher Schnellkraft und Ausbildung vorhanden; ja es giebt Menschen, so viele, dass ihrer wohl die Mehrzahl ist, denen es an der productiven Seite der Einbildungskraft, an der Phantasie in solchem Grade gebricht, dass sie ihnen ganz und gar zu fehlen scheint; bewegliches, leicht erregtes Gefühl besitzt auch nicht jeder, und das constante Gefühl, das Gemüth, ist ebenso selten, ja vielleicht noch seltener als die Phantasie. Solchen Naturen wäre mit allen Regeln und Anweisungen in nichts geholfen; zwar hat der Verstand, an den man sich wenden würde, auch seinen Antheil an der künstlerischen Operation, aber nur einen Antheil, nur einen untergeordneten, und einen Antheil mehr negativer Art. Ein so organisierter Mensch würde dadurch immer noch kein Dichter werden. „Wenn der Wahnsinn,“ sagt Plato im Phaedrus S. 245 a , „wenn der Wahnsinn ( μανία , er gebraucht diess starke Wort; Begeisterung wäre eine schwächliche Uebersetzung), der von den Musen kommt, eine zarte und ungefärbte Seele ergreift und sie zu Liedern und zu jeglicher Dichtung begeistert, so verschönt er unzählige Thaten der Alten und belehrt die Zukünftigen. Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst nähert, wähnend durch blosse Fertigkeit ein Dichter zu werden, der bleibt unvollkommen, und von der Poesie der Wahnsinnigen wird die des Verständigen ausgelöscht.“ Als Anleitung und Unterweisung kann die Poetik daher nur für solche tauglich sein, die schon besitzen, was ein Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein, dem Verstande Zaum und Geissel in die Hand zu geben. Das Beste bleibt es demnach, wenn sich die Poetik aller eigentlichen Unterweisung so viel als möglich enthält, wenn sie mehr betrachtet als lehrt, mehr sich bestrebt, Gesetze zu finden als Regeln aufzustellen, wenn sie eher anleiten will, den Vorrath an Poesie, der uns überliefert ist, recht zu verstehn und zu geniessen, als Kunstgriffe angeben, wie man diesen Vorrath selbst noch vermehren könne. Wenn die Poetik nur Philosophie der Poesie und ihrer Geschichte ist, wenn sie als Naturgeschichte der Poesie ein mehr historisch entwickelndes Verfahren beobachtet, gewinnt diess ganze Fach an concretem Gehalt und somit an Leben und Reiz; die Lehrsätze bleiben darum nicht aus: nur erscheinen sie dann nicht als eine unerquickliche Reihe von dürren Abstractionen. Und diese historisch-philosophische, diese naturgeschichtliche Weise ist es, in der ich beabsichtige zu verfahren. I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN. 1. DAS WESEN DER POESIE. Hier ist die schon früher gegebene Definition weiter auszuführen und somit zu begründen, indem wir mehr in das Einzelne gehend von den verschiedenen Arten handeln, wie die genannten drei Seelenkräfte, Einbildung, Gefühl, Verstand, bei der poetischen Anschauung und Schöpfung zusammenwirken, wie sie bald gleichmässig sich mit einander mischen, bald eine derselben vorwaltet, bald endlich ein unvermittelter Widerspruch und Widerstreit unter ihnen eintritt. Damit wird der späteren Trennung der einzelnen Dichtungsarten wesentlich vorgearbeitet. Wenn mit Aristoteles das Wesen aller Kunst lediglich in der Nachahmung zu suchen wäre, so müsste man die Poesie als die Nachahmung durch das Wort definieren. Diese Erklärung wäre aber zu weit und zu eng. Zu weit, insofern man allerlei in Worten nachahmen kann, ohne dass ein Gedicht entsteht. So giebt es z. B. in der späteren und mittelalterlichen Latinität Stücke in Prosa und in Versen, worin angegeben und nachgebildet wird, wie die einzelnen Vögel und andere Thiere schreien ) z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs Poetae latini minores 6, 2, 388 u. a. , offenbarste Nachahmung, aber Niemanden würde es einfallen, dgl. deshalb Poesie zu nennen. Zu eng wäre die Definition, weil mancherlei Arten der Poesie, denen auch Aristoteles selbst den Namen der Poesie nicht entzieht, damit ausgeschlossen würden. Nachahmung kann immer nur in Beziehung stehn zu Gegenständen, die in der äusserlich umgebenden Sinnenwelt vorliegen. Aber nur wenige Arten der Poesie geben Anlass, sie möglicher Weise als dgl. Nachahmung auffassen zu dürfen; bei vielen ist es rein unmöglich. Was ahmt z. B. der Dichter eines Kirchenliedes nach? Aristoteles hat auch selbst sehr wohl das Ungenügende seiner Auffassung eingesehn, und je weiter er in seinem Buche vorwärts schreitet, je mehr und mehr neue theils erweiternde, theils beschränkende Bestimmungen treten auch hinzu; Bestimmungen, die jedoch keinesweges in jener Grundansicht schon mit enthalten und motiviert sind, die vielmehr auf eine ganz andre Definition hinleiten, nämlich die oben aufgestellte, wonach die Poesie als die schöne Darstellung des Schönen durch das Wort zu bezeichnen ist. Der Anfangspunkt, die Grundlage der dichterischen Thätigkeit wie überhaupt jeder künstlerischen ist die innere Anschauung des Schönen, ist die Conception der poetischen Idee. Nun ist aber, wie schon früher dargestellt, bei jeder künstlerischen Anschauung das am thätigsten Wirksame, das Unentbehrlichste, ohne welches gar keine solche Conception vor sich gehn kann, die Einbildungskraft; die Einbildungskraft aber wirkt entweder reproductiv oder productiv, entweder als Gedächtniss, d. h. als Erneuerung und Auffrischung früher gewonnener Vorstellungen, oder als Phantasie, d. h. neue Vorstellungen schaffend nach Analogie solcher älteren. Aber auch da, wo sie productiv verfährt, auch als Phantasie erzeugt die Einbildungskraft niemals etwas bis dahin noch nicht Gewesenes, niemals etwas, das bis dahin noch unwirklich gewesen war: sondern in beiden Fällen schliesst sie sich an die Wirklichkeit an, sei das nun geistige oder sinnliche Wirklichkeit; es sind die Formen der geistigen oder der sinnlichen Wirklichkeit, vermittelst derer die Einbildungskraft sich des Schönen bemeistert, in denen sie das Vollkommene, das in der Mannigfaltigkeit einig Abgeschlossene, das in der Einheit mannigfaltig Gestaltete anschaut. Hier ist der Punkt, in welchem die Kunst, in welchem auch die Poesie sich mit der Natur berührt, aber auch zugleich von ihr sich trennt, sich ihr entgegenstellt. Die Natur als Natur giebt blosse Form und keinesweges immer schöne: die Kunst, die Poesie dagegen zeigt das Schöne und gewährt nicht die blosse Form, sondern falls sie sich an die sinnliche Wirklichkeit anschliesst, Anschauungen des Schönen in den Formen der sinnlichen Wirklichkeit. Die Poesie ahmt also nicht nach, sie dient nicht der Natur, sondern die Natur, die sinnliche Wirklichkeit dient ihr, ist ihr helfend untergeordnet. Aber die Poesie bedarf der Wirklichkeit; ohne sich an diese anzulehnen, giebt es gar keine Poesie: denn jede poetische Conception fusst auf der Einbildungskraft, und die Einbildungskraft entnimmt ihre Vorstellungen aus der Wirklichkeit. Sodann, um den Process der dichterischen Conception weiter zu verfolgen, gehören neben die Einbildung noch das Gefühl und der Verstand, jedes auf seine Art prüfend, billigend oder verwerfend, das Gefühl prüfend auf Lust oder Unlust, der Verstand auf Wahrheit oder Unwahrheit. Ohne den thätigen Antheil dieser beiden Kräfte ist die Conception unfertig: die Anschauung, wie sie von der Einbildungskraft ist gestaltet worden, muss noch diese beiden Instanzen durchlaufen, wenn der Process soll gewonnen werden. Das Zusammenwirken dieser drei Kräfte kann aber in zwiefacher Art vor sich gehn. Entweder in ganz verhältnissmässiger Mischung, so dass keine mehr, keine minder Antheil an der Conception hat, als ihr gebührt und als erforderlich ist. Oder weniger verhältnissmässig, so dass die eine oder die andere vorwaltet, sich hervordrängt, die übrigen in ihrem Theil beeinträchtigt werden und zurücktreten müssen. Im ersteren Fall, wo alle drei Kräfte in dem rechten Ebenmass einig und einträchtig zusammenwirken, wird auch eine Anschauung von höherer und reinerer Schönheit gewonnen: die vollkommene Einheit des Wirkenden, der dichterischen Kräfte, wird Einheit und Vollkommenheit des Bewirkten, des Gedichtes, zur nothwendigen Folge haben: sodann, da es keiner Kraft vergönnt ist, sich in breiteren und reicheren Leistungen thätig zu zeigen, als ihr neben den anderen zukommt, so wird die Einheit nicht in der Mannigfaltigkeit verschwinden, sondern zugleich Einfachheit sein, das Gedicht wird, wie Horaz sagt, ein simplex et unum sein; und da hier endlich der Dichter das Schöne ganz so anschaut, wie es an und für sich selbst angeschaut sein will, ohne dass er nach seiner Neigung und seinen Fertigkeiten bei einer Seite länger verweilte als bei den andern, so wird er auch der Anschauung nichts von seiner Subjectivität beimischen: er ist zwar das anschauende Subject, aber die Anschauung ist ihm reines Object ohne subjectiven Beigeschmack, er gewinnt eine objective Anschauung. Man gelangt also bei ebenmässigem Zusammenwirken von Einbildung, Gefühl und Verstand 1) zu vollkommener Einheit, 2) zur Einfachheit und 3) zu reiner objectiver Anschauung. Diess Ebenmass in der Zusammenwirkung und die darauf zunächst beruhende Einheit ist ein characteristisches Merkmal der sogenannten classischen, also namentlich der griechischen Poesie; seltener findet sich diese Einheit in den Dichtungen der modernen Zeit, unter den Deutschen vorzugsweise und fast ausschliesslich bei Göthe; ebenso ist auch die Einfachheit, die Simplicität das hauptsächliche Kennzeichen der antiken, der classischen Kunst: wir gewahren eben diese wiederum bei Göthe, und insofern mag man ihn den deutschen Classiker κατ ' ἐξοχήν nennen; ebenso ist ihm wie den Griechen auch das dritte eigen, was mit der vollkommenen Einheit und Einfachheit eng und wesentlich verbunden ist, die Objectivität der Anschauungen. Noch ist hier von zwei Nüancierungen des Schönen zu sprechen, welche eintreten je nach der Art, in welcher das Gefühl seine mitwirkende Thätigkeit äussert. Das Gefühl hat nämlich ausser der höhern geistigen Seite, auf welcher es der Sittlichkeit dient, und welche allein in Betracht kommt, sobald man es als Organ des Triebes zum Guten, als Gegenbild der göttlichen Güte betrachtet, das Gefühl hat ausser jener höheren geistigen Seite auch noch eine niedere, mehr sinnliche, noch ein mehr zur Erde gekehrtes Antlitz. Nicht immer nun, wenn es eine Anschauung der Einbildungskraft auf Lust oder Unlust prüfen soll, wendet es da beide Angesichte und beide gleichmässig zu, sondern oft allein oder doch vorzugsweise das geistige, oft wieder nur das irdische; oft genügt es ihm, wenn es allein oder vorzugsweise ein sittliches, oft wenn es nur ein mehr sinnliches Wohlgefallen empfindet. Das Schöne, das den sittlichen Augen des Gefühles besonders wohlthut, heisst edel, das den sinnlichen, anmuthig; die Schönheit besteht also bald im Adel, bald in der Anmuth. Es liegt in der Natur der Sache, dass Adel besonders da am Orte ist, wo sich die Anschauung an die geistige, Anmuth da, wo sie sich an die sinnliche Wirklichkeit anlehnt, und so werden wir, um wiederum den deutschen Classiker als Beispiel anzuführen, die Schönheit der Göthischen Hymnen eine edle, die seiner meisten Lieder eine anmuthige nennen dürfen. So viel von der Anschauung, die unter ebenmässigem Zusammenwirken der drei Kräfte gewonnen wird, von der einheitlichen, einfachen, objectiven, classischen Schönheit. Im Gegensatz dazu steht ein solches Zusammenwirken, wo eine der drei Kräfte sich unebenmässig hervorthut und herausstellt, wo die Conception vorzugsweise ein Werk der Einbildungskraft oder des Gefühls oder des Verstandes ist und die beiden andern nicht den Antheil daran nehmen, wie das für das Gewinnen einer vollkommen einheitlichen Anschauung erfordert wird. Ein solches Hervortreten und Uebergreifen einzelner Kräfte ist ein characteristisches Merkmal der modernen Kunst; die Anschauungen der modernen Dichter pflegen daher keine so unverkümmerte, so reine und vollkommene Einheit, pflegen auch nicht die Einfachheit zu besitzen wie die der antiken classischen; und wie das gleichmässige Zusammenwirken jener drei Kräfte den Classikern zu rein objectiver Anschauung des Schönen verhilft, so treten bei den modernen Dichtern die Neigungen und Fähigkeiten und Unfähigkeiten des anschauenden Subjectes gerne mit in den Vordergrund, so dass wie Objectivität mit zum Character der classischen Poesie gehört, so Subjectivität zum Character der modernen. Je nachdem nun diese oder jene Kraft vorwaltet, ergeben sich verschiedene Nüancierungen und Benennungen. Tritt die productive Einbildungskraft, die Phantasie, hervor, ohne dass der ordnende Verstand in genügendem Masse zu Rathe gezogen wird, so ergiebt sich die phantastische Anschauung. Diess Missverhältniss zeigt sich besonders in den sogenannten romantischen Dichtungen des Mittelalters und ist bezeichnend für diese Zeit; wir finden es in den Heldengedichten des germanischen und romanischen Abendlandes wie in den Märchen der Araber. Wie es aber seit zwei Menschenaltern wiederum Romantiker giebt, so auch eben diess Verhältniss oder Missverhältniss der Phantasie. In Deutschland kann als Beispiel Ludwig Tieck gelten, der auch, seinen dichterischen Character selbst sehr wohl verstehend, die Hauptsammlung seiner Poesien Phantasus betitelt hat. Tritt dagegen die schaffende Einbildung zurück und mit ihr auch der Verstand, und stellt sich besonders die jetzt noch übrige dritte Kraft heraus, so ergiebt sich daraus die sentimentale und die gemüthliche Poesie, die sentimentale, wenn das vorwaltende Gefühl doch nur vorübergehend gereizt und nur leicht erregt wird, die gemüthliche, wenn das Gefühl zur Beständigkeit des Gemüthes erstarkt ist und dieses nun in tiefere und wärmere Bewegung geräth. Um auch hier deutsche Dichter als Beispiele anzuführen, so sind solche sentimentale oder empfindsame Dichter Hölty, Matthisson, Salis; Dichter von warmer und constanter Gemüthlichkeit Hebel und Uhland. Endlich kann auch, und diess ist von allen Missverhältnissen das einzige eigentlich bedenkliche und gefährliche, der Verstand den obersten Rang einnehmen; es kann sich die gebührende Rangordnung umkehren, so dass Einbildung und Gefühl, denen der Verstand nur in einer mehr negativen Weise helfen und dienen sollte, zu Dienerinnen des Verstandes werden und ihm nur Formen und Farbe gewähren für seine Erfahrungen und Urtheile. So entsteht die Reflexionspoesie. Das hier waltende Verhältniss ist misslich, bedenklich und gefährlich, insofern diese Rangordnung der drei Seelenkräfte eigentlich für die prosaische Auffassung, nicht für die poetische erforderlich und zulässig ist. Ein so organisierter Dichter bedarf des ausserordentlichsten Talentes, bedarf der grössten Kunst in der Darstellung, wenn er seine Anschauungen dennoch als poetisch behaupten will; gebricht es ihm hier, so erscheint er nur um so weniger als Dichter, je verständiger er ist. Bei Voss vermag alle Kunst der Rede, weil sie eben auch nicht die rechte Kunst der Rede ist, vermag alle Künstelei den beinahe gänzlichen Mangel an den nothwendigsten Eigenschaften eines Dichters und den hoch oben thronenden nackten Verstand sammt seiner Gelehrsamkeit und eifrigen Polemik nicht zu verdecken. Anders bei Schiller. In Schillers Poesie hat allerdings niemals ein einträchtiges Zusammenwirken jener drei Kräfte statt gefunden, immer hat eine über Gebühr vorgewaltet: in seinen frühesten Dichtungen die Phantasie, lange und überall der reflectierende Verstand. Aber doch ist seine Poesie eine andre als die Vossische, ein ganzer Himmel liegt dazwischen: waltet bei Schiller auch die Reflexion vor, so gebricht es ihm wahrlich nicht an Einbildung und an Gefühl, während sie bei Voss nur spärlich hervortreten und von Gemüth bei ihm nun gar keine Spur ist; und dann ist auch das Wetterleuchten der Schillerischen Rede eher im Stande, den Leser zu blenden und zu entzücken, als der mühsame Flittertand der Vossischen Idyllen und Lieder. Und so ist es, um noch einen dritten, der Voss mannigfach ähnlich ist, als Beispiel anzuführen, auch ein Missgriff, aber ein characteristischer Missgriff, wenn ein vielgepriesener Dichter der neuesten Zeit, der Graf von Platen, in seinem Romantischen Oedipus als den Genius der classischen Poesie, wie er sich dieselbe denkt, gleichsam als den modern classischen Apollo den personificierten Verstand auftreten lässt; insofern besonders characteristisch, als er mit dieser Person des genannten Dramas nach seiner eitel einbildischen Weise eigentlich nur sich selber meint. So viel über das Verhältniss der Beiordnung und der Unterordnung zwischen den genannten drei Kräften. Nun ist von denjenigen Fällen zu handeln, wo nicht bloss die eine Kraft sich über die beiden andren friedsam erhebt, sondern wo die Anschauungen der Einbildung mit dem Gefühl und dem Verstande in einen unvermittelten Widerstreit gerathen, wo sogar Gefühl und Verstand von der Einbildung überwältigt und fortgerissen und vorübergehend aufgehoben werden. Wir sprechen zuerst von dem Zwiespalt der Einbildung mit dem Verstande. Wenn wir in der Wirklichkeit etwas gewahren, dem wir die Wirklichkeit nicht absprechen können, und das auch die Wirklichkeit recht eigentlich in Anspruch nimmt, das uns aber gleichwohl unverständig erscheint, wenn wir eine Rede hören, die unserm Verstande unpasslich, wenn wir eine Handlung sehen, die ihm unzweckmässig vorkommt, während doch Rede und Handlung für verständig und zweckmässig gelten wollen, wenn somit das Urtheil unseres Verstandes in Widerspruch mit dem in der Wirklichkeit Wahrgenommenen geräth, so nennen wir eine solche Rede oder Handlung eine Thorheit, und sie macht auf uns den Eindruck des Lächerlichen; geben wir diesem Eindrucke Worte, so entsteht der Spott. Lächerlich ist es z. B., wenn im Don Quixote der Schildknappe Sancho Pansa eine lange Nacht hindurch voller Angst über einem ganz flachen Graben schwebt und sich mühsam in der Schwebe erhält, weil er meint, es sei da ein tiefer Abgrund; oder wenn derselbe ein andres Mal wiederum eine ganze Nacht durch auf einem hölzernen Bock sitzt, der ihm von Räubern anstatt des Esels ist im Schlafe untergeschoben worden, und fortwährend ernstlich Acht hat, dass der vermeinte Esel nicht ins Laufen komme. Das alles ist lächerlich: denn wir sehen mit unserm Verstande ein, wie zwecklos die Angst und Sorge gewesen. Und darauf kommt überall das Lächerliche hinaus, ein Begriff, an dem schon vielerlei ist herum erklärt worden. Zuweilen erwächst der Spott zur Ironie; bei der Ironie wird geflissentlich der entschiedenste und schärfste Widerspruch herbeigeführt, so dass man die Anschauungen der Einbildung, oder aber die Urtheile des Verstandes in das gerade Gegentheil übersetzen müsste, wenn Uebereinstimmung sollte hergestellt werden; Ironie ist der zur schneidendsten Schärfe ausgebildete Spott, der Spott der Verachtung gegen den menschlichen Verstand und gegen die menschlich irdische Wirklichkeit überhaupt. Wie nun die Einbildungskraft ihre Anschauungen überall in die Formen der Wirklichkeit einkleidet, so ist ihr denn auch das Lächerliche, ist ihr die Thorheit als Form unbenommen, und es giebt eine Poesie des Spottes und der Ironie, eine Poesie, in welcher also die Anschauungen der Einbildung in Widerspruch stehn mit den Urtheilen des Verstandes. Solche Poesie, welche das Unverständige, Thörichte, Lächerliche, Verkehrte zur Form ihrer Anschauung wählt, solche Poesie des Spottes und der Ironie ist die Satire und ist die Komödie: indessen ist der Widerspruch hier nur ein scheinbarer; denn hinter der verkehrten Anschauung steht jedesmal, nur nicht gestaltet und ausgesprochen, die rechte, die zum Verstande stimmt, und damit ist das rechte Verhältniss zuletzt doch wieder hergestellt. Die Einbildungskraft kann aber auch den Verstand vorübergehend gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urtheile unzureichend ist. Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen. Erhaben ist z. B. eine weite Meeresfläche, erhaben ist der Sternenhimmel; der Verstand fasst sie nicht, ihm vergeht alle Kraft, indem er Grenzen sucht und keine findet: der Einbildung dagegen ist grade wohl in dieser unbegrenzten endlosen Weite. So lässt denn auch die Poesie zuweilen den messenden Verstand überwältigt werden von der masslos schaffenden Einbildung. Erhaben in diesem Sinne sind viele der Klopstockischen Oden und Hymnen; ausserdem erinnere ich an eine bekannte Stelle in Shakspeares König Lear (IV, 6), wo eine Aussicht von einem Vorgebirge nach der Tiefe des Seeufers hinunter geschildert wird: die Einbildung steigt immer tiefer und tiefer, dem Verstand aber schwindelt, und er verzagt ihr zu folgen. Beim Lächerlichen ist also ein unvermittelter Conflict vorhanden zwischen Einbildung und Verstand; beim Erhabenen wird der Verstand von der Einbildungskraft beseitigt: der umgekehrte Fall, wo die Thätigkeit der Einbildung negiert wird vom Verstande, kann in der Poesie gar nicht vorkommen, weil es ohne Einbildung keine poetische Conception geben kann: und solche Anschauungen der Einbildung, die von dem messenden und vergleichenden Verstande gänzlich verworfen werden, sind hässlich: die poetische Conception aber wie überhaupt alle künstlerische Conception ist eine Conception des Schönen. Nun der Conflict der Einbildung mit dem Gefühl. Wenn das Gefühl im engern Sinne des Wortes, wenn die Sentimentalität unbefriedigt ist bei den Anschauungen der Einbildung, ohne sie gleichwohl gänzlich verwerfen zu können, so kommt dadurch ein leises Missbehagen in die Anschauung, das aber gleichwohl etwas Erregendes und Anreizendes hat, grade wie dort der Conflict zwischen Einbildung und Verstand. Aus dem Widerspruch zwischen Einbildung und Gefühl erwächst bald die Wehmuth, bald die Laune: die Wehmuth, wenn das Gefühl den empfundenen Widerspruch mit hingebendem schmerzlichem Ernst auf sich einwirken lässt; die Laune, wenn es sich leichtsinnig und scherzend darüber hinweg zu setzen sucht; Wehmuth ist die weinende, Laune die lachende Sentimentalität. Das Gebiet der Wehmuth ist die Elegie, man nennt sie darum auch die elegische Stimmung; die Laune ist wie der Spott zu Hause in der Satire und in der Komödie, überhaupt in aller komischen Poesie, überall wo uns die Wirklichkeit von Seite ihrer Verkehrtheiten vorgeführt wird. Also z. B. auch in der komischen Erzählung, im komischen Heldengedicht, in der Travestie. Wie es jedoch überverständige Menschen giebt, für die nichts Lächerliches vorhanden ist, die sich über den Unwerth nur ärgern können, so auch andre, die aus zu feinem und delicatem Gefühl unempfänglich sind für die Laune. Noch häufiger aber sind Dichter, welche über den blossen Conflict zwischen Einbildung und Gefühl hinausgehen und Anschauungen vorführen, die das Gefühl von vornherein hätte verwerfen und vernichten sollen, Dichter, die das Launige mit dem Unziemlichen, Unsittlichen, ja Lasterhaften verwechseln. Von der Art sind manche komische Erzählungen des Mittelalters, namentlich die französischen, die sogenannten fabliaux; von der Art auch die meisten neuern Dichter, welche sich an jenen fabliaux gebildet haben: der Franzose Lafontaine bleibt oft nicht bei der blossen Laune stehen, so auch unter den Deutschen Langbein; auch Wieland trifft dieser Tadel. Es ist beinahe überflüssig, weil es sich von selbst versteht, auch noch an unsern fruchtbarsten Komödiendichter, an Kotzebue zu erinnern. Ihm fehlt es mehr als irgend einem der genannten an dem feinen Tact, der hier erfordert wird, um die Grenze zu finden und zu respectieren. Wir haben soeben die Wehmuth und die Laune in ihrer Absonderung betrachtet: nicht selten gehen sie Hand in Hand; es giebt Dichter und Gedichte, wo im schnellsten Wechsel, ja gleichzeitig der Widerspruch ernst und leichtsinnig, weinend und lachend aufgefasst wird; in der That giebt es auch Anschauungen genug, die am passlichsten so behandelt werden, z. B. das Lob der Armuth und andre Schilderungen des engen beschränkten Lebens, überhaupt vorzüglich idyllische Stoffe. Geschickt durchgeführt gehört diese Auffassungsart zu den ergreifendsten, ungeschickt zu den beleidigendsten und widerwärtigsten. Wohlthuend erscheint sie bei Jean Paul in seinen idyllischen Romanen und idyllischen Stellen, z. B. im Siebenkäs, im Schulmeisterlein Wuz, im Fibel, im Quintus Fixlein, in den Flegeljahren u. a.; meistentheils ungehörig und plump, einen gesunden Sinn verletzend in zahlreichen Liedern Heinrich Heines (z. B. LB. 2, 1746). Höher als die Sentimentalität steht die Gemüthlichkeit: denn die Sentimentalität ist nur etwas Flüchtiges und Momentanes, die Gemüthlichkeit etwas Andauerndes, Beharrliches; die Sentimentalität kann allenfalls bloss von der niedrigen und irdischen Seite, kann vielleicht bloss von Seiten des Anmuthigen her erregt werden; das Gemüth dagegen blickt mit geistigen Augen, ihm steht das Höhere, das Reinsittliche, steht das Edle zu. Wie also die Gemüthlichkeit vor der Sentimentalität den Bestand und die höhere Richtung voraus hat, so ist auch der Conflict zwischen Einbildungskraft und Gemüth, den man Humor nennt, höher und edler als die Laune, der Conflict zwischen Einbildung und Gefühl. So wird der Humor, auch diess ein vielbesprochenes, mannigfach gedehntes Wort, am besten aufzufassen und nur in diesem Sinne zu gebrauchen sein. Im gewöhnlichen Leben wird das Wort nicht selten mit Laune verwechselt. Diess letztere ist auch der Sinn, den es ursprünglich und im Allgemeinen bei den Engländern hat, von denen wir es überkommen. Eigentlich ist es ein medicinischer Ausdruck, humores heissen im Latein des Mittelalters die verschiedenen Mass- und Mischungsverhältnisse von Feuchtigkeit und Wärme im menschlichen Körper und die darauf beruhenden Characterunterschiede des sanguinischen und des melancholischen und des cholerischen und des phlegmatischen Temperamentes. In der englischen Sprache wird es etwas willkürlich beschränkt auf die komische Stimmung der Laune. Aber die Engländer selbst haben daneben wieder das Wort in der noch engeren Weise gefasst, in welcher wir es hier unterschieden von Laune gebrauchen, und dieser Sinn ist es, in welchem sie z. B. Shakspeare, in welchem sie Swift und Sterne u. a. Humor zuschreiben. Humor also entspringt, wenn das Gemüth in Widerspruch geräth mit den Anschauungen, welche die Einbildung aus der Wirklichkeit entnommen hat. Da nun aber das Gemüth in der aufwärts gerichteten, in der höheren, edleren Seite des Gefühls beruht, so wird es mit der Einbildung nur dann in Conflict und Contrast treten, wenn deren Anschauungen nicht die entsprechende Beziehung nach oben, nicht die gleiche edle Erhebung in sich tragen. Dann schwingt sich das Gemüth empor und schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns, halb voll Mitleidens, lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemüthlose Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja bei den besten Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende religiöse Farbe; so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Strasse nach Basel, die Vergänglichkeit, kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende Theorie des Humors entwickeln, hier lässt sich die Entzweiung des Gemüthes mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen, bis zu der letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch gvätterlet haben (LB. 2, 1376, 36). In der launigen, in der elegischen Poesie stellt das Gefühl den Anschauungen der Einbildung einen leichteren, minder beharrlichen, in der humoristischen das Gemüth einen nachhaltigeren, ernsteren Widerspruch und Widerstand entgegen; eine Kraft versucht sich an der andern, ohne zu unterliegen. Aber gerade wie es vorkommt, dass die Einbildung den Antheil des Verstandes vorübergehend negiert, woraus sich dann das Erhabene ergiebt, so kann vorübergehend auch das Gefühl von der Einbildung überwältigt und ihm das Recht der Prüfung und Billigung benommen werden; die Einbildung kann Anschauungen hinstellen, die dem Gefühl nur Unlust erwecken: aber es ist für diessmal zum Schweigen gebracht. So ergiebt sich das Grausenhafte. Einmischung, blosse Einmischung des Grausenhaften hat sich das Gefühl von jeher in der tragischen Poesie müssen gefallen lassen und sie da zugelassen; verwerflich wird das Grausen eigentlich nur dann, wenn in einem Gedicht von Anfang bis zu Ende das Gefühl beseitigt, wenn das Gedicht vorn bis hinten nur grausenhaft ist. Dergleichen Tragödien und Romane sind in Deutschland sehr beliebt gewesen: ich erinnere namentlich an Müllner und Amad. Hoffmann. Auch einer unsrer besten erzählenden Dichter, Chamisso, hat sich nur zu oft und nur zu gern in endloses Grausen verloren. Das umgekehrte Verhältniss der Einbildung zum Gefühl, nämlich gänzliche Verwerfung des von der Einbildung Angeschauten durch das Gefühl, hebt die poetische Conception von vornherein auf: wir haben schon öfter bemerkt, dass dieselbe nicht möglich ist, wenn nicht die Einbildung den Grund gelegt. Es ist also von der Poesie ausgeschlossen das Ekelhafte und das Lasterhafte: ekelhaft nennen wir, was die niedere sinnliche, lasterhaft, was die höhere sittliche Seite des Gefühls verwerfen muss. Beispiele des Ekelhaften liefern Voss in dem Gedichte an Göckingk (LB. 2, 902) und Jean Paul in Dr. Katzenbergers Badereise. Was nun noch das Lasterhafte insbesondere betrifft, so giebt es freilich auch eine satirische Poesie, welche nicht gegen die Thorheit, sondern gegen das Laster gerichtet ist, nicht spottet, sondern straft: aber sie straft eben, d. h. sie stellt neben die angeschaute Lasterhaftigkeit ausdrücklich oder stillschweigend das tugendhafte Gegenbild, sie bleibt nicht bei dem Laster stehn, sondern sie lässt zugleich der Einbildung ihr Recht widerfahren. Gleichwohl hat diese scharfe strafende Satire immer etwas Bedenkliches gehabt, und die bloss gegen Thorheiten gerichtete spottende hat ihr immer noch den Rang abgelaufen; Horazens Satiren haben einen bleibenden poetischen Werth, Juvenal und Persius sind eher nur in den Händen der Grammatiker und Historiker. Seltener sind Dichter andrer Art, z. B. Dramatiker in den Fall gekommen, nach Anschauungen des Lasterhaften zu greifen. Nur zwei will ich als Beispiel anführen, Shakspeare und Göthe, von Shakspeare Richard III., von Göthe die Mitschuldigen. Zwischen beiden Dramen besteht der grösste Unterschied: dort bei Shakspeare ist die Einführung des Lasters hoch poetisch, hier bei Göthe durchaus unpoetisch. Richard III. häuft Schandthat auf Schandthat, dennoch kann man es ertragen, denn man sieht, wie jede neue That an sich selbst schon die Strafe der vorangehenden ist, und zuletzt ereilt den Bösewicht die höchste: sein auf Leichen erbauter Thron stürzt mit ihm zusammen, und unser sittliches Gefühl findet doch am Ende noch die volle Befriedigung. Es ist das also ein Drama ungefähr in der Art jener strafenden Satiren. Anders die Mitschuldigen von Göthe: hier wird zwar nicht gemordet, wie dort im Richard; es wird sonst gesündigt z. B. durch Diebstahl. Aber von Strafe, von Genugthuung der beleidigten Sittlichkeit nicht die leiseste Spur: während im Richard endlich doch noch Gottes Rache den Verbrecher ereilt, löst sich hier alles in gegenseitiger Nachsicht der Mitschuldigen auf, und es ist dem Zuschauer vergönnt, sich eine lange Fernsicht von weiteren stillschweigend geduldeten Diebstählen u. dgl. hinten dran zu malen. Aber man vergesse nicht, dass diess eine Jugendarbeit Göthes ist, die er noch in Leipzig als Student in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasst hat. Er selbst hat das Fehlerhafte wohl erkannt; in seinem Leben Sämmtliche Werke, Ausgabe letzter Hand 25, 113. spricht er sich darüber deutlich aus: „Das heitere und burleske Wesen erscheint auf dem düsteren Familiengrunde als von etwas Bänglichem begleitet, so dass es bei der Vorstellung im Ganzen ängstiget, wenn es im Einzelnen ergetzt. Die hart ausgesprochenen widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische und moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen Theater keinen Eingang gewinnen, obgleich die Nachahmungen desselben, welche sich fern von jenen Klippen gehalten, mit Beifall aufgenommen worden.“ So haben wir nun nach zwei Seiten hin die Conflicte betrachtet, in welche die Einbildungskraft hier mit dem Gefühl, dort mit dem Verstande gerathen kann, und die vorübergehenden Negierungen und Beseitigungen des einen oder des andern, die der Erfolg solches Conflictes sein können. Gewöhnlich ist der Conflict, ist die Negierung nur eine solche einseitige, wie es bisher dargestellt worden; nicht selten aber geht der Widerspruch, geht die Stillstellung auch zugleich nach beiden Seiten hin, so dass sich mit dem Spott und der Ironie noch die Laune und die Wehmuth und der Humor verbinden, also beide, der Verstand wie das Gefühl, gegen die Einbildung anstreiten; oft genug vereinigt sich auch das Erhabene mit dem Grausenhaften, indem die Einbildung hier den Verstand, dort das Gefühl gefangen nimmt; und nicht minder häufig wird das Hässliche zugleich ekelhaft oder lasterhaft sein, weil ausser dem Verstande auch das sinnliche und sittliche Gefühl die Anschauungen der Einbildung unleidlich findet. Ist nun auf diese Weise das Schöne entweder unter friedfertigem Zusammenwirken oder unter einem Conflict der dabei thätigen Seelenkräfte angeschaut, so bedarf es, um das Werk zu vollenden, nur noch des Schrittes von innen nach aussen, von der Anschauung zur Darstellung, zu der letzten Objectivierung in hörbar gestalteten Gedanken, in Worten. Die Darstellung, die sinnlich wahrnehmbare Gestaltung des innerlich geistig Angeschauten, gehört, wie das schon früher ist ausgeführt worden, zum Wesen jeder Kunst. Nur haben die verschiedenen Künste verschiedene Mittel der Darstellung. Die bildenden Künste, Architectur, Sculptur, Malerei, fixieren ihre Anschauung für das Auge in unbelebten Stoffen; die Tanzkunst führt sie dem Auge vor in beweglicher Gestaltung des lebenden Leibes, die Musik dem Ohr in gleichfalls bewegten Tönen; die Poesie bedient sich des geistigsten Mittels, des unmittelbarsten Abdrucks und Ausdrucks innerer Anschauungen, des eigensten Eigenthums der Menschheit, der Sprache. Denn Formen wie die bildenden Künste, wie die Tanzkunst sie darstellen, Töne, wie sich die Musik ihrer bedient, finden sich auch ohne Zuthun des Menschen schon in der niederen Natur vor: nicht aber die Sprache, sie besteht nur durch den Menschen und mit ihm. Aber wie die Gebärden des Tanzes, wie die Töne der Musik, so ist auch diese hörbare Gestaltung der Gedanken durchaus beweglicher Natur. Die Gedanken sind in beständiger Succession und Progression, einer fliesst aus dem andern, Welle auf Welle drängen sich, Grund und Folgerung, Behauptung und Beweis, Satz und Gegensatz. Ebenso ihr hörbares Bild, die Worte: so wie das eine vernommen ist, erklingt schon das andre, und dessen Eindruck wird wiederum durch ein drittes verwischt. Diese Beschaffenheit des Darstellungsmittels hat aber die wichtigste und folgenreichste Bedeutung nicht nur für die Darstellung, sondern natürlicher und nothwendiger Weise schon für die Anschauung, welche darzustellen ist; es ergeben sich daraus, wie für das Verfahren bei der Darstellung, so schon für die Beschaffenheit der poetischen Anschauung selbst wesentliche und unausweichliche Bedingungen. Was in so bewegter Gestalt erscheinen soll, muss in sich selber schon die Beweglichkeit tragen. Den Bildhauer, den Maler nöthigt die starre Unbeweglichkeit seines Stoffes auch zu ruhiger fixierter Anschauung: die Anschauungen des Dichters dagegen müssen bewegt, strömend, fortschreitend sein, müssen einen historischen causalen Verlauf haben wie sein Darstellungsmittel, wie die menschliche Rede. Der Maler, der Bildhauer stellt uns z. B. den gewappneten Helden auf einmal überschaubar hin, mit Einem Blick sehen wir Helm und Harnisch zugleich, und so hat er vorher auch in sich die Form auf einmal gefasst. Anders der Dichter. Er kann die einzelnen Theile der Rüstung nicht als ruhig coexistierend vorführen: denn seine Gedanken, seine Worte haben selber keine ruhige Coexistenz. Versuchte er es auch, er würde doch nur eine Reihe, ein dürres registerartiges Nebeneinander von Einzelheiten geben, eine Mannigfaltigkeit ohne Totalität, ohne Einheit. Deshalb wird der Dichter schon bei der Anschauung anders verfahren müssen als der bildende Künstler, sie wird in ihm von progressiver Natur sein: ihm gestaltet sich der Held nicht, wie er gewappnet ist, sondern wie er gewappnet wird, oder er sieht die Waffen nicht fertig daliegen, sondern erst bereiten. So Homer: er beschreibt die Pallas nicht, wie sie den Helm am Haupte, die Aegide vor der Brust getragen u. s. w., sondern er erzählt, er führt es historisch bewegt vor, wie sie die Aegis ergriffen habe und den Helm aufgesetzt Il. 5, 733 fgg. Er entwirft kein Gemälde vom Schild des Achilles, denn er ist eben kein Maler, sondern ein Dichter: er erzählt vielmehr, Schritt für Schritt, in causaler Succession, wie Hephaest den Schild geschmiedet, wie er nun dieses, dann jenes Bildwerk daran hervorgebracht. Il. 18 am Ende. Und auf ähnliche Weise wird in dgl. Fällen jeder gute Dichter verfahren, wenn er auch kein Epiker ist: auch die Anschauungen des Lyrikers werden in sich immer beweglich vorwärtsschreiten, nicht mit beschnittenen Flügeln auf Einem Fleck liegen bleiben; er wird nicht in der ersten Strophe fühlen: Ich liebe, und in der zweiten wieder: Ich liebe, und in der dritten noch einmal: Ich liebe, sondern etwa: Ich liebe, Ich liebe Dich, Ich liebe Dich sehr. So ist also die Art und Weise aller poetischen Anschauung und Darstellung durch das gegebene Mittel der Darstellung bedingt; zugleich ist sie aber auch bedingt durch den Zweck, der mit der Darstellung beabsichtigt wird. Eh wir jedoch auch hierüber sprechen, ist vorher noch in aller Kürze die Frage zu berühren, was denn der Zweck der poetischen und überhaupt jeder künstlerischen Darstellung sei. Es ist ein beliebtes Schlagwort, zu sagen, die Kunst habe gar keinen Zweck. Ein überraschendes Wort, das einmal passlich mag geschienen haben, eben ein witziges Wort, weiter nichts. Die Kunst kann so wenig ganz zwecklos sein, als ihr himmlisches Vorbild, die göttliche Allmacht, bei ihren Schöpfungen jemals zwecklos verfährt. Ein Strauch auf dem Felde mag weder in die Schreinerwerkstatt, noch in den Ofen taugen: aber darum, weil er hiezu nicht nützt, weil er überhaupt uns nicht nützt, ist er noch nicht zwecklos. Er hat vielleicht Zwecke, die wir nur nicht gewahren oder nicht hoch genug anschlagen, z. B. den, dass etwa ein Vogel sein Nest darin baue, sicherlich aber den, dass wir ihn ansehen, dass wir uns an seiner grünen Farbe und seinen Blüten freuen und sein Bildniss in uns aufnehmen. So verhält es sich auch mit der Kunst. Jede Kunst hat bei der sinnlichen Darstellung ihrer Anschauungen einen Zweck, nämlich diesen, und diesen allein, dass eine Seele, welche der des Künstlers ähnlich organisiert ist, die sinnliche Darstellung in sich aufnehme, dass diese sinnliche Darstellung, wie sie aus einer geistigen Anschauung des Künstlers entsprungen ist, dem Hörer, dem Beschauer wiederum zur geistigen Anschauung werde, dass der Hörer, der Beschauer den gleichen Weg reproducierend zurückwandle, auf welchem der Künstler ihm producierend entgegengewandelt ist, dass in seiner Phantasie die Phantasiebilder des Künstlers wiederscheinen, sein Gefühl mit dem des Künstlers im Accord zusammenklinge. Diesen Zweck geistiger Mittheilung durch das sinnlich Wahrnehmbare hat jeder Künstler. Einen Maler, der seine Bilder wieder zerstörte, würden wir mit Recht zum mindesten einen Sonderling nennen, und die Kunstbestrebungen der Aegypter würden uns noch zehnmal unbegreiflicher und wunderlicher erscheinen, wenn wir annehmen dürften, sie hätten die colossalen Steinbilder und Bauwerke auch schon in die Wüste hinaus gestellt, damit sie Niemand sehen sollte. Freilich bildet mancher Künstler nur für sich: aber doch für sich, also doch für Jemanden, nicht für Niemanden, er ist dann selbst der Andre, den er zum Reproducieren auffordert. Haben nun schon die für immer fixierenden Künste solchen Zweck und solche Beziehung, wie vielmehr die transitorischen, wie viel mehr namentlich die Dichtkunst, die Kunst des Wortes. Die Sprache gehört zu der socialen Natur des Menschen, er bedarf ihrer, um sich mitzutheilen: also wird sie auch dem Dichter nur zur Mittheilung seiner Anschauungen dienen sollen. Und das Werk des Dichters hat bei seiner transitorischen Beschaffenheit nur Bestand durch die Mittheilung an Andre und durch Wiederholung in andrer Leute Munde. Das Gemälde, die Bildsäule ist doch da, wenn sie auch Niemand sieht: ein Gedicht existiert nicht und geht mit dem Dichter unter, wenn es nicht ein Andrer von ihm empfängt, ein Andrer nachspricht, sei meinethalb dieser Andre auch nur wieder er selbst. Mithin hat jede Kunst, hat insbesondere die Dichtkunst den Zweck der Mittheilung zum Behufe der Reproduction; der Dichter macht seine Anschauung zur Darstellung, damit sein Hörer die Darstellung wieder zur Anschauung verwandle. Dies also der Zweck der poetischen Darstellung. Das Mittel der Darstellung ist aber der bewegte Fluss der menschlichen Rede. Um nun mit diesem Mittel diesen Zweck zu erlangen, ist es die Aufgabe des Dichters, dass er den Fluss der Rede weder zu grosse, noch zu kleine Wellen schlagen lasse, dass die Kette seiner Gedanken weder aus zu vielen und zu kleinen, noch aus zu wenigen und zu grossen Gliedern bestehe: sonst verliert der Hörer ein Glied nach dem andern aus der Hand, oder er kann keines recht fassen. Es soll vielmehr der Dichter Mass halten, damit der Hörer, ohne kopfüber zu stürzen, ihm nachfahren, damit er von Glied zu Glied die Anschauung verfolgen könne. Es soll also der Dichter, um es unbildlich auszudrücken, weder bloss das Allerwesentlichste, noch auch zu viel minder Wesentliches sagen. Giebt er in der Darstellung bloss die Hauptmomente seiner Anschauung wieder, so wird der Hörer nur zu leicht den causalen Zusammenhang verlieren, wird den Uebergang von Einem zum Andern nur mit Mühe oder gar nicht finden, wird gleichsam nur eine Reihe von Berggipfeln sehen, während die Thäler, die vom einen zum andern führen, ihm durch Wolken verdeckt sind. Giebt er auf der andern Seite zu viel minder Wesentliches, so kann dem Hörer wiederum leicht entgehn, worauf es denn eigentlich und hauptsächlich ankomme, er wird Causalverbindungen zu sehen meinen, die gar nicht vorhanden sind, er wird Einzelnes so wirken lassen, wie es gar nicht wirken soll, er wird sich in den Thälern verlaufen, bis er zuletzt den Weg auf die Berge gar nicht mehr finden kann. Giebt der Dichter zu wenig, so verlangt er damit zu viel von der reproducierenden Thätigkeit des Hörers und überstürzt und überspannt sie; giebt er zu viel, so macht er wiederum zu wenig Ansprüche, verlangt von ihm eine zu geringe Thätigkeit, schläfert ihn ein. Es muss also der Dichter vorwärts und voran wandeln, damit der Hörer ihm nachwandle und die gleiche, ebenso bewegte Anschauung empfange; er darf allenfalls auch laufen, aber springen ist gefährlich, ebenso gefährlich schleichen, und gar mit langem Verweilen und Stillestehn ist alles verdorben, denn da steht es auch im Hörer still, und seine Seele legt die Hände in den Schoss. Sie sehen, an dem Gesetze der Darstellung ist nur soviel positiv, dass sie vorwärts schreiten müsse; das Mass aber im Vorwärtsschreiten lässt sich nur negativ bestimmen als ein weder zu viel noch zu wenig, es ist das auch jedesmal bedingt durch die Beschaffenheit der bezweckten Anschauung und ebenso durch den Standpunkt, auf welchem sich Bildung und Sprache zur Zeit des Dichters befinden. Es muss also in jedem Fall der Tact des Dichters entscheiden; und wenn die Darstellung eines Dichters zu beurtheilen ist, muss man auf Zeit und Umstände Rücksicht nehmen. Wenn wir diese Rücksicht nicht aus dem Auge verlieren, werden wir z. B. die langsame Weitläuftigkeit in den Dichtern der beiden sogenannten schlesischen Schulen des 17. Jahrhunderts ebenso natürlich und wohl zu entschuldigen finden als die abgebrochenen Gedankensprünge in den Volksliedern aller Zeiten: denn jenes Jahrhundert wollte überhaupt alles bis auf das kleinste Titelchen hinaus wohl motiviert und verclausuliert wissen; was aber die Volkspoesie betrifft, der gemeine Mann kümmert sich nicht im Denken, viel weniger in der poetischen Darstellung um logische Mittelglieder, er springt getrost von einem Felsblock auf den andern. Eher dagegen könnte man Aeschylus tadeln, dass er bei seiner Art und Weise darzustellen dem Hörer zu viel, Euripides, dass er ihm zu wenig zutraue und zumuthe: man kann sie tadeln, denn dass es dort und damals wohl möglich gewesen, das rechte classische Mass zu halten, sieht man an Sophocles. Eine ähnliche Trias von Dichtern haben wir im Mittelalter an Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Strassburg: Wolfram springt, Gottfried schleicht, Hartmann wandelt. Um auch noch von den zwei bedeutendsten Dichtern der neuesten Zeit zu reden, Rückert und Uhland, so trifft Rückert namentlich in seinen frühern Gedichten nicht selten der Tadel, dass die Ausführlichkeit der Darstellung in keinem Verhältniss stehe zu dem Gehalt der Anschauung, dass er zwar vorwärts gehe, aber mit zu vielen und zu kleinen Schritten, so dass an jenen Gedichten schon mancher ermüdet ist und die Geduld verloren hat. Eine Folge freilich von Unbehilflichkeit ist diese seine überausführliche Darstellung nicht, sondern im Gegentheil wird er dazu durch seine bewundernswürdige Gewandtheit verleitet, der nichts zu schwer ist; es macht ihm nichts, ganze Füllhörner auszuschütten, da er weiss, dass es eben unerschöpfliche Füllhörner sind. Sodann Uhland: Uhland war von jeher ein rechter Meister gemessener und angemessener Darstellung, und diess war es, worin er sich, wie kein andrer deutscher Dichter getrost neben Göthe stellen durfte. Uhland ist, wie wenige, Meister einer Darstellung, die sowohl die treueste Objectivierung des innerlich Angeschauten ist, als sie auch wieder für den Hörer die erfreulichste Nöthigung in sich trägt, dasselbe und in der gleichen Weise zu reproducieren, was der Dichter produciert hat. Denn wie an Uhlands Production das Gemüth einen überwiegenden Antheil hat, wie er eben unser gemüthlicher Dichter ist, so weiss er auch für die Reproduction Gefühl und Gemüth besonders in Anspruch zu nehmen: deshalb auch fehlt seinen Gedichten oft der scharf abschneidende Schluss, sie endigen oft so zu sagen mit einem Gedankenstrich, nicht mit einem Punkt; er will dem Gefühl des Hörers Raum geben, noch über den Schluss des Gedichtes hinaus zu sinnen und sich immer tiefer in Lust oder Wehmuth zu versenken; er schlägt den letzten Ton eben nur an, damit er im Hörer noch geraume Zeit nachhalle und wiederklinge, und so in diesem und durch diesen selbst das Ganze seinen vollen Abschluss erhalte. Wir haben nun noch die letzte Bestimmung in der früher aufgestellten Definition der Poesie zu erörtern, die Bestimmung nämlich, dass sie auch eine schöne Darstellung sei, nicht bloss Darstellung des Schönen, sondern auch eine schöne Darstellung desselben. Schönheit der Darstellung wird erreicht, wenn auch deren Mittel, die Sprache, die Worte dem Gesetz der Schönheit unterworfen sind, wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen waltet. Diess Gesetz wird am deutlichsten ausgeprägt und beherrscht die Rede am sichersten durch rhythmische Gliederung derselben. Die Worte müssen erstens nach einem gewissen Rhythmus geordnet sein, d. h. da Rhythmus überall vorhanden, wo ein Wechsel von Gegensätzen regelmässig wiederkehrt, so muss auch hier ein solcher sich wiederholender Wechsel und zwar hier von hörbaren Gegensätzen stattfinden, ein Wechsel je nach der Sprache von langen und kurzen, oder von betonten und unbetonten Silben. Damit ist der Anforderung der Mannigfaltigkeit schon Genüge geleistet, zum Theil auch, da der Gegensatz gleichmässig wiederkehrt, der Einheit. Vollkommene Einheit aber wird erst dadurch erzielt, dass man die rhythmisch geordnete Rede auch gliedert, dass man sie in abgeschlossene überschauliche Reihen zerlegt, die ein bestimmtes Mass von Wiederholungen jener Gegensätze in sich befassen, dass man sie in Verse vertheilt und etwa die Verse wieder zu Strophen verbindet. Man giebt der Rede metrische Gestalt. Die metrische Gestalt ist es, die von jeher die Verbindung vermittelt und erhalten hat zwischen der Poesie und der Musik und dem Tanze, diesen dreien ihre Darstellungen nach und nach vorführenden Künsten. So lange diese Verbindung bestand, hat auch immer die metrische Form der poetischen Darstellung unbezweifelt und unverkümmert gegolten; erst wenn Poesie und Musik sich getrennt haben oder zu trennen beginnen und damit diese äussere Nöthigung zur metrischen Form weggefallen ist, ist deren Beachtung minder allgültig geworden, und so haben sich denn Undinge bilden können, wie die prosaische Poesie und die poetische Prosa. Es sind dann z. B. bei Griechen wie bei Deutschen an die Stelle der gesungenen und darum in Versen abgefassten Heldengedichte die bloss zum Lesen bestimmten prosaischen Romane getreten, und so giebt es auch prosaische Dramen. Sieht man jedoch von solchen einzelnen, freilich sanctionierten Begriffswidrigkeiten ab, so ist der Poesie nach wie vor das Bedürfniss der metrischen Form geblieben, und man findet die rhythmische Ordnung und Gliederung der Rede auch da erforderlich, wo dieselbe nicht mehr zur Verknüpfung mit andern Künsten dienen kann, wie in der gesanglosen Lyrik: denn sie beruht auch nicht grade bloss auf solchen äussern Zweckbeziehungen, sondern vielmehr auf dem Princip, das jede künstlerische Production von innen heraus beleben und gestalten soll, dem Princip der Schönheit. Noch ist auf die eigenthümliche Stellung aufmerksam zu machen, welche die metrische Form gegenüber der poetischen Anschauung und dem sprachlichen Material der Darstellung einnimmt. Die Anschauung ist eine bewegte, vorwärts schreitende, ebenso die Rede, aber nicht ebenso die metrische Form: diese beharrt in demselben Wechsel derselben Gegensätze, sie verweilt in dem gleichen Rhythmus, es kehrt die gleiche Versart, das gleiche Strophengebäude immer und immer wieder. Dieser Widerstand, welchen somit die metrische Form dem Strom der Rede entgegenstellt, ist nicht ohne Bedeutung: auch so wird auf einem neuen Wege dem Princip der Kunst genügt: das fixierte Metrum gegenüber der wandelbaren Rede ist wiederum die Einheit über der Mannigfaltigkeit. Welche Gesetze über die Wahl der jedesmaligen metrischen Form sich aus diesem Verhältniss derselben zu der anderweitigen Darstellung ergeben, davon besser späterhin, wo von den einzelnen Gattungen der Poesie die Rede sein wird. Hier soll endlich nur noch diess Eine beachtet und betrachtet werden, wie der früher bezeichnete Unterschied antiker und moderner Kunst sich bis auf die metrische Form der Darstellung erstrecke. In der antiken Kunst beherrscht, wie wir gesehen, die Einheit die Mannigfaltigkeit; in der modernen Kunst dagegen wird die Einheit von der Mannigfaltigkeit verdeckt. Die antike Simplicität zeigt sich auch in der antiken Verskunst, während die modernen metrischen Formen der Simplicität ermangeln. Den Griechen genügt der Rhythmus, genügt der Wechsel von Längen und Kürzen; die ganze moderne Poesie verlangt ausser dem einfachen Rhythmus der poetischen Rede noch eine bunte Ausschmückung derselben, die Allitteration, die Assonanz, den Reim. Den Reim, welchen die Deutschen und die übrigen Völker von den spätern Römern entlehnten, hatten schon die früheren Römer, wenn schon er vor den erborgten griechischen Formen ihrer Poesie nie recht aufkommen konnte; sie treten auch in diesem Stück wie in so vielen mitten hinein zwischen Griechen und Deutsche, zwischen die alte und die neue Welt. Dieser moderne Schmuck ist von wesentlichen Folgen für die ganze Art und Weise der poetischen Darstellung. Bei den Alten steht jeder Vers für sich, und es kann allenfalls ein Gedicht, z. B. ein Epigramm mit einer Zeile abgethan werden: bei den Neuern verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, der die Allitteration, den Reim, die Assonanz vollende; das kürzeste Gedicht ist wenigstens zweizeilig. Auf Anlass dieses zweigliedrigen Gleichklanges ist der Parallelismus der Gedanken in der neuern Poesie weit mehr zu Hause als in der antiken, namentlich der griechischen, wenn er ihr auch nicht in solchem Masse eigen ist als der hebräischen. Diese freilich hat, wie es scheint, gar keine rhythmische Gliederung der poetischen Rede gekannt und keine viel weitergehende Ausschmückung derselben als eben diesen auf Tautologien und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken; den Reim hat sie mehr nur als Wortspiel geübt. Und somit wäre denn die gegebene Definition der Poesie weitläuftig genug ausgeführt. Wir können nun übergehen zu den zwei andern Abschnitten dieses Theiles. 2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE. So viel steht fest, dass die Poesie überall älter ist als die Prosa. Wohin wir blicken mögen, in welche Zeit, in welches Land wir auch wollen, ein Volk, das seine Litteratur besitzt, hat den Anfang dazu immer mit Poesie gemacht, und die Prosa hat sich immer erst dann zu entwickeln begonnen, wenn die Poesie schon mehr oder minder, theilweis oder gänzlich in Verfall gerathen war. Die Kunst der Homeriden musste erloschen sein, eh Griechenland in Herodot einen Vater der geschichtlichen Prosa finden konnte; ebenso in Deutschland: die rechte Ausbildung der erzählenden Prosa beginnt eigentlich erst mit dem Roman, der Roman aber erwächst und wuchert auf den Trümmern des Epos. Ja wir finden im Alterthum, im deutschen wie im griechischen und anderswo, die poetische Behandlung auf Dinge angewendet, die uns jetzt derselben eben nicht gar fähig erscheinen: so die historischen Gedichte des 12. 13. 14. Jahrhunderts. Beim Unterricht der gallischen Druiden, der sich auch auf Gestirnkunde und andre Theile der Naturwissenschaft erstreckte, wurde, wie es scheint, alles in Versen vorgetragen, damit es die Schüler auswendig lernen könnten, vgl. Cäsars Bell. gall. 6, 14. Von den Gesetzen der Kretenser und andrer griechischen Volksstämme (Aelian. Var. histor. 2, 39), auch von denen der Keltiberer (Strabo 3 p. 139) wird gemeldet, sie seien in Versen abgefasst gewesen. Dasselbe gilt auch von den Verordnungen ( ῥῆτραι ) Lycurgs, welche später von Terpander in Musik gesetzt wurden (Otfr. Müller, Dorier 1, 134. 2, 377); und jetzt noch liegen uns von den Angelsachsen und andern deutschen Völkern dergleichen Gesetze vor. Noch aus dem 12. Jahrhundert besitzen wir in hochdeutscher Sprache eine kleine Rechtsschrift, die halb Prosa ist, halb Poesie (mit Reim und Allitteration): LB. 1 4 , 187. Natürlich war die ganze Auffassung des Rechtes damals bei den Alten und bei den Deutschen auch eine andre, die metrische Form war damals ebenso angemessen, als sie es heut zu Tage wahrscheinlich nicht wäre. Wie poetisch kann noch die Rede bei all den Rechtsverhandlungen sein, die in den ersten Büchern des Livius vorkommen! Die Poesie geht also überall der Prosa voran, und so leben noch jetzt ganze Völker, bei denen es noch gar nicht bis zur Prosa gekommen, bei denen die Poesie noch unverfallen und in frischer Blüte und darum ganz allein da steht: so sind die Littauer, so die Serben reich an den schönsten Liedern, aber ohne Prosa. Kurz überall ist diejenige Art der Anschauung und Darstellung die ältre und die ursprüngliche, die vorzugsweise aus schaffender Thätigkeit der Einbildung erwächst, die uns den Menschen in seinem Streben zeigt, es dem Schöpfer aller Dinge nachzuthun, diejenige Art, bei der er uns mehr activ entgegentritt: jünger die mehr passivische Thätigkeit des Verstandes und deren sprachlicher Ausdruck, die Prosa. Die Poesie ist aber nicht bloss älter als die Prosa, sie ist überhaupt uralt und wahrscheinlich nicht viel jünger als die Sprache, mithin als die Menschheit selbst. Zu einer solchen Annahme sind wir durch vieles berechtigt. Der Kunsttrieb wohnt einmal dem Menschen inne: welche Aeusserung desselben ist aber einfacher und näher gelegen und unmittelbarer als die durch die Sprache, deren er ohnediess fortwährend zur Mittheilung bedarf? Sodann ist jede Sprache, je älter sie ist, auch desto sinnlich anschaulicher in all ihren Ausdrücken und desto wohllautender; je mehr sie noch bei jugendlichen Kräften, je weniger sie in Begriffen und Formen abgeschliffen, je weniger noch die Fülle ihrer Laute getrübt und geschwächt ist, desto mehr ist jede Sprache schon für sich eine schöne Darstellung: da ist es nur ein kleiner Schritt vorwärts, zum Object dieser schönen Darstellung auch das Schöne zu machen, aus der Sprache die Poesie zu entwickeln. Endlich kommt noch eine Thatsache in Anschlag, dass nämlich in ihrer Jugendzeit jede Sprache mehr Gesang als eigentlich Sprache ist. Nun wissen wir aber auch, dass Dichten und Singen ursprünglich eins und unzertrennt sind. Da wird die Dichtkunst nur aus jener Zeit herrühren, wo auch Sprechen und Singen eins war, aus der allerältesten Zeit der Sprache, aus dem Jugendalter des Volkes, der Menschheit. Als Gott den Menschen schuf und ihm den Kunsttrieb und die Sprache auf die Welt mitgab, gab er ihm auch den Keim der Poesie mit auf die Welt, der unausbleiblich bald aufgehen musste. Dass mithin das Alter der Poesie an das Alter der Welt hinaufreiche, das haben auch die Griechen, die Orientalen und andre wohl erkannt und mannigfach gesucht in mythischer Form auszudrücken. Die Griechen leiten sie unmittelbar von den Göttern her. Hermes war kaum geboren, so übte er schon, er der Erste, Poesie und Musik: er bezog die Schale einer Schildkröte mit Saiten und sang, indem er sie mit dem Plectrum schlug, die Liebe des Zeus und der Maja, seine eigene Geburt, die Nymphen der mütterlichen Grotte nebst dem Hausrath, wie das anmuthig dargestellt ist in dem homerischen Hymnus auf Hermes. Ebenso bei den Finnen: die Erfindung der Harfe und mit ihr des Gesanges und der Dichtkunst schreiben sie Wäinämöinen, dem lichten Gotte des Guten, zu: vgl. Schröter, Finnische Runen 69─73. Eben solche Herleitung von den höchsten Göttern, ja ein Zusammenwirken aller Arten göttlicher und halbgöttlicher Wesen begegnet uns im scandinavischen Norden. Die jüngere Edda enthält eine weitläuftige, geschmacklos abenteuerliche Darstellung, die wohl erst durch diese sehr späte Quelle so geschmacklos geworden ist, wie sie uns erscheinen muss. Die beiden Göttergeschlechter, die Asen und die Wanen schliessen nach langem Kriege einen Frieden, der dadurch zu Stande kommt, dass sie von beiden Seiten ihren Speichel in ein Gefäss werfen. Aus diesem Speichelgemisch schaffen die Asen den Kwasir, das weiseste aller Wesen. Dieser zieht durch die Welt und lehrt die Menschen die Weisheit. Auf seiner Fahrt kommt er zu zwei Zwergen; diese erschlagen ihn, mengen sein Blut mit Honig, woraus ein kostbarer Meth entsteht, der jedem, welcher davon kostet, die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst verschafft. Die Zwerge müssen diesen Meth einem Riesen als Sühne für einen Mord herausgeben. Die Asen aber wissen es und wollen sich selbst in den Besitz des heiligen Blutmethes bringen. Da macht sich Ođin auf zu dem Riesen. Durch List gelangt er dazu, dass er all den Meth austrinkt. Darauf flieht er in Adlersgestalt, der Riese ebenso ihm nach. Als er sich Asgard, dem Wohnsitze der Götter, nähert, fühlt er sich von dem verfolgenden Riesen so hart bedrängt, dass er den Meth von sich geben will. Die Asen stellen Gefässe hin, Ođin speit den Meth hinein, und von da an gehört dieser Meth den Asen und den Menschen, welche dichten können: vergl. Grimms Mythol. 855─857. Wie hier die ganze Poesie, so werden anderswo auch einzelne hauptsächliche Formen derselben, werden Versformen, die bestimmte Dichtungsarten bezeichnen und vertreten, auf Götter zurückgeführt oder doch ihr Ursprung in jene entlegenen Zeiten versetzt, da die Götter noch auf Erden wandelten. So soll der Hexameter von den Musen selbst erfunden sein: als Apollo den pythischen Drachen erlegte, da, erzählt ein später Scholiast, riefen ihm die Musen ermuthigende Worte, dann ihren Beifall zu: von selbst ordnete und gliederte sich ihr Ruf in rhythmischer Weise, und so sprachen und sangen sie die ersten Hexameter. In ähnlicher Weise hat auch der Trimeter, die Versform der Komödie und des Dramas überhaupt, einen mythischen Ursprung: denn er hat seinen Namen von der Jambe, einer Magd im königlichen Palast zu Eleusis, welche die Demeter, da diese in Betrübniss um ihre Tochter umherirrte, durch ihre lustigen Einfälle endlich wenigstens zum Lächeln brachte: vgl. Ruhnken zum homerischen Hymnus auf Demeter 195. Tiefsinniger sind einige morgenländische Sagen, welche gleichfalls das hohe Alter und den göttlichen Ursprung der Poesie behaupten, aber nicht, indem sie dieselbe von einer Gottheit oder mit Zuthun der Götter, sondern von dem Menschen, aber unter Umständen erfinden lassen, wo er sich seiner überirdischen göttlichen Natur musste am tiefsten und innigsten bewusst werden. Nach den Arabern ist der erste Dichter Adam selbst gewesen (vgl. Latifi's Nachrichten von türkischen Dichtern, von Th. Chabert S. 6): er sang aber das erste Lied, als ihn der erste Schmerz der Sterblichkeit ergriff, als er Abel erschlagen sah: denn in diesem tiefsten Leide musste er erkennen, wie über dem armen sterblichen Leben noch ein höheres sei, es musste in ihm das Bewusstsein der göttlichen Natur von neuem erwachen und mit ihm die Poesie, der Ausfluss der göttlichen Natur. Ferner verdient hier Erwähnung eine Art von Trauergesang, der schon zu den ältesten Formen der griechischen Poesie gehört, den aber die Griechen nicht für sich allein, sondern gemein mit den Aegyptern und den Völkern Vorderasiens und wahrscheinlich von daher empfangen haben; er heisst Linos, und diess ist zugleich der Name eines sagenhaft ältesten Dichters, des Sohns Apollos und einer Muse, der zuerst solche Trauerlieder gesungen und damit überhaupt den dichterischen Gesang und den dichterischen Rhythmus soll erfunden haben. An vielen Orten wurde Linos gefeiert: vgl. Ambrosch de Lino (Berlin 1829). Auch die Inder stellen den ersten epischen Vers, der gesprochen worden, also überhaupt die älteste Poesie dar als die unwillkürliche Aeusserung eines schmerzlichen Mitleidens. Ein heiliger Einsiedler, Walmiki, sieht, wie aus einem Paare von Reihern der eine getödtet wird; da bricht er in Klagen und Verwünschungen aus; ohne dass er es merkt, ordnen seine Worte sich rhythmisch. Erst da sie gesprochen sind, fällt es ihm auf; gleich kommt auch Brahma und befiehlt ihm in dieser Form ein Epos zu verfassen, das erste, älteste aller Gedichte, Ramáyana: vgl. Fr. Schlegel, Sprache und Weisheit der Inder S. 263─271. Phil. Wackernagels Auswahl deutscher Gedichte, 5. Aufl. S. 207. Freundlich, aber minder tief ist die persische Sage vom Ursprunge des Reimverses: Behram, der Sassanide, hat eine geliebte Sclavin Dilaram, die aus liebender Uebereinstimmung jede Rede ihres Herrn mit gleichgemessenen und gleichschliessenden Worten erwidert: hier ist es also die Liebe, welche den Versbau mit Reim hervorbringt: vgl. Rückert, Oestliche Rosen 150; LB. 2, 1563. 3. BENENNUNGEN DER POESIE. Die Benennungen, welche zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern der Dichtkunst und den Dichtern sind beigelegt worden, beziehen sich, soweit man sie etymologisch ausdeuten kann, fast alle entweder auf den innigen Zusammenhang der Poesie mit der Sprache, oder auf ihre altgewohnte Verbindung mit der Musik, oder auf den Parallelismus der schöpferischen Einbildung des Menschen mit der schaffenden Allmacht Gottes. Insofern können sie alle in dieser oder in jener Weise zur letzten Bestätigung dessen dienen, was bisher im ersten Abschnitt über das Wesen und im zweiten über den Ursprung der Poesie ist bemerkt worden; deshalb ist ihnen auch eine schnell vorübergehende Betrachtung zu widmen. Bei Homer erscheinen Dichtkunst und Musik auf das engste verbunden: jeder Dichter ist zugleich Sänger. Daher hat er für Dichten und Gedicht und Dichter das gleiche Wort als für Singen und Gesang und Sänger: ἀείδειν, ἀοιδή, ἀοιδός . Späterhin, wo Dichtung und Musik schon auseinandergegangen, werden diese Ausdrücke bloss vom Singen gebraucht; nur ᾠδή bezeichnet Gesang und eine besondre Gattung von Gedichten, nämlich lyrische: denn bei diesen erhielt sich die alte Verbindung länger. Sonst kommt nun für Dichten ein besonderer Ausdruck auf, der es als ein Schaffen darstellt: ποιέω, ποιητής, ποίημα , ποίησις , Ausdrücke, die wir zuerst bei Herodot finden. Zu dieser Zeit, wo zuerst neben der Poesie auch Prosa, und zwar die historische, die der bloss verständig reproducierenden Erinnerung, in Aufnahme kam, musste man sich durch diesen Gegensatz besonders klar bewusst werden, wie die Poesie eine schaffende Kunst, der Dichter ein Schöpfer auf dem Standpunkte der Menschheit sei. Diese letzteren griechischen Ausdrücke haben sich die Römer schon frühzeitig angeeignet; die daneben bestehenden lateinischen sind canere, carmen, vates. Bei canere ist es noch zweifelhaft, ob es da, wo es im Sinne von Dichten gebraucht wird, nicht etwa bloss eine Uebersetzung des homerischen ἀείδειν sei. Carmen ist schwer auszudeuten; jedesfalls kann es nicht von canere hergeleitet werden, vielleicht beruht es auf einer alten und neueren Sprachen nicht ungeläufigen Vergleichung der Dichtkunst mit einer mechanischen Handfertigkeit, mit dem Bereiten des Gewandes. Bei den Griechen hiess einer, der die einzelnen alten Heldenlieder zu grösseren Ganzen verband und so verbunden vortrug, Gesangnäher ῥαψῳδός , von ῥάπτειν ἀοιδήν : Hesiod. fragm. 34, 2. Die Lateiner gebrauchen in diesem Sinne texere weben, z. B. contexere carmen bei Cicero, ähnlich im Mittelalter. So kann auch carmen von carere kommen, welches die Bereitung der Wolle vor dem Weben des Tuches und wie carminare auch das Weben bezeichnet. Mit carmen hängt auch der lateinische Name der Göttin der Dichtkunst zusammen, Camena: von den Grammatikern wird nämlich mehrfach bezeugt, dass die ältere Form Casmena lautete; das wäre dann wieder der gewöhnliche Wechsel von s und r. Vâtes endlich bezeichnet den Römern einen Weissager und einen Dichter, entweder weil die Weissager in Versen sprachen, oder weil man sich den Dichter prophetisch begeistert dachte. Im Lateinischen ist das Wort ohne Wurzel: zwar hat man es mit dem griechischen φάτης zusammengestellt, allein diese Erklärung ist eine etymologische Unmöglichkeit, indem diese Wurzel auch in fari, fateor vorkommt, φ und f aber nie in v übergehen. Dazu kommt, dass φάτης ein kurzes, vates dagegen ein langes a hat. Wahrscheinlich ist das Wort gar kein lateinisches, sondern neben so vielen andern von den Galliern entlehnt. Strabo 4 p. 197 nennt neben den Barden und den Druiden als eine Klasse der priesterlichen Gelehrten bei den Galliern die οὐάτεις und bezeichnet dieselben als ἱεροποιοὺς καὶ φυσιολόγους (Priester und Naturgelehrte) Παρὰ πᾶσι δ' ὡς ἐπίπαν τρία φῦλα τῶν τιμωμένων διαφερόντως ἐστί , βάρδοι τε καὶ οὐάτεις καὶ δρυίδαι; βάρδοι μὲν ὑμνηταὶ καὶ ποιηταί, οὐάτεις δὲ ἱεροποιοὶ καὶ φυσιόλογοι, δρυίδαι δὲ πρὸς τῇ φυσιολογίᾳ καὶ τὴν ἠθικὴν φιλοσοφίαν ἀσκοῦσι . . Doch bleibt das Wort auch im Celtischen dunkel. Nun noch die deutschen Ausdrücke. Alt- und echtdeutsch wird für Dichten singen oder sagen, oder in tautologischer Verbindung singen und sagen gebraucht. Jenes zielt auf den musikalischen Vortrag, dieses auf die künstlerische Gestaltung der Sprache; singen und sagen vereinigt althochdeutsch und altsächsisch beide Beziehungen. Diese Verbindung ist so fest sprichwörtlich, und so wenig hatte man Kenntniss von einer andern Art des Vortrages, dass die altsächsische Evangelienharmonie (Heliand) sogar von den Evangelisten erzählt, sie hätten gesagt und gesungen Hel. V. 32 f.: That scoldun seâ fiorî thuo fingron scrîƀan, settian endi singan endi seggean forth u. s. w. , und Otfried von eben denselben unmittelbar neben einander zuerst sagen und dann singen gebraucht Otfr. 1, 1; LB. 1 4 , 84, 25. 29: Thaʒ Kristes uuort uns sagetun ... Uuanta sie iʒ gisungun. . Späterhin, wo Poesie und Musik sich trennen, trennen sich auch diese Ausdrücke, und während sagen von Gedichten gilt, die nur zum Lesen bestimmt sind, wird singen von solchen gebraucht, die musikalische Begleitung haben. Demgemäss wird ein gesungenes Gedicht sanc oder liet (d. h. Strophe), ein bloss gelesenes buoch genannt. Der älteste nationale Ausdruck für Dichter ist nicht Barde: denn Barden hat es nach dem einstimmigen Zeugniss der Alten, der Griechen sowie der Römer, nur bei den Galliern gegęben. Und wenn Tacitus in der Germania cp. 3 den germanischen Schlachtgesang barditus Litt. Gesch. S. 9. nennt, so ist damit nicht sowohl das Lied selbst, als vielmehr die Art des Vortrages, der relatus gemeint: barditus ist ein Schildgesang, von barđi Schild, so genannt, weil die alten Deutschen den Schild vor den Mund hielten, damit der Ton rauher anschwelle. Der älteste Name des Dichters ist scof Litt. Gesch. S. 11. 41. , von der Wurzel schaffen, wie ποιητής von ποιέω . Im Altnordischen heisst er skâld, von schelten, mit Bezug auf die satirische Richtung der Poesie. Die jetzt üblichen Worte dichten, Dichter, Gedicht, altdeutsch tihten (daher noch jetzt tichten und trachten ), tihtaere, getihte kommen vom lateinischen dictare, dem Frequentativum und Intensivum von dicere; dictare aber bedeutet im mittelalterlichen Latein s. v. a. schreiben, schriftlich abfassen, und wird nur von geschriebenen Erzeugnissen gebraucht. II. VON DER POESIE IM BESONDERN. 1. DIE EPISCHE POESIE. Es ist eine weit verbreitete Behauptung, dass man als die älteste Gattung der Poesie die Lyrik zu erkennen habe: denn dem Menschen liege nichts näher als sein Ich, und nichts könne ihn eher und leichter zu poetischer Production reizen als seine Empfindungen: mithin sei die lyrische Poesie als die Poesie des Ichs und des Gefühls auch die älteste. Diese Behauptung hat viel verleitenden Schein: dennoch ist sie ein lediglich aus der Luft gegriffenes Theorem, und von aller Kenntniss der Litteraturgeschichte, von aller Einsicht in das eigentliche Wesen der Poesie verlassen. So wie man sich nach historischer Begründung umthut, und so wie man nur einigermassen bedenkt, was denn Poesie überhaupt solle und wolle, so ergiebt sich vielmehr und bleibt nur die Lehre bestehn, dass die epische Poesie die älteste, und dass alle Poesie zuerst nur episch gewesen sei. Befestigen wir diesen Satz zuerst auf dem geschichtlichen Wege. Wie das Aelteste, was wir von deutscher Litteratur kennen, poetische Werke sind (denn prosaische Uebersetzung ausländischer Prosa darf hier nicht in Anschlag kommen), so ist auch das Aelteste, was wir von deutscher Poesie kennen und wissen, epische Poesie. Episch sind all die ersten Denkmäler derselben, die sich erhalten haben: so aus dem achten Jahrhundert das Lied von Hildebrand und Hadebrand (LB. 1 4 , 55); so aus dem neunten das vom Jüngsten Tage (LB. 1 4 , 75): denn auch dieses erzählt, zwar nicht Vergangenes, sondern Zukünftiges, nicht in historischer, sondern in prophetischer Weise. Indess damit wäre noch nicht viel bewiesen: denn die deutsche Nation ist älter als aus dem achten und dem neunten Jahrhundert. Aber es reichen Zeugnisse von da an aufwärts bis in die frühesten Zeiten zurück, bis in denjenigen Zustand, den wir für die europäische Existenz der Deutschen als ihren Urzustand betrachten dürfen und müssen: Zeugnisse über epische und nur über epische Lieder bei den Langobarden, bei den Gothen, bei den Germanen, wie Tacitus sie schildert Paulus Diaconus 1, 27. Iornandes 4. 5. Germ. 2. 3. Annal. 2, 88. . Nicht anders bei anderen Völkern. Die Litteratur der Hebräer hat einen epischen Beginn; als Walmiki den ersten indischen Vers erfunden hatte, liess ihn der Gott die neue Kunst an einem Epos Ramáyana üben; Heldenlieder waren es, welche die Barden der Gallier zum Saitenspiele sangen Amm. Marc. 15, 9. ; die ersten Spuren der römischen Poesie sind wiederum Heldenlieder Niebuhr, Röm. Gesch. 1 4 , 268. 4, 28 (1844). Vorträge 1, 12. 86 fgg. ; und schon vor Homer, in den Zeiten der griechischen Litteraturgeschichte, die wir nur aus halb fabelhaften Nachrichten kennen, hatte diess Volk seine epischen Gesänge, und nur solche. Homer wenigstens fand keine andern vor: die ἀοιδοί , die bei ihm auftreten, Phemios auf Ithaka, Demodokos bei den Phäaken, singen nur epische Stoffe. Daher erklärt sich denn auch die griechische Benennung erzählender Gedichte, ἔπος , oder besser pluralisch ἔπη oder ἐποποιΐα , Wort, Rede, Wortschöpfung: denn es gab ursprünglich nur diese künstlerische Gestaltung des Wortes. Die andern und jüngeren Gattungen der Poesie tragen specieller bezeichnende Namen. Dass die Dichtkunst in ihren Anfängen episch gewesen sei, darauf zielt auch die griechische Mythologie überall, wo sie die Kunst und jene ihre Anfänge berührt. Der homerische Hymnus, der Hermes als den ersten Sänger und Dichter darstellt, stellt ihn zugleich als Epiker dar: er sang die Liebe des Zeus und der Maja, seiner Eltern, und seine eigne Geburt, sang die Entstehung der Erde und der Götter, den Rang und die Würde derselben, vor allen aber die Mnemosyne, welche ihm die Gabe des Singens verliehn. Die Mnemosyne: diess führt uns auf ein andres, noch triftigeres Zeugniss. Von ihr also rührt noch über den Hermes hinaus die Kunst des Gesanges her: das heisst, sie rührt her vom Gedächtniss, von der Erinnerung: solchen Ursprung kann man aber der Poesie nur beilegen, insofern sie lediglich als epische verstanden wird. Diese Auffassung liegt aber dem ganzen Mythus von den Musen zum Grunde. Der Name selber scheint, etymologisch betrachtet, nichts andres zu bedeuten als die Gedenkenden; und was die Musen bewalten, sind ursprünglich nicht die schönen Künste überhaupt, oder gar auch die Wissenschaften: so hat sie erst eine spätere Zeit betrachtet; sondern einzig die Poesie und was dazu gehört, Musik und Tanz. So erscheinen sie bei Homer und Hesiodus Theogon. 1 fgg. . Sie singen aber sowohl selbst den Ursprung und die Thaten der Götter, als auch die Kunst des ἀοιδός eine von ihnen verliehene Gabe ist Demodokos Od. 8, 44 f.: τῷ γάρ ῥα θεὸς πέρι δῶκεν ἀοιδήν, τέρπειν, ὅππῃ θυμὸς ἐποτρύνῃσιν ἀείδειν . . Epischen Gesang also hegen und pflegen sie. Ihre Zahl steht bei Homer noch nicht gleichmässig fest: er redet von ihnen ebenso oft im Singular als im Plural, und nur an einer Stelle von neunen Odyss. 24, 60 f. Μοῦσαι δ' ἐννέα πᾶσαι, ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ, θρήνεον . . Erst Hesiodus giebt zu der Neunzahl auch die bekannten Namen; als die vorzüglichste von allen nennt er Kalliope Theogon. 76 fg. Καλλιόπη θ' ἡ δὲ προφερεστάτη ἐστὶν ἁπασέων . , also die Muse des Epos; als Vater den Zeus, als Mutter Mnemosyne, eben jene Mnemosyne, die dort den Hermes mit der Sangeskunst begabt Ebenso Apollodor. 1, 3, 1: Ζεὺς- γεννᾷ- ἐκ δὲ Μνημοσύνης Μούσας, πρώτην μὲν Καλλιόπην, εἰτα Κλειὼ Μελπομένην Εὐτέρπην Ἐρατὼ Τερψιχόρην Οὐρανίαν Θάλειαν Πολυμνίαν . : beidemal das gleiche, für unsre Betrachtung bedeutsame Verhältniss der Erinnerung zur Poesie, nur verschiedentlich dargestellt. Zwischen der Einzahl bei Homer und der Neunzahl des Hesiodus liegt die Dreizahl, nach Pausanias 9, 29, 2 älter als die Neunzahl; die Namen dieser dreier sind Melete Mneme Aoide, Sorgfalt Erinnerung Gesang: Melete und Aoide beziehn sich auf die äussere Form, auf Darstellung und Vortrag; auf den Gehalt der dichterischen Production nur Mneme: also wiederum die Erinnerung. Es giebt noch andere Zahlen und andere Namen, fünfe nach den fünf Sinnen, sieben nach den sieben Saiten und den sieben Planeten u. s. f.: willkürliche Erfindungen späterer Philosophen und Mythographen, die uns hier nichts angehn. Hier kam es nur darauf an, nachzuweisen, wie sich auch im Volksglauben der Griechen das historische Bewusstsein von der Erstgeburt des Epos und von dem epischen Grunde aller Poesie ausspreche: für dergleichen Dinge ist aber die mythische Tradition eben so gut ein geschichtliches Zeugniss und ebenso vollgültig als irgend ein anderes. Es könnte an diesen aus Geschichte und Mythologie entnommenen Gründen genügen: aber es sind auch noch innere vorhanden, und wir dürfen dieselben um so weniger übergehn, als sie uns schon im voraus einige Blicke in das Wesen der epischen Poesie eröffnen, und uns den Grund und Boden zeigen, aus welchem sie erwachsen ist und als die erste aller Gattungen hat erwachsen müssen. Als die wesentlichste und wirksamste unter den drei Seelenkräften, die bei Conception einer poetischen Anschauung thätig sind, haben wir die Einbildungskraft kennen gelernt; wir haben gesehen, wie sie zumal das Organ des menschlichen Kunsttriebes sei, sie die eigentlich schaffende, der Gefühl und Verstand nur prüfend und helfend beigeordnet sind. Wir haben sodann auch bemerkt, dass die Einbildungskraft das Schöne anschaue in den Formen der Wirklichkeit, bald nur wieder erzeugend, bald selber zeugend, bald als Gedächtniss, bald als Phantasie. Ist nun diess ihre Stellung und ihr Wirken, so musste der Mensch, als es ihn zuerst zum Dichten trieb, nothwendiger Weise auch zuerst auf die epische Poesie geführt werden: denn hier vor allen und hier am leichtesten und unmittelbarsten wird das Schöne angeschaut in den Formen der Wirklichkeit; hier haben Gedächtniss und Phantasie vollen, weiten, freien Spielraum, ihre Kraft zu entfalten; hier gilt es wie sonst nirgend die Erinnerung des Geschehenen zu erneuern und zu fingieren, dass etwas geschehen sei. In den übrigen Gattungen steht die Einbildung weit weniger voran, und namentlich das Gedächtniss feiert da oft gänzlich. Grundes genug, dieselben nur als secundäre, als minder unmittelbare, minder natürliche Gestaltungen der Poesie zu betrachten, als solche, die erst bei vorgerückter künstlerischer Bildung, nach längerer Uebung möglich wurden. Sodann ist auch erörtert worden, wie die bewegliche Natur der Gedanken und der Sprache eine entsprechende Bewegtheit sowohl der Anschauung als der Darstellung verlange, wie die Darstellung selbst und die dargestellte Anschauung, beide jenes Mittels wegen, das ihnen dient, historisch vorwärts schreiten und sich in einem causalen Zusammenhange fortschreitend entwickeln müssen. Verhält sich diess aber so, so konnten wiederum die ersten Dichter nur Epiker sein: denn es bedarf nicht viel Zuthuns von Seiten des Dichters, um einen in der Wirklichkeit historisch verlaufenen Stoff auch in seinem historischen Verlaufe aufzufassen, und eine bewegte Reihe von Begebenheiten der Wirklichkeit auch als eine bewegte Reihe in Gedanken und Worten vorzuführen: schon von selbst wird sich ihm alles in der rechten Entwickelung gestalten, wenn er es nur mit einigermassen gesundem Auge ansieht. Dem Lyriker, dem Dramatiker fällt das weit weniger von freien Stücken zu; hier haben wir nicht mehr die Stufe, welche der Poesie gleich bei ihrem ersten Schritte vor den Füssen lag: sie musste sich schon im Epos daran gewöhnt haben, die Bewegtheit, die äusserlich dargeboten ist, aufzufassen, ehe sie in der Lyrik derjenigen genügen konnte, die mehr durch innere Gründe gefordert wird. Ferner wissen wir, und können es noch immer wahrnehmen, dass in Völkern, die ihr Jugendalter und den natürlicheren Zustand noch nicht überschritten haben, der Einzelne sich kaum als selbständiges Individuum fühlt, sondern ruhig, ohne Absicht, ohne rechtes Wissen und Wollen als Glied des grösseren Ganzen wirksam ist, und nur durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein der Einzelnen, und beginnen sie ihre Persönlichkeit geltend zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik: die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun: in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass er eher schreit als singt. Vielmehr, was sich mit jenem früheren natürlicheren Volksleben einzig verträgt, die unmittelbare und nothwendige Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck ergiebt, die lyrische Poesie. Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst: wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst sind, und nicht bloss im Verstande, sondern von ganzer Seele bewusst sind, das ist die Abhängigkeit von Gott: in Allen wohnt das Gefühl und die Erfahrung, dass das ganze Volk, dass alle Menschheit, alle Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch geschieht, sie erkennen, dass es durch Gott geschehe. Dieses Bewusstsein zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges mit ihm, desto mehr glaubt Jeder für sich zu stehn und das Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung der Poesie, die Gott in der Geschichte anschaut; hier diejenige, die ihn ausserhalb der Geschichte, die ihn im Ich zu erkennen sucht, die sich oft genug sogar mit einem gottverlassenen Ich begnügen mag. Dieser letzte Erwägungsgrund des historischen Verhältnisses zwischen Epos und Lyrik bildet für uns den besten Uebergang zur Erörterung des eigentlichen Wesens jener Gattung, ihrer Anschauungen und ihrer Darstellungsart. Alle Poesie schaut das Schöne unter Formen der Wirklichkeit an: auch die epische Poesie. Sie ist aber auf das höchste Schöne gerichtet, auf die Einheit, die über und in aller Welt ruht, auf den göttlichen Geist. Wie sie jedoch eine menschliche Kunst ist, so wird sich ihre Anschauung niemals der ganzen Gottheit bemächtigen, sondern aus der Fülle der Göttlichkeit immer nur ein Einzelnes, eine vereinzelte Idee von religiösem oder sittlichem Gehalt herausgreifen und sich aneignen können. Diese Idee nun wird angeschaut unter Formen derjenigen Wirklichkeit, die der Einbildung am nächsten vorliegt, und in der sich auch die Gottheit am deutlichsten offenbart, unter Formen der Geschichte. Epische Anschauung ist demnach Anschauung einer göttlichen, einer religiösen oder sittlichen Idee in Form einer durch Causalität verbundenen Reihenfolge von äusseren Thatsachen. Diess die allgemeine Definition, welche für die epischen Gedichte aller Zeiten, aller Völker, aller Arten passt, und es sind damit sowohl die Anforderungen ausgesprochen, die man an die allerneueste Ballade machen darf, als auch die ältesten Heldenlieder der Griechen u. s. f. damit charakterisiert sind. Aber innerhalb dieser so weit ausgedehnten Grenzen ist nun noch von den Besonderheiten dieser Heldenlieder und jener Balladen zu sprechen und zu erörtern, wodurch sich die epische Poesie der Jahrhunderte, wo es nichts anderes als Poesie und keine andre Poesie gab als epische, unterscheide und unterscheiden müsse von der epischen Poesie späterer Zeiten, wo neben derselben schon eine ausgebildete Lyrik und Dramatik und schon eine prosaische Geschichtsschreibung hergeht. Wir folgen dem Faden der historischen Entwickelung und schildern zuerst das Epos, wie es anfänglich gewesen, das ältere und ursprünglichere, das zugleich den Ursprung aller Poesie in sich trägt. Indem die Einbildungskraft das Schöne, die göttliche Idee, unter Formen der geschichtlichen Wirklichkeit anschaut, kann dabei das Gedächtniss, es kann auch die Phantasie eine vorwaltende Thätigkeit ausüben. Waltet das Gedächtniss vor, so wird zur Form der Anschauung die Sage gewonnen; überwiegt die Phantasie, oder wirkt sie gar ausschliesslich, so ergeben sich der Mythus, das Märchen und die Thiersage. Diese vier verschiedenen Gestaltungen der epischen Anschauung haben wir vorerst jede für sich näher zu betrachten. Sage heisst eigentlich und ursprünglich s. v. a. Erzählung überhaupt, die altnordische Sprache versteht darunter auch eine streng historische Geschichtserzählung. Hier jedoch nehmen wir das Wort in dem Sinne, welchen die neuere Zeit ihm gegeben hat. Bei der Sage in diesem Sinne ist vor allen übrigen Seelenkräften das Gedächtniss thätig; aber auch die Phantasie tritt wirkend hinzu, und nicht minder leisten Gemüth und Verstand angemessene Hilfe. Die geschichtliche Wirklichkeit, aus der sie schöpft, ist jedesmal die Geschichte desjenigen Volkes, bei welchem sie sich bildet; sie geht auf seine Thaten und Erlebnisse, seine Helden und Weisen. Aus der Masse aber dieses historischen Stoffes erscheint in der Sage immer nur soviel herausgehoben und beibehalten, als erforderlich oder hinlänglich ist, um die angeschaute göttliche Idee in sich aufzunehmen: was aber von geringerer Bedeutung ist, was die Anschauung stören und verdunkeln kann, lässt sie getrost fallen; ja es wird nicht bloss verschwiegen, es werden sogar historische Thatsachen umgestaltet; noch mehr, es werden von der Phantasie unhistorische Züge unter die historischen gemischt: alles das nur, um die Idee noch besser zu ergreifen, noch angemessener einzukleiden. So liebt die Sage namentlich das Wunderbare, das Wunderbare als das unleugbarste Merkmal der waltenden Hand Gottes. Sage ist also auch Geschichte, aber erhoben zur Höhe der Idee, Geschichte, berichtigt vom religiös-sittlichen Standpunkte aus, Geschichte von einer mehr als bloss gemeinen Wahrheit. Sie ist gleichsam die vox populi vox dei über die Geschichte, oder, wie Görres treffend sagt, „der feurige Wein, in den die Geschichte, durchwärmt vom Lebensgeiste des Volkes, aufgegohren“ (Heldenbuch von Iran 2, 356). Aber wohl zu beachten, Bewusstsein und Absicht haben an all dem nicht den geringsten Antheil: nicht wissentlich und geflissentlich wird diess verschwiegen und jenes hinzugedichtet; und Wunder werden erzählt, nicht damit man Gott darin erkenne, sondern weil man ihn darin erkennt. Jede Sage ist eigentlich als Geschichte, als historisch wahr gemeint: aber da man die gegebenen Thatsachen von dem Kern und Mittelpunkt der göttlichen Idee heraus betrachtet, so kann es bei der menschlichen Gebrechlichkeit und Fehlbarkeit nicht ausbleiben, dass man sich in den Aussendingen vielfach irrt, dass man verwechselt und verstellt, dass man auch sieht, was gar nicht vorhanden ist. Diese sagenhafte Art ist es, in der alle Völker ihre Geschichte auffassen, so lange sie noch ein natürlicheres, durch Civilisation und Gelehrsamkeit ungetrübtes oder minder getrübtes Leben führen: darum beginnt alle Geschichte zuerst mit Sage, nicht bloss die griechische und die römische; darum treffen auch die Sagen der verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der Anschauung wesentliche Dienste leistet. Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit giebt der Ludwigsleich LB. 1 4 , 103; Litt. Gesch. S. 67. vom J. 881. Er ist gleich nach dem Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu bewähren. Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält es sich, wo die Anschauung gestaltet wird als Mythus, als Märchen, als Thiersage. Hier ist das Vorrecht auf Seiten der Phantasie. Zuerst der Mythus. Wir wissen wohl, dass dieses Wort (es kommt von μύω , sich zusammenfügen) bei Homer dem Character jener Zeit gemäss, welche die Geschichte bloss mit dichterischen, nicht mit kritischen Augen betrachtete, nur noch s. v. a. Erzählung überhaupt bedeutet, seit Herodot aber dem Historiker und seit dem Lyriker Pindar dichterische und erdichtete Erzählung im Gegensatze zur historischen und historisch wahren: gleichwohl erlauben wir uns nicht ohne den Vorgang Anderer den Begriff des Mythus auf diejenige dichterische Erzählung einzuschränken, welche Thaten und Erlebnisse der Gottheit selber vorführt. Ein deutsches und besser bezeichnendes Wort ist uns nicht bekannt: Göttersage passt nur auf die Mythen polytheistischer Völker: es giebt aber auch monotheistische Mythen, bei den Christen wie bei den Juden und den Mohammedanern; z. B. die Legenden des Mittelalters sind christliche Mythen, Göttersagen kann man sie nicht nennen. Bei der Sage sucht der Mensch die Gottheit in der Geschichte seines Volkes zu erkennen; er bleibt, wenn auch auf höherem Standpunkt, inmitten der ihn umgebenden Wirklichkeit: im Mythus geht er über diese Wirklichkeit hinaus, und seine Einbildung wagt einen Schritt in die Geschichte der Gottheit selbst. In der Sage hebt er den endlichen Stoff zu der unendlichen Idee hinauf: im Mythus legt er an das Unendliche den Massstab der Endlichkeit und zieht so die unendliche Idee herab in den endlichen Stoff. Die Sage fusst auf dem Gedächtnisse: der Mythus ist, indem er Geschichten der Gottheit selber erzählen will, vornehmlich auf die Phantasie angewiesen: denn hier gilt es nicht, in der Vorstellung aufzufrischen, was man selbst oder was die Vorfahren erlebt haben, sondern nur nach Analogie solcher Bilder des Gedächtnisses ähnliche nun mit der Phantasie zu schöpfen, um so die Menschengeschichte auf die Gottheit zu übertragen. Ein schönes Streben: denn es wurzelt tief und fest in der aufwärts gerichteten Sehnsucht und in dem Bewusstsein des Zusammenhanges zwischen Gott und Menschen; aber zugleich ein höchst gefährliches: denn nur zu bald muss eine so masslos ausgedehnte Vermenschlichung Gottes zur Vielgötterei führen; die tausend Mythen der Inder, der Griechen, der Germanen, kurz aller Völker sind nicht sowohl die Frucht und Folge ihres Polytheismus als vielmehr der keimende Grund und Boden, woraus der Polytheismus hervorgegangen ist. Die christliche Mythologie des Mittelalters stand auch schon nahe genug am Rande der Vielgötterei, und es bedurfte der Reformation, die alle Legenden über den Haufen warf, um das Verderben eben noch zur rechten Zeit abzuwenden. Die Juden waren arm an Mythen, so reich sie an Sagen waren; ja sie ermangelten der Mythen beinahe gänzlich: auch dadurch ward ihr Monotheismus bewahrt und in seiner Reinheit erhalten. Uebrigens grenzen Mythus und Sage nah an einander und berühren und durchkreuzen sich wechselseitig auf das mannigfachste. Denn wie die Phantasie überall ihre Bilder den Bildern des Gedächtnisses nachschafft, so gestaltet sie auch die Sagen von Gott nach Analogie der Nationalsage, und da erfolgt denn leichtlich, dass Bild und Nachbild eins in das andre hinein greifen. Wer möchte bei Homer die Göttersage rein und scharf von der Heldensage absondern? Auch kann es nicht ausbleiben, und diess dient gleichfalls nur, um die Grenzen zu verwischen, dass im Verlaufe der Zeit bei immer fortschreitender Anthropomorphose Götter zu Helden herabsinken, Helden sich zum Range von Göttern erheben; dass also, was bisher Form der mythischen Anschauung gewesen, jetzo zur blossen Sage wird, und umgekehrt Gestalten der Sage in den Mythus hinüber treten. So hat z. B. der Siegfried der deutschen Heldensage in seiner Verbindung mit sagenhaften und ursprünglich historischen Personen, mit den burgundischen Königen am Rhein, und weiter hinaus mit Theodorich dem Grossen und mit Attila, selber ein ganz sagenhaftes d. h. ein halb historisches Ansehen gewonnen: im Grunde aber gehört er, wie das Lachmann überzeugend dargethan hat, dem Mythus an, er ist der Gott, welchen die nordische Mythologie Balder nennt, und was nun die Nationalsage von ihm erzählt, sind nur immer weiter vorgeschrittene Vergröberungen und Vermenschlichungen einer uralten Göttersage. Besonders dann aber werden diese beide Formen der epischen Anschauung an und in einander geschoben, wenn es gilt eine Zeit, die über alles Gedenken, auch über das Gedenken der Sage hinaus liegt, eine solche unvordenkliche Zeit dennoch mit Ereignissen auszufüllen, wie etwa die Zeit vor der Existenz des Volkes oder der aller Menschen. Da entspringen dann Kosmogonien und Theogonien und Anthropogonien, Erzählungen vom Ursprung der Welt, der Götter, der Menschen: alles das rein mythischer Art; daran aber knüpft sich alsbald und unmittelbar die Nationalsage, die poetische Geschichte des Volkes. So finden wir es z. B. bei den Juden; so auch in recht deutlicher Stufenfolge bei den Germanen. Tacitus in einer Stelle, die zugleich mit dürren Worten das schon früher angegebene Verhältniss der Sagendichtung zur Geschichte ausspricht, dass nämlich jene das Aeltere und ursprünglich allein Vorhandene sei, berichtet Germania cp. 2: „Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, Tuisconem deum terra editum et filium Mannum, originem gentis conditoresque. Manno tris filios assignant“ u. s. f. Tuisco ein Gott aus der Erde geboren, Mannus der erste Mensch, seine drei Söhne die Stammväter des Volkes. Den ersten Anfang der Geschichte eines Volkes macht also der Mythus, dann folgt die Sage, und endlich, wenn auch diese erschöpft ist, die eigentliche Geschichte: zuerst waltet die Phantasie, dann die Erinnerung, aber noch wie die Phantasie im Dienste des Schönen, und endlich wiederum Erinnerung, aber nun im Dienste des wahrheitsuchenden Verstandes. Das ist der Stufengang, der überall, in der Geschichte aller Völker wiederkehrt; Görres hat ihn in seiner Einleitung zum Heldenbuch von Iran 1, S. III─V in lebendiger Anschaulichkeit dargestellt und mit feinem Sinn noch weiter ausgeführt. Der Niederschlag und Nachlass der entschwindenden und entschwundenen Mythologie ist das Märchen; es giebt keine Märchen, so lange die Mythen noch in wahrhaft lebendiger Geltung sind. Indessen, da beide eben in solcher Art eng zusammenhangen, und der Gegensatz des Märchens ein neues Licht über die Natur des Mythus und der Sage verbreitet, so möge schon hier auch diese Form der epischen Anschauung besprochen werden; zudem fällt mindestens bei den deutschen Völkern ihr Ursprung noch in den früherhin characterisierten altepischen Zeitraum. Märchen ist das Deminutivum von mære, worunter die altdeutsche Sprache eine Erzählung, besonders eine dichterische Erzählung oder eine erzählende Dichtung versteht; die Verkleinerungsform hat verächtlichen Sinn und bedeutet eine erdichtete, unglaubliche, kindische Erzählung. Die Mythen der einzelnen Völker gewinnen, obschon sie Geschichte der Gottheit und nicht der Völker sein wollen, dennoch durch die eben erwähnten vielfachen Berührungen mit den nationalen Sagen selber ein nationales Gepräge. Wenn nun aber das System dieser Mythen anfängt zu wanken und zu brechen, wenn der Glaube, der auf ihm ruhte, sich selbst überlebt hat, und vielleicht auch von anderswoher ein neuer an seine Stelle rückt, so können die Mythen, falls sie überhaupt noch fort bestehn, es nur noch in veränderter Gestalt, in neuer Art und Weise. Entweder lassen sie sich von jener Anknüpfung an die Nationalsage ganz und gar in die letztere hinüberziehen, und die Göttersage wird zur Heldensage, zur Riesensage u. dergl.; oder aber, und dieser Weg ist der gewöhnlichere, sie streifen alles Nationale, alles, was sie zu Mythen eben dieses Volkes machte, von sich ab und behalten nur, was allgemein menschliche Anschauung und allgemein menschliche Form der Anschauung ist: sie werden zu Märchen. In solcher Umwandlung kann die alte Mythologie am besten ihren ferneren Bestand sichern: da sie noch mit dem nationalen Glauben verbunden war, musste sie mit diesem vor einem neu aus der Fremde eindringenden erliegen: nun da sie unnational und allgemein menschlich geworden ist, hat sie weniger zu befahren: denn der neue Glaube ist auch ein menschlicher, und es werden sich Mittel und Wege genug ergeben, um sich mit diesem, wenn auch nicht zu befreunden, doch zu verständigen und zu vertragen und Duldung von ihm zu erlangen. Diess ist der Ursprung aller Märchen: als die Griechen, als die Römer bloss noch ihre mit der Nationalsage verbundenen griechischen und römischen Mythen hatten und glaubten, hatten sie schwerlich auch schon Märchen: als aber zuerst allerlei ausländisches Heidenthum, dann der christliche Glaube zu ihnen kam, da gestalteten jene Mythen sich zu Märchen um; und ebenso haben die germanischen Völker erst seit der Zeit Märchen, wo sie Christen wurden (für den Norden bezeichnet die jüngere Edda diesen Wendepunkt in Glauben und Poesie): die alten Götternamen zwar verschwanden, und überhaupt alles, was in der Mythologie ausschliesslich germanisch gewesen war: was jedoch darin den allgemein menschlichen Character trug, was den Glauben und Aberglauben aller Welt aussprach, das verblieb auch und lebt heute noch neben dem Christenthume fort als deutsches Volks- und Kindermärchen. So steht denn das Märchen im entschiedensten Gegensatz zur Sage. Die Sage ist national und beruht auf der wirklichen Geschichte, und auch da, wo die Namen, welche sie nennt, eigentlich unhistorisch, wo die Fixierung in Zeit und Raum, welche sie ausspricht, geradezu falsch sein sollte, nennt sie doch immer Namen und bestimmt die Zeit und den Raum, und beide sollen historisch wahr und richtig sein; sogar den Ueberresten der Mythologie, welche sie in sich aufnimmt, giebt sie durch dergleichen Anlehnungen ein historisches Aussehn. So hat sie, wie bereits erwähnt worden, einen früheren Gott nun unter dem Namen Siegfried in eine historisch begrenzte Zeit und in benannte Localitäten versetzt; und ebenso sind es wirkliche Personen, wirkliche Ereignisse, wirklich vorhandene Berge und Höhlen und Flüsse, an die sie nun unter historischer Färbung als Sage von Riesen und Zwergen und Nixen anheftet, was früherhin als Mythus von den Göttern der Berge und Wälder und Gewässer erzählt wurde. Anders das Märchen. Das Märchen ermangelt nicht nur aller nationalhistorischen Grundlage: es ermangelt auch jeder, selbst der fernsten Beziehung zur Nationalgeschichte: es verschmäht den geschichtlichen Anschein. Was das Märchen erzählt, ist nicht einmal willkürlich in eine bestimmte Zeit oder Localität gerückt: in der Regel tragen die Personen, die darin handeln, die Orte, an denen sie sich bewegen, gar keinen Namen, oder wo es geschieht, wird damit doch keine historische Glaubwürdigkeit angesprochen: es sind dann etwa Namen, die viele tausend allerwärts tragen und getragen haben, z. B. Hans, oder solche, die sich gleich selber als nirgend in der Welt vorhanden und als blosse Spiele der Phantasie kund geben, z. B. der Berg Semsi ) Br. Grimm, K. u. HM. Nr. 142. . Was das Märchen von Riesen und Zwergen erzählt, hat nirgend weder im Raume noch in der Zeit einen Anhalt; es giebt auch deutsche Märchen, die aus den Mythen von eben jenem Gotte erwachsen sind, welchen die spätere Sage Siegfried nennt ) Ebenda Nr. 50. 92. Vgl. auch die Anmerkungen Bd. 3, 85. 168. Beispiel für den Gegensatz zwischen Sage und Märchen: Deutsche Sagen No. 486 (Kaiser Heinrich III.) vgl. mit K. und HM. No. 29. : aber vergleicht man sie mit diesen Sagen, so sieht man recht, wie die Sage den Mythus vergröbert, das Märchen ihn verflüchtigt. Wenn die Sagen bei verschiedenen Völkern übereinstimmen, so stimmen sie überein trotz ihrem nationalen Gepräge: stimmen Märchen überein, so hat das eher seine Nothwendigkeit: denn sie, der allgemein menschliche Rückstand des Mythus nach Abzug der beschränkenden Nationalität, wollen nirgend mehr eine ausschliessliche Heimat besitzen. Darum sind die Uebereinstimmungen auch viel häufiger. Die Sage gebärdet sich auch da, wo die Phantasie den allergrössten Antheil an ihr hat, immer noch als Werk des Gedächtnisses: denn sie soll für wahrhafte Geschichte gelten; das Märchen verleugnet niemals, dass es seinen Ursprung bloss aus der Phantasie genommen; man glaubt es nicht, wie man die Sage glaubt, nicht durch einen Schein von äusserer Wahrheit betrogen, sondern gefangen durch die innere Wahrheit, durch den höheren Glanz der göttlichen Idee, der noch vom Mythus her an ihm haftet. Darum verfährt hier die Phantasie auch viel ungebundener, kecker, leichtsinniger; darum wird sie auch bei märchenhaften Anschauungen öfter mit Verstand und Gefühl in Conflict gerathen, als das bei sagenhaften der Fall ist: Spott und Laune und Wehmuth und Humor sind demnach im Märchen recht eigentlich zu Hause, wie sie auch dem Mythus nicht fremde sind: denn auch der Mythus bildet sich unter vorwaltender Thätigkeit der Phantasie. Die Sage dagegen weiss von all dem so gut als nichts: hier lässt sich die Einbildungskraft, weil sie nicht mit so spielender Willkür schaltet, keinen unvermittelten Widerspruch gefallen; und tritt ein Widerspruch ein, so führt sie ihn durch bis zur Negation des Widersprechenden, so überwältigt sie Verstand und Gefühl gänzlich, und ihre Anschauungen werden erhaben und grausenhaft. Das angegebene Verhältniss zwischen dem Mythus und dem Märchen, dass also im Märchen die Ueberreste des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen, wollen wir uns dadurch noch deutlicher zu machen suchen, dass wir einige deutsche Märchen mit einander lesen und den mythologischen Grund derselben kurz andeuten. Ich würde mich solcher Mittheilung überhoben glauben, wenn jetzt und hier die nöthige Bekanntschaft vorauszusetzen wäre. Und doch sind die Märchen reine schöne Erzeugnisse der wahrsten, kindlich unschuldigsten Poesie: und der Freude an solchen Dingen soll man auch in gereifterem Alter nicht entwachsen sein. Es glaubten auch die Deutschen gleich den Griechen und Römern an drei Schicksalsgöttinnen, an drei Schwestern, die das Schicksal der Menschen spinnen: der scandinavische Norden nennt sie Nornen. In welcher Weise im deutschen Märchen diese altgermanischen Parcen verwendet werden, zeigt das Märchen von den drei Spinnerinnen: Br. Grimm Nr. 14. Die Edda erzählt, dass Ođin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn gestochen und darauf die entschlafene mit einem Flammenwall umgeben habe, den niemand durchdringen konnte als Sigurd (Siegfried), der sie denn auch erweckte und erlöste. Ein Nachklang dieses Mythus ist unser Märchen von Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen Poesie nachgebildet hat: Br. Grimm Nr. 50. LB. 2, 1429. Und nun endlich noch ein Märchen, das sich gleichfalls an die alten Mythen und Sagen von Siegfried anlehnt, indem es von einem bösen Schmied, von einem Golddrachen, einem Drachenberg und Drachenkampf und der Befreiung einer Jungfrau erzählt, und das zugleich besonders als Beispiel dienen kann, wie das Märchen Spott und Laune und Wehmuth liebt: die zwei Brüder, Br. Grimm Nr. 60. Wenn wir nun endlich noch von der Thiersage sprechen, so meinen wir dieselbe nicht als didactische Dichtung, als Thierfabel (so gewendet, wird sie uns erst im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung entgegen treten), sondern nächst der Sage, dem Mythus, dem Märchen als vierte Form der rein epischen Anschauung. Das Alterthum betrachtete in seiner einfachen Natürlichkeit die Thierwelt mehr mit religiösem und poetischem Auge, als wir das zu thun gewohnt sind. Nicht dass der uncivilisierte Mensch dem Thiere näher gestanden und sich aus eigener Thierheit ihm verwandt gefühlt hätte: eine so tiefe Stufe hat das Haupt der Schöpfung wohl schwerlich jemals eingenommen; aber Mythen und Sagen erzählten zu viel von freiwilligen und unfreiwilligen Verzauberungen sowohl der Götter als der Menschen in Thiergestalt, und jene rohe Auffassung der Unsterblichkeitslehre, nach welcher die Seelen Verstorbener zu einem Stufengange durch Thierleiber können verdammt werden, die Lehre von der Seelenwanderung, war im Alterthume zu weit ausgebreitet, als dass die Menschen vor der Thierwelt nicht eine gewisse religiöse Scheu hätten empfinden sollen. Gegenüber den gezähmten Hausthieren musste diese Scheu freilich bald verschwinden: da musste man bald gewahren, dass sie eben nur Thiere seien. Aber nun waren noch die starken und schlauen Thiere des Waldes, die unstäten, überall heimischen Vögel. Das unheimliche, auf Furcht und Gewalt und List beruhende Verhältniss, in welchem man gegen diese stand, verbunden mit jener aus religiösen Meinungen entsprungenen Scheu, liess hinter ihnen etwas höheres als die blosse dumpfe Thierheit suchen, und man schwankte nur, ob man die Thierwelt für eine durch göttlichen Fluch noch tiefer in den Staub gesunkene Menschenwelt halten, oder ob man annehmen sollte, die Thiere hätten auch ihre Vernunft so gut als die Menschen, und es gebreche nur an der Möglichkeit gegenseitiger Verständigung, weil die Sprache der Thiere dem Menschen fremde sei, oder weil die Thiere ihre Fähigkeit zu sprechen absichtlich verhehlten, um mit dem gefürchteten und gehassten Menschen nicht verkehren zu müssen. So glaubten die Griechen wie die Deutschen an eine Vogelsprache, die zuweilen ein Glückskind unter den Menschen wohl verstehen lerne; das meinen auch die Dichter des Mittelalters, wenn sie den Vogelgesang das Latein, d. h. die unverständliche Sprache der Vögel nennen. Und die äsopischen Fabeln, dieser didactische Ausfluss der älteren epischen Thiersage, fangen oft genug mit den Worten an „zu jener Zeit, als noch die Thiere sprachen.“ Kurz, man vermenschlichte die Thierwelt, man widmete ihr eine Betrachtungsweise, durch welche sie gehoben und veredelt wurde. Das machte sie denn auch für das Epos geschickt; man konnte bei dieser Betrachtungsweise weiter kein Bedenken haben, auch Thiere zu Trägern epischer Anschauungen zu machen. Wie man also die Sage einen Reflex nach oben werfen liess, um der Gottheit eine Geschichte nach Art der menschlichen anzudichten, so nun auch nach unten, nach den Thieren hin, so dass nunmehr die ganze Welt, die überirdische und die irdische, die menschliche wie die übermenschliche und die untermenschliche, episch belebt und bevölkert war; man erzählte von Kriegs- und Liebesabenteuern hier der Götter, dort der Thiere, wie sie mitten inne die Sage von den Menschen erzählte; und wie man im Mythus den Göttern Namen aus der Nationalsprache lieh, so erhielten in der Thiersage auch die Thiere statt der Gattungsnamen besondre characteristische Eigennamen: die alte deutsche Thiersage weiss eigentlich von keinem Wolf, keinem Fuchs, keinem Bären mit diesen appellativen Benennungen, sondern sie giebt den Thieren Eigennamen nach Art der Menschen, z. B. Isengrim, Reinhard, Braun. Natürlich war der erfinderischen Phantasie in der Thiersage der freieste Spielraum gegeben: denn beim Mythus wiederholten sich immer und immer bald losere, bald festere Verknüpfungen mit der Sage, mit der poetischen Geschichte, also mit Anschauungen, die vorzüglich Product des Gedächtnisses sind: bei der Thiersage war dergleichen nicht wohl möglich; in sich selber trug sie auch keinen historischen Grund: die Naturbeobachtung gab wohl eine bestimmte Characterzeichnung an die Hand, aber sie führte nicht zu historischen Ereignissen, worauf man hätte bauen können. Daher grenzt die Thiersage in ihrem ganzen Wesen zunächst an das Märchen: gleich diesem hat sie, jene nationalen Namen abgerechnet, wenig nationales, so dass z. B. die Esthen, obwohl den Deutschen unverwandt, dennoch von denselben Thieren dasselbe erzählen können als die Deutschen; gleich diesem zeigt auch sie im Gefolge der phantastischen Willkür die Widersprüche des Verstandes und des Gefühls, Spott, Laune, Humor, Ironie. Das hat es denn auch späterhin nahe gelegt und leicht gemacht, die epische Thiersage zur didactischen Thierfabel umzugestalten: ursprünglich aber ist ihr die lehrhafte Richtung durchaus fremd. Denn, wie schon früher ist bemerkt worden, keine von diesen vier Gattungen epischer Anschauung, die Thierfabel so wenig als der Mythus, das Märchen so wenig als die Sage, ist irgendwo und irgendwann das Erzeugniss bewusster Absichtlichkeit; so willkürlich auch die Phantasie hier und dort verfahren mag, es ist nirgend eine gewusste Willkür; das Was und das Wie der Anschauung, beide sind das Product des unbefangen arbeitenden Kunsttriebes; es wird alles, aber nichts wird gemacht. Das gilt freilich von aller echten Poesie. Wir haben bisher geflissentlich jede nähere Bezeichnung des Subjectes dieser mannigfaltigen Anschauungen vermieden, um davon mehr insbesondre reden zu können. Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwickelung des Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehn, sondern im Volke und durch das Volk als unabtrennbare Glieder desselben leben und wirken: so können auch die altepischen Anschauungen nicht das Werk eines in vereinzelter Thätigkeit dastehenden Dichtergeistes sein: sie sind Anschauungen des gesammten Volkes; nicht Einer, sondern die ganze Nation ist der Dichter gewesen. Natürlich kann jede Schöpfung zuerst nur auf Einem Puncte entsprungen sein; Einen ersten Dichter muss jede Sage, jedes Märchen besessen haben: aber dieser Eine schuf aus der Seele des Volkes, nicht als Einer, sondern nur als Organ und als zufälliges Organ der Gesammtheit; und damit war das Werk noch nicht einmal beendigt: denn nach ihm haben wiederum viele Einzelne, aber auch diese nur als Organe des Ganzen, daran fortgeschaffen, haben die Anschauung weiter gebildet und umgebildet, bis zuletzt von persönlicher Besonderheit nicht das leichteste Stäubchen mehr an ihr haftete, bis sie nur noch den allgemein nationalen oder, wie beim Märchen, den allgemein menschlichen Character an sich trug. Daher die vollendete Objectivität aller älteren epischen Poesie. Denn natürlich muss, wo die Idee unter Formen der geschichtlichen Wirklichkeit angeschaut wird, die Anschauung in demselben Grade immer mehr zum wahren Objecte werden, als von Seite des dichtenden Subjectes die störenden Eingriffe der Individualität fortfallen. Aber die blosse Anschauung giebt noch kein Gedicht: die Objectivierung muss vollendet, die Anschauung muss dargestellt werden. Und hier, beim Uebergange vom geistigen Gehalt zur sinnlichen Gestalt, aus dem Innern des dichtenden Geistes in die Aeusserlichkeit der sprachlichen Form, hier, sollte man meinen, sei denn auch die Grenze zwischen der Nation und dem Individuum; hier könne doch offenbar nur Einer thätig sein: möge auch die Sage selbst Eigenthum der ganzen Nation bleiben, die geordnete und schön gegliederte Rede, in welcher sie nun vorgetragen wird, könne doch immer nur von Einem herrühren. Allerdings: aber dennoch ist es nicht seine, nur seine Rede. Denn es wiederholen sich bei der Darstellung die gleichen Verhältnisse und Bedingungen, denen die Anschauung unterliegt: es macht dieser Eine, der ἀοιδός , scof, die Verse im Namen Aller, und Alle üben bei der weitern Ueberlieferung auch hier das unbeschränkte Recht des Mitdichtens, d. h. das Recht so lange zu ändern, auszulassen und zuzusetzen, bis auch diese äusserliche Objectivierung Allen gerecht, bis sie keine individuelle mehr ist, sondern gleich der Anschauung allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Darum beginnt die Geschichte der Poesie überall mit Dichtungen ohne Dichternamen; bei den Deutschen ist Otfried lange Jahrhunderte hindurch der einzige, den man nennen kann: und auch dieser eine Name fällt für uns fort, da seine Evangelienharmonie kein nationales Epos ist. Ein Verfahren bei der Darstellung, wie das so eben geschilderte, ist nicht bloss in dem nationalen Zusammenleben Aller bedingt und begründet: es findet noch einen unausweichlichen Anlass in der alten Art und Weise der weiteren Mittheilung und Ueberlieferung poetischer Productionen. Jenes Zeitalter kennt nämlich entweder noch gar keine Schrift, oder man empfindet wenigstens noch kein Bedürfniss, sie mit Häufigkeit und Geläufigkeit anzuwenden und für den täglich wiederkehrenden Gebrauch schreiben und lesen zu lernen. So bei den Griechen Homers, bei den Galliern Cäsars, bei den Germanen des Tacitus, so auch bei den Serben. Da bleibt also für Gedichte nur die mündliche Mittheilung übrig: bei der aber muss sich, wenn sie irgend durchgreifend ist, alles das von selbst beseitigen, was nicht in Geist und Mund aller Stammes- und Sprachgenossen gleichsam freiwillig wiederklingt. Es bleibt nun mit einigen näher gehenden Zügen ein Bild dieser mündlichen Ueberlieferung zu entwerfen und dabei zu betrachten, welchen Einfluss dieselbe auf Anschauung und Darstellung habe ausüben müssen. Die Mittheilung geschah durch Gesang, und den Gesang begleitete Saitenspiel: also verschwistert mit der Musik, von ihr gehalten und getragen, gieng das Epos von Ort zu Ort, von Geschlecht zu Geschlecht; ja es kam wohl noch ein Drittes hinzu, noch eine dritte transitorische und rhythmische Kunst, die Kunst des Tanzes. So brauchten die alten Ditmarsen ihre epischen Lieder zugleich als Tanzlieder: Einer sang vor, die Andern nach und tanzten dabei; und ebenso wird das Lied, das Demodokos bei den Phäaken singt, von einer Schaar von Jünglingen mit Tanze begleitet. In dieser Weise waren auch auf einem der ältesten und berühmtesten griechischen Kunstwerke, dem Kasten des Kypselus, die Musen dargestellt: in der Mitte Apollo als Vorsänger, um ihn die Musen als Chor, als tanzende Schaar: Pausan. 5, 18. Daraus erklärt und ergänzt sich eine Stelle der Ilias 1, 603 f., wo der Olymp und die Tafel der Götter beschrieben wird: Apollo hielt die Phorminx, die Cither, die Musen ἄειδον ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ , sangen wechselnd, antwortend, nicht unter einander, sondern mit Apollo: er sang vor, sie nach, und da sie ja zugleich Göttinnen des Tanzes waren, hat man sich die Neune auch hier nicht stillstehend zu denken, sondern zugleich tanzend, wie dort auf dem Kasten des Kypselus. Indessen nicht Jeder kann singen und spielen; auf Manchem ruht vorzugsweise die Lust und die Gabe des Gesanges; und so bildet sich aus dem ganzen dichtenden und singenden Volke heraus ein eigner Sängerstand, eine Klasse von Leuten, die aus dem kunstmässigeren Vortrage epischer Lieder gradezu ein Gewerbe machen: diese nun ziehen unter dem Volke umher und weilen in den Häusern der Könige und singen hier und dort, was zwar jeder Zuhörer bereits kennt, weil es alt überliefert ist; sie werden aber doch lieber vernommen als Andre, weil sie mehr und schöner zu singen wissen; sie dichten wohl selber auch neue Lieder, indem sie die Sagen ihres Volkes in Anschauung und Darstellung umgestalten, sind aber dabei doch wieder nur als Organe des Volkes, als Mund und Wortführer desselben zu betrachten. Solche Sänger von Gewerbe und Beruf (die Gallier nannten sie Barden) haben noch heut zu Tage die Serben, in Dingen der Poesie unter allen slawischen Völkern das am höchsten gestellte: sie singen aber nur, was die Leute auch sonst schon kennen. Eben solche begegnen uns bei den Griechen: Homer nennt sie ἀοιδοί , Hesiodus (Theogon. 95) mit besonderer Rücksicht auf das Saitenspiel κιθαρισταί ; eben solche auch bei den Deutschen des Mittelalters: gewöhnlich waren es Blinde Vgl. Litt. Gesch. S. 41, 15. 141, 4. 142, 8. Hom. Hymn. 1, 172. , wie jetzt bei den Serben, und wie auch jener phäakische Demodokos blind ist (Od. 8, 64. Ovid. Ibis 274). Was aber auf solche Weise mitgetheilt wird, muss auch auf solche Weise mittheilbar sein: es darf das epische Gedicht in keiner Beziehung weder die physischen Kräfte des Sängers noch die geistigen der Zuhörer übersteigen; der Sänger muss es auf einmal und ohne Stockung vortragen, die Zuhörer müssen es dem Inhalte wie der Form nach so fassen können, dass sie allenfalls in den Stand gesetzt werden, es nun auch selber zu singen. Es ist also erstens die epische Anschauung nicht bloss, wie es schon das allgemeine Princip der Schönheit fordert, durchaus einig, sondern auch so einfach als möglich: der Sänger entfaltet vor seinen Zuhörern kein langes, in die Weite und Breite ausgreifendes Gewebe von Sagen oder Mythen, sondern er führt nur einen einzigen Mythus, eine einzige Sage vor; die äussern Thatsachen bilden, wie sie nur für Eine Idee die Form der Anschauung sind, auch nur Eine durch Causalität eng in sich zusammenhangende und abgeschlossene Reihenfolge, zielen nur auf Ein Hauptereigniss hin. Erzählte der Sänger mehr als Ein Hauptereigniss, knüpfte er einen Kreis von Thatsachen an den andern: er würde vielleicht, so lange sein Gesang dauerte, die Zuhörer unterhalten; aber wenn er vorüber wäre, würden sie leer und verwirrt von dannen gehn. Es sind auch nur Anschauungen von jener engen Einheit und Einfachheit, die den Homerischen Sängern in den Mund gelegt werden: dem Phemios die Sage von der Heimkehr der Achäer Od. 1, 326. , dem Demodokos der Mythus von Ares und Aphrodite und die Sage vom trojanischen Pferde Od. 8, 266─365. Od. 8, 500─520. . Jedesmal also ein Verlauf von Thatsachen: jedesmal aber auch ein Hauptereigniss, das als Kern und Mitte dieses Verlaufes dasteht, und von dem aus in causaler Folge Anfang und Ende leicht zu ermessen und bald zu erreichen sind. Zwar liegen vor dem Anfang in weiterer Ferne immer noch frühere Motive: vor der Sage vom trojanischen Pferde lange Jahre vergeblicher Belagerung, vor der von der unheilvollen Heimkehr der ganze trojanische Krieg und was ihm zunächst vorangegangen: aber diese früheren Motive darf der Sänger ja als allbekannt voraussetzen; der ganze grosse epische Vorrath ist seinen Zuhörern allen lebendig gegenwärtig, und er greift nur bald hier, bald dort hinein, um jetzt für dieses, jetzt für jenes Ereigniss ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen: was aber vorher geschehen, und was hernach daraus erfolgt sei, das braucht er kaum leise andeutend zu berühren. Noch ein recht schlagendes Beispiel von solcher eng begrenzten Thatsächlichkeit liefert das althochdeutsche Lied von Hildebrand und Hadebrand LB. 1 4 , 55. Uns, denen der sagenhafte Zusammenhang fremd geworden ist, erscheint es fragmentarisch abgerissen, wenn der Dichter gleich damit beginnt, zu sagen: „Hildebrand und Hadebrand forderten sich zwischen zwei Heeren zum Zweikampf heraus“; wir fragen: „wer sind die beiden? und was für Heere? und wie kommen sie zum Zweikampf?“ Die Zeitgenossen des Dichters dagegen kannten die beiden Personen sehr wohl schon anderswoher und wussten die vorangegangenen Ereignisse und die begleitenden Umstände: sie konnte der Dichter gleich in medias res versetzen, um ihnen nur diese eine Sage vom Kampf des Vaters mit dem eigenen Sohne vorzuführen. Deshalb sagt er zu Anfang des Gedichtes nicht bloss von sich, sondern auch von seinen Zuhörern: „Ich habe das sagen hören, dass sich forderten zu einem Kampfe Hildebrand und Hadebrand.“ In solcher Weise ist schon die Anschauung selbst bedingt durch die alterthümliche Art und Weise der Mittheilung durch den lebendigen Gesang. Andre Anforderungen, die auch in der mündlichen Mittheilbarkeit begründet sind, beziehen sich auf die Darstellung. Der Zweck der Darstellung ist, wie wir früher gesehen haben, dass sie zur Reproduction der Anschauung reize und helfe; sie soll, was der Dichter angeschaut hat, nun auch für Andre anschaulich machen. Es wird mithin von der epischen Darstellung Anschaulichkeit des geschichtlichen Verlaufes gefordert. Durch weitläuftige Ausführung ist die aber nicht zu erlangen, unter solchen Umständen, wie sie in jenen Anfangszeiten der Poesie walten. Da wird der Gesang des Dichters nur gehört, und hört man ihn auch nicht zum ersten Male, ist er auch längst bekannt, so bringt man ihm doch aus Freude an der epischen Poesie ein so frisches und ungestümes Interesse entgegen, als ob man ihn zum ersten Male hörte, grade wie unsre Kinder, wie noch jetzt Leute von geringerer Bildung sich gerne die gleiche Geschichte unzählige Male erzählen lassen. Da ist dann nur eine schnell vorwärts schreitende Entwickelung an der Stelle, eine Entwickelung, die durch energisches Hervorheben und Aneinanderreihen der eigentlich causalen Züge der Thätigkeit des Zuhörers in die Hände arbeitet. Die Causalität liegt aber bei weitem weniger in äusseren Thatsachen: denn äussere Thatsachen üben nicht immer gerade nur die und die Wirkung ; sie liegt weniger in den Ereignissen als in den Persönlichkeiten: sie liegt in den Characteren. Es muss also der Epiker die Charactere der thätigen Personen anschaulich darstellen, muss dieselben wirklich darstellen; er darf keine Characteristik geben, die eine blosse Beschreibung, eine subjective Betrachtung in seinem Munde wäre: sie darf nicht ausserhalb des geschichtlichen Verlaufes dastehen: sie muss in und mit den äussern Thatsachen, deren tiefere Causalität sie enthält, objectiviert sein, in und mit diesen bewegt und lebendig vorwärts schreiten. Wie genügen dem nun die alten Epiker? Einfach dadurch, dass sie den Fortschritt der Ereignisse mit fortschreitender Rede der Personen begleiten; dass sie neben den Thatsachen und mit denselben verwoben einen Dialog hergehen lassen. So war es in den alten epischen Liedern der Griechen, wie wir noch aus Homer ersehen können: nur durch dieses Mittel wird z. B. in den Schlachtschilderungen der Iliade dem thatsächlichen Verlaufe Leben und Anschaulichkeit verliehen: ohne die eingeflochtenen Reden würden all die Lanzenstiche und Steinwürfe schwerlich ein Bild in der Seele des Hörers zurücklassen; Hunderte von Erschlagenen zeigen den gewaltigen Ajax nicht, wie es ein Wort aus seinem Munde und seiner Seele vermag. So auch in der altepischen Poesie anderer Völker, auch der Deutschen. Man vergleiche der Nibelunge Noth, die noch von ihrer altepischen Grundlage her diese Art der Fassung trägt, und wiederum auch in dieser Beziehung das Lied von Hildebrand und Hadebrand: hier finden wir die anschaulichste Darstellung, den lebhaftesten Fortschritt, aber nicht bloss beruhend auf einer Reihe äusserer Thatsachen, sondern auf vorwärts eilender Wechselrede. Namentlich aber im Norden hat sich diese dialogische Haltung epischer Lieder zur festesten Sitte und bis zu fehlerhafter Einseitigkeit ausgebildet: die alte Edda enthält deren genug, die fast oder gänzlich blosse Wechselrede sind, und in denen die äusseren Thatsachen nur im Vorbeieilen erzählt, oft sogar auch durch die Wechselrede der thätigen Personen kaum angedeutet werden. Als Probe der altnordischen Epik kann das Lied von Fafnir gelten (Fafnismâl), das einen Theil des mythisch sagenhaften Grundes zu dem früher besprochenen Märchen vom Dornröschen enthält; erst die spätere Zeit, die der Aufzeichnung, hat hier und da Prosa eingemischt, um die Ereignisse, welche der Dialog nur obenhin berührt, zu ergänzen und bestimmter darzustellen (Simrocks Edda S. 195). Eine weitre Anforderung, welche das epische Zeitalter an die Darstellung macht und zugleich erfüllt, ist die des geringen Umfanges. Sie wird gemacht um des äussern Zweckes der Mittheilbarkeit willen; sie folgt auch innerlich aus dem, was vorher über die Einfachheit der Anschauung und soeben über den nirgend säumenden Fortschritt in der Darstellung ist bemerkt worden. Das epische Lied darf keinen zu grossen Umfang besitzen: sonst ermattet der Sänger, eh er zu Ende gesungen, der Hörer, eh er zu Ende gehört hat; oder es ist gar nicht auf einmal zu Ende zu bringen. Aber diese äussre Beschränkung wird sich eben auch von selber finden, wenn der Inhalt kein weitläuftiger, wenn es eine einige einfache Anschauung, und diese in der rechten Energie der causalen Entwickelung dargestellt ist. Die epischen Lieder der Littauer, der Serben, der Neugriechen und andrer neueren Völker, deren Poesie noch mit beiden oder wenigstens noch mit einem Fusse auf der epischen Stufe steht, haben alle einen so geringen Umfang, dass sie ganz wohl auf einmal zu singen, auf einmal zu hören und aufzufassen sind. Und so ists immer gewesen: die einzelnen Lieder, aus denen die Nibelungen hervorgegangen sind, hatten keine grössere Ausdehnung; das in der Odyssee dem Demodokos in den Mund gelegte Lied von Ares und Aphrodite befasst nicht mehr als hundert Verse. Eine andre Eigenthümlichkeit des altepischen Gesanges scheint nur deshalb da zu sein, dass die mündliche Mittheilung äusserlich erleichtert und für den Sänger wie für den Zuhörer bequemer gemacht werde. Es sind das die Wiederholungen und die stehenden Redensarten. Kehrt z. B. im Laufe der Erzählung die gleiche Situation wieder, die schon einmal dagewesen, so wird sie auch in ihrer ganzen Ausdehnung wieder mit denselben Worten dargestellt, in denen sie jenes erste Mal ist dargestellt worden; hat Jemand eine Botschaft auszurichten, so wiederholt er genau all die Worte, mit denen man sie schon vorher hat auftragen hören; und kommt der Name eines Helden zwanzigmal vor, so wird auch sein Beiname zwanzigmal vor- kommen. Dergleichen hat zu allen Zeiten und bei allen Völkern zur Eigenthümlichkeit der epischen Darstellung gehört: aber nirgends finden wir es zu so fester und unwandelbarer Manier ausgeprägt als in den Homerischen Dichtungen und noch mehr in denen der Serben. Der Anlass ist aber zum grossen Theile nur oder doch hauptsächlich ein äusserer: denn eigentlich läuft dieses Verfahren dem Wesen aller epischen Poesie zuwider, das einen schnell bewegten Fortschritt verlangt: dergleichen Wiederholungen dienen aber im Gegentheil nur, den Strom der Erzählung zu hemmen, ja zurückzutreiben. Indessen, da der Hörer eben bloss hört, so will man der Vergesslichkeit vorbeugen und sagt lieber zum zweiten Male, was schon einmal gesagt worden: wer weiss, ob eine kurze Zurückdeutung genügen würde? Und auch dem Sänger kommt es ganz gelegen, wenn er von Zeit zu Zeit in der Wiederholung des Alten Raum findet, von Frischem Kraft zu schöpfen und sich auf das zu besinnen, was noch vor ihm liegt. Ganz an inneren Gründen gebricht es dafür aber doch nicht: sie werden uns späterhin in der Stilistik entgegentreten. Als Beispiel diene das Lied von der Erbauung Scadars: Talvj, Volkslieder der Serben 1, 117. Endlich ist auch die metrische Form des epischen Liedes überall mit bedingt durch die mündliche Mittheilbarkeit. In jeglicher Art von Dichtung steht, wie wir bereits gesehen haben, das Metrum zum poetischen Stoff in dem Verhältniss der Einheit zur Mannigfaltigkeit; immer ist es das äusserliche Gegenbild der inneren geistigen Einheit: wie mitten in den Formen der Anschauung die angeschaute Idee als der Eine Lichtkern dieser mannigfaltigen Ausstralungen ruht, so soll auch über der bewegten Wandelbarkeit der Darstellung die metrische Form als unverändert ruhende Einheit schweben. Aber zu dieser allgemeinen, für alle Poesie geltenden Anforderung kommt nun für die epische noch eine besondre, in der Art ihrer Mittheilung begründete. Hier wird ein Metrum verlangt, das in Betreff der Künstlichkeit ein Mittelmass halte; es darf einmal nicht gar zu kunstlos und unscheinbar sein: denn sonst würde es für den idealischen Gehalt der Anschauung ein schlechtes Gegenbild abgeben und würde die ganze Schöpfung zu nah an die alltägliche unpoetische Wirklichkeit rücken; aber es darf auch wieder nicht zu künstlich und anspruchsvoll sein: denn damit würden die physischen und die geistigen Kräfte sowohl des Sängers als des Hörers zu sehr für diese äusserlichste Aeusserlichkeit in Beschlag genommen und von dem eigentlichen Wesen und Gehalt der Dichtung abgelenkt. Beiden Anforderungen, jener allgemeinen, für alle Poesie geltenden, und dieser besondern für das epische Lied, entsprechen überall mehr oder minder vollkommen die verschiedenen metrischen Formen, welche sich bei den einzelnen Völkern für das epische Lied entwickelt haben. Der Vers, dessen sich die altindische Epik bedient, ist das Waktra; es besteht aus 16 Silben und ist in der Mitte durch einen festen Einschnitt getheilt. Jede Vershälfte enthält zwei viersilbige Füsse. Im ersten und im dritten Fusse können die vier Silben beliebig lang oder kurz sein: der zweite Fuss dagegen ist in der Regel ein Antispast, und der vierte immer ein Diiambus. Die Vereinigung zweier Verse dieser Art heisst Sloka. Für das Waktra ergiebt sich also folgendes Schema: ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ─́ ‿ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ‿ ─́ Als Beispiel mögen hier die Verse jenes Einsiedlers Walmiki dienen, die, wie wir früher (S. 39) gesehen, den Anlass zu dem ältesten Epos der Inder, dem Ramáyana, gegeben haben: O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du, Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst. Wie bei den Indern das Waktra, so bei den Griechen der Hexameter: der eine wie der andre Vers gross genug, um eine Fülle des Gedankens und der Worte in sich zu schliessen, einfach genug, um leicht vorgetragen und ebenso leicht gefasst zu werden, bewegt genug, um das unaufhaltsam fortschreitende Wesen des Epos auszudrücken, und veränderlich genug, um bei der beständigen Wiederholung, so wie es jeweilen passlich ist, eine andre und wieder eine andre Färbung anzunehmen. Das Nationalmetrum der Römer, der saturnische Vers, hat mit dem der Griechen nur das Lob der Einfachheit gemein: in den übrigen Stücken steht es unter ihm. Die Römer entschlugen sich seiner und vertauschten es gegen den Hexameter, als sie ihre nationale Poesie gegen die gräcisierende vertauschten. Auch der saturnische Vers wird durch einen Einschnitt in zwei Hälften getheilt, die erste derselben enthält 3½ Jamben, die zweite 3 Trochäen, z. B. Dabúnt malúm Metélli Naévió poétae. Ursprünglich aber wurde der Vers freier, wohl nur nach dem Accente gebaut, und in jeder Vershälfte waren bloss die drei Hebungen gefordert. Besser genügen den gestellten Anforderungen die epischen Masse der germanischen und der romanischen Völker. Die allitterierenden Verspaare der Deutschen, die vierzeilige Reimstrophe, die darauf gefolgt ist, und endlich die Strophe des Nibelungenliedes: alle drei Formen verbinden mit dem Vorzuge der gehörigen Ausdehnung den der einfachen Gleichmässigkeit des Grundrhythmus und der characteristischen Veränderlichkeit, insofern die Zahl der Senkungen frei gegeben ist. Die altepischen Verse der romanischen Völker sind der Decasyllabus und der Alexandriner. Der Decasyllabus, den die Franzosen mit den Provenzalen gemein haben, enthält in der ersten Hälfte vier oder fünf, in der zweiten dagegen sechs oder sieben Silben, und der Accent ruht jeweilen auf der vierten und auf der Reimsilbe, z. B.: Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927) Der Alexandriner dagegen, der ein Sohn des saturnischen und der Vater des Nibelungenverses sein mag, hat in seinen beiden Hälften je 6 oder 7, im Ganzen also 12─14 Silben; bei ihm ruht der Accent auf der sechsten und auf der Reimsilbe, z. B.: Ce fu à Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant). Beide Verse stimmen darin überein, dass sie nicht paarweis gereimt werden: lange Reihen von dreissig und mehr Versen (Tiraden) pflegen auf Einen Reim auszulaufen, und so gross auch die durch solche Tiraden noch gesteigerte Einfachheit sein mag, so sind sie doch frei von Eintönigkeit, da in Bezug auf die Cäsur und auf den Wechsel von Hebungen und Senkungen grosse Freiheit gegeben ist. Das nationale Mass der Slawen endlich, wie wir es namentlich wieder bei den Serben zu gesetzmässiger Geltung ausgeprägt finden, fünf Trochäen mit einem festen Einschnitt hinter dem zweiten, möchte das mindeste Lob verdienen: es ist ungeschmückt bis zur Kunstlosigkeit und so einfach, dass es in der beständigen, unveränderten Wiederholung eintönig wird. Auch von diesem epischen Verse mag hier ein Beispiel stehn: Dass die Blinden in der Welt umherziehn, Mit Gesange Markos Thaten feiernd. (Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.). Damit wäre die Schilderung des altepischen Gesanges vollendet: wir haben ihn kennen gelernt als eine aus dem ganzen Volke entspringende und dem ganzen Volke angehörige, durch den lebendigen Gesang mittheilbare Darstellung einzelner Sagen, Mythen, Märchen und Thiersagen. Es war eben so nöthig als anziehend, längere Zeit dabei zu verweilen, da diess die erste Stufe nicht allein zur weiteren Ausbildung der epischen, sondern überhaupt zur Ausbildung aller und jeder Poesie ist; da in diesem Boden Grundlage und Grundriss für alle ferneren Gestaltungen der Dichtkunst ruhen, und über ihm daher die Geschichte und die Theorie derselben ihr Baugerüst aufzuschlagen haben. Wohin wir in der Geschichte der Menschheit blicken, und von welcher Seite wir sie in ihrer geschichtlichen Entwickelung betrachten mögen, von der staatlichen, der sprachlichen oder der künstlerischen, überall sehen wir sie aus der Einheit und Einigkeit und Einfachheit übergehn in immer grössere Entzweiuung, in eine theilende und wieder theilende Zersplitterung, in ein immer mehr sich verwickelndes Gewirre gesonderter Einzelheiten. Das Menschengeschlecht zerfällt in Stämme, die Stämme in Völker, die Völker wieder in untergeordnete Abzweigungen: wie gross ist jetzt die Zahl der germanischen Völkerschaften! Zu Tacitus Zeiten kannte das Nationalbewusstsein noch die Unterscheidung nur dreier Hauptstämme. Wie den Völkern, so ergehts ihrer Sprache: jetzt können wir die Mannigfaltigkeit der deutschen Mundarten kaum mehr zählen: vor anderthalb Jahrtausenden finden sich nur erst leise Andeutungen von dialectischen Unterschieden. Noch deutlicher über diess Verhältniss der spätern Zeiten zu den früheren belehrt uns die Geschichte des Griechischen: all die vielen Mundarten, die sich immer schärfer, immer weiter gesondert haben, in den Homerischen Dichtungen, dieser nächsten Umgestaltung des altepischen Gesanges, gewahren wir sie, man kann nicht sagen vereinigt, sondern noch ungetrennt neben und in einander. Und wie in der Sprache, so auch in der Kunst. Ursprünglich waren, wie wir gesehen haben (S. 7 u. 37), Poesie und Musik zur engsten Einigung verbunden: es gab kein Lied ohne Gesang und wohl auch kein Spiel der Instrumente ausser als Begleitung der singenden Stimme. Nach und nach jedoch löst der Gesang sich von der Dichtkunst ab, und die Instrumentalmusik vom Gesange, so dass zuletzt als gesonderte Dreiheit besteht, was einstmals eine zwar in sich dreifache, aber doch ungesonderte Einheit gewesen. Dann die bildenden Künste. Es ist historisch gewiss, dass dieselben mit der Baukunst, der idealsten von allen, den Anfang genommen haben; der idealsten unter den bildenden Künsten, insofern hier Anschauung und Darstellung ihre Formen nicht aus der Wirklichkeit entlehnen, also auch keine Spur von Nachahmung vorhanden ist, sondern die architectonischen Formen ihre Vorbilder und Bedingungen nur in sich selber tragen. Mit der Baukunst, die demnach so zu sagen den abstractesten Abdruck der Schönheit giebt, beginnt die bildende Kunst; die Plastik ist ihr lange Zeit nur dienend untergeordnet. Allgemach beginnt aber auch hier die Entzweiung: die Sculptur macht Ansprüche für sich; das Bildwerk löst sich von der Mauerfläche ab und stellt sich in seiner sinnlichen Körperlichkeit vereinzelt hin. Und endlich kommt als Drittes noch die Malerei hinzu, das Ergebniss einer rückschreitenden Vereinigung der Sculptur mit ihrer Mutter, der Baukunst: denn die Malerei zeigt sinnliche Gestalten wie die Sculptur, aber in der symmetrisch und perspectivisch geordneten und mehr idealischen Schönheit der Baukunst. Innerhalb der Malerei greift nun die Zersplitterung immer noch weiter. Zuerst giebt es nur historische Gemälde; die Figuren sind vielleicht von allerlei Beiwerk umgeben, und den Hintergrund bildet eine Landschaft. Bald jedoch will dieses Beiwerk und will auch der Hintergrund etwas für sich bedeuten, und so entstehn als neue, eigne Kunstgattungen die Landschaftsmalerei, die Genremalerei, das Stillleben u. s. w. Kurz, wohin man auch schaue, in ihrem ganzen Sein, mit all ihrem Thun und Treiben geräth die Menschheit immer tiefer in die Vereinzelung, in die „Theilung der Arbeit“ hinein; und vor Lust an all der Mannigfaltigkeit der Bestrebungen, an der Menge von kleinen und immer kleineren Abgrenzungen merkt sie es nicht, wie damit die grossen und wesentlichen Grenzen und Unterschiede ganz verwischt werden, wie diese bunte Vielseitigkeit der grade Weg zu einer alles verzehrenden uniformen Verflachung ist. Die Nationalität Deutschlands gegenüber anderen Staaten ist durch seine vielhäuptige Zertrümmerung schon nahe daran gewesen, ganz aufgerieben zu werden; die Verwirrung unzähliger Mundarten hat Einer Mundart den Weg zur Allherrschaft gebahnt bei uns wie bei den Griechen und den Italiänern und anderswo; bald auch wird vor dem mannigfaltigen litterarischen Reichthum, den alle Völker anhäufen, nirgend mehr eine Nationallitteratur bestehn, sondern eine Weltlitteratur an deren Stelle treten. Das ist dann freilich auch eine Einheit: ob aber dieselbe, von der die Menschheit ausgegangen? Diese immer zunehmende Zersplitterung aller Dinge ist aber nur die Folge von der zunehmenden Selbständigkeit und Selbstthätigkeit der einzelnen Individuen, von dem Heraustreten einer immer grösseren Anzahl bedeutender Persönlichkeiten aus der nationalen Gesammtheit. Auf den gleichen Ursachen beruht denn auch die Zertheilung der ursprünglich bloss epischen Poesie. Denn die epische Poesie mit ihrer objectiven Anschauung und Darstellung der äusseren Wirklichkeit konnte sich nur so lange allein behaupten, als das Selbstbewusstsein des Individuums in die Bestrebungen und Erinnerungen der ganzen Nation aufgieng: so wie aber das Individuum mehr zu sich selber kam, so wie es das Walten Gottes nicht bloss um sich, sondern auch in sich zu suchen begann, so wie es sein Auge nicht mehr bloss objectiv auf äussere Thatsachen, sondern auch reflectierend auf die Zustände des eigenen Innern richtete, da erlitt auch die Poesie eine Umgestaltung; jetzt war nicht allein das Object der Anschauung, jetzt war auch das anschauende Subject von Bedeutung: das Epos dauerte zwar noch fort, aber wesentlich verändert, und daneben stellte sich als eigentliches Zeichen der neuen Zeit eine neue Gattung, die Lyrik, die Poesie der inneren Zustände. Es lässt sich diese Theilung der Poesie mit den früher besprochenen anderweitigen Theilungen nicht bloss vergleichen: sie hängt auch historisch damit zusammen. Wir sehen z. B. noch an Homer, wie sich das alte Epos der Griechen in einer einigen, unzersplitterten Sprache bewegt habe: mit der Lyrik machen sich alsbald die mundartlichen Gegensätze geltend, und es giebt eine ionische, eine dorische, eine äolische Lyrik. Neben der altepischen Poesie des Mittelalters liegt, von allen bildenden Künsten allein mit Erfolg gepflegt, die Baukunst in der s. g. byzantinischen oder vorgothischen Weise, neben der sinnlichsten Art der Dichtkunst in polarischem Gegensatze die unsinnlichste unter den bildenden Künsten: so wie aber die Lyrik auf den Platz getreten ist, wird die Baukunst eine andre: es kommt nun erst die recht romantisch-mittelalterliche, die gothische oder deutsche, und es fängt auch mit einer Umkehr jenes polarischen Gegensatzes neben der unsinnlichen Kunst der Lyrik die sinnliche der Bildhauerei an, selbständige Bedeutung zu gewinnen. Eben wie nun aber, um bei dieser letzten Vergleichung zu bleiben, auf die Trennung der Sculptur von der Architectur die Malerei folgt als ein Drittes, das den Abschluss der Entwickelung bezeichnet, indem es die getrennten wieder vereinigt und ihren Gegensatz vermittelt: grade so folgt als Drittes und Letztes auf Epos und Lyrik das Drama: hier ist der Unterschied wiederum aufgehoben; die Lyrik ist in ihren Ursprung, das Epos, zurückgekehrt; und während das Epos äussere Thatsachen, die Lyrik innere Zustände darstellt, stellt das Drama innere Zustände in äusseren Thatsachen dar. Ueber diese dritte Stufe hinaus giebt es keine mehr, und kann es keine mehr geben; ist sie erreicht, so bleibt die Poesie stehn und zehrt von den gesammelten Schätzen, oder sie verfällt und geht unter: nunmehr sind beide, die innere Welt wie die äussere, in den Bereich der Poesie gezogen, im Epos und in der Lyrik als getrennte Gegensätze, im Drama verquickt und verschmolzen. So ist auch über die Malerei hinaus, in der das Ideale der Baukunst und das Sinnliche der Sculptur sich durchdringen, keine bildende Kunst mehr gedenkbar. Der Parallelismus aber der Dichtkunst mit den bildenden Künsten zeigt sich auch auf dieser letzten Stufe zugleich als ein Synchronismus: die höhere Entwickelung des eigentlich deutschen Dramas, des auf deutschem Grund und Boden organisch gewordenen, fiel mit der Blüte der deutschen Malerei in das gleiche Jahrhundert. Also Epik, Lyrik, Drama. Natürlich ist es niemals von dem Einen zum Andern im Sprunge gegangen: wie bei allem organischen Wachsthum fehlt es auch hier nicht an Mittelgliedern, die verbinden die den Uebergang bilden und bezeichnen. Wie der architectonische Schmuck erst zum Relief werden musste, eh die Bildhauerei mit ganz runden Figuren auftreten konnte, so musste sich das Epos erst nur lyrisch färben und immer mehr und mehr lyrisch färben, bis sich zuletzt eine vollkommene Lyrik ergab; man musste sodann die Vermittlung der Lyrik und des Epos erst versuchen, bald vom lyrischen, bald vom epischen Standpunkte aus, bis man die rechte Mischung und mit ihr das eigentliche Drama fand. Dergleichen Uebergangsformen liegen besonders vor der Lyrik; weniger vor dem Drama: das fand sich leichter, sobald erst jene beiden vorhanden waren. Wir wollen jene episch-lyrischen Zwischenarten, je nachdem noch das Epische oder schon das Lyrische in ihnen vorwaltet, theils mit in den jetzt noch vorliegenden Abschnitt ziehen, welcher der weitern Betrachtung der Epik gewidmet ist, theils in den nachfolgenden, der von der lyrischen Poesie handeln soll. Jetzt also begleiten wir noch den Entwicklungsgang der epischen Poesie auf die zweite Stufe, die Stufe der individuellen Subjectivität: die erste, die der nationalen Objectivität, haben wir hinter uns. Man nehme jedoch das Wort Subjectivität nicht in eben demselben vollen, verschärften Sinne, in welchem z. B. die romantische Poesie gegenüber der classischen, oder die Schillerische gegenüber der Göthischen subjectiv zu nennen ist: denn es soll auch auf classische und auf Göthische Gedichte seine Anwendung finden; es soll nicht überall ein ungebührliches Vorwalten, sondern jedes, auch das leiseste Eingreifen der Fähigkeiten und Neigungen des dichtenden Subjectes bezeichnen, wie das unvermeidlich wird, sobald einmal das Individuum dichtet: es soll überhaupt nur die Abweichung bezeichnen von jener vollkommenen, unverkürzten Objectivität der altepischen Zeiten. Es kann nun aber das dichtende Individuum durch seine subjectiven Neigungen und Fähigkeiten darauf hingewiesen werden, beim Erfassen der epischen Anschauung besonders thätig zu sein entweder von Seiten der Einbildung oder des Gefühls oder des Verstandes, und es giebt somit Epik der Einbildungskraft, des Gefühls und des Verstandes. In der Epik der Einbildungskraft erhalten wir dann die unmittelbare Fortsetzung der früheren nationalen Epik, in der des Gefühles die vermittelnde Anbahnung der späteren Lyrik; in der Epik des Verstandes aber sehen wir die Anschauung auf eine geistige Kraft bezogen, der weder hier noch sonst irgendwo in der Poesie eine solche positive Einwirkung gebührte; wir sehen da eine bald leichtere, bald schwerere Entartung der Kunst, wie sie anderweitig auch auf dem Gebiete der Lyrik nicht ausgeblieben ist. Wir können, wenn wir kurz sein wollen, die erste Art der Epik rein epische Epik, die zweite lyrische Epik, die dritte didactische Epik nennen. Nun zunächst zu der Epik der Einbildung, zu derjenigen Art epischer Poesie, die man wieder im engeren Sinne des Wortes Epos oder Epopöie zu nennen pflegt, zu den erzählenden Gedichten, die einen grösseren Umfang haben und eine Reihe einzelner Sagen und Mythen an und in einander weben. Die alte Freude an epischen Anschauungen behielt das Volk immer noch, auch als es nicht mehr auf jener Stufe geistiger und sittlicher Bildung stand, welche die einfachen epischen Gesänge getragen hatte; es behielt immer noch die Freude an epischer Anschauung und Darstellung, wie denn überhaupt, sobald ein Volk nur irgend poetischen Sinn besitzt, sich der natürlicher Weise zumeist auf diese Seite werfen wird: aber man empfand nicht mehr das reine Wohlgefallen bloss an der schönen Behandlung allbekannter Stoffe: man gewann ein überwiegendes Interesse für die Stoffe an sich selbst. Denn die rechte Vertrautheit mit denselben verschwand, und das wachsende Selbstbewusstsein der Individuen beschränkte die Sagen und Mythen immer mehr in ihrer Ausbreitung über die nationale Gesammtheit. So wollte man denn jetzo mehr hören; die epischen Dichtungen sollten mehr enthalten als ehedem. Diesem neuen Bedürfniss kamen bei den Griechen zunächst die Rhapsoden entgegen. Die Aöden hatten ihre epischen Lieder noch gesungen und den Gesang mit Saitenspiel begleitet: sie konnten es bei der Kürze derselben, ohne dass sie selbst oder ihre Zuhörer darüber ermüdet wären; die Rhapsoden legten das Saitenspiel aus der Hand und recitierten statt zu singen: denn für den Gesang wären ihre stoffhaltigen Dichtungen zu lang gewesen. Es waren jedoch diese Dichtungen wohl in den wenigsten Fällen wesentlich und ganz neue: sondern die Rhapsoden wucherten mit dem Pfunde der Aöden, sie fügten und flochten nur an und in einander, was sie bereits poetisch gestaltet vorfanden, hier Lieder über verschiedene Sagen, die sich in Zusammenhang bringen liessen, dort verschiedene Lieder über die gleiche Sage: ein Geschäft, das natürlich nicht wohl von Statten gieng, ohne dass sie selber zuweilen die dichtende Hand mit anlegten, um bald zu kürzen, bald und noch öfter einzuschalten, bald sonst irgendwie zu ändern. Von dieser Art poetischer Thätigkeit rührt auch der Name der Rhapsoden her: es ist eine blosse Grille, sich gegen die einfache Ableitung desselben von ῥάπτειν ἀοιδήν zu sträuben und dieser authentischen Etymologie die unmögliche von ῥάβδος gegenüber zu stellen, welche die Rhapsoden zu Stabsängern macht. Schon Hesiod (fragm. 34) braucht von sich und Homer den Ausdruck ῥάψαντες ἀοιδήν , und bei Pindar (Nem. 2, 2) ist ῥαπτῶν ἐπέων ἀοιδοί eine Umschreibung für ῥαψῳδοί . Waren aber bereits die alten Aöden gewissermassen ein eigener Stand gewesen, so waren es die Rhapsoden natürlich noch vielmehr: jene verblieben in ihrem ganzen Wesen und Wirken mitten unter den Volksgenossen; diese stellten sich ihnen gegenüber. Eine solche Rhapsodenzunft war auf Chios das Geschlecht der Homeriden, nach welchen man bald auch die Rhapsoden andrer Inseln und andrer Länder, dann selbst die spätern epischen Dichter Homeriden nannte. Auch in Deutschland scheint es um das Jahr 1200 Leute nach Art der griechischen Rhapsoden gegeben zu haben, obschon sie da minder deutlich und gewiss nachzuweisen sind. Die Wirksamkeit der Rhapsoden ist aber nur eine vermittelnde, sie bereitet nur den weiteren Fortgang zu dem eigentlichen Ziele hin. Das stoffartige Interesse wächst nämlich je mehr und mehr; auch das schnellere Recitieren der Rhapsoden geht dem Volke wieder zu langsam und bietet ihm zu wenig auf einmal; daneben regt sich in einzelnen poetisch begabten Individuen das Verlangen nach freierer Selbstthätigkeit. Und noch ein folgenreicher Umstand kommt hinzu. Je länger die Mythen und Sagen über ein Volk hin und durch die Zeiten und Geschlechter gewandert sind, desto mehr treten sie unter sich in einen kreisartig abgeschlossenen Zusammenhang; gewisse Personen, gewisse Ereignisse erlangen ein Uebergewicht, meist darum, weil sich der Character und das historische Selbstbewusstsein des Volkes am deutlichsten in ihnen ausgesprochen und somit auch von ihnen vorzüglich angesprochen fühlt: was sich auf diese Hauptpunkte nicht beziehen lässt, fängt man an, weniger zu beachten; man sucht aber, womöglich alles auf sie zu beziehn. So erzählen die Lieder der Serben mit besonderer Vorliebe von dem in Tapferkeit und Frömmigkeit gleich rohen Königssohne Marco, der gegen das Jahr 1400 bei dem letzten kräftigen Ankämpfen der Serben gegen die türkische Herrschaft voranstand; so ist der Fuchs, der sich mit seiner Klugheit über die andre Thierwelt erhebt, als der Mensch unter den Thieren bald die Hauptperson der Thiersage geworden; so Artus, mit dem die britannische Geschichte endigt, und Karl, mit dem die französische beginnt, die tragenden Grundlagen jener des wälschen, dieser des französischen Sagenvorrathes; so der Cid, durch seine Kämpfe mit den Mauren berühmt, das Sinnbild der Treue und des Trotzes des spanischen Vasallenthums; so vor allen Siegfried in seinem Heldenmuthe, in seiner arglosen Gemüthlichkeit der Liebling der Deutschen; so lehnt sich die deutsche Heldensage an die Völkerwanderung an, weil mit ihr die ganze Geschichte des Volkes einen neuen Anstoss und Umschwung erhielt; so endlich und aus dem gleichen Grunde ward der trojanische Krieg ein Kern und Mittelpunkt der griechischen Sage: Achilleus aber und Odysseus giengen allen Heroen dieses Krieges voran, weil der Grieche in dem einen seine freudige Tapferkeit, in dem andern seine geistige Gewandtheit personificiert wiederfand. Hatte sich nun auf solche Weise der epische Vorrath immer mehr in bestimmte Gruppen und geschlossene, aber umfangreiche Kreise zusammengezogen, bei denen man gern verweilte, in denen man es vorzüglich liebte umher zu wandeln, so mussten auch die ausgedehnteren Dichtungen, wie die Rhapsoden sie bereits vortrugen, dennoch bald zu wenig ausgedehnt erscheinen: es musste das Bedürfniss erwachen nach Dichtungen, die sich über den ganzen weiten Raum jener Kreise hin ausbreiteten, in denen sich Gelegenheit fände, recht vieles, wo nicht gar alles zu erzählen, was zur Anschauung jener wichtigsten Personen und Ereignisse dienen konnte. Diese verschiedenartigen Neigungen und Richtungen Aller und Einzelner fanden, wo sie zusammentrafen, ihr gemeinsames Ziel in der Vereinigung der bisher getrennten, aber zu dem gleichen Sagenkreise gehörigen Lieder oder Rhapsodien, in der Vereinigung derselben zu grösseren, allumfassenden Epopöien. Die Lieder der Aöden hatten immer nur je eine Sage erzählt, aus der Reihe von Erlebnissen eines Volkes oder Helden oder Gottes nur je Eines herausgegriffen; die recitierenden Rhapsoden waren schon, aber nicht zu weit, über diese Schranken hinausgegangen und hatten die frühere Einfachheit gegen eine jedoch gemässigte Mannigfaltigkeit vertauscht; sie hatten sich dabei immer noch so nah als möglich an die Ueberlieferungen der Aöden gehalten, so dass es auch ihnen noch nicht beifiel, mehr als einzelne enger verbundene Gruppen aus all den Abenteuern des trojanischen Krieges zu bearbeiten. Nun aber ward nach Massgabe jener Sagenkreise alles zusammengetragen, was von Dichtungen da hinein gehörte, es sollte hinter einander alles zu lesen und vorzulesen sein (denn man hatte sich inzwischen auch mit dem Gebrauche und der Kenntniss der Schrift besser befreundet), was von diesem und jenem Lieblingshelden Bedeutendes und auch minder Bedeutendes konnte erzählt werden: all die vorher selbständigen Einheiten der Lieder und Rhapsodien giengen nun in der grossen und allgemeinen Einheit einer geschriebenen Epopöie unter. So entstanden in Griechenland die Ilias und die Odyssee, in Frankreich das Gedicht von der Roncevalschlacht und der Roman de Renart, in Deutschland das Nibelungenlied u. s. f. Bei Arbeiten dieser Art galt es schon einen höhern Grad von selbstbewusster Kunst; wer sich dem Geschäft einer so ausgedehnten Umdichtung unterziehen wollte, der musste umfassenden Ueberblick, geübten Geschmack und eigene poetische Geschicklichkeit mit zum Werke bringen. Denn es kam darauf an, ein Gebäude aufzuführen aus Bauzeug, das gar nicht dafür war berechnet und bereitet worden, aus zwanzig Liedern, deren jedes für sich scharf abgegrenzt war, ein einundzwanzigstes zu bilden, das all jene in sich begriffe; es kam darauf an, alles zu benutzen, was jemals von diesem Helden war gesungen und gesagt worden, und dennoch ein Gedicht und Ein Gedicht herzustellen, ein in Idee und Darstellung einiges und abgeschlossenes poetisches Ganzes. Ein überaus roher Versuch, auf solchen Wegen ein Epos zu gestalten, der aber grade durch diese seine Rohheit für uns höchst belehrend ist, ist das erwähnte altfranzösische Gedicht von der Schlacht im Thale Roncevaux, welches zuerst Francisque Michel 1837 unter dem Titel La Chanson de Roland ou de Roncevaux herausgegeben hat. Hier liegt das verschiedenartige Bauzeug noch ganz unvermittelt und unverbunden neben einander: über dasselbe Ereigniss erst ein Lied, dann ein andres, dann vielleicht noch ein drittes, selbst wo es leicht genug gewesen wäre, diese drei zu einem einzigen vierten zusammenzufügen. Aehnlich der Roman de Renart (herausgegeben von Méon 1826), wo die Wiederholungen und unvereinbaren Widersprüche zwischen den immer noch getrennten einzelnen Branchen auf verschiedene Verfasser zurückzuführen sind. Besser haben ihre Aufgabe die Umdichter verstanden, denen wir die andern genannten Epopöien verdanken; und hier war es schwieriger, und war es ein Triumph der neueren philologischen Kritik, dennoch diese Art der Entstehung und die verschiedenen Hände der einzelnen Dichter zu erkennen. Das Alterthum selber hielt, als Ilias und Odyssee erst vollendet vor ihm dastanden, beide zusammen für das Originalwerk eines einzigen Dichters, den man Homeros nannte, indem man auf diesen Namen vielleicht nur zurückschloss aus dem Namen des berühmten Rhapsodengeschlechtes in Chios, der Homeriden: denn man dachte sich jene Epopöien früher entstanden als die Rhapsodien, d. h. man stellte einen Epiker mit zweimal vier und zwanzig geschriebenen Büchern mitten hinein zwischen die singenden Aöden und die sagenden Rhapsoden. Hinsichtlich der beiden Homerischen Gedichte den Sachverhalt zuerst ans Licht gestellt zu haben, ist das Verdienst Fr. Aug. Wolfs, dessen „Prolegomena de operum homericorum prisca et genuina forma“ vor seiner Ausgabe der Ilias vom Jahre 1795 erschienen sind. Die Entstehung des Nibelungenliedes hat Karl Lachmann in seiner Abhandlung „Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelungen Noth“ 1816 und in seinen „Anmerkungen zu den Nibelungen“ 1836 nachgewiesen. Die Umdichter, von denen Ilias, Odyssee und Nibelungenlied herrühren, sind alle drei darauf bedacht gewesen, an den kleineren Einheiten, von denen sie ausgiengen, die gar zu augenfälligen Spuren der ursprünglichen Zusammenhangslosigkeit zu tilgen: sie haben überall ausgeglichen, Manches fortgelassen, noch mehr eingeschaltet; so dass nun recht im Gegensatze zu der energisch vorwärts schreitenden Entwickelung der altepischen Lieder dem neuen Epos eine in behaglicher Ausführlichkeit verweilende Breite eigen wurde. Indessen hat diese Breite ausserdem auch noch ihre innern Gründe und Zwecke: hätte man die energische Darstellung der alten Lieder beibehalten, so wäre bei der neuen Fülle des Stoffes und dem schnelleren Fortschritte des Vortrages oder der Lectüre der Leser mit Thatsachen wahrhaft überstürzt und überschüttet worden; so sehr das stoffartige Interesse jetzt die Oberhand hatte, so lag doch, eben weil es in solchem Masse vorherrschte, den neuen Epikern die Aufgabe ob, Jedem Zeit zu lassen zur Beschauung und Auffassung der ungewohnten Mannigfaltigkeit. Und so konnten sie denn auch die einzige Saumseligkeit der alten Lieder mit in ihre Umdichtung hinübernehmen, jene früher (S. 63) besprochenen Wiederholungen und stehenden Redensarten nämlich, obgleich dieselben durch die jetzige Weise der Mittheilung in nichts mehr bedingt waren: ehedem waren sie unentbehrlich gewesen, um bei der Langsamkeit des Gesanges dem Vergessen vorzubeugen: jetzt, wo man schrieb und las, waren sie nicht so wohl an der Stelle. Wie in diesem Stücke, so schimmert auch sonst der alte aödische und rhapsodische Grund noch oft und noch deutlich genug hindurch, so dass er der schärfer blickenden Kritik unserer Tage nicht entgehen konnte. Sodann gieng das Bestreben der neuen Epiker dahin, den überkommenen Sagenschatz, wo möglich ganz zu erschöpfen und auszubeuten und nichts unberührt zu lassen, was innerhalb des Kreises lag. Konnte nun aber irgend ein Mythus oder eine Sage nicht füglich mit in den gradeaus fortschreitenden Verlauf eingereiht werden, so hielt man allenfalls inne und schweifte seitwärts zu ihr ab, um nachher wieder einzulenken und die alte Bahn fortzusetzen: mit Einem Worte, man erlaubte sich Episoden. Oft jedoch und sehr oft haben die Episoden nicht grade diesen Anlass, sondern sind vielmehr wieder nur eine Nachwirkung der alten Lieder, denen man folgte, und die man umdichtete. In diesen fand man die grösste Einfachheit der Anschauung, die knappeste Beengung des Stoffes. Obschon man nun im neuen Epos die Grenzen nach allen Seiten hin in die reichste Mannigfaltigkeit ausdehnte, so wollte man doch wenigstens den Anschein der Einfachheit und der Beschränkung bewahren, und so vernehmen wir denn z. B. in der Odyssee den einen Theil von Odysseus Irrfahrten aus dem Munde des Dichters, den andern und grösseren Theil aber episodisch durch vier Bücher hindurch aus dem Munde des Odysseus selbst, und im Nibelungenliede werden erst gelegentlich, erst Str. 88 fgg. durch Hagen Siegfrieds Kämpfe mit dem Lindwurm und mit den alten Herren des Hortes erzählt und die Leser in die Jugendgeschichte zurückgeführt, nachdem Siegfried schon als Mann aufgetreten: indem so, was eigentlich der Anfang der dargestellten Sagenreihe ist, in die Mitte eingefügt wird, gewinnt das Ganze den Anschein grösserer Gedrungenheit und Abrundung, sieht concentrierter, einfacher, einheitlicher aus. Durch solche Mittel und auf solchen Wegen erwuchsen die genannten Epopöien alle aus dem überlieferten Vorrath epischer Stoffe und epischer Dichtungen: sonst aber bestehn unter ihnen die merklichsten Unterschiede, und der Sammler und Umdichter der einen hat nicht das gleiche Mass künstlerischen Bewusstseins und freithätiger Geschicklichkeit besessen als die der andern. Den untersten Rang möchte die Iliade einnehmen. Ihr gebricht am meisten die rechte Einheit der Idee und des Inhaltes: all die hohen Schönheiten, womit sie Jeden gefangen nimmt, sind doch nur Schönheiten einzelner Glieder, nicht aber des ganzen Körpers, der aus diesen Gliedern zusammengesetzt worden. Der Beginn kündigt Achilleus als den Helden der Dichtung an: alsbald jedoch tritt er und sein Zorn in den Hintergrund, um erst gegen das Ende hin wieder von Bedeutung zu werden; mitten inne aber ist, nur mit vorübergehenden Rückblicken auf ihn, überhaupt von dem thatenreichen Kampfe die Rede, den Ilios und Griechenland nach den von Zeus gewogenen Loosen gegen einander bestehn. Daher auch der altherkömmliche Name Ilias, nicht Achilleis. Auf die Autorität der Iliade hin hat Fr. Schlegel behauptet, ein rechtes Epos müsse überall anfangen und überall schliessen; und wiederum nach ihr hat A. W. von Schlegel das Wesen der epischen Dichtung darin gesucht, dass sie einem Relief gleiche, dessen Figurenreihe ohne alle Gruppierung hinter einander fortlaufe, und mehr nach Zufall oder Willkür beginne und ende als nach innerer Nothwendigkeit. Zugegeben, dass ein gutes Relief so planlos gearbeitet sein dürfe, und zugegeben, dass diese Vergleichung etwa auch auf die Ilias passe, so ist doch in der Odyssee keine dergleichen Spur von Willkür und Zufall: sie steht in dichterischer Beziehung um vieles höher als die Ilias; von dem Anfange an, der wirklich auch ein Anfang ist, arbeitet Alles der Erfüllung entgegen; die Leiden der verlassenen Gattin, der Auszug des Sohnes, um Kunde vom Vater zu erlangen, die Abenteuer, die dem Vater seinen Weg zur ersehnten Heimath immer länger und schwerer machen, Alles sucht und findet das gleiche Ziel, den Lohn des Duldens und die Rache der Unbill, und es ist nicht abzusehen, was nun irgend noch könnte gethan und erzählt werden. Wäre die Ilias nicht, die ihren Ursprung aus einzelnen Liedern deutlich an der Stirne trägt, bei der Odyssee allein wäre die Kritik schwerlich darauf verfallen, die Existenz eines einigen Dichters zu läugnen: mit so gereifter Kunst sind hier die Spalten zwischen den einzelnen Theilen überkleidet, mit solchem Geschick sind die kleineren Einheiten unter eine neue grosse zusammengebracht, ja hier darf man an dem Ursprung aus einzelnen Dichtungen eher zweifeln. Jedesfalls aber steht der Umdichter oder Dichter der Odyssee schon sichtlich auf den Schultern dessen, der die Ilias gesammelt hat; in der Ilias zögerte das Individuum noch, sich geltend zu machen: in der Odyssee schaut es um sich mit dem heitersten Selbstbewusstsein; die schalkhafte Laune, die mitunter sogar in den Ton harmloser Parodie der Ilias hinüberstreift, ist nicht zu verkennen. Das Gedicht von der Nibelungen Noth übertrifft durch weitaus greifende Kühnheit des Plans beide griechische Epen. Die Thaten der Ilias erfüllen wenige Wochen, die Leiden des Odysseus eine kleine Reihe von Jahren: die Nibelungen erstrecken sich über den Raum zweier Menschenalter voller Thaten und Leiden. Ueber all die Kreise hin, welche sich an den Grundkern der deutschen Heldensage lagern, spannt sich sein reiches, vielfaltiges, vielfarbiges Gewebe; Alles ist hineingezogen, der alte Mythos von Siegfried, die Sagen von den burgundischen Königen, von Attila, von Theodorich dem Grossen. Und dennoch mangelt es nirgend an Einheit. Von Anfang bis zu Ende bewährt sich die mehrfach ausgesprochene welthistorische Idee, dass alle Freude dieser Welt zuletzt mit dem tiefsten Schmerze endige; die eigentliche Trägerin aber dieser Idee, die Person, in deren Handeln und Leiden dieselbe bis zur äussersten Vollendung durchgeführt wird, ist Kriemhild, die Schwester Günthers, dann die Gemahlin Siegfrieds, dann die Gattin Etzels: durch sie erhalten jene einzelnen Gruppen der Sage, wie sie geschichtlich und sagenhaft auf gemeinsamen Grund gestellt sind, von Seiten der poetischen Idee verbindende Einheit. Das jedoch hat der Umdichter der Nibelungen vielleicht noch weniger verstanden als der der Iliade, seinen Zusätzen einen gewissen Einklang mit den alten Liedern und Rhapsodien zu geben und die Ungleichheiten dieser Lieder und Rhapsodien selbst durch überarbeitende Darstellung zu vermitteln und zu verwischen. Ich sage der alten Lieder und Rhapsodien: er schloss sich nämlich zum Theil noch unmittelbar an den lebendigen Volksgesang an, und nur hin und wieder, namentlich gegen das Ende hin, scheint zwischen seinem Buche und den alten Liedern des Volkes eine Mittelstufe zu liegen, wie die der griechischen Rhapsodien. So war nunmehr dem stoffartigen Interesse genug gethan: man besass nun grosse inhaltschwere Heldengedichte und konnte sie lesen statt zu singen und zu sagen. Aber die Individualität hatte ihre Bedeutung in der Poesie einmal kennen gelernt: von dem an versäumte sie es nicht, sich immer mehr und mehr geltend zu machen. Kaum standen bei den Griechen Ilias und Odyssee, bei den Franzosen die Roncevalschlacht fertig da, so wuchs ihnen eine Menge immer neuer Epopöien nach, die sich freilich auch an altüberlieferten Stoff anschlossen und alte Mythen und Sagen und Märchen erzählten; die sich auch die Art und Weise jener in Anschauung und Darstellung zum Muster nahmen und selbst die alte Diction und Versform treu bewahrten, wie die Griechen die Sprache Homers und den Hexameter: in einem Stück jedoch erwies sich die neue Selbständigkeit: man folgte zwar alten Sagen, aber nicht alten Liedern; man überarbeitete nicht bloss, man dichtete nicht mehr um: sondern was man gab, war in dieser seiner Gestalt durchaus neu und eigen. So die nachhomerischen Epiker der Griechen, die man auch Cycliker, κυκλικοί , nannte, weil ihre Gedichte zusammen den ganzen Inbegriff und Umfang der Sage wiedergaben. An sie und an Homer lehnte sich dann die epische Kunstdichtung der Römer, Ennius, Virgil u. s. w. Solcher poetischen Schöpfungen hatten die Franzosen schon im zwölften Jahrhundert genug; durch sie wurden die Deutschen, die bis dahin nur Lieder nach altepischer Art besessen hatten, nun auch mit der umfassenden und unsangbaren Epopöie bekannt. Alsbald versuchten diese auch selber die neue Kunst; die metrische Form dieser deutschen Gedichte war eine höchst einfache, zuerst bloss gereimte Prosa, die sich jedoch allgemach mehr künstlerisch gliederte, zu Versen von vier Hebungen, welche paarweis reimten: aber wie die neue Kunst aus jener Fremde zu ihnen gekommen war, versuchten die Deutschen sie zunächst auch nur an Stoffen jener Fremde, an französischen, provenzalischen und britannischen Sagen: für die einheimische Heldensage bestand (wenn wir von einer oder zwei nicht einmal recht sicheren Ausnahmen absehn dürfen) noch einige Zeit hindurch die alte Liederform, bis auch sie in dem Sammler der Nibelungen ihren Homer fand und nach ihm ihre in freier Individualität selbständigen und selbstthätigen cyclischen Epiker. Diess historische Verhältniss ist von Wichtigkeit: denn es lehrt, dass die Nibelungen mit den s. g. Homerischen Dichtungen nicht genau auf einer und derselben Stufe stehn. Nicht die deutsche Epopöie überhaupt, sondern nur die Epopöie der deutschen Heldensage beginnt mit den Nibelungen, während Ilias und Odyssee den Anfang aller und jeder griechischen Epopöie bilden. Der Sammler der Nibelungen fand schon genug epische Dichtungen andrer Art vor, um an ihnen jene hohe Kunst der Composition zu lernen: der Sammler der Ilias aber musste ganz aus eigener Kraft den ersten Wurf thun. Durch die neuen Epiker ward man so daran gewöhnt, epische Dichtungen bloss für die Schrift, für das Lesen und Lesenhören zu verfassen, dass man nun selbst da, wo die Einfachheit des Stoffes und der geringe Umfang gar wohl die sangbare Form zugelassen hätten, selbst da nur noch die unsangbare in Anwendung brachte. So besitzt die deutsche Litteratur aus dem zwölften Jahrhundert und den folgenden eine Menge von Legenden und Sagen und Märchen, erzählt in der Form der kurzen Reimpaare: vor jenem Zeitraum hätte man dieselben Stoffe nur in Liederform, nur durch den Gesang mitzutheilen gewusst. In solchen Erzählungen (wie man all dergleichen kleinere epische Gedichte der Unterscheidung wegen benennen mag) lernte das Individuum noch um einen Schritt weiter über seine alte Unterordnung hinausgehn. Die grösseren Epopöien folgten lediglich dem von alten Zeiten her Ueberlieferten; es fiel da dem Dichter nicht ein, sich um Stoff an die Tagesgeschichte oder gar an die eigene Phantasie zu wenden: nur dem, was durch die nationale Tradition geheiligt war, nur dem was im Lauf der wechselnden Zeiten und Geschlechter seinen Bestand behauptet und sich bewährt, was sich wie aus sich selbst heraus zu einem reich und schön gegliederten Organismus entwickelt hatte, nur solchen längst belebten und beseelten Anschauungen traute man, und das mit Recht, die Kraft zu, den Leser zu gewinnen und zu fesseln und ihn zu reproducierender Thätigkeit zu nöthigen, nicht aber dem, was heute erst um den Dichter herum geschehen oder gar erst heute von ihm erfunden wäre. Anders bei den kleineren, weniger enthaltenden, minder ausgedehnten Erzählungen. Hier sah man es mehr nur auf vorübergehende Unterhaltung ab, hier bedurfte der Dichter solch eines altbewährten Stoffes nicht: er selbst und seine Zeit konnten sich frisch in den Vordergrund stellen, er konnte Ereignisse des Tages erzählen, ja sogar alles selber erst erfinden, und dennoch durfte er der Wirkung gewiss sein. In der Epopöie zeigt sodann das dichtende Individuum seine zurückhaltende Bescheidenheit auch darin, dass es sich nur selten und nur in leiser Andeutung einen Widerspruch gegen die angeschaute Wirklichkeit gestattet; die Epopöie duldet also Spott und Laune höchstens nur hin und wieder: in der Erzählung sind sie zu Hause, und die Dichter lieben es hier, ihre freiere Thätigkeit auch dadurch kund zu thun, dass sie den Verlauf der Thatsachen vom Anfang an bis zum Ende mit dem Lachen des Verstandes oder des Gefühles, mit Laune oder Spott begleiten. Es gab mithin neben der Epopöie wohl komische Erzählungen, wie bei den Griechen der verlorene und Homer zugeschriebene Margites, und im Mittelalter bei Deutschen und Franzosen so viele, dass ich keine einzelne zu nennen wüsste: aber komische Epen gab es nicht. Bisher haben wir zuerst von den Anfängen, dann von den weiter entwickelnden Fortschritten der Epik gesprochen: jetzt ist noch von ihrem Untergang zu sprechen. All die Neuerungen auf dem Gebiete der epischen Poesie, das Anschliessen an einzelne abgerissene Begebenheiten, das Ablenken von der alten Sagenwelt, das in Spott und Laune beurtheilende Eingreifen des Subjectes, das schon früher berührte bloss stoffartige, auf Idee und Form wenig mehr achtende Interesse, endlich das taubstumme Schreiben und Lesen, wodurch allgemach die gesammte epische Poesie dem lebendigen Verkehr war entfremdet worden: alles das musste ihr bald den Untergang bereiten: wie sie mit Gesang begonnen hatte, so schlug sie zuletzt in Prosa um; neben das entschwindende Epos und an die Stelle des entschwundenen rückte die Geschichtsschreibung. Ueberall jedoch, in der Geschichte der Menschheit wie in der Natur, wird der Gegensatz vermittelt durch Zwischenglieder und einleitende Uebergangsstufen. So auch der Gegensatz der epischen Poesie und der historischen Prosa. Die moderne Geschichtsschreibung beginnt schon innerhalb des Epos, und das moderne Epos reicht noch hinüber bis in die Geschichtsschreibung. Denn der Verfall der epischen Poesie des Mittelalters wird dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke entstehn, die mit derselben zwar noch die Form des Verses und des Reimes, sonst aber wenig gemein haben, deren Inhalt baare, unpoetische Geschichte bildet, Chroniken und Biographien. Auf der andern Seite beginnt die historische Prosa mit Schriften, die wieder mehr durch die Form als durch ihren Inhalt der Prosa zugehören: die Geschichtsschreibung in ihren Anfängen kennt so wenig als vorher die epische Poesie einen Unterschied zwischen Geschichte und Sage, und es haben an ihren Productionen Phantasie und Gemüth noch beinahe eben so viel Antheil als der Verstand. Gleichzeitig entwickelt sich neben der eigentlichen Geschichtsschreibung noch eine andre Art von historischer Prosa, in der gradezu und absichtlich Phantasie und Gemüth denselben Rang einnehmen als im Epos, so dass man hier die unkünstlerische Form der Rede wohl eine Ungehörigkeit nennen darf: die Prosa des Romans. Der Roman ist im Grunde nichts als ein prosaisches Epos, wie denn auch die ersten Bücher dieser Art sowohl bei den Deutschen als bei andern Völkern des Mittelalters entstanden sind durch prosaische Auflösung älterer Heldengedichte. Insofern bezeichnet er noch viel mehr den Untergang des Epos als den Beginn der historischen Prosa, und nur dieselbe Bequemlichkeit, die zu dergleichen Auflösungen veranlasste, hat ihm über jene Vermittlungszeit hinaus bis auf die unsrige seinen Bestand sichern können. Bei den Griechen lässt sich eben ein solches Vorahnen der Geschichtsschreibung innerhalb der Poesie und ein solches nachhaltiges Uebergreifen des Epos in die historische Prosa minder deutlich nachweisen. So viel indessen weiss man doch, dass Herodots Vorgänger in ihrer leichtgläubigen Freude an Mythen und Sagen noch nicht sonderlich weit hinaus waren über das metrische Epos. Die Anfänge aber des griechischen Romans fallen in viel spätere Zeiten. Wir enthalten uns einer ausführlicheren Parallele zwischen Sage und Geschichte, zwischen Epos und Historiographie, zu der hier wohl der Anlass gegeben wäre, und beschränken uns auf Einen Punkt, den wesentlichsten von allen, die verschiedene Stellung beider gegenüber der Idee. Jede Sagendichtung drückt irgend eine in der Geschichte offenbarte Idee aus: aber sie rückt dieselbe in das Gebiet der Einbildungskraft und lässt die gemeine Wahrheit der Thatsachen aufgehn in die Schönheit: da muss denn fortfallen, was zu viel ist und die einheitliche Anschauung der Idee behindert; auf der andern Seite fügt die Phantasie wieder hinzu, um der lebendigen Mannigfaltigkeit willen; und was geschehen muss, damit es möglich werde wegzulassen und zuzusetzen, selbst die verbliebenen und nicht erfundenen Thatsachen werden oft mit kühnster Freiheit umgebildet. Anders die Geschichtsschreibung. Allerdings wird sich auch der rechte Historiker niemals der idealen Richtung entschlagen: auch er wird in dem geschichtlichen Verlaufe, der ihm vorliegt, die leitende und belebende göttliche Idee zu erkennen suchen; sie wird auch ihm Anfang und Ende sowohl seiner eignen Production sein als der Reproduction, die er auf Seiten des Lesers bezweckt: aber, und darin beruht nun der grosse Unterschied, er sucht und sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über denen sie schwebt, vom Gebiete des Verstandes her, nicht von dem der Einbildung; er verschmäht alles Zuthun der Phantasie und duldet nur die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen Erkenntniss unschädlich ist; er verwirft keine Thatsache, selbst wenn sie die Idee verdunkeln sollte, deshalb, weil sie diess thut; er erfindet keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er auch nichts umzugestalten, sondern er gestaltet und bildet nur nach, was er vorfindet, und eh er es nachbildet, prüft er, ob er auch das Wahre vorgefunden habe. Aber wie gesagt, bei all dieser resignierenden Treue, all diesem rein verständigen Forschen wird er niemals die Idee aus dem Auge verlieren: er wird sich fort und fort wenigstens bemühen, sie mit der unverkürzten Wahrheit zu vereinbaren, sie als den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als ihre Frucht zu erkennen und so die Reihe der Ereignisse, die er vorführt, zu einem Organismus zu verketten, der durch die Einheit einer inneren Nothwendigkeit zusammengehalten und beseelt sei und erst mit Vollendung der Idee selber ende. Ein solches Verfahren ist es allein, das den vielfach missbrauchten Namen pragmatischer Geschichtsschreibung in Anspruch nehmen darf, insofern πρᾶγμα nicht jedwedes bezeichnet, das geschieht, sondern etwas, das geschieht, weil es geschehen muss, und das wirksam ist, weil es geschieht, die volle Wirksamkeit aber und die wahre Nothwendigkeit sich immer nur vom Standpuncte der Idee aus ergeben können. Der Historiker bemüht sich also, die wirkende Idee durch unverkürzte Wahrhaftigkeit der berichteten Thatsachen zur Erscheinung zu bringen: aber nur zu oft ist diese Bemühung eine fruchtlose; nur zu oft erweist sich ihm, sobald er mit den Erfahrungen und Urtheilen des Verstandes sich begnügen will, statt jenes organischen, bloss ein mechanischer Zusammenhang; nur zu oft nicht einmal dieser. Und dennoch darf er, wenn er gewissenhaft ist, die Grenzen nicht überschreiten, innerhalb welcher ihm die Dinge so abgerissen, so ohne Leben und Bedeutung erscheinen. Da zeigt sich denn am herbsten und schärfsten der Contrast zwischen Geschichte und Sage, das Unkünstlerische, das verglichen mit den Anschauungen der erzählenden Dichtkunst denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt: denn die Sage würde mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie jene der Idee widerstreitenden Einzelheiten entweder ganz beseitigen oder unter ihnen den Zusammenhang herzustellen wissen, den der Verstand nicht zu erkennen vermag. Nachdem wir die Epopöie in dem Stufengange ihrer Bildung historisch entwickelt haben, wird es zweckdienlich sein, einen Blick auf das Wesen und die eigenthümlichen Gesetze derselben zu werfen, und was sich in Beziehung darauf aus dem bisher Dargestellten ergiebt, dogmatisch zusammenzufassen. Wir unterscheiden hier, wie schon früherhin zwischen Epopöie im engern Sinne des Wortes und der s. g. Erzählung. Die Epopöie fasst gleich dem epischen Liede die Geschichte nicht historiographisch, sondern mythisch oder sagenhaft, weil es ihr auf die göttliche Idee, und nicht auf Wahrheit, sondern zunächst auf Schönheit ankommt. Während jedoch das Lied auf Eine Begebenheit gerichtet ist, Einen Mythus, Eine Sage darstellt, umfasst die Epopöie eine Reihe von Begebenheiten, breitet sich über einen ganzen Sagenkreis aus. Dabei darf jedoch die Einheit nicht verloren gehn, das Grundgesetz aller künstlerischen Production. Es muss also vor allen Dingen Einheit des geschichtlichen Verlaufes stattfinden: die einzelnen Begebenheiten müssen nicht nur in einem fortlaufenden causalen Zusammenhange, sondern sie müssen auch alle in wirksamer Beziehung auf die belebende centrale Idee stehn; das Gedicht muss mit Thatsachen beginnen, die schon auf die Vollendung der Idee hinarbeiten, muss schliessen, wenn dieselbe vollendet ist, und muss innerhalb nichts enthalten, was nicht als Glied an diesem idealen Organismus thätig sein könnte. Nur so sind Episoden erlaubt: sie mögen die gradaus gestreckte Linie der Begebenheiten unterbrechen: aber sie müssen innerhalb des Kreises liegen, den die Idee beherrscht; es ist sogar ihr Hauptzweck, indem sie jene grade Linie verkürzen, die Ueberschaulichkeit des Verlaufes zu erleichtern und die Einheit der Handlung durch scheinbare Einfachheit noch mehr herauszustellen, wie diess z. B. in der Odyssee (Buch 9 f.) geschieht. Verbunden mit der Einheit des geschichtlichen Verlaufes und das beste, wenn auch nicht das einzig mögliche Mittel, sie zu behaupten, ist die Einheit der Person, d. h. dass von Anfang bis zu Ende Eine Person als die hauptsächliche da stehe, als diejenige, auf deren Geschick in Freude oder Leid alle Begebenheiten sich beziehen. So findet die ganze reiche Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegenüber der innern idealen Einheit auch eine äussere, und eine wird durch die andre um so besser gesichert sein. Die Odyssee und das Nibelungenlied können auch hier als Beispiel gelten. Nothwendig ist diese Einheit aber nicht: es liesse sich eine Epopöie über den trojanischen Krieg denken ohne Einheit der Person und doch mit vollkommner Einheit der Idee und des geschichtlichen Verlaufes, wie ja auch eine solche in der Iliade ist versucht worden, wenn man abrechnet, was daneben eigentlich den Namen einer Achilleis verdient. Noch weniger unumgänglich werden Einheit der Zeit und Einheit des Ortes erfordert. Was zuerst jene betrifft: so gut als die Sage solche Thatsachen fallen lässt, die keine wesentliche Bedeutung haben, eben so gut kann und muss es auch die Sagendichtung, die epische Poesie; darf sie aber Thatsachen überspringen, so steht ihr dasselbe auch bei den Zeiträumen frei, die nur von solchen Unwesentlichkeiten ausgefüllt sind. Die hauptsächlicheren Einheiten, der Idee und des geschichtlichen Verlaufes, werden darunter in keiner Art leiden. Immerhin jedoch ist es gut, wenn zu deren Verstärkung auch noch diese dritte hinzu kommt, und der Verlauf der Begebenheiten auf einem ununterbrochenen Zeitverlaufe ruht; besonders sobald dieser Zeitverlauf noch zu überschaulicher Kürze abgegrenzt wird, geschehe das auch nur scheinbar. In der Iliade freilich dient es der Einheit des geschichtlichen Verlaufes weiter nicht, dass es nur ein Zeitraum von etwa fünfzig Tagen sein soll, innerhalb dessen alles das geschieht: denn jene Einheit ist sonst zu wenig begründet. Wohl aber stimmt es schön zu der sonstigen Abrundung der Odyssee, dass der Verlauf scheinbar nur einen Monat währt: scheinbar, denn eigentlich währt sie zehn Jahr; aber dieser Ueberschuss von Zeit wird mit allem, was darin sich ereignet, episodisch abgemacht. Die Einheit des Ortes sodann ist immer nur eine zufällige, keine wesentliche und nothwendige Consequenz von den Einheiten des Verlaufes und der Zeit; sie mag dienlich sein, wo sie sich ergiebt: zu fordern ist sie nirgend. Wen stört es in der Odyssee, dass die Handlung über die ganze Welt hinschweift? Und wozu hilft es in der Ilias, dass sie auf einen engen Raum festgebannt ist? Es hat demnach die Epopöie das mit aller übrigen Poesie gemein, dass sie das Schöne in Formen der Wirklichkeit als Schönes, d. h. einheitlich anschaut und darstellt; die besonderen Modificationen dieses allgemeinen Gesetzes ergeben sich nur daraus, dass die Wirklichkeit der Epopöie die Geschichte ist. So theilt sie denn auch mit aller Poesie, überhaupt aber mit aller Kunst den Zweck ihrer Darstellung: auch sie geht darauf aus, dass die Anschauungen des Dichters in der Seele des Hörers oder Lesers reproduciert werden. Daraus ergeben sich wieder neue Gesetze und Anforderungen. Einmal für die Darstellung ein nicht zu schnelles Vorwärtsschreiten: je mannigfaltiger die Fülle von Begebenheiten ist, welche das Gedicht begreift, um so nothwendiger ist es, bei jeder zu verweilen und dem Leser Zeit zu gönnen, dass er dieselbe klar und fest in seinem Innern nachbilde: geht die Darstellung zu schnell über die Einzelheiten hin, so bringt er es zu keiner zusammenhangenden einheitlichen Reproduction des Ganzen. Es wird also Ausführlichkeit, es wird eine freilich gemessene Breite verlangt; es kann die eigentliche Erzählung um der Anschaulichkeit willen sogar in die Schilderung hinüberstreifen: nur dass auch die Schilderung den Anschein der Erzählung trage, dass sie historisch eingekleidet werde, dass sie keine ruhig fixierende sei: denn im Stillstand liegt die anschaulich machende Breite nicht, nur im zögernden, langsameren Fortschritt. Sodann hat der epische Dichter zum Behuf eben dieser Reproduction seines reichen Stoffes nach möglichst grosser Objectivität zu trachten: er soll ja keine Schilderung seiner innern Zustände geben, er soll Thatsachen der Aussenwelt erzählen: diese verlieren aber an objectiver Anschaulichkeit in demselben Grade, als er mit seinen subjectiven Gefühlen und Urtheilen sich störend einmischt: wer steht ihm auch dafür, dass seine Gefühle und Urtheile ebenfalls die des Lesers sein werden? Ganz zu vermeiden ist die Subjectivität freilich nicht, wo das Individuum dichtet und nicht mehr die ganze Nation: aber sie soll nur in so weit vorkommen, als sie nicht zu vermeiden ist. Deshalb ist es auch in der Epopöie nirgend recht an der Stelle, dass die Einbildungskraft, dieses Organ der objectiven Anschauung, in Widerspruch gerathe mit Gefühl und Verstand, dass der Dichter, was er erzählt, mit Laune und Spott erzähle, dass er lächerliche Begebenheiten vorführe, ausgenommen wenn dieser Widerspruch durch den weiteren Zusammenhang aufgehoben und ausgeglichen wird; und auch dann darf das Lächerliche immer nur leise, nur behutsam und bescheiden angedeutet sein: sonst stört es gleichwohl die Reproduction. Ein schönes Beispiel von schonender und enthaltsamer Einmischung des Lächerlichen ist in den Nibelungen jene Stelle (Str. 588), wo Gunther von Brunhilden an den Nagel gehängt wird: das Ereigniss gehört nothwendig dahin, um die Persönlichkeit Brunhildens und Gunthers und Siegfrieds zur Anschauung zu bringen; innerhalb des weitern Verlaufes hat es auch nichts Lächerliches mehr: aber der Dichter gestattet sichs nicht einmal vorübergehend, seinem Leser ein spöttisches und schadenfrohes Gelächter aufzudringen. Viel bedenklicher ist eine Persönlichkeit im zweiten Buch der Ilias, Thersites; der Streit der Kunstrichter für und wider seine poetische Zulässlichkeit ist auch immer noch unentschieden: allerdings kommt hier zu der Lächerlichkeit noch die Hässlichkeit, ja sogar das Ekelhafte, und es ist schwer, ein solches Gemisch von Widerwärtigkeiten ästhetisch zu rechtfertigen. Endlich muss, da der Epiker die Formen seiner Anschauungen aus der geschichtlichen Wirklichkeit entnimmt, diese Wirklichkeit auch für den Leser eine solche sein, damit die Reproduction möglich werde: was er erzählen hört, muss er fassen und muss er glauben können. Eine ihm ganz nahe und alltäglich vor Augen liegende Wirklichkeit wird es darum nicht zu sein brauchen, und da das Epos immer aus der altüberlieferten Sage schöpft, auch nicht sein können: aber noch weniger darf sie ihm so fern liegen, dass er sich fremd fühlt unter diesen Personen, unter diesen ihren Thaten und Gesinnungen. Freilich gehörte der ganze Zustand der Civilisation, auf welchem die Ilias und die Odyssee beruhen, für die Griechen in eine weit entlegene Vorzeit: sie fühlten sich aber darum diesen ihren Voreltern noch nicht entfremdet: auch sie waren, wenn schon nicht solche Helden, immer noch heldenmüthig und hatten ungefähr noch die gleiche Art der Kriegsführung und der öffentlichen Volksbelustigungen, wie die Achäer der Iliade und die Phäaken der Odyssee. Sie glaubten auch eben so willig, was von Ares und der Pallas erzählt wurde, als was erzählt ward von Agamemnon und Menelaus; wunderbar und unglaublich war für sie noch nicht eins: ihr ganzes, immer noch lebendes Heidenthum beruhte ja auf jenen Mythen. Nicht anders im Mittelalter. Man war sich keines Unterschiedes bewusst zwischen Geschichte und Sage: kaum die Gelehrten ahnten ihn; Ueberreste der Mythologie mischten sich in das Epos so viel ein, als man noch glaubte; die Helden der Rittergedichte waren Ideale, aber Ideale, die man nicht brauchte für unerreichbar zu halten. Und so fand überall, wo das Epos noch auf sich selbst bestand, der Epiker bei seinen Lesern alle Fähigkeit und Bereitwilligkeit vor, die ihnen dargestellten Anschauungen zu reproducieren. Die wahrgenommenen Gesetze sind zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern von Dichtern beobachtet worden, die sich gleichwohl all dieser Gesetze nicht bewusst waren: es machte sich von selber so ohne Absicht, ohne willkürliches Zuthun der Dichter. Diess giebt uns das volle Recht, sie als organische Gesetze zu betrachten, als solche, die wesentlich und unabänderlich zur Natur des Epos gehören, als Gesetze, nicht als blosse Regeln; giebt uns also auch das Recht, die Epopöien der neueren Zeit mit ihnen zu messen: denn diese liegen ausserhalb solcher historischen Entwicklung, auf deren Grunde sich Gesetze bilden können; und was noch mehr ist, all die einzelnen neueren Epiker haben jene älteren bewusster Massen als Norm und Vorbild vor Augen gehabt. So bleibt in Bezug auf sie eigentlich nur die Frage, ob sie jene Gesetze richtig verstanden und richtig angewendet und die Muster richtig nachgebildet haben. Die alten Epiker, die sich überall an die Sage anlehnen, mischen bei der engen Verkettung von Sage und Mythus überall auch die Mythologie in ihre Dichtungen ein: bei Homer, wie nach ihm bei Virgil nehmen die Götter ihren Antheil an der Handlung, und auch in den Epen des Mittelalters fehlt es nicht an der Einwirkung solcher märchenhaften Wesen, des Ueberrests der altgallischen und der altgermanischen Mythologie. So finden wir z. B. im Nibelungenlied Zwerge, Riesen und Nixen. Nach diesem Beispiel haben es denn auch die neuern Epiker für ihre Pflicht gehalten, den Raum über und unter dem Boden, auf welchem ihre Darstellung sich bewegt, mit übermenschlichen und göttlichen Wesen zu bevölkern: entweder sind es solche, die sie aus dem alten Heidenthum und Aberglauben herübernahmen, wie die Epiker des siebzehnten Jahrhunderts griechische Götter und Göttinnen, und neuere, wie Wieland, Feen und Elfen; oder solche, die sie selber erst erfanden, wie Milton im verlorenen Paradies und nach ihm Klopstock im Messias Engel und Teufel, die ohne alle biblische und kirchliche Autorität nach Rang und Stand geordnet und jeder eigens benannt sind, oder wie Voltaire in der Henriade und Andre personificierte Tugenden und Laster. Sie meinten, dergleichen gehöre zum Epos, sie meinten es darin ihren Vorbildern gleich zu thun: aber wie ungehörig war das vielmehr Alles, und wie sehr musste es ihren Schöpfungen schaden! Wenn die Dichter des Mittelalters von Feen, Griechen und Römer von Göttern erzählten, so fanden sie den Glauben daran bei ihren Lesern vor; so waren das Gestalten, die für diese von vorn herein lebendige Wirklichkeit besassen, und die deshalb eben so leicht in die Reproduction übergiengen als die Menschen, auf deren Geschick jene göttlichen Wesen hilfreich oder feindselig einwirkten. Ganz anders aber steht es bei uns: wir glauben nicht mehr an Feen und Elfen; an Jupiter und Juno haben wir niemals geglaubt; die Personificationen der Henriade sind weder für uns, noch für sonst wen irgend einmal eine Wirklichkeit gewesen; an einer uns aufgedrungenen Hierarchie von Engeln und einer Monarchie von Teufeln nehmen wir billigerweise Anstoss. Und dennoch sollen wir dem Dichter reproducierend entgegen kommen; wir sollen Anschauungen, die für uns keine Wirklichkeit besitzen und auch keine besitzen können und dürfen, wir sollen Fictionen, an die er selber kaum oder gar nie geglaubt hat, dennoch in uns eine Wirklichkeit geben. So haben jene Dichter in der besten Absicht von vorn herein Ziel und Zweck aller Kunst, die Reproduction, selbst vernichtet, haben in ihre Dichtungen nur ein halbes Leben und selbst den Keim des Todes gelegt. Die einzige Mythologie, deren Gebrauch jetzt noch dem Epiker verstattet ist, weil er bei ihr allein noch auf Reproduction rechnen darf, ist die christliche Mythologie, wie die Legende sie gewährt. Zwar findet auch diese nicht bei allen Confessionen den gleichen Glauben: aber doch liegt dem Protestanten ein Mythus der Katholiken nicht so fern, als dem Christen ein Mythus der Heiden liegt; hat für ihn die Legende auch keine Wirklichkeit, so hat sie doch, da ja die Katholiken nicht minder Christen sind, die Möglichkeit derselben; und so wird er sich gern zur Reproduction verstehn. Es ist in Herders Cid schwerlich für irgend Jemand störend, dass, wie im spanischen Original, so nun auch in dieser deutschen Nachbildung, die Apostel Petrus und Jacobus auf wunderbare Weise in die Handlung eingreifen: ein etwas älterer Dichter würde vielleicht die Genien des Ruhms und der Tapferkeit, ein noch älterer diese und jene griechische oder römische Gottheit an ihre Stelle gesetzt und damit alle Poesie über den Haufen geworfen haben. Es ist aber nicht bloss der Gebrauch der Mythologie, worin unser Epos so beschränkt ist. Was noch mehr bedeutet, auch das Gebiet der Sage ist ihm benommen. Denn wir haben keinen Sagenkreis mehr, über den hin sich das Epos breit und ruhig lagern könnte: wir haben nur noch vereinzelte Sagen, die vielleicht eine Ballade, niemals aber ein Epos füllen. Was ist da nun zu thun? Ein Zurückwandern aus allen Bedingungen der Gegenwart auf den in Zeit und Raum und Nationalität entlegenen Boden, der die Epopöien des Alterthums und des Mittelalters trägt, ist freilich schon öfters versucht worden, z. B. von Rückert in Nal und Damajanti, in Rostem und Suhrab, von Simrock in Wieland dem Schmied, hat aber auch jedesmal in die Irre geführt: denn je epischer, also je objectiver nun der Dichter seinen Stoff anschaut und darstellt, desto fremdartiger wird er für uns; desto mehr fühlen wir, wie aller Zusammenhang zwischen jener Zeit und der unsrigen, zwischen jenem Volk und dem unsrigen abgeschnitten sei; desto mehr gewahren wir, wie wir den Weg in jene Welt nur noch an der Hand der Gelehrsamkeit, nicht aber an der Hand der Poesie mehr finden können; desto weniger sind wir im Stande, die Productionen des Dichters zu reproducieren. Da wir also selbst keinen Sagenkreis mehr besitzen, die alten und fremden Sagen aber für uns unwirklich sind, so bleibt uns nur noch die Geschichte und die Erfindung, d. h. unsre Epopöie ist aus dem alten Erblande exiliert und in Länder verwiesen, welche die alte Epopöie niemals betreten hat. Das wäre kein Schade, wenn der Tausch nur ein minder ungünstiger wäre. Aber abgesehen von dem einzigen historischen Stoffe, der schon an sich selbst und ohne Zuthun des Dichters mit der höchsten göttlichen Idee auch die grösste Fülle der Poesie in sich trägt, dem Stoffe von Klopstocks Messias, liegt einmal alle Geschichte ausserhalb des Bereichs der Dichtung: sie ist Sache der Prosa und wird erst dann für die Poesie tauglich, wenn der Kern der göttlichen Idee in ihr erkannt und sie zur Sage ist umgestaltet worden. Zugegeben nun, aber nicht zugestanden, dass auch ein einzelner Dichter unserer Zeit diess vermöge, dass es in der Kraft und in der Macht eines Individuums unsrer Tage liege, die Geschichte sagenhaft-idealisch umzubilden: so giebt es auch dann wieder einen doppelten Anstoss und Widerstand. Gehört die Geschichte in entlegnere Zeit und Nationalität, so wiederholt sich, was vorher gegen die Erneuung alter Sagen ist eingewendet worden: die Anschauungen werden uns fremd sein, und es wird der Gelehrsamkeit bedürfen, um die Reproduction vorzubereiten: um eine so vorbereitete Reproduction ist es aber übel bestellt. Oder die Geschichte liegt uns nah, und wir sind wohl befreundet und fühlen uns verwandt mit solchen Characteren und Sitten und Ereignissen. Dann aber wird mehr als Einer, wie wir einmal für die Sage nicht mehr eingerichtet sind, sich an dieser unhistorischen Auffassung stossen und sich wieder deshalb nicht zur Reproduction verstehen wollen. Indessen ist dieser Uebelstand allerdings der kleinere, und ein Dichter braucht kaum darauf zu achten. Von diesem Felde her dürfen wir noch am ersten wieder Epopöien erwarten. Fände sich nur erst ein Dichter, wie Napoleon ein Held war, so hätte er an diesem auch ein Object so grossartig, wie das der Ilias und das der Nibelungen. Ausser den historischen Stoffen sind dann unsern Epikern noch erfundene vergönnt. Es mangelt an dergleichen Epopöien nicht: aber diese sind am öftesten verfehlt: es ist auch kein Verfahren so bedenklich als dieses. Denn es erfordert die grösste poetische Kraft, um dem Leser ein Interesse abzugewinnen für Ereignisse, die ihm und Jedem neu, für Personen, die ihm bis dahin unbekannt gewesen sind: eine Kraft, welche berufen wäre, sich auf die höchsten Ideen zu richten. Aber es haben sich bisher auch meist nur mittelmässige Dichter auf solche Epen eingelassen: so Ernst Schulze in der Caecilie und in der bezauberten Rose. Göthens Hermann und Dorothea kann hier nicht wohl eingewendet werden. Einmal schon das im Vordergrunde sich bewegende Hauptereigniss dieses Epos ist keine Erfindung des Dichters, die Motive dazu sind aus einem ältern Buche entnommen, das die Geschichte der im Jahre 1732 vom Erzbischof in Salzburg vertriebenen Protestanten erzählt: indess davon müssen wir absehen; denn diess ältere Buch kennt so gut wie Niemand, so dass für uns das alles die Bedeutung des neu Erfundenen besitzt. Aber es kommt hier auch noch der Hintergrund in Betracht, der jene Darstellung hält und trägt und ihr die Localfarbe giebt, die historischen Ereignisse, aus denen jene poetischen sich als einzelne Gruppe herauslösen. Und diesen historischen Hintergrund, welcher der ganzen Dichtung so wesentlich ist, hat der Dichter nicht erfunden, sondern der lebendigen Wirklichkeit seiner Zeit, der französischen Revolution, nachgestaltet. Jetzt bleibt uns noch von den komischen Epopöien zu sprechen. Schon oben (S. 80) ist erwähnt worden, wie die alte Poesie sich die Einmischung des Komischen in umfassende Epen wo nicht versage, doch aus guten Gründen nur höchst selten gestatte und dabei jedesmal mit behutsamer Schonung verfahre; wie aber eine eigentliche Durchführung desselben bloss in solchen Dichtungen vorkomme, die bei ihrem geringeren Umfange die Reproductionslust des Lesers nur für kurze Zeit in Anspruch nehmen, also nicht in Epopöien, sondern bloss in Erzählungen. Anders ists in der neuern Epik, aber darum nicht besser. Nicht bloss, dass es Dichter giebt, welche ihrem Stoff die ernste Behandlung, die ihm eigentlich gebührte, immer und immer wieder entziehen, wie Pulci im Morgante und Wieland im Oberon, wo der Leser einmal übers andremal denselben Helden belachen soll, für den doch sonst die ernsteste und innigste Theilnahme angesprochen wird: nicht bloss also, dass es epische Dichter giebt, welche sich die unstatthafteste Einmischung des Lächerlichen dennoch gestatten, giebt es sogar noch solche, die überhaupt nur auf das Lächerliche ausgehen, deren Helden nicht bloss vorübergehend thöricht erscheinen, wie Wielands Hüon, sondern von Anfang bis zu Ende die ganze Epopöie hindurch nichts anrichten als Thorheiten und Narrheiten. Deutschland besitzt dergleichen Gedichte seit Friedrich Wilhelm Zachariä, der 1742 ein komisches Epos, der Renommist betitelt, dichtete (LB. 2, 649). Das grosse Verdienst jedoch, diese neue Richtung überhaupt aufgebracht zu haben, muss man andern Nationen lassen, zuerst wohl den Italiänern: unter diesen ist besonders Francesco Berni hervorzuheben, der im sechzehnten Jahrhundert Bojardos Orlando innamorato travestierte. Den nächsten Anstoss erhielt Deutschland durch den Lockenraub (1711) des Engländers Alexander Pope. Gewöhnlich steht die komische Epik zu der ernsthaften näher oder entfernter noch in dem Verhältniss der Parodie: sie sucht deren Art und Weise in Anschauung und Darstellung lächerlich zu machen, indem sie dieselbe als Mittel zu den nichtsnutzigsten Zwecken gebraucht: um eines Zopfbandes willen wird der ganze Olymp aufgeboten, und in eben derselben pomphaften Breite, womit Homer die Kämpfe Hectors erzählt, wird nun eine Studentenschlägerei berichtet. Manche gehn in der Parodie noch weiter und schliessen sich damit enge an ein einzelnes älteres Epos an, aus all dessen grossen Ereignissen sie nun nichts als lächerliche Lumpereien machen: so Aloys Blumauer in seiner Travestie der Aeneide. Ein komisches Epos der deutschen Litteratur, dem diese parodische Beziehung durchaus fehlt, und das insofern den Vorzug vor Allen verdienen möchte, weil es nun eine Dissonanz weniger hat, ist die 1784 erschienene Jobsiade von Karl Arnold Kortüm. Aber es hat doch nur eine Dissonanz weniger: denn eine andre unaufgelöste bleibt, und diese theilen alle komischen Epopöien mit einander, dass man nämlich Tausende von Versen, dass man eine ganze Reihe von Gesängen hindurch zu Reproductionen genöthigt wird oder soll genöthigt werden, bei denen Verstand und Gefühl mit der angeschauten Wirklichkeit sich in Widerspruch befinden. Der letzte Erfolg einer solchen Dichtung ist der, aus der Seele des Lesers eine dumpfe Leere gemacht zu haben: denn in dem langen Conflicte reibt sich endlich eine Kraft an der andern auf. Zum Glück gelingt es aber unsern komischen Epikern nur selten, uns so zur Reproduction hinzureissen. Von der Epopöie haben wir die Erzählung unterschieden. Da bei dem einfacheren Inhalt und dem kleinern Umfange einer solchen die reproducierende Thätigkeit des Lesers nicht für so lange Zeit und auf so mannigfaltige Weise beschäftigt wird, als bei der reicheren, weiter hin sich ausdehnenden Fülle von Ereignissen, die der Epopöie eigen ist, so steht hier auch dem Dichter Manches frei, was ihm in einer Epopöie entweder gar nicht oder nur in sehr beschränkter Weise gestattet wäre. Hier genügt allenfalls auch ein geringerer Grad von Objectivität: denn der Leser kann die Anschauung doch bewältigen; er lässt sich willig zu Spott und Laune verleiten: denn die Dissonanz dauert nicht gar zu lange; er nimmt mit Anschauungen vorlieb, die der Dichter aus der nächsten Wirklichkeit oder gar aus seiner Phantasie geschöpft hat, denen es daher an ausgereifter Kraft der Idee gebricht: um so schneller kann er daran vorübergehn. Alles das ist dem Dichter einer Erzählung erlaubt: aber es gehört nicht grade zum Wesen derselben: sie kann eben so wohl ernst und tief idealisch sein, wie namentlich da, wo sie ihre Anschauungen aus der christlichen Mythologie entlehnt, wo sie Legende ist, oder sich Legende und Sage mit einander mischen, wie z. B. im armen Heinrich Hartmanns von Aue. Bei jener Freiheit erklärt es sich, warum die grosse Fülle solcher Gedichte, die wir seit Hans Sachs und Friedrich von Hagedorn besitzen, sich getrost neben die des Mittelalters stellen darf, während das neuere Epos gegenüber dem älteren so vielen einschränkenden Bedingungen unterliegt, dass es ihnen eigentlich schon unterlegen ist. Bisher haben wir die Weiterbildung des alten epischen Gesanges auf dem epischen Gebiete verharren sehn. Nun werden wir gewahren, wie derselbe theilweise auf das Gebiet der Lyrik hinübergeleitet und damit die Ausbildung der letztern als einer eignen Gattung angebahnt und vermittelt wird. Diese vermittelnde Anbahnung der Lyrik ist die Epik des Gefühles und Gemüthes. Bei den Griechen ward der Grund zu einer solchen Mittelstufe schon in sehr früher Zeit gelegt. Schon vor Homer bestand neben den epischen Liedern, die täglich und überall konnten gesungen werden, eine Art epischer Gelegenheitspoesie: es gab Dichtungen, die nur auf bestimmten Anlass hin zuerst verfasst, und nur, wenn dieser Anlass etwa wiederkehrte, durch wiederholte Anwendung erneuert wurden. Es waren diess die Hymnen und die Threnen ( θρῆνοι ), religiöse Preisgesänge und Klagelieder: jene zu Ehren einem Gott, diese einem Verstorbenen; jene an religiösen Festen, diese bei Begräbnissen, oder wo sonst eine Gelegenheit sich darbot, eines Gottes mit preisendem Jubel, eines abgeschiedenen Menschen mit Lob und Trauer zu gedenken. So die klagenden Gesänge, welche Andromache, Hecabe und Helena an der Leiche Hectors anstimmen: Il. 24, 716 fgg. Die Beziehung auf die einzelne Feierlichkeit, auf das vorliegende Ereigniss brachte es ganz natürlich mit sich, dass neben den Wundern des Gottes, neben den Thaten des Menschen, die man erzählte, man auch den Gefühlen, welche die Feierlichkeit anregte, Worte gab; dass man dort die religiöse Empfindung, hier die Betrübniss aussprach; dass man also dem objectiv angeschauten Stoff eine reflectierende Richtung auf das Subject verlieh, dass man die Thatsachen der äussern Wirklichkeit in Verbindung setzte mit den innern Zuständen, kurz, dass man dem epischen Gehalt noch ein lyrisches Element beimischte. Anfänglich zwar war diess letztere sehr gering und nahm eine durchaus untergeordnete Stelle ein. Das zeigen am deutlichsten die s. g. Homerischen Hymnen, die anerkannter Massen jünger sind als die letzte Abfassung der Ilias und der Odyssee, und in denen gleichwohl das Lyrische sich immer noch einschränkt auf einige das Lob der Gottheit allgemein aussprechende Zeilen zu Anfange und ein kurzes Gebet zum Schluss, während alles Uebrige rein episch erzählend ist. Sie haben auch noch die gewohnte epische Form, den Hexameter, sowie die epische Sprache der Ilias und der Odyssee, und diess reichte früher hin, um Homer als den Verfasser zu bezeichnen. Späterhin jedoch, je mehr sich die Poesie ihrem epischen Grunde entfremdete, je mehr sie Sache des Individuums ward, desto mehr breitete sich auch der lyrische Zusatz aus; und zwei Arten solcher Gelegenheitsdichtung, der Päan und der Dithyrambus, die ursprünglich nur von den beiden Göttern preisend erzählt hatten, deren Namen sie tragen, von Apollo und Bacchus, entäusserten sich endlich dieser mythisch-epischen Beziehung gänzlich und traten als Gesänge des Jubels und der Begeisterung überhaupt vollkommen in den Bereich der Lyrik über. Den Threnen der Griechen entsprechen in der römischen Litteratur die Nenien (Neniae, Naeniae), nur sind es nicht gerade Klagelieder wie die θρῆνοι , sondern vielmehr Lieder zum Lobe der Hingeschiedenen; sie wurden bei Leichenbegängnissen und Gastmälern zur Flöte gesungen. Vgl. Niebuhr, Röm. Geschichte (1853) S. 146. Auch in der Litteratur der Hebräer finden wir schon in sehr frühen Zeiten solche lyrisch-epische Dichtungen, wie die Hymnen oder die Threnen oder die Nenien. Es sind Lobgesänge Gottes, Klage- und Preislieder auf Verstorbene u. dgl. Der Hauptsache, dem Grund und Kern nach sind sie episch, die Lyrik tritt nur hinzu als Ausdruck des durch die Facta angeregten momentanen Seelenzustandes. So die Lobgesänge Moses, der erste nach Durchziehung des rothen Meeres (Exod. 15), der zweite am Ende des vierzigjährigen Wüstenzuges (Deuteron. 32); so ferner das Lied der Richterin Debora nach dem Siege über Sisera (Judic. 5). So auch noch mehr als einer der Davidischen Psalmen, z. B. Ps. 18 = 2 Sam. 22, „ein Lied, das David redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner Feinde und von der Hand Sauls“; sodann 1 Chron. 17 ein Lied, das David bei der Einholung der Bundeslade singen lässt und einen Rückblick auf Israels frühere Geschichte enthält. So endlich auch viele nachdavidische Psalmen aus der Zeit des Exils und nach dem Exil. Diesen Lobgesängen steht als θρῆνος gegenüber das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan: 2 Sam. 1 (vgl. 1 Kön. 13, 30). Der Vortrag solcher lyrisch-epischen Dichtungen geschah auch bei den Israeliten ganz nach der constanten, schon geschilderten Weise der altepischen Zeit: der Gesang war mit Instrumentalmusik und Tanz verbunden. So werden die Siegesloblieder auf Saul und David von tanzenden und musicierenden Weibern gesungen: 1 Sam. 18, 6. 7, und bei jener Einholung der Bundeslade nach Jerusalem tanzte David selbst mitten unter dem Volke vor dem Heiligthum her: 2 Sam. 6, 14 = 1 Chron. 16, 29. Auch Judith 15. 16 kann hier als Beleg angeführt werden. Wir stellen neben die Poesie des Alterthums die der modernen Völker. Da sehen wir noch deutlicher als dort, wie eng und unmittelbar sich die lyrische Epik an den alten epischen Gesang anschliesse, und wie damit ein nur halber Schritt vorwärts gethan sei nach der eigentlichen Lyrik hin. Es giebt noch jetzo Völker, die immer noch nicht über diesen halben Schritt hinaus gekommen sind, die immer noch keine eigentliche Lyrik besitzen, sondern nur epische und lyrisch-epische Lieder: epische, welche sich bloss auf äussere Thatsachen richten; lyrisch-epische, welche die äusseren Thatsachen mehr nur als Motiv und Fundament für die Darlegung innerer Zustände gebrauchen, in welchen der epische Stoff wohl sogar erst erfunden wird, um einen Anknüpfungspunkt für die lyrische Empfindung zu gewähren. Solche Völker sind namentlich die Littauer und die Serben. Und zwar haben die Serben schon mehr dergleichen lyrisch-epische Dichtungen als die Littauer, weil sie in der Civilisation schon etwas weiter vorgeschritten sind, während die Littauer durch ihren geringeren Grad von Bildung mehr auf der alten bloss epischen Stufe zurückgehalten werden. Aber des epischen Grundes können auch die Serben noch immer nicht entbehren: z. B. rein lyrische Liebeslieder findet man da nirgend, sondern es wird etwa von zwei Liebenden erzählt; die Erzählung mag sich auf eine einzige epische Situation einschränken ohne weiter ausgedehnten Verlauf: aber wenigstens eine epische Situation muss vorhanden sein, und daran erst entfaltet sich die Anschauung und Darlegung innerer Zustände; jedoch nicht in lyrischer, sondern selbst diese immer noch in einer gewissen epischen Haltung, z. B. in Gesprächsform. So sehen die lyrisch-epischen Lieder der Serben oft nur aus wie Trümmer und Bruchstücke grösserer, mehr ausgeführter epischer Gesänge, nur dass in ihnen die innern Zustände auf eine Weise berücksichtigt und hervorgehoben sind, von der das reine Epos nichts weiss Beispiele bieten die Dainos oder littauischen Volkslieder, gesammelt, übersetzt und herausgegeben von L. J. Rhesa (Neue Auflage. Berlin 1843) S. 48. 145 und die Volkslieder der Serben, metrisch übersetzt von Talvj 1, 38. 67; 2, 14. 68. . Bei uns Deutschen ist die lyrisch-epische Dichtung durch zweimalige Wiederholung ähnlicher Umstände auch in zwei verschiedenen Epochen aus dem Epos hervorgegangen. Zuerst im zwölften Jahrhundert, als der altepische Gesang entschwand, und die Epopöie an seine Stelle rückte: da begann sich neben dieser Epik der Einbildung in dem früher besprochenen Stufengange auch die Lyrik zu entwickeln; aber eben nur noch zu entwickeln: sie stand nicht gleich fertig da, sie ward erst eingeleitet; und die einleitende, vermittelnde Zwischengattung war eben die lyrische Epik. Wir finden, eh uns gegen Ende des zwölften Jahrhunderts die vollständige Lyrik entgegentritt, vorher um die Mitte desselben Lieder ganz in der Art und Weise der soeben besprochenen serbischen: äussere epische Situationen, eine oder mehrere eng zusammenhangende Thatsachen, und daran geknüpft, darauf sich beziehend innere Zustände, wie sie weiterhin das ausschliessliche Gebiet der Lyrik sind; jetzt aber nur noch innere Zustände der Person, welche Object der Erzählung ist, nicht des Dichters. So z. B. ein Lied Dietmars von Aist (LB. 1 4 , 221. 1 5 , 399): Zum Eingang eine kurze epische Erzählung: „Eʒ stuont ein frowe alleine und warte uber heide und warte ir liebes: sô gesach si valken fliegen“. Darauf mit einer schnellen und leichten Wendung die lyrische Exposition dieses epischen Motivs: ein Selbstgespräch eben dieser Frau legt ihre inneren Zustände dar, aber mit Beziehung auf jene äussere Thatsache und auf Veranlassung derselben, indem sie zunächst sich mit dem Falken vergleicht: „Sô wol dir, valke, daʒ du bist! du fliugest, swar dir lieb ist; du erkiusest dir in dem walde einen boum, der dir gevalle. Alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selben einen man; den erwelten mîniu ougen. daʒ nîdent schône frouwen“. u. s. f. Dergleichen episch gestaltete, lyrisch gefärbte Dichtungen waren es, aus denen bald darauf die eigentliche Lyrik hervorgieng. Und damit war dann für einige Zeit die lyrische Epik wieder beseitigt. Als aber mit dem eigenthümlichen Leben und Glauben des Mittelalters auch die epische Epik, die aus ihnen ihre Nahrung gezogen hatte, dahin starb, im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, da erstand mit diesem neuen Untergange der epischen Poesie auch von neuem die lyrische Epik, und es gab wiederum Verknüpfungen epischer Motive und lyrischer Ausführung, wie dort im zwölften Jahrhundert. Nur gestaltete sich die Sache jetzt doch anders als damals: denn sie war auch das Ergebniss ganz andrer Verhältnisse. Die lyrisch-epische Poesie des zwölften Jahrhunderts war nur ein vorübergehendes Mittelglied zwischen der alten Epik und der neuen Lyrik gewesen: sie schaute als solches mit zwei Antlitzen zugleich vorwärts und rückwärts; sie hatte noch ihr Theil von der alten Epik und schon ihr Theil von der neuen Lyrik. Die lyrische Epik aber von 1400 bildete keine dergleichen Uebergangsstufe, bereitete und verkündigte nichts neues: sie war nur ein Nachlass und Ueberrest, vor ihr zwei Jahrhunderte schon voll Epopöien und lyrischer Dichtungen. In der neueren lyrischen Epik liegen die beiden Elemente nur selten so sauber gespalten neben einander da, vielmehr verschwindet gewöhnlich das Lyrische vor dem Epischen oder das Epische vor dem Lyrischen beinahe ganz. Diese letzte Umgestaltung des epischen Nationalgesanges besteht noch bis auf den heutigen Tag, aber auch sie schon längst wieder sterbend und absterbend: es sind die deutschen Volkslieder. Denn der Gegensatz zwischen gelehrter und volksmässiger Poesie, der schon im zwölften Jahrhundert begonnen hatte, vollendete sich zu immer grösserer Schärfe, je mehr die geschmacklose Gelehrsamkeit und Gelehrtthuerei der Gebildeten und Halbgebildeten zunahm; und je unheimlicher es der Poesie unter den Doctoren und Handwerksmeistern ward, desto froher war sie, noch eine Zuflucht zu finden bei den fahrenden Schüleru und Gesellen, den Hirten, den Jägern, den Landsknechten. Hier aber empfieng sie die Gestalt, welche die gegebenen Verhältnisse nothwendig mit sich brachten: diese Leute befanden sich mitten in der allgemein vorgerückten Civilisation immer noch in einem Zustande, der näher an den früheren einfachen Naturzustand, aus welchem das altepische Lied erwachsen war, als an die neue Bildung grenzte; gleichwohl waren sie, wenn auch nur fernab, von Civilisation umgeben; ganz unberührt von der Epik und der Lyrik der Gelehrteren konnten sie nicht geblieben sein: und so ergab sich denn jene schon vorher bezeichnete neue Mischung beider Arten. In mehreren Stücken aber treffen diese Lieder unsers gemeinen Manns genau überein mit den Nationalliedern der grauen Vorzeit. Einmal, dass auch ihr Inhalt stäts ein ganz einfacher ist, Ein Ereigniss, Eine Hauptbegebenheit, nicht deren viele zu einer fortlaufenden Reihe aneinander gekettet, wie in der Epopöie. Sodann dass sie gleich jenen auch keine Verfasser haben, dass sie vollkommenes Gemeingut und darum eine gemeinsame Schöpfung des ganzen niederen Volkes sind. Zuerst freilich sind sie immer von Einem ausgegangen: aber schon dieser Eine dichtete nicht als Einer, sondern als Glied eines grösseren Ganzen; und dieses grössere Ganze arbeitete sofort dem ersten Schöpfungswurfe nach. Wir können manche noch lebende Volkslieder durch eine Reihe von Textes-Recensionen mehr denn drei Jahrhunderte weit zurückverfolgen, und da zeigt sich denn, wie im Verlauf der lebendigen Ueberlieferung und Fortpflanzung durch den Gesang (denn auch diese gilt hier wie beim ältesten Epos, und der Druck ist nur ein untergeordnetes Hilfsmittel), wie im Verlauf der mündlichen Ueberlieferung auch der Text leise und allmählich nach Zeit und Ort sich umgestaltet hat; wie dasselbe Lied, weil eben das ganze Volk überall und immerfort daran dichtet, ein andres ist im sechzehnten, ein andres im neunzehnten Jahrhundert, ein andres in der Schweiz, ein andres in Schlesien, und doch allemal im Grunde dasselbe. Ein bemerkenswerthes Beispiel giebt die Vorrede zu LB. 2, S. 8. 9. Eben solche lyrisch-epische Volkspoesie gegenüber der Epik und Lyrik der Gelehrten und Gebildeten finden wir auch bei allen übrigen civilisierten Völkern. Es wird zweckdienlich sein in dieser Beziehung hier die Schweden und Dänen, dort die Engländer und Schotten, dort endlich die Spanier vorübergehend ins Auge zu fassen. Bei den Schweden und Dänen zeigt sich in dem grossen Vorrath von schönen und bedeutsamen Volksliedern, welche sie besitzen, das lyrische Element meistens auf eigenthümliche Weise von dem epischen abgesondert. Die grössere Masse des Liedes ist da durchaus episch; von Strophe zu Strophe schreitet in dem rechten Verlauf der einzelnen Thatsachen die Handlung vorwärts, oft noch mit derselben energischen Hast, wie sie dem ältesten Epos eigen war, und gewöhnlich so, dass sie von Reden und Zwiegesprächen der Handelnden characteristisch begleitet wird, was gleichfalls schon als besondre Eigenthümlichkeit der altepischen Poesie grade des Nordens ist bezeichnet worden (S. 63). Das Lyrische aber liegt mehr ausserhalb des Gedichtes, indem es in den Refrain verwiesen, also eingeschränkt ist auf eine oder zwei Zeilen, die hinter allen Strophen, sei das Lied auch noch so lang, regelmässig und gleichmässig wiederkehren. Erst hier wird, meistens in abgebrochenen, halb räthselhaften Worten, die Beziehung ausgedrückt, in welcher die erzählten Thatsachen zu dem Gemüthe des Erzählenden stehn; hier erst erhält man zu dem Object der äusserlichen Wirklichkeit auch den inneren Zustand des dichtenden und singenden Subjectes. So z. B., wenn durch schwedische Lieder, die eine leidvolle Liebesgeschichte erzählen, sich als Refrain die Worte hindurchziehn: „Mich dünkt, es ist schwer zu leben“ oder: „Doch ich weiss, der Kummer ist schwer“ oder: „Doch Keiner kann den Kummer vertreiben“ Vgl. Altschwedische Balladen, Märchen und Schwänke sammt einigen dänischen Volksliedern. Uebersetzt von Gottl. Mohnike (1836) 74. 93. 151. . Die Volkslieder der Engländer und der Schotten im Niederlande pflegen das Lyrische nicht so bloss äusserlich neben das Epische hinzustellen, sondern es enger und inniger mit demselben zu verschmelzen, jedoch so, dass bei weitem der stärkere Accent auf dem Epischen ruht. Die Erzählung geht in raschen und grossen Schritten bis zum Abschluss vorwärts; immer nur Ein Ereigniss mit seinen Motiven und in seinem thatsächlichen Verlauf. Das Lyrische aber zeigt sich, wo es eingreift, wiederum nicht sowohl darin, dass der Dichter seine innern Zustände darlegt und die erzählten Thatsachen in Beziehung bringt auf seine Subjectivität, als vielmehr in kurzer Andeutung der innern Zustände jener Personen selbst, welche Object der Anschauung sind, in fliegender Bezeichnung der Gemüthsbewegungen, die mit den äusseren Thatsachen als Motiv oder Erfolg in unmittelbarer Verbindung stehn. Damit grenzt das schottische Volkslied aufs nächste an die Weise des altepischen Gesanges, nur dass in dem letztern solche innere Motive als Rede und Gespräch erscheinen, sich also gewissermassen auch zu äusseren Thatsachen objectivieren, während dort die innern Motive auch nur als solche aufzutreten pflegen. Vollendet aber und zugleich zum Gipfel und bis zur Grenze geführt ist die lyrische Auffassung, wenn eine episch objectivierte Person aus ihrem innern Zustande heraus selber die Thatsachen als vergangene und geschehene erzählt, welche zu dieser ihrer Gemüthsstimmung die causale Grundlage bilden. Das schönste Beispiel dieser Art ist das durch Herders Verdeutschung bekannt gewordene Lied von Edward dem Vatermörder (LB. 2, 935): die Rede schreitet, dialogisch belebt, vorwärts als Ausdruck eines innern Zustandes, und die That liegt dahinter zugleich als Motiv dieses Zustandes und als Gegenstand dieser Rede. Ganz ähnlich ein deutsches Lied bei Uhland „Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder“ S. 272. Die englische Benennung solcher lyrisch-epischen Gedichte ist ballad, eigentlich wie das provenzalische balada und das italiänische ballata s. v. a. Tanzlied; was dann auf die alte Vereinigung von Poesie, Musik und Tanz zurückweist. Wir stellen den Balladen der Engländer und Schotten die Romanzen der Spanier gegenüber. Romance (eigentlich die romanische Volkssprache, und was darin abgefasst ist), so nennen die Spanier jedwedes erzählende Gedicht von einfachem Inhalt und geringerem Umfange; und nach diesem Vorgange bezeichnet auch Frankreich seine Lieder mit demselben Namen. Wir haben aber zwei Arten von Romanzen zu unterscheiden. Entweder sind es rein epische Lieder, ganz in der ältesten Weise, etwa auch mit einem die Thatsachen begleitenden oder sie vertretenden Dialog. Oder lyrisch-epische. Diese bald so, wie die Gedichte der Serben und die der Deutschen des zwölften Jahrhunderts: zuerst eine abgerissene epische Situation, darauf innere Zustände lyrisch entfaltet; aber Zustände nicht des dichtenden Subjectes, sondern des Objectes der Dichtung; so dass also auch hier die Individualität des Dichters noch nicht bis zur Schilderung eigener Gemüthsregungen um sich greift, sondern sich derselbe ─ und das liegt der altepischen Weise näher ─ noch in die Seele der angeschauten Individualität versetzt. Bald auch so, wie jenes schottische Lied: die ganze Anschauung objectiviert in Form eines Gespräches oder Selbstgespräches, das sich erzählend vor die causalen Thatsachen hinstellt Vgl. Grimm, Silva de romances 242. 261. 312. Geibel und Schack, Romanzero der Spanier und Portugiesen 106. 154. 156. . Man sieht, dass zwischen Romanzen und Balladen kaum ein weiterer Unterschied besteht als der des Namens; ausserdem noch ein Unterschied der metrischen Form. Bekanntlich pflegen Romanzen in trochäischen Tetrametern abgefasst zu sein, die fortlaufend alle zusammen assonieren; die Balladen in Strophen, meistens vierzeiligen. Seit mehreren Menschenaltern giebt es nun auch deutsche Romanzen und Balladen: Romanzen, seitdem zuerst Gleim französische, Balladen, seitdem Bürger englisch-schottische Dichtungen dieses Namens theils durch Uebersetzung, theils durch freie Nachbildung auch nach Deutschland verpflanzt hat; bald darauf ward durch die romantischen Dichter, die sich unmittelbar an die Spanier wendeten, der Name der Romanze noch einheimischer gemacht, und zugleich auch die ursprüngliche Form derselben, die assonierenden trochäischen Tetrameter, eingeführt. Dichter und Theoretiker befinden sich bei dieser Doppelbenennung in fortwährender Verlegenheit. Göthe selbst nennt seine lyrisch-epischen Dichtungen nur Balladen; manche jedoch, die diesen Namen oder den der Romanze gleichfalls tragen könnte, steht unter den Liedern. Auch Schiller bedient sich eben jenes Ausdruckes; bei zwei Gedichten zieht er, ohne dass ein Grund der Abweichung nur zu ahnen wäre, den Titel Romanze vor, beim Kampf mit den Drachen und bei der Bürgschaft (LB. 2, 1178. 1186). Genau besehen, passt freilich keiner von beiden Namen, da all diese Dichtungen so weitläuftig sind und so ausführlich bis in die geringste thatsächliche Einzelheit hinein, dass sie der Epopöie näher liegen als der Ballade oder Romanze; und doch wieder so einfach im eigentlichen Inhalt und so lyrisch in der Anschauungsweise, dass sie auch den Epopöien nicht wohl könnten beigezählt werden. Sie bilden eben eine neue Misch- und Mittelgattung, wie sich dergleichen immer in Zeiten finden wird, wo die Poesie in keinem recht organischen Zusammenhange mehr mit dem Volksleben steht. Uhland endlich, dessen lyrisch-epische Dichtungen das ganze Wechselspiel aller hier nur möglichen Farben durchlaufen, glaubt am sichersten zu gehn, wenn er ihnen allen den gemeinschaftlichen Doppeltitel giebt „Balladen und Romanzen“; vielleicht aber hat er bei dem letzteren Namen nur die Gedichte gemeint, die mit den Romanzen der Spanier die Form der Trochäen und der Assonanz theilen. Die Theoretiker aber, wie sie denn gewöhnlich ihr systematisches Fachwerk in die Luft hinein bauen, haben sich auch hier um den historischen Ursprung beider Benennungen gar nicht gekümmert, sondern denselben die willkürlichsten Unterschiede angedichtet, z. B. die Ballade sei tragisch, die Romanze lasse auch das Heitere zu; oder die Ballade sei mehr epischer Art, die Romanze mehr lyrischer, oder die Ballade sei plastisch, die Romanze pittoresk. Das ist nun alles nicht wahr. Wir haben gesehen, dass beide Ausdrücke im Grunde das Gleiche bezeichnen, nur der eine als ein englisches, der andre als ein spanisches Wort; dass die Ballade sowohl als die Romanze ein lyrisch-episches Gedicht ist, ein Gedicht, das eine einfache Handlung erzählt, gleich den altepischen Liedern, das aber nicht wie diese bloss den äusserlichen thatsächlichen Verlauf objectiviert, sondern zugleich auch die innern Zustände, welche in der Seele der Handelnden mit den äusseren Thatsachen verbunden sind. Nur solche lyrisch-epische Gedichte, die in assonierenden Tetrametern abgefasst sind, wird man nicht füglich Balladen nennen dürfen, da jene Form durchaus nur spanisch, dieser Name durchaus unspanisch ist und eine andre Form, die des Reims und der Strophe, voraussetzt. Die didactische Epik, bei welcher von den drei Seelenkräften grade diejenige sich in den Vordergrund drängt, der eigentlich an der poetischen Conception immer nur ein untergeordneter, ein mehr negativer als positiver Antheil gebührt, die Epik des Verstandes, hat sich, allgemein betrachtet, innerhalb der deutschen Litteratur nicht selbständig und in organischer Consequenz entwickelt (und darauf können wir uns etwas zugute thun), sondern wir haben sie fast in all ihren Arten erst aus dem Alterthum und aus der Fremde zu uns herüber geholt. Zwar ist den Deutschen von jeher eine besondre Lust und Anlage eigen gewesen, zur Poesie didactische Augen mitzubringen; und diese Lust zeigt sich auch in der Bereitwilligkeit, womit sie sich der didactischen Epik andrer Zeiten und andrer Völker nachahmend hingegeben haben: aber wo sie recht aus sich selbst und von freien Stücken auf die Einmischung des Lehrhaften verfielen, das war doch eigentlich nur in der Lyrik. Zur didactischen Epik gelangten sie erst nach und nach, theilweise erst in ganz späten Zeiten, in späteren als zur didactischen Lyrik. Von Otfrieds Evangelienharmonie ist hier wohl gänzlich abzusehen: die metrische Form giebt diesem Werke noch keinen Anspruch auf den Namen eines Gedichtes: sonst wäre dasselbe, da Otfried nach Origenes Vorgange, nicht aus sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat. Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine gesetzte und angenommene ist: jene lehrt an der Wirklichkeit, diese durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt, die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter, im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner. Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder ein Stück bloss beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das Alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet. Es war damit nur noch ein roher Stoff zum Ordnen und Gestalten vorgelegt: erst später, erst nach und nach sonderten sich die verschiedenen Arten, und was ganz unpoetische Elemente waren, wurde meist beseitigt. Jetzt zunächst von derjenigen lehrhaften Epik, welche lehrt an der gegebenen Wirklichkeit. Das Gefühl, auf dessen Leitung es hier, wie überhaupt immer, in der Didactik ankommt, ist nach zwei Seiten hin gerichtet, nach einer niederen und einer höhern, einer irdischen und einer himmlischen, einer sinnlichen und einer sittlichen. Und so kann sich auch die lehrhafte Epik bald an diese, bald an jene wenden. Das sinnliche Gefühl wird angeregt und in Anspruch genommen, wenn die Lehre sich zur Beschreibung gestaltet: im Idyll. Auf das sittliche Gefühl wirkt die Lehre am liebsten so, dass sich der Verstand in Widerspruch setzt mit der Wirklichkeit, welche die Einbildung anschaut, also durch Vorhalten des Lächerlichen: durch die Satire. Das Idyll, gewöhnlich die Idylle ( εἰδύλλιον ): so heisst überhaupt jedes kleinere, durch Zierlichkeit ansprechende Gedicht; insbesondre nun ein solches, das zwar auf epischen, aus der gegebenen Wirklichkeit entnommenen Anschauungen beruht, so jedoch, dass diese epischen Anschauungen nur als Anlass und Grundlage zur Beschreibung, also zu einer Art von Belehrung benützt werden. Also Erzählung und zugleich Beschreibung: das ist ein Widerstreit von Scylla und Charybdis, durch welchen es nur noch wenigen Dichtern gelungen ist heil hindurchzuschiffen. Die Erzählung will vorwärts von Thatsache zu Thatsache: sie eilt durch die Zeit; die Beschreibung will bei jeder Aeusserlichkeit still halten und verweilen: sie hängt am Raume. Da ist denn der Fehler nur zu gewöhnlich, dass die Beschreibung den Fluss der Erzählung gradezu hemmt, indem sie sich unbeweglich an einen Fleck fest heftet. Damit ist jedoch die epische Anschauung nicht bloss als solche, sondern als poetische Anschauung überhaupt aufgehoben und vernichtet: denn in so fern ist alle Poesie episch, als überall ein causaler Fortschritt verlangt wird. Wie ist nun dieser Widerstreit zu versöhnen? Man muss von beiden Seiten her dazu thun, von Seiten der Erzählung und von Seiten der Beschreibung. Für den erzählenden Theil, die epische Grundlage, wird grösste Einfachheit, wird leichte Ueberschaulichkeit verlangt; es darf weder eine grosse Reihe künstlich verflochtener Ereignisse, noch dürfen diese Ereignisse an sich selbst gross und gewaltig sein: sonst wird bei der Reproduction die Seele des Lesers zu sehr auf die Thatsachen hingelenkt; er wird zu begierig gemacht auf den weiteren historischen Verlauf, als dass er einen weilenden Blick werfen möchte auf die Bäume und Blumen, die schmückend am Ufer des Flusses stehn. Und darin liegt der eine Hauptgrund, weshalb das Idyll seine epischen Anschauungen erstlich aus der Gegenwart nimmt, in der sich ja von vorn herein jeder mit der meisten Vertraulichkeit zu Hause fühlt, in der ihm Alles bekannt und verständlich ist; und zweitens aus dem niederen Leben, aus der gemächlichen Alltäglichkeit zu Stadt und Land, aus einer Welt, in der eben nichts Grosses geschehen kann, deren Geschichte langsam und ohne Geräusch dahin fliesst. Auf der andern Seite muss die Beschreibung, damit sie auch diesen langsamen Fluss nicht dennoch hemme, gleichfalls sich zu historischer Beweglichkeit verstehn, und, wenn es auch nur ein Anschein ist, gleichfalls einen Anschein von epischem Fortschritte gewinnen; was ihr natürlich um so leichter wird, da der Fortschritt des epischen Theiles, welchem sie sich bequemt, selbst kein sonderlich vorwärts eilender ist. Es will aber die Beschreibung, indem sie auf solche Weise die Zeit durch den Raum begleitet und die historische Wirklichkeit mit der handgreiflichen verschmelzt, sie will da nicht bloss für den Verstand thätig sein, sondern sie hat es auf Anregung des Gefühles abgesehen. Sie wird diesem also durch ihre verweilende Ausführlichkeit Wohlgefallen zu erregen suchen, sie wird ihm die Anschauungen anmuthig erscheinen lassen. Auch deshalb bewegt sich das Idyll am liebsten in jenen tiefer liegenden Regionen, wo noch am ehesten ein unverfälschtes, natürlicheres Leben herrscht, wie es geeignet ist, das Gefühl durch Anmuth zu befriedigen. Aber je näher man dem Gefühle eben diese Wirklichkeit rückt, und je genauer schildernd man sie vor ihm ausbreitet, desto eher wird es grade unbefriedigt sein; desto leichter wird es eines Widerspruches inne werden zwischen sich und der Wirklichkeit, in den es sich entweder schmerzlich vertieft, oder über den es leichtsinnig weg hüpft: es liegen mithin Wehmuth und Laune auch im Bereich des Idylls. Dass einzelne idyllische Stellen in die eigentlich epische Dichtung eingemischt werden, das kommt schon frühzeitig vor und kann auch nicht wohl ausbleiben, sobald erst die Epopöie ihrer selbst mehr Meister geworden ist, und das dichtende Individuum angefangen hat, sich in der epischen Breite behaglich zu fühlen. In jenem Homerischen Hymnus auf Hermes, da es dem göttlichen Knaben wohl wird in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht bloss von ihrer Liebe mit Zeus, sondern auch von ihrem Hausrathe, von ihren Kesseln und Dreifüssen. Schon in der Odyssee ist nicht Weniges der Art: die Iliade weiss davon noch nichts, obgleich es auch in ihr an Anlass zu dergleichen keinesweges gefehlt hätte. Aehnlich verhalten sich bei uns die Nibelungen zu Gudrun, die auch sonst in mannigfachen Beziehungen neben einander stehn wie Ilias und Odyssee: der strengere Heldenschritt der Nibelungen mag sich bei solchen Aeusserlichkeiten nicht aufhalten, während in der Gudrun immer und immer wieder idyllische Züge, oft von der rührendsten Art, wiederkehren. Und so blieb das Idyll noch lange nur im rein epischen Epos enthalten als gelegentlicher Schmuck. Grade wie aber in der Malerei die Nebenfiguren und das zierliche Beiwerk, womit die Maler schon frühzeitig ihre historischen Hauptfiguren umgaben, sich zuletzt von diesen losgerissen haben, um als Genrebild und als Stilleben selber eine Tafel zu füllen, so wurde auch die idyllische Poesie eine selbständige Dichtart. Als solche nun hält sie von ihrem epischen Ursprunge nur noch so viel fest, als nothdürftig erforderlich ist, um die Beschreibung zu tragen; die Beschreibung aber dehnt sich, seit sie einmal die Hauptsache geworden, nun erst recht aus, zu einer Ausführlichkeit, wie sie innerhalb des eigentlichen Epos niemals wäre gestattet gewesen. Das Idyll gehört mit zu den jüngsten Absplitterungen der Poesie: bei den Griechen fällt seine Entwickelung erst in die alexandrinische Zeit. Der innere Zusammenhang aber mit dem Epos giebt sich schon durch die äussere Form kund, indem das Idyll sich desselben Versmasses bedient wie das Epos, des Hexameters. Um der Natürlichkeit willen dichteten Theocrit, Bion und Moschus ihre Idyllen in dem dorischen Dialecte Siciliens, auch zeigt sich bei ihnen, wie in den altepischen Liedern, eine Vorliebe für den Dialog; auch Virgil macht davon in seinen Nachahmungen griechischer Idyllen gerne Gebrauch. In der deutschen Litteratur hat es, um zu dem Idyll zu gelangen, vieler wiederholter und immer verfehlter Versuche bedurft; es vergieng einige Zeit, eh man nur darauf verfiel, die Idyllen in Versen abzufassen. Zuerst finden wir die metrische Form bei J. H. Voss, der sich in seinen Idyllen am liebsten der niederdeutschen Mundart bediente (LB. 2, 895); ihm folgten in Oberdeutschland J. M. Usteri mit Idyllen in Züricher Mundart (LB. 2, 1239) und J. Pet. Hebel mit solchen in dem alemannischen Dialecte des Wiesenthales. Frühere Dichter, wie Martin Opitz und Salomon Gessner, begnügten sich mit der prosaischen Form, sei es, dass sie von der halbprosaischen Natur dieser Gattung unbewusst dazu genöthigt wurden, sei es, dass sie damit grössere Natürlichkeit und ein treueres Abbild des einfachen, ungekünstelten Lebens zu erlangen meinten (LB. 3, 1, 641; 3, 2, 165). Letzteres mag für den Maler Müller, den bedeutendsten Idylliker, den wir besitzen, der entscheidende Grund gewesen sein (LB. 3, 2, 771). Die Satire ist eine durchaus den Römern eigenthümliche Gattung didactischer Epik Satira quidem tota nostra est, sagt Quintilian 10, 1, 93. : hier allein haben sie von den Griechen nur Einzelheiten lernen können, da den Griechen wohl eine satirische Lyrik, eine satirische Komödiendichtung, aber keine Satire als Form der Epik bekannt war. Und wie die Satire den Römern eigenthümlich ist, so gehört sie auch zu den ältesten Formen der römischen Poesie, deren Erwähnung geschieht. Beweis hiefür ist jene wichtige Stelle bei Livius 7, 2, 7, wo zum Jahre 361 v. Chr. einheimischer Schauspieler gedacht wird, die unter Flötenspiel und Gesang mit entsprechenden Gebärden allerlei Schwänke, Saturas, aufführten (vernaculis artificibus nomen histrionibus inditum, qui impletas modis saturas descripto iam ad tibicinem cantu modoque congruenti peragebant). Der unzweifelhaft nationale Ursprung der Satire giebt uns auch die rechte Erklärung des Namens an die Hand. Das Wort ist nämlich nicht satyra zu schreiben: denn mit den halbgöttlichen und halbthierischen Satyrn hat die Satire ebensowenig zu schaffen als mit den Satyrspielen, neben Tragödie und Komödie einer Gattung des griechischen Dramas; die allein richtige Form ist satira oder alterthümlicher satura, woher wohl auch der versus saturnius seinen Namen hat. Satura aber stammt von dem Adjectiv satur und bedeutet zunächst, mit Ergänzung etwa von lanx, eine Schale, die voll und breit mit allerlei Früchten angefüllt ist; dann, mit Ergänzung von esca oder dgl. eine Art Wurst, aus allerlei Stoffen bereitet (satura et cibi genus dicitur ex variis rebus conditum: Paul. Diac. 315); dann mit bildlicher Uebertragung auf geistige Dinge, unter Ergänzung von lex, ein Gesetz, welches eine Menge eigentlich für sich bestehender gesetzlicher Bestimmungen in sich vereinigt (lex multis aliis conferta legibus: Paul. Diac. l. l.). So bezeichnet satura nun auch, indem fabula oder dgl. ergänzt wird, ein Gedicht von bunt gemischtem Inhalt, einen Inbegriff gleichsam mehrerer kleinerer Gedichte, auch von wechselnder metrischer Form, eine Mischung vielleicht auch von Poesie und Prosa (genus carminis, ubi de multis rebus disputatur: Paul. Diac. l. l.). Demgemäss definiert denn auch der Grammatiker Diomedes (Grammatici latini ed. Keil 1, 485) die Satire in seiner ars grammatica also: Olim carmen, quod ex variis poematibus constabat, satira vocabatur, und auf diese Vermischung verschiedener Elemente bezieht sich wohl auch bei Livius der erwähnte, eigenthümliche Ausdruck impletas modis saturas Vgl. übrigens auch das französische Wort farce bei Diez, Etym. Wörterb. d. roman. Sprachen 1 3 , 173. . Leider jedoch kennen wir mit Vollständigkeit von der römischen Satire nur die Gestalt ihrer höchsten Ausbildung: den langen Weg bis dahin können wir leider nur höchst unvollständig verfolgen; wir können nicht mehr sehen, wie sie aus dem Volksgesange heraus nach und nach endlich dahin gediehen ist: bis auf das sogenannte goldene Zeitalter giebt es nur vereinzelte Bruchstücke von C. Lucilius und M. Terentius Varro, und auch diese fallen schon in die gräcisierende Periode. Wir müssen also die Satire nehmen, wie sie uns vorliegt bei Horaz, Persius, Juvenalis. Persius und Juvenal unterscheiden sich von Horaz darin, dass sie dem sittlichen Gefühle gern Vorstellungen entgegenhalten, von denen es sich beleidigt abwenden, die es verwerfen muss, während die Wirklichkeit, aus welcher Horaz seine Anschauungen entlehnt, für den Verstand, vielleicht auch für das Gefühl nur unbehaglich ist, nur dagegen anstreitet: Persius und Juvenalis richten ihre Satire strafend gegen das Laster, Horaz spottend und launig gegen die Thorheit. Jenes Verfahren der beiden späteren Satiriker ist bis zur Verwerflichkeit bedenklich: sie wollen das sittliche Gefühl belehren und stossen es doch schonungslos zurück; dagegen werden durch Horazens Laune und durch seinen Spott das Gefühl und der Verstand vielmehr nur gereizt, durch die lächerlichen Verkehrtheiten hindurch nach dem Rechten hinzuschauen. Zu diesem Unterschiede kommt ein andrer, der für unsre Betrachtung von noch grösserem Belang ist. Horazens Satiren sind wesentlich episch: sie haben alle entweder von Anfang bis zu Ende einen epischen Verlauf lächerlicher Thatsachen, und dieser epische Verlauf trägt und umschliesst das, worauf es eigentlich abgesehen ist, die spottende Lehre, grade wie im Idyll der epische Verlauf die Beschreibung trägt; oder sie enthalten wenigstens als saturae eingestreute epische Situationen, an deren jede die Lehre sich anschliesst und so lange darauf fortbaut, bis sie, um neue Seiten zu zeigen, nach einem neuen epischen Motive greift, das mit dem vorigen nicht äusserlich, sondern etwa nur durch die gemeinsame Grundidee des ganzen Gedichtes zusammenhängt. Natürlich ist diese epische Grundlage auch da, wo sie einen einzigen Verlauf bildet, dennoch immer höchst einfach, von geringem, leicht überschaulichem Umfange; und alles, was geschieht, gehört der gleichzeitigen Gegenwart an und ist an sich unbedeutend, grade wie im Idyll: denn grossartige Charactere und gewaltige Ereignisse und eine entfernte Vorzeit liegen nicht im Bereich des Spottes, und einen langen Weg von Thatsachen unter beständigem Lachen zu durchlaufen, wäre zuletzt nur ermüdend. Wie aber die Horazische Satire schon in der Versform sich an die griechische Epopöie anschliesst, so hat sie mit derselben noch etwas Andres gemein: den Gebrauch der Episoden. Das Epos liebt es, den graden Gang der Erzählung zu unterbrechen und seitwärts ausweichend ein episches Object zu berühren, das zwar nicht nothwendig an diese Stelle grade dieses Epos, aber doch in den weiteren Sagenkreis desselben gehört: ebenso nun auch die Horazische Satire. Sie hält bei einem Punkte plötzlich inne und umkreist diesen so lange mit Erzählung und Lehre, dass man darüber alles Frühere beinahe aus dem Sinne verliert, plötzlich aber biegt sie mit einer leichten Wendung wieder ein und führt den alten Weg zu Ende: allerdings hat man da zuletzt eine satura im alten Sinne des Wortes, eine Satire in der andern gelesen; aber wirklich auch in der andern: sie liegt innerhalb des weiteren Gedankenkreises derselben: und indem der Dichter auf diesem enger abgegrenzten Raume vorzüglich lange verweilt, kann der Leser daraus ungefähr selber abnehmen, zu welchen Betrachtungen die übrigen Theile des ganzen Kreises führen würden, die entweder nur flüchtig oder gar nicht berührt sind. Gleich die erste Satire ist ein Beispiel der Art. Der Dichter spricht zuerst von der Unzufriedenheit, womit Jeder sein eigenes, und dem Neide, womit er das Loos Andrer zu betrachten pflege; diess führt ihn auf den Geiz: hier ergeht er sich in der grössten Ausführlichkeit; endlich kehrt er von diesem Besonderen wieder zu dem Allgemeinen zurück: „Illuc unde abii redeo“, um alsbald das ganze Gedicht zu schliessen. Wie sehr gewinnt hier die ganze Anschauung des Dichters an Anschaulichkeit für den reproducierenden Leser, um wie vieles näher wird die ganze Lehre dem sittlichen Gefühle des letztern gerückt, indem der Dichter, was an bewegtem Fortschritte dem Ganzen gebricht, auf jenen einen Hauptpunkt concentriert, von dem aus nun die Stralen erleuchtend nach allen Seiten laufen. Indem wir versucht haben, uns ein Bild von den Eigenthümlichkeiten der Horazischen Satire zu entwerfen, sind zugleich, da sich Alles darin als löblich und zweckmässig erwiesen hat, wohl auch die gesetzlichen Anforderungen ausgesprochen worden, welche die Satire überall zu erfüllen hat, wenn sie soll eine gelungene heissen können. Persius und Juvenal erfüllen sie zum grössten Theile nicht. Freilich Horazens zuletzt besprochenen Kunstgriff hat ihm Juvenal wohl abgesehen und nachgeahmt, aber dabei auch gleich gefehlt. Seine vierzehnte Satire handelt von der verkehrten und verderbten Kinderzucht überhaupt oder geht wenigstens davon aus; indem er nun auch auf die Erziehung der Kinder in dem Hause eines habgierigen Geizhalses zu sprechen kommt, bildet diess einen unvermerkten Uebergang zu ausführlicher satirischer Schilderung der Habsucht und des Geizes. Bis so weit wäre Alles ganz Horazisch: aber was nun noch bei Horaz kommen würde, das fehlt: die einlenkende Rückkehr zu dem allgemeinen Thema, die allein dem Gedichte eine abgeschlossene Einheit geben konnte: Juvenal bricht ab, so wie er den Geiz zu Ende geschildert hat. Und diese Satire ist unter allen noch diejenige, welche am meisten durch geschickt angebrachte epische Situationen belebt wird. Anderswo fehlt auch diess: denn das ist ein zweiter wesentlicher Unterschied, der zwischen Persius, Juvenal und Horaz besteht, dass, während Horaz aus der Wirklichkeit der Gegenwart heraus erzählt und an derselben lachend und spottend lehrt, jene beiden die gegenwärtige Wirklichkeit nur beschreiben, um an dem so Beschriebenen strafend zu lehren. Während also bei Horaz die Satire noch didactische Epik ist, wird sie bei ihnen volle Didactik. Und damit tritt dann die Juvenalische Satire, die schon, indem sie sich gegen das Laster wendete, nur noch an den Grenzen der Poesie stand, ganz und gar über diese Grenzen hinaus in das Reich der Prosa. Als abgeschlossene Dichtungsart findet sich die Satire seit dem 17. Jahrhundert auch bei den Deutschen. Johann Lauremberg dichtete seine vier Scherzgedichte (1650) in niederdeutscher Sprache, und von Joachim Rachel besitzen wir acht Teutsche satirische Gedichte (1664), welche ganz im Geiste Juvenals verfasst sind; insbesondere ist das Gedicht von der Kinderzucht (LB. 2, 445) eine Nachbildung der 14. Satire des römischen Dichters. Als der vorzüglichste deutsche Satiriker aber ist Gottl. Wilh. Rabener (1714─71) zu betrachten, der seine satirischen Schriften mit richtigem Gefühle in Prosa verfasste und sich dabei jeder Anlehnung an die Fremde enthielt (LB. 3, 2, 47). Beim Idyll und bei der Satire ist die Wirklichkeit, auf welche sich die beschreibende oder die spottende Lehre gründet, immer eine gegebene, oder sie erscheint doch als eine solche: wenn auch die epischen Anschauungen gänzlich aus der erfindenden Kraft des Dichters sollten hervorgegangen sein, so verlangt er doch für sie den gleichen Glauben und die gleiche Art der Reproduction, wie sie auch sonst epischen Anschauungen zu Theil wird; und er selbst hat diese Wirklichkeit ganz objectiv vor sich liegen, nicht als Mittel, sondern als Gegenstand der Lehre; sie ist nicht um der Lehre willen da, sondern sie ist eben da als epische Wirklichkeit, und der Dichter tritt nur hinzu und lässt in Spott oder Beschreibung seine Didaxis an ihr aus. Anders bei derjenigen didactischen Epik, von welcher wir nun zu reden haben, bei der Fabel und beim Sprichwort. Hier ist die Wirklichkeit nur angenommen, nur gesetzt; die epische Anschauung liegt weder vor dem Producierenden, noch vor dem Reproducierenden objectiv da: denn sie ist auch nicht der Gegenstand, an welchem die Didaxis ausgeübt wird, sie ist nur ein Mittel zum Zwecke; und der Zweck, das eigentliche Object der Production, ist die Lehre selbst: es wird hier durch die Wirklichkeit gelehrt. Mithin ist diese Art der didactischen Epik noch um vieles didactischer, noch um vieles mehr subjective Verstandessache, d. h. noch viel unpoetischer und prosaischer als die erste bereits abgehandelte Art: hier ist die epische Anschauung ganz der Willkür des dichtenden Subjectes anheimgegeben, und hinter ihr liegt irgend ein Urtheil oder ein Erfahrungssatz, die wiederum nur dem Verstande desselben Subjectes angehören. Um nun zuerst von der Fabel sprechen zu können, als von der einen Art dieser noch didactischeren Epik, müssen wir uns daran erinnern, wie bereits früherhin (S. 55) neben der Sage, dem Mythus und dem Märchen auch die Thiersage ist genannt worden als eine Form rein epischer Poesie, als ein Versuch, die Formen der Menschengeschichte ebenso auf die untermenschliche Thierwelt zu übertragen, wie man sie im Mythus auf das Uebermenschliche, auf die Gottheit übertrug; und wie sich auch erwiesen, dass in der einen Richtung wie in der andern der Mensch sei genöthigt gewesen, die geschichtlichen Formen aus seiner Phantasie zu schöpfen, da die historische Erinnerung ihm hier nichts an die Hand gab. Dergleichen rein epische Thiersagen haben Deutsche und Franzosen bis ins Mittelalter hinein besessen; ja es leben manche noch jetzt unter den deutschen Kindermärchen. Bei andern Nationen, die noch bis auf den heutigen Tag nicht weit über ihren einfachen Urzustand hinausgelangt sind, haben sich auch bis auf den heutigen Tag die alten epischen Thiersagen noch reiner und zahlreicher im gemeinen Munde erhalten: so bei den Serben, bei den Esthen. Sonst jedoch hat von den verschiedenen Formen der epischen Anschauung diese überall am frühesten vor den Fortschritten der Civilisation zurückweichen und ihre eigentliche Natur ablegen müssen. Wie hätte sich denn die verständige Menschheit länger mit dieser zwecklosen idealistischen Erhebung und Veredlung der Thierwelt befassen können? So wie die Unbefangenheit zu entschwinden begann, musste man alsbald auch die Thiersage, die ja lediglich ein Product der Phantasie ist, als leere Phantasterei betrachten und verachten lernen. Die Form war aber einmal da; sie gänzlich fallen lassen mochte man nicht: da behielt man sie denn zwar bei, aber in der That nur als Form, nur als Gefäss für Dinge, wie man sie grade hineinlegen mochte: die Thiersage, die bis dahin rein objective Gestaltung epischer Anschauungen gewesen war, gerieth nun in die Gewalt und Willkür des Subjectes: sie ward für dasselbe ein Mittel zum Zweck; sie diente fortan dem Verstande, um irgend eine Lehre, einen Erfahrungssatz oder eine sittliche Vorschrift, zu umkleiden; während man früherhin etwa an den Thiersagen und von ihnen gelernt hatte, wie man auch an und von den Heldensagen und Göttermythen lernen konnte, ward nun durch sie gelehrt: kurz, die epische Thiersage gestaltete sich nun zur didactischen Thierfabel, ward von den verschiedenen Arten didactischer Epik die am meisten didactische. Ja sie gestaltete sich um zur Fabel überhaupt: denn mit ihrer Verpflanzung in das Lehrhafte ward auch zugleich das Gebiet der ihr zustehenden Wirklichkeit erweitert. So lange sie noch rein episch gemeint und verstanden wurde, beschränkte sie sich eben auf die Thiere als diejenigen natürlichen Wesen, welche dem Menschen am nächsten stehn, durch ihre Fähigkeit den Ort willkürlich zu verändern und durch die Art von Sprache und von Verstand, die auch sie besitzen, so dass sich am ehesten auch die Formen der menschlichen Geschichte auf sie übertragen liessen. Sobald aber die Fabel nur noch um des didactischen Zweckes willen vorhanden war, gab es keinen Grund mehr, sich so einzuschränken; nun ward der Phantasie gar Alles gestattet, da man nun wieder einen Zweck und Nutzen ihrer Schöpfungen einsah: nun bedachte man sich nicht, sogar Bäume, sogar gänzlich leblose Wesen handeln und mit einander sprechen zu lassen. Es ward also der didactischen Fabel die gesammte untermenschliche Natur eingeräumt. Aber man gieng noch weiter: die Verwendung epischer Anschauungen zu didactischen Zwecken griff auch rückwärts in die Menschenwelt über; war einmal das Thierepos didactisch geworden, so zog man nun auch die menschliche Geschichte, ja die der Götter in das Gebiet des Lehrhaften; auch Ereignisse aus ihr wurden bloss angenommen und gesetzt, um durch sie zu lehren: zu der Fabel kam nun auch die Parabel. Diese verschiedene Wirklichkeit, das ist der hauptsächliche Unterschied beider: alle übrigen sind von diesem nur die nothwendigen weiteren Folgen. Da nämlich die Fabel ihr Gebiet über die gesammte untermenschliche Natur, bis über die unbelebten Wesen hin ausgedehnt hat, so kann da den Ereignissen, welche sie um der Lehre willen setzt, keine sonderliche historische Beweglichkeit verbleiben; sie wird selten einen eigentlichen Verlauf von Thatsachen vorführen können: sondern sie beschränkt sich der Regel nach und ist beschränkt auf ganz vereinzelte Situationen, auf abgerissene epische Züge ohne Motiv und ohne Erfolg; auf eine Handlung, die etwa ein Thier an dem andern verübt, ein Wort, das ein Baum an den andern richtet: kurz, sie setzt und nimmt überall nur so viel an, und kann auch ihrem ganzen Wesen nach nur so viel setzen, als nothdürftig erforderlich ist, um den bezweckten Erfahrungssatz einzukleiden; ja es kommt ihr, da sie vorzugsweise die Lehre im Auge hat, auf die epische Anschaulichkeit oft so wenig an, dass sie nicht weiter darauf achtet, ob jene Handlung und jene Worte zu dem Character des Handelnden und Redenden stimmen oder nicht, dass es ihr nicht selten durchaus gleichgültig ist, ob das Thier ein Fuchs sei oder ein Wolf, der Baum ein Oelbaum oder eine Eiche. Anders in der Parabel. Die Wirklichkeit, welche die Parabel um der Lehre willen setzt, ist die Wirklichkeit der menschlichen oder der göttlichen Geschichte. Hier ist die Möglichkeit vorhanden, die Anschauung characteristischer, künstlerischer, ausführlicher und mehr episch zu gestalten, und mit der Möglichkeit zugleich der Reiz und die Nöthigung. Und so ward es das Wesen der Parabel, sich nicht sowohl auf einzelne Situationen zu beschränken (obwohl auch das hin und wieder vorkommt) als vielmehr eine Begebenheit in einem ausgedehnteren thatsächlichen Verlaufe zu erzählen; jedoch immer nur Eine Begebenheit: denn die Parabel will auch immer nur Eine Lehre vortragen. Durch diess grössere Mass epischer Anschaulichkeit stellt sich die Parabel in künstlerischer Hinsicht über die Fabel: bei jener macht die epische Form, worein die Lehre gekleidet ist, auch für sich gewisse Ansprüche; bei dieser ist sie durchaus untergeordnet. Daraus ergiebt sich ein weiterer Unterschied. Man wird immer ein angemessenes Verhältniss zu behaupten suchen zwischen der Lehre und der einkleidenden Anschauung: deshalb nun zieht man für sittliche Lehren von höherer Bedeutung die Form der Parabel vor, weil sie künstlerischer kann behandelt werden, während die anspruchslosere und minder künstlerische Form der Fabel auch auf den niederen Stufen des Lehrhaften stehen bleibt. Diese niedere Stellung aber der Fabel hat sie nicht selten ganz aus der Poesie hinaus gezogen: häufig ist es bei ihr gar nicht mehr auf Belehrung des sittlichen Gefühles abgesehn worden, sondern nur auf Belehrung des Verstandes, indem man sie gebraucht hat, um Klugheitsregeln und solche Erfahrungssätze auszusprechen, die lediglich zum Verstande in Beziehung stehn. Solche Fabeln darf man kein Bedenken tragen gradezu als unpoetisch zu verwerfen. Aber es ist an der Zeit, durch einige Bemerkungen über die Geschichte der Fabel die theoretische Erörterung noch fester zu begründen. Am frühsten hat sich die Fabel und ihre Seitenart die Parabel bei den Orientalen entwickelt. Die Juden und die mit ihnen verwandten Völker haben von jeher vor allen andern eine Neigung zur Didaxis besessen, eine Neigung, bei ihren poetischen Conceptionen bald die Phantasie, bald auch das Gemüth dem lehrenden Verstande unterzuordnen und gefangen zu geben: denn was man gewöhnlich von der ungebundenen und glühenden Phantasie der Orientalen sagt, lässt sich leichter sagen als beweisen: sie phantasieren im Gegentheil selten ohne verständige Berechnung, und die Schwärmereien ihres Gefühls unterliegen in der Regel den Spitzfindigkeiten des Witzes. Wie demnach die Juden an Mythen arm sind, weil ihnen schöpferische Phantasie, welche dazu hätte führen müssen, nur in geringem Masse verliehen war, so finden sich bei ihnen die ältesten Fabeln und Parabeln, eine Fabel z. B. im Buch der Richter 9, 8─15 und eine Parabel 2 Sam. 12, 1─4, ja man darf mit Recht zweifeln, ob bei ihnen der didactischen Fabel jemals eine rein epische Thiersage vorangegangen sei: zum mindesten fehlen davon alle historischen Spuren. Bei den Völkern des höheren Asiens ist dieser Vorgang minder zweifelhaft: die Fabeldidactik der Inder, wie sie im Pantschatantra und in seiner jüngern Bearbeitung, im Hitopadesa, sowie in der daraus hervorgegangenen Sammlung des Bidpai vorliegt, ist erwiesener Massen nur der jüngere Ausfluss älterer Thierepik. Ebenso bei den Griechen. Hier haben wir noch ein vollständiges kleines Thierepos in der Batrachomyomachie; einem Gedichte, das man, bloss weil sein Inhalt episch, und weil es in Hexametern abgefasst ist, auch dem Homer zugeschrieben hat, das aber jünger ist als Ilias und Odyssee. Obgleich darin mannigfache parodische Rückblicke auf die Götter- und Heroenkämpfe der Iliade nicht zu verkennen sind, so geht man doch wieder zu weit, wenn man es ganz und gar nur als eine Parodie jenes Heldengedichtes betrachtet: es ist eben ein Thierepos, und der unbekannte Verfasser hat sich nur von seiner Laune öfter zu dergleichen Scherzen verleiten lassen, wie ja dasselbe auch dem letzten Bearbeiter der Odyssee begegnet ist. Die Verwandlung der epischen Sage zur didactischen Fabel ward nach einigen minder bedeutenden oder vereinzelten früheren Versuchen, wie z. B. bei Hesiod Op. et D. 201─211, durch Aesop vollendet, einen vielgenannten Namen, dessen historische Fixierung jedoch ähnlich demjenigen Homers manches Schwierige und Bedenkliche hat. Seine Fabeln, untermischt mit vielen andern von erweislich sehr jungem Ursprunge, sind uns in Poesie und Prosa überliefert; ungewiss, welches die ältere Form ihrer Abfassung sei. Jedesfalls ist die prosaische ihnen nicht unangemessen: die handelnden Wesen sind oft so uncharacteristisch gewählt, dass kaum mehr eine Spur von epischer Anschaulichkeit bleibt; und die Lehre ist so oft nur an den Verstand, nicht an das sittliche Gefühl des Lesers gerichtet, dass allerdings die poetische Form blosse, rein äusserliche Form ist, unbedingt und ungefordert durch den Inhalt. Noch eine Eigenthümlichkeit haben die äsopischen Fabeln, die für die weitere Entwickelung dieser Dichtungsart von Bedeutung geworden ist. Wie nämlich die epische Einkleidung oft, ja gewöhnlich uncharacteristisch und aufs Ungefähr hin erfunden ist, steht sie gewöhnlich auch in keinem rechten causalen Zusammenhange mit der gemeinten Lehre, und es könnte dieselbe Anschauung eben so gut irgend eine andre Lehre meinen, und dieselbe Lehre eben so gut anders umkleidet sein. Daher ist nun jeder Fabel ihre Nutzanwendung, jedem μῦθος sein ἐπιμύθιον beigefügt, das die Erfahrung oder die Vorschrift enthält, auf welche gezielt war. Billiger Weise darf man fragen: „Wenn doch die Lehre zuletzt didactisch unumwunden soll ausgesprochen werden, wozu vorher die episch umwundene Darstellung?“ Indessen es war einmal so; und so fehlte denn auch den Fabeln, welche die Lateiner fort und fort dem Aesop nachdichteten und nacherfanden, niemals dieser moralische Anhang; er fehlte auch nicht den Fabeln, welche das Mittelalter wieder den Lateinern ablernte und gewöhnlich in poetischer Form abfasste. In Deutschland begegnete der äsopischen Fabel ebenso viel Widerstand als Bereitwilligkeit, sie aufzunehmen. Sie stiess da auf ein Volk, das seine grösste Lust an episch belebten Anschauungen hatte, das auch schon seit langen Zeiten eine reiche Fülle von Thiersagen, ja einen eignen um den Fuchs Reinhart gesammelten Kreis von solchen besass: gleichwohl war eben diess Volk auch der Didaxis nicht feind. So ward die äsopische Fabel zwar aufgenommen: aber sie musste sich zweierlei gefallen lassen. Einmal, dass neben ihr die alte Thierepik fortbestand, während unter den Griechen und wo sonst die Lehrfabel sich von selber bildete, sie nur ins Leben trat durch den Tod der alten Thierepik; dass also noch im zwölften Jahrhundert durch Heinrich den Gleissner, einen Fahrenden des Elsasses, das mittelhochdeutsche Epos von Isengrins Noth (LB. 1 4 , 229. 1 5 , 407) verfasst wurde, ja noch im vierzehnten das niederländische vom Vos Reinaert. Sodann musste sich auch die äsopische Fabel selbst, so gut es gieng, nationalisieren: sie musste sich der nun gewohnten Weise aller epischen Dichtung bequemen, jener breiten, behaglichen Ausführlichkeit, die jeden characteristischen und thatsächlichen Zug hervorhebt. War die Fabel, da sie noch griechisch sprach, oft vielleicht zu laconisch gewesen, so ward sie nun nicht selten über alle Gebühr redselig. Man trug den epischen Theil derselben vor, wie man die eignen alten Thiersagen vortrug und vortragen musste; und doch kam dann eben noch als zweiter didactischer Theil eine Moral, wie sie jene nicht beschloss. Häufig waren es auch wirklich einheimische Thiersagen, die man so in der neugelernten Weise behandelte und verderbte Vgl. LB. 1 4 , 639. 831 (1 5 , 819. 1011); Thomasin Welsch. G. 9, 6; J. Grimm, Reinhart Fuchs S. 392 fg. . Diess Nationalisieren der äsopischen Fabel und das Aesopisieren der nationalen Sage gedieh bald so weit, dass man sogar durchaus unfabelmässige Stoffe, alte Märchen und neue Schwänke so behandelte, als wären sie didactische Fabeln oder Parabeln, d. h. dass man solchen sogar ein moralisches Epimythium nachlaufen liess, hätte mans auch mit Gewalt herbeiziehn müssen. Für all dergleichen didactisch gemeinte Fabeln und Erzählungen besass unser Mittelalter die gemeinsame Benennung bîspel Z. B. LB. 1 4 , 619. 633. 953 fgg. (1 5 , 799. 813. 1133 fgg.). (von spel s. v. a. Erzählung), d. i. eine ersonnene Geschichte, bei der noch etwas zu verstehn ist; wir haben daraus mit Veränderung der Laute und des Sinnes Beispiel gemacht. Mit Ausgang endlich des Mittelalters hatte auch in diesem Gebiete der Litteratur das Ausländische, das aus der Fremde und dem Alterthum Entlehnte, den Sieg davon getragen über das Einheimische, von den Vätern Ererbte; wenn schon nur einen halben Sieg. Die epische Thiersage gieng unter: sie konnte sich gegenüber der didactischen Thierfabel nicht mehr halten; wenigstens aus der Poesie der Gebildeten verschwand sie: bei dem Volke, bei den Kindern aus dem Volke erhielt sie sich noch länger in Liedern, in prosaisch erzählten Märchen Vgl. LB. 2, 229; Grimm, K. und H. Märch. No. 60. . Aber es blieb die epische Breite der didactischen Fabel, die thatsächliche Belebtheit der Anschauung, die kaum mehr nach dem Epimythium fragen lässt. In dieser zugleich nationalen und fremden, epischen und didactischen Weise ward denn in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts der Reinaert und darnach gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auch das alte Epos vom Fuchs Reinhart noch einmal auf dem Grunde jenes niederländischen bearbeitet; in niederdeutscher Sprache unter dem Titel Reinke de Vos, später von Göthe ins Hochdeutsche übertragen. Der mittelhochdeutsche Reinhard war nur eine Epopöie gewesen: auch im Reinaert und im Reinke zeigt sich noch derselbe abgerundete Verlauf von Ereignissen, aber jetzo wesentlich nur als Träger der Lehre, und zwar einer satirisch gewendeten, mit Spott und Ironie gefärbten. Dieser Versuch, eine ganze Epopöie didactisch auszuführen, wiederholte sich zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts in George Rollenhagens Froschmäuseler (LB. 2, 191), einem auf der Batrachomyomachie beruhenden Gedichte, das schön ist in Einzelheiten und ansprechend durch behagliche epische Breite, aber im Ganzen verfehlt, da sich die beiden Elemente nicht gehörig durchdringen und überhaupt die Composition wenig in sich selber abgeschlossen ist Litt. Gesch. S. 417. . Sonst aber begnügte man sich von jetzt an mit einfachen, auf Ein Ereigniss, Eine Situation eingeschränkten Fabeln, jedoch immer noch ohne die äsopische Kürze und immer in Versen; bis endlich Lessing auch dagegen versuchte reformatorisch aufzutreten. Lessing stiess sich an der Geschwätzigkeit, in welche allerdings die Erzählungslust der deutschen Fabeldichter, wie sie noch Gellert (LB. 2, 661) und Lichtwer (LB. 2, 703) eigenthümlich ist, nur zu gern und zu gewöhnlich ausartete; an dem Missverhältniss, welches meistentheils stattfand zwischen der breiten epischen Grundlage und der winzigen Lehre, welche hinterdrein folgte. Er unterwarf vom historischen Standpunkt aus das Wesen der Fabel einer gründlichen Untersuchung, führte dieselbe aber nicht zu Ende, konnte sie auch nicht wohl zu Ende führen, weil der historische Standpunct damals noch nicht gehörig befestigt und von der alten Thiersage, der Mutter der Thierfabel, so gut als nichts bekannt war. So gelangte er nicht über die lehrhafte Fabel hinaus, und da erschien ihm denn die äsopische Art und Weise als das einzig gültige Muster: natürlich bei der Beschränktheit seines historischen Materials und bei der eigenthümlichen Richtung seines Geistes, die überall mehr auf Witz und Kürze und Schärfe gieng als auf episch erwärmtes Leben und phantasiereiche Mannigfaltigkeit. Nur in Einem Stücke musste eben diese Lust an witziger Kürze ihm die äsopische Fabel mangelhaft erscheinen lassen: in Rücksicht des Epimythiums: dessen störende Ueberflüssigkeit erkannte er wohl. Ein Ergebniss dieser seiner historisch-theoretischen Untersuchungen war eine Sammlung eigener Fabeln, die er 1759 herausgab: epische, meistentheils aus der Thierwelt entnommene Situationen als Mittel, irgend einen moralischen Satz zur Anschauung zu bringen; in möglichster Kürze und in Prosa; ohne Epimythium. Einen epischen Verlauf zeigt nur die Geschichte des alten Wolfs (Buch 3, 16─22; LB. 3, 2, 189). Lessings Fabeln bilden in der Geschichte dieser Dichtungsart eine Epoche: seitdem haben in Deutschland auch die, welche bei der metrischen Form blieben, wenigstens die moralische Nutzanwendung in der Regel dem Leser selbst überlassen; andre sind Lessing auch im Gebrauch der Prosa gefolgt. Erst Abraham Emanuel Fröhlich (1825) ist es gelungen, was an der Lessingischen Auffassung und Behandlung der Fabel Einseitiges und Unpoetisches war, wieder gut zu machen und überhaupt derselben eine neue glückliche Wendung zu geben: eine Wendung, durch welche sie freilich in vielen Fällen aus dem Gebiete der Epik in das der Lyrik hinüber gerückt wird. Fröhlich betrachtet nämlich die Wirklichkeit weniger vom Standpuncte des Verstandes als von dem des Gemüths; er geht weniger auf Mittheilung eines Erfahrungssatzes, einer blossen Vorschrift aus, als darauf, in seinem Leser unmittelbar irgend eine bestimmte Empfindung anzuregen. Und was dann diesem Zwecke auch wohl angemessen ist, die Wirklichkeit, welcher er sich anschliesst, ist gern eine landschaftliche: es sind häufig kleine Landschaftsbilder, die er dem Leser vor Augen stellt, und diese dann immer mit so viel idyllischer Objectivität aufgefasst, dass man die Absicht zu lehren kaum bemerkt, dass es eher scheint, der Dichter wolle an der Wirklichkeit lehren als durch dieselbe. Natürlich haben diese Fabeln die poetische Form und keine Epimythien (LB. 2, 1749). Jetzt haben wir nur noch vom Sprichwort zu reden. Das characteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen Sprichwörter von den blossen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen unterscheiden, ist dieses, dass die letzteren irgend eine sittliche Lehre oder Wahrnehmung ganz abstract und allgemein in möglichster Kürze aussprechen, gewöhnlich eben bloss als Wort des Verstandes, nur zuweilen mit einer mehr gemüthlichen Beziehung und Wendung; daher sie auch zum meisten Theile ganz ausserhalb der Poesie liegen, wo sie aber poetisch können genannt werden, zur didactischen Lyrik zu rechnen sind; dass dagegen das Sprichwort nicht beim Abstracten und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraction eine concrete Gestaltung giebt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und concentriert. Es ist also z. B. nur eine Sentenz, so lange es heisst: „Auf Warnungen des erfahrenen Alters soll man achten“; und erst durch die Versinnlichung und Besonderung: „Wenn ein alter Hund bellt, soll man hinaussehn“ wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine sinnlich umwundene Sentenz; daher auch der lateinische Name proverbium, Fürwort, stellvertretendes Wort, nicht das eigentliche und gewöhnliche; und der griechische παροιμία , was neben dem Wege liegt, nicht auf dem graden Wege selbst, das, wozu man erst seitwärts ablenken muss. Der deutsche Name Sprichwort, von spriche d. h. Wort, oder mit ganz ungrammatischer Schreibung Sprüchwort, bezeichnet nur in prägnant tautologischer Weise, dass es gesprochen, d. h. häufig und gewöhnlich gesprochen werde. Es leuchtet ein, in wie nahem Zusammenhange das Sprichwort mit der Fabel steht, und wie es sich wohl schickt, das eine nach dem andern abzuhandeln. Die Fabel will irgend eine sittliche Wahrheit lehren: das Sprichwort gleichfalls; die Fabel will sie lehren durch irgend eine vereinzelte Anschauung aus der Wirklichkeit: das Sprichwort gleichfalls. Aber nun kommen auch Unterschiede, die aus der practischen Bedeutung hervorgehn, welche das Sprichwort hat: es soll schnell in die Rede gemischt, es soll von Jedem gleich gefasst, von Jedem leicht und von Allen unverändert können behalten werden, und Jeder soll an seine Lehre glauben. Die Fabel fügt der epischen Anschauung gern die gemeinte Lehre noch hinzu, dem Concreten das Abstracte: das Sprichwort begnügt sich mit dem Concreten und erwartet, dass man darein den rechten Sinn legen und es recht gebrauchen werde. Die Fabel hat jedesmal eine gewisse epische Beweglichkeit und Ausführlichkeit, sei dieselbe auch noch so beschränkt und dürftig; und wo sie Parabel wird, ist sie sogar ebenso episch als die eigentlich epische Erzählung: das Sprichwort theilt zwar mit der Parabel das Gebiet der menschlichen, mit der Fabel das der untermenschlichen Wirklichkeit, aber es concentriert die Anschauung derselben bis zu einer Kürze, bei welcher zu epischer Ausführlichkeit kein Raum mehr bleibt. Und zuletzt, von allen Unterschieden der wichtigste und wesentlichste: die Fabel erzählt immer: das Sprichwort kann auch erzählen, aber noch öfter stellt es seine Anschauung nicht als eine vergangene Thatsache, sondern als eine täglich wiederkehrende Wahrnehmung dar; es fasst die Wirklichkeit nicht als eine bewegte und immer andere, sondern als eine ruhende und in ihrer Erscheinung sich immer wiederholende und gleiche: die Fabel redet stets im Präteritum, das Sprichwort lieber im Präsens. Diese letzte hauptsächliche Eigenthümlichkeit des Sprichwortes ergiebt sich zumeist aus der practischen Bedeutung, die es in Anspruch nimmt: es verlangt überall und bei Jedermann zu gelten; Jedermann soll ihm glauben; zu allen Zeiten und unter allen Umständen will es die Wahrheit sagen: daher diese präsentische Form der wiederholten Wahrnehmung, die nicht eine auf die Vergangenheit beschränkte erzählende ist, sondern sich über die Gegenwart hin bis in alle Zukunft erstreckt. So gehört denn das Sprichwort nur noch zur Hälfte in die Epik; zur Hälfte liegt es ausser derselben: es gehört zu ihr, insofern es seine Anschauungen auch aus der äussern Wirklichkeit entnimmt; es sondert sich von ihr ab, insofern diese Wirklichkeit keine historisch bewegte ist. Bei all dem ist der enge Zusammenhang, der zwischen der Fabel und dem Sprichworte besteht, nicht zu verkennen. Zu der innern Uebereinstimmung beider kommt auch noch mannigfache äussere Verbindung. Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln, dass viele Sprichwörter nur verkürzte Fabeln oder Thiersagen, viele Fabeln nur erweiterte Sprichwörter seien. Wenn es z. B. bei Jesus Sirach 13, 3 heisst: „Was soll der irdene Topf mit dem ehernen? wenn sie zusammenstossen, zerbricht er“: so ist das noch ein Sprichwort. Zur Fabel ausgeführt begegnet uns dann dasselbe Bild unter den jüngeren griechischen Vermehrungen des Aesop (Halms Ausgabe 422), bei Avian 11, bei Bonerius (im Edelstein, Fab. 77) u. a. Umgekehrter Weise verhält es sich mit einem Sprichworte, das Freidank in seine Bescheidenheit aufgenommen hat: „Swer den mûl wil frâgen von sînen hœhsten mâgen, sô nennet er ê den œhein dan vater oder friunde dehein“ (W. Grimms Ausg. 141). Das ist wieder Verkürzung einer ältern Fabel, die schon bei Aesop erscheint (Halms Ausg. 157) und bei Lateinern des Mittelalters vor Freidank und nach ihm noch als Fabel im Renner Hugos vom Trimberg (LB. 1 4 , 831. 1 5 , 1011). Und ebenso hat unsre sprichwörtliche Redensart „der Katze die Schelle anbinden“ d. h. sich zum gemeinen Besten einer Gefahr aussetzen (Grimm, Wörterbuch 5, 283) ihren Ursprung und ihre Erklärung nur in einer Fabel lateinischer und deutscher Dichter des Mittelalters (Boner. Edelst. 70). Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang bei Bonerius: Bonerius liebt es, die lehrhafte Wirkung seiner Fabeln noch durch eingemischte Sprichwörter zu verstärken, und da sagen denn diese Sprichwörter in der Regel auch das Gleiche, nur kürzer, was die ganze Fabel, nur weitläuftiger, sagen will. So beginnt die zweiundzwanzigste (LB. 1 4 , 945. 1 5 , 1125) von der Reue des todtkranken Weihen mit dem Sprichworte: „Dô der siech genas, dô was er, der er ouch ê was“; und weiterhin (LB. 1 4 , 946, 3. 1 5 , 1126, 3) kehrt noch einmal der gleiche Satz in andrer, wenig abweichender Einkleidung wieder: „Ein wolf was siech: dô er genas, er was ein wolf als er ê was“. Sicher beruhen auch diese beiden Sprichwörter auf älteren Fabeln: nur so erklärt sich die hier angewendete seltnere Form des Präteritums. Wie die Fabel in der äusseren Darstellung schwankt zwischen gebundner und ungebundner Rede, so denn auch das mit ihr verwandte Sprichwort. Und es dürfte kaum verwundern, wenn das Sprichwort überall und ganz und gar die prosaische Form vorzöge, da es ja wo möglich noch didactischer ist als die Fabel. In der That liegt auch, wenn etwa ein Sprichwort rhythmisch geordnet und mit dem Reim oder der Allitteration geschmückt ist, darin noch keinerlei Anspruch auf poetische Kunst: der Rhythmus der Rede und der Gleichklang der Laute sollen nur grade diese Gestalt der Abfassung sichern und das Aufbewahren im Gedächtnisse erleichtern. Die ältesten Sprichwörter der Deutschen, welche am Anfang des elften Jahrhunderts schriftlich aufgezeichnet wurden (LB. 1 4 , 139. 1 5 , 317), sind beinah ohne Ausnahme alle prosaisch, gleich denen der alten Welt und des Morgenlandes: die Form des Reimes häufiger auf sie anzuwenden hat man vielleicht erst von Freidank, also erst am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gelernt. 2. DIE LYRISCHE POESIE. Indem wir von der epischen Poesie zur lyrischen übergehn, kommen wir von einem polaren Gegensatz zum anderen. In den meisten Stücken liegen beide innerhalb ganz verschiedener Regionen und schlagen durchaus verschiedene Wege ein. Aber doch ist die eine aus der andern hervorgegangen, und so wird auch irgendwo ein Punct sein müssen, in welchem sich beide berühren. Jene Trennung und diese Vereinigung, beides ist nun zu besprechen. Die Eigenthümlichkeiten der lyrischen Poesie werden uns klarer vor Augen treten, wenn wir sie mit den uns bereits bekannten Eigenthümlichkeiten der epischen Poesie zusammenstellen. Die Epik entnimmt ihre Anschauungen aus der Wirklichkeit der Geschichte, also der sinnlichen Aussenwelt: die Anschauungen des lyrischen Dichters gehören der geistigen Innerlichkeit, seine Wirklichkeit ist die des Seelenlebens; während uns also der epische Dichter äussere Thatsachen vorführt, zeigt uns der Lyriker innere Zustände. In der Epik ist das Object der Anschauung verschieden von dem anschauenden Subject, und je weniger dieses sich bemerkbar macht, je reiner und ungetrübter bloss das Object vor Augen tritt, desto vollkommener wird auch die Dichtung sein: der Character der Epik ist also die Objectivität. In der Lyrik sind Subject und Object eins, das Subject hat sich selbst zum Object, sie ist gleichsam reflexive Poesie: hier ist also die höchste Subjectivität zugleich die höchste Objectivität, und je subjectiver ein lyrisches Gedicht ist, desto lyrischer ist es auch: man kann deshalb im Gegensatz zur Epik als das Wesen der Lyrik die Subjectivität bezeichnen. Der Epiker erlangt jene Objectivität nur dadurch, dass er sich seiner Anschauungen vorzüglich durch die Einbildungskraft bemächtigt, dass er die Geschichte festhält durch die Erinnerung, dass er der Geschichte nachschafft durch die Phantasie; die epische Poesie ist die Poesie der Einbildungskraft. Die Subjectivität der Lyrik dagegen beruht in dem erregten Gefühl des dichterischen Subjectes, in diesem sind die Anschauungen zu Hause, welche der Dichter ausspricht, und wenn in der Epik das Gefühl nur in so weit thätig ist, als es der Einbildung dient, so wirkt in der Lyrik die Einbildung nur, indem sie dem Gefühle dient: die lyrische Poesie ist also die Poesie des Gefühls. Jene Oberherrschaft der Einbildungskraft, jene vollkommene Objectivität, welche die Epik characterisiert, sind aber nur möglich, wenn der Dichter entweder gar keine scharf ausgeprägte Individualität hat oder sich wenigstens ihrer zu entschlagen weiss, so lange er dichtet; die Epik ist kein Ausfluss und kein Wiederschein des Individuums, sondern der gesammten Nation, sie ist national. Dagegen die lyrische Subjectivität ist allein das Resultat der vollendeten Individualität, die schon die Grenzen zwischen sich und der übrigen Welt gefunden hat und sich ihrer selbst bewusst geworden ist: sie ist mit Einem Worte individuell. Das Epos, weil es so national ist, wird darum auch das volle Verständniss und die volle Reproduction immer nur bei demjenigen Volke finden, in und aus dessen Mitte es erwachsen ist: über die Grenzen dieses Landes und dieses Zeitalters hinaus wird es immer fremder und fremder. Anders die Lyrik: ein lyrisches Gedicht ist zwar in seinem Ursprunge auf den vereinzelten Punct Eines Individuums eingeschränkt; trotzdem aber und eben deswegen erstreckt sich seine Wirksamkeit über alle Völker und Länder und Zeiten hin. Denn so wie der Dichter nicht mehr aus dem Volke, sondern lediglich aus sich heraus spricht, spricht er auch nicht mehr als Grieche und Deutscher, sondern lediglich nur noch als Mensch: und damit ist seinem Gedichte die Reproduction bei allen gesichert, die auch Menschen sind und auch schon gelernt haben, ihre menschliche Besonderheit aus der nationalen Gesammtheit herauszulösen. Während also die Epik national ist, hat die Lyrik einen egoistischen und deshalb kosmopolitischen Character. Aus dieser zugleich egoistischen und kosmopolitischen, dieser individuellen, subjectiven, gemüthlichen, innerlichen Natur der Lyrik ergiebt sich als letzter Unterschied etwas, das früherhin schon ausführlich ist behandelt worden (S. 42─46), nämlich ihr jüngeres Alter; wenn hier auch gar keine äusseren Zeugnisse sprächen, so dürfte man schon aus inneren Gründen zuversichtlich behaupten, sie sei später entsprungen als die Epik. Denn eine solche Poesie ist nur bei vorgerückter Civilisation möglich; noch jetzt können wir an einfachen, natürlichen Menschen täglich die Erfahrung machen, dass Naturen der Art niemals im Stande wären, ein lyrisches Gedicht weder zu producieren, noch zu reproducieren. Solche Seelen haben dafür ein viel zu gesundes Nervensystem: leisere Eindrücke empfinden sie gar nicht, und durch stärkere werden sie in eine so heftige Aufregung versetzt, dass sie die Leidenschaft nicht zu mässigen wissen, dass ihnen jenes Mass der Kunst gebricht, ohne welches keine künstlerische Anschauung möglich ist. Was aber ausser ihnen geschehen ist, das zu erzählen wissen sie ganz wohl: die epische Poesie kann sehr wohl unter solchen Menschen und muss zuerst unter ihnen entspringen. Bisher haben wir Epik und Lyrik nur betrachtet, inwiefern sie auseinandergehn; nun haben wir auch den Punct zu suchen, in welchem sich die verschiedenen Richtungen berühren und vereinigen, gleichsam den Indifferenzpunct der beiden Polaritäten. Also beide zeigen den Dichter in Beziehung auf die Welt ausser ihm, beide schliessen sich an die äussere Wirklichkeit, an geschehene Thatsachen an; nur jede in eigenthümlicher Weise. Der Epiker macht die äussere Wirklichkeit zur Form der angeschauten Idee, er giebt sich ganz den Thatsachen hin und erzählt sie, sein Thun gleicht dem transitiven Zeitworte mit einem Objectsaccusativ; den Lyriker geht die Welt ausser ihm nur in so fern etwas an, als sie auf ihn einwirkt, als irgend ein Factum oder sonst irgend etwas, das er ausser sich gewahrt, sein Gefühl erregt, sein Thun gleicht einem in sich abgeschlossenen intransitiven oder reflexiven, etwa mit einem Genitivus causalis bekleideten Zeitwort: in so fern ist aber auch er durchaus von der geschichtlichen oder sinnlichen Wirklichkeit abhängig: denn es giebt keine inneren Zustände, die nicht ihren wirkenden Grund ausserhalb des Menschen in der Geschichte, in der Natur oder in Gott hätten, sollte auch er selber sich dessen nicht bewusst sein und keine Rechenschaft darüber geben können. Jede lyrische Anschauung hat ihren Anlass ausser dem Dichter: ebenso wird sie auch noch durch das Mittel der Darstellung, durch die Sprache, unablässig in eine immer wiederholte Beziehung zur äusseren Wirklichkeit gebracht. Der Grund aller Sprache ist eine durchaus concret sinnliche Auffassung; die innerlichsten Dinge benennt sie auf die alleräusserlichste Art, und so kann der Lyriker kein Gedicht zu Stande bringen, ohne dass von Anfang bis zu Ende seine innern Zustände mit Anschauungen der Aussenwelt umkleidet und versinnlicht werden. Jene causale Beziehung auf die Aussenwelt ist der Punct, in welchem die Lyrik nicht bloss ihrem innern Wesen nach mit der Epik zusammenhängt: es ist diess auch der Punct, an welchem sie im Entwickelungsgange der Poesie aus der Epik entsprungen und herangewachsen ist. Eh wir jedoch diese Betrachtung weiter verfolgen, ist zuvor noch eine andre Uebereinstimmung zu besprechen, die zwischen Epik und Lyrik besteht und deshalb besteht, weil eben beides Poesie ist, d. h. weil beide progressiv anschauen und darstellen. Ein episches Gedicht schreitet vorwärts, weil die Wirklichkeit, aus der es seine Anschauungen entnimmt, eine geschichtliche, d. h. eine von Thatsache zu Thatsache vorwärts schreitende ist. Ein lyrisches Gedicht geht auch vorwärts, aber nicht aus dem gleichen Grunde: denn seine Anschauungen gehören nicht der äusseren Geschichte an; sondern es geht vorwärts, weil die inneren Zustände nothwendig auch einen historischen Verlauf, eine causale Verkettung haben gleich den Thatsachen der Epik, und weil die Empfindungen des Dichters auch nicht neben einander liegen, sondern eine der andern nachfolgen, eine aus der andern hervorgehen; es geht vorwärts auch wieder jenes Mittels der Darstellung wegen, weil auch die Sprache vorwärts geht. Es hat also ein lyrisches Gedicht in Anschauung und Darstellung ebenso wohl zusammenhangenden Fortschritt und Reihenfolge als ein episches, nur dass es hier innere Zustände sind, die in einer Reihenfolge von Ursache und Wirkung vor uns treten. Daraus ergiebt sich eine Regel über die Grösse und den Umfang, überhaupt die ganze Composition lyrischer Dichtungen. Die Einheit Einer leitenden Idee, welche Anfang, Mitte und Ende beherrscht, welche Alles zusammenhält und jede Empfindung zurückweist, die ausser ihrem Bereiche liegt, diese Einheit versteht sich von selbst: denn das ist eine allgemeine Anforderung, der sich jedes Kunstwerk unterwerfen muss. Aber für die Lyrik wird insbesondere noch eine überschauliche, gedrungene, concentrierende Einfachheit verlangt. Ein episches Gedicht kann sich eher ausdehnen und überall ausführlich sein: denn da der causale Zusammenhang äusserer Thatsachen leichter zu fassen ist, so kann der Leser dem Dichter auch auf einem längeren Wege reproducierend folgen. Nicht so ist es bei lyrischen Dichtungen. Hier gilt es die Reproduction innerer Zustände; und diese ist offenbar um vieles schwieriger: es sind leisere Fäden, an welchen die Empfindungen zusammenhangen als jene, welche Thatsache mit Thatsache verbinden. Deshalb ist es hier gut, den Kreis so eng zu ziehen als möglich, und gut, auch innerhalb des engen Kreises nicht gar zu weitläuftig und ausführlich zu sein; wenn man gar zu sehr bemüht ist, dem Leser die einzelnen Empfindungen eigentlich vorzuentwickeln und ihm auch den kleinsten Schritt aus einer in die andre vorzuthun, so kann man gewiss sein, dass er bald keinen mehr nachthut; denn er erwartet hier nachempfindbare Bewegung des Gemüthes, aber keine nachdenklich psychologische Entwickelung. Diese Regel der concentrierten Einfachheit gilt jedoch in ihrer ganzen Ausdehnung nur für rein lyrische Dichtungen, nicht aber für episch-lyrische oder für didactisch-lyrische: bei solchen lässt man sich den längeren und langsameren Verlauf schon gefallen, aber doch nur um des beigemischten unlyrischen Elementes willen, um der Epik willen, die eine Reihe von Thatsachen, um der Didactik willen, die eine logisch geordnete und ausgesponnene Deduction mit sich führt. Die Elegien des Kallimachus können deshalb so viel länger und breiter sein als die Oden der Sappho, weil jene episch-lyrisch, diese rein lyrisch sind; und eben deshalb ist die Eine Urania von Tiedge so lang, ja noch länger als alle Lieder von Uhland zusammengenommen, denn sie ist didactischlyrisch, diese meist rein lyrisch. Die gedrängte Kürze der Lyrik war ursprünglich auch durch ein Mittel ihrer Darstellung motiviert, den musikalischen Vortrag, von welchem sie auch ihren Namen empfangen hat: als die epischen Dichtungen längst schon nicht mehr gesungen, sondern nur noch gelesen wurden, da galt für die Lyrik immerfort noch der Gesang, bei uns wie bei den Griechen und bei andern Völkern, bei den Griechen bis in die spätesten Zeiten, bei uns bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst: erst diess neue Mittel der Verbreitung und Erhaltung poetischer Werke hat das Singen wie das Sagen mit Einem Male wo nicht gänzlich verdrängt, doch vielfach entbehrlich gemacht. Der Gesang aber ward meist mit Saitenspiel begleitet, im Mittelalter mit der Harfe und der Geige und andern ähnlichen Instrumenten, bei den Griechen meist mit der Lyra, die als vollkommeneres Tonwerkzeug an die Stelle der epischen Kitharis oder Kithara getreten war. Daher der Name, wie denn schon das griechische λύρα auch zur Bezeichnung der lyrischen Poesie gebraucht wurde. Dieses Vortrages durch den lebendigen Gesang und das kunstreiche Saitenspiel waren aber natürlich nur solche Dichtungen fähig, die in ihrem Umfange der Kraft des Sängers und der Aufmerksamkeit des Zuhörers nicht zu viel zumutheten, so dass in diesem Darstellungsmittel eine neue Bedingung zur Kürze vorhanden war. Obgleich wir zwar jetzt unsre lyrischen Gedichte nur noch zu lesen pflegen, so ist doch diejenige Art der metrischen Form, welche durch den Gesang bedingt ist, die strophische, bestehn geblieben. Die strophische Abfassung überkam aber unsre deutsche Lyrik von der Epik, wie das die ältesten lyrischen Gedichte unverkennbar zeigen, deren Form ganz oder beinahe ganz die altepische ist; nur hat sich die Strophe, welche in der Epik überaus einfach gewesen war, nun in der Lyrik alsbald zu grösserer Künstlichkeit und Mannigfaltigkeit ausgebildet: beides war an seinem Orte durchaus angemessen, die einfache Strophe passte ebensowohl zu dem gleichmässigen Fortschritt der Epik, als die reich und mannigfaltig gegliederte zu der leidenschaftlichen Aufregung der Lyrik. Bei den Griechen liegen die lyrischen Metra noch um vieles weiter ab von den epischen. Die griechische Epik kannte wahrscheinlich die Strophen überhaupt gar nicht; wenn sie dieselbe aber kannte, wie die neuesten Aufstellungen behaupten, so waren sie jedesfalls höchst einfach und bestanden aus lauter ganz gleichen Versen, nämlich Hexametern; und auf der andern Seite geht die künstliche Mannigfaltigkeit der lyrischen Metra bei den Griechen noch um vieles weiter als bei uns, da nicht bloss die Strophen aus verschiedenen Versen, sondern auch wieder die Verse aus verschiedenen Füssen zusammengesetzt wurden. Weiter können wir hier in Einzelheiten nicht eingehn: es ist genug, aufmerksam geworden zu sein, wie sich in diesem metrischen Gegensatze zwischen Epik und Lyrik das characteristische Verhältniss der äussern metrischen Form zum innern Gehalte scharf genug bei uns und noch schärfer bei den Griechen ausgeprägt zeige: denn bei den Griechen ist sowohl die Einfachheit der epischen, als die Mannigfaltigkeit der lyrischen Form auf das Aeusserste getrieben. Diese neuen Vergleichungen, bei denen sich wiederum zu gleicher Zeit Uebereinstimmung und Verschiedenheit der beiden Dichtungsarten erwiesen haben, leiten uns jetzt von neuem darauf hin, das historische Verhältniss derselben zu betrachten. Es wird mit wenigen Blicken und kurzen Worten abgethan sein, da diess kein Gegenstand ist, den wir jetzt zum ersten Mal berühren. Die Lyrik ist nicht bloss jünger als die Epik: sie ist aus derselben entsprungen. Die lyrisch gefärbte Epik, wie wir sie in den Hymnen der Griechen, in den Liedern der Deutschen des zwölften Jahrhunderts gefunden haben, begann den Uebergang; er ward weiter und der Vollendung entgegen geführt durch solche Dichtungen, in denen das lyrische Element bereits das überwiegende ist, die wir deshalb im Gegensatz zu jener lyrischen Epik epische Lyrik nennen wollen. In der lyrischen Epik wird die geschichtliche Wirklichkeit noch durchaus episch, d. h. als eine Vergangenheit aufgefasst: in der epischen Lyrik kann sie eine noch unvergangene, vorliegende sein, ja es verhält sich gewöhnlich so, da hier das dichterische Individuum schon mehr hervortritt und dem Individuum die Geschichte der Gegenwart näher liegt und es mit ihr vertrauter und befreundeter ist. Das Individuum tritt aber nur mehr hervor als in der lyrischen Epik, noch nicht in der ganzen Fülle der Subjectivität und Individualität; am deutlichsten zeigt sich das in den beiden Hauptarten der epischen Lyrik, die bei den Griechen auf dieser überleitenden Stufe liegen, in der Elegie der Ionier und der chorischen Lyrik der Dorier. Wie diese in ihren Anfängen beschaffen waren, sprach da der Dichter immer noch weniger aus seiner Seele, aus seiner Individualität heraus, als aus der Seele seines Volkes, aus seiner Nationalität: aber diese Nationalität war selbst schon eine individuell beschränkte; es war nicht mehr die allgemein hellenische, sondern die speciell ionische oder dorische, grade wie diese elegischen und chorischen Dichter sich auch nicht mehr der alten epischen Gesammtsprache, sondern schon ihrer abgesonderten Mundart bedienten. Mit diesem Anschliessen an die nächste Gegenwart war denn aber der letzte Wendepunkt gegeben, an welchem die Poesie endlich in die reine und eigentliche Lyrik übertreten musste: wie von selbst schob sich an die Stelle der gegenwärtigen geschichtlichen Wirklichkeit die gegenwärtige Wirklichkeit überhaupt; nicht mehr bloss, was ausser dem Dichter grade geschah, sondern was überhaupt ausser ihm war, die ganze äussere Wirklichkeit ward der Anstoss zu lyrischen Anschauungen, und diese mussten um so subjectiver und individueller sein, je weniger eigentlich Geschichtliches in jenen anregenden Motiven lag. Diese leichte, aber entscheidende Wendung ist es, die überall nach den vorbereitenden Stufen, der lyrischen Epik und der epischen Lyrik, zuletzt die eigentlich lyrische Lyrik hinstellt; so ist's bei uns, so ist's bei den Griechen gewesen: die reine Lyrik der Aeolier hat sich erst nach der epischen Lyrik der Ionier und der Dorier gebildet. Die volle Bedeutung, welche nun endlich das dichterische Individuum gefunden hatte, zeigt sich, wenn man die äolische Lyrik mit der dorischen vergleicht, schon äusserlich auf das schlagendste darin, dass zum Vortrage der dorischen Dichtungen noch der Chor gehörte, gleichsam der Repräsentant des Volkes, in der äolischen dagegen der Gesang die Sache eines Einzigen war. Somit hätten wir nun bereits zwei Arten lyrischet Poesie: epischlyrische als Weiterbildung der lyrisch-epischen, und lyrisch-lyrische als Ziel und Ende des ganzen Weges. Aber auch die andre Mischart der Epik, auch die didactische Epik trieb ihre Sprossen in die Lyrik hinüber, und es erwuchs aus ihr auf diesem neuen Gebiete die didactische Lyrik, Lyrik, die sich anschliesst an ein zu lehrhaften Zwecken ergriffenes episches Motiv. Mithin haben wir drei Arten der Lyrik zu unterscheiden: 1) die epische Lyrik oder die Lyrik der Einbildungskraft, die Fortsetzung der lyrischen Epik, die sich anschliesst an epische Motive; 2) die didactische Lyrik oder die Lyrik des Verstandes, die Fortsetzung der didactischen Epik, welche lehrhafte Zwecke verfolgt, und 3) die lyrische Lyrik oder die Lyrik des Gefühls, der Gipfel, die Blüte und Frucht dieser ganzen Dichtungsart, ohne episches Motiv und ohne lehrhaften Zweck. Jede dieser drei Arten ist nun noch im Einzelnen näher zu betrachten. Wir beginnen mit der epischen Lyrik, der Lyrik der Einbildungskraft. Indem der Dichter die lyrische Entwickelung innerer Zustände an ein äusserlich gegebenes episches Motiv anknüpft, kann er auf zwiefache Weise verfahren. Erstens versetzt er sich ganz und gar mitten in die epische Wirklichkeit hinein, so dass nicht er selbst es ist, welcher die angeregten Empfindungen ausspricht, sondern dass er seine Worte der Person in die Seele und in den Mund legt, die handelnd oder leidend der tragende Mittelpunct jener Wirklichkeit ist. Wir wollen diess Verfahren das objective nennen. Durch ihre Objectivität schliessen sich dergleichen lyrische Dichtungen auf das engste an die lyrische Epik an; sie sind auch, historisch betrachtet, unmittelbar aus der letztern hervorgegangen. Wir haben es als eine gewöhnliche Beschaffenheit lyrisch-epischer Lieder kennen lernen, dass sie ganz kurz eine epische Situation hinstellen und dann die epische Person die Empfindungen aussprechen lassen, welche durch jene Umstände motiviert sind. Ein Beispiel der Art aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts bietet jenes Lied Dietmars von Aist (S. 95). Nimmt man diese epische Situation fort, durch welche dergleichen Dichtungen noch innerhalb der Epik festgehalten werden, und giebt man bloss in jener objectiven Weise den Ausdruck der inneren Zustände, so entsteht die Art von epischer Lyrik, die wir hier besprechen, die lyrische Auffassung und Ausführung einer epischen Situation. Dergleichen Lieder finden wir bald nach Dietmar von Aist; ja beinahe gleichzeitig mit ihm bei nur wenig späteren Dichtern, beim Kürnberger, bei Reinmar dem Alten (LB. 1 4 , 331. 1 5 , 509; Litt. Gesch. S. 240, Anm. 10). Häufig sind es klagende Liebeslieder, aber keine des Dichters, sondern eines Weibes, in dessen Seele der Dichter sich versetzt; das epische Motiv wird nicht besonders dargestellt, weil es sich aus den lyrischen Worten leichtlich von selbst ergiebt. Den Griechen und Römern scheint diese objective Art der epischen Lyrik minder bekannt gewesen zu sein; das bedeutendste Beispiel gehört einer späten Zeit an, die Heroides des Ovid, Briefe, die von berühmten Liebhaberinnen an ihre entfernten Liebhaber gerichtet werden, z. B. von Deïanira an Hercules, nebst etlichen Gegenbriefen ihrer Liebhaber: den Inhalt macht die Entwickelung innerer Zustände; die epische Grundlage derselben wird theils als bekannt vorausgesetzt, theils ist sie aus den inneren Zuständen zu errathen. Seit dem siebzehnten Jahrhundert, seit Christian Hofmann von Hofmannswaldau und anderen hat man diese Art hin und wieder auch in Deutschland nachgeahmt, zugleich aber den Namen missverstanden und verdreht: statt unter Heroides Heroinnen, Heldinnen, episch berühmte Weiber zu verstehn, hat man gemeint, Herois verhalte sich zu Heros wie Aeneis zu Aeneas und bezeichne ein Gedicht, das von Helden handle; deshalb und in diesem Sinne hat man die Gedichte selbst Heroiden genannt und daneben auch die deutsche Uebersetzung Heldenbrief gebraucht. Aber auch ohne diese Heroiden, die man also erst dem Ovid abgelernt hat, ist die objectiv epische Lyrik in Deutschland von jeher zu Hause gewesen; auch bei neueren Dichtern findet sich genug der Art. Als Beispiel ist eines der bekanntesten und besten Gedichte des Grafen von Platen zu nennen, der Pilgrim von St. Just (LB. 2, 1727). Das epische Motiv ist Karl V., wie er die Krone niederlegt und ins Kloster geht: das wird aber nicht erzählt, der Dichter legt auch nicht seine subjectiven Empfindungen dar, sondern er versetzt sich mit den Empfindungen, welche diess Ereigniss anregen kann, in die Seele des Handelnden selbst, er legt sie als Selbstgespräch Karl V. in den Mund. Wenn nun das Motiv kein ganz eigentlich episches ist, keine Thatsache, kein Ereigniss, kurz, nichts historisch Bewegtes, sondern überhaupt nur eine äussere Wirklichkeit, äussere Umstände und Zustände, in die aber der Dichter seine Empfindungen objectiv überträgt, so ergiebt sich daraus die mimische Poesie, so genannt, weil diess Versetzen in fremde Individualität und fremde Umstände die grösste nachahmende Treue in Auffassung und Darstellung verlangt. Dergleichen mimische Dichtungen finden sich gleichfalls, und diese ganz besonders häufig, in der deutschen Poesie: wir dürfen darin eine Nachwirkung des alten epischen Hanges erblicken. Beispiele bei Göthe: der Goldschmiedsgesell u. a.; bei Uhland: Lied eines Armen, Schäfers Sonntagslied, des Knaben Berglied, der Schmied, Jägerlied, des Hirten Winterlied, Lied des Gefangenen u. s. f. Da die Wirklichkeit, welche hier das Motiv abgiebt, keine historisch bewegte, sondern eine ruhende ist, so muss natürlich die mimische Poesie sehr leicht in das Gebiet der Idylle hinüberstreifen: in dieser Haltung erscheint sie denn auch gewöhnlich bei solchen Dichtern, die auch sonst Idylliker sind, wie z. B. bei Voss und Hebel. In den bisher besprochenen Arten von epischer Lyrik fliessen die epische Wirklichkeit und die lyrische Empfindung ganz in Eins; der Dichter entwickelt innere Zustände, aber nicht seine eigenen oder doch nicht als die seinigen, sondern als die einer fremden Individualität, und bedingt und hervorgerufen durch eine Wirklichkeit, in welcher er selbst sich nicht befindet, in welche er sich nur durch die Einbildungskraft versetzt. Neben dieser objectiven epischen Lyrik giebt es noch ein andres Verfahren, noch eine zweite Art, die auch auf epischen Anstössen und Grundlagen beruht, bei der jedoch das Epische und das Lyrische sich nicht in eben dieser Art und Weise mit einander verschmelzen, sondern die Aussenwelt gesondert vor dem Dichter daliegt, und er dieselbe in seiner Individualität und aus dieser heraus betrachtet. Zu dieser Art von epischer Lyrik, die wir im Gegensatz zu jener die subjective nennen können, gehört zuerst und zumeist die Elegie. Wir sind gewohnt, die Worte Elegie und elegisch in einem eingeschränkten Sinne zu nehmen, der den Griechen, von denen wir doch Wort und Sache selbst bekommen haben, fremd ist. Wir sehen für jetzt billiger Weise noch ganz von diesem einengenden Gebrauche ab und fassen den Begriff in seiner ganzen, ihm gebührenden Ausdehnung. Die Elegie der Griechen liegt recht eigentlich an der Grenze zwischen dem epischen Gebiet und dem lyrischen, schon auf dem lyrischen, aber noch hart am Uebergange und Anfange. Es mischen sich da epische Anschauung und lyrische, so dass letztere zwar durchaus herrschend bleibt und überwiegt, jene aber ebenso nothwendig ist für das Wesen des Ganzen. Der Dichter nimmt die Wirklichkeit ausser ihm, seien das nun einzelne, ihn besonders nah berührende, frische Thatsachen, oder sei es die gesammte Aeusserlichkeit des Menschenlebens oder der Natur, wie sie in ihrem ruhigen Bestande ihn gegenwärtig umgiebt: der Dichter nimmt diese frische Wirklichkeit mit all der epischen Objectivität, deren sie nur fähig ist, in sich auf und knüpft daran eine mehr oder weniger leidenschaftlich bewegte Entwickelung der subjectiven inneren Zustände, welche jene äussere Gegenständlichkeit in ihm, in ihm selbst erregt. Wie somit die Elegie episch und lyrisch zugleich ist, so ist sie auch bei den Griechen die älteste Form der epischen Lyrik, diejenige Form, welche den Uebertritt der Dichtkunst aus dem Gebiete des epischen Gesanges in das des lyrischen historisch vermittelt hat und Alles in ihr und an ihr, das Land, wo sie entsprungen ist, die metrische Form, in welcher sie sich bewegt, der Name, den sie führt, der ganze Stufengang der Entwickelung, den sie durchlaufen hat, das eigenthümliche Wesen, zu welchem sie dabei gelangt ist, Alles das sind Nachwirkungen und characteristische Spuren ihres organischen Zusammenhanges mit der Epik. Wir betrachten deshalb diese einzelnen Beziehungen näher. Das Land und das Volk, dem die griechische Elegie ihre Entstehung verdankt, und von dem sie auch bis in die spätesten Zeiten hinein mit vorzüglicher Liebe und dem meisten Erfolge ist gehegt und gepflegt worden, sind die Ionier. Sie ist also geboren und aufgewachsen und hat gelebt bei demselben griechischen Volksstamme, der sich auch von jeher zwar nicht ausschliesslich, aber doch vor Allem verdient gemacht hatte um die Cultur des epischen Gesanges, wie ja die mannigfach sich bestreitenden Nachrichten über den Geburtsort des Homer ihn doch beinahe alle unter den Städten und Inseln der Ionier suchen; Chios, die Heimat der Rhapsoden, die sich Homeriden nannten, war eine ionische Insel, und die Rhapsoden Ioniens trugen später ausser ihren epischen Rhapsodien auch Elegien vor. Wie also die Elegie entsprungen war unter dem Lieblingsvolke des epischen Gesanges, wie sie als älteste Gattung der Lyrik unmittelbar auf die Epik folgte, und wie sie die epischen Anschauungen mit in die Lyrik hinübernahm, so deutet sie auch in ihrer metrischen Form auf die begründend vorangegangene Epik zurück, zeigt auch darin ihre zwischen beiden Gattungen schwankende und schwebende Zwiespältigkeit. Ihre Form ist bekanntlich das Distichon, eine zweizeilige Strophe, bestehend aus Hexameter und Pentameter, dem altepischen und einem lyrischen Verse. Jener entspricht der ruhenden, objectiven Grundlage, welche die aufgefasste epische Anschauung bildet, dieser der lyrischen Empfindung, welche sich bewegt über jene Grundlage hin; jener stellt die stätig fortwirkende objective Ursache dar, dieser die daraus entspringende Wirkung der mannigfaltig wechselnden subjectiven Gefühle; jener ist gleichsam der epische Vordersatz, dieser der lyrische Nachsatz. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass wirklich auch der Hexameter immer epischen, der Pentameter immer lyrischen Inhalt habe und haben solle und könne: nur im Allgemeinen wird die zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, die das Wesen der Elegie ausmacht, durch den entsprechenden metrischen Zwiespalt epischer und lyrischer Verse characteristisch bezeichnet: und es wird damit auch in der metrischen Form bis zur grösseren Hälfte der Strophe ein Ueberrest der alten alleinigen Epik bewahrt. Erst die Römer haben es versucht, etwas von jenem Gegensatz sogar bis innerhalb der einzelnen Distichen durchzuführen: bei ihnen ist es feste Regel, was bei den Griechen kaum der gewöhnlichere Gebrauch ist, mit jedem Pentameter einen Satz zu schliessen, und dann stehn sich auch bei ihnen Hexameter und Pentameter häufig gegenüber wie Vordersatz und Nachsatz, zuweilen wirklich auch als epischer Vordersatz und lyrischer Nachsatz. Wie die metrische Form der Elegie, so weisen auch ihre Benennungen auf den epischen Ursprung zurück. Lange Zeit trugen sie den gleichen Namen als die epischen Gesänge, nämlich ἔπη : so nannte noch Solon selber seine elegischen Dichtungen. Dann aber trat ein andrer an dessen Stelle, der jedoch nicht minder aus der alten epischen Zeit herrührt. Wir haben früher als eine Hauptgattung der lyrischen Epik, als eine epische Gelegenheitspoesie der Griechen die Threnen kennen gelernt (S. 92); eine besondre Art solcher Threnen hiess ἔλεγος . Dieses Wort, welches eine kindische Etymologie von ͗ὲ ͗ὲ λέγειν , weh weh rufen, herleitet, gehört zu derselben Wurzel wie ἔλεος , Mitleid, ἐλεέω , bejammern, ἐλελεῦ und mit Ablaut ἀλαλά , ein Kriegsgeschrei, ὀλολύζω , klagen, jammern, namentlich zu den Göttern empor; das γ von ἔλεγος findet sich auch in ἀλαλαγή und ὀλολυγή . Solche ἔλεγοι , Klagelieder, wurden mit Begleitung der Flöte gesungen, wie die Nenien der Römer; die characteristische Versart war der Pentameter, vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt, vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung von ἔλεγος ist ἐλεγεῖον , das vielleicht ursprünglich nur der Name des Pentameters ist, sicherlich aber und jedesfalls einer aus Hexameter und Pentameter zusammengesetzten Strophe, also des sonst s. g. Distichons. Die neue Dichtungsart nun, die Elegie, theilte mit dem alten ἔλεγος die Anlehnung an die epische Wirklichkeit, sie sprach auch nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem ἔλεγος den Gebrauch des Distichons sammt der mit dem Gesange verbundenen Flötenbegleitung. Alles diess war Anlass, jene von ἔλεγος gebildete Ableitung ἐλεγεῖον nun in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es ward nun eben jedes episch-lyrische Gedicht in der Form des Distichons ἐλεγεια genannt, entweder als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als sing. fem. ἡ ἐλεγεία . Also finden wir auch in den Benennungen eine Rückbeziehung auf die Epik: in der älteren ἔπη auf die reine eigentliche, in der späteren ἐλεγεία auf die lyrisch gefärbte, den ἔλεγος . Aber auch in dem Entwickelungsgange, den die Elegie genommen, zeigt sich ihr enger Zusammenhang mit der Epik. Auf den ersten Stufen, nachdem sie entsprungen, tritt in dem lyrischen Theile kaum schon eine persönliche Individualität heraus; es ist zwar eine Individualität vorhanden und nicht mehr die allgemein gültige Nationalität der Epik, aber noch nicht die Individualität des einzelnen Dichters, sondern die des Volksstammes, der Insel, der Stadt, also eine nationale Individualität: immer noch ein Theil der altepischen Anschauungsweise. Die politische Gegenwart, das Staatsleben, das den Dichter umgab, die Kämpfe nach aussen und im Innern, dergleichen bildete den epischen Grund, auf welchem nun die lyrische Betrachtung sich entfaltete; diess war aber keine Betrachtung vom Standpuncte des Einzelnen, sondern vom Standpuncte Aller, die das gemeinsame Staats- oder Parteiinteresse zusammenhielt. Ein Beispiel hiefür bieten die kriegerischen Elegien des Tyrtäus, eines Dichters von ionischem Blute. Nach und nach jedoch machte sich wie im Leben und sonst in der Kunst auch in dieser Dichtungsart das Individuum immer geltender, sie ward immer weniger national, immer mehr subjectiv, sie wandte sich immer mehr von den allgemeinen Interessen ab und zu den persönlich besonderen des Dichters hin und ward somit immer lyrischer. Ereignisse aus dem beschränkten Leben des Dichters selbst und diese allein wurden es nun, die ihn zu lyrischen Anschauungen erregten, seiner Freude und seiner Trauer gab er Worte. Jetzt erst entstanden auch Elegien in dem engern Sinne, welchen man diesem Worte beizulegen pflegt, Ergüsse wehmüthiger Empfindungen über irgend ein dem Dichter schmerzhaftes Ereigniss. Von dieser Art sind die Elegien des Mimnermus. Aber keineswegs blieb die Elegie auf solche Empfindungen eingeschränkt. Zwar nahm sie von jetzt an eine beinahe ausschliessliche Wendung auf die Liebe: aber innerhalb dieses Gebietes gab es keine weitere Begrenzung mehr: die Lust und das Glück der Liebe wurden in gleichem Masse der factische Grund elegischer Dichtungen als das Unglück und der Schmerz. In dieser Raum gebenden Einschränkung haben dann auch die Römer die Elegie von den Griechen übernommen. Wir endlich, die wir die ganze Dichtungsart überhaupt erst durch Nachahmung der Alten uns angeeignet haben, können auch die factische Grundlage nehmen, woher wir wollen: es steht uns frei, in der politischen Weise des Kallinus zu dichten, in der schwermüthigen des Mimnermus und in der leichteren des Ovid. Nachdem wir die antike Elegie nach mehreren Seiten hin in verschiedenen Beziehungen und zuletzt auch in Betreff ihrer geschichtlichen Entwickelung betrachtet haben, sind jetzt noch einige Erörterungen über das Wesen derselben im Ganzen und Allgemeinen hinzuzufügen. Jede Elegie bedarf also einer Anschauung aus der äusseren Wirklichkeit als des epischen Objectes, das der Dichter aus seinem Gemüthe heraus subjectiv betrachtet, und das so dessen Empfindungen in Bewegung und Erregung bringt: indem nun diese Empfindungen mit der vorwärts schreitenden Betrachtung des epischen Elementes selber vorwärts schreiten, entsteht die Elegie. Jene sein Gemüth anregende Wirklichkeit darf aber niemals ein ganzer längerer Verlauf von vergangenen geschichtlichen Thatsachen sein; solchen gegenüber ist nicht wohl eine anhaltende gemüthliche Beziehung möglich, bei welcher der Dichter seine individuelle Selbständigkeit bewahren könnte: das haben wir früherhin bei der lyrischen und didactischen Epik gesehen. Es sind vielmehr immer entweder vereinzelte Thatsachen ohne längeren Verlauf, gewöhnlich eben erst in frischer Vollendung vorliegende und in so fern noch gegenwärtige, oder, und so verhält es sich meistentheils, es ist die in ruhiger Gegenwart ihn umgebende Aussenwelt, eine Wirklichkeit ohne eigentlich epische Bewegung, die Natur, die seinem Blicke sich darstellt, die äusseren Verhältnisse des Staates oder der Familie, in denen sein Leben verweilt. Es besteht mithin eine gewisse Aehnlichkeit zwischen der Elegie und der Satire, aber zugleich ein noch grösserer Unterschied: auch der Satiriker blickt mit epischer Objectivität in die ihn umgebende Aussenwelt, aber er blickt in sie, um in ihrer Wirklichkeit Widersprüche zu finden gegen den Verstand und das sittliche Gefühl, und er ergreift sie mit der Absicht, an ihr zu lehren: bei dem Elegiker fehlt jedwede Absichtlichkeit; er beschaut die Wirklichkeit nicht, um an ihr eine Reihe von Gefühlen zu entwickeln, sondern er beschaut sie, und sie entwickeln sich in ihm; und tritt sein Gefühl mit der angeschauten Wirklichkeit in Widerspruch, so hat er diesen Conflict nicht gesucht, sondern hat ihn nur gefunden, auch ist es nicht der des Spottes, sondern etwa der der Wehmuth. Das epische Element hat demnach in der Elegie sein Wesen noch um vieles reiner und unverfälschter bewahrt als in der Satire; es erscheint nicht in einer dienstbaren Abhängigkeit von subjectiven Zwecken, sondern selbständig anregend und einwirkend auf das Gemüth des dichtenden Subjectes. Weit grösser ist die Aehnlichkeit, und häufig genug sind deshalb die Berührungen zwischen der Elegie und einer andern Mischgattung der Epik, nämlich dem Idyll. Einmal sind sie in so fern ähnlich, als die Anschauungen beider an sich selbst keine epische Beweglichkeit haben: denn das macht ja das Idyll zum Idyll, dass es ausser dem epischen Fortschritt von Thatsachen, die es erzählt, auch noch und hauptsächlich ruhende Aeusserlichkeiten schildert; und ebenso ist die Wirklichkeit der Elegie gern eine unbewegt ruhende und kann dann häufig genug nur durch das idyllische Mittel der Schilderung zur Anschaulichkeit gebracht werden. Wie aber das Idyll einen epischen Schein an sich nimmt und die einzelnen Theile in historischer Entwickelung dem Leser vor Augen führt, so muss sich auch die Elegie zu einem solchen epischen Anschein bequemen; auch sie muss das Ganze der äusseren Wirklichkeit in seinen Theilen auffassen und diese Theile in fortschreitender Reihenfolge an einander hängen. Das ist aber hier um vieles schwieriger als beim Idyll. Das Idyll enthält immer einen wenn auch noch so dünnen historischen Faden, an welchem der Dichter den Fortschritt der Schilderung leiten kann; in der Elegie ist meistens keine Hilfe der Art vorhanden. Und doch verlangt einmal alle Poesie einen gewissen historischen Fortschritt, und hier soll sogar die fortschreitende Entwickelung der Wirklichkeit noch einen andern Fortschritt begründen und tragen, den der inneren Zustände. Diese Schwierigkeit bestimmt den eigenthümlichen Character der Elegie: man hat nämlich auch hier nach dem Sprichwort aus der Noth eine Tugend gemacht, und weil die Elegie in den meisten Fällen nicht geradeaus gehn kann, nicht auf dem kürzesten Wege ihr Ziel sofort erreichen kann, so pflegt man von ihr eine zögernde, zaudernde Entwickelung zu fordern, und es ist Gebrauch, dass sie immer und immer wieder inne hält, dass sie seitwärts ablenkt bald links, bald rechts, dass sie die grosse Ebene der ruhenden Wirklichkeit wie ein sanfter Bach in Schlangenlinien durchwandert, dass sie wie in halbem Träumen hin und her schweift. Sie kann, wie gesagt, in den meisten Fällen gar nicht anders: aber eben dadurch ist dieser unruhige, immer wieder gehemmte, immer wieder stockende Gang so sehr zur Eigenthümlichkeit der Elegie geworden, dass man ihn auch da zu beobachten pflegt, wo er wohl zu vermeiden wäre, dass man es liebt, alle entlegenen Oerter zu beiden Seiten zu betrachten, auch wo uns der Dichter ganz wohl mitten hindurch auf der geraden Strasse führen könnte. Zu diesem Zögern und Umherschweifen der epischen und der damit verbundenen lyrischen Anschauungen passt auch sehr wohl die metrische Form, diese kurze Strophe, die dennoch bei den Römern wenigstens einen vollen Satz enthalten soll, die also den Dichter, eh er sichs versieht, wieder abzubrechen nöthigt und ihn zwingt, die Rede in lauter kleine Glieder zu zerlegen; die ausserdem zusammengesetzt ist aus zwei in ihrem Character eigentlich widerstrebenden Bestandtheilen, dem in gemächlicher Ruhe sich senkenden Hexameter und dem in Ungeduld zweimal aufspringenden Pentameter. Kaum hat der Hexameter auf ebenem Boden einen Schritt vorwärts gethan, so erhebt sich die Rede im Pentameter über den Boden; und kaum hat sie sich hier erhoben, so muss sie schon wieder in gemessenem Gange weiter schreiten. Als Meister und Muster dieser Gattung ist besonders Tibull zu betrachten. Aber nothwendig und wesentlich gehört jene zögernde Entwicklung nicht zur Natur der Elegie, und so sind denn auch die besten Elegien, welche die deutsche Litteratur besitzt, keineswegs so beschaffen. Die einzige namhafte, die in jene Art einschlägt, ist Die Kunst der Griechen von A. W. Schlegel vom Jahre 1799 (Athenaeum 2, 181): hier wird mit allen Abschweifungen, welche das weitläuftige Thema nöthig und möglich machte und mit fein angelegten Motiven und Uebergängen dieser einzelnen Abschweifungen die ganze griechische Kunst, ja beinah das ganze Leben der griechischen Welt überhaupt nach allen Seiten hin und von allen Seiten her geschildert und betrachtet; und wenn in solchem Verfahren das ganze Wesen der Elegie beruhte, so wäre diess Gedicht gewiss ein Meisterstück. Gleichwohl darf man dessen poetischen Werth nicht zu hoch anschlagen. Denn bei aller Kunst der Sprache und des Versbaues und bei aller kunstgeschichtlichen Gelehrsamkeit fehlt doch und zum Theil eben deswegen das unentbehrliche lyrische Element beinahe ganz: der Dichter hat dem epischen Grunde zu wenig Beziehungen auf das Gemüth abgewonnen, hat ihm auch wenig abgewinnen können, weil der epische Grund selbst ein für die Elegie unpasslicher und unpractischer ist: er hat zu viel wirklich historische Natur, und all diese Namen und Thatsachen gehören einer Zeit an, zwischen welcher und dem lebendigen Gemüthe eines neueren Dichters nur spärliche Verbindungen und Fäden laufen. Abgesehen von dieser Elegie haben sich sonst die deutschen Dichter nicht viel auf die Seitenwege und den Schlangenlauf der Elegie eingelassen. Schlegel selbst geht in seiner andern, noch berühmteren Elegie Rom, vom Jahre 1805, eine ganz gerade Bahn (LB. 2, 1293): er beginnt mit der Gründung der Stadt, ja mit der Vorgeschichte derselben, und verfolgt dann ihre Geschichte ungesäumt in streng chronologischer Weise bis auf den heutigen Tag. Also wiederum ein langer historischer Verlauf, dessen unelegische Natur bei dieser Behandlungsweise erst recht vor Augen tritt. Zeichen von Empfindung mischen sich nur verloren hin und wieder in diese Geschichtserzählung, und wäre nicht der sentimentale, an die Frau von Staël gerichtete Schluss, so würde man das Lyrische ganz vermissen. Göthes Römische Elegien (LB. 2, 1069) sind alle oder doch fast alle von der spätern griechisch-römischen Art, den Inhalt bildet die Liebe, sie sind heiter, tändelnd und mitunter leichtfertig; meist knüpft sich die lyrische Betrachtung an ein einzelnes eben geschehenes Factum, seltener an die ruhende Wirklichkeit; daher haben sie auch alle geringen Umfang. Das Meisterstück aber der Elegie, nicht bloss bei den Deutschen, sondern aller Elegie überhaupt, ist Der Spaziergang von Schiller, oder, wie es im ersten Druck, in den Horen vom Jahre 1795 betitelt ist: Elegie (LB. 2, 1145). Leichtlich möchte diess auch von allen Gedichten Schillers das gelungenste sein, indem man hier keinen von den Fehlern findet, die man sonst wohl an ihm rügen darf, dagegen all seine Vorzüge und manche Vorzüge, die sonst nicht so bei ihm entgegentreten. Einmal die Wirklichkeit, an welcher die Betrachtung sich entwickelt: es ist eine durchaus ruhende, nämlich eine Gegend, eine Landschaft, aber indem der Dichter sie durchwandert und nach und nach an seinem Auge vorübergehen lässt, gewinnt sie historischen Character, rollt sie sich in einer bedeutsam geordneten Reihenfolge von einzelnen Bildern vor dem Leser auf. Die lyrische Betrachtung nun, welche die Landschaftbeschreibung begleitet, und zwar begleitet in dem innigsten causalen Zusammenhange des Parallelismus und der Symbolisierung, erkennt in jenem Wechsel der Naturscenen nur ein Abbild der Geschichte der Menschheit, wie diese mit jedem Schritte mehr und mehr sich von der Natur entfremdet und damit auch von der Unschuld und der unbefangenen Sittlichkeit, bis der letzte Blick, den der Dichter um sich wirft, ihn überzeugt, nur in der Rückkehr zur Natur könne die Menschheit noch Heil finden, zur Natur, die immer beständig, immer sich gleich sei, während der Mensch in unablässigem Wandel immer mehr ausarte. Man sieht, diese lyrische Betrachtung hat selbst wieder, da sie sich auf die Geschichte der Menschheit richtet, einen historischen Verlauf in sich und ein episches Element, und sie allein könnte schon eine Elegie bilden: wie viel mehr Halt und Gehalt muss nun die ganze Dichtung gewinnen, die so auf dem eng verbundenen Parallelismus einer doppelten Wirklichkeit ruht, zuerst Natur und darüber erbaut Geschichte. Und hier ist der lang ausgedehnte historische Verlauf kein Fehler mehr, wie man ihn dort bei Schlegel fehlerhaft und der Dichtung schädlich finden durfte: denn hier finden wir keine Ueberfülle von Einzelheiten, sondern nur die grossen und die eigentlich bezeichnenden Hauptzüge; dann ist es nicht die Specialgeschichte Eines Volkes oder der Kunst Eines Volkes, es sind auch keine Facta und Personen einer fremden und weit entlegenen Vergangenheit, die hier vor dem Leser aufgezählt werden, sondern es ist die Geschichte der Menschheit, also eine immer noch gegenwärtige, fortdauernde Geschichte, eine Geschichte, die in dem Stufengange, welchen der Dichter beschreibt, noch jetzt täglich beginnt und endet, und so, dass wir mit darin stehn. Schiller gebraucht deshalb auch immer das Präsens, während Schlegel in den erwähnten Gedichten sich des Präteritums bedient. Da wird jenem denn auch voller und freier Raum gegeben zur Entfaltung der reichsten und bewegtesten Lyrik, einer Lyrik, die ganz und rein gemüthlich ist, zwar mit Beimischung, aber durchaus ohne störende Beimischung verständiger Reflexion, so nahe diese auch gelegt war, und so sehr sich sonst der Dichter in ihr gefällt. Man könnte über diess Gedicht leicht ein ganzes Buch schreiben, und ein solches Buch dürfte dann von selbst schon auch eine Theorie der elegischen Dichtkunst enthalten. Wir haben in der bisherigen Erörterung der Elegie im antiken Sinne des Wortes nirgend gesehen, dass die Wehmuth eigentlich und unerlässlich zum Wesen derselben gehöre. Es ist ihr vielmehr, wie wir gefunden, jedwede Regung und Aeusserung des Gefühles offen gelassen, die Entfaltung jeglicher inneren Zustände, seien sie, welche sie wollen, gestattet, wenn sie sich nur auf dem treibenden Grund und Boden einer mit angeschauten und mit dargestellten Wirklichkeit entfalten. Die Elegie hat zum alten Trauerliede, ἔλεγος , nur die Beziehung, dass die metrische Form des ἔλεγος auf die Elegie übergegangen und der ἔλεγος eine Art lyrischer Epik ist, wie die Elegie eine Art epischer Lyrik. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass das ganze Wesen der Elegie eine wehmüthige Art und Weise der Auffassung, wenn auch nicht fordre, doch sehr begünstige. Denn das ist ja Wehmuth, wenn das Gefühl einen Widerspruch entdeckt zwischen sich und der angeschauten Wirklichkeit, und wenn es nun in die Betrachtung dieses Widerspruches sich vertieft mit still duldendem und sich selbst nachhangendem Schmerz. Nirgend aber kann das Gefühl leichter in einen solchen Widerspruch treten als bei Bildern der Natur, den Gegenständen der Elegie; und auf keine Art kann sich die Wehmuth, die den Schmerz langsam auskostet, anschaulicher äussern als in dem stockenden, hin und her irrenden, alles berührenden Gange der Elegie. Wenn man also auch nicht behaupten darf, dass die Elegie Ausdruck der Wehmuth sein müsse, so ist doch so viel zuzugeben, dass die Wehmuth sich nicht besser ausdrücken könne als in der Form der antiken Elegie. Darauf beruht denn auch der hohe Werth der Elegien Hölderlins: sie sind alle durchdrungen von dem Gefühle wehmüthiger Vaterlandsliebe, sind Elegien des Heimwehs, wie z. B. das Gedicht Der Wanderer (LB. 2, 1258). Die neuere Zeit hat aber den Begriff und den Namen der Elegie so gewendet, dass er auf der einen Seite beschränkt, auf der andern erweitert wurde. Beschränkt, insofern man nur solche Gedichte so genannt hat, die eine gegebene Wirklichkeit mit Wehmuth betrachten, erweitert, insofern man für die äussere Form der Darstellung alle mögliche Freiheit gegeben und auch die moderne Reimstrophe zugelassen hat. Solche Elegien haben wir zum Beispiel und namentlich von Hölty und Matthisson. Matthisson lehnt sich auch hier an eine landschaftliche Wirklichkeit: aber leider ist diese Wirklichkeit keine für den Leser, da Matthisson nicht die Kunst besitzt, eine Landschaft zur Anschauung zu bringen; so ruht denn auch die angeregte Wehmuth auf keinem fest zusammenhangenden Boden mehr, der sie trüge und hielte; der Leser gewahrt wohl einzelne Züge der Aeusserlichkeit und der Innerlichkeit, deren jeder für sich ganz ansprechend sein mag, aber sie vereinen sich zu keinem Ganzen: vgl. LB. 2, 1199 fgg. Höher steht Hölty, der in seinen Elegien lieber von einer thatsächlichen Wirklichkeit ausgeht, wie z. B. in seiner Elegie auf ein Landmädchen (LB. 2, 867), und dessen Gefühl auch mehr Wahrheit und Innigkeit besitzt, als die Sentimentalität Matthissons, deren ungesunde Affectation nicht zu verkennen ist. Wie tief Matthisson steht, ergiebt sich am deutlichsten, wenn man ihn mit noch einem andern Dichter zusammenhält und z. B. sein Gedicht Die Kinderjahre (LB. 2, 1201) vergleicht mit einem ältern Gedichte Joh. Christian Günthers, welches überschrieben ist: „Als er sich seiner ehemaligen Jugendjahre mit Schmerzen erinnerte“ (LB. 2, 595). Wie einfach, wie wahr, wie eindringlich rührend ist Günther; wie kahl und kalt dagegen all die schönen Phrasen und Bilder, welche Matthisson in bunt verwirrter Menge aufhäuft! Höltys und Günthers Beispiel könnte jeden mit dieser modernen Wendung der Elegie versöhnen, besonders den, der die antike Form in der neueren Poesie unpasslich findet. Gleichwohl sind auch die ausgedehnten, vielzeiligen Strophen, wie wir sie bei Günther, bei Hölty und bei andern neueren Elegikern finden, nicht ganz passlich gewählt: sie zerlegen die Betrachtung in zu breite und damit in zu wenige Glieder; was aber dem Wesen gerade der wehmüthigen Elegie besonders angemessen ist, das stockende Innehalten, das träumerische Umherirren, kann in solchen Formen nicht erlangt werden: in ihnen fliessen Gedanken und Worte zu gleichmässig in breitem, ruhigem Strome dahin. Diess Bedenken macht sich auch gegen die italiänische Form der Canzone geltend, die trotz dem grossen Umfang ihrer Strophen von den Italiänern und den Deutschen, ich erinnere an Petrarca, A. W. Schlegel (LB. 2, 1277: Todtenopfer) und Zedlitz (Todtenkränze), für elegische Stoffe in diesem engern Sinne des Wortes angewandt wurde. Unter allen modernen Strophenformen die geschickteste für die Elegie möchte die Terzine sein. Statt dessen hat man sie lieber auf erzählende Gedichte übertragen, auf Gedichte, bei denen jede andre Form besser am Platze wäre als gerade diese. Um schliesslich nach der griechisch-römischen und der deutschen auch noch der hebräischen Poesie zu gedenken, so weist auch sie Gedichte auf, welche aus mehr als einem Grunde Elegien zu nennen sind. Diess gilt von zahlreichen Psalmen, Davidischen und andern, namentlich aber von den Klageliedern des Propheten Jeremias. Hier zeigen sich zwei der Elegie eigne Richtungen vereinigt: einmal haben sie einen politischen Inhalt, den Anlass bieten Ereignisse der Zeitgeschichte, politische Zustände der Gegenwart, wie in den ältesten Elegien der Griechen. Sodann treten uns die Empfindungen der Trauer in den verschiedensten Farben und Graden entgegen, von dem bittersten Schmerze, der an Verzweiflung grenzt, bis zur Wehmuth, die aus dem Leidenskelche zugleich den Trost kostet. Der Gedankengang aber ist eben der, welchen wir als den der Elegie eigenthümlichen gefunden haben. So verhält es sich namentlich in dem Klageliede, welches das dritte Capitel bildet. Unpassend genug ist es, dass diese Gedichte des Jeremias in griechischer und lateinischer Uebersetzung Threni heissen; denn die θρῆνοι waren Klagelieder auf bestimmte einzelne Verstorbene, und für Threnen sind diese hebräischen Gesänge auch nicht episch genug und nicht genug episch einfach. Es sind eben durchaus Elegien, und wäre Jeremias ein Grieche gewesen, gewiss würde er auch keine andre Form als die der Elegie zur Anwendung gebracht haben. Unmittelbar an die Betrachtung der Elegie schliessen wir die einer andern Dichtungsart, die mit ihr auf das engste und innigste verbunden ist, die des Epigramms. Desjenigen Epigramms nämlich, das den Griechen eigenthümlich ist, das die Römer meistentheils haben bei Seite liegen lassen, das auch die deutsche Litteratur erst seit Herder und Göthe kennt, das Epigramm der Empfindung: denn nur diess ist episch-lyrischer Natur. Die Art von Epigramm, die wir vor jenen Dichtern besessen, in der sich auch die Römer beinahe ausschliesslich gefallen haben, die aber bei den Griechen nur spärlich und erst in späteren Zeiten vorkommt, das Epigramm der Lehre, namentlich das durch Spott lehrende, das satirische, gehört zur didactischen Lyrik, und das werden wir erst dort als eine weitre, halb prosaische Umgestaltung des episch-lyrischen behandeln. Das Epigramm hat, wie das schon sein Name ἐπίγραμμα , Aufschrift, Inschrift andeutet, seinen Ursprung aus der Sitte genommen, Denkmäler, die man setzte, Weihgeschenke, die man den Göttern widmete u. s. w., mit einer Inschrift zu versehen, die den Namen des Weihenden oder dessen, dem das Denkmal gesetzt war, enthielt sammt historischen Notizen über den einen oder den andern, wozu dann noch, damit die Inschrift rechten Inhalt und auch sie einen künstlerischen Sinn und Werth besitze, eine Andeutung der Empfindungen kam, welche der Anblick des Denkmals, die Nennung dieser Namen u. s. f. erregte. Namentlich waren es die Gräber, die man mit solchen halb erzählenden, halb empfindungsvollen Inschriften, mit Worten der Erinnerung an den Todten und der Klage über seinen Verlust poetisch ausschmückte. Auch für andre Kunstwerke, Werke der Plastik und der Malerei, pflegte man solche Epigramme zu verfassen, die bald den Namen des Künstlers, bald den Namen oder eine characteristische Bezeichnung des dargestellten Gegenstandes angaben und dazu noch der Empfindung Ausdruck liehen, die das Kunstwerk in dem Beschauer erweckte; dieser Ausdruck erschien nicht selten in überraschend witziger Wendung, z. B. in der Form einer Hyperbel: alles das beinahe immer zum Lobe des Künstlers. So gab es z. B. viele Epigramme auf eines der bewundertsten Kunstwerke des Alterthums, die Kuh des Myron. Viele: denn die meisten, ja man kann annehmen, fast alle solche Epigramme sind niemals wirklich eingehauene, angemalte Inschriften gewesen: sondern es war damit nur gemeint, man könnte allenfalls diess darunter setzen. Es ist bei manchen auch gar nicht das Kunstwerk als solches, das die Empfindung anregt, sondern vielmehr die Persönlichkeit, die Thaten und Erlebnisse dessen, den es darstellt. Indem man nun auf diesem Wege noch einen Schritt weiter gieng, entstanden Epigramme ohne alle Beziehung auf ein Kunstwerk u. s. w., Epigramme vielmehr, die ohne irgend eine wirkliche Vermittelung solcher Art sich gradeswegs nur auf die historischen Personen, auf Ereignisse, auf Naturgegenstände selbst bezogen: das Object der empfindsamen Betrachtung ward für einen Augenblick nur gleichsam plastisch oder malerisch fingiert und fixiert. Es hat mithin das griechische Epigramm das mit der Elegie gemein, dass es gleichfalls von einem historisch gegebenen Object ausgeht, also von einer epischen Wirklichkeit, und dass es die Empfindung darlegt, welche die Betrachtung jener Wirklichkeit hervorruft, dass es also auch auf das epische Element ein lyrisches baut. Aber innerhalb dieses Gemeinsamen finden wir bedeutende Unterschiede: die Wirklichkeit der Elegie kann eine ausgedehnte, vielgliedrige sein, z. B. die ganze politische Gegenwart, eine weithin sich erstreckende Landschaft: das Epigramm greift immer nur vereinzelte Puncte heraus, Ein Ereigniss, Eine Person, Ein Naturbild. Und während, angemessen der breiten epischen Grundlage, die Elegie auch einen weiten und breiten Verlauf innerer Zustände entfaltet, gewährt das Epigramm nur Einen Zustand, nur Eine Empfindung, keine causal fortlaufende Reihe, und auch diese Eine Empfindung wird, weil sie eben so vereinzelt dasteht, weniger ausgeführt, als nur leise berührt und angedeutet. Und während es der Elegie bei ihrer Ausdehnung vortheilhaft ist, und in so fern von ihr gefordert wird, dass sie das epische Element mit dem lyrischen verschmelze und verquicke und nicht das eine abgesondert neben dem andern herlaufen lasse, ist es dem Epigramm bei seiner Einschränkung auf Eine Situation und Eine Empfindung nicht nur erlaubt und kaum anders möglich, sondern ihm auch vortheilhaft, dass es beide Theile schärfer getrennt aus einander halte, den epischen und den lyrischen, den objectiven und den subjectiven, den episch darlegenden, der die Theilnahme anspricht, und den empfindsam ausdeutenden, der die Theilnahme befriedigt: man unterscheidet auch beide mit besondern Namen und nennt den einen Theil expositio oder indicatio oder narratio, und den andern clausula oder conclusio. Und während die Elegie zum Object ihrer lyrischen Betrachtungen nicht gern einen geschichtlichen Verlauf der Vergangenheit nimmt, weil ein solcher für die subjective Lyrik zu episch wäre, darf die Exposition des Epigramms sehr wohl der fernsten und fremdesten Vergangenheit angehören: denn es kann doch immer nur Eine Thatsache sein, und es wird hier keine so innige Verbindung mit dem lyrischen Elemente gefordert. Diese Beschränkung des Epigramms auf Eine Thatsache und Eine Empfindung verlangt Kürze der Darstellung und ein angemessenes Verhältniss beider Theile: die Exposition darf weder mehr exponieren, als nachher ausgedeutet wird, noch die Clausel mehr ausdeuten, als vorher exponiert war. Deshalb war das Epigramm ursprünglich auf den Raum eines einzigen Distichons eingeschränkt, auf den epischen Hexameter, der das erzählte Object darlegte, und den lyrischen Pentameter, der die daran geknüpfte Empfindung enthielt. Diese Form war schon im Allgemeinen die angemessenste: da war sie es noch ganz besonders, wo ein solches Distichon oder ἐλεγεῖον als Grabschrift diente, wo es also in dem eigentlichen Masse des ἔλεγος die Trauer über den Verstorbenen ausdrückte. So auf ein Distichon, ein ἐλεγεῖον , eingeschränkt erscheint das Epigramm auch in metrischer Beziehung als die kleinste Einheit einer ausgeführten Elegie ( τὰ ἐλεγεῖα ), wie sie auch sonst zu ihr sich ungefähr in dieser Art verhält. Jedoch giebt es auch Epigramme, die sich über mehrere Distichen hin ausdehnen, weil trotz der Vereinzelung des factischen Gegenstandes und der empfindsamen Betrachtung dennoch jener Raum für eine rechte Objectivierung und Subjectivierung gar zu eng war. Epigramme der Art, wie sie eben sind beschrieben worden, Epigramme der Empfindung, machen zum grössten und hauptsächlichsten Theil den Inhalt der sogenannten griechischen Anthologie aus; Epigramme der directen Lehre und der in Spott eingekleideten, didactische und satirische Epigramme, kommen daneben nur spärlich vor. Umgekehrt bei den Römern; wir Deutsche haben Jahrhunderte hindurch das Epigramm der Empfindung kaum gekannt: erst durch Herder und Göthe sind auch wir damit befreundet worden. Unter dem Titel: Blumen aus der griechischen Anthologie gab Herder 1785 eine Auswahl von Epigrammen in deutscher Uebersetzung und in der Form des Distichons heraus, denen er 1791 geistreiche und so gut als erschöpfende Anmerkungen über das griechische Epigramm folgen liess, und Göthe dichtete im Jahre 1790 seine Venetianischen Epigramme (LB. 2, 1079). Nach ihrem Vorgange verfassten seitdem auch andre Dichter Epigramme, zunächst Schiller, bei dem jedoch, als einem reflectierenden Dichter, die didactischen Epigramme überwiegen (LB. 2, 1157). Uebrigens hatte Göthe schon früher, aber vor ihm nur wenige andre deutsche Dichter, Epigramme der Empfindung verfasst, nur nicht in Distichen: er nennt sie Lieder, aber ihre zweigliedrige Gestalt, die sich in einfache Exposition und einfache Clausel theilt, macht sie zu Epigrammen. Ein Beispiel der Art ist Wandrers Nachtlied, das an ein Naturbild die dadurch angeregten Empfindungen anknüpft: Ueber allen Gipfeln Ist Ruh; In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vöglein schweigen im Walde. Warte nur! balde Ruhest du auch. LB. 2, 1023. Dergleichen epigrammatische Lieder finden wir seitdem namentlich bei Uhland, der durch seinen dichterischen Character auf das Epigramm der Empfindung angewiesen war. Von den s. g. Liedern gehört hieher z. B. Ruhethal: Wenn im letzten Abendstrahl Goldne Wolkenberge steigen, Und wie Alpen sich erzeigen, Frag' ich oft mit Thränen: Liegt wohl zwischen jenen Mein ersehntes Ruhethal? Andere Epigramme der Empfindung hat Uhland unter den Sinngedichten eingereiht; sie sind theils in Distichen, theils aber auch in Reimen abgefasst. Blicken wir noch weiter zurück bis ins Mittelalter, so finden wir in der italiänischen Poesie eine eigne Strophenform für das Epigramm, nämlich das Sonett. Seine vierzehn Zeilen lassen die Exposition wie die Clausel in reicherer Fülle entfalten als das antike Epigramm; aber dennoch bleibt der epigrammatische Grundriss, indem zwischen den acht ersten Zeilen und den sechs folgenden eben auch jener Gegensatz von Exposition und Clausel, von epischem Vordersatz und lyrischem Nachsatz besteht. Zur subjectiven epischen Lyrik gehört ausser der Elegie und dem Epigramm der Empfindung auch die lyrische Gelegenheitspoesie. Auch sie hat ein episches Element, die Gelegenheit, die äussere Wirklichkeit des Ereignisses, das den Anstoss und Anlass zu den inneren Zuständen, deren Grundlage bildet; lyrisch ist sie der Entwickelung eben dieser inneren Zustände wegen, und da diese die Hauptsache ist, so gehört sie eben zur epischen Lyrik. Dadurch unterscheidet sich die lyrische Gelegenheitsdichtung von der epischen, die wir früher besprochen haben (S. 92): in dieser, z. B. in den Hymnen der Homeriden, überwog das Epische so sehr, dass daneben das Lyrische beinahe verschwand; daher wir die Dichtungen jener Art auch nur haben lyrische Epik nennen können. Dennoch schloss sich, wie das auch nothwendig und natürlich war, die lyrische Gelegenheitspoesie der Griechen, um von dieser zuerst zu reden, eng an ihre epische Gelegenheitspoesie an. Und zwar finden wir diese weiter überleitende Zwischengattung, die lyrische Gelegenheitspoesie, vorzüglich und so gut als ausschliesslich in Gunst und Pflege bei den Doriern, oder wo sie von andern geübt wurde, geschah es unter Anwendung der dorischen Mundart, während die zuerst besprochene Gattung der epischen Lyrik, die Elegie, Sache und Eigenthum der Ionier war. Der bedeutendste aber und grösste unter all solchen dorischen Dichtern, die Blüte und der Gipfelpunct der dorischen Lyrik ist Pindar, der zugleich auch dadurch sich auszeichnet, dass von keinem so viel und in solcher Vollständigkeit erhalten ist. Ihn haben wir daher namentlich ins Auge zu fassen bei den wenigen Bemerkungen, welche die Betrachtung der griechischen Gelegenheitslyrik veranlasst. Freilich ist Pindar nur in so fern und nur dadurch der Blütepunct der dorischen Lyrik, dass er zugleich über die echt dorische Weise schon hinausgeht und sich der reinen Lyrik der Aeolier annähert und zum Theil auch schon nach deren Weise dichtet: wie er denn ja selbst als Böotier ein Aeolier war und daher auch in die dorische Mundart mehr als einen Aeolismus einmischt. Die epische Natur der dorisch-pindarischen Lyrik zeigt sich vor Allem aus darin, dass sie bestimmt war, religiöse Feierlichkeiten, Nationalfeste u. dgl. zu verherrlichen, dass also einmal ihr Anlass in einer bedeutungsvollen äusseren Wirklichkeit lag, und dass es sodann die geistigen und die politischen Interessen, die Religion und das Staatsleben des gesammten Volkes waren, an die sie sich anschloss. Diese allgemeine, religiös-nationale Beziehung kehrt Pindar als das Hauptsächliche auch da heraus, wo nach unsrer Ansicht und Gewohnheit der epische Stoff eher in den beschränkten und einseitigen Verhältnissen einer einzigen Person wäre zu suchen gewesen. Wir haben nämlich von ihm fast nur Epinikien und Enkomien: Siegeslieder und Lobgesänge, verfasst auf die Sieger bei nationalen Festspielen. Diese sind Pindar zwar nicht besonders und ausschliesslich eigenthümlich, aber er war darin wohl besonders ausgezeichnet: es ist wohl kaum zufällig, dass nur dergleichen Gedichte zahlreich und vollständig auf uns gekommen sind, während von andern, z. B. von Threnen, Hymnen, Päanen u. dgl. nur vereinzelte Fragmente erhalten sind. Zwischen Epinikien und Enkomien besteht ein Unterschied der dichterischen Behandlungsweise. In den Epinikien tritt die Persönlichkeit des Besungenen beinahe ganz in den Hintergrund: häufig wird eben nur sein Name genannt, er kommt nur in Betracht als Repräsentant seines Stammes und Vaterlandes, sein Stamm aber auch nur wieder als Glied des ganzen hellenischen Volkes, wie das Nationalfest diese grosse einige Gesammtheit auswiess; und darüber schwebt dann noch als höchste Einheit, die von aller menschlichen und persönlichen Einseitigkeit abführt, der nationale Gott, dem die Spiele geweiht waren, der den Spielen vorstand. In den Enkomien tritt die Persönlichkeit dessen, dem der Gesang gilt, weniger zurück, hier ist es vorzüglich auf sein Lob, auf seinen Ruhm und Preis abgesehen, weniger auf den Ruhm und Preis des Gottes und des Volkes; hier ist von diesem nur in untergeordnetem Masse die Rede; übrigens sind die Enkomien minder zahlreich als die Epinikien. Wie also namentlich in den Epinikien der gefeierte Sieger nur für den Stellvertreter des ganzen griechischen Volkes gilt, so wird auch von Seiten des feiernden Sängers und seines Festgesanges eine allgemein nationale Gültigkeit angesprochen: der Sieger ist der Held, der Dichter will auch nur die dichterische Stimme des Volkes sein, und darum wird sein Festlied auch nicht von ihm allein, sondern von einem ganzen Chor gesungen, gleichsam vom Volke im Kleinen, wie denn überhaupt die dorische Lyrik eine chorische ist; zum antiken Chorgesange gehört aber nicht bloss, dass es eine grössere Anzahl von Sängern sei, welche sich vereinigen, sondern auch, dass der Gesang und das ihn tragende und haltende Spiel der Leyer und der Flöte begleitet werde vom Tanz: so denn auch bei Pindar: wir erblicken also hier wiederum die drei rhythmischen und transitorischen Künste der Poesie, der Musik und des Tanzes in ihrer natürlichen Verbindung. Diese Verbindung hatte schon vor Pindar die eigenthümliche Gliederung der Chorgesänge in Strophen, Antistrophen und Epoden herbeigeführt: bei der στροφή , d. h. Wendung, gieng der Chor in zwei Hälften aus einander, bei der ἀντιστροφή näherten sie sich wieder durch eine Gegenwendung; die ἐπῳδός , d. h. Zugesang, die übrigens nicht immer, aber doch gewöhnlich vorkam, bezeichnet die Sammlung und Vereinigung der getrennten Hälften. Also, ganz der Lyrik angemessen, strophische Gliederung und ein Wechsel der kühnsten und künstlichsten Strophengebäude, so jedoch, dass jedesmal die Strophen und die Antistrophen, die zusammen gehörten, einander gleich waren, die Epode ihnen ungleich. So bei Pindar und schon vor ihm: ursprünglich aber, als der Chorgesang noch ganz innerhalb der Epik lag, kannte auch er noch kein andres Mass als eben das epische, den Hexameter. So national nach all diesem die chorische Lyrik Pindars ist, so viel Episches sie enthält, so nahe sie sich demgemäss an die lyrische Epik früherer Zeiten anschliesst, so lyrisch, d. h. so individuell subjectiv ist sie dennoch auf der andern Seite, so sehr ist dennoch die ganze Entwickelung seiner Dichtungen von beinahe rein lyrischer Art. Pindars Genius ist durchaus ein lyrischer und darin eben besteht seine gewaltige, stäts bewunderte und noch nie erreichte Kunst, wie er vom lyrischen Standpuncte her aus seinem heilig begeisterten Gemüthe heraus die Fülle des epischen Stoffes zu bewältigen weiss. Freilich will er nur die Stimme des Volkes sein; aber er ist sie nicht wie ein gemietheter Bote, sondern wie ein König oder Priester, in dem sich das Wissen und Wollen Aller concentriert; er erzählt Sagen der Helden und Mythen der Götter: aber er erzählt sie nicht bloss, wie sie grade überliefert sind: er gestaltet sie um, er deutet sie aus wie Einer, der um den Gang der Geschichte im Himmel und auf Erden besser weiss als andre Menschen. Seine Lyrik schliesst sich zwar an die politischen Zeitläufte an und an die Sagen und Mythen seines Volkes, aber nicht, indem sie davon ausgeht, sondern indem sie darauf hinkommt oder berührend daran vorüberstreift. Der Sieg, den irgend ein vielleicht sonst namenloser Grieche in diesem oder jenem Festspiele errungen hat, giebt ihm Anstoss und Anlass, der ist das epische Motiv und ein an und für sich nicht eben sonderlich bedeutendes. Alsbald aber, sowie dieser Anstoss ihn berührt hat, entspringen im Gemüthe des Dichters aus tausend Quellen zugleich die Ströme lyrischer Empfindung; unaufhaltsam rauschen sie vorwärts, nach allen Seiten überfliessend, und wo sie auf einen sagenhaften Denkstein treffen, nehmen sie ihn in sich auf und mit sich fort. Diess Ungestüm in der Entwickelung der inneren Zustände und die Fülle von mythischen und sagenhaften Beziehungen, an welchen und in welchen sie sich entwickeln, diess beides begründet die Eigenthümlichkeit der Pindarischen Lyrik: dass sie nämlich einmal Dinge in sich hereinzieht, die weit ab vom Wege zu liegen scheinen, und dann, dass sie alle vermittelnden Uebergänge verschmäht. Beides ist an Pindar bewundert, beides auch getadelt worden; aber Lob und Tadel haben selten das rechte Mass gefunden, das sowohl den allgemeinen Anforderungen der Kunst als der besonderen Eigenthümlichkeit eines Dichters Rechnung zu tragen weiss. Schon das Alterthum, schon die Zeitgenossen Pindars haben sich zuweilen daran gestossen. So wird erzählt, als er einmal einen Hymnus auf die Thebaner gedichtet und gleich zu Anfange in sechs Versen fast ein Dutzend verschiedenartiger sagenhafter Beziehungen angehäuft habe, habe die thebanische Dichterin Korinna lächelnd gesagt: „Mit der Hand muss man säen, nicht mit dem Sack“ (Plut. de glor. Athen. 347 E). Ja er selbst wird sich mitunter dessen bewusst, wie er in dem weiten Erguss des Gesanges den rechten Weg verliere: so ruft er in der elften pythischen Ode (V. 38 fgg.): „Wie weit, Freunde, bin ich in meiner Bahn auf Dreizackwege verirrt! und gieng erst richtig einher. Oder hat meinen Gesang auf seinem Wege der Sturm verschlagen wie ein Fahrzeug des Meeres?“ Ἤ ῥ', ὦ φίλοι, κατ' ἀμευσιπόρους τριόδους ἐδινάθην, ὀρθὰν κέλευθον ἰὼν τοπρίν; ἤ μέ τις ἄνεμος ἔξω πλόου ἔβαλεν, ὡς ὅτ' ἄκατον εἰναλίαν . Im Grunde fallen beide Eigenthümlichkeiten, die Fülle des Inhalts und die schnellen Sprünge, durchaus zusammen: die eine besteht nur durch die andre: nur indem er unvermuthet von Diesem zu Jenem übergeht, kann er so nach allen Seiten hin in den Schatz von Sagen und Mythen greifen, und wiederum führt ihn diess Letztere so oft seitwärts und über das Ziel hinaus, dass er nur durch einen kühnen Sprung sich noch zurückschwingen kann auf die rechte Bahn und den alten Weg. Es wäre angenehm und lehrreich, diese Bemerkungen weiter auszuführen, indem wir einige seiner Dichtungen zergliederten und daran nachzuweisen suchten, wie da überall der epische Stoff nur der Lyrik diene, nicht aber umgekehrt, und wie der leiseste Anlass genug sei, um sein Gemüth zu solch einem stürmenden Gange über das Gebiet der Sage und des Mythos hin anzufeuern. Indessen würde uns das für unsre Zwecke zu weit führen und zu lange aufhalten. Ueberhaupt können wir uns jetzt von Pindar abwenden und nur noch diess Eine bemerken, dass, indem er die Mythen eben als Lyriker, nicht als Epiker in sich aufnimmt, indem sein Geist sie ergreift, nicht aber sie seinen Geist, dass er da nicht selten auf das Gebiet der Didactik, der lehrhaften Betrachtung überspringt. Denn, wie bereits vorher erwähnt, er hält sich, wo er Mythen und Sagen erzählt, nicht mit der Treue eines Epikers an das, was überliefert ist, sondern er verfährt mit der Sage und dem Mythus ungefähr so, wie die Sage selbst mit der Geschichte verfährt; er ändert, lässt weg, setzt hinzu, wenn ihm die Ueberlieferung seiner höhern und geläuterten Idee von Gott und Welt zu widersprechen scheint, und ändert, bis er eine bessere Uebereinstimmung gewinnt. Dergleichen und vieles Andre giebt ihm dann reichlichen Anlass zu religiösen und ethischen Betrachtungen, zu Seitenwendungen rein didactischer Art. Ein Beispiel hiezu bietet gleich die erste olympische Ode, wo er die Sage von Tantalus in einer neuen und ihm eigenthümlichen Gestalt vorträgt und sich dann ausdrücklich gegen die gewohnte Erzählung wehrt und verwahrt, welche die unsterblichen Götter nur entehre und bis zur Tiefe menschlicher Laster erniedrige. Pindar ist bisher immer noch unerreicht geblieben, und man kann wohl sagen, dass ihm grade die am fernsten stehn, welche es am ausdrücklichsten versucht haben, ihn nachzuahmen. Der älteste und nicht gerade der schlechteste unter den deutschen Nachahmern Pindars ist Georg Rodolf Weckherlin, ein Schwabe (1584─1651). Wie der Italiäner Metastasio und der Graf Platen bedient sich denn auch Weckherlin gern einer metrischen Form, die der Pindarischen nachgebildet ist; seine Strophen, Antistrophen und Epoden sind aber aus Reimversen aufgebaut (LB. 2, 259). Am nächsten daran, es Pindar wenigstens ungefähr gleich zu thun, waren Dichter, die von ihm nichts wussten, die provenzalischen, die französischen und die deutschen Lyriker des Mittelalters. Auch von diesen giebt es zahlreiche epischlyrische Gelegenheitsgedichte, so bei den Provenzalen das Sirventês d. h. Dienstgedicht. Aber wie schon dieser Name andeutet, waren die Dichter meistens zu sehr in dienstbarer Abhängigkeit von mächtigen Herrn, dienten zu sehr um deren Gunst und Unterstützung, als dass sie sich zu der Freiheit und Kühnheit der Pindarischen Lyrik hätten erheben können, auch wo Einer dem Pindar etwa an Geiste wäre verwandt gewesen. Und auch sonst stand, allgemein betrachtet, Manches entgegen und liess das Mittelalter zu keiner epischen Lyrik nach Pindarischer Art gelangen: es gab da keine Feste, wie die olympischen, mit all dem freudigen Nationalgefühl, das sich darin und dabei aussprach; es gab keinen solchen Reichthum an Mythen und an mythischen Sagen, mit denen der Dichter wie mit Bildsäulen das stolze Gebäude seines Gesanges ebenso hätte ausschmücken können. Und so konnte es nicht ausbleiben, dass die Dichter, indem sie der Gelegenheit dennoch ein Gedicht abgewinnen wollten, nur zu sehr und zu oft sich in Erörterungen unpoetischer Persönlichkeiten oder in didactische Betrachtungen verloren. Am höchsten gelang es natürlich den Dichtern sich da zu schwingen, wo sie weder bloss nationalen, noch gar persönlichen Interessen dienten, sondern den grössten, höchsten und allgemeinsten, die damals nur die Völker Europas beseelen konnten, den Interessen der Kreuzzüge, also in Kreuzliedern, wie wir deren denn auch ganz so von Provenzalen und Franzosen, wie von Deutschen haben. Hier kehren vorübergehend ziemlich die gleichen Verhältnisse wieder, unter denen die Pindarische Poesie erwuchs, zum Theil nur noch in grösserem und höherem Massstabe: hier war nicht bloss ein Spielfest, bei dem die Völker sich vereinigten, und nicht bloss ein Localgott, dem es galt zu dienen, hier galt es nicht den Sieger zu rühmen, sondern zum Siege anzufeuern, hier wurden keine Lorbeerkränze vertheilt, sondern himmlische Kronen verheissen. Dergleichen Lieder sind es auch namentlich, in denen der bedeutendste deutsche Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, die nahe Verwandtschaft besonders kund thut, die überhaupt zwischen ihm und Pindar besteht. Vorzüglich kommt hier ein Kreuzlied in Betracht, das Walther im Jahre 1228 gedichtet hat, und das zufällig sogar bis in minder wichtige Einzelheiten hinein an Pindars Art und Weise anklingt, nur dass es, indem der Dichter den altfranzösischen Alexandriner zur Anwendung bringt, mehr epische Einfachheit hat, und dass die bei Pindar seltnere Wehmuth die durchgreifende Empfindung ist: vgl. LB. 1 4 , 408 (1 5 , 587); Wackernagels Walther S. 74. Nachdem Walther mit der Freudlosigkeit der Welt begonnen, welche ihn befremdet, der sie fröhlicher gesehen, stellt er sich, um das zu schildern, in sagenhafter Weise als einen dar, der wie die h. Schläfer der Legende so lange gelegen und geschlummert habe, dass die Welt in der Zeit eine andre geworden. „Aber“, so fährt dann die Betrachtung mit einem plötzlichen Uebergange fort, „alle Wonne dieser Welt ist doch nichts: ringet nach der himmlischen, wappnet euch und ziehet über See“. Und diese Schlussermahnung legt er dem Boten in den Mund, der statt seiner das Ganze an irgend einem Hofe vorzutragen hat, grade wie auch bei Pindar öfter der Chor in erster Person aus eignem Munde spricht. Was aber ganz besonders hervorzuheben ist, die Lyrik des Mittelalters besass eine Form, welche sich der chorischen Poesie der Dorier ziemlich eng und genau anschliesst: der deutsche Name dafür ist Leich, was so viel als Spiel, Tanz bedeutet. Die Leiche bestanden aus einer Reihe ungleichartiger Strophen, von denen jede in zwei gleiche Theile zerfiel, und waren gleich den Chorliedern der Dorier bestimmt, von Instrumentalmusik und Tanz begleitet zu werden. Die Uebereinstimmung geht aber noch weiter. Die Gelegenheitslyrik der Dorier beruht auf der ältern Gelegenheitsepik, die zumal religiöse Beziehungen hatte, und sie selbst war immer noch mehr oder weniger religiös. Ebenso steht der Leich mit den s. g. Sequenzen, einer alten Art lateinischen Kirchengesanges, in Zusammenhang und hat häufig genug religiösen oder ernst politischen Inhalt, obgleich die meisten Dichtungen dieser Art zur eigentlichen Minnepoesie gehören und von Lust und Leid der Liebe handeln: vgl. die Sequentia de S. Maria LB. 1 4 , 259 (1 5 , 437). Wir jetzt können freilich nicht recht begreifen, wie religiöse Poesie und Tanz zusammenpassen: dennoch steht fest, dass die mittelhochdeutschen Leiche für den Tanz bestimmt, und dass auch die religiösen Leiche eben Leiche waren, und nichts weist darauf hin, dass bei solchen kein Tanz stattgehabt hätte. Haben doch auch die Griechen die erhabensten Festgesänge ihres Cultus mit Tanz begleitet. Wir sind daher berechtigt anzunehmen, dass solche Leiche an kirchlichen Festen, zwar ausserhalb der Kirche, aber doch am geheiligten Tage und mit Rücksicht auf seine kirchliche Bedeutung sind gesungen worden. Auch hier ist wieder Walther von der Vogelweide hervorzuheben: wir besitzen von ihm zwar nur Einen Leich, aber dieser Leich hat religiösen Inhalt und scheint auf das Fest der Dreieinigkeit oder ein Marienfest verfasst zu sein: er geht vom Lob und Preis Gottes und der Maria aus, aber auf dem religiösen Grunde ist auch eine politische Farbe aufgetragen; die Entwickelung ist eine springende, wie bei Pindar; (Wackernagels Walther S. 1─8). Um noch ein bezeichnendes Beispiel anzuführen, mag auch des Leiches vom heiligen Grabe gedacht werden, womit Heinrich von Rücke, ein Schwabe, zur Theilnahme am Kreuzzuge aufforderte, als die Trauerbotschaft von dem am 10. Juni 1190 erfolgten Tode Kaiser Friedrichs I. nach Deutschland gelangte (LB. 1 4 , 323. 1 5 , 501). Die deutsche Poesie der neueren Zeit hat die Form des Leiches gänzlich fallen lassen; nur Rückert hat sich derselben einmal in seinem Gedichte Das Licht bedienen mögen (LB. 2, 1550). Die zuletzt erwähnte mittelalterliche Dichtungsart führt uns leicht und natürlich zu einigen Bemerkungen über das Kirchenlied, insofern auch dieses im Allgemeinen mit zur Gelegenheitspoesie gehört und insbesondere und im engsten Sinne des Wortes epische Lyrik sein kann. Denn es kann ja von epischen Motiven ausgehn, es kann, und den Liedern für die hohen Feste ist das eigentlich recht und angemessen, aus der Geschichte Jesu erzählen, von seiner Geburt, seinem Leiden und Sterben, seiner Auferstehung, und an diese Erzählung die Entwickelung derjenigen innern Zustände anschliessen oder jene Ereignisse aus denjenigen Gefühlen heraus darstellen, die durch Betrachtung derselben erweckt werden. So lange Motive der Art die einzige epische Grundlage bilden, wird das Lied auch ein Kirchenlied sein: denn da haben alle Christen das Gleiche zu empfinden, und der Dichter wird im Namen der ganzen Gemeinde, der ganzen Christenheit sprechen, grade wie die ältere epische Lyrik der Griechen auch nicht für den Dichter allein sprach. Erst wenn der Dichter zu jener allgemeinen epischen Grundlage noch ein zweites, rein persönliches Motiv hinzufügt oder lediglich von einem solchen ausgeht, von einem innern oder äussern Ereigniss, das nur ihm gehört und kein Moment ist aus dem Leben aller Christenheit: erst dann hört sein Lied auf ein Kirchenlied, ein Lied der Gemeinde zu sein, und es wird ein ebenso subjectives geistliches Lied, wie die epische Lyrik der spätern Zeit Griechenlands auch in ihrer Weise rein subjectiv war. Natürlich ist die protestantische Kirche ärmer an episch-lyrischen Liedern, als die katholische Kirche es ist und war: denn die katholische Kirche hat zur Geschichte noch die Legende, hat noch eine christliche Mythologie, und auch die Geschichte erscheint für sie so mannigfaltig mythisch gefärbt, dass ihr religiöses Lied, was den Reichthum an epischen Motiven betrifft, nicht sehr weit hinter der epischen Lyrik der alten Welt zurückbleiben wird. Wir Protestanten können bei unsrer heilsamen Beschränkung auf die Geschichte nicht so viel halb epische, halb lyrische Kirchenlieder besitzen; denn solche Motive, die dem innern Leben der Christen angehören, werden natürlich nur zu rein lyrischen Dichtungen führen; noch öfter aber wird, da unsre geistliche Poesie auch dogmatische und ethische Zwecke zu verfolgen hat, hier die Lyrik eine didactische Farbe gewinnen, d. h. mit einem Fusse aus der Poesie heraustreten. Leider aber bilden solche didactische Kirchenlieder die Mehrzahl derer, die wir besitzen: unsre meisten Kirchenlieder stammen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, aus dem siebzehnten, wo ein streithafter Dogmatismus die Kirche beherrschte, aus dem achtzehnten, wo ein seichter Moralismus an dessen Stelle trat; nur Wenige behaupteten sich als wahre Dichter in der epischen Lyrik und in der lyrischen Lyrik, wie Paul Gerhardt, Benjamin Schmolck u. a. (LB. 2, 467. 553). Die herrnhutischen Dichter wären vielleicht am ersten im Stande gewesen, die reine Lyrik zu sichern, wenn nur bei ihren Anschauungen öfter das rechte Verhältniss obgewaltet hätte zwischen dem Gemüth auf der einen und der Einbildung und dem Verstande auf der andern Seite, und wenn sie mehr Geschick in der Darstellung hätten erlernen wollen: es sind unter ihnen nur Johannes Baptista von Albertini (1769─1831; LB. 2, 1355) und Karl Bernhard Garve (1763─1841) zu nennen als geistliche Lyriker, die in den meisten Stücken tadellos, und wo sie tadellos, auch höchst ausgezeichnet sind. Neben der geistlichen Gelegenheitspoesie, der epischen Lyrik der Kirche hat die neuere Zeit auch die weltliche Gelegenheitspoesie, die Gelegenheitspoesie κατ ' ἐξοχὴν besonders cultiviert, und es sind namentlich die beiden s. g. schlesischen Dichterschulen des siebzehnten Jahrhunderts, welche auf diesem Felde, wenn auch nicht viel geerntet, doch wenigstens fleissig geackert haben; ja es giebt Dichter, von denen faustdicke Bände auf uns gekommen sind, die kaum etwas andres enthalten als Gelegenheitsgedichte, wie z. B. Christian Gryphius (LB. 2, 529). Man darf die Gelegenheitspoesie keinesweges im Allgemeinen verwerfen; denn es ist ein ganz lobenswerthes Streben, Jedwedes, das geschieht, poetisch verschönen zu wollen: es hat auch von jeher Gelegenheitspoesie gegeben, und die schönsten Dichtungen der provenzalischen, der französischen, der italiänischen und der deutschen Lyrik des Mittelalters sind oft im Grunde weiter nichts als Gelegenheitsgedichte. Aber man muss es auch zu machen verstehn, wie z. B. Walther von der Vogelweide, d. h. man muss einmal solche gelegenheitliche Motive ergreifen, denen sich eine poetische Seite abgewinnen lässt, und man muss dann auch diese poetische Seite herauszukehren wissen. Es ist aber schwer, dem eine poetische Seite abzugewinnen, wenn Hinz heirathet und Kunz taufen lässt oder begraben wird, und es ist viel verlangt, dass Jeder, auch der Hinzen und Kunzen nicht kennt, nun doch die poetische Anschauung in sich reproducieren solle. Deshalb hat sich Walther auch niemals auf so geringfügige Personen und Ereignisse eingelassen: seine Gelegenheiten haben historische Bedeutung, es sind Menschen und Thaten, von denen heute noch die Geschichte meldet, so dass auch das Gelegenheitsgedicht nicht mit ihnen gestorben ist. Das haben die schlesischen Gelegenheitsdichter des siebzehnten Jahrhunderts nicht bedacht: jedes Ereigniss war ihnen recht und des Besingens werth, bald weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte, überall auch ein Wort mit drein zu reden, bald und noch häufiger aus noch erbärmlicheren Beweggründen, um der Belohnung mit Gunst und Geld willen; in Verlegenheit, was sie sagen sollten, geriethen sie nie: ward auch ihr Gemüth von dem vorliegenden Ereigniss gar nicht berührt, so liessen sich immer noch je nach den Umständen kühle, ernsthafte Betrachtungen in der sentenziösesten Lehrhaftigkeit anstellen, oder es liessen sich auch Ungebührlichkeiten vorbringen. Der Reproduction in einem weiteren Kreise von Lesern wussten sie beinahe nie entgegen zu kommen, und es war das auch in den allerwenigsten Fällen möglich; dennoch liessen sie Alles drucken, und ihre Zeitgenossen lasen auch das Alles und bewunderten es sogar. In neueren Zeiten ist, man kann nicht sagen, die Gelegenheitsdichterei überhaupt abgekommen: denn das wäre auch Unrecht: sondern man lässt nur solche Gedichte, die das grosse Publicum nichts angehn noch ihm verständlich sind, seltener für das Publicum drucken. Dergleichen Gedichte verbleiben, wo sie hin gehören, im Hause und im Kreise der Freunde. Von solcher niederen Gelegenheitspoesie wohl zu unterscheiden ist die im höhern Stil, die schon im Alterthum bestand und immer noch besteht, und deren Existenz man auch weder übersehen noch wegwünschen darf, die sogenannte Ode im engern Sinne dieses Wortes. Im eigentlichen und allgemeineren Sinne bezeichnet das Wort ᾠδὴ etwa wie unser Lied jedes lyrische Gedicht, insofern es sangbar ist. Die Ode, wie man jetzt das Wort versteht, und wie dergleichen Gedichte auch bei den Alten, namentlich bei Horaz vorkommen, und wie auch viele Psalmen so könnten genannt werden, richtet sich gleich den Pindarischen Chorgesängen auf Ereignisse von allgemeinem, nationalem, ja allgemein menschlichem Interesse; sie knüpft auch die Entwickelung innerer Zustände an eine Persönlichkeit, die Jeder ehrt, an Thaten und Ereignisse, von denen Jeder als ruhmreichen weiss, und die lyrischen Gefühle, die sie ausspricht, sollen meistens auch nicht die bloss subjectiven des Dichters, sollen nicht bloss entsprungen sein aus seiner persönlichen Beziehung zu jenem epischen Element, sondern sollen auch allgemein nationale, allgemein menschliche Geltung besitzen und die Stimme Aller stellvertretend ausdrücken. So weit reicht die Uebereinstimmung mit dem Pindarischen Chorgesang: nun der Unterschied. Bei Pindar ist die Person oder das Ereigniss nur Anlass und Anstoss für die Lyrik: es bildet lediglich ein äusserliches Motiv, und sowie es das eine Mal eingewirkt hat, ist auch seine Einwirkung so gut wie vorüber. Anders in der Ode, wie sich ihr Character einmal festgestellt hat: hier ist mehr als ein blosses Motiv, hier giebt das Epische mehr als den flüchtigen Anlass und Anstoss: es ist vielmehr der beharrlich vorliegende Gegenstand der Betrachtung, es wirkt von Anfang bis zu Ende fort und trägt die inneren Zustände, die sich an ihm entwickeln. Aber das geschieht auch in der Elegie, und somit würden wieder Ode und Elegie zusammenfallen. Allein es giebt auch hier wichtige und wesentliche Unterschiede. Einmal den Unterschied der äussern metrischen Form: die Elegie wird in Distichen, die Ode in grösseren kunstreichen Strophen, antiken oder nach moderner Weise gebauten, abgefasst. Indess so folgenreich diess auch sein mag, so ist es doch nur ein äusserer Unterschied. Noch wichtiger sind aber sodann die innern Abweichungen. Die Elegie nimmt die äussere Wirklichkeit, wie sie ist, wie sie den Dichter gegenwärtig und in unmittelbarer Nähe umgiebt, ergreift das Factum mit historischer Treue, und die lyrische Betrachtung richtet sich nach ihm in ihrer grösseren oder geringeren Bewegtheit: die Ode dagegen strebt überall nach dem Idealen, dem Ueberwirklichen, sie hebt entweder die Person, das Ereigniss über die gemeine Wirklichkeit um vieles empor und idealisiert es, oder die Person liegt selber schon hoch über der gemeinen oder gar über aller und jeder sinnlichen Wirklichkeit, ganz und gar im Reiche des Idealen: denn der Gegenstand der Ode kann auch die Gottheit sein, kurz, sie lobpreist und verherrlicht, und demgemäss ist dann auch das Lyrische keine ruhig bei dem Objecte weilende Betrachtung, sondern es ist Bewunderung. Die Auffassung des Idealen als eines epischen Stoffes und die Erhebung der gemeinen Wirklichkeit zum Idealen ist aber nur möglich, wenn bei der Conception die Phantasie eine vorwaltende Thätigkeit ausübt, und diese Thätigkeit wird oft so sehr vorwalten und vorwalten müssen, dass sie in Widerspruch geräth mit den Erfahrungen und Urtheilen des Verstandes, ja den thätigen Antheil des letzteren an der Conception beseitigt und aufhebt, d. h. dass die Anschauung die Natur des Erhabenen gewinnt: denn jede Anschauung ist ja erhaben, bei welcher der Verstand nicht mehr der Phantasie nachmessen und nachrechnen kann. Natürlich ist der Odendichter jedesmal im Vortheil, sobald er das epische Object seiner lyrischen Bewunderung nicht erst zu erheben und zu überwirklichen braucht, sobald diess Object die Gottheit ist: die höchste Höhe, zu welcher er sich aufschwingt, wird doch nicht zu hoch, und das Erhabenste nicht zu erhaben sein. Gefährlicher ist die willkürliche Idealisierung irdischer Wirklichkeit: hier wird die Ueberwirklichung der gemeinen Wahrheit nur zu leicht eine Uebertreibung und eine Lüge; die Schöpfungen der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz und ungeschickt vorkommen, dass er sich nicht gefangen giebt, sondern im Widerspruche verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf welche der Dichter ausgieng, die blosse Lächerlichkeit tritt und sich das bekannte Wort Napoleons bewährt, dass vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt sei. Darum stehn die hebräischen Psalmisten und steht Klopstock so viel höher als irgend ein andrer Odendichter, weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge, bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge sind; darum geräth auf der anderen Seite Karl Wilhelm Ramler so oft ins Lächerliche, weil er auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst schon gross und erhaben genug wäre, wo er z. B. Friedrich II. besingt, dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden ist, sondern immer noch höher und drüber hinaus will (LB. 2, 723 fgg.); darum beleidigt Ramlers und vieler Andren Muster, Horaz, wenn auch grade nicht durch Lächerlichkeiten, doch häufig genug durch Uebertreibung und Unwahrheit, durch jenen kühlen Prunk, durch jene gezwungenen, gesuchten und erkünstelten Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur ein Schraubenwerk sind, um den epischen Gegenstand über sich selbst und die Wahrheit zu erheben. So viel von der epischen Lyrik; jetzt wenden wir uns zur didactischen, zur Lyrik des Verstandes. Didactische Lyrik ist solche, an deren Conceptionen der Verstand nicht bloss den untergeordneten, mehr negativen Antheil nimmt, der ihm nach den allgemeinen organischen Gesetzen eigentlich allein zukommt, wo er nicht bloss mässigt und zügelt, nicht bloss prüft, ob das, was der Einbildung schön und dem Gefühl gut erscheint, auch wahr und somit wirklich schön und wirklich gut sei: sondern solche, wo der Verstand eine positive Geltung und Thätigkeit neben dem Gefühle und der Einbildung, ja sogar vor und über ihnen anspricht, wo demnach die verständige Belehrung nicht bloss der etwanige Erfolg der poetischen Production und Reproduction ist, sondern der von vorn herein beabsichtigte Zweck derselben. Nun kann und darf schon in der didactischen Epik der Verstand diese positive Thätigkeit nur in so fern ausüben, als er die Anschauungen der Einbildungskraft in Beziehung bringt zu dem sittlichen oder sinnlichen Gefühl, als er aus der epischen Wirklichkeit eine sittliche Lehre abstrahiert oder dieselbe anmuthig oder launig beschreibt: also schon in der didactischen Epik, bei welcher doch die Einbildungskraft voransteht, muss der Verstand in das Gefühl überfliessen. Noch um vieles unausweichlicher wird das bei der didactischen Lyrik erfordert werden: denn sie ist eben Lyrik, d. h. das Gefühl, das Gemüth bildet den Mittelpunct und Brennpunct der ganzen poetischen Production; diess vorzüglich soll in dem Dichter bewegt erscheinen, diess soll bei der Reproduction ebenso wieder angeregt werden. Deshalb ist alle didactische Poesie verwerflich, die in keiner Beziehung steht zu dem Gefühl des Producierenden und des Reproducierenden, deren Lehren und Beschreibungen nicht hier ihre letzte Erfüllung und Beglaubigung finden. Es mag daher Jemand noch so schön versificierte Anweisungen zum Fischefangen und Vogelstellen u. dgl. verfertigen, wie es derartige s. g. reine Lehrgedichte genug und auch schon von römischen Dichtern giebt, er mag alle Vorschriften so genau stellen, dass Jeder an seinem Buche zum Jäger und Fischer werden kann: wenn er der Lehre keine Wendung ins Gefühl hinein zu geben weiss, so ist das Ganze nur in so fern Poesie, als man unter Poesie versificierte Worte versteht, in so fern aber Prosa, als alle sprachliche Darstellung, die das Wahre ausserhalb des Schönen und des Guten zeigt, nur Prosa ist. Aber auch die Einbildungskraft darf niemals bei einer poetischen Production ganz leer ausgehn; auch sie muss an der Schöpfung des Dichters, an der Rückschöpfung durch den Leser ihren Antheil haben, mag dieser Antheil auch nur gering sein; fehlen und ausbleiben darf sie nicht: denn es giebt keine ποίησις , keine Schöpfung ohne sie, ohne die schöpfende Kraft der Einbildung. Deshalb erscheint nach dieser Seite hin wieder eine andre Art lehrhafter Poesie verwerflich, der Spruch, die Sentenz, die Gnome, verwerflich, sobald die Vorschrift und die Erfahrung, deren Mittheilung es gilt, in kalter, dürrer Abstractheit aufgefasst und vorgetragen wird, wie das bei den Sentenzen der Fall zu sein pflegt. Es mag eine solche Lehre ihren grossen Werth haben für das sittliche Gefühl des Menschen, aber die Einbildung, die producierende und reproducierende Grundkraft lässt sie unberührt. Solchen Gnomen ist die metrische Form nur in so fern zuzugestehn, als sie vielleicht die Darstellung und Aufbewahrung erleichtert, aber nicht als äusserer Abdruck und Ausdruck inneren poetischen Gehaltes: denn der ist hier gar nicht vorhanden. Die ersten Anfänge dieser wie überhaupt aller Arten von didactischer Poesie, erlaubter und unerlaubter, finden sich bei den Griechen in Hesiods Werken und Tagen und bei den Hebräern in den Sprüchen Salomons. Nach Hesiods Vorgange war auch späterhin der Hexameter eine gewohnte metrische Form der griechischen Gnomen. Daneben gab es aber noch zwei andere, eine noch minder passliche und eine passlichere. Eine minder passliche ergab sich durch die Seitenwendung, welche bei Solon und seit ihm die Elegie nahm. Bis auf Solon war dieselbe immer nur episch-lyrisch gewesen; bei ihm und denjenigen, die seiner Art sich anschlossen, verlor sie den epischen Character, ja auch den lyrischen, und ward rein didactisch, sie ward Form dessen, was man insbesondere gnomische Poesie nennt. Freilich war diese Wendung nicht unvorbereitet: der sittliche Ernst, welcher der ältesten Elegie eigen war, konnte und musste darauf hinführen; gleichwohl lag diese Richtung ausserhalb des Bereiches der Poesie: denn wer wird das Poesie nennen mögen, wenn Philosophen die abstracten Lehrsätze ihrer Schule bald vereinzelt, bald in einem grösseren systematischen Zusammenhang, bald in einzelnen Distichen, bald in einer Reihe von Distichen, also allerdings in der äusserlichen Art und Weise einer Elegie vortragen? Dergleichen gehörte nur noch durch die Form mit zur Poesie, und auch die Form war unpasslich genug. Die bloss in Hexametern abgefassten Gnomen machten damit keinen weiteren Anspruch: der Hexameter war einmal der gewohnteste und geläufigste Vers, und die Poesie hatte lange Zeit kaum einen andern gekannt. Anspruchsvoller jedoch war die zweizeilige Strophe: sie kündigte durch den äusseren Gegensatz von Hexameter und Pentameter auch einen inneren an von Epik und Lyrik: und doch war weder Epik vorhanden, noch eigentliche Lyrik. Das scheinen die wohl erkannt zu haben, die für die Gnome eine dritte metrische Form in die Bahn brachten, den iambischen Trimeter: dieser aus sechs Iamben bestehende Vers war noch einfacher und anspruchsloser als der blosse Hexameter, er grenzte ganz eng und nah an die alltägliche ungebundene Rede und war eben nur in so weit rhythmisch, dass er dem Gedächtniss zu Hilfe kam. Die Salomonischen und die weiteren hebräischen Gnomen begnügen sich, um einen Rhythmus herzustellen, mit dem einfachsten Parallelismus der Worte und der Satzglieder. Wie demnach alle bloss lehrende Poesie im engeren Sinne eigentlich gar keine Poesie ist, weil sie der Einbildung nichts zu schaffen giebt oder gar auch das Gefühl unberührt und unberücksichtigt lässt, so verhält sichs auch mit der bloss beschreibenden. Wir haben bereits früher gesehen, dass alle Beschreibung nur dann anschaulich werde und der Reproduction entgegenkomme, wenn sie sich zu einem fortschreitenden Verlaufe gestalte, wenn sie also neben der Epik begleitend hergeht, wie im Idyll (S. 103), oder selbst gradezu episch und erzählend wird, wie in der Elegie (S. 132). Verlässt die Beschreibung das Gebiet der Epik, so verlässt sie auch das Gebiet der Poesie, weil sie die Einbildungskraft auf die Seite stösst: ein Gedicht, das von Anfang bis zu Ende nur beschreibt, ohne zu erzählen, giebt der Einbildung nichts: denn diese kann nur schaffen, was lebendige Bewegung hat; es wird vielleicht das Gefühl durch anmuthige Einzelheiten befriedigen, aber es bleiben Einzelheiten, welche die Einbildung zu keinem Ganzen vereinigen kann, weil ihnen der organische Zusammenhang fehlt, den nur die historische Entwickelung zu geben vermag. Darum sind die zahlreichen bloss beschreibenden Gedichte, welche die neuere Zeit besitzt (das classische Alterthum und das Mittelalter sind nie auf dergleichen gerathen), so leer und ausleerend, so ermüdend durch die Unthätigkeit, in welcher der producierende Dichter den reproducierenden Leser lässt; darum sind sie, die grossen wie die kleinen, die Jahreszeiten des Engländers James Thomson (1700─1748), wie die Tageszeiten Friedrich Wilhelm Zachariäs (1726─1777) und die Abend- und Mondscheingemälde Friedrich von Matthissons (1761─1831), gar keine Gedichte mehr, sowie man sie als Ganzes auffasst: und das muss man doch zuerst und vor allen Dingen bei jedem Gedichte. Bei Matthisson kommt gewöhnlich dazu noch ein anderer, noch schlimmerer Fehler: es mangelt seinen meisten Gedichten auch noch die höhere Einheit der leitenden und belebenden Idee, einer Idee, um derentwillen und aus der heraus all diese Einzelheiten registriert würden. Eine kleine Probe dieser Landschaftspoesie findet sich LB. 2, 1206 fgg. Bei einem Dichter aber der neuesten Zeit sehen wir diese Unart der vereinzelnden und leblosen und ideenlosen Beschreibung auf die Spitze getrieben, bei dem Schwaben Karl Mayer. Von ihm erschien 1833 ein ganzer Band solcher Gedichte, zu denen alljährlich der Leipziger Musenalmanach immer noch neuen Zuwachs brachte: das, was er Lieder betitelt, sind nichts als einzelne landschaftliche Skizzen, so kleine und beschränkte Anschauungen, dass historisches Leben nur in den wenigsten Fällen möglich wäre; ebenso selten zeigt sich hier ideale Bedeutung und Beziehung. Mehr ist über diese unpoetische Art von Poesie nicht zu bemerken. Man könnte aber dergleichen beschreibende und gnomische Gedichte mit zur didactischen Lyrik rechnen wollen. Um so nöthiger war es für uns, sie gleich von vorn herein zu beseitigen und uns das Feld zu säubern für dasjenige, was nun noch von wirklicher didactischer Lyrik abzuhandeln ist. Es ist also die didactische Lyrik zwar auch, wie alle Lyrik, eine Poesie der inneren Zustände, des Gefühls: aber die Erregung des Gefühls ist keine so unmittelbare, als das sonst der Fall ist; das epische Motiv, das überall der Anfangs- und Anregungspunkt der inneren Zustände bildet, wirkt hier nicht unmittelbar selber ein, sondern es tritt der Verstand dazwischen, der in seiner Weise jene Einwirkung vermittelt; erst in Folge der Belehrungen des Verstandes regt sich das Gefühl des Dichtenden und auch im Reproducierenden gelangt die Anschauung erst über die Mittelstufe des Verstandes zu seinem Gefühle. Es ist also überall bei der didactischen Lyrik abgesehn auf Belebung des Gefühls durch den Verstand. Und dieser lehrhafte Zweck ist es, durch den sich die didactische Lyrik von der epischen und von der reinen Lyrik unterscheidet. Es kann aber die Belehrung der einzige und hauptsächliche Zweck, sie kann auch ein nur beiläufig eintretender sein; das Gedicht kann von Anfang bis zu Ende einen solchen Zweck verfolgen, es kann auch nur stellenweise geschehn. Wir reden von dieser Art zuerst. Einmischung einzelner didactischer, lehrender oder beschreibender Stellen in eine sonst lyrische Dichtung wird häufig bei solchen Dichtern vorkommen, die zu jeglicher Poesie einen Hang zur Reflexion mitbringen, und bei solchen, die überall Lust am Idyllischen haben. Denn solchen wird es schwer, längere Zeit in der Entwickelung innerer Zustände zu verharren, ohne einmal in den Verstand überzuspringen und von da ein Streiflicht auf ihr Gefühl hin reflectieren zu lassen, oder ohne je zuweilen einen Blick in die ruhig umgebende Wirklichkeit zu werfen und auch diese zu schildern. Solche sind z. B. unter unsern Lyrikern Schiller als der reflectierende, Hebel als der idyllische. Und aus der Betrachtung ihrer Gedichte und ähnlicher Gedichte von Andern ergiebt es sich, dass solche bloss vorübergehende Didaxis weniger an die eben berührten Gesetze gebunden ist. Wo sich die Reflexion nur flüchtig einmischt, da mag der Verstand allenfalls ganz abstracte Dinge sprechen, an denen die Einbildungskraft keinen Theil hat: mitten in der Bewegung seines Gemüthes merkt es der Leser kaum, dass seine Einbildung für kurze Zeit nicht beschäftigt wird. Ebenso ist es mit Beschreibungen. Wirft der Verstand des Dichters nur einen kurzen Blick in die äussere Wirklichkeit hinein, um die inneren Zustände durch Formen und Farben jener zu beleben, so bleibt, eben weil es nur ein kurzer Blick ist, für ihn weder Zeit noch Raum übrig, der Beschreibung einen historischen Verlauf zu geben, und für den Leser wird diess augenblickliche Verweilen so unmerklich sein, dass es den lebendigen Fortgang der Reproduction in nichts stört. Anders ist es, wenn der Verstand die ganze Production hindurch sich thätig erweist: da darf er nicht vereinzelt neben dem Gefühle dastehn, sondern er muss überleitend mitten inne stehn zwischen der Einbildung und dem Gefühle, zwischen der Einbildung mit ihren lebendig bewegten Anschauungen aus der Wirklichkeit und dem Gefühle mit seinen ebenmässig bewegten Empfindungen. Damit stellt sich, wie man sieht, die didactische Lyrik dicht neben die didactische Epik und die epische Lyrik: denn auch in der epischen Lyrik entwickeln sich die inneren Zustände an der angeschauten Wirklichkeit, und auch in der didactischen Epik wird das Gefühl vom Verstande an der Wirklichkeit belehrt. Der Unterschied ist nur der, dass in der epischen Lyrik der Verstand keine positive Thätigkeit äussert, und dass in der didactischen Epik das Gefühl zwar belehrt wird, nicht aber grade die inneren Zustände entwickelt werden, welche die Folge dieser Belehrung sind. Daher hält auch, näher betrachtet, die didactische Lyrik gewissermassen eine Mitte zwischen der didactischen Epik und der epischen Lyrik: sie hat mit der didactischen Epik die Belebung des Gefühls an der äusseren Wirklichkeit, mit der epischen Lyrik die Entwickelung der Gefühlsregungen gemein. Und in der That schliessen sich auch die einzelnen Arten didactischer Lyrik, die es giebt, theils an die didactische Epik, theils an die epische Lyrik eng genug an, so eng, dass man nicht selten wird in Zweifel gerathen dürfen, ob man einem Gedichte nicht lieber hier oder dort seinen Platz geben solle. Schillers Künstler z. B. können ebensowohl zur didactischen Lyrik als zur epischen Lyrik oder zur didactischen Epik gerechnet werden (LB. 2, 1119). Wollen wir nun die einzelnen Arten solcher ganz didactischen Lyrik näher betrachten, so ist gleich zuerst die Satire des Archilochus zu erwähnen. Die Horazische Satire haben wir früherhin (S. 106) als didactische Epik behandeln müssen: denn allerdings ist auch ihr Character eine fortlaufende didactische Betrachtung der gegebenen Wirklichkeit, und ihre epische Natur spiegelt sich auch ab in der epischen Form des Hexameters, die ihr eigen ist. Die Satire des Archilochus dagegen war wesentlich lyrisch, soweit wir sie beurtheilen können aus den wenigen Ueberresten, die sich erhalten haben, und aus den Epoden des Horaz, deren Mehrzahl deutlich dem Archilochus nachgebildet ist: sie schloss sich freilich auch an ein episches Motiv an: aber das Epische war eben nur ein anstossendes Motiv, nicht wie in der Horazischen Satire die fortdauernde Grundlage; der weitere Verlauf der Dichtung war eigentlich lyrisch, war die leidenschaftlichste Entwickelung individueller Stimmungen, der Ausdruck des Zorns, der Rache, des Hasses. Diese Mischung von Didactik und Lyrik zeigt sich auch in dem Versmasse ausgeprägt, welches dem Archilochus eigenthümlich ist: es besteht in einer zweizeiligen Strophe, die auf den halbprosaischen, recht didactischen iambischen Trimeter, als dessen Erfinder Archilochus bezeichnet wird, den lyrisch bewegten Archilochischen Vers, d. h. einen halben Pentameter, folgen lässt. Näher als die Archilochische Satire liegt der Satire des Horaz eine andre didactisch-lyrische Dichtungsart, die Epistel. Die nahe Verwandtschaft zeigt sich schon in der gemeinsamen Form: Horaz hat seine Episteln wie die Satiren in Hexametern verfasst. Neuere deutsche Episteldichter wie Boie, Gotter, Göckingk bedienen sich zwar grade keines epischen Masses, aus dem einfachen Grunde, weil wir kein nationales episches Mass mehr besitzen, aber sie gebrauchen doch wenigstens auch keine lyrischen Strophen: sie verfassen ihre Episteln in langen unstrophischen Reihen reimender Zeilen. Die Horazische Epistel hat mit der Horazischen Satire gemein die fortdauernde oder doch immer wiederkehrende Anlehnung an die gegebene Wirklichkeit und den Gebrauch episodischer Abschweifungen; sodann auch, dass Spott und Laune, die zur Satire überall und wesentlich gehören, ihr wenigstens nicht fremd sind: in so fern wäre die Epistel auch didactische Epik. Was sie aber auf das Gebiet der didactischen Lyrik hinüberzieht und sie von der Satire entfernt, ist, dass in ihr nicht sowohl verständige Reflexionen zum Besten des sittlichen Gefühles angestellt werden, als sich vielmehr das sittliche Gefühl selber ausspricht, wie es durch den Verstand ist geleitet worden; und dass auch, wo die Reflexion überwiegen sollte, sie immer eine durchaus individuelle ist, dass sie keine so allgemeine, gleichsam dogmatische Gültigkeit anspricht, wie die Reflexion der Satire: die Lehre steht hier überall in der subjectiven Beziehung zu der Persönlichkeit des Dichters. Und das gehört sich auch für die Epistel, für den Brief. Die Briefform wäre nicht nur bedeutungslos, sondern sogar störend und unpasslich, wenn der Verfasser etwas andres thun wollte, als seine Reflexion und seine Empfindungen darlegen, wie sie in seinen Umständen und seinen Erlebnissen begründet sind, und wenn er sie nicht mit der ganzen Unverholenheit seiner Individualität entwickeln wollte, wie sie in einen Brief gehört, den man an einen Freund richtet oder an sonst Jemanden, gegen den man sich frei und offen äussern kann, wie z. B. einer von Horazens Briefen (1, 14) an den Verwalter seines Landgutes gerichtet ist, ad villicum suum; einer von Göckingks Briefen an seinen Bedienten: LB. 2 1 , 753. Diesen individuellen Character hat von allen Horazischen Briefen vielleicht nur ein einziger in geringem Masse und beinahe gar nicht, der letzte des zweiten Buches, ad Pisones, den man deswegen auch gewöhnlich ganz aus dem Verbande der Briefsammlung herauslöst, als ein besonderes didactisches Gedicht über die Dichtkunst, de arte poetica. Allerdings erscheint hier auch die Briefform als ein blosser Vorwand: es ist das lehrhafteste Lehrgedicht, von Anfang bis zu Ende spricht der Verstand zum Verstande; die Individualität und das Gefühl des Dichters kommt nur selten irgendwo zur Aeusserung, und die Briefform ist nur in so weit benützt, als sie dem Dichter hat erlauben müssen, die sonst geforderte systematische Entwickelung seiner Lehren gegen eine freiere, mehr hin und her schweifende zu vertauschen: dadurch bekommt freilich das Ganze einen minder prosaischen Anschein, aber es ist doch nur der Anschein, der durch dieses Mittel verringert wird. Nach all diesem kann man die Epistel eine auf das Gebiet der Lyrik übertragene didactische Epik nennen: eine andre Dichtart lässt sich als eine in die Didaxis übertragene epische Lyrik auffassen, nämlich das Epigramm der Lehre und des Spottes. Wir haben früher (S. 138) unter der epischen Lyrik das Epigramm der Empfindung abgehandelt und haben da gesehen, wie diese Epigramme ein zwiefaches Element enthalten, ein episches und ein lyrisches, ein aus der gegebenen Wirklichkeit entnommenes Motiv und eine unmittelbar dadurch angeregte Empfindung, eine Exposition und eine Clausel. Wenn sich nun in die epigrammatische Anschauung der Verstand in der Weise einmischt, dass er sich zuerst des epischen Motivs bemeistert und es dann erst an das Gefühl gelangen lässt, dass er entweder jenem Motiv eine directe, positive Lehre, eine Vorschrift, einen Erfahrungssatz abgewinnt, oder damit in Widerspruch tritt, darüber lacht und spottet und so indirect und negativ lehrt: wenn auf diese Weise die Einwirkung des epischen Motivs auf das sittliche Gefühl erst durch den Verstand vermittelt wird, so ergiebt sich daraus das didactische Epigramm, das Epigramm der Lehre und des Spottes. Diese Wendung der s. g. Clausel aus der Lyrik in das Didactische ist dann aber auch der einzige Unterschied, der zwischen solchen didactischen Epigrammen und denen der Empfindung besteht: sonst gelten hier die gleichen Gesetze wie dort: die Exposition verlangt Einfachheit und Kürze, die Clausel ausserdem noch eine piquante Einseitigkeit; dass Witz und Scharfsinn hier besonders am Orte sind, wo es meist darauf ankommt, einen spöttischen Widerspruch des Verstandes auszudrücken, versteht sich von selbst. Bei den Griechen kommt dergleichen, wie bereits früherhin ist erwähnt worden, nicht viel vor: die Römer dagegen kehrten, als sie auch das griechische Epigramm auf ihren Boden verpflanzten, diese didactische, namentlich aber die satirische Richtung vorzüglich heraus. Reinere lyrische Empfindung ist überhaupt nie recht die Sache der Römer gewesen, die ausgeführtere Satire war von jeher bei ihnen zu Hause; und als sie das Epigramm kennen lernten, da sah der Dichter um sich her wahrlich mehr Thorheit und Verworfenheit als Anregungen der unmittelbaren lyrischen Empfindung. So ist es ganz erklärlich, dass man bei dem vorzüglichsten Epigrammendichter der Lateiner, bei Martialis, ganze Bücher durchlesen kann, ehe man einem einzigen Epigramm der Empfindung begegnet. Wir Deutsche sind mit dem Epigramm unter ähnlichen Umständen und nach ähnlichen Präcedentien, im siebzehnten Jahrhundert, vertrauter geworden: darum ist es auch bei uns beinahe zwei Jahrhunderte lang auch nur ein Epigramm der Lehre, namentlich aber des Spottes gewesen. Wir müssen hier für einige Augenblicke zu einem Puncte zurückkehren, der schon früher ist berührt, und an dem schon damals auf die jetzt vorliegende Erörterung ist verwiesen worden. Wir haben, als wir von der didactischen Epik sprachen (S. 116), den Unterschied zwischen Spruch und Sprichwort, zwischen γνώμη und παροιμία , zwischen sententia und proverbium darin gefunden, dass der Spruch seine Vorschrift oder seinen Erfahrungssatz ganz unumwunden in nackter Abstractheit hinstellt, das Sprichwort aber nach Art der Fabel, nur kürzer als diese, die Lehre umkleidet mit der concreten Form einer gesetzten, angenommenen Wirklichkeit. Grade wie nun die äsopische Fabel der epischen Einkleidung gern noch die lehrhafte Ausdeutung hinzufügt, grade so zeigt sich bei den Völkern, wo besonders viel Sprüche und Sprichwörter im Schwange sind, ein Wohlgefallen an der Verbindung von gleichbedeutenden Sprüchen und Sprichwörtern. So schon in den Sprichwörtern Salomonis; so auch bei uns zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in Freidanks Bescheidenheit (d. h. so viel als Verständigkeit). Hier kommen erstens reine Sprüche, zweitens reine Sprichwörter und endlich drittens solche Verbindungen beider, sprichwörtliche Sprüche vor, die zuerst ein concretes Symbol des Lehrsatzes, dann die abstracte Ausdeutung dieses Symbols gewähren, z. B.: „Waʒ mac der haven gesprechen, wil in sîn meister brechen? niht mêr muge wir wider got gesprechen, kumt uns sîn gebot“ (Ausgabe W. Grimms 6, 26). In dieser Verbindung von Sprichwort und Spruch sehen wir bereits eine Art von didactischem Epigramm: auch hier eine epische Exposition und eine didactische Clausel, nur noch mit dem Unterschiede, dass die Wirklichkeit der Exposition keine gegebene ist, sondern eine angenommene, eine gesetzte, und dass deshalb die Lehre der Clausel noch in ganz abstracter Allgemeinheit erscheint. Man dichtete aber nach Freidanks Beispiel und auf dem Grunde seines Werkes weiter: da kam man denn im vierzehnten Jahrhundert (einzelne Vorklänge finden sich schon bei Freidank selbst, ja sogar im zwölften Jahrhundert bei Spervogel) zu einer eigenthümlichen Art von didactischem Epigramm, welche die Deutschen eigentlich nur noch mit der Sanskritpoesie theilen, zu der Priamel. Es wird da eine ganze Reihe von sinnlichen Einzelheiten aufgezählt, von blossen Einzelheiten, nicht von epischen Situationen; diese Einzelheiten erscheinen gar nicht zusammengehörig, und während in ihrer Aufzählung praeambuliert wird (daher der Name), begreift man gar nicht, wo es damit hinaus soll, bis zuletzt eine unsinnliche Allgemeinheit sie alle vereinigt und zusammenfasst. Z. B. Ain junge maid on lieb, und ain grosser jarmarkt on dieb, und ein alter jud on gut, und ain junger man on mut, und ain alte scheur on meuss, und ain alter belz on leuss, und ain alter bock on bart: das ist alles wider naturlich art (LB. 1 4 , 1205. 1 5 , 1385). Was zu dieser eigenthümlichen Wendung des didactischen Epigramms zunächst und zumeist den Anstoss geben mochte, war wohl die den Deutschen gleichfalls von jeher beliebte Räthselpoesie. Denn auch das Räthsel giebt gewöhnlich wie die Priamel eine grössere oder kleinere Reihe von sinnlichen Einzelheiten, die auch wie in der Priamel gar nicht zu einander zu passen scheinen: nur wird die Clausel hier nicht vom Dichter hinzugefügt, sondern der Hörer oder Leser soll sie selber finden, und sie ist in der Regel kein Gedanke, sondern selbst wieder ein einzelner Begriff, in welchem wie bei der Priamel all die gegebenen Merkmale zusammentreffen, das Subject all der Prädicate. Und so gehört das Räthsel neben die Priamel und mit ihr in das allgemeine Gebiet des Epigramms. Mit den sprichwörtlichen Sprüchen Freidanks und mit den Priameln war der deutsche Boden zur Genüge vorbereitet worden, dass auf ihn, als das Mittelalter gänzlich vorüber war, und die letzte grosse Periode unserer Litteratur mit all ihren Entlehnungen aus der Vorzeit und der Fremde begann, dass da auf ihn das römische Epigramm des Spottes schnell und mit Leichtigkeit konnte übergepflanzt werden. Man griff aber nach diesem mit um so grösserer Begierde, als damals, in all dem sittlichen und politischen Elend des siebzehnten Jahrhunderts, der satirische Epigrammendichter nur zu reichlichen Stoff vorfand. Wie nah aber die alte deutsche Weise der neu erlernten römischen lag, sieht man besonders deutlich an dem grössten Epigrammatiker Friedrich von Logau. Er freut sich noch des alten deutschen Erbes, der direct lehrenden und der sprichwörtlichen Sprüche und der Priameln, daneben dann aber auch eines Schatzes von indirect lehrenden, von spottenden und strafenden Epigrammen (LB. 2, 377). Nach ihm hat die letztere Art immer das Uebergewicht behauptet; Epigramme der directen Lehre kommen selten, die der Empfindung gar nicht vor, bis endlich Herder und Göthe und Schiller das Epigramm über alle drei Gattungen ausdehnten und zu dem deutschen der Lehre, dem lateinischen des Spottes nun auch das griechische der Empfindung gesellten. Aber mit Göthe und Schiller erlebte auch das didactische Epigramm eine neue Epoche: durch sie ist auch für dieses die antike Form des Distichons beinahe allgemein geltend geworden, während vor ihnen alle Epigramme in Reimen abgefasst wurden. Das lehrende und das satirische Epigramm sind nur die didactische Umgestaltung des Epigramms der Empfindung, also einer Art von epischer Lyrik: ebenso lehnt sich auch anderweitig die didactische Lyrik eng an die epische Lyrik an. Diess ist der Fall in der didactischen Gelegenheitspoesie. Wir haben zuerst auf dem Gebiete der lyrischen Epik eine Gelegenheitspoesie kennen lernen, wir sind ihr sodann schon einmal wieder auf dem der Lyrik begegnet, als wir von der epischen Lyrik sprachen: wir treffen nun auch eine didactische Gelegenheitsdichtung, die ebenso aus der lyrischen hervorgegangen ist, wie diese aus der epischen. Es ist bereits (S. 145) erwähnt worden, wie die lyrische Gelegenheitspoesie Pindars an nicht seltenen Stellen in das Lehrhafte hinübergreife, was die hohe religiös-sittliche Richtung seines Geistes von selbst mit sich bringt; auch haben wir erwähnt (S. 146), wie das gleiche Hinübergreifen bei den Dichtern des Mittelalters, in den Sirventêsen der Provenzalen und den ihnen entsprechenden Dichtungen der Deutschen wiederkehre. Hier jedoch ist der Grund und Anlass dazu meist ein andrer als dort bei Pindar. Die mittelalterlichen Dichter waren meist zu bereitwillig, zu freigebig mit solchen Dienstgedichten, sie wollten jedwede Gelegenheit poetisch fixieren. Aber häufig war da kein einziger Punct vorhanden, an welchem sich reine und unmittelbare Lyrik hätte entwickeln können, und es bedurfte, eh das Gefühl konnte zu Worte kommen, erst der ausdeutenden Vermittelung des Verstandes und seiner lehrhaften Weisungen. Und so ist es denn gekommen, dass die Gelegenheitspoesie des Mittelalters nicht bloss stellenweise ganz aus dem Episch-lyrischen hinüberstreift in das Didactische, sondern dass sie noch öfter ganz und gar nur für didactische Lyrik gelten kann. Sowie es aber einmal eine didactischlyrische Gelegenheitspoesie gab, konnte es nicht ausbleiben, man musste unvermerkt und ohne bewusstes Zuthun auch da, wo es keine eigentliche Gelegenheit galt, man musste mit der Lyrik überhaupt in die Didaxis hineingerathen. Bei Walther von der Vogelweide, wie er denn überhaupt der bedeutendste Lyriker unseres Mittelalters ist, zeigt sich das alles noch in einem rechten und gesunden Verhältniss. Er giebt dem Verstande immer nur dann Raum, wenn ohne sein Zuthun die Production wirklich unmöglich wäre; zuletzt aber finden dessen Urtheile ihre Erfüllung doch nur in dem Gemüthe des Dichters, und seine Lehren beleben sich in dem Licht und der Wärme des Gefühles. So ist es in den politischen Gedichten, z. B. in denen auf Pabst Innocenz III. (LB. 1 4 , 404. 1 5 , 583), die in Ermangelung zahlreicherer und grösserer Ueberreste von Archilochus selbst uns über das Wesen der Archilochischen, d. h. der lyrischen Satire belehren können; so in den an keine bestimmte Gelegenheit geknüpften ethischen Gedichten, die vor dem grösseren Theile der gnomischen Poesie der Griechen so viel voraus haben, als überhaupt in Sachen der Dichtkunst das Gefühl voraus hat vor dem Verstande. Wo nun aber die Poesie eines Volkes noch organisch aus sich selber lebt und wächst, da stehn die metrischen Formen desselben stäts im innigsten Einklange mit den verschiedenen Gestaltungen ihres Wesens: so war es denn auch in dieser Periode der Lyrik. Es zeigt sich da nämlich, und zwar mit voller Bestimmtheit zuerst bei Walther von der Vogelweide, ein fester Unterschied ausgebildet zwischen den Formen der didactischen Lyrik und denen der übrigen. Die epische Lyrik und auch die reine Lyrik hat die Form des Liedes oder des Leiches; da treffen wir immer grössere oder kleinere Reihen von sangbaren Strophen. In der didactischen Lyrik dagegen gilt die Form des sogenannten Spruches, um den alten Ausdruck beizubehalten: jedes Gedicht befasst nur eine Strophe, und diese Strophe ist sowohl selbst ein Gebäude von grösserem Umfange, als auch die einzelnen Zeilen lang gestreckt und gedehnt sind. Schon diess macht die Spruchstrophen ziemlich unsangbar; dazu kommt dann noch, dass hier das im melodischen Gesange begründete Gesetz der Dreitheiligkeit nicht selten vernachlässigt wird. Die Sprüche wurden eben auch nicht gesungen, sondern gesprochen, d. h. mehr in Art eines Recitatives vorgetragen. Der eigentliche Gesang verblieb den Liedern und Leichen. Man kann nicht leugnen, dass hier auf beiden Seiten vom besten Tacte die angemessensten Formen sind gefunden worden; dass sich namentlich für didactische Lyrik, d. h. für eine Gattung der Poesie, die nah daran ist Prosa zu werden, keine bessere metrische Gestaltung denken lässt als der einstrophige, lange und breite, unsangbare Spruch. Vgl. Litt. Gesch. S. 233, 31. 237, 10. So angemessen also und ganz nach Gebühr Alles in dieser glänzendsten Epoche unsrer mittelalterlichen Litteratur sich verhielt, so ungebührlich ward es schon ein oder zwei Menschenalter später in der Zeit, als deren Repräsentant man Reinmar von Zweter betrachten darf, also um das Jahr 1250 (LB. 1 4 , 689. 1 5 , 869). Reinmar von Zweter dichtet gar keine Lieder mehr, sondern nur noch Sprüche: er weiss nur noch von didactischer Lyrik, sei das nun eine gelegenheitliche oder beziehungslose. Aber wie sich das schon an jenem Mangel errathen lässt, er wendet die Didaxis häufig an, wo sie gar nicht an der Stelle ist, und das Gefühl bleibt neben dem Verstande häufig ganz unthätig. Er handelt z. B. auf didactische Weise von der Liebe, während grade hier der unmittelbare Ausdruck der Empfindung besser wäre am Platze gewesen; und er handelt von ihr oft so didactisch, in so abstracter Verständigkeit, dass die Empfindung auch nicht einmal mittelbar davon berührt und erregt wird. Er lehrt also, wo er gar nicht lehren sollte, und belehrt auch da wieder nur den Verstand; das Gefühl aber und mit ihr die Einbildungskraft feiern. In ihm haben wir die gnomische Poesie der Griechen auf deutschem Boden und nach deutscher Weise. Dass es auch im siebzehnten Jahrhundert wieder die Gelegenheitspoesie gewesen ist, die ein vornehmlicher Anstoss dazu war, überhaupt beinahe alle Lyrik in die Didactik hineinzutreiben, braucht nach dem, was schon früher über dieselbe ist bemerkt worden (S. 150), hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Jetzt ist endlich noch von einer Gattung didactischer Lyrik zu sprechen, dem eigentlichen Lehrgedichte. Das Lehrgedicht im besonderen Sinne dieses Wortes verhält sich zu den so eben behandelten Sprüchen des Mittelalters, wie sich die Epopöie zum altepischen Liede verhält, d. h. während der Spruch nur Eine hauptsächliche Lehre nebst den dazu gehörigen Empfindungen enthält, umfasst das Lehrgedicht einen ganzen, um einen gemeinsamen Mittelpunct vereinigten Cyclus von Lehren, ein ganzes System von didactischen Einzelheiten. Und wie die Epopöie, um die grade Linie des historischen Verlaufes scheinbar abzukürzen, seitwärts gehende Episoden liebt, so auch das Lehrgedicht, damit man nicht an dem fortgesponnenen Faden verständiger Deductionen ermüde. Wir haben schon zu Anfange dieses Abschnittes (S. 153) eine Art von Lehrgedichten, die sogenannten reinen Lehrgedichte, berührt, denen man nur um der metrischen Form willen den Namen von Gedichten geben kann, die sonst aber, da sie lediglich Producte des Verstandes sind und auch nur vom Verstande können reproduciert werden, durchaus zur Prosa gehören. Mithin verbleibt jetzt dieser Name lediglich solchen umfangreichen, systematisch lehrenden Gedichten, in denen es auf Belebung des Gefühles abgesehen ist, in denen mithin nothwendiger Weise auch die Einbildungskraft zu schaffen hat. Obschon nun solchen Dichtungen der Anspruch auf den Namen von Dichtungen weniger zu verweigern wäre, so sind doch auch gegen sie allerlei gerechte Bedenklichkeiten vorzubringen. Die systematische Klarheit auf der einen Seite wird fort und fort verlieren durch die Empfindungen, die sich zwischen die Deductionen drängen, und durch die Einbildungskraft, die mit ihren concreten Wirklichkeiten hineinspielt; und doch werden sich wieder auf der andern Seite Einbildung und Gefühl in ihrer Thätigkeit fortwährend gehemmt und gehindert finden durch die Kettenglieder der Lehre. Sodann wenn der Gegenstand des Lehrgedichtes der menschlichen Wissenschaft angehört, wenn es ein s. g. scientifisches Lehrgedicht ist, wie die Einen sagen, oder wie die Andern, ein niederes, so kann das Gedicht beinahe über Nacht um seine Existenz kommen: es braucht nur heut Jemand ein neues und besseres System z. B. der Physiologie oder der Psychologie aufzustellen, so hat das Lehrgedicht, das noch dem System von gestern folgt, keine Wahrheit mehr. Ein solches vergängliches und vergangenes Lehrgedicht sind Die fünf Sinne von Barthold Heinrich Brockes (1680─1747); und je weitere Fortschritte Geologie und Chemie machen, desto unverständiger wird z. B. Valerius Wilhelm Neubecks Gedicht über die Gesundbrunnen (1796) erscheinen, dessen Didaxis aus der mangelhaften Kenntniss früherer Zeiten hervorgegangen ist. Oder das Lehrgedicht ist ein s. g. höheres, oder wie Andre sagen, ein philosophisches, d. h. es handelt von Dingen, die über die menschliche Wissenschaft hinaus vielmehr im Glauben und Ahnen liegen, also von Gott, von Unsterblichkeit, von Ewigkeit u. dergl. Das sind nun freilich keine vergänglichen Wahrheiten; Einbildung und Gefühl werden sich hier sogar erst recht auf ihrem Gebiete finden. Um so weniger aber der Verstand: er will die Sache von sich aus beschauen und hat dafür doch in sich keinen ganz sicheren Standpunct; er will ein System bauen, und ihm fehlt von sich aus der feste Grund dazu; er will deducieren und weiss nicht, wo anfangen. So arbeitet er sich in vergeblichen Anstrengungen ab, und während Einbildung und Gefühl allein Alles ins Reine bringen würden, werden sie durch den Verstand und seine störende Einmischung nur immer wieder vom Ziele zurückgetrieben. Ein rechtes Beispiel ist Christoph August Tiedges Urania, ein Gedicht über die Unsterblichkeit (1800): es ist da ein beständiges unklares Durcheinander: man weiss nie, ob die Einbildung ihre Anschauungen und das Gefühl seine Empfindungen ableitet aus den Beweisen des Verstandes, oder ob der Verstand seine Schlussfolgerungen zieht aus jenen Anschauungen und Empfindungen, also aus Prämissen, die für ihn gar keine sind. Zuletzt aber ist nichts angeschaut, nichts empfunden, nichts bewiesen: eine Kraft hat sich nur aufgerieben an der andern. Und so wird der überall am besten thun, der sich auf diese Art von Poesie gar nicht einlässt. Grosse und wahre Dichter sind auch niemals darauf verfallen. Ein umfangreiches Gedicht freilich von Friedrich Rückert, die Weisheit des Brahmanen (1836─1839 in sechs Bänden erschienen), führt auch den Titel Lehrgedicht: es ist aber kein langes und breites, systematisch zusammenhangendes, nach Art der Urania, sondern wie der Titel selber noch weiter sagt, ein Lehrgedicht in Bruchstücken. Es sind lauter kleinere Gedichte, meist zur didactischen Lyrik gehörig, nicht selten aber auch zur epischen Lyrik oder zur rein lyrischen Lyrik. Zwar haben sie alle sehr wohl ihre Einheit, nämlich eine Einheit der Empfindung, es sind alles Worte eines liebenden Menschengeistes, dem, was er um sich erblickt, immer neu gestaltete und neu gefärbte Abspiegelungen sind von der schaffenden und belebenden Liebe Gottes: aber der Dichter hat sich sehr wohl enthalten, all diese warmen, farbigen Stralen nun auch zu einer Einheit des Verstandes zu sammeln und sie in systematischer Construction aus einander zu legen; es lassen sich vielmehr auf dieses Lehrgedicht sehr wohl einige Worte anwenden, mit denen Rückert selbst in früheren Jahren eine Reihe von Epigrammen, Angereihte Perlen betitelt, beschlossen hat: Ein Bruchstück ist mein Lied, ein Bruchstück das der Erde, Das auf ein Jenseits hofft, dass es vollständig werde. Die Liebe, die zum Kranz am Himmel reiht Plejaden, Hält diese Perlen auch am unsichtbaren Faden. (Poet. Werke 7, 373.) Die gleiche Art der Composition zeigt im Mittelalter Freidanks Bescheidenheit, im Alterthum die Sprichwörter und der Prediger Salomos; auch hier haben die Einzelheiten ihre Einheit: bei den Sprichwörtern beruht diese auf dem Gedanken, dass alle Weisheit aus der Gottesfurcht hervorgehe, beim Prediger auf der Eitelkeit der Welt. In Hesiods Werken und Tagen dagegen vermisst man die Einheit; die einzelnen Theile gehören nicht nothwendig zusammen, sie haben sich vielmehr wie zufällig zusammen gefunden. Nach der epischen und der didactischen Lyrik haben wir nun noch die dritte Art ins Auge zu fassen, nämlich die lyrische oder die Lyrik des Gefühls. Lyrische Lyrik, so nennen wir zum Unterschiede von der epischen und von der didactischen die reine, eigentliche Lyrik, die zwar auch eines epischen Anstosses bedarf, aber denselben nicht erzählt, wie die epische Lyrik, die zwar auch ihren lehrhaften Erfolg haben wird, aber ihn nicht sichtlich und ausdrücklich bezweckt, wie die didactische Lyrik: sie giebt immer nur die inneren Zustände des einen gegenwärtigen Momentes, der mitten inne liegt zwischen jener epischen Vergangenheit und dieser didactischen Zukunft. Sie wurzelt in den gegenwärtigen, momentanen Zuständen des Gemüthes, und deshalb ist ihr Gebiet, so eng begrenzt es auch nach diesen Worten erscheinen möchte, dennoch so grenzenlos und unermesslich und unbestimmbar, wie es ja auch grade der gegenwärtige Augenblick ist, der uns mit den unbegrenzten Blicken, die er rückwärts und vorwärts eröffnet, die erste und sicherste Ahnung der Ewigkeit, der Unendlichkeit gewährt. Alles, was das menschliche Gemüth bis in seine noch unausgeforschten Tiefen bergen mag, all das Licht und Dunkel, all die Formen und Farben, die ihm von Gott und aus der Welt her zuströmen, und die es Gott und der Welt entgegenbringt, alles dieses gehört, insofern es sich den ewigen Gesetzen des Schönen, Guten und Wahren fügt, der lyrischen Poesie zu als Stoff und Inhalt. Und wenn schon einige Ideen als Hauptstoffe zu bezeichnen sind, die Ideen Gott und Liebe, so unterliegen schon diese beiden, je nach dem Wechsel der Individualitäten wie der Umstände, einem so grossen Wechsel verschiedenartiger Auffassungen, und ausserdem bleibt noch eine solche Fülle von anderen wirklichen und möglichen Stoffen und von Auffassungsweisen derselben übrig, dass es ein vergebliches Beginnen wäre, sie alle aufzählen und theoretisch erörtern zu wollen. Was unter solchen Umständen über das Wesen der rein lyrischen Poesie kann gesagt werden, das ist sowohl zu Anfange dieser ganzen Abtheilung (S. 119 fgg.), als auch vergleichsweise mit der epischen Lyrik und der didactischen Lyrik in den beiden vorigen Abschnitten bereits gesagt worden, und wir brauchen nur noch einige wenige Bemerkungen über Geschichte und Form hinzuzufügen, die immer dienen werden, die frühere Characteristik noch zu vervollständigen. Zu dieser reinen, eigentlich lyrischen Lyrik bringen es immer nur diejenigen Völker, deren geistige und politische Entwickelung ungehindert ihren Lauf vollenden kann, die auf der niedern Stufe der Cultur weder von selbst verharren, noch irgendwie durch äusseren Drang und Zwang festgehalten werden, deren Geist auch so glücklich organisiert ist, dass es ihn überall zur reinen abschliessenden Vollendung treibt, dass er sich nicht begnügt, auf dem halben Wege stehn zu bleiben, dass er kein Gefallen findet an blossen Mischarten und Zwischengattungen. In den Anfängen der Civilisation ist eine selbstbewusste Absonderung des Einzelnen von der Gesammtheit des Volkes, während welcher doch allein die lyrische Lyrik mit ihrem cosmopolitischen Egoismus erwachsen kann, noch unmöglich und noch nicht vorhanden. Solche Völker bringen es daher, wie die Serben und die Littauer, allenfalls bis zur epischen Lyrik, aber weiter auch nicht. Andre haben wohl die erforderlichen Fortschritte der Civilisation gemacht, und der Einzelne ist sich schon so viel werth geworden, dass er in so fern wohl für die lyrische Lyrik eingerichtet und geschickt wäre: aber da fehlt dann wieder dem Geiste des Volkes der Sinn für unvermengte Form, für scharfe Abgrenzung der einzelnen Gattungen, wie z. B. den vorderen Orientalen, den Hebräern, den Arabern. Man kann nicht sagen, dass sie keine Lyrik hätten: sie besitzen sogar eine sehr reiche; nur haben sie wenig eigentlich reine, lyrische Lyrik. Die Phantasie und das Gefühl dieser Völker hat von jeher gern dem Verstande gedient, seiner ernsten Lehrhaftigkeit bei den Hebräern, seinem Witz und seinen Spitzfindigkeiten bei den Arabern. Daher hat ihre Lyrik, wo sie nicht gradezu noch auf der Grenzscheide des Epos steht, immer eine stärkere oder schwächere didactische Beimischung. Die Psalmen Davids zeigen das erregteste Gemüth, die Dichtungen der Propheten die beweglichste Einbildung, aber die Beispiele sind doch gewiss selten, wo Gemüth und Einbildung sich nicht in fortdauernder Abhängigkeit von den lehrhaften Tendenzen des Verstandes befänden oder sich letztere nicht wenigstens vorübergehend dazwischen drängten. Solche dagegen durch ihre Geschichte und durch ihre geistigen Anlagen bevorzugte Völker, bei denen die Lyrik zu ihrer letzten vollkommenen Ausbildung hat gedeihen können, sind im Alterthume die Griechen, in neuerer Zeit die Deutschen. An beiden Orten haben die rechten Präcedentien den rechten Erfolg nach sich gezogen, auf die epische Epik ist die lyrische Epik, auf die lyrische Epik die epische Lyrik, auf die epische Lyrik die lyrische Lyrik gekommen. An beiden Orten ist in dem allmählichen, nirgend springenden Entwickelungsgange eines gesunden Organismus die Nation erst nach und nach zu einer Vereinigung von Individuen geworden, und die Poesie dem entsprechend aus dem ungeschiedenen Gemeingute Aller in das Sondereigenthum des Einzelnen übergegangen. Bei den Deutschen musste auf die Erzählung der Thaten Anderer erst die objective Entwickelung der Zustände Anderer folgen, eh der Dichter dazu kam, auch die seinigen zu entwickeln, seine eigenen, individuellen, subjectiven: die reine Lyrik bei Walther von der Vogelweide gegenüber der reinen Epik der alten Heldenlieder ward erst dadurch möglich, dass zwischen beide die lyrische Epik Dietmars von Aist und die epische Lyrik Reinmars des Alten trat. So auch bei den Griechen, und hier vertheilen sich auf höchst interessante Weise die einzelnen Arten und Uebergangsstufen nicht bloss in verschiedene Zeiten, sondern auch noch unter verschiedene Völkerschaften. Auf die epische Poesie, die, wenn schon bei den Ioniern besonders gepflegt, doch allgemein hellenisches Gesammtgut war, folgte als wichtigste und als kenntlichste Uebergangsstufe die epische Lyrik, als Elegie bei den Ioniern, als Chorgesang bei den Doriern, beide in ihren Anfängen und in den Fortschritten ihrer Entwickelung einander gleichzeitig, und die eine wie die andre zugleich national und individuell. Dann erst kommt rein lyrisch, frei von epischen Motiven, abgelöst von aller Nationalität, die Lyrik der Aeolier. Bei ihr zeigt sich bis in die metrische Form, bis in den musicalischen Vortrag hinein die volle Freiheit und Selbständigkeit des dichtenden Subjects. Hier ist der Dichter nicht mehr an die auf der alten Nationalität beruhenden Anforderungen des Chors gebunden: wie sein Gedicht nur ihn angeht, nur ihm dient und angehört, seinen Interessen, seiner Freude und Trauer, so singt er es auch allein. Die antistrophische Gliederung, wie sie dem Chorgesang eigenthümlich war, wird aufgegeben: entweder braucht man unstrophische Formen, wie bei den Hymnen und Dithyramben; diese waren ursprünglich lyrischepisch und in Hexametern verfasst, zuletzt aber wurden sie rein lyrisch, dienten zum Ausdruck feierlichen Schwunges und rauschender Begeisterung und zeigten demgemäss einen freien, ungestümen Wechsel verschiedener Versarten; oder aber, und das ist die eigentlichste Weise der äolischen Lyrik, es kehren nur noch gleiche Strophen in gleicher Melodie wieder: daher wird sie denn auch im Gegensatz zur elegischen und chorischen die melische Lyrik genannt, von μέλος , was eigentlich Strophe bedeutet, nicht Lied. Bei uns im deutschen Mittelalter wird der Uebergang aus den epischen Zwischengattungen in die lyrische Lyrik zwar durch keine so auffallenden Veränderungen in der Form bezeichnet: nur das schon früher angebahnte Gesetz der Dreitheiligkeit ward nun erst zur rechten Kunstmässigkeit und Unverbrüchlichkeit ausgebildet. Wir nennen jetzt ein solches in Strophen abgefasstes lyrisches Gedicht Lied. In der älteren Sprache bezeichnete der Singular daʒ liet (eine Nebenform von lit, d. h. Glied) eine einzelne Strophe, der Plural dagegen diu liet ein aus Strophen bestehendes Lied, grade wie sich auch im Griechischen τὸ μέλος und τὰ μέλη unterscheiden. Der Grund, bloss der einzelnen Strophe den Namen zu geben, ist der, dass ein lyrisches Gedicht nicht nothwendig aus mehr als einer Strophe zu bestehen braucht: wie Göthe, wie Uhland genug einstrophige Lieder haben, so auch das Mittelalter, das griechische Alterthum, und es ist keine Nöthigung vorhanden, so wie man häufig zu thun pflegt, solche vereinzelte Strophen immer nur für Bruchstücke grösserer mehrstrophiger Lieder zu halten. Ja die älteste lyrische Lyrik möchte in Griechenland und in Deutschland, wie man wohl aus der Beschaffenheit der erhaltenen Ueberreste schliessen darf, sich öfter mit einer Strophe begnügt, als das Gedicht zu einer grösseren Strophenreihe ausgesponnen haben. So sind die Scolien der Griechen, Lieder, die in heiterer Gesellschaft über Tisch gesungen wurden, beinahe sämmtlich einstrophig. Die neue Kunst hatte eben auch erst ihre Studien zu machen, musste sich auch erst am Kleinen versuchen, eh sie Muth und Kraft zu Grösserem gewinnen konnte. Jean Paul in der zweiten Ausgabe zur Vorschule der Aesthetik (S. 589 fgg.) hat nicht übel Lust, auch die Ausrufungszeichen und die Fragezeichen als besondere Art lyrischer Poesie aufzuführen; mit dieser und einigen andern dergleichen Scherzreden fertigt er da die ganze, gesammte lyrische Poesie ab, nachdem er in der ersten Ausgabe aus leicht erklärlicher und verzeihlicher Verlegenheit gänzlich von ihr geschwiegen. Solche einstrophige Dichtungen kommen den Ausrufungs- und Fragezeichen oft nahe genug: denn natürlich können sich nur ganz einfache, ganz abgerissene Empfindungen in solcher Kürze vortragen lassen. Den Fortschritt von solchen einstrophigen Gedichten zu mehrstrophigen könnte man dann etwa dem Fortschritte vom kurzen Heldenliede zur ausgeführten Rhapsodie vergleichen: denn eigentlich eine neue Idee kann die zweite und die dritte Strophe zu der ersten nicht bringen; die Einheit muss bleiben, die Eine Idee wird nur anschaulicher, weil sie in einer grösseren Mannigfaltigkeit von psychologischen Motiven und Consequenzen erscheint. 3. DIE DRAMATISCHE POESIE. Nach einem Gesetze organischer Entwickelung, das sich häufig in geistigen Dingen wie in Dingen der Natur wirksam zeigt, kehrte die Lyrik, als sie bis zur höchsten Ausbildung, d. h. bis zum höchsten Grade ihrer Verschiedenheit von der Epik gediehen war, in diesen ihren Gegensatz, dem sie aber zugleich ihren Ursprung verdankte, zurück, und es entstand aus der Verschmelzung des Wesens beider das Drama; damit war denn auch der Kreis der möglichen Dichtungsarten geschlossen. Der gleiche Gang lässt sich innerhalb der bildenden Kunst wahrnehmen. Aus der Architectur, die ebenso der Ursprung und auch der Inbegriff aller bildenden Kunst ist, wie die Epik Ursprung und Inbegriff aller Dichtkunst, entwickelte sich durch Entzweiung ihr Gegensatz, die Plastik; auf die Entzweiung folgte aber auch hier die Aufhebung des Gegensatzes, die neue Vereinigung der Getrennten in der Malerei, welche von der Architectur die geistige, idealische, von der Plastik die körperliche, sinnliche Schönheit hat, welche die Figuren der Plastik nach der Symmetrie und in der Perspective der Architectur geordnet vorführt. Der Parallelismus aber zwischen der dichtenden und der bildenden Kunst ist erst auf dieser letzten Stufe ein Parallelismus der Uebereinstimmung. Denn vorher hatten diese beiderlei Aeusserungen des menschlichen Schöpfungstriebes einander immer das entschiedenste polarische Widerspiel gehalten. Neben der Epik, als der ältesten dichtenden Kunst, stand als älteste bildende die Architectur, d. h. neben einer sinnlichen eine rein geistige. Denn die Epik holt ihre Anschauungen aus der geschichtlichen Wirklichkeit: die Architectur verdankt der Wirklichkeit nichts, sie trägt ihre Muster und Masse in sich selbst; es giebt (um es so auszudrücken) keine so abstracte Schönheit als die architectonische ist. Auch bei dem ersten Fortschritt ihrer Weiterbildung verharren Poesie und bildende Kunst immer noch in einem solchen Gegensatze. Von der idealischen Architectur löst sich die Bildhauerei ab, sie eine rein sinnliche Kunst, da sie ihre Formen recht aus der handgreiflichen Wirklichkeit entnimmt. Aus der Epik aber geht die Lyrik hervor, die sich ihrerseits dem Epos und auch der Plastik in der schärfsten Entzweiung gegenüberstellt. Denn in der Lyrik zieht sich die Poesie von der äussern Wirklichkeit gänzlich in das Geistige zurück, von den Begebenheiten der Geschichte in die Zustände des Gemüths. Wie also früherhin die Poesie in ihren Anschauungen sinnlich gewesen war, die bildende Kunst dagegen geistig, so ist jetzt die Poesie wieder geistig, die bildende Kunst sinnlich. Der menschliche Geist will eben immer in beiden Richtungen zugleich thätig sein. Indem nun aber endlich die Lyrik in die Epik, die Plastik in die Baukunst zurückwandelt, und hier die Malerei, dort das Drama entsteht, werden nicht bloss die Gegensätze versöhnt, die innerhalb der Poesie und innerhalb der bildenden Kunst bestanden, sondern auch der Gegensatz aufgehoben, der zwischen der Poesie auf der einen und der bildenden Kunst auf der andern Seite stattgefunden hatte. Beide werden nun sinnlich und geistig zugleich. Die Malerei zeigt Körper gleich der Plastik, aber schon in so fern geistiger, als die Körperlichkeit nur Schein und Täuschung ist; und noch um vieles geistiger dadurch, dass die Farbe dem Körper auch den Ausdruck der Seele verleihen kann. Das Drama führt, wie das Epos, eine Reihe von Begebenheiten vor, aber nicht bloss diese, sondern auch und ganz vorzüglich die inneren Zustände, welche Motiv und Folge jener Begebenheiten sind; es zeigt die Begebenheiten in den innern Zuständen und durch dieselben. Es ist in so fern episch, als nicht bloss die Begebenheiten, sondern auch die innern Zustände ausserhalb des Dichters liegen, und es nicht seine individuellen Empfindungen sind, die er darstellt; aber in so fern doch lyrisch, als er eben innere Zustände entwickelt, zwar einer fremden Individualität, in die er sich jedoch durch seine Einbildung versetzt. Es ist episch, insofern jene Begebenheiten entweder wirklich früher geschehene sind oder doch als früher geschehen betrachtet werden: es ist aber lyrisch, insofern eben jene Begebenheiten in den begleitenden innern Zuständen Moment für Moment vergegenwärtigt, Moment für Moment vor Auge und Ohr des Hörers und Zuschauers entwickelt werden: denn die Lyrik ist die Kunst der Gegenwart und des Momentes, wie das Epos die Kunst der Vergangenheit und des Verlaufes ist. Auch hier tritt uns wieder eine bemerkenswerthe Aehnlichkeit zwischen Drama und Malerei entgegen. Die Plastik ist gleich der Lyrik auf Einen Moment angewiesen; die Malerei freilich auch, aber doch nicht in solchem Grade, in derselben Beschränkung wie die Plastik. Denn durch die Perspective, durch die Breite der Ausdehnung und die Weite des Hintergrundes, die sie ihren Bildern geben kann, ist ihr die Möglichkeit eröffnet, einen historischen Verlauf anzudeuten und wenigstens errathen zu lassen, welcherlei Begebenheiten dieser momentan fixierten vorangegangen seien, und welche ihr nachfolgen werden. Durch diese Verschmelzung des Lyrischen mit dem Epischen, der innern Zustände mit der äusseren Wirklichkeit, der Empfindung mit den Begebenheiten werden diese letzteren erst zu dem, was man eine Handlung nennt: denn nun erst, wo sich die inneren Motive in ihrer vollsten Geltung und Einwirkung zeigen, erscheint das, was geschieht, auch als ein wirklich Gethanes; es begiebt sich nicht bloss, wie im Epos, diess und jenes mit und an den Personen, welche auftreten, sondern sie sind selber thätig, sie handeln. Daher auch die griechische Benennung δρᾶμα Die lateinische, fabula , ist minder passlich: sie berührt, da sie eigentlich so viel als Erzählung heisst, nur das epische Element. . Daraus nun, dass es im Drama nicht auf Begebenheiten, sondern auf Handlung abgesehen ist, folgt zugleich, dass es eben Personen sind, mehr als Eine, die in ihm auftreten: bei einer Begebenheit kann sehr wohl nur eine einzige Person betheiligt sein; zu einer Handlung gehören zum mindesten zwei, grade wie zu einem vollthätigen, transitiven Zeitwort wenigstens zwei Substantiva gehören, ein Subject und ein Object. Auf die Zweizahl beschränkt sich jedoch die dramatische Kunst nur in den Zeiten ihres Beginns und etwa auch in denen der Ausartung: sonst aber pflegt sie den Kreis der Handlung über eine grössere Menge von Personen auszudehnen, und ungefähr wie die Sprache neben dem Nominativ und dem Accusativ noch einen Genitiv, einen Dativ u. s. f. besitzt, so auch ausser dem Handelnden und dem Leidenden, damit die Begebenheiten immer mehr zu wahrer Handlung belebt werden, noch ursächlich wirkende und bloss betheiligte Personen u. s. f. auftreten zu lassen. Die Uebereinstimmung zwischen der Malerei und dem Drama bewährt sich auch auf diesem Puncte. Die Plastik kann, da sie immer nur einen einzelnen Moment fixiert, auch immer nur höchstens Begebenheiten und nie eine rechte Handlung darstellen; zudem ist sie schon durch die Beschaffenheit ihres Materials auf wenige oder gar Eine Gestalt eingeschränkt. Anders die Malerei. Sie kann, wie vorher bemerkt worden, die Vergangenheit und die Zukunft, die vor und hinter der augenblicklichen Gegenwart liegen, wenigstens andeuten: schon das hilft ihr die Begebenheit zur Handlung steigern; sie wird aber darin noch unterstützt durch die Möglichkeit, eine grössere Anzahl von Gestalten auf der Fläche zu versammeln und sowohl durch die Gebärden und die Gruppierung als durch die perspectivische Anordnung die causalen Beziehungen errathen zu lassen, die unter denselben stattfinden. Wie bringt nun das Drama diese seine Handlung zur Anschauung? Zunächst, da es eine Art der dichtenden Kunst, der Kunst der Rede ist, muss es sich zur Darstellung des Wortes bedienen. Da es aber eben eine Handlung ist, an der als solcher Mehrere Antheil haben, und da diese Handlung soll vergegenwärtigt werden, so kann die Darstellung durch das Wort in keiner andern Form erscheinen als in dialogischer, in der Form des Gespräches. In Gesprächsform also drücken die handelnden Personen die innern Zustände aus, durch welche sie zu einander in causaler Beziehung stehn; im Fortschritte des Gesprächs, der wechselnden Rede und Gegenrede entwickelt sich auch der fortschreitende Verlauf der Handlung. Aber mit dem Dialog allein wären doch nur die innern Zustände dargestellt, jedoch nicht die Begebenheiten selbst, die epische Grundlage der Zustände. Erzählt werden dürfen sie nicht: denn damit würde ein Theil der Dichtung rein episch werden. Da muss denn die dichtende Kunst Hilfe suchen bei der bildenden: durch diese muss sie sinnlich vergegenwärtigen lassen, was in ihr der grobe materielle Kern der äussern Wirklichkeit, der epischen Begebenheiten ist. Sie fügt zu dem geistig Anschaulichen das sinnlich Wahrnehmbare: sie verbindet mit dem Worte die Gebärde, mit der Poesie die Mimik. Was man im Drama hört, ist nur die Entwickelung der innern Zustände, freilich eine episch fortschreitende: denn es sind Zustände von Handelnden; die eigentlichen Begebenheiten aber, auf denen als den einzelnen Motiven und Erfolgen jener Verlauf der innern Zustände beruht, das epische Gerüst und Gebälk des dramatischen Gebäudes, werden mit dem Auge wahrgenommen, werden gesehn. Auf diese aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung gehn die mannigfachen mit Spiel gebildeten deutschen Benennungen: Schauspiel, Trauerspiel, Lustspiel, Schimpfspiel u. s. f. Die Aufführung gehört überall wesentlich zu einem dramatischen Gedichte, und es ist die Sache eines Jeden, der ein Drama bloss liest oder lesen hört, in seiner Einbildung die Gebärden, die er auch noch sehen sollte, beizufügen. Denn wie an dem, welcher nur die Gebärden sähe, nur einzelne Begebenheiten vorübergehn würden, aber keine zusammenhangende Handlung: so würde auch der, welcher seine geistige Kraft nur auf den Dialog richtete, wohl eine Reihe von innern Zuständen vernehmen, aber wiederum keine Handlung; für jenen würde nur das epische Element in der gröbsten Handgreiflichkeit, für diesen nur das lyrische in unsicherer Anhaltlosigkeit vorhanden sein. Erst aus der Durchdringung beider ergiebt sich die eigentliche dramatische Handlung. Drama ist mithin ein Verlauf von epischen Begebenheiten, angeschaut in einem Verlaufe von lyrischen Zuständen und dargestellt in Form des Gespräches mit Begleitung des Gebärdenspiels; oder um die Definition kürzer zu fassen, eine dialogisch und mimisch dargestellte Handlung. Ehe wir uns zur nähern Erörterung der Gesetze wenden, denen das Drama im Allgemeinen folgt, und zur Betrachtung seiner einzelnen Gattungen, wird es zweckdienlich sein, der Geschichte desselben in etwas nachzufragen. Schon wenn man lediglich das innere Verhältniss ins Auge fasste, das zwischen den Productionen der dramatischen Kunst und denen der Epik und der Lyrik stattfindet, dürfte man getrost behaupten, das Drama müsse jünger sein als Epos und Lyrik: diese vollendete Subjectivierung des Objectes, diese organisch untrennbare Verschmelzung von Begebenheit und Empfindung sei erst da möglich gewesen, als man sowohl in der Epik die Kunst der Erzählung, wie auch in der Lyrik die Kunst, innere Zustände zu entwickeln, bereits zur Meisterschaft ausgebildet hatte, als man es auf beiden Gebieten zu nichts Weiterem mehr bringen konnte. Aber man braucht das nicht bloss zu vermuthen und es als höchst wahrscheinlich zu behaupten: man kann es auch mit historischer Gewissheit nachweisen. In Deutschland war das Drama von den ältesten Zeiten her mannigfach angebahnt. An mimischen Künsten hat unser Volk immer Freude gehabt: schon Tacitus erzählt in seiner Germania (cp. 24) von Waffentänzen als einer Art theatralischer Belustigung. Die dramatische Gestaltung der Rede war auch schon vorbereitet und gleichsam vorgeahnt in der alten, echtdeutschen Weise, die epische Erzählung mit Dialog zu begleiten. Dichtungen jedoch, die mit einigem Recht den Namen von dramatischen ansprechen dürften, zeigen sich in Deutschland erst während des zwölften Jahrhunderts, also zu einer Zeit, wo die alte Epik des Volkes schon anfieng in die Kunstepopöie überzugehn, und wo die erste Entwickelung der lyrischen Poesie sich in den zwiespältigen halb epischen, halb lyrischen Liedern zeigte. Indessen war, da es eben noch keine rechte Lyrik gab, auch die Zeit des Dramas noch nicht recht gekommen. Jene dramatischen Dichtungen hatten ihren Ursprung auch nicht auf deutschem Boden, innerhalb der Nation: sie sollten nur die Feierlichkeiten der Kirche noch herrlicher machen, standen im Dienste der Geistlichkeit und waren deshalb, freilich nach ganz mittelalterlicher Weise, in lateinischer Sprache abgefasst. Diese geistlichen Spiele beruhten unzweifelhaft mit auf alten Ueberlieferungen aus den Zeiten der römischen Litteratur: aber sie bequemten sich dem Zustande der Nationallitteratur des Mittelalters, und so sind auch die im zwölften Jahrhundert in Deutschland verfassten noch so roh und ungeschickt dramatisiert, in einem so unverschmolzenen, bloss mechanischen Gemische von Epik und Lyrik, wie es damals allein noch möglich war, wo die deutsche Lyrik selber erst ihren Anfang nahm. Das nationale, eigentlich deutsche Drama beginnt erst um das Jahr 1300, also, und darauf kommt hier viel an, zu einer Zeit, wo die Epik sowohl als die Lyrik sich schon überblüht hatten: die Poesie, die dort nicht mehr heimisch war, flüchtete sich nun in ein neues Gebiet, wo sie die dort erworbenen Güter zusammenwerfen und Eins in und mit dem Andern nützen konnte. Der älteste Versuch eines nationalen deutschen Dramas ist der Krieg von Wartburg, ein epischer Stoff lyrisch in Form eines Dialogs behandelt. Auch in einigen Aeusserlichkeiten weist diese dramatische Dichtung deutlich genug auf beides, die Epik und die Lyrik zurück; es sieht in seinen Gesichtszügen zugleich dem Vater und der Mutter ähnlich. Von der Lyrik hat es die strophische Form, vom Epos die Einmischung einzelner erzählender Stellen. In den nächsten Jahrhunderten, dem 14., 15. und 16., kehrt es sich, was solche unverschmolzene Einmischungen betrifft, gewissermassen um. Während nämlich in den Dramen dieser Zeit die Versform in der Regel die epische ist, die der kurzen Reimpaare, treten dazwischen häufig lyrische Stellen, lyrisch der Sache und der Form nach, eigentliche Lieder. Von da an machte aber die dramatische Kunst immer schnellere Fortschritte zur letzten Ausbildung, und wir könnten uns, wäre nicht das 16. und das 17. Jahrhundert mit all seiner Unruhe und seinem Elend, seinen Entlehnungen aus der Fremde dazwischen gekommen, jetzt wahrscheinlich eines vollständig nationalen Dramas freuen und rühmen. So aber ist unser jetziges Drama zu einem grossen Theile mehr gemacht als geworden, mehr fremd als deutsch. Das griechische Drama hat eben so wie das deutsche seinen Ursprung aus der religiösen Gelegenheitspoesie genommen, und zwar die ganze dramatische Kunst in ihren verschiedenen Arten aus einer und derselben Art solcher Gelegenheitspoesie, nämlich aus dem Dithyrambus. Der Dithyrambus gehörte, wie das von den Alten selbst mehrfach bezeugt wird, ursprünglich zur Epik als ein dionysischer Festgesang, der von den Werken und Wundern des Bacchus erzählte; nur in so fern trug er von jeher auch einen Keim der Lyrik in sich, der dann späterhin auch aufgehen musste, als es darauf ankam, den Gott ausserdem noch zu preisen. Sein Charakter war ein rauschender Enthusiasmus, und zwar je nachdem man den Gott auffasste, bald der Enthusiasmus der ausgelassenen Fröhlichkeit, bald der der schmerzvollen Klage. Vorgetragen wurde er, wie alle solche religiösen Festgesänge, von dem repräsentierenden Ausschusse des ganzen feiernden Volkes, von dem Chor, der singend und tanzend den Altar des Dionysus umkreiste. Dabei galt im allgemeinen die Sitte der Verkleidung: die Sänger des Chores suchten, indem sie sich in Bocksfelle hüllten, die Gestalt der Satyrn, der Gefährten des Bacchus, nachzuahmen. Nur in den dorischen Städten fiel, wie denn überhaupt die Dorier sich vor allen griechischen Stämmen durch geistigen Adel und so auch durch Läuterung der Religiosität auszeichneten, die Satyrmaske schon frühzeitig fort, und auch sonst erhielt der dithyrambische Chor dort in den Städten eine mehr ernste, würdige Gestalt: den Landbewohnern indessen verblieb die bäurische Mummerei. An der Spitze des Chors stand nach gewohnter Sitte alles Chorgesanges ein Vorsänger ( ἐξάρχων ); gewöhnlich der Dichter selbst, ausserdem, dass er den Gesang anhob und leitete, ursprünglich in nichts von den übrigen Sängern unterschieden. Je mehr jedoch die Kunstbildung überhaupt fortschritt und sich die Verschiedenheit der Dichtungsarten entwickelte und befestigte, desto mehr sonderte sich auch dieser Chorführer von dem übrigen Chore ab: er trat ihm entgegen wie die Epik der Lyrik, indem abwechselnd er, begleitet vom Tanz und von den mimischen Gebärden der Uebrigen, Thaten und Leiden des Gottes erzählte, und diese dann wieder mit Preisgesange einfielen. Und bald gewann jener epische oder „diegematische“ Theil des Dithyrambus eine noch weitere Ausdehnung seines Stoffgebietes: die Erzählung blieb nicht beim Dionysus stehn; sie wandte sich auch auf andre Mythen und Sagen; auch die alten Landesheroen wurden gefeiert. In solcher Weise spiegelte sich innerhalb der einen dithyrambischen Poesie die allgemeine Sonderung von Epik und Lyrik wieder; eben diese sollte nun aber auch den Punct hergeben, an welchem sich beide auf neue Weise wieder vereinigten: sie sollte den Ausgangspunct bilden für die dramatische Kunst. Es ward diess durch eine leichte Wendung und Veränderung herbeigeführt, die um 540 v. Chr. der Attiker Thespis in den Dithyrambus brachte. Er gestaltete ihn dialogisch und machte den Vorsänger zu einem eigentlichen Schauspieler: er liess diesen selbst dasjenige, was er diegematisch vortrug, was er erzählte, auch mit den dazu gehörigen Gebärden und Bewegungen begleiten, und liess es ihn vortragen in Form einer eigentlichen Wechselunterhaltung mit dem singenden Chore. Nun bedurfte es nur noch der neuen Aenderung und Hinzufügung, die man erst dem Aeschylus, vierzig bis fünfzig Jahre nach Thespis, beizulegen pflegt, derjenigen nämlich, dass dem Erzähler nicht mehr der Gesang des Chors antwortete, sondern ihm ein andrer vereinzelter Zwischenredner beigegeben ward, dass ausser und neben dem Chor zwei Personen hingestellt wurden, die sich unterredeten und die Rede mit Gebärdenspiel begleiteten: nur dieser Aenderung bedurfte es noch, und das eigentliche Drama, die im Dialog mimisch dargestellte Handlung war fertig. Und wohl zu merken, diese letzte entscheidende Aenderung fällt in die Zeit, wo die Epik bereits in die prosaische Geschichtsschreibung umschlug, wo auch die reine Lyrik der Aeolier schon längst in Alcäus, Sappho und Andern ihre höchste Blüte erreicht hatte, wo also der schöpferische Geist der Hellenen einer neuen dritten Kunstform bedurfte, wenn er nicht müssig sein und in Müssigkeit absterben sollte. So stand nun das Drama fertig da, und Sophocles, der jüngere Zeitgenosse des Aeschylus, hatte es nur noch zu höherer und zu der höchsten Blüte und Reife zu vollenden: aber grade wie der Dithyrambus darum nicht minder fortbestand, nur von jetzt an als rein lyrischer Ausdruck der bacchischen Begeisterung, so trug auch das Drama fort und fort immer noch mancherlei nachgebliebene Spuren an sich von seinem Ursprunge aus der Epik und der Lyrik jener dionysischen Chorgesänge. Namentlich sind es die Ueberreste der Lyrik, die besonders augentällig hevortreten, nicht so die der Epik. Etwa nur von Aeschylus kann man behaupten, dass sich bei ihm öfter noch das epische Element kaum verschmolzen mit dem lyrischen vordränge; z. B. in den Persern und in den Sieben gegen Theben. Jene noch bewahrte Selbständigkeit der Lyrik zeigt sich, wenn wir von den gern gebrauchten Monologen absehen, die nothwendig und natürlich immer ziemlich lyrisch gehalten waren, hauptsächlich und namentlich in der Beibehaltung des vom Dithyrambus her überlieferten Chors. Wie sehr der Chor eigentlich nur etwas Ueberliefertes und Beibehaltenes war, giebt sich besonders deutlich darin kund, dass selbst das attische Drama, während der Dialog im attischen Dialecte geführt wurde, dem Chor immerfort seine dorische Mundart liess und auf solche Weise das alte Eigenthumsrecht der Dorier auf die chorische Poesie anerkannte und bewahrte. Die lyrische Bedeutung des Chores beruht nicht bloss in den lyrischen Strophenformen, deren er sich bedient: denn ohne Gesang von Strophe und Antistrophe konnte er eben nicht wohl ein Chor sein; sie beruht noch viel mehr und viel bestimmter in der ganzen Stellung, welche der Chor gegenüber dem dialogischen, dem aus Epik und Lyrik zusammengeschmolzenen übrigen Theile des Dramas einnahm. Der Chor hieng zwar immer mit den handelnden Personen irgendwie zusammen, indem er etwa eine derselben als Gefolg begleitete oder aus Einwohnern des Ortes bestand, an welchem die dargestellten Begebenheiten vor sich giengen. Dennoch stand er der Regel nach ganz ausserhalb der Handlung. Wir finden freilich bei Aeschylus, wir finden auch bei Aristophanes den Versuch gemacht, ihn thätig in dieselbe eingreifen zu lassen; ein Beispiel sind die Schutzflehenden des Aeschylus, wo die Töchter des Danaus, auf denen die ganze Handlung dieses Dramas ruht, zugleich den Chor desselben bilden. Aber es blieb bei solchen blossen Versuchen: sie scheiterten an der Unmöglichkeit, einer so grossen Menge von Personen eine rechte dramatische Thätigkeit zu geben: denn das hätte doch eigentlich nur geschehen können, indem jede derselben auch einzeln und individuell thätig gewesen wäre; sie scheiterten an der immer mehr anreifenden und schon bei Aeschylus selbst bereits ziemlich angereiften Idee von der höheren Bedeutung, die man dem Chore verleihen könnte. Er stand also zwar ausserhalb der Handlung, aber nicht ohne Beziehung auf sie, und diese Beziehung war eben eine lyrische oder didactisch lyrische. In seinen Gesang legte der Dichter all die sittlichen und religiösen Empfindungen nieder, welche die vorübergehende Handlung in einem reinen und edeln Gemüthe erregen konnte. In den Worten des Chors, wie sie von Zeit zu Zeit die Handlung unterbrachen, begleitete der Dichter den Verlauf der Begebenheiten in ähnlicher Weise mit lyrischen Betrachtungen, wie auch der Elegiker seine inneren Zustände an äussern Motiven entwickelt. Aber grade wie in der ersten Periode der Elegie das, was der Elegiker aussprach, entweder wirklich Volksstimme war oder doch Volksstimme hätte sein können und sein sollen: grade so waren es auch nicht die Empfindungen und Meinungen seiner beschränkten Individualität, die der Dramatiker dem Chore anvertraute, sondern Worte von allgemeinerer Weihe und Gültigkeit; und oft schwebt der Chor in ähnlicher Art hoch über der Handlung, wie sich Pindar, der auch nur für den Chor, für das repräsentierte Volk dichtete, hoch über das alltägliche Wissen des Volkes bis zu leuchtenden Ahnungen der göttlichen Weisheit zu erheben pflegt. Schon Aeschylus erscheint in seinen Chören nicht selten als ein solches Organ der gottbegeisterten Volksstimme; noch mehr Sophocles, den bei der weisen Mässigung, die ihm überhaupt eigen ist, selbst der höchste Schwung niemals zu jener Ueberschwänglichkeit der Anschauung und der Darstellung dahinreisst, die den Aeschylus characterisiert. Tiefer steht der Chor bei Euripides, wie z. B. der Völker- und Schiffscatalog in seiner Iphigenie in Aulis beweist. Das bisher über den Chor Bemerkte gilt jedoch in seinem vollen Masse nur von dem Chor der Tragödie. In der Comödie stellt sich die Sache allerdings etwas anders. Der Chor der Comödie erscheint um vieles weniger als Repräsentant des Volkes: er muss vielmehr oft den allerpersönlichsten Interessen des Dichters das Wort führen, seinem Hass und seiner Liebe in Dingen der Politik und der Litteratur. Da steht denn der Chor nicht bloss in der Weise ausserhalb der Handlung, wie das auch beim tragischen Chore der Fall ist: er steht nicht betrachtend neben und über ihr, sondern er wendet sich gradezu von ihr ab; er befindet sich nicht aus irgendwelcher inneren Nothwendigkeit, sondern nur aus altem dithyrambischem Herkommen auf der Bühne, und diese geheiligte Stätte benützt er dann, um von ihr herab oft in der masslosesten Freiheit zu dem versammelten Volke zu sprechen, um in s. g. Parabasen (d. h. Ueberschreitungen, nämlich der Handlung) das Volk selbst und die Mächtigen und Angesehenen im Volke mit einer wahren Begeisterung der Satire zu züchtigen. Diess zügellose Heraustreten des komischen Chors hat ihm auch schon frühzeitig den Untergang gebracht, und während der Staat den Tragödien, so lange es noch Tragödien gab, gerne den Chor vergönnte, musste er ihn in der Comödie beseitigen. Darin beruht der Haupt- und Grundunterschied der sogenannten mittleren und der neuern Comödie der Athener von der älteren: alle übrigen Unterschiede, so bedeutend und wesentlich sie auch sein mögen, sind von diesem nur die nothwendigen weiteren Consequenzen. Bei den Römern findet sich der Chor noch in den keineswegs mustergültigen Tragödien des Seneca, während dagegen die Comödien des Plautus und des Terenz keinen Chor haben. Indessen grade auch in dieser Absonderung des komischen Chors von der Handlung der Comödie zeigt sich wieder recht deutlich der Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus. Im Dithyrambus war einst der Chor das Eins und Alles gewesen, und es gab ausser ihm nichts: erst nach und nach hatte sich der Vorsänger von ihm getrennt, und wiederum erst später hatte diese Trennung des Vorsängers den dramatischen Dialog herbeigeführt. In der Tragödie unterwarf sich der Chor diesem Dialoge und ward zur bloss begleitenden lyrischen Betrachtung: in der Comödie zog er sich wie eifersüchtig zurück und wollte hartnäckig immer noch sein altes Recht auf Selbständigkeit behaupten. Und noch in andern Beziehungen lag der Chor der Comödie dem alten Chor des Dithyrambus näher. Der dithyrambische Chor pflegte, wie vorher erwähnt worden, in Vermummungen zu erscheinen, die ebensowohl Grausen als Lust erregen konnten: auch die Comödie gefällt sich fort und fort in den abenteuerlichsten Maskierungen ihres Chores. In der Tragödie kommt dergleichen nur noch zuweilen bei Aeschylus vor, ihrem eigentlichen ersten Urheber. Endlich weist noch ein Umstand und ein noch mehr äusserlicher auf die Bevorzugung und die Selbständigkeit hin, die der Chor der Comödie und auch noch der der Aeschyleischen Tragödie in Anspruch nahm: die bei Aristophanes herrschende und bei Aeschylus wenigstens noch waltende Sitte, das Drama nach dem Chor zu benennen. Sophocles entnimmt die Benennung schon beinahe durchweg von der Hauptperson des dialogischen Theiles. In der Uebung des Volkes aber stand bis in spätere Zeiten der Chor allem Andern voran, der Chor, der aus seinen alten dithyrambischen Lustbarkeiten hervorgegangen war: ob er gefiel oder nicht, darnach bestimmte sich das Urtheil der Menge über Werth oder Unwerth des ganzen Dramas. Der Chor ist Erbe und Eigenthum der griechischen Bühne: er ist auch nur auf ihr die organische Folge historischer Prämissen. Bei uns war nirgend ein Anlass, auf den sich ein solcher hätte bilden können, und so haben denn auch die Versuche, die von den deutschen Dramatikern des 16. und 17. Jahrhunderts und seitdem wieder von einigen der letzten Periode sind gemacht worden, ihn auch auf die deutsche Bühne überzuleiten, nur verunglücken können. Wir wollen nur auf zwei besonders namhafte Beispiele Rücksicht nehmen, auf Schiller und Platen. Von Schiller haben wir in der Braut von Messina eine solche Tragödie mit Chören. Hier ist nun nicht zu verkennen, wie der Dichter sich in unaufhörlicher Verlegenheit befindet, den Chor in Rede und Handlung recht zu verwenden. Er lässt ihn mehr und öfter sprechen, als das die Alten jemals gethan: da kann es denn nicht immer das grade im Drama selbst Geschehende sein, worauf sich seine Betrachtungen hinlenken; der Chor, den die Alten nur in der Comödie jeglicher Beziehung zur Handlung überheben, löst sich hier auch in einer Tragödie häufig genug aus allem dramatischen Gange und Zusammenhange heraus und stellt Reflexionen an, die ganz vereinzelt bleiben, die auf das, was daneben geschieht, keinerlei Beziehung haben. So an einer Stelle die Schilderung und vergleichende Erwägung des friedlichen und des kriegerischen Lebens, der Liebe, der Jagd, der Schiffahrt: alles das an sich wahrhaft schön und mit Recht bewundert, aber, und das ist hier der Fehler, undramatisch. Auf der andern Seite lässt dann Schiller den Chor wieder auf das thätigste und thätiger eingreifen, als das irgend bei den Alten vorkommt, und in einer Weise, von der die Alten nichts wissen. Aber es bedarf solcher Vergleichungen mit den Mustern der Antike nicht, um einzusehen, worin hier der Schillerische Chor fehlt. Es ist eben zuvörderst kein Chor, sondern es sind Chöre; es theilt sich nicht Ein Chor bloss durch Gesang und Tanz strophisch und antistrophisch in zwei Hälften, welche dann die Epode wieder vereinigt, sondern es stehn von vorn herein und durchweg zwei Chöre einander gegenüber, deren jeder für einen der zwei feindlichen Brüder entschieden und thätig Partei nimmt, zwei Chöre, die gleich den Herren, deren Gefolge sie bilden, einander bis zum Handgemenge feindlich sind. Das aber erregt doch wohl das gerechteste Bedenken, dass dieselben Chöre, die in so blinder Parteiung den Leidenschaften ihrer Herren dienen, dennoch wieder das Recht ansprechen, alle Augenblicke mit sittlicher Betrachtung, mit Urtheil und Rath aus der Handlung zurückzutreten; es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn dieselben Chöre, die sich eben noch mit gezückten Schwertern gegenüber gestanden, nun mit einem Male sich wieder vereinigen und sich einmüthig und einträchtig über denselben Zwiespalt reflectierend erheben, den sie eben erst haben blutig ausfechten wollen. Schiller hat diesen Wechsel von Zwiespältigkeit und von Einigung der Chöre in seinem Vorwort zur Braut von Messina folgender Massen gesucht kurz zu rechtfertigen: „Ich habe den Chor zwar in zwei Theile getrennt und im Streit mit sich dargestellt: aber diess ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins mit sich selbst.“ Indessen der Fehler und die künstlerische Unmöglichkeit ist eben, dass die gleichen Persönlichkeiten jetzt eine blosse blinde Menge ausmachen und dann wieder mit gotterleuchtetem Auge auf die Handlung hinabschauen sollen. Sodann Platen. Der Graf Platen hat seinen beiden antik gemessenen Comödien, der Verhängnissvollen Gabel und dem Romantischen Oedipus, auch nach Weise der antiken Comödie einen Chor geben wollen. Indessen nur in der minder gelungenen von beiden, in derjenigen, welche sonst eigentlich missrathen ist, im Oedipus, hat der Chor ungefähr die antike Stellung gegenüber der Handlung auf der Bühne und dem Volke vor derselben. Es ist ein Chor von Haidschnucken, von wilden Schafen, wie sie in der Lüneburger Haide umherziehen, die zuweilen in die Handlung drein reden, ohne jedoch sonst Antheil an ihr zu haben, ausserdem aber noch in Parabasen aus der Handlung hinaus reden zum Publicum. Aber wie gesagt, diess ganze Drama ist von Anfang bis zu Ende eine so verfehlte Arbeit, dass man aus ihm nichts abnehmen kann über die Bedeutung, welche etwa noch jetzt und auch für uns der Chor ansprechen dürfe. Mit Recht stellt man die andre, früher gedichtete Comödie höher, die Verhängnissvolle Gabel: aus dieser wird man also eher in Bezug auf den Chor ein entscheidendes Urtheil entnehmen können. Wie ist derselbe nun hier beschaffen? Etwas genauer betrachtet, ist nur der Name vorhanden, nicht aber die Sache. Eine Person nämlich, die aufs wesentlichste mit zur Handlung gehört, ja die man als die Hauptperson des ganzen Dramas betrachten darf, eine einzelne Person, der Jude Schmuhl wirft zuweilen (ich gebrauche Worte des Dichters) „Mantel und Bart weg und erscheint als Chorus, indem er bis an den Rand des Theaters vortritt.“ Also nur Eine Person, und zwar eine dramatische Hauptperson, die sich auch nicht maskiert, um Chorus zu sein, sondern sich, um es sein zu können, demaskiert; sie thut das ferner nur fünfmal je am Schlusse der Acte, um diesen Schluss nach antiker Weise durch eine Parabase zu bezeichnen, durch eine längere, im Interesse des Dichters an das Publicum gerichtete Rede. Das ist denn Alles, was dieser sogenannte Chorus mit dem des Aristophanischen Lustspieles gemein hat. Und auch an diesen fünf Stellen wäre der ausdrückliche Name des Chors wohl zu entbehren gewesen, da bei der selbstsüchtigen Polemik, aus welcher das ganze Stück hervorgegangen ist, auch alle übrigen Personen genug Dinge reden, die nicht eigentlich zur Sache gehören, die nichts für den dramatischen Dialog bedeuten, sondern lediglich dem Verhältniss des Dichters zu seinem Publicum dienen. Zu solchen Ungehörigkeiten werden aber unsre Dichter immer gezwungen sein, sobald sie den griechischen Chor in das deutsche Drama einzuflechten suchen: sie werden entweder wie Platen nur den Namen festhalten können oder wie Schiller die Sache in so schwankender Weise erneuern müssen, dass es für uns immer noch eine fremdartige Antike bleibt, ohne dass darum doch ein Grieche den Chor seiner Bühne darin wieder erkennen würde. Alle Willkür, die des historisch Gegebenen nicht achtet, straft sich selbst und vernichtet ihr eigenes Werk. Das griechische Drama musste, vermöge seiner Entstehung aus dem Dithyrambus, einen Chorus haben und konnte ihm, wenn er anders nicht bedeutungslos sein sollte, nur jene früher erörterte Bedeutung geben: hinter unserm Drama, mögen wir nun das nationalere des 15. und 16. Jahrhunderts ins Auge fassen, oder das halb fremde des 18., liegen keine solche Erinnerungen. Uns kann und darf ein Chor, der ausser der Handlung steht, nur ungehörig und störend vorkommen; einer aber, der in die Handlung eingreift, ist auch kein Chorus mehr. Wer uns den Chor wiedergeben will, baut ein Haus ohne Grund, das einstürzen muss, so kunstreich es sonst gebaut und geschmückt sein mag. Es sind nunmehr die allgemeinen Gesetze der dramatischen Kunst abzuhandeln, die Anforderungen, die nach Recht und Uebung an jedes dramatische Gedicht gestellt, die auch von jedem guten Drama erfüllt werden. Die erste und hauptsächlichste Anforderung, die der Einheit, theilt das Drama mit jedweder andern Dichtung: jede Dichtung muss, um schön heissen zu können, ein organisches Ganzes von mannigfachen Theilen sein, die jeder für sich unselbständig, und einer dem andern unentbehrlich, sich gegenseitig auf das innigste durchwachsen; ein geistiger Organismus, dem nichts mangelt, an dem nichts zu viel ist. Das gilt für alle Gedichte. Die Sache des Dramas aber insbesondre ist eben δρᾶμα , ist Handlung, d. h. es muss eine durch die bestimmteste Causalität zusammengehaltene und verschlungene Kette von Begebenheiten bilden. Mithin ist hier vorzüglich und vor allen Dingen Einheit der Handlung zu fordern: sie muss abgeschlossen und vollständig sein; es darf in der Kette der Begebenheiten kein Glied fehlen, aber auch keines mehr sein, als nöthig ist: sonst würden uns Wirkungen vor Augen treten, deren Ursachen uns fremd sind, und Ursachen, denen eine Wirkung gebricht. Vielmehr muss von Anfang an Alles in stätigem Verlauf auf das Ende hin arbeiten, und das Ende muss schon im Anfange begründet sein. Ein Drama darf nicht einer ausgeführten Epopöie gleichen, die einen ganzen Sagenkreis in all seinen einzelnen Gruppen theils durch fortschreitende Erzählung, theils mit Einschaltung von Episoden erschöpft, sondern einem epischen Liede nach der alterthümlichsten Weise. So besteht auch die Einheit der dramatischen Handlung darin, dass Eine Hauptperson es sei, welche die Handlung trage und weiter führe, in welcher Thun und Leiden, die Idee des Ganzen sich vollende; dass Eine Hauptbegebenheit sei, auf welche Alles abzwecke und hinziele; und dass die Handlung in einem ununterbrochenen Verlaufe von causaler Entwickelung diesem Zweck und Ziel entgegen gehe. Bis so weit gelten die gleichen Anforderungen an das Drama wie an das altepische Lied: dann aber sondern sie sich auf demselben Puncte, auf dem überhaupt der Unterschied zwischen Epos und Drama liegt. Das Epos erzählt eben, d. h. es zählt in causaler Entwickelung her, was an und mit seiner Hauptperson und den übrigen sich begiebt; das Drama giebt statt der Erzählung der Begebenheiten die Begebenheiten selbst und macht sie mittelst der dialogischen Form so gänzlich zum Werk und zur That der auftretenden Personen, dass aus ihrer verbundenen Kette eben eine Handlung hervorgeht. Daraus ergiebt sich, dass wohl mit der Einheit eines epischen Liedes immer die Einfachheit verbunden sein müsse, nicht aber mit der Einheit der dramatischen Handlung. Es ist ein andres, wenn vergangne Einzelheiten uns erzählt werden, ein andres, wenn in gegenwärtiger Anschaulichkeit eine Handlung sich vor uns entwickelt. Im epischen Liede je mehr Einzelheiten da aufgezählt werden, desto mehr verwirrt es die Production und erschwert es die Reproduction, desto eher ermüdet es den Hörer: im Drama, wo die Reproduction so leicht gemacht ist, würde grade eine zu grosse Einfachheit der Handlung den Dichter wie den Zuschauer ermüden und langweilen; ja es würde unmöglich sein, den Verlauf der Begebenheiten zur Handlung zu erheben, wenn man bei der epischen Einfachheit stehn bliebe. Somit stellt sich der Einfachheit des epischen Liedes im Drama die Verwickelung gegenüber: das Drama motiviert überall reichlicher und umständlicher; das epische Lied lässt alle minder wesentlichen Motive getrost bei Seite, das Drama zieht ebensolche mit in den Verlauf der Begebenheiten, damit daraus eine Handlung hervorgehe; das epische Lied bringt seine Begebenheiten in eine einzige, gradaus auf das Ziel zulaufende Linie: das Drama wandelt zwar auch einem einzigen Endpuncte entgegen, aber von mehr als einem Ausgangspuncte; die Handlung vertheilt sich unter mehrere Radien, wenn schon einer der Hauptradius sein mag. Die Erzählung eines epischen Liedes verlangt also Einheit und Einfachheit, die Handlung eines Dramas Einheit und Verwickelung. Diese Einheit der verwickelten Handlung zeigt sich nun, wie bereits ist angedeutet worden, in drei Stücken: dass Eine Hauptperson sei, Eine Hauptbegebenheit, ein stätiger und ununterbrochener Verlauf der Handlung. Es sind das Anforderungen, die sich eigentlich ganz von selbst verstehn, und es wäre deshalb unnöthig, noch weiter davon zu sprechen, wenn sie nicht dennoch so häufig verletzt würden. Was zuerst die Einzahl der Hauptperson betrifft, so ist sie für eine rechte Einheit der Handlung ebenso erforderlich, als es in der Grammatik für einen einheitlichen Satz erforderlich und bezeichnend ist, dass er nur Ein Subject habe; und grade wie ein Satz zusammengesetzt wird, sobald er zwei Subjecte hat, so verliert auch die Handlung ihre Einheit, und es tritt eine Zweiheit derselben ein, sowie in ihr zwei Hauptpersonen agieren. Die Schöpferkraft des Dichters und mit ihr das reproducierende Interesse des Zuschauers spalten sich alsdann nach zwei gesonderten Richtungen und kommen aus dieser Spaltung schwerlich wieder heraus, auch wenn eine der Hauptpersonen die Bühne früher verlassen sollte als die andre. Auch diess ist es, worin eine schon vorher besprochene Tragödie Schillers fehlt, die Braut von Messina. Die zwei feindlichen Brüder Don Cesar und Don Manuel bringen auch in die Handlung einen feindlichen Zwiespalt, da jeder es ansprechen darf, Träger und Vollender derselben zu sein. Die Trennung des Chors in zwei feindselige Hälften trägt nur dazu bei, diese Kluft innerhalb der Handlung noch mehr aus einander zu ziehen; und selbst die gemeinsame Geliebte sondert mehr, als sie vereinigt, da sie nur dem einen Bruder gehört, von dem andern dagegen bloss begehrt wird. Andre Dichter haben an ähnlichen Stoffen ein grösseres Geschick bewiesen: so z. B. Schillers nächster Vorgänger Leisewitz im Julius von Tarent, und sein Vorbild Klinger in den Zwillingen: hier ist der eine der feindlichen Brüder von Anfang bis zu Ende so sehr zu der einzigen Hauptperson gestempelt, dass die Einheit der Handlung keinen Schaden leidet; es liegt auf dem einen gleichsam der Hochton, auf dem andern nur der Tiefton. Noch behutsamer ist Aeschylus in den Sieben gegen Theben verfahren: hier kommt von den beiden Brüdern nur der eine, nur Eteocles auf die Bühne; der andre aber, Polynices, tritt gar nicht auf: von ihm wird nur erzählt; er greift abwesend in die Handlung ein: anwesend würde er vielleicht eine Hälfte derselben an sich gerissen und somit ihre Einheit zerstört haben, wie das auch wirklich der Fall ist in mehrfachen modernen Bearbeitungen derselben griechischen Sage. Uebrigens trifft eben dieser Tadel auch schon mehrere Dramen der antiken Litteratur; in Bezug auf die Brüder (Adelphi) des Terenz hat ihn Diderot (de la Poésie dramatique) unwiderleglich ausgesprochen. Diese beherrschende Stellung der Einen Hauptperson wird sich nun vorzüglich in dem Verhältniss erweisen und bewähren, in welchem sie zu der Einen Hauptbegebenheit steht; darin nämlich, dass sie es ist, welche diese Hauptbegebenheit vollbringt oder erleidet, und damit in activer oder passiver Thätigkeit die ganze Handlung zum endlichen Abschluss führt. Zum endlichen Abschluss: denn die Hauptbegebenheit liegt immer am Ende des Dramas: diess ist der Punct, auf welchen das ganze Stück hindurch von allen Seiten hingearbeitet wird, in welchem alle vorher getrennten Fäden ihre Vereinigung, alle vorher geschürzten Knoten ihre Lösung finden. Diese an das Ende gestellte Hauptbegebenheit ist also der Prüfstein nicht bloss für die Einheit der Hauptperson, sondern für die Einheit der gesammten Handlung überhaupt. Was hier nicht seine Erledigung findet, was nicht als nähere oder entferntere Ursache dieser letzten Wirkung erscheint, das liegt entweder als fremdes Glied ausserhalb des dramatischen Organismus, oder aber die Hauptbegebenheit ist selber nicht die rechte, ist nicht der eigentliche Abschluss, ist nicht die volle und folgerechte Wirkung aller vorangegangenen Motive. Vielleicht der grösste Meister im Dichten recht eigentlich concentrierender Hauptbegebenheiten ist Shakspeare. Er liebt es wie Wenige, ein Drama so zu bauen, dass es scheinbar aus mehreren Handlungen zusammengesetzt ist, bis sich die verschiedenen Wege, auf denen der dramatische Verlauf vorwärts wandelt, immer näher und näher rücken, und sich immer mehr und mehr zeigt, welcher der Hauptweg, welches die Hauptperson sei; endlich aber vereinigen sie sich gänzlich, die abschliessende Hauptbegebenheit tritt ein, und die Einheit der Hauptperson, die Einheit der Handlung stehn triumphierend da. So im Kaufmann von Venedig, wo anfangs nur leise sich berührend, später immer mehr und mehr in einander geschlagen zwei Fäden zu Einem gemeinsamen Ziele hinlaufen, ein Rechtshandel und ein Liebesabenteuer; so in Heinrich IV., den man sehr äusserlich betrachten muss, wenn man den engen Zusammenhang und die abschliessende Vereinigung verkennen will, die zwischen den scheinbaren zwei Hälften der Handlung bestehn, der ernsthaften, deren Träger der junge Königssohn, Heinrich V., und der komischen, deren Träger Falstaff ist. Je mehr auf der komischen Seite Falstaff sich einbildet, den königlichen Jüngling in sein Lotterleben verwickelt zu haben, desto höher erhebt sich dieser darüber auf der ernsthaften, bis zuletzt die Handlung umschlägt und sich entscheidet, Heinrich in königlicher Würde dasteht, und Falstaff sich tief unter ihm in Staub und Schmutz verliert. Das Schönste und Grösste aber in dieser Art ist König Lear. Hier findet der äussere Zwiespalt der Handlung nicht nur seine Aufhebung in der letzten Hauptbegebenheit, sondern er ist schon von Anfang an in der Idee dieser gewaltigen Tragödie auf das vollkommenste gelöst und ausgesöhnt gewesen: denn schon von Anfang an prägt sich diese zugleich nach zwei Seiten hin in den Begebenheiten aus, und der eine Theil der Handlung spiegelt sich nur in dem andern wie das Bild in seinem Gegenbilde wieder. Auf der einen Seite steht ein König, der von den vorgezogenen Töchtern verstossen und zum Wahnsinn gebracht, von der verstossnen aber gehegt und gepflegt wird; auf der andern Seite wiederum ein Vater, den der vorgezogene Sohn blendet und ins Elend stösst, der verstossne Sohn unerkannt in der Blindheit leitet; endlich aber rächt eben dieser zugleich den König und den eigenen Vater. Auch in Schillers letztem Drama, im Wilhelm Tell, sind zwei solche neben einander herlaufende Handlungen, das politische Treiben der Verschwornen des Rütli auf der einen, Tells Privathandel mit Gessler auf der andern Seite; und auch diese treffen in der letzten Scene zusammen. Jedoch dieses Zusammentreffen ist lediglich theatralisch, nicht aber eigentlich dramatisch, ist keine rechte, wahre Einigung zweier bis dahin nur äusserlich getrennter Richtungen. Tells Privathandel ist eben nur ein Privathandel: er zieht sich mit allem, was er sinnt und thut, geflissentlich von dem Sinnen und Thun seiner Landsleute zurück; er will nirgend in der Sache sein. Sie haben mit ihm, er hat mit ihnen nichts zu schaffen; und es ist also eine blosse Gewaltsamkeit, wenn er in jener Schlussscene dennoch als die Hauptperson und seine That als die Hauptbegebenheit des Dramas hingestellt wird. Noch ist von dem Verfahren zu reden, das der dramatische Dichter beobachtet, um die Handlung auf diese eine Hauptbegebenheit und damit zu ihrem vollständigen Abschluss, ihrem Ziel und Zwecke hinzuführen. Einmal also muss die Handlung in einem stätigen, ununterbrochnen Verlauf vorwärts schreiten; sie darf nicht stocken: denn sie könnte es nur, indem man Dinge hineinbrächte, die nicht in den causalen Zusammenhang gehörten, die also die Einheit verletzten; sie darf aber auch nicht springen; es dürfen keine wesentlichen und nothwendig geforderten Motive übergangen werden: denn auch damit wäre die Einheit aufgehoben, da Einheit nur bei Vollständigkeit bestehn kann. In jener Weise fehlt Euripides gern, in dieser Aeschylus. Sodann aber zerfällt die Handlung überall, wo sich ihr Verlauf recht organisch gestaltet, in drei unterscheidbare, aber eng mit einander verwachsene Hauptglieder, in die Exposition, die Verwickelung und die Auflösung. Die Exposition giebt gleichsam den Zettel des Gewebes: hier lernt man zuerst die Personen kennen, die handeln sollen, namentlich die Hauptperson; man erfährt die obwaltenden Umstände, die Pläne und Wünsche und Besorgnisse der Handelnden: kurz, Grund und Boden der Dichtung werden gelegt und gezeigt. Dann folgt die Verwickelung: die Querfäden fahren durch den Zettel; die Pläne der Handelnden arbeiten einander entgegen; ihre Besorgnisse wachsen, ihre Wünsche durchkreuzen sich: Interesse kämpft gegen Interesse; und so ist denn hier das eigentliche Gebiet der wahren Handlung. Im dritten Theil, in der Auflösung, entscheidet sich der Kampf: das Gewebe ist fertig, oder es wird auch Alles auf ein Mal zerrissen; die Hauptperson hat mit der Hauptbegebenheit alle Hindernisse überwunden, und ihr bleibt nun nichts mehr zu thun übrig; oder sie unterliegt mit dem letzten entscheidenden Schlage der Uebermacht, gegen die sie vorher angekämpft hat. Das schwierigste von diesen drei Gliedern ist überall die Exposition. Hier ist es die Sache des Dichters, sich gleichermassen vor dem Zuviel und vor dem Zuwenig zu hüten. Ist die Exposition zu weitläuftig und zu mannigfaltig, so verwirrt das den Zuhörer oder lässt ihn mehr erfahren, als dass er dem weitern Verlaufe noch mit dem rechten Interesse folgen sollte. Ist sie kurz, einseitig, dürftig, so kann der Zuschauer wieder nicht rechten Fuss fassen; er wird alles Folgende nicht wohl begreifen. Die Exposition muss überall das Gegenbild der Auflösung sein: sie muss ahnen lassen, aber nicht sagen, was diese bestätigt; sie muss die Frage sein, und diese die Antwort darauf. Die Verwickelung sodann kann mannigfacher Art sein: ob sie eine mehr oder minder verschlungene ist, hängt natürlich von dem Gehalte des historischen Stoffes ab, den der Dichter zur Anschauung bringen will, hängt ferner ab von der Zahl der Personen, welche er in die Handlung verflicht, von der Mannigfaltigkeit und Bedeutung der Interessen, die er kämpfen lässt, von der Beschaffenheit der Auflösung, welcher er entgegen arbeitet; namentlich aber davon, ob es eine Tragödie ist, die er dichtet, oder eine Comödie. Dem ganzen Wesen dieser beiden Gattungen nach hat an der Comödie der Verstand einen viel grösseren und viel mehr positiven Antheil als an der Tragödie. Gehäufte Verwickelungen sind aber für den producierenden Dichter wie für den reproducierenden Zuschauer mehr von Seiten des Verstandes durchzuführen und aufzufassen als von Seiten der Einbildung oder gar des Gefühles. Somit ist auch die grössere Verwickelung wohl in der Comödie an der Stelle, nicht aber in der Tragödie: einer Tragödie könnte dergleichen nur schaden. Sie ist in der Comödie also an der Stelle, ist zulässig, wird aber auch da nicht gerade gefordert; die spanischen Dichter lieben sie. Die kunstvollste Verwickelung aber und die wirksamste ist in der Tragödie wie in der Comödie die, welche nur für die handelnden Personen, nicht für den Zuschauer eine solche ist. Meister darin ist Sophocles: in seinem Oedipus Tyrannus zum Beispiel wandelt die Hauptperson immer noch in einer verwirrenden und betäubenden Nacht des Geheimnisses, während der Zuschauer das Licht schon mehr und mehr empor schimmern sieht und mit ahnendem Grauen dem vollen Hereinbrechen desselben entgegen wartet: da ist wahrlich ein grösseres und reineres Interesse an Handlung und Handelnden, als wo der Zuschauer in die Verwickelung mit verstrickt ist, und der Dichter mehr dessen Neugierde spannt, als sein Mitgefühl in Anspruch nimmt. Endlich also kommt dann die Auflösung: sie entknüpft oder zerhaut all die Verwickelung und lässt in das Dunkel ihren vollen Tag hineinstralen. Der Punct, wo die Auflösung anhebt, und die Verwickelung sich zu entwickeln beginnt, dieser Wendepunct der Handlung heisst mit einem treffenden griechischen Namen die Katastrophe, καταστροφή , d. h. Umwendung. Man pflegt denselben wohl auf die Tragödie einzuschränken: eine Einschränkung, die weder begründet ist im griechischen Sprachgebrauch, noch bequem und angemessen, da ja der Sache und dem Wesen nach die Comödie auch ihre Katastrophe hat. Ebenso ist es mit einem andern Kunstausdrucke der Griechen, der den letzten entscheidenden Schlag, den eigentlichen Kern der Auflösung bezeichnet, mit dem Ausdruck Peripetie, περιπέτεια , d. h. Umschlag, plötzliche Umänderung. Aristoteles, von dem wir auch diesen erlernt haben, beschränkt ihn durchaus nicht auf die Tragödie, und es ist nur als ein Zufall zu betrachten, dass die Beispiele, die er anführt, nur aus Tragödien entlehnt sind: er erklärt ihn ganz allgemein als den Umschlag in das Gegentheil ( ἔστι δὲ περιπέτεια ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολή , Poet. 11): er versteht also darunter den plötzlichen Uebergang sowohl aus glücklichen Lagen in unglückliche, als umgekehrt. Mithin giebt es eine Peripetie nicht minder in der Comödie als in der Tragödie. Als eigne Art und besondres Mittel der Auflösung nennt Aristoteles noch die Erkennung, ἀναγνώρισις , d. h. ἡ ἐξ ἀγνοίας εἰς γνῶσιν μεταβολή . Diese Erkennung kann den Beginn der Auflösung bilden; sie kann auch mit jenem Kernpunct derselben, mit der Peripetie zusammenfallen. In letzterer Weise findet es Aristoteles am schönsten, und das mit Recht: beide, die Erkennung wie der Umschlag, sind dann von grösserem Gewicht; Eins hebt und stärkt das Andre. Als Beispiel nennt er den Oedipus: er meint Sophocles' Oedipus Tyrannus, unter dem die ganze königliche, ja seine ganze menschliche Herrlichkeit in demselben Augenblicke zusammenbricht, wo er erkennt, dass Laius, den er erschlagen, sein Vater, und dass sein Weib zugleich seine Mutter sei. Besonders in der Auflösung wird das Drama seinen Unterschied vom Epos bewähren müssen. Das Epos, das eben nur eine Reihe äusserer Begebenheiten vorführt, kann sie auch eher mehr äusserlich abschliessen, z. B. durch ein Wunder, durch ein Ereigniss, das ausserhalb alles natürlichen Zusammenhanges mit den vorangegangenen Ereignissen liegt, und das dennoch die Reihe derselben beendigt. Das Drama zeigt dagegen Handlung: in ihm sind alle einzelnen Begebenheiten auf das engste innerlich verbunden; eine nach der andern ist nur Ausfluss und Ergebniss der agierenden Charactere; Alles ist Motiv und motiviert: so darf denn auch das Ende nur die letzte, volle und vollendende Wirkung all der Ursächlichkeiten sein, die in der Exposition dargelegt und in der Verwickelung sind durch einander gewoben worden. Die Peripetie muss als die reife Frucht erscheinen, die aus der ganzen Handlung, aus der activen oder passiven Thätigkeit der Personen und ihrer Charactere hervortreibt; sie muss vollkommen in ihnen begründet, muss ihr eignes Werk, wenn auch vielleicht ein unbewusst geschaffenes sein. Dagegen wird jedoch nicht selten gefehlt. Nicht selten ist die Exposition so ungeschickt, die Verwickelung so verworren, dass zuletzt der Dichter den Knoten nur noch durch die Gewaltsamkeit einer rein äusserlichen Entscheidung durchzuhauen vermag. Welch ein grosser Unterschied zwischen der innerlichen und der äusserlichen Auflösung bestehe, und wie sehr die wahre dichterische Kunst auf Seite der ersteren sei, erkennt man am besten, wenn man z. B. die beiden taurischen Iphigenien von Euripides und von Göthe vergleicht. Euripides kann sich nur helfen, indem er zuletzt noch die Athene Hand anlegen lässt: bei Göthe ist die ganze Handlung so fest und sicher in sich selbst begründet, die Begebenheiten und die innern Zustände, wie sie gehalten und getragen sind durch die Charactere, haben eine so innige Wechselbeziehung und Wechselwirkung, dass zuletzt kein andrer Ausgang möglich ist, als grade dieser; es macht sich Alles wie von selbst, und der Dichter braucht nicht noch zu guter Letzt über die Handlung hinaus nach einer neuen Person zu greifen, damit er endlich fertig werde. Mit dieser Dreigliedrigkeit der Handlung, mit diesem Zerfallen derselben in Exposition, Verwickelung und Auflösung steht in genauer und wesentlicher Verbindung die Zahl der Acte, in welche man das Drama einzutheilen pflegt. Acte in unserm Sinn, d. h. Abtheilungen des Dramas, die schon äusserlich bezeichnet werden durch einen Stillstand der Handlung und durch Verhüllung der Bühne, Acte in diesem Sinne des Wortes kannte die ältere griechische Bühne, kannte die Tragödie und die alte Comödie natürlich noch nicht, da der Chor immer auf dem Schauplatze blieb, und er die jeweiligen Unterbrechungen der eigentlichen Handlung durch seinen Gesang ausfüllte, dieser Gesang aber auch immer noch seine Beziehung zu der Handlung hatte. Erst mit der mittleren und jüngern Comödie, die sich des Chors nicht mehr bediente, beginnt die Eintheilung in Acte ganz nach unserer Weise. Die Zahl derselben steht also in Verbindung mit jener Dreigliedrigkeit des dramatischen Organismus. Nämlich die Exposition darf in That und Rede sich nicht zu weit ausdehnen; die Auflösung als Gegenstück der Exposition muss ihr ungefähr gleiches Mass halten, sie kann auch schon an sich selbst, da sie ja die abschliessende Concentration des ganzen Verlaufes ist, sich nicht sehr breit entfalten; endlich die mitten inne liegende Verwickelung spricht nothwendiger Weise das weiteste Feld an und gewinnt selbst wieder einen dreifach abgestuften Gang, indem sie hier an die Exposition als Weiterführung, dort an die Auflösung als Vorbereitung derselben sich anlehnt: mit all dem erscheint der alte, von uralten Zeiten her überlieferte Gebrauch wohl begründet, nach welchem ein Drama in der Regel fünf Acte verlangt: ein Gebrauch, den schon Horaz zur technischen Vorschrift erhoben hat: Neve minor neu sit quinto productior actu Fabula, quae posci vult et spectata reponi. (Ars poet. 189.) In der Regel fünf: denn es giebt allerdings Abweichungen, es kommen auch andre Zahlen vor, aber auch diese meistens immer noch verträglich mit jener Dreigliedrigkeit, insofern es meistens ungerade Zahlen sind: so bei den Spaniern sieben, wo dann bei der sehr verwickelten Verwickelung ganz häufig fünf auf eben diese verwendet werden. Näher jener Dreigliedrigkeit liegt die Dreizahl der Acte, die man in der ernsten Oper zu beobachten pflegt, und die auch neben der Fünfzahl schon bei den Römern scheint gegolten zu haben. Cic. ad Quint. fratr. 1, 1. „Hortor, ut tanquam poetae boni et actores industrii solent, sic tu in extrema parte et conclusione muneris ac negotii tui diligentissimus sis, ut hic tertius annus imperii tui tanquam tertius actus perfectissimus atque ornatissimus fuisse videatur.“ Verwerflich scheinen grade Zahlen, wie das moderne Lustspiel und Schauspiel und die komische Oper sich vier oder gar zwei gestatten: es ist nicht wohl abzusehn, wie da jedem der drei organischen Glieder sein Recht geschehen könne. In den Dramen der Sanskritlitteratur steigt die Zahl der Acte nicht selten gar bis auf zehn; und in der entgegengesetzten Masslosigkeit ist es dem modernen Drama häufig schon an Einem Acte genug. Actus, so nannten die Römer diese einzelnen Abschnitte der Fabula, weil in jedem eine Begebenheit enthalten ist, die den Verlauf der ganzen Handlung wesentlich fördert. Eine alte Verdeutschung davon ist Handlung: man hätte lieber sagen sollen Begebenheit, da Handlung vielmehr das ganze δρᾶμα begreift. Jetzt heisst es Act, oder mit derselben sinnlichen Aeusserlichkeit, mit der wir von Trauerspielen und Lustspielen sprechen, Aufzug. Der spanische Name jornada (Tag) schreibt sich von den geistlichen Spielen des Mittelalters her: diese dauerten oft mehrere Tage hindurch, und bei der Weitläuftigkeit der mimischen Action geschah da allerdings in Einem Tage nicht viel mehr, als jetzt in Einem Acte geschieht. Die Acte zerfallen dann wieder in Scenen und in Auftritte. Man vermengt wohl beides und nennt beides Scene: strengerer Sprachgebrauch unterscheidet. Es ist eine neue Scene, wo ein Orts- und Decorationswechsel eintritt, wo die σκηνή , die Bühne, gleichsam erneuert wird; nothwendiger Weise wird dabei die Bühne verlassen und dann von neuem betreten. Ein Auftritt aber bringt nur neue Personen auf die unveränderte Bühne. Ueber Zahl und Mass der Scenen und der Auftritte lässt sich nichts vorschreiben: die Redenden kommen und gehen, die Gestalt der Bühne bleibt oder wechselt, je nachdem es im Bedürfniss der Handlung liegt, je nachdem das momentane Interesse diese Person verlangt oder jene. Mit all dem Bisherigen haben wir jenes Grundgesetz aller dramatischen Composition, die Einheit, bis in seine einzelnen Wirkungen verfolgt. Hier aber können wir übergehn zur Betrachtung zweier anderer Einheiten, welche die Theorie und die Praxis einer noch nicht ganz vergangenen Zeit hinzu erfunden hat zu jener Einheit der Handlung, nämlich der Einheit der Zeit und der des Ortes. Es sind die Franzosen gewesen, die mit diesen beiden Einheiten zuerst sich selbst das Leben schwer gemacht haben, dann auch uns, und welche Völker sonst noch ihren Theoretikern nachbeten und ihren Dramatikern nachahmen mochten. Man berief sich in Betreff derselben auf das Beispiel der Griechen und auf die Lehren des Aristoteles. Damit nun verhält es sich folgender Massen. Die Griechen hatten wie gesagt ursprünglich und in der eigentlichen Blütezeit ihres Theaters keine Acte in unserm Sinne des Wortes; die Bühne ward nicht viermal den Augen der Zuschauer durch Verhüllung entzogen: sondern sie stand die ganze Zeit des Dramas hindurch offen vor ihnen da; es unterbrach auch die Handlung selbst kein mehrmaliger Stillstand: sondern wenn auch je zuweilen die eigentlichen Actoren abtraten, und der Dialog ausgieng, so blieb doch der Chor zurück und füllte diese Pause mit Gesang und Tanz, oder wie in der Comödie mit Parabasen. Daraus ergab sich dann als nothwendige Folge einmal eine unveränderliche Einheit des Ortes: denn man konnte doch nicht, während der Chor ununterbrochen auf dem Schauplatze verblieb, die Gestalt desselben abändern, so dass er ohne fortzugehn dennoch an einen andern Ort gekommen wäre; zweitens eine gewisse Einheit der Zeit, darin bestehend, dass die Handlung unausgesetzt vorwärts schritt, und dass einige Wahrscheinlichkeit blieb, damals, als die Begebenheiten wirklich vor sich giengen, habe ihr Verlauf ohngefähr eben so viel Zeit gekostet, als jetzt die künstlerische Darstellung. Aber diese Uebereinstimmung zwischen der historischen Wirklichkeit und dem künstlerischen Scheine traf doch immer nur ungefähr. Man kann annehmen, dass die Aufführung eines ganz vollendeten griechischen Dramas allerhöchstens drei Stunden lang gedauert habe: aber es möchte schwer sein, ein Drama zu finden, dessen Begebenheiten nicht einen viel längeren, einen wenigstens viermal so langen Zeitverlauf voraussetzten. Das einzige Opfer, das in Betreff der Einheit der Zeit die griechischen Dramatiker den äussern Umständen brachten, war demnach diess: sie concentrierten den dramatischen Stoff so sehr auf die allerwesentlichsten Momente, dass die Begebenheiten, um in der Wirklichkeit zu geschehen, etwa einen Tag gebraucht hätten, d. h. einen Sonnenlauf von Morgen bis Abend; manche aber haben in jene zwei, drei Stunden einen noch viel längeren Zeitraum eingeschlossen, z. B. Aeschylus im Agamemnon. Es erweist sich mithin diese sogenannte Einheit der Zeit als eine sehr ideale; die Einheit des Ortes aber war so durch die ganze Einrichtung der Bühne bedingt, dass man sich ihr ohne Weiteres ergeben musste. Eine kühne Ausnahme gestattete sich Aeschylus in den Eumeniden, wo die Zuschauer zuerst den Tempel Apollos zu Delphi, dann das Heiligthum der Pallas zu Athen vor sich haben. Sonst aber beachtete man diese räumliche Einheit, und es ist nicht zu verkennen, dass sie auf die ganze Art und Weise der dramatischen Production den wichtigsten Einfluss ausübte und auch zu einem räumlichen Simplificieren und Concentrieren derselben drängte. Man gewöhnte sich so sehr an diese räumliche Zusammendrängung, dass auch die jüngere Comödie, die doch keinen Chor mehr besass, die schon Acte abtheilte, dennoch dabei verharrte; und dass Aristoteles von der Einheit des Ortes gar nichts lehrte, weil er nicht daran dachte, dass es anders sein könnte. Was aber die Einheit der Zeit betrifft, so bestimmt er als äusserstes Mass der Handlung eben die Länge des Sonnenlaufes: das lässt voraussetzen, dass dieses Mass mehr als ein Mal sei überschritten worden, wie denn auch Aeschylus es wirklich überschritten hat. Jetzt fragt sichs, ob und inwiefern auch wir an diese Einheiten gebunden seien. Wir brauchen bloss die äussern Umstände zu erwägen. Einmal die historischen Präcedentien des Mittelalters und des sechzehnten Jahrhunderts wissen davon nichts. Sodann: wir haben keinen Chor, der die Handlung nothwendig zwischen eine und dieselbe Scenerie festbannte: sondern wir haben Zwischenacte, die wir uns, wenn wir nur irgend wollen, tagelang denken können, wenn sie auch wirklich nur minutenlang dauern sollten. Mithin gelten Einheit der Zeit und Einheit des Ortes bei uns nur in so weit, als sie geboten sind durch die Einheit der Handlung und durch die Stätigkeit ihres Verlaufes. Wir dürfen z. B. nicht in der zweiten Scene eine Begebenheit darstellen wollen, die denen der ersten Scene gleichzeitig wäre oder gar früher geschehen als diese: während allerdings zwischen den einzelnen Gesängen eines Epos gar wohl ein solches Zeitverhältniss stattfinden darf: in einem Drama aber wäre damit nicht bloss gegen die Einheit der Zeit, sondern vielmehr gegen die Einheit der Handlung gefehlt; wir dürfen auch nicht zwischen zwei Auftritten in Gedanken mehr Zeit verfliessen lassen, als in der Wirklichkeit verfliesst: denn damit wäre der Verlauf unterbrochen, und es fehlte ein Glied in der Kette der Einheit; wie lang wir uns aber einen Zwischenact, der die Handlung unterbricht, in welchem nichts geschieht, denken wollen, ist durchaus gleichgültig, wenn nur die beiden Acte, die er trennt, innerlich eng und wesentlich zusammenhangen, wenn er nur nicht mit der Handlung auch die Einheit der Handlung unterbricht. Das alles haben jedoch die französischen Theoretiker und Dramatiker nicht beherzigt. Ohne die concentrierende Kunst der Alten zu besitzen, suchen sie dennoch ihren Stoff in den allerengsten Zeitraum zusammenzupressen, und ihre Einheit der Zeit ist in den meisten Fällen eben nur eine Einheit der Zeit, während sie bei den Alten zugleich und zuerst eine Einheit der Handlung ist. Die Einheit des Ortes aber erzwingen sie oft auf die lächerlichste Weise. Wenn in einem griechischen Drama die ganze Handlung, um stäts an demselben Ort geschehen zu können, etwa auf einem öffentlichen Platze vor sich geht, so stimmt das wohl zu dem ganzen Leben der Alten, das vom Könige bis zum gemeinen Manne herab mehr ein öffentliches als ein häusliches war: wenn aber ein französischer Dichter in einer und derselben Antichambre den Herrn des Hauses und seinen Kammerdiener ihre Liebeserklärungen machen, ihre Liebesintriguen anzetteln und ausführen lässt, so ist das doch ziemlich verkehrt. Die so eben besprochenen und bekämpften Ansichten über die beiden Einheiten der Zeit und des Ortes haben, obgleich sie ihren Ursprung herleiten wollen aus dem Beispiel der Griechen und aus den Lehren des Aristoteles, diese verkehrten Ansichten haben ihren wahren Grund und Anlass dennoch ganz anderswo, in einer andern Verkehrtheit, die überhaupt den Kunstbestrebungen der neueren Zeit vielfach geschadet hat, in dem Wahne nämlich, überall in der Kunst, also auch im Drama, komme es vor allen Dingen auf äusserliche, sinnliche Täuschung, auf Illusion an. Freilich ist es die Aufgabe jedes Künstlers, das Schöne unter den Formen der Wirklichkeit anzuschauen und darzustellen, und in so fern wird es von ihm in demselben Masse gefordert werden, als es ihm dienlich ist, dass er die Formen der Wirklichkeit mit möglich grösster Treue beobachte und wiedergebe. Aber auch nur mit möglich grösster. Die täuschende Nachahmung der Wirklichkeit, das Streben nach äusserlicher Illusion darf immer nur so weit gehn, als die Idee des Kunstwerkes und die Schönheit es gestatten und fordern: sowie jedoch die Illusion anfängt, die Idee zu beeinträchtigen, sowie sie dem Principe des Schönen, der Einheit, widerstrebt, so bald muss auch der Dichter von ihren Aeusserlichkeiten etwas zum Opfer bringen, und er wird es der Einbildungskraft des Reproducierenden getrost anheimgeben, dass sie ergänze, was noch zu der vollen Wahrheit der gemeinen Wirklichkeit gebricht; er wird der Kraft des Schönen so viel vertrauen, dass von ihr gefangen der Reproducierende die Masse und die Bedingungen der gewohnten Alltäglichkeit für einige Zeit vergessen müsse; er wird es auch auf Illusion absehen: aber es wird eine Illusion von höherer und edlerer, von geistiger Art sein, darin bestehend, dass auf dem Standpuncte der Kunst als Wirklichkeit erscheint, was unterhalb desselben eine Unwirklichkeit ist. Der Dramatiker wird also, wenn der einheitliche Verlauf der Handlung es fordert, plötzlich die Scene ändern; er wird ferner den fünf Minuten, die zwischen zwei Acten verfliessen, etwa den Werth und die Geltung von fünf Tagen geben: denn er zählt darauf, dass diese Unnatürlichkeit, aus der organischen Nothwendigkeit seiner Production heraus betrachtet, ganz natürlich erscheinen, und dass die Einbildung seiner Zuschauer Schnellkraft genug besitzen werde, um mit einer Secunde sich in ganz andre räumliche Verhältnisse zu versetzen und über fünf Tage, in denen für die Handlung nichts geschieht, auch hinweg zu springen, als wären sie gar nicht vorhanden. Diesen achtungsvollen Glauben an die Gewalt der Poesie, diess Zutrauen zu den geistigen Fähigkeiten der Zuschauer hatten aber jene französischen und nachfranzösischen Theoretiker und Practiker nicht, konnten sie auch in den wenigsten Fällen haben, da den wenigsten Dichtern unter ihnen selbst eine so bewältigende Kunst eigen war, und das Publicum sich auch bewusst und unbewusst der Bequemlichkeit und der Pedanterei hingegeben hatte. So giengen sie denn auf eine ganz gemeine Illusion aus: die Vorstellung auf der Bühne sollte den Zuschauer dadurch täuschen, dass sie mit der Wirklichkeit ausserhalb der Bühne Stück für Stück übereinstimmte, dass die Zeit auf der Bühne nicht schneller vergieng als sonst, dass die Scene niemals verändert ward, weil es ja im gewöhnlichen Leben gar nicht möglich ist, so plötzlich einen Ort gegen den andern zu vertauschen. Von reproducierender Mitthätigkeit der Zuschauer, von Ansprüchen des Dichters auf ihre Einbildungskraft konnte da gar nicht die Rede sein: sie brauchten sich nur hinzusetzen und Alles in behaglicher Musse an sich vorübergehn zu lassen. Noch ein hiemit verbundenes und ein recht äusserliches und das allersinnlichste Mittel zu dem grossen Zwecke der Illusion besitzt das neuere Theater in der Scenerie, in den Decorationen. Damit sich der Zuschauer nur gar nichts einzubilden brauche, wird ihm die ganze Räumlichkeit, auf die es ankommt, in so genauer und so täuschender Malerei als möglich vor Augen gestellt: und es darf da z. B. Schillers Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt werden, ohne dass der Vierwaldstätter See mit allen Bergen umher auf das naturgetreueste abconterfeit zu sehen sei. Ob aber der wahren Kunst, ob der Poesie mit solchen Aeusserlichkeiten und Kleinlichkeiten gedient sei, und ob man das Publicum zum wahren künstlerischen Interesse erziehe, wenn man so seine Theilnahme auf Nebendinge ablenkt und ihm auch Alles Alles in die Hände giebt, was es eigentlich schon mitbringen sollte: das ist eine Frage, die sich von selbst beantwortet. Das neuere Theater geht von Jahr zu Jahr mehr darüber zu Grunde: das alte englische, das griechische haben zwischen einer dürftigen Scenerie eine lang anhaltende Kunstblüte gefeiert. Die Scenerie des griechischen Theaters war von einer so symbolischen Allgemeinheit, dass eine und dieselbe Decoration gar wohl für die verschiedenartigsten Dramen passte; Shakspeare hatte nicht viel mehr als eine graue und eine grüne Decke, eine graue, damit sich der Zuschauer Gebäulichkeiten, eine grüne, damit er sich Wald und freie Natur vorstelle. Wahrscheinlich sind aber die grössten Dramen, die wir bis jetzt besitzen, vor diesen grauen und grünen Decken des englischen und vor der dreithürigen Hinterwand des griechischen Theaters aufgeführt worden. Die verkehrten Ansichten von der Illusion, von der Nothwendigkeit einer Täuschung durch die volle natürliche Wirklichkeit haben ihren Einfluss aber noch weiter ausgedehnt; es ist an den bisher besprochenen übeln und verderblichen Wirkungen noch nicht genug gewesen: auch das äussere Merkmal aller poetischen Productionen, die metrische Form der Rede, hat vor ihnen weichen müssen. Es sind zwar nicht die Verkündiger jener zwei unnützen Einheiten der Zeit und des Ortes gewesen, sondern grade die, welche zuerst als deren Gegner aufgetreten, es sind bei den Franzosen Diderot, bei den Deutschen Lessing gewesen, welche durch Lehre und Beispiel die prosaische Form empfahlen: beide nach dem Muster neuerer englischer Dramen, Lessing ausserdem nach dem Vorgange der Dramatiker schon des siebzehnten Jahrhunderts in England. Gleichwohl ist diese Ansicht im Grunde nur ein Nachlass der Theorien, die sie selber bekämpften. Dass die französischen Tragiker auf der Einheit der Zeit und des Ortes bestanden, damit huldigten sie nur der sogenannten Natürlichkeit: dass sie ihre Tragödien dennoch in Versen abfassten, damit meinten sie daneben auch der Kunst ihre Genüge zu entrichten. Indem nun Diderot und Lessing jene Einheiten bekämpften, bekämpften sie nicht sowohl das Unkünstlerische derselben, als vielmehr nur die Unnatürlichkeiten, zu denen die beabsichtigte Natürlichkeit doch beständig führen musste; und derselbe Standpunct war es denn auch, von welchem aus sie die metrische Form des Dramas angriffen: sie fanden es eben unnatürlich, dass man auf der Bühne, weil sie ein Paar Fuss höher ist als das Publicum, eine andere Sprache reden sollte, als um einige Fuss tiefer; sie fanden es dem Zweck der Illusion nicht dienlich, wenn die ganze natürliche Wahrscheinlichkeit der Handlung wieder scheitere und zu Grunde gehe an der grossen Unwahrscheinlichkeit eines rhythmisch gegliederten Dialogs. Und so hat denn Lessing erst sein spätestes Drama, den Nathan, in Versen abgefasst, und auch dieses nur mit Widerstreben, nur als Verwahrung und Abwehr gegen den Geist der litterarischen Formlosigkeit, den er selbst durch seine frühere Lehre heraufbeschworen; vorher dagegen Alles in Prosa; und diesem Beispiel ist eine Unzahl von späteren Dichtern gefolgt, theils verleitet von dem gleichen Principe der Natürlichkeit, theils, und das noch öfter, aus künstlerischem Unvermögen, oder wie Kotzebue aus Liebedienerei gegen ein entartetes Publicum. Es scheint unnöthig, die Schiefheit dieser Ansicht zu beleuchten, da, wie wir früher gesehen (S. 33 fg.), die Nothwendigkeit der metrischen Form aus dem Wesen und den Zwecken der Poesie zur Genüge erhellt: nur das sei bemerkt, dass die prosaische Form noch nicht viel zur täuschenden Natürlichkeit hilft, wenn sie nicht mit den Einheiten der Zeit und des Ortes verbunden ist, und dass auch dann immer noch die grösste Unnatürlichkeit bleibt, nämlich unsere Sprache und die Sprache unserer Zeit im Munde längst verstorbener Personen und im Munde von Personen, die niemals deutsch gesprochen haben, wie z. B. die Engländer und Italiäner in Lessings Trauerspielen. Lessing und seine Nachfolger sind also der Scylla nur entflohen, um dann doch nicht der Charybdis zu entgehn. Wo das Drama frei und selbständig aus dem Kunsttriebe des Volkes hervorgewachsen ist, und solange es von demselben allein ist getragen worden ohne Zuthun und Dreinreden der Theoretiker, da hat es auch niemals eine andre Form seiner Rede gekannt als die metrische. So bei den Griechen, so überall im Mittelalter. Und dabei ist eins wohl zu beachten, was den Verfechtern der Prosa hätte ein warnender und zurechtweisender Fingerzeig sein können: dass nämlich das Drama für den Dialog immer eine Versform erwählt, die nicht zu weit abliegt von der unrhythmischen, von der prosaischen Form. Das griechische Drama mit seinem Chor konnte freilich neben dessen kühn und kunstreich gebauten lyrischen Strophen den Zwischenrednern keine Prosa in den Mund legen; es konnte nicht, während es die grosse Unnatürlichkeit, die überhaupt ein Chor hat, duldete, dem gegenüber im Dialog auf die gemeinste Natürlichkeit ausgehn: gleichwohl durfte es sich hier der Natürlichkeit so viel annähern, als die waltenden Principien der Poesie nur zuliessen; es musste die historische Wirklichkeit, auf welcher der dialogische Theil vorzüglich beruht, auch auf dessen metrische Form einfliessen lassen, damit er sich auch darin scharf von dem rein lyrischen Element, den Chorgesängen, unterschiede; man brachte also den Dialog zwar auch in Verse, weil man eben dichtete: aber diese Verse lagen hart an der Grenze der unkünstlerischen, natürlichen Wirklichkeit. Das Hauptmetrum des dramatischen Dialogs bei den Griechen und Römern ist bekanntlich der iambische Trimeter: denn er nähert sich am allermeisten der gemeinen Sprechart ( μάλιστα γὰρ λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ ἰαμβεῖόν ἐστιν . Arist. Poet. 4). Daneben galten noch andre, namentlich der trochäische Tetrameter, der bei Aristoteles und sonst als ein dithyrambischer, mehr für den begleitenden Tanz geeigneter Vers bezeichnet wird: dass er allerdings vom Dithyrambus ererbt und erst nach und nach von den mehr dialogischen Iamben in den Hintergrund sei geschoben worden, sieht man deutlich daran, wie er bei Aeschylus, wo die Tragödie ihrem dithyrambischen Ursprunge noch näher liegt, auch noch eine viel weiter ausgedehnte Anwendung findet als bei Sophocles und Euripides. Auch die Comödie bedient sich des trochäischen Tetrameters häufiger als die Tragödie. Eine dritte Versart der Griechen ist der Comödie um vieles geläufiger als der Tragödie, wie sie denn auch zu der beweglichen Natur der erstern, zu dem Muthwillen ihrer Laune und ihres Spottes besser passt als zu dem gemessenen Ernste der Tragödie: der anapästische Vers. Das deutsche Drama, ich meine das auf deutschem Grund und Boden in mehr selbständiger Weise erwachsene, schloss sich, da es zuerst entstand, in seiner metrischen Form eng an die Lyrik an; so ist das älteste deutsche Drama, der Wartburgkrieg, in sangbaren Strophen abgefasst; weiterhin aber griff auch diess, in ähnlicher Weise, wie das griechische den anspruchsloseren iambischen Trimeter gebrauchte, zu einer einfachern Form des Dialogs, der vom Epos her gewohnten Form der kurzen Reimpaare. Davon ist schon vorher die Rede gewesen (S. 176). Gleichzeitig wählte das Drama andrer Länder andere Formen; zu erwähnen sind der Alexandriner der Franzosen, der assonierende trochäische Vers der Spanier und der elfsilbige reimlose Iambus der Italiäner und der Engländer, alles eigentlich epische Versarten. Letztere Form ist nun auch bei uns die gebräuchliche; und es kann denen, die sich vor gar zu grossem poetischen Schmuck in der Rede des Dramas fürchten, ein Trost sein, dass dieser Hendecasyllabus der baaren Prosa noch um vieles näher liegt als der griechische Trimeter. Indem nun überall die gleiche Versart sich in langen Reihen immer wiederholt, indem ganze grosse Theile eines griechischen Dramas in Trimetern abgefasst sind, und ein modernes Drama, wenn es mit dem Alexandriner beginnt, auch mit dem Alexandriner schliesst: so wird durch diese Einförmigkeit die metrische Rede zugleich der prosaischen noch ähnlicher gemacht, und zugleich schliesst sich damit das Drama enge an das Epos an, das ja dieselbe Einfachheit der Wiederholung liebt. Wie aber im Epos jeder Hexameter wieder seine characteristische Eigenthümlichkeit aufweisen kann, so ist auch dem Dramatiker überall Raum genug gelassen, die Einförmigkeit der Wiederholung durch Mannigfaltigkeit in untergeordneten Einzelheiten zu beleben. Nachdem wir nun so die Gesetze mit einander besprochen haben, welche in Anschauung und Darstellung bei jeder dramatischen Production leitend sind, könnten wir jetzo gleich zur Betrachtung der einzelnen Arten übergehen, wenn nicht manche Erscheinungen der letzten litterarischen Periode nöthig machten, jenen Gesetzen noch ausdrücklich eine Vorschrift beizufügen, die man früherhin würde bis zur Lächerlichkeit überflüssig gefunden haben, die Vorschrift nämlich, dass ein dramatisches Gedicht auch aufführbar sein solle, dass es wirklich, so wie es geschrieben ist, auf der Bühne müsse dargestellt werden können. Wie gesagt, in andern Zeiten als den unsrigen würde diese Regel bloss lächerlich geklungen haben. Ein Grieche hätte gefragt: Wenn man nicht die Aufführung bezweckt und Schritt für Schritt im Auge hat, wozu die dramatische Auffassung, die dialogische Gestaltung des Stoffes? Wenn man nicht an die Scenerie der Bühne denkt, wozu die Eintheilung in Acte, in Scenen, in Auftritte? u. s. f. Aber unsre Litteratur steht einmal nicht mehr so zum Leben und zum Volke, wie die griechische und wie lange genug auch die deutsche selbst gestanden hat; sie ruht bei all ihrem Reichthum doch nicht so auf der treibenden und nährenden Grundlage der allgemeinen Volksbildung: sie steht vielmehr dieser in vielen Stücken fremd und abgewendet gegenüber. Unsre Dichter sind gewohnt Epopöien zu verfassen aus Sagen heraus, von denen das Volk nichts weiss; sie sind gewohnt Lieder zu dichten in den sangbarsten Formen, die aber doch Niemand singt: da ist es denn nur ein Schritt weiter in dieser verkehrten und unlebendigen Richtung, auch Dramen zu schreiben, die Niemand aufführt, die auch bei dem besten Willen Niemand aufführen könnte, nicht bloss, weil sie dafür zu lang sind, sondern weil auch sonst allerlei darin vorkommt, was sich zwar schreiben und drucken lässt, was aber für die wirkliche Bühne zu den Unmöglichkeiten gehört. Mancher Dichter wird in dieser Abtrennung des Dramas vom Theater noch bestärkt durch den Unfug, der auf diesem pflegt getrieben zu werden, und durch die allgemeine Entartung des Publicums, das vor demselben sitzt; er darf nicht erwarten, dass seine Producte jemals über die Bretter gehn werden: da fasst er sie lieber gleich von vorn herein so ab, dass sie niemals über dieselben gehn können. Die Reihe solcher Dramen beginnt mit Göthens Faust und Götz von Berlichingen in der eigentlichen Urgestalt; die meisten hat weiterhin Tieck geschrieben. Man darf sich durch diese Namen der Verfasser nicht abschrecken lassen, all dergleichen Dichtungen von der Seite her durchaus zu verwerfen, dass sie den Schein des Dramas annehmen, ohne doch in der That Dramen zu sein; denn sie machen den Hauptzweck der dramatischen Gestaltung, die Reproduction durch den Zuschauer, von vorn herein selbst unerreichbar; sie sind zuletzt weiter nichts als Epopöien oder Romane oder Satiren, aber in solchen Formen der Anschauung und der Darstellung, die nicht die Formen der Epopöie, des Romans und der Satire sind; es findet hier also bis auf den ersten Grund der Production hinunter zwischen Inhalt und Form ein Missverhältniss statt, welches dem Wesen aller Kunst widerspricht. Und wenn dergleichen Dichtungen hervorgegangen sind aus der Unnationalität unsrer Litteratur, und veranlasst sind durch den abschreckenden Verfall des Theaters, so tragen sie ihrerseits nur dazu bei, diese beiden Uebel noch zu verschlimmern: denn wenn selbst das Drama sich von der lebendigen Mittheilung zurückzieht, so hört zuletzt alle Beziehung auf zwischen dem Volke und den Schöpfungen seiner Dichter; und wenn die begabteren Geister sich vom Theater fern halten, so heisst das nur den Schwachen und den Schlechten noch vor dem Kampfe die Wahlstatt überlassen. Wenn die Litteratur noch je in das Volk wahrhaft eindringen kann, so geht ihr Hauptweg nothwendig über die Bühne: darum darf an der Dichtung für die Bühne nicht verzweifeln, wer nicht überhaupt an der Litteratur verzweifeln will. Wir gelangen nunmehr zur Betrachtung der verschiedenen Arten dramatischer Poesie. Hier sind nur zwei Hauptarten, zwei hauptsächliche Richtungen zu unterscheiden: alles Weitere ist stäts nur ein irgendwie abgezweigter Nebenweg der einen oder der andern oder ein vermittelnder Zwischenweg zwischen beiden. Diese zwei Hauptarten sind die Tragödie und die Comödie, oder zu deutsch Trauerspiel und Lustspiel. Aeltere Benennungen der Comödie sind Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel (von Schimpf d. h. Scherz, Spott). Die deutschen Namen gehn mit ihrer vordern, der unterscheidenden Hälfte mehr auf das innere Wesen beider Dichtarten, bezeichnen die Wirkung auf den Zuschauer oder auch die Art, wie der Dichter selbst dabei thätig ist. Die griechischen Benennungen Tragödie und Comödie treffen mehr nur Aeusserlichkeiten, und die Unterscheidung beider Namen ist mehr zufällig und willkürlich. Beide nämlich weisen zurück auf den Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus, dem für die dionysischen Feste bestimmten mimischen Chorgesang. Der weite Umfang und die Mannigfaltigkeit der dionysischen Mythen gaben aber eine verschiedenartige Auffassung dieser Gottheit an die Hand, verliehen ihrer Verehrung bei verschiedenen Völkerschaften und in verschiedenen Zeiten und Umständen auch einen verschiedenen Character: man konnte den Dionysus feiern mehr als den fröhlichen und erfreuenden Gott der Weinbauer und Hirten; aber auch mehr als einen ernsten, leidenden, dem Reiche des Todes selbst verfallenen Gott, es gab auch einen Διόνυσος Ζαγρεύς , den Zeus mit Persephone erzeugte, und der von den Titanen zerfleischt ward: es konnte also der Dithyrambus sowohl von heiteren Thaten des Gottes singen als von Leiden desselben. Es ist wahrscheinlich, wenn schon nicht ausgemacht, dass der ernstere Cultus in den dorischen Städten, der fröhliche bei den Ioniern, den Aeoliern und unter den Periöken der Dorier stattfand. In dieser zwiefachen Richtung des Dithyrambus liegt der Zwiespalt von Tragödie und Comödie schon deutlich genug vorgebildet und vorbereitet. Dass man sie aber grade so benannte und unterschied, ist namentlich für die Tragödie kaum mehr als eine blosse Zufälligkeit. Τραγῳδία , Bocksgesang, so konnte man, ehe es ein eigentliches Drama gab, jedweden Dithyrambus nennen, und nannte auch wirklich jedweden so: denn überall war mit dem feierlichen Dionysusdienste ein Bocksopfer verbunden; und noch eine andre Sitte, die den zweiten Grund dieses Namens hergiebt, war ursprünglich allgemein verbreitet, wiewohl sie in den dorischen Städten schon frühzeitig mag abgekommen sein, die Sitte nämlich, dass der Chor, um die Satyrgestalt nachzuahmen, sich in Bocksfelle hüllte. Wenn man nun diesen ganz allgemeinen Ausdruck dennoch auf die eine Art des Dramas einschränkte, so geschah das nur auf Anlass des Namens der andern ihr entgegengesetzten Art, der Comödie. Auch κωμῳδία hat wohl wie τραγῳδία einen doppelten Ursprung und Sinn. Von der fröhlicheren Seite aufgefasst, war Dionysos vorzüglich eine ländliche Gottheit, und mit seinem Cultus waren Umzüge verbunden, während die ernstere Feier eher an Tempel und Altar gebunden blieb. Daher kann der erste Bestandtheil dieses Wortes einmal κώμη sein, der dorische Ausdruck für den Begriff des attischen δῆμος , für Dorf, offenen Ort, im Gegensatze zur Stadt, so dass man besonders an die Chorgesänge jener dorischen Periöken zu denken hätte; dann auch κῶμος d. h. ein mit Gesang und Schmauserei verbundener fröhlicher Festumzug. Beide Worte, κώμη und κῶμος , nehmen in der Zusammensetzung die gleiche Gestalt an, und es ist ein unfruchtbarer Streit der Etymologen, ob man in κωμῳδία jenes oder dieses zu verstehn habe: man thut besser an beide zu denken, da man an beide denken darf. So viel über die Namen Tragödie und Comödie. Es beruht aber der innere und wesentliche Unterschied der tragischen und der komischen Poesie auf dem verschiedenen Verhältniss, in welchem bei der Production und der Reproduction die dichtenden Kräfte zu einander stehn; darauf, welche dieser dichtenden Kräfte in Zwiespalt mit einander gerathen. Denn ein Conflict der einen oder der andern Art findet immer statt. Das Drama hat sich ja erst gebildet durch eine Vermischung und Verschmelzung der Epik mit der Lyrik, d. h. einer Dichtart, bei deren Conceptionen die Einbildung die Hauptsache ist, mit einer andern, in der das Gefühl die Oberhand hat. Da kann denn eine Zwiespältigkeit beider Seelenkräfte nicht ausbleiben: bald wird sich das Gefühl in seinen lyrischen Empfindungen verletzt fühlen von den epischen Anschauungen der Einbildung; bald wird wieder die Einbildung dem Gefühle weichen müssen. Zu dem Gefühle kommt dann noch der Verstand und theilt mit ihm den Zwist und die Niederlage. Je nachdem sich nun diese Entzweiungen gestalten und entscheiden, je nachdem ist das Drama entweder eine Tragödie oder eine Comödie. Als Resultate und Formen des unentschiedenen Zwiespaltes zwischen Einbildung und Gefühl haben wir früherhin (S. 23 fgg.) kennen gelernt die Laune, die Wehmuth und den Humor. Bei der Laune wie bei der Wehmuth, beidemal lässt die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit einen Stachel im Gefühle zurück, der dasselbe entweder schmerzt oder kitzelt, der es zu nachsinnender Trauer oder zu fröhlichem Scherze reizt: jenes bei der Wehmuth, dieses bei der Laune. Und der erstere Conflict bezeichnet nun die Tragödie, der letztere die Comödie; in der Tragödie weint, in der Comödie lacht das Gefühl über die angeschaute Wirklichkeit. Der Humor dagegen, wie er nicht auf dem momentan gereizten Gefühle, auf der vorübergehend erregten Sentimentalität beruht, sondern auf der beharrlich gewordenen, auf dem Gemüthe: der Humor ist auch über diese bloss einseitigen Reizungen, über die blosse Wehmuth und die blosse Laune erhaben; er schwebt über beiden Empfindungen als eine höhere Vereinigung beider; und in so fern findet er seine Stelle ebensowohl in der Tragödie als in der Comödie, obschon es natürlich ist, dass er in der Tragödie mehr die wehmüthige, die tragische, in der Comödie mehr die launige, die komische Seite herauskehren wird. Laune, Wehmuth, Humor, diese Gestalten und Ergebnisse des unentschiedenen Conflictes zwischen Anschauung und Empfindung, haben das dramatische Gedicht von Anfang bis zu Ende zu erfüllen, müssen als belebende Seele in allen Gliedern desselben wohnen. Anders ist es, wo sich der Conflict zur vollständigen Negierung der einen oder der andern Kraft entscheidet; wo das Gefühl von der Einbildung, oder die Einbildung von dem Gefühle gänzlich überwältigt, und aller Einspruch zum Schweigen gebracht wird: wo also die Einbildung das Grausenhafte anschaut, oder das Gefühl die Wirklichkeit als lasterhaft verwirft (S. 26). Das ganze Drama hindurch kann sich ein solches Verhältniss nicht ziehen: denn es giebt keine poetische Conception mehr, wo eine von den concipierenden Kräften beseitigt ist. Deshalb sind Göthens Mitschuldige zu verwerfen, wie er selbst sich auch in reiferen Jahren an dieser Jugendarbeit gestossen hat: hier ist es die gesammte Handlung, von der sich als einer lasterhaften das sittliche Gefühl beleidigt abwendet. So jedoch, dass der Schade bald wieder vergütigt wird, und dass die unterlegene Kraft zuletzt sogar siegreich triumphiert: stellenweise und bloss vorübergehend sind das Grausen und das Lasterhafte allerdings von jeher zulässig gewesen: Shakspeare, Aeschylus, Aristophanes sind in solcher Art oft genug ihren Zuschauern mit grausenhaften Anschauungen und mit Anschauungen des Lasters zu nah getreten. Und zwar ist die Einmischung des Grausens nur die Sache der Tragödie, während das Lasterhafte ebensowohl in der Comödie vorkommen kann als in der Tragödie: es zeigt sich uns hier in tragischen Dichtungen Shakspeares, dort in komischen des Aristophanes. Mit den Widersprüchen des Gefühles liebt auch der Verstand die seinigen zu verbinden. Ergebnisse des ungelösten Conflictes zwischen Einbildung und Verstand sind aber der Spott, der Ausdruck für die Anschauung des Lächerlichen, und nächst dem Spotte die Steigerung desselben zur schneidenden Schärfe, die Ironie (S. 22). Der Spott, als das blosse Lachen des Verstandes, gesellt sich bloss dem Lachen des Gefühles, der Laune, bei: sein Ort ist also gleichfalls lediglich in der Comödie. Die Ironie dagegen, in welcher der Spott auf die höchste Spitze getrieben und mit der Verachtung verbunden ist, welche sich deshalb zum Spotte ebenso verhält, wie der Humor zur Laune, ist deshalb gleich dem Humor auch in beiden Gebieten zu Hause, in dem der Tragödie wie in dem der Comödie; und wir finden namentlich in Shakspeares Tragödien, z. B. in Hamlet, Ironie und Humor so eng und dicht eins mit dem andern verschmolzen, dass kaum mehr zu sagen ist, wo das verachtungsvoll spottende Lachen der Ironie aufhöre und das wehmüthige Lächeln des Humors beginne. Der Verstand kann aber auch grade wie das Gefühl in seinem Conflict mit der Einbildung vorübergehend unterliegen; Phantasie und Erinnerung können ihm Anschauungen vorhalten, vor denen er verstummen, denen er sich unterwerfen und gefangen geben muss: dergleichen den Verstand besiegende Anschauungen heissen erhaben (S. 22). Und grade wie die Negierung des Gefühls durch das Grausenhafte nur in der Tragödie daheim ist, nicht in der Comödie, so auch die Negierung des Verstandes durch das Erhabene: auch das Erhabene ist ausschliesslich tragischer Natur. Es pflegt aber das Erhabene mit dem Grausenhaften verbunden zu sein; die Einbildung liebt es, zu gleicher Zeit dem Gefühle und dem Verstande den Mund zu schliessen. Auch davon Beispiele bei Aeschylus wie bei Shakspeare. Blicken wir auf das bisher Bemerkte zurück, so ergiebt sich daraus eine gewichtvolle Wahrnehmung über das verschiedne Verhältniss, in welchem die Tragödie und die Comödie das epische und das lyrische Element mit einander mischen. Das Grausenhafte und das Erhabene, also die Stillstellung des Gefühls und des Verstandes durch die Einbildung, sind nur in der Tragödie daheim: das heisst doch wohl, da die Einbildung wesentlich epischer Art ist, dass in den tragischen Productionen das epische Element eine grössere Gewalt und Bedeutung besitze als in den komischen, dass die Tragödie dem Epos näher liege als die Comödie. Das wird sich auch gleich weiter bestätigen, indem wir nun nach der allgemeinen Entgegensetzung dieser beiden Hauptarten des Dramas jede für sich noch etwas genauer betrachten. Zuerst reden wir von der Tragödie. Die gemeinsame Idee, auf der alle tragischen Dichtungen beruhn, der grosse tragische Grundgedanke ist die Ueberzeugung von der Unzulänglichkeit alles menschlichen Tichtens und Trachtens gegenüber der göttlichen Weltordnung; ist die Erfahrung, dass der Wurm der Gebrechlichkeit, welcher der Menschheit inne wohnt, sie immer und immer hinaustreibe über die Schranke des Rechten; dass aber eben dieselbe Gebrechlichkeit sie alsbald auch zu Falle bringe vor dem ewig unverrückbaren Masse, das in der Allmacht und Weisheit und Gerechtigkeit Gottes liegt. Wenn nun diese welthistorische Idee von der Einbildungskraft angeschaut, wenn ihr die lebendigste aller dichterischen Gestaltungen, die dramatische, gegeben wird, so erwacht in dem Gefühle nur um so schmerzlicher die Empfindung von der Unzulänglichkeit alles Menschlichen, und es erwächst jener Conflict zwischen beiden Seelenkräften, als dessen Resultat vorher die Wehmuth ist bezeichnet worden. Die wahre Wehmuth aber trägt neben dem Schmerze in sich selber schon den Trost; die tragische Anschauung gleicht der Lanze des Peleus, die verwundet, aber auch die Wunden selbst wieder heilt. Denn die Ueberzeugung von der Gebrechlichkeit alles menschlichen Thuns und Treibens gewahrt ja zugleich dieser gegenüber und hoch über ihr die unwandelbare Weltordnung: deren Gesetze sind es, vor denen die gesetzlosen Bestrebungen des einzelnen Menschen erliegen; mag da nun das Herz nach heidnischer Weise in jener leitenden Allmacht ein unerbittliches Schicksal erblicken, das auch den Schuldlosen endlich in das Verderben der Schuld und der Strafe hinein reisst; oder mag es vom höheren Standpunkte des Christenthums in der Allmacht auch die Allweisheit und die Allgüte erkennen: immer wird es sich in Gehorsam beugen, und mit diesem Gehorsam hat der Schmerz alsbald auch die Beruhigung, und der Streit des Gefühles gegen die angeschaute Wirklichkeit seine Aussöhnung gefunden. Noch leichter als die Wehmuth, als die schmerzlich gereizte blosse Sentimentalität, gelangt der Humor zu dieser versöhnenden Befriedigung: denn die Wehmuth bleibt immer noch am Staube der Erde haften, wenn schon sie Trost suchend und findend nach oben blickt: der Humor dagegen hat sich aus dem Staube empor bis zu jener Höhe erschwungen, wo zwar das Treiben der Menschheit noch um vieles gebrechlicher, die waltende Gottheit aber in desto glanzvollerer Majestät erscheint. In so fern wird man mit dem vollsten Recht solche Tragödien obenan stellen, in denen, wie in den meisten Shakspearischen, der Widerstreit zwischen Gemüth und Wirklichkeit und die Aussöhnung beider so in den höchsten Regionen vor sich geht; dann aber ist das Mass künstlerischer Energie voll, wenn das Gemüth auch den Verstand mit sich hinauf nimmt, wenn sich zum Humor noch die Ironie gesellt, die gleichsam als der Humor des Verstandes sich gleichfalls hoch über die verächtliche Wirklichkeit erhebt. Und auch hier ist wiederum Shakspeare zu nennen als der erste unter Allen, ja beinahe als der Einzige, der mit einer solchen Vereinigung von Humor und Ironie der dramatischen Kunst das Schlusssiegel der Vollendung aufgedrückt hat. Nach all diesem ist es Wesen und Zweck der Tragödie, dass sie Gemüth und Wirklichkeit in Widerspruch zu einander versetze, zugleich aber selbst diesen Widerspruch tröstend aufhebe. Und damit vertragen sich sehr wohl einige vielbesprochene Worte in der Aristotelischen Definition der Tragödie, welche vollständig folgender Massen lautet (Poet. 6): „Es ist Tragödie die Nachahmung einer bedeutenden und in sich abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfange, in angenehmer Sprache, ausgeführt von Handelnden, und nicht durch Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher Leidenschaften vollbringend.“ Wir können alles Uebrige in dieser Definition bei Seite liegen lassen, da das Alles schon früher ist erledigt worden: hier berührt uns nur der letzte Satz „durch Mitleid und Furcht“ u. s. w. δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν . Bis auf Lessing hat man diese Worte mannigfaltig missverstanden, indem man φόβος nicht im Sinne von Furcht, sondern im Sinne von Schrecken auffasste, und dann, was erheblicher ist, die τοιαῦτα παθήματα auf die im Drama dargestellten Leidenschaften bezog: also verstand, die Tragödie solle durch Mitleid und Schrecken in dem Zuschauer jedesmal diejenigen Leidenschaften reinigen, die er grade vor sich dargestellt erblicke. Es ist Lessing gewesen, der in seiner Hamburgischen Dramaturgie den einzig möglichen Sinn dieser Worte zuerst überzeugend dargethan hat, dass nämlich φόβος Furcht bedeute, und die τοιαῦτα παθήματα Leidenschaften, Gemüthsregungen von der Art wie Mitleid und Furcht: die Tragödie solle durch Mitleid und Furcht eben diese und dergleichen Gemüthsregungen, solle wieder das Mitleid und die Furcht selbst, und welche Gemüthsregungen noch mit ihnen zusammenhangen, läutern und reinigen. Und diess lasse sich, ist vorher gesagt worden, sehr wohl mit dem vereinen, was wir als das Wesen der Tragödie erkannt haben. Allerdings sind auch erstlich Mitleid und Furcht und alle dergleichen Affecte in dem Kreise der wehmüthigen Empfindung enthalten, die den Character der Tragödie abgiebt. Denn das Mitleid, das wir mit einer dramatischen Person fühlen, die sich in verderblichem Irrthum von der Bahn des Rechten entfernt, oder die mehr leidet, als sie scheint verschuldet zu haben, und ebenso die Furcht, dass wir selber uns so verirren, dass wir selber eben solche Leiden über uns herabziehen könnten: beide Affecte beruhen ja in jener wehmüthigen Ueberzeugung von unserer und aller Menschen Gebrechlichkeit; nur dass im Mitleiden die Wehmuth eine objective, in der Furcht eine reflexiv subjective Richtung annimmt; dass wir im Mitleiden die Gebrechlichkeit und Unzulänglichkeit bloss an andern wahrnehmen, in der Furcht dagegen in Bezug auf uns selbst, in uns und für uns. Sodann, sagt Aristoteles, sollen durch Furcht und Mitleid eben diese und dergleichen Affecte „gereinigt werden.“ Und auch wir haben eine solche Reinigung als Zweck und Wesen der tragischen Production kennen gelernt, indem wir sahen, dass mit der Wehmuth immer eine tröstliche Empfindung verbunden, dass es in der Tragödie nicht bloss darauf abgesehen sei, einen Widerspruch zwischen Gemüth und Wirklichkeit zu erregen, sondern auch eben diesen Widerspruch befriedigend zu versöhnen; dass also die Tragödie im Zuschauer die Empfindung der Wehmuth über die irdische Unzulänglichkeit erweckt und doch zugleich dieselbe läutert, indem sie über der vereinzelten Erscheinung die allgemeine höhere Weltordnung zeigt, in der Alles aufgeht; indem sie dem Widerspruche durch die künstlerische Auffassung der historischen Wirklichkeit den Frieden und die Beruhigung giebt. Mithin ist es das Gleiche, ob man sagt, durch Mitleid und Furcht läutere die Tragödie dergleichen Gemüthsregungen, oder ob man es so ausdrückt, dass sie den Widerspruch der Wehmuth anrege, um ihn zu versöhnen. Nur hat die Aristotelische Definition zugleich etwas zu Beschränkendes und etwas Schrankenloses, indem sie auf der einen Seite zwei vereinzelte Affecte bestimmt hervorhebt und auf der andern noch alle übrigen dergleichen unbestimmt dazu rechnet. Aus dem bisher Abgehandelten ergiebt sich von selbst ein allgemein gültiges Gesetz über die Beschaffenheit der tragischen Charactere. Die Tragödie darf unter den Hauptpersonen niemals einen vollkommen guten, niemals einen vollkommen schlechten Character aufstellen; sie darf weder die vollendete Tugend noch das vollendete Laster leidend und der göttlichen Lenkung unterliegend zeigen. Denn was das erstere betrifft, das Untragische leidender Tugend, so soll ja die Tragödie nicht bloss bewähren, dass dem Göttlichen gegenüber alles Menschliche unhaltbar sei, sondern auch, dass es so sein müsse: sie darf also die Gebrechen nicht verschweigen, die der nothwendige Grund des Unterganges sind. Führte sie eine Strafe vor ohne Schuld, so würde sie einmal der Geschichte widersprechen, die dergleichen nicht kennt, und aus der doch die Tragödie die Offenbarungen jener tragischen Grundidee zu entnehmen hat; es würden dann ihre Anschauungen auch mit einer ganz andern Empfindung verbunden sein als mit der der Wehmuth, und an eine Läuterung, eine Versöhnung derselben wäre gar nicht zu denken: das Gefühl, statt sich versöhnt unter die höhere Weltordnung zu beugen, könnte nur mit derselben hadern. Aber eben so wenig darf der Character der leidenden Person ein vollkommen böser sein. Denn das Leiden des Bösen erregt keine Wehmuth; sein Untergang vor der Gerechtigkeit Gottes findet im Gefühl auch nicht den leisesten Widerspruch; wo aber kein Widerspruch ist, bedarf es auch keiner Ausgleichung und Versöhnung. Es fordert mithin die Tragödie einen Mittelschlag von Characteren, Charactere, die weder vollkommen rein, noch vollkommen befleckt sind, die weder zu schuldlos sind für die Wehmuth, noch zu schuldvoll für dieselbe: sie behält für sich das ganze grosse Gebiet mit all seinen Abstufungen, das mitten inne liegt zwischen jenen beiden äussersten Grenzen; all die mannigfaltigen Mischungen des Guten und des Bösen, in denen des einen wie des andern genug ist, dass sowohl ein Widerspruch als eine Aufhebung desselben möglich bleibt. Kurz, die Tragödie verlangt im Allgemeinen nur eine sittliche Unvollkommenheit der Charactere. Diess gleiche Gesetz ergiebt sich auch, wenn man das Wesen der Tragödie nach Aristotelischer Weise bestimmt, und Aristoteles selbst fasst es (Poet. 13) in folgende Worte: „Zuerst ist es klar, dass weder gute Männer aus Glück in Unglück übergehend erscheinen dürfen: denn das erweckt weder Furcht noch Mitleiden, sondern ist nur grausenhaft; noch Böse aus Unglück in Glück: denn das ist vor Allem am wenigsten tragisch: denn es hat nichts von dem, was gefordert wird: denn das erregt weder das Menschlichkeitsgefühl, noch Mitleid noch Furcht; noch endlich der ganz Böse aus Glück in Unglück stürzend: denn eine solche Darstellung möchte wohl zum Menschlichkeitsgefühle sprechen, nicht aber zum Mitleiden noch zur Furcht. Denn das Mitleid richtet sich auf den, der unwürdig leidet; die Furcht auf den, der dem Zuschauer gleich ist. Daher wird, was solchen geschieht, weder Mitleid erwecken noch Furcht. So bleibt nur, der zwischen diesen in der Mitte ist. Das ist aber ein solcher, der weder durch Tugend und Gerechtigkeit sich erhebt, noch durch Laster und Verderbtheit ins Unglück kommt, sondern durch irgendwelche Verirrung, und zwar ein Hochangesehener und Beglückter, wie Oedipus und Thyestes, und sonst aus dergleichen Geschlechtern die berühmten Männer.“ Wenn also die Tragödie weder ganz gute noch ganze böse Charactere duldet, so ist auch schon damit ein ziemlich ausreichender Grund gegeben, weshalb das Grausen und das Lasterhafte wohl vorübergehend Zutritt in ihre Anschauungen finden, niemals aber die ganze Handlung von Anfang bis zu Ende begleiten dürfen. Vom Lasterhaften versteht sich das nun von selbst; und die Empfindung des Grausens würde ja in den meisten Fällen nur daher rühren, dass man den Guten ins Verderben stürzen sehe, was schon Aristoteles als grausenhaft ( μιαρόν ) bezeichnet. Aber wir haben bereits früherhin (S. 204) bemerkt, dass bei dergleichen Anschauungen ein Verhältniss der dichtenden Kräfte stattfinde, das überhaupt alle poetische Production aufhebe, alle, auch die dramatische und die tragische, und dass sie demnach immer nur stellenweise zulässig seien. Wir haben nun noch zu sprechen von der Wirklichkeit, aus welcher die Tragödie die Formen ihrer Anschauungen entnehme, wie diese beschaffen sein müsse, und wie sich der producierende Dichter zu ihr verhalte. Ehemals war der ausschliessliche, und auch jetzt noch ist der allgemein vorherrschende Gebrauch der, dass die Tragödie sich anlehne an den Mythus, an die Sage und an die Geschichte; dass der Tragiker seine Wirklichkeit nicht frei aus der Phantasie heraus erfinde und ersinne, sondern sich an das halte, was als wirklich einmal geschehen entweder historische Zeugnisse verbürgen, oder der Mund des Volkes in Götter- und Heldensage überliefert. So sind beinahe ohne Ausnahme die griechischen Tragiker alle verfahren: vornehmlich Homer war ihre Fundgrube und nächst ihm die Nachfolger Homers, die s. g. cyclischen Epiker; so auch, um aus der modernen Litteratur nur ein Volksgebiet ins Auge zu fassen, unsere älteren deutschen Dramatiker, z. B. Hans Sachs, der zu der einen Tragödie den Stoff aus der Bibel entlehnte, zu einer andern aus Boccaccio, zu einer dritten aus dem deutschen Heldenbuche u. s. f. In der That ist auch der tragischen Kunst nichts angemessener und zugleich nichts für den Tragiker vortheilhafter als ein solches Anlehnen an das historisch Gegebene. Denn einmal haben ja alle Tragödien zum ersten und letzten Zwecke die concrete Veranschaulichung jener schon früher bezeichneten welthistorischen Idee: natürlich wird aber dieser Zweck am besten erreicht, die Ueberzeugung von der Gebrechlichkeit alles Menschlichen wird dann am unfehlbarsten und eindringlichsten hervorgerufen, wenn man sie darthut an dem, was entweder wirklich geschehen ist, oder was wie eine Sage als wirklich geschehen geglaubt wird. Sodann hat der Dichter auch für sich selber schon viel gewonnen und sich der reproducierenden Theilnahme seiner Zuschauer versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind, die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean Paul (Vorschul. S. 500): „Ein bekannt-historischer Character, z. B. Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“ Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten fragen: denn es soll hier ja keine Geschichte erzählt, sondern eine dramatische Handlung vorgeführt werden; es wird vielmehr eben auf die Handlung achten, d. h. auf die Art und Weise, wie der Tragiker den aus der Geschichte oder dem Epos wohlbekannten Stoff nun nach den Anforderungen seiner Kunst gestaltet, wie er ihn dramatisch belebt habe. Ein für gesunden Kunstgenuss eingerichtetes Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten Regungen des menschlichen Gemüthes auffasst, wie das in der Tragödie der Fall ist. Die Athener waren sonst in vielen Stücken novarum rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen Stoff, den sie schon aus der Volkssage und aus der epischen Poesie her kannten, nun auch von Aeschylus im Gewande der Tragödie dargestellt zu sehen, und dann wieder von Sophocles, und dann noch einmal von Euripides. Ja es ermüdete sie nicht und benahm ihnen nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides seinen Tragödien Prologe vorausschickte, in welchen Alles schon zum voraus durch eine kurze Erzählung berichtet ward, was nachher in ausgeführter dramatischer Handlung nach und nach sollte entwickelt werden. Hätte dergleichen das Interesse der Athener nicht vielmehr noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich, dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss, als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt. Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde. Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen. Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten, diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit, die für die tragische Production und Reproduction unentbehrlich ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen, einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen. Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt zur Genüge. Bei mehr als einer griechischen Tragödie lassen sich die selbständigen Abweichungen des Dichters von Mythus und Sage nachweisen; ohne dass ein solches Verfahren frei stand, hätten auch schwerlich Mehrere nach einander einen und denselben Stoff behandeln können, wie das doch genugsam vorkommt. Aus unserer Litteratur wollen wir nur Göthe und Schiller hervorheben. Von Göthe nächst der Iphigenie in Tauris (S. 191) den Egmont. Diese Tragödie widerspricht allerdings der wahrhaften Geschichte mannigfach; sie mischt Begebenheiten in die Handlung, von welchen dort auch nicht die leiseste Spur vorhanden ist, und Begebenheiten solcher Art, dass damit Egmonts Character selbst, wie ihn die Geschichte zeigt, könnte angetastet erscheinen. So pflegt man das Stück auch wirklich zu beurtheilen; und Schiller ist in einer Recension der erste gewesen, der hier das Mass der dem Tragiker gestatteten Freiheit hat überschritten gefunden. Dem ist aber doch nicht so. Einen andern Character als hier in der Tragödie besitzt Egmont auch in der Geschichte nicht: er zeigt auch dort ein Gemüth, das allem Edeln geöffnet ist, dem aber keine Kraft des Entschliessens und Handelns zur Seite steht; auch dort ein in rath- und thatlose Träumerei versunkenes Heldenherz: er zeigt es jedoch nicht in der Art und Weise, dass damit ein Dramatiker, ein Tragiker hätte etwas beginnen können, und Göthe war in seinem vollen Recht, wie er in seiner Pflicht war, als er die Begebenheiten, welche die Geschichte erzählt, immerhin mit einer gewissen Kühnheit so umgestaltete, dass sich jener Character nun auch in der dramatischen Handlung ausprägte. Um vieles mehr hat sich dagegen Schiller selbst in einer seiner Tragödien an der historischen Treue verfehlt. Ich meine nicht den Wallenstein und die Jungfrau von Orleans, wo er nur von seinem Rechte Gebrauch gemacht hat, das Ueberlieferte der tragischen Idee und dem gegebenen Character gemäss umzubilden: ich meine den Don Carlos. Hier hat er denn freilich nicht, wie er und mit ihm Andre das dem Göthischen Egmont ohne Grund vorwerfen, einen hohen Character in den Staub gezogen: aber er hat sich das Gegentheil erlaubt; er hat eine historische Person, von der die Geschichte wahrlich nicht mit sonderlicher Ehre zu sprechen weiss, eben den Don Carlos, auf eine solche Höhe edler Gesinnung versetzt, dass in der That dieser tragische Carlos mit dem historischen kaum mehr gemein hat als den Namen und einige an ihm hangende Begebenheiten, den Character aber, für ein Drama die Hauptsache, ganz und gar nicht. Durch eine der Wahrheit grade zuwider laufende Verherrlichung wird aber die Tragödie ebenso wohl von der Stelle gerückt, die sie neben der Geschichte anspricht, als durch Erniedrigung und Entwürdigung. Den Begebenheiten gegenüber ist der Dichter zu freiem Verfahren berechtigt, ja oft verpflichtet: der Character dagegen, die Idee verlangt historische Treue. Zur Treue ist der Tragiker aber in noch einem Puncte verpflichtet, der zugleich Bezug hat auf den Zweck der künstlerischen Täuschung, der Illusion. Er soll nämlich das Costüm beobachten, diesen Ausdruck im weitesten Sinne genommen, wo er, seinem Grundworte, dem lateinischen consuetudo, entsprechend, Alles bezeichnet, was gebräuchlich und üblich, was innerhalb einer historisch bestimmten Zeit Gebrauch und Sitte im Denken, Handeln und Reden ist, und was somit auch zu einer vollständigen und richtigen Veranschaulichung jener Zeit und ihrer Personen und Begebenheiten gehört. Das Costüm macht sich allerdings entschieden genug geltend bei dramatischer Behandlung historischer Stoffe: wählt also z. B. ein Dichter zum Inhalt einer Tragödie den Tod Julius Cäsars, so sollen die Schauspieler nicht bloss gekleidet sein wie Römer: auch, und noch vielmehr, ja zu allervorderst in den Gesinnungen, welche sie darlegen, auch in Wort und That sollen sie Römer, und zwar Römer grade jener Zeit sein. Das ist eine billige Anforderung. Aber auch hier giebt es Mass und Grenze. In Einer Beziehung bindet sich kein Dichter an das Costüm, und diese Eine ungetreue Abweichung zieht nothwendiger Weise eine Menge anderer nach sich. Es ist die, dass der Dramatiker seine Personen, mögen sie auch einer längst vergangenen Zeit, einem andern Volke, ja mehreren verschiedenen Völkern angehören, dennoch eine und dieselbe Sprache, und die Sprache seines Volkes und seiner Zeit reden lässt. Hätte Göthe im Egmont das Costüm in der vollen und täuschenden Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit beobachten wollen, so durfte natürlich kein Wort Deutsch darin vorkommen, und die Einen mussten niederländisch, die Andern spanisch sprechen. Hier wird also dem Zuschauer auch wieder eine ergänzende und nachhelfende Einbildung zugetraut, und die Poesie sucht auch hier ihre Wahrheit in einer andern Sphäre als in der gewöhnlichen. Sowie aber einmal der Dichter den Personen seines Dramas die Sprache seiner Zeit und seines Volkes in den Mund legen muss, so ist es nicht zu vermeiden, dass er ihnen auch mehr oder weniger von den Gedanken und Empfindungen seiner Zeit und seines Volkes in Kopf und Herz lege, und dass dieselben beide auch sonst mannigfach mit ihren Sitten in das Drama hineinspielen. Das Mehr oder Weniger hängt lediglich von dem jedesmaligen Stande der Bildung ab, von dem Masse historischer Kenntnisse, das Dichter und Volk besitzen, und das der Dichter bei seinem Volke voraussetzen darf. Je gebildeter das Volk ist, desto historisch treuer darf der Dichter sein; zur Treue bis ins Jota hinein wird man es aber schwerlich jemals bringen. Wenn jetzo Jemand in einem Julius Cäsar die Glocke schlagen und die Trommel rühren liesse, so dürfte man das billig tadeln: denn er sollte wissen, wie es das Publikum im Allgemeinen weiss, dass die alten Römer noch keine Glockenuhren und keine Trommeln hatten. Wenn Shakspeare es that (Jul. Cäs. 2, 1. 4, 2), so war dieser Anachronismus für ihn noch kein Fehler. Wenn jetzt Jemand einen Moment aus den Kriegen der Perser und der Griechen dramatisierte, so würde er die persische Nationalität der griechischen contrastierend entgegenzusetzen haben: dass Aeschylus in seinen Persern es nur schwach gethan, ist für ihn kein Vorwurf, da eine solche objectiv unterscheidende Betrachtungsweise überhaupt nicht und am allerwenigsten damals schon Sache des Griechen war. Diesen Masstab darf man bei der Beurtheilung, darf man auch beim Abfassen dramatischer Dichtungen niemals aus der Hand verlieren, damit weder die Kritik noch die Poesie von der altklugen Gelehrtthuerei Schaden leide. Gelehrsamkeit und Bildung sind wahrlich nicht einerlei; der Dramatiker aber, wie überhaupt jeder Dichter darf es nur auf ein gebildetes Publicum absehn: er würde also die Illusion grade verfehlen, wenn er sie durch einen Wust von historischer und antiquarischer Gelehrsamkeit erzwingen wollte. Bei der grossen und mannigfachen Freiheit, die also dem Tragiker gegenüber dem historisch Gegebnen vergönnt ist, braucht man nun wahrlich nicht zu fürchten, dass er dem Zuschauer bei der Behandlung historischer Stoffe nur lauter längst Bekanntes wieder aufwärmen, und dieser darüber die Lust und Geduld verlieren werde. Es haben also aus vielfältigen Gründen diejenigen Unrecht, die sich in der Tragödie vom Historischen abwenden, die für ihre Anschauungen die Formen der Wirklichkeit selber erst ganz und gar erfinden und ersinnen. Solche Tragiker genügen niemals in rechter und voller Weise dem, was eigentlich Zweck und Wesen ihrer Kunst ist: denn mit erfundenen Geschichten können sie nie in dem gleichen Grade, wie mit wahrhaften, die welthistorische Idee von der Unzulänglichkeit alles Menschlichen zum Bewusstsein bringen; sie erschweren sich auch selbst von vorn herein das Gelingen ihrer Arbeit, indem ihnen nicht so wie dem historischen Tragiker die Reproduction auf halbem Wege entgegenkommt; und in den meisten Fällen wird das Interesse, das sie erwecken, eher nur eine neugierige Spannung sein als wahrhafte künstlerische Theilnahme. Dergleichen Tragödien sind auch überall erst in solchen Zeiten auf die Bahn gekommen, wo die Poesie bereits überreif war und sich dem Verfalle entgegen neigte, oder wo sie vielleicht blühte, aber nicht auf dem Boden einer allgemeinen nationalen Kunstbildung. Bei den Griechen ist das erste und vielleicht auch das einzige Beispiel der Art die Blume des Agathon, eines Zeitgenossen des Euripides; uns übrigens nur dem Namen nach bekannt. Die Engländer haben dergleichen erst seit dem vorigen Jahrhundert: Shakspeare benutzte für seine Schöpfungen noch keine andere Quelle als Geschichte und Sage. Wir seit Lessing. Gewöhnlich sind es sogenannte bürgerliche Trauerspiele: d. h. es treten darin Personen auf aus den niederen Ständen der menschlichen Gesellschaft: Namen von erfundenen Königen und Helden würden zu sehr die Geltung geschichtlicher Wahrheit ansprechen und dadurch den Dichter von vorn herein gar in eine schiefe Stellung versetzen. Das historische Trauerspiel dagegen ist natürlich auf Personen der Art angewiesen als diejenigen Puncte, an welche die Geschichte der Menschheit ihre Fäden anzuknüpfen pflegt; deshalb wird die historische Tragödie auch die heroische genannt. Nun die Comödie. Während der Grundton der tragischen Stimmung die Wehmuth ist, ist der Grundton der komischen die Laune: d. h. während bei der Tragödie das Gefühl von seinem Zwiespalt mit der Wirklichkeit schmerzlich berührt wird, setzt es sich in der Comödie leichtsinnig, ja leichtfertig scherzend darüber hinweg; es lässt hier den Stachel nur in so weit an sich kommen, als er kitzelt und zum Lachen reizt. Und in dieser Stellung gegenüber der Wirklichkeit wird das Gefühl gewöhnlich noch unterstützt von dem Verstande, indem auch dieser sein Mass an dieselbe legt und sich auch weiter nicht betrübt, wenn beide nicht recht zu einander stimmen wollen, sondern nur lacht über das Lächerliche und seinen Spott treibt mit der Thorheit. Erst wenn die Laune sich zum Humor, der Spott sich zur Ironie erhebt, erst dann erscheint jener Widerspruch in grösserer Tiefe und Ernstlichkeit: denn nun gesellt sich zu der Laune auch die Wehmuth, und der Spott veredelt sich zu bitterm Zorn und stolzer Verachtung. Aber die Ironie beruht doch immer auf dem Spotte, und der Humor lässt, wie bereits früherhin (S. 204) ist bemerkt worden, in der Comödie die launige Seite vorwalten: das Wehmüthige des Humors wird von ihr übertönt; so dass die wesentliche Grundstimmung dennoch die Laune bleibt, und mit ihr verschwistert der Spott. Damit ist nun der Comödie in Bezug auf die Idee eine ganz andere Richtung angewiesen, als die wir bei der Tragödie haben kennen lernen; und die Wirklichkeit, unter deren Formen sie die Idee zur Anschauung bringt, kann demgemäss auch nicht die gleiche sein als die Wirklichkeit der Tragödie. Die Comödie geht freilich auch von einer Unzulänglichkeit aus: Gefühl und Verstand widersprechen auch hier der Wirklichkeit, weil sie in ihr etwas Unzulängliches vorfinden: aber sie können den Zwiespalt nur darum so leicht verschmerzen und verscherzen, weil sie der Menschenwelt hier nicht die göttliche Allmacht und Gerechtigkeit mit ihren Gesetzen und Fügungen gegenüberstellen, sondern nur was die Menschen selbst unter sich aus ihrer Sittlichkeit und Verständigkeit heraus als gut und recht und geziemend auffassen; weil sie also das menschliche Treiben nicht contrastieren mit der göttlichen Weltordnung, sondern mit der menschlichen, mit einer von den Menschen selbst gesetzten. Die Tragödie misst den Menschen mit der Göttlichkeit, die Comödie mit der Menschlichkeit. Jene verweilt mithin auf einer höheren, diese auf einer tiefer liegenden Stufe der Weltanschauung. Das Gebiet der Comödie ist aber nicht bloss tiefer gelegen: es ist eben deshalb auch beschränkter, hat eine geringere Ausdehnung. Tragisch betrachten kann man die ganze Weltgeschichte, weil die ganze, gesammte Weltgeschichte immer nur von Neuem darthut, dass der Mensch nichts sei vor Gott, dass Keiner etwas vermöge gegen die göttliche Weltordnung: vor der menschlichen Weltordnung bestehn aber Viele; nicht an Jedem finden Gefühl und Verstand über Verkehrtheiten zu scherzen und über Lächerlichkeiten zu spotten. Gebrechlich ist alle Welt: aber nicht alle Welt ist thöricht. Mithin ist, verglichen mit der Tragödie, die Comödie sehr bedingt und beschränkt. Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, weil sie überall in ihr jene Grundidee wieder findet: der Comödie ist die Wirklichkeit nur komisch, wenn sich irgendwo in derselben Verkehrtheit und Unverstand zeigen. Deshalb ist auch das Lasterhafte in der Comödie höchstens vorübergehend zulässig: denn da ist mehr als blosse Verkehrtheit, mehr als blosse Unzulänglichkeit vor den menschlichen Sittengesetzen, mehr als ein spöttischer Conflict des Verstandes und ein bloss launiger des Gefühls. Laune und Spott, diese komischen Widersprüche, tragen aber ihre Aufhebung und Versöhnung eben sowohl in sich selbst als die tragische Wehmuth. Die Wehmuth findet ihren Trost in resignierter und gehorsamer Ergebung; Laune und Spott darin, dass solche Verstösse gegen Gefühl und Verstand zwar allenfalls häufig vorkommen, aber nicht immer und überall; dass daneben das menschlich Gute und Rechte immer noch bestehn bleibe; wie man ja auch vom Standpuncte eben des Guten und Rechten aus jene Verstösse als solche erkannt hat. Freilich schmeckt diese Aufhebung des Conflictes stark nach Selbstgenügsamkeit: der producierende Dichter, wie der reproducierende Zuschauer können nur dann recht scherzen und spotten, wenn sie sich selber unantastbar auf dem rechten Standpuncte fühlen oder glauben, wenn sie der angenehmen Ueberzeugung leben, dass wenigstens sie nicht zu der lächerlichen Hälfte der Menschheit gehören. Diess menschliche Mass, das an der Wirklichkeit bloss den Widerspruch der Laune und des Spottes entdeckt, verliert jedoch der Dramatiker alsobald aus der Hand, wie er sich an die Vergangenheit wendet. Denn die Geschichte erzählt wahrlich von mehr als bloss von menschlichen Thorheiten und Lächerlichkeiten; die Poesie kann und darf jene tragische Idee, die sich in der Geschichte überall offenbart, nicht übersehen: ein historisches Drama wird also, wenn es wirklich ein historisches ist, immer nur eine Tragödie sein, grade wie auch das wahre Epos immer einen ernsten Sinn besitzt. Der Comödie dagegen verbleibt die Gegenwart, verbleibt eine Wirklichkeit, die dem menschlichen Geiste noch nicht zur Geschichte geworden, in der er selber noch befangen ist, und die sich ihm deshalb noch nicht so objectiviert hat, dass er in all ihren Begebenheiten fähig wäre, jene tiefere, tragische Idee zu erkennen; er kann sie also, wenn er sie dennoch in ideale Beziehung bringen will, nur noch in Beziehung bringen zu der bedingteren und eingeschränkteren und oberflächlicheren Idee der komischen Poesie. Demnach nimmt die Comödie im Bereiche des Dramas ungefähr denselben Platz ein, wie im Bereiche der Epik die Satire: denn die Satire ist ja eine auf die Gegenwart gerichtete didactische Epik. In der That besteht auch zwischen beiden Dichtarten ein historischer Zusammenhang: bekanntlich hat sowohl das Nationallustspiel der Römer seinen ersten Ursprung genommen aus ihrer Satire, als auch späterhin wieder die Satire sich unter bedeutendem Einfluss der alten attischen Comödie weiter ausgebildet hat: Horaz nennt (Sat. 1, 4) als des Lucilius Muster Eupolis, Cratinus, Aristophanes u. a. Grade wie nun die Satire an der Wirklichkeit lehrt, welche den Dichter gegenwärtig umgiebt, wie es die moralischen Gebrechen seiner Zeit sind, auf welche der Satiriker seine spottende oder strafende Rede richtet: grade so fasst auch der Komiker zunächst nur seine Zeit ins Auge mit ihren Verkehrtheiten und Lächerlichkeiten und pflegt demgemäss auch aus ihr seine Formen zu entnehmen, Charactere, wie sie in ihr zu Hause sind, Begebenheiten, wie sie in ihr sich ereignen. Und wo er, was jedoch immer selten geschieht, sich an eine vergangene Wirklichkeit anschliesst, wo er die Handlung aus Begebenheiten bildet, die der Geschichte oder der Sage zugehören: auch da ist diese historische Form doch nur eine blosse Form, ein blosser Schein und Vorwand; im Grunde meint er auch da immer nur seine Zeit, und wenn schon er ihr die Larve einer längst vergangenen vors Antlitz gesetzt hat, so schaut sie doch mit ihren eigenen Augen heraus. So z. B. in den sagenhaften und märchenhaften Lustspielen von Tieck, im Gestiefelten Kater, im Däumchen. Da thut freilich der Dichter, als wolle er nur alte Geschichten dramatisieren: eigentlich aber steht er als Satiriker recht mitten drin in den Albernheiten der Gegenwart. Schon aus dem bisher Besprochenen ergiebt es sich überzeugend genug, mit welchem Rechte früherhin (S. 205) ist behauptet worden, die Tragödie sei um vieles epischer als die Comödie. Denn da das eigentliche Gebiet des Epos die Vergangenheit, und sein Sinn immer ein ernster ist, so wird auch ein Drama, welches vergangene Wirklichkeit mit den Augen der Wehmuth betrachtet, die Tragödie wird näher an das Epos grenzen als die Comödie, die mit Laune und Spott in der Gegenwart stehn bleibt, aus der Gegenwart ihre Anschauungen und die Formen der Anschauung entlehnt und entlehnen muss. Das Unepische der Comödie erweist sich aber auch noch anderweitig. Die Tragödie macht, wie sie überhaupt historischer Natur ist, auch zu Trägern ihrer Handlung historische Personen: wenigstens die hauptsächlichen müssen solche sein; und diese werden dem Character gemäss gestaltet, den sie in der Geschichte aufweisen. Die Personen der Tragödie sind Individuen. Anders in der Comödie. Sie steht in der Gegenwart und schaut in die Gegenwart hinein, in eine noch unhistorische Wirklichkeit, aus der sie deshalb auch keine historischen Individualitäten holen kann von der Beschaffenheit wie die Individuen der Tragödie. Die Comödie zeigt immer und wesentlich ganze Arten. Sie bringt also z. B. kein historisch bestimmtes Individuum, mit der Eigenschaft des Geizes oder des Zornes oder der Prahlerei behaftet, auf die Bühne, sondern nur überhaupt einen Geizhals oder Zornigen oder Prahler und giebt diesem erst nach Massgabe der Bedingungen der Gegenwart eine Persönlichkeit. Die Tragödie gestaltet ein historisch gegebenes Individuum gemäss seinem gleichfalls schon historisch gegebenen Character: die Comödie wählt frei einen Character und individualisiert ihn in den Formen der gegenwärtigen Wirklichkeit. Dem könnte nun zu widersprechen scheinen, dass die Comödie oft genug historische, zwar der Gegenwart angehörige, aber doch historische, nämlich wirkliche Personen, eigentliche Individuen zu Trägern ihrer Handlung gemacht habe, wie z. B. Socrates auftrete in den Wolken des Aristophanes. Aber der Widerspruch erledigt sich hier wie überall in dergleichen Fällen auf die leichteste Weise. Aristophanes hatte es da eigentlich gar nicht auf Socrates als historisches Individuum abgesehen, sondern nur auf die Neigung seiner Zeit zu unpractischem Philosophieren, auf die ganze Art, auf den Stand und Character der Philosophen, mochten das nun Sophisten sein oder, wie Socrates, deren Gegner. Und diese ganze Art unpractisch grübelnder und redender Menschen fasste er nun in die Eine Figur des Socrates und unter dessen Namen; das Einzelwesen sollte ihm nur als Umkleidung, als concretere Gestaltung eines allgemeinen Spottes dienen. Daher hatte denn auch der Aristophanische Socrates so wenig gemein mit dem wirklichen; daher konnte der Dichter den Socrates der Bühne so viel Dinge thun und sagen lassen, von denen er sehr wohl wusste, dass der Socrates der Wirklichkeit sie nie gesagt hätte und nie sagen würde. Uebrigens begegnen uns solche scheinbare Individuen eigentlich auch nur in der ältern attischen Comödie: in der mittleren und in der neueren kommen sie kaum mehr vor, theils weil die ältere es in dieser poetischen Licenz mitunter zu weit mochte getrieben haben, theils auch weil dergleichen gar nicht nothwendig zum Wesen der Comödie gehört, weil ja auch auf andern Wegen die allgemeine Art immer noch genügend kann besondert werden. Wie wenig es der Comödie auf bestimmte Individuen, wie es ihr dagegen nur auf ganze Arten ankomme, das zeigen recht deutlich andere satirische Lustspiele von Tieck, z. B. der Prinz Zerbino. Hier ist die Satire allerdings gegen mehrere bestimmte Personen jener Zeit gerichtet, gegen Nicolai u. a.: aber Tieck fühlte sehr wohl, dass es dem Wesen des Lustspieles nicht angemessen wäre, diese Personen nun auch ganz in ihrer wirklich gegebenen Individualität aufzufassen: er verallgemeinerte sie demnach so, dass sie als Repräsentanten ganzer Arten gelten konnten; und um sie so verallgemeinern zu dürfen, vertauschte er auch die wirklich gegebenen Namen gegen fingierte, Nicolai gegen Nestor u. s. f. Ein Verfahren, das jenem Aristophanischen grade entgegengesetzt ist oder vielmehr nur entgegengesetzt scheint: denn eigentlich führen beide Wege zu dem gleichen Ziele. Aristophanes gebrauchte den Namen des Socrates und auch diess und jenes von des Socrates Wesen, um darin die ganze Art der ihm widerwärtigen Philosophen zu individualisieren; Tieck warf den Namen Nicolais fort und erweiterte das Wesen desselben so, dass er tauglich wurde zur stellvertretenden Individualisation aller litterarischen Philister. Jetzt ein neuer Unterschied zwischen Tragödie und Comödie, der mit dem so eben erörterten auf das engste zusammenhängt und gleich diesem zeigt, um wie vieles entfernter die Comödie von dem Epos sei als die Tragödie. Von der Tragödie ist dargethan worden, dass für sie der Dichter die Formen der Anschauung zwar gänzlich erfinden könne, dass er jedoch aus mehr als einem Grunde besser thue, wenn er sich an das von Sage und Geschichte ihm Gebotene anschliesse; dass auch in den Blüteperioden der Kunst die Tragiker nie anders verfahren seien. Nicht so ist es, noch kann es so sein bei der Comödie. Ihre Wirklichkeit liegt in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit; ihre Individuen sind auch da, wo sie einen historischen Anschein tragen, in der That immer nur Individualisationen. Man kann aber die Personen, kann die Charactere nicht von der Handlung trennen, die ja immer erst aus dem Wechselstreite des Thuns und des Leidens derselben erwächst. Mithin ist, auch was nun diese betrifft, der Lustspieldichter auf eben das angewiesen, was dem vollendeten Tragiker verwehrt ist, auf freies Erfinden auch der Handlung. Seine Kunst besteht also nicht, wie die des Tragikers darin, eine historisch überlieferte Reihenfolge von Begebenheiten der Idee und den Characteren der Personen gemäss zur Handlung zu gestalten, sondern darin, dass er zu der Idee erst die passlichen Personen und Charactere, dann zu beiden, der Idee und den Characteren, eine Wirklichkeit von dramatischen Begebenheiten, eine Handlung erfinde. Dem Tragiker ist beides gegeben, die allgemeine tragische Idee sammt dem besondern historischen Material; dem Komiker nur die allgemeine Idee der Comödie: alles Uebrige ist seinen Kräften anheimgestellt; und damit ist ihm die Arbeit, je nachdem man es ansieht, leichter und schwerer gemacht. Während mithin die Tragödie gleich dem Epos vorzugsweise die Erinnerung in Anspruch nimmt, und die Phantasie nur in so weit einwirkt, als es darauf ankommt, umzugestalten: ist dem Epos grade entgegengesetzt die Comödie lediglich auf die Phantasie angewiesen. Diese Freiheit der Phantasie kommt auf der einen Seite den Zwecken der Comödie sehr zu Statten: denn erst bei ihr können Laune und Spott sich in all ihrem Muthwillen gehn lassen; wie denn auch z. B. Aristophanes sich dieses Verhältniss wohl zu Nutze gemacht hat, und ebenso Hans Sachs in seinen Fastnachtsspielen und Jacob Ayrer in seinen Possenspielen, die reich sind an Situationen, welche von der kecksten Phantasie und mit der übermüthigsten Laune hingeworfen sind. Auf der andern Seite jedoch muss sich der Lustspieldichter wohl vorsehen, dass die Freiheit der Phantasie nicht ausarte in Zügellosigkeit; dass sie den Verstand nicht des Antheils beraube, der ihm einmal an jeder poetischen Conception gebührt; dass sie keine Planlosigkeit und Verwirrung mit sich führe, wie das in den meisten Lustspielen von Tieck entweder durchweg oder wenigstens stellenweise der Fall ist. Wo aber Phantasie und Verstand sich wohl zu vertragen wissen, da machen sie für die Comödie ebendasselbe möglich, was sich für die Tragödie nicht recht schicken will, nämlich eine fein und reich verschlungene Verwickelung: denn diese ist ja nur zu bewältigen, von Seiten des Dichters wie des Zuschauers, wo Phantasie und Verstand das Uebergewicht bei der poetischen Conception besitzen. Man nennt solche fein verwickelte Comödien Intriguenstücke; Meister darin sind die Spanier und Shakspeare. Hier wird eine besonders scharfe und aufmerksame Durchführung der Charactere verlangt: ohne eine solche würde man sich unmöglich hindurchfinden durch das in einander gewobene Gewirr von Begebenheiten und streitenden Interessen. Das weniger verwickelte Lustspiel, wie z. B. jene Fastnachtsspiele und Possenspiele, will zwar die Charactere auch festgehalten haben: das versteht sich von selbst; aber sie brauchen hier nicht so fein und scharf ausgeprägt zu sein, und Phantasie und Laune und Spott können sich mehr verlegen auf das Komische der äusseren Begebenheiten, der Situationen. Man pflegt wohl diese beiden Arten von komischen Dichtungen zu unterscheiden als die höhere oder feinere und die niedere Komik: es kann aber diese Unterscheidung natürlich nicht überall mit Sicherheit durchgeführt werden, da die Grenzen verschwimmen; sie ist auch falsch, wenn sie eine Art unter die andere setzen soll, da doch jede für sich so viel werth ist als die andere; in die Beurtheilung solcher Dichter wie Aristophanes hat sie unnütze Streitigkeiten gebracht. Die Aristophanische Komik ist eine niedrige, wenn die Niedrigkeit erkannt wird an der Einfachheit der Composition und an dem phantastischen Uebermuth in den einzelnen Situationen; zugleich aber auch eine sehr hohe, wenn man den Schwung des Geistes und des Gemüthes mit in Anschlag bringt. Wir kommen nunmehr zur letzten unter den characteristischen Eigenthümlichkeiten der Comödie. Es ist hier also der Phantasie des Dichters volle Freiheit gegeben; es umschliessen ihn keine Schranken der historischen Ueberlieferung; er ist nirgend von bereits festgesetzten Persönlichkeiten beengt: da kann es denn nicht ausbleiben, dass seine eigne Persönlichkeit, seine Subjectivität mehr in den Vordergrund trete, als das in der Tragödie möglich ist. Den Tragiker nöthigt, und das theilt er wiederum mit dem Epiker, das ganze Wesen seiner Dichtungsart zur grössten Objectivität; je mehr er von seinen subjectiven Empfindungen und Urtheilen einmischt, desto mehr wird er auch die reine, volle Wirkung seines Gedichtes beeinträchtigen. Der Komiker dagegen, der auch auf der Bühne mitten in der Gegenwart und unter Zeitgenossen steht, der mit seinem Gefühl und seinem Verstande dem Unverstande und dem Ungefühl Andrer, und zwar wiederum der eigenen Zeitgenossen lachend entgegentritt: der Komiker wird sich gegen Zweck und Bedeutung seines Gedichtes nicht so sehr verfehlen, wenn er gradezu sein Ich geltend macht; es wird ihm das kein Vorwurf sein, obschon man es auch nicht fordern kann als zur Comödie nothwendiger Weise gehörig. Erlaubt hat sich aber dergleichen, und in reichlichem Masse, die ältere attische Comödie, wie wir sie aus Aristophanes kennen. Und zwar wirft sich da die Subjectivität in denjenigen Theil des Dramas, der allerdings auch am meisten geeignet ist, sie in sich aufzunehmen, in die strophischen Gesänge und in die Parabasen des Chores. Der Chor der Tragödie steht zwar der Regel nach ganz ausserhalb der eigentlichen Handlung: gleichwohl dient er niemals dem Ich des Dichters; was er sagt, er sagt es nicht in dessen Namen und als dessen Meinung: er ist nur die begleitende vox populi vox dei. Anders der komische Chor. Obschon dieser gewöhnlich grade auf das Thätigste in die Handlung eingreift, so steht er doch namentlich in den Parabasen wieder ganz abgesondert von derselben da: was er hier vorträgt, geht die Handlung ganz und gar nicht, sondern nur den Dichter an; und auch wo sein Gesang sich mit Laune und Spott zu dem hinwendet, was auf der Bühne geschieht, ist es häufig nur der Dichter der in der subjectivsten Weise durch ihn sich äussert. Das ältere und theilweis noch als Alterthum so fortbestehende Lustspiel der modernen Völker hat etwas aufzuweisen, das sich dem Chor der attischen Comödie wohl vergleichen lässt. Es ist diess die lustige Person, der Pickelhering, der Hanswurst, der Clown (d. h. Bauer), der Casperle, und wie sie sonst noch heisst. Zur eigentlichen Handlung trägt auch sie in der Regel nichts bei: aber es ist ihr Geschäft, wie das des attischen Chores, den Verlauf der Begebenheiten zwar nicht im Gesange, aber sonst mit Spöttereien zu begleiten, die sie entweder in unumwundener Schalkheit vorbringt, oder die auch ironischer Weise eingekleidet sind in Plumpheiten und Dummheiten. Wie gesagt, in der Handlung hat der Pickelhering der Regel nach wenig zu thun: oft aber wendet er sich auch ganz aus ihr hinaus und redet frischweg die Zuschauer an, um ihnen im Interesse des Dichters Fingerzeige zu geben: er ist die Mittelsperson zwischen dem producierenden Dichter und dem reproducierenden Publicum und führt mitten in der Handlung für beide das Wort. Ein Deutscher, der sich dieser lustigen Person mit besonderem Geschick bedient hat, Christian Weise, sagt über deren Bedeutung: „Die Sache beruhet auf einer also genannten Prosopopöia. Denn ein jedweder Mensch ist so gesinnet, dass er über anderer Leute Verrichtungen sich verwundert, und wo nicht öffentlich, dennoch im Herzen eine kleine Satyram darüber machet. Absonderlich wenn etliche Personen auf dem Theatro vorgestellet werden, so geschieht es darum, dass die Zuschauer sich dabei verwundern und von der Sache selbst ernsthaft oder höhnisch raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in solcher Verwunderung gleichsam eine Secunde gegeben werde, so wird eine Person darzu genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen Satyrischen Inclination vertreten muss. Also trifft es sich unterweilen, dass eine solche Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“ So viel von der Comödie. Jetzt zum Schluss noch Einiges über einzelne Abarten und Ausartungen der dramatischen Poesie, welche nicht mit in den Gegensatz von Tragödie und Comödie zu bringen waren, und über die antiken und modernen Verschmelzungen und Vermischungen dieser beider. Schauspiel: mit dieser eigentlich ganz allgemeinen Benennung bezeichnet man in neuerer Zeit all solche dramatische Dichtungen, die in der Exposition und in der Verwickelung zu ernst aussehen, als dass man sich getrauen möchte sie Comödien, und in der Auflösung wieder zu heiter, als dass man es erlaubt hielte, sie Tragödien zu nennen; nicht selten bedient man sich auch der ebenso allgemeinen Bezeichnung Drama, wofür im sechzehnten Jahrhundert, bei Hans Sachs, das Wort Spiel gebräuchlich war. Betrachten wir jedoch all die zahlreichen Stücke näher, welche man mit diesen Namen belegt, so werden wir alsbald innerhalb des weiten Raumes, den sie einnehmen, zwei scharf genug bezeichnete Abtheilungen gewahren. Ein Theil der sogenannten Schauspiele sind gradezu Trauerspiele, sind Tragödien, nur mit der characteristischen Eigenthümlichkeit, dass die Lösung des tragischen Widerspruchs innerhalb der Handlung selbst erfolgt; dass, um mit Aristoteles zu sprechen, die Reinigung der Furcht und des Mitleidens nicht bloss in uns als ein Ergebniss der Dichtung liegt, sondern dass sich schon innerhalb der Tragödie selbst, und zwar mit der abschliessenden Hauptbegebenheit der Gegensatz zwischen den Bestrebungen der Menschen und der höheren Weltordnung ausgleicht: die Empfindung der Wehmuth, mit welcher wir bis gegen das Ende hin die Handlung begleitet haben, wird noch an diesem Ende selbst und noch vor dem letzten Ende zum Frieden gebracht und getröstet; denn wir erblicken da in einer concreten Bühnenbegebenheit und nicht bloss in unserm Gemüthe den menschlichen Irrthum in das göttliche Recht aufgegangen und den Zwiespalt beider versöhnt und aufgehoben. Die Alten machten zwischen solchen Tragödien und andern, welche mit der herbsten Dissonanz abschliessen und deren Ausgleichung dann dem Zuschauer überlassen, billigerweise keinen Unterschied in der Benennung, hiessen beides Tragödien. Aeschylus nannte die Eumeniden sowohl eine Tragödie als den Agamemnon: wir würden jene nur ein Schauspiel zu nennen wagen; und ebenso würden wir den Philoctet des Sophocles, die taurische Iphigenie des Euripides nicht Tragödie, sondern wiederum nur Schauspiel betiteln; wie denn auch Göthe seine Iphigenie in der That so betitelt hat. Und die Alten thaten daran ganz recht: denn es ist in der Sache ganz das Gleiche, ob die erregte Wehmuth schon innerhalb des Dramas selbst oder erst nach seiner Vollendung versöhnt wird. Die Hauptsache ist beidemal da, erst die Wehmuth, dann deren Versöhnung. Wir Neueren aber haben uns nach und nach in dem Wahne befestigt, wenn eine Tragödie nicht auf eine gewaltsame Art schliesse, wenn am Ende derselben nicht zum mindesten Eine Leiche auf der Bühne liege, so sei sie auch keine Tragödie; und so haben denn die Deutschen für dergleichen Stücke jene indifferenten Namen Schauspiel und Drama erwählt, während die Franzosen im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert und damals zuweilen auch die Deutschen nach einem noch unpasslicheren, dem Namen Tragicomödie, gegriffen haben, wie z. B. Corneille für seinen Cid. Dieses Wort ist einmal ebenso falsch gebildet, als wenn man Idolatrie sagt für Idololatrie: es sollte Tragicocomödie heissen; sodann aber spricht es aus, dass hier eine Vermischung tragischer und komischer Elemente stattfinde, was nicht der Fall ist. Göthe hätte in der Iphigenie und im Torquato Tasso wohl den Namen Tragödie wagen können, so gut wie Corneille nicht angestanden hat, seinen Cid späterhin Tragödie zu überschreiben. Schauspiele dieser Art gehören ganz in die Kategorie des heroischen Trauerspiels. Andre, und deren ist weitaus die grössere Zahl, sind dagegen mit dem bürgerlichen zusammenzustellen. So namentlich die von Iffland und Kotzebue. Und hier wäre in den meisten Fällen der Name der Tragicomödie schon weit eher an seinem Platze. Schon in einem bürgerlichen Trauerspiel mit unglücklicher Katastrophe ist es schwierig, den wahren Zwecken der Tragödie vollkommen zu genügen; ein bürgerliches Stück aber, das nach einer sogenannten tragischen Verwickelung glücklich endigt, muss nun gar untragisch ausfallen. Von einem Widerstreben gegen das Schicksal und von einer Versöhnung mit demselben kann da nicht wohl die Rede sein: es wird Alles hinauskommen auf die Erbärmlichkeiten, womit sich die Alltagsmenschen das Leben unter einander schwer machen, auf einen Kampf mit Neid und Bosheit u. dgl., und die Versöhnung wird zuletzt darin bestehn, dass der Held etwa alle Kabalen glücklich überwindet. Das ist aber offenbar eine Wirklichkeit, die sich weit besser für die Comödie schicken würde, für ihre Auffassung in Spott und Laune. Der Missgriff hat sich auch dadurch gerächt, dass all solche Schauspiele mehr oder weniger, stärker oder schwächer komisch gefärbt sind: Iffland z. B. hat es nicht unterlassen können, es hat ihn so zu sagen das künstlerische Gewissen dazu getrieben, in seine Jäger einige Scenen und Situationen einzuschieben, die durchaus komischer Natur sind; und der Held von Kotzebues Menschenhass und Reue brauchte in Wort und That nur wenig verändert zu werden, um der Held eines eigentlichen Lustspieles zu sein. Und damit können wir zu einigen Bemerkungen über die wirkliche Vermischung des Komischen und des Tragischen übergehn. Bei den modernen Völkern begegnet uns dergleichen zuerst schon im Mittelalter, als es wohl bereits Tragödien, aber noch keine selbständigen Comödien gab. Da kam es auf, den heiligen Ernst der Passionsdramen mit komischen Situationen und Reden zuerst nur ganz äusserlich und mechanisch zu durchflechten, je mehr und mehr griff diese Einmischung ungebührlich um sich, endlich mit dem Beginn der neuen Zeit gieng daraus, indem das Komische sich selbständig machte, auch eine neue, eigne Form der Kunst, die Comödie, hervor. In Griechenland aber ist eine dem ähnliche Mischung beider Arten wo nicht älter als deren Trennung, doch gewiss schon ebenso alt. Ich meine das Satyrspiel. In ihm ward ein Versuch gemacht, den Zwiespalt der beiden Arten des Dithyrambus einigend zu vermitteln, und das geschah vielleicht, noch ehe man dazu gelangte, aus dem ernsthaften die Tragödie, aus dem heiteren die Comödie zu entwickeln. Bekanntlich galt die Blütezeit der griechischen Tragödie hindurch in Athen die Uebung, wenn bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste ein Dichter eine zusammenhangende Dreiheit von Tragödien, eine s. g. Trilogie, vorführte, noch als viertes ein Satyrspiel beizugeben, wodurch die Trilogie zur Tetralogie wurde: das heisst, grade wie man innerhalb der Tragödie dem Volke zu Liebe noch den alten dithyrambischen Chor beibehielt, so liess man auch neben derselben, wenn schon untergeordnet, das alterthümliche Satyrspiel hergehn; das Alte ward aus Rücksichtnahme bewahrt, aber in den Hintergrund geschoben. Es ist zu bedauern, dass von den Satyrspielen des Aeschylus keines mehr vollständig auf uns gelangt ist: bei ihm, der noch am Anfang der ausgebildeten Tragödie steht, und der zugleich als Meister im Satyrspiele gerühmt wird, würde sich gewiss am deutlichsten zeigen, wie beide Dichtungsarten sich unter einander und rückwärts zum Dithyrambus verhalten. So aber besitzen wir überhaupt nur noch ein einziges, und diess grade von der dritten, schon abwärts leitenden Stufe des griechischen Dramas: den Cyclops des Euripides. Indessen so viel sieht man auch aus diesem noch, wie das ποίημα σατυρικὸν eine beinah unvermittelte Mischung von Tragik und Komik war, und zwar in der Weise, dass sich die Tragik wiederum auf der mehr epischen, die Komik auf der lyrischen Seite hielt: es wird im Cyclops, und es ward, so weit unsere Nachrichten gehn, überall im Satyrspiel eine ernste aus der Götter- oder Heldensage entlehnte Handlung begleitet von den muthwilligen Scherzen eines Satyrchors; eben wie beim Dithyrambus der episch erzählende Vorsänger in der Mitte gestanden hatte eines ihn umtanzenden Chores von Sängern in Bocksfellen. Sodann die neuere Zeit, das letzte Jahrhundert. Man fühlte sich getrieben doch auch etwas für die Weiterförderung der Kunst zu thun. Eine neue Dichtungsart über das Drama hinaus war aber nicht mehr zu erfinden: mit ihm war einmal der Kreis der Entwickelung für immer abgeschlossen. Es blieb also nur übrig, dasjenige, was fertig und vorhanden da lag, hier zu spalten, dort zu verbinden. Und so ward denn auf der einen Seite von der Tragödie das sogenannte Schauspiel abgesondert; auf der andern aber mussten Tragik und Komik von Neuem in einander fliessen. Wir haben eine solche Verschmelzung vorher schon als beinahe unvermeidbar wahrgenommen an einem Theile der sogenannten Schauspiele. Es sind jedoch diese nur eine Abart des bürgerlichen Trauerspieles, und so überwiegt natürlich in ihnen das tragische Element, und das Komische zeigt sich nur mit einer gewissen Schüchternheit, oft sogar wider eigenes Wissen und Wollen des Dichters. Dem gegenüber nun bildete sich eine andere Mischung, in der das Komische die Oberhand behauptet; bildete sich eine Art von Lustspiel, bei der es zwar im Ganzen auf Zweck und Wesen der Comödie abgesehen ist, in die aber dennoch vorübergehend auch das Tragische Eingang gewinnt durch Situationen, die eine Rührung erwecken nach Art der tragischen Wehmuth. Es ist diess das rührende Lustspiel Vgl Gellert, Pro comoedia commovente commentatio, Lips. 1751. , das wir Deutschen Lessingen verdanken, er den Engländern und namentlich Diderot. Natürlich ist es in vielen Fällen schwer, das rührende Lustspiel, die tragisch gefärbte Comödie, streng zu sondern von dem bürgerlichen Schauspiel, der komisch gefärbten Tragödie; wie denn auch Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm zuletzt ebensowohl zu den Schauspielen könnte gerechnet werden. Sie müssen aber leicht in einander laufen und sich vermischen, da sie selber nur Mischungen sind. Aus der Litteratur streichen kann man diese bürgerlichen Schauspiele, diese rührenden Lustspiele nicht: sie sind einmal vorhanden, sind eine Thatsache, die man als solche anerkennen muss. Aber es ist Vieles in der Geschichte, das man nicht ableugnen kann, ohne dass man doch sich daran freuen möchte. So ists auch mit dergleichen Dramen: für den, der sich nicht bloss durch Rührung will amüsieren lassen, sind sie neben so vielem Andern nur ein trauriges Merkmal mehr von dem nicht ganz natürlichen und nicht ganz gesunden Leben unserer neueren Litteratur. Allerdings kommt dergleichen Mischung von Tragödie und Comödie scheinbar bereits viel früher und in ganz anderer Zeit vor: man kann sich auf die Engländer des sechzehnten Jahrhunderts, kann sich auf die Blütezeit der indischen Bühne berufen. Indessen die scheinbare Komik, welche Shakspeare und Kalidasa in ihre Tragödien verflechten, ist wahrlich kein blosser Ausdruck des Spottes und der Laune, ist in der That gar keine Komik: dem aufmerksamen Betrachter zeigt sich vielmehr in all dem der Humor und die Ironie, die in der reinen Tragödie nicht bloss zulässig sind, sondern sogar zu ihrer höchsten Vollendung dienen. Nächst dem bürgerlichen Schauspiel und dem rührenden Lustspiel hat endlich noch eine reiche und weitausgedehnte Abart der dramatischen Poesie ihren Ursprung erst in der modernen Welt gefunden: das Singspiel in all seinen mannigfaltigen Formen. Griechenland wusste von keinem eigenen Singspiele, weil es auch von keiner gesanglosen Tragödie oder Comödie etwas wusste: wie die epischen Aöden eben Aöden waren d. h. Sänger; wie auch noch die Homerischen Rhapsodien immerfort mehr gesungen wurden als gesprochen; wie es da keine Lyrik gab ausser im Gesange zur Lyra: so gehörte auch zum Drama, das ja aus dem lyrisch-epischen Gesange des Dithyrambus seinen Ursprung genommen hatte, wesentlich und untrennbar der musikalische Vortrag und, was wieder mit diesem durch das gemeinsame Gesetz des Rhythmus verbunden war, der Tanz; diess beides in den Chören: aber selbst der Dialog ist wohl nicht in der gewöhnlichen Haltung der Stimme gesprochen worden, sondern wie eben die Homerischen Rhapsodien mehr recitativartig gewesen. Auch die geistlichen Spiele des Mittelalters waren reich an Gesang sowohl einzelner Personen als ganzer Chöre; erst mit dem sechzehnten Jahrhundert, wo überhaupt die Poesie sich von der Musik trennte, verschwand der Gesang auch von der Bühne; obschon nicht plötzlich, nur nach und nach: von Jacob Ayrer giebt es noch ganze Dramen, die durch und durch sind gesungen worden; zwar in ziemlich roher und kunstloser Weise: sie sind nämlich strophisch abgefasst nach Massgabe bekannter Volkslieder, deren Melodie dann sich von Anfang bis zu Ende immer und immer wiederholt. Wie in Deutschland, so gieng es zur selben Zeit auch in anderen Ländern: überall hat sich die neuere Tragödie und Comödie gleich von vorn herein gesanglos ausgebildet. Nur in Italien blieb noch eine Erinnerung an den alten Zusammenhang der Kunst des Wortes und der Kunst des Tones, und ein Bedürfniss, diesen Zusammenhang nicht gänzlich fallen zu lassen. Zwar gab es auch da Tragödien und Comödien ohne Musik, ohne Gesang und Tanz; aber daneben verlegte man sich mit allem Fleiss und Eifer auch noch auf Dramen mit Musik und Tanz, auf Tragödien, die gänzlich, auf Comödien, die zum grösseren Theil für den musikalischen Vortrag bestimmt waren: kurz auf Singspiele, auf Opern und Operetten ( opera s. v. a. δρᾶμα ). Von Italien aus hat sich dann das Singspiel nach und nach auch in das übrige Europa verbreitet. Weil nun aber diese musikalischen Dramen einmal in einer Art von Gegensatz stehn zu den unmusikalischen, so ist es in ihnen auch zu einer ganz anderen Behandlung des dramatischen Stoffes gekommen. Im antiken Drama war die Musik der Poesie höchstens nebengeordnet, wo nicht untergeordnet: in der Oper macht sich jene zur Hauptsache, zur Herrin; die Poesie dient ihr nur noch; bei der ganzen Disposition des Stoffes werden vor allen Dingen die Bedürfnisse und der Vortheil der Musik ins Auge gefasst, und auch bei der weiteren Ausführung sollen die Worte eben nur eine nothdürftige Grundlage sein für die Pracht und Zierlichkeit des musikalischen Gebäudes. Eine nothwendige Folge dieses Verhältnisses ist, dass die Oper überall einen viel lyrischeren Character hat; dass sich hier das Drama beinahe gar zu deutlich zergliedert in eine nur obenhin episch angeordnete Reihe von lyrischen Zuständen; dass die aneinandergereihten Situationen zwar den Agierenden jedesmal zu dem vollsten musikalischen Ausdruck ihrer Empfindung Gelegenheit geben, ihr dichterischer Zusammenhang aber ein höchst lockerer, ihr dramatischer Verlauf nur leicht und oberflächlich skizziert ist; es bewährt sich darin die natürliche Verbindung, die zwischen der lyrischen Poesie und einer kunstmässigeren Musik besteht. Eine andere Folge, die zwar nicht grade so nothwendig ist, aber doch als schwer vermeidbar gewöhnlich eintritt, ist die Kunstlosigkeit der Operntexte, das Unpoetische des poetischen Theiles. Dichter und Musiker werden, wenn jeder etwas Rechtes leisten will, einander meist unbequem: den Dichter beengt die Suprematie, die der Componist anspricht; der Componist will nichts wissen von der Nebenbuhlerschaft des Dichters. Und so mögen sich nur solche zu Operndichtern hergeben, und die Componisten wollen auch nur solche, die eben nicht viel von Poesie in sich tragen. Grade bei den vorzüglichsten Opern darf man auf den Text nur ja nicht achten: er wird immer der leerste und albernste sein: ich erinnere des Beispiels wegen nur an die Zauberflöte; während Göthens Singspiele zwar componiert worden sind, aber die Musik dazu längst hat in Vergessenheit gerathen können. Eine Ausnahme macht Richard Wagner, der seine Operntexte selbst zu verfassen pflegt. Was somit der Oper an Poesie gebricht, sucht sie nun auf einer anderen Seite zu ersetzen: die Malerei, die Mechanik mit all ihren Künsten werden zu Hilfe gerufen, um die Sinne zu reizen, um durch allerlei Ueberraschungen den Geist gefangen zu nehmen und von höheren Anforderungen abzuziehn. Wie A. W. von Schlegel treffend sagt: „Die Anarchie der Künste, da Musik, Tanz und Decoration sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das eigentliche Wesen der Oper.“ Auf sie haben deshalb selbst die strengsten Theoretiker die beliebte Lehre von den drei Einheiten nicht anwenden mögen, wenigstens sie bei ihr niemals durchgesetzt, wenn schon namentlich ernsthafte Opern dieselben gern beobachten. Jetzt sind nur noch einige andere Arten dramatischer Poesie zu nennen, die sich auch, da in ihnen gleichfalls das poetische Element mit dem musikalischen verschmolzen oder verbunden ist, mit unter die allgemeine Art des Singspiels einordnen lassen. Zuerst das Vaudeville. Mit diesem Namen bezeichnet man in Frankreich Dramen von geringerem Umfange und meist komischer Art mit eingelegten einzelnen Arien und Chören: der Form nach sind sie eine Rückkehr zu der Art der geistlichen Schauspiele des Mittelalters. Sodann das Melodrama. So heissen Tragödien oder Schauspiele, in denen zwar nicht gesungen, aber der Dialog von Instrumentalmusik stellenweis begleitet und unterbrochen wird. Eine Nebenart bildet das Monodrama, das zuerst durch J. J. Rousseaus Pygmalion ist aufgebracht worden: es besteht in einem dramatisch gehaltenen Monolog, der von Musik begleitet wird. In Deutschland war eine der ersten und lange Zeit auch beliebtesten Nachahmungen dieser Art die Ariadne auf Naxos, welche der Schauspieler Joh. Christian Brandes 1774 als Glanzrolle für seine Frau verfasste. Die Grundlage dieses Monodramas bildet Gerstenbergs gleichnamige Cantate; in Musik gesetzt wurde es von G. Benda. Jetzt ist dieses Zwittergeschöpf der dramatischen Poesie von der Oper verschlungen. Endlich die Cantate und deren Unterart das Oratorium. In der Cantate zeigt sich das Lyrische des Singspiels auf die höchste Höhe gesteigert und das Epische gänzlich untergeordnet, nur verloren in leichte Umrisse, wie denn auch die Handlung überall nicht theatralisch dargestellt, sondern nur vorausgesetzt und es dem Hörer überlassen wird, sich dieselbe hinzuzudenken. Deshalb hat die Cantate kaum mehr etwas Dramatisches, sondern ist beinahe nur noch eine grössere lyrische Dichtung, die sich in verschiedenen Gliedern und in mannigfaltigen Formen der musikalischen Composition entwickelt. Cantate ist der allgemeine Name dieser Dichtungsart; hat sie geistlichen Inhalt, und ist sie zugleich mehr in die Länge und Breite, nämlich mit noch reicherer Lyrik ausgeführt, so heisst man sie nach dem Vorgange der Italiäner Oratorium. Deutsche Cantaten und Oratorien haben wir von namhaften Dichtern, von Ramler, Wieland, Gerstenberg, Herder und andern: allerdings konnten sie sich dazu eher verstehen, da hier beinahe reine Lyrik verlangt wird, und keine Anforderungen an dramatische Kunst auf eine solche Weise und unter Umständen gemacht werden, die jeden rechten Dichter, wie bei der Oper, abschrecken müssen. RHETORIK. Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, dass ῥήτωρ einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit; und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und Unterweisung von Rednern dienen sollte, zogen die Alten ausser dem, was den Redner ins Besondere angeht, auch Vieles mit hinein, was die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik nicht bloss den Bau der „Rede“ und die Mittel, die zu den verschiedenen Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch Anweisungen in Bezug auf Richtigkeit und Schönheit des Ausdrucks, auf Periodenbau, auf wohllautende Gliederung der Worte, auf Ausschmückung durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten, einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte. Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre Anwendung eben auch auf den poetischen Vortrag finden, das Wort Rhetorik in einem so weit ausgedehnten Begriffe, dass es wirklich und ausdrücklich auch den poetischen Vortrag mit in sich befasst, dass Rhetorik nun die Kunst der Rede überhaupt bedeutet, im allgemeinen Sinne des Wortes, die Kunst sowohl der prosaischen als der poetischen Darstellung, nicht bloss der prosaischen des Redners. Andere dagegen beschränken sich zwar bei der Rhetorik dem Vorgeben nach auf die prosaische Darstellung, theilen dann aber doch alle jene stilistischen Regeln gleichfalls mit, als hätten sie ihre Geltung nur für die Prosa, nicht auch ebensowohl für die Poesie; und doch haben viele, sehr viele dieser Regeln ihre Geltung sogar nur für die Poesie und können auf die Prosa niemals angewendet werden. Letztere Art, den Begriff und die Bestimmung der Rhetorik aufzufassen, ist die gewöhnlich gangbare; man findet sie nicht allein in solchen Lehrbüchern, die bloss die Rhetorik, sondern auch in solchen, die beides neben einander, Poetik und Rhetorik abhandeln, wo also schon diese Zusammenstellung hätte darauf können aufmerksam machen, welch ein gedankenloser Missgriff es sei, die allgemeinen Lehren der Stilistik unter die einseitige Theorie der Prosa zu mischen. Wie gross die Verwirrung sei, die dadurch überall in die letztere gekommen ist, davon kann man sich überzeugen, sowie man auch nur das Inhaltsverzeichniss irgend einer der gangbaren Rhetoriken überliest, wie da solche Rubriken, die zur Theorie der Prosa insbesondere gehören, und solche, die allgemein stilistischen Inhaltes sind, in der buntesten Unordnung durcheinander laufen. Wir nun wollen die Rhetorik in der Weise behandeln, dass wir darunter zwar mehr als die blosse Theorie der Beredsamkeit verstehn, aber nicht mehr als die Theorie der Prosa. Wie also die Poetik die Theorie der Poesie ist, so fassen wir die Rhetorik als die Theorie der Prosa. Freilich ist diese Ausdehnung und Festsetzung in der Etymologie des Wortes ganz und gar nicht begründet: aber es giebt kein anderes, alt überliefertes, welches das Rechte besagte; daher schliessen wir uns in diesem einen Stück an das Beispiel und den Vorgang der erwähnten neueren Rhetoriken an. Alles aber, was über den besonderen Bereich der Prosa hinaus auf dem Gebiete liegt, in welchem Poesie und Prosa sich begegnen, auf dem des Stiles, alle Regeln der Darstellung, die beiden Darstellungsweisen gemeinsam sind, behandeln wir nach Abschluss der Rhetorik unter dem Namen der Stilistik. I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN. Grade gegenüber wie ein Pol dem andern steht der Poesie die Prosa. Sie ist der sprachliche Ausdruck für die Anschauungen, deren Subject der Verstand ist und deren Object das Wahre, eben der Verstand, der bei den Productionen der Poesie nur im Hintergrunde steht, und eben das Wahre, das die Poesie nur in so fern in sich aufnimmt, als es auch schön ist. Sie ist die Form, in welcher der Verstand, das Organ des Wissenstriebes, seine Erfahrungen und Urtheile, seine Erkenntniss niederlegt und darstellt, darstellt zu dem Zwecke, dass auch bei der Reproduction es wiederum der Verstand sei, der sich thätig erweise, dass dieser zu der gleichen Erkenntniss gelange. In so fern ist der allgemeine Character der Prosa das Lehrhafte, sie hat didactische Natur. Die Poesie richtet sich auf das Gute und auf das Wahre, nur insofern es schön ist, weshalb denn auch die didactische Poesie ohne Mitwirkung des Gefühles und der Einbildungskraft nicht bestehen kann. Die Prosa dagegen bedarf solcher Mitwirkung und Vermittelung nicht, sie wendet sich lediglich und gradeswegs vom Verstande zum Verstande, und nicht immer ist das, was der Verstand als wahr erkennt, auch schön und gut; wo es aber schön und gut ist, macht er es doch nicht deswegen zum Object seiner Anschauung, sondern weil es vor allen Dingen wahr ist. Die Prosa, die Sprache des Verstandes, ist also die Darstellung des Guten und Schönen, insofern es wahr ist, und des Wahren, auch wenn es nicht gut und schön ist. Deshalb bedarf denn auch die prosaische Sprache nicht derselben Schönheit der Form als die poetische. Nur in der Poesie, nur da, wo eine Anschauung des Schönen darzustellen ist, muss auch über der Sprache das Gesetz der Schönheit walten, welches Einheit in Mannigfaltigkeit fordert; nur da bedarf es der rhythmischen Gliederung der Rede zu Versen und der Vereinigung der Verse zu Strophen. Dem Verstande dagegen kann es in der Form der Darstellung auch nur auf Verständlichkeit, auf Deutlichkeit ankommen, mehr will er nicht, auf Schönheit der Rede geht er nur in so fern aus, als sie zur Deutlichkeit frommt und das Verständniss erleichtert; die Rede des Verstandes wird zwar niemals, wenn sie eine gebildete ist, den Wohlklang ausser Acht lassen, aber nur weil bei dem innigen Zusammenhange der Sinne und der Seele der Verstand bereiter und willfähriger ist, eine ihm dargebotene Erkenntniss in sich zu reproducieren, sobald sie ihm auf eine den Sinnen wohlthuende Art dargeboten wird. Nur in dieser beschränkten und bedingten Weise ist auch hier von künstlerischer Behandlung, von Kunst der Rede zu sprechen. Aber bis zu jener, der poetischen Rede eigenthümlichen Fülle und Höhe des Wohlklanges, deren Grund tiefer liegt als bloss in dem Zwecke den Sinnen zu schmeicheln, erhebt sich die Rede des Verstandes nicht: sie ist eben prosa, oratio prosa d. h. prorsa, proversa d. h. sie geht vorwärts, ohne dass sich die gleiche rhythmische Gliederung wiederholt, und die Rede gewissermassen in sich selbst umkehrt, während die poetische Rede oratio vorsa heisst: der gebundenen Rede, oratio alligata metris ( oratio ligata ist ein unclassischer Ausdruck), steht die ungebundene, soluta, gegenüber. Diese und keine andere Form verlangt der Verstand, wo er spricht und zum Verstande spricht: und diese Form verlangt und duldet auch wieder keinen anderen Inhalt als einen solchen. An rein verständigen Lehrgedichten ist die poetische Form ebensowohl ein Fehler als an einem Drama die prosaische: beidemal ist ein Missverhältniss, das den organischen Zusammenhang, der zwischen Inhalt und Form stattfinden sollte, aufhebt. So viel von der Prosa im Allgemeinen und über ihre Unterschiede von der Poesie. Nun ist vom Alter und Ursprung der Prosa zu sprechen. Bei der Gelegenheit wird sich auch gleich ergeben, in wie viele und welche Hauptarten die prosaische Rede zerfalle. Die Prosa ist überall, bei allen Völkern und in allen Epochen der Weltgeschichte jünger als die Poesie. Natürlich ist diess nur in so fern zu sagen, als wir die Litteratur ins Auge fassen und nur von der litterarischen Anwendung der einen und der anderen Form sprechen. Sonst ist freilich die Prosa gewiss älter, und die Menschen werden sich gewiss eher in Prosa unterhalten als Verse verfasst haben. Indessen davon sehen wir hier billig ab; wir nehmen die Prosa als eine mit bewusster Absicht zu litterarischen Zwecken gehandhabte Form der Darstellung, als die Form der zweiten Art von Litteratur nächst der Poesie. Und so aufgefasst ist die Prosa allerdings die jüngere Schwester oder noch lieber die Tochter der Poesie. Ueberall sind Jahrhunderte vergangen, eh man zu ihr gelangt ist; ja es giebt Völker, alte Völker, die noch jetzt immer keine Prosa besitzen. Die Prosa stellt sich immer erst dann ein, wenn ein Volk aus dem Zustande unbefangener Einfachheit in das bewusstere Leben einer künstlichen Civilisation übergeht; bis zu diesem Puncte ist ihm und wird ihm Alles Poesie: die Geschichte kennt es nur noch als Sage, d. h. es forscht nicht in den Ereignissen der Vorzeit nach der nackten und dürren Wahrheit, sondern es behält von ihnen nur die poetisch umkleidete Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage aber, dichterisch in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied, als Gesang, und es gilt für diese Zeit von allen Völkern, was Tacitus (Germ. 2) von den Germanen sagt: „Carmina antiqua unum apud illos memoriae et annalium genus.“ Selbst der Verstand geht jetzt noch mehr oder weniger in die Poesie unter: er giebt seinen Lehren eine solche Beziehung auf Einbildung und Gefühl, wodurch sie auf das Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens an dessen Grenze versetzt werden, wie das früherhin bei der didactischen Epik und der didactischen Lyrik ausführlich ist besprochen worden (S. 100. 153); und wo das nicht gelingt, muss sich die Lehre dennoch wenigstens die poetische Form gefallen lassen: so wenig ist man jetzt noch mit einer andern Art der Darstellung bekannt: in dieser Zeit werden denn z. B. selbst die Rechtssatzungen metrisch und immerhin mit einer gewissen poetischen Färbung des Ausdrucks abgefasst, wie das von griechischen und keltischen Völkern mehrfach berichtet wird, und wie von germanischen noch genug der Art sich erhalten hat. Allgemach wird aber der Wendepunct erreicht: dem Verstande kommt endlich das Bewusstsein, was in der Litteratur sein Recht und seine Sache sei: er ärgert sich an dem, was die Phantasie aus der Geschichte gemacht hat, er stösst sie zurück und will nur noch mit der unschuldigen Erinnerung zu schaffen haben; er verschmäht von der Geschichte nichts, da es ihm nur auf Wahrheit ankommt: so häufen sich die Nachrichten, und zugleich mit der Nothwendigkeit einer bequemeren und kunstloseren Darstellungsweise kommt die Einsicht, dass eine solche auch passlicher sei; so erwächst denn aus der epischen Poesie die Eine Art der Prosa, die erzählende, historische. Auch in der didactischen Poesie stellt es sich immer mehr heraus, wie wenig angemessen und auch wie hemmend die dichterische Auffassung und Darstellung in den meisten Fällen sei, wie viel kürzer sich das Eine geben, wie viel genauer sich das Andere ausführen, wie viel deutlicher und verständlicher sich also beidemal reden lasse, wenn man die prosaische Form erwähle; das Staatswesen, das gesellschaftliche Leben wird immer verwickelter, vielleicht auch die Sittenverderbniss immer grösser, da genügt es nicht mehr an den wenigen alten Satzungen in metrischer Form, man braucht jetzt viele, mit vorsichtiger Ausführlichkeit abgefasste: und so schliesst sich denn an die didactische Poesie die didactische Prosa. Noch ein äusserer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall das Seinige dazu beigetragen hat, die Ausbildung der Prosa, sowohl der historischen als der didactischen, zu unterstützen und zu beschleunigen: der Gebrauch der Schrift, der in diesen Zeitaltern der gehobenen Civilisation sich immer weiter ausbreitet. Wenn man früher auch bereits die Schrift gekannt hatte, so war man doch zu wenig vertraut mit ihr und war schon dadurch genöthigt, Erzählungen und Lehren, die man wollte aufbewahrt wissen, der für das Gedächtniss bequemeren poetischen Darstellung zu überlassen; auf der andern Seite war es dann eine natürliche Rückwirkung, dass die Schrift wieder nicht in rechten Gebrauch kam, weil man Alles eben auch sonst recht wohl behalten konnte. Ein entsprechendes Verhältniss von Wirkung und Rückwirkung zeigt sich nun auf der Stufe höherer Bildung zwischen Schrift und Prosa Die Schrift ist gebräuchlicher, und damit wird die Prosa möglich, deren Aufbewahrung man nicht so getrost dem blossen Gedächtnisse anheimgeben kann; die Prosa ist da, und damit wächst das Bedürfniss, sich der Schrift zu bedienen. Historische und didactische, erzählende und lehrende Prosa, das sind die beiden Hauptarten, in welche diese zweite Form der Darstellung durch das Wort zerfällt. Anfangs- und Endpunct ist beidemal der Verstand, Zweck beidemal Production und Reproduction einer Erkenntniss des Wahren. Inwiefern jedoch auch den beiden andern Kräften, der Einbildung und dem Gefühl, immer noch ein gewisser Antheil, und welcher Antheil ihnen könne eingeräumt werden, das wird sich besser bei näherer Erörterung der beiden Arten besprechen lassen, zu der wir jetzt übergehn wollen. II. VON DER PROSA IM BESONDERN. 1. DIE ERZÄHLENDE PROSA. Die erzählende Prosa schliesst sich also an die epische Poesie; aber sie ist nicht bloss darauf gefolgt, als das Spätere auf das Frühere, sondern sie ist eigentlich daraus hervorgegangen, ist eine auf dem Gebiete des Verstandes unternommene Fortsetzung dessen, was der menschliche Geist vorher auf dem Gebiete der Einbildung versucht hatte. Bei solchem inneren Zusammenhange kann aber der Uebergang des Einen in das Andere nicht urplötzlich und ohne alle Vermittelung stattgefunden haben, so wenig als innerhalb der Poesie eine Dichtungsart unmittelbar auf die andere gefolgt und gleich in ihrer reinsten Ausbildung aus derselben und hinter derselben hervorgesprungen ist. Sondern wie schon in der Poesie selbst, so giebt es auch zwischen der Poesie und der Prosa, hier also zwischen der erzählenden Poesie und der erzählenden Prosa Mittelarten und Uebergangsstufen. Besonders klar ist diess nachzuweisen in der deutschen Litteratur, wo einmal die Geschichtsschreibung schon innerhalb der Epik beginnt, und dann wieder die Epik noch fortreicht bis in die Geschichtsschreibung. Nämlich so: der Verfall der epischen Poesie wird in Deutschland dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke entstehn, die mit der epischen Poesie zwar die Form, aber sonst nicht viel gemein haben, indem ihren Inhalt baare, unpoetische Geschichte bildet: seit dem Ende des elften Jahrhunderts gab es zahlreiche Chronikwerke in Versen und Reimen. Auf der andern Seite aber beginnt die erzählende Prosa mit Schriften, die wiederum mehr nur der Form nach als durch ihren Inhalt der Prosa angehören: denn auch die Geschichtsschreibung kennt in ihren Anfängen noch beinahe ebenso wenig als vorher die epische Poesie einen Unterschied zwischen Geschichte und Sage, und an ihren Productionen haben Phantasie und Gemüth noch reichlichen Antheil neben dem Verstand; und ausser der eigentlichen Geschichtsschreibung entwickelt sich noch eine Art von erzählender Prosa, in der gradezu und absichtlich Phantasie und Gemüth denselben Rang einnehmen und einnehmen sollten als im Epos, so dass, streng genommen, die prosaische Form hier durchaus eine Ungehörigkeit ist: das ist der Roman. Der Roman ist im Grunde nur ein prosaisches Epos, wie denn auch die ältesten Romane sowohl bei uns als bei anderen Völkern des Mittelalters wirklich nichts weiter sind als prosaische Umgestaltungen älterer Heldengedichte, und in so fern bezeichnet der Roman noch viel mehr den Untergang der epischen Poesie als den Beginn der erzählenden Prosa. Bei den Griechen lässt sich ein solches Vorahnen der historischen Prosa und solch nachhaltiges Fortwirken der epischen Poesie nicht so deutlich nachweisen, wie bei uns und wie sonst bei den neuern Völkern am Ende des Mittelalters. Es giebt nicht genug Documente. Indessen so viel weiss man doch, dass Herodot zwar der Vater der griechischen Historiographie gewesen, dass er aber doch seine Vorgänger hatte, die nach Allem, was man von ihnen kennt, an Phantasie und an gläubigem Auffassen von Mythen und Sagen noch nicht weit über die epische Poesie hinaus waren, Pherecydes, Hecataeus u. a. Die Anfänge des Romans aber liegen bei den Griechen weit hinter denen der Geschichtsschreibung. Mit dem Bisherigen sind bereits die zwei Arten der erzählenden Prosa bezeichnet, von denen wir nun noch ausführlicher zu sprechen haben: die Prosa der Geschichtsschreibung und die des Romans. Zuerst reden wir von der Geschichtsschreibung. Einen Historiker machen zweierlei Dinge, erstens das Erforschen und Erkennen der geschichtlichen Wahrheit und zweitens die Darstellung des als wahr Erkannten, die Mittheilung desselben zum Behufe der Reproduction. Also Forschung und Darstellung, und jene muss, wie schon der Name ἱστορία , d. h. Forschung, beweist, immer vorangehn. Ganz anders die früher geübte Epik. Die Sage und die mit ihr verbundene Poesie haben mit den forschenden Untersuchungen des Verstandes nichts zu thun: ihre Darstellung wird von der Einbildungskraft getragen. Denn auch die Stellung zur Idee ist eine ganz verschiedene. Jede Sage, jedes Epos drückt irgend eine in der Geschichte sich offenbarende Idee aus; aber sie rücken diese Idee in das Gebiet der Einbildungskraft, und von diesem Standpuncte beschauen sie die Thatsachen, in denen sich die Idee offenbart hat: da muss denn die Wahrheit aufgehn in die Schönheit; da fällt denn fort, was zu viel ist und die einheitliche Anschauung der Idee behindert, und die Phantasie fügt wieder aus freier Erfindung hinzu, um die Anschauung auch zu schöner Mannigfaltigkeit zu beleben; und, was geschehen muss, damit es möglich werde fortzulassen und hinzuzufügen, selbst die verbliebenen und nicht erfundenen Thatsachen werden oft mit der grössten Kühnheit der Phantasie umgebildet. So verfährt die Sage, so verhält sie sich zur gemeinen Wirklichkeit und zu der darin wahrgenommenen Idee. Wie nun aber die Geschichtsschreibung? Allerdings wird sich auch der rechte Historiker niemals der idealen Richtung entschlagen: auch er wird in der Geschichte, die ihm vorliegt, eine leitende und belebende göttliche Idee zu erkennen suchen, sie wird auch ihm Anfang und Ende der Production und der Reproduction sein: aber, und darin beruht der Unterschied, er sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über denen sie schwebt, von der Seite des Verstandes her, nicht von der der Einbildung: er verschmäht wenigstens alles schöpferische Zuthun derselben, alles Zuthun der Phantasie, und er duldet nur die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen Erkenntniss unschädlich, ja beförderlich und unentbehrlich ist; er verwirft keine Thatsache deshalb, weil sie etwa die Idee verdunkelt; er erfindet auch keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er endlich auch nichts umzugestalten, sondern gestaltet nur, bildet nur nach, was er vorfindet, und bevor er es nachbildet, prüft er, ob er auch das Wahre vorgefunden habe. Aber, wie gesagt, bei all dieser resignierenden Treue, all diesem rein verständigen Forschen wird ein rechter Historiker immerfort auch auf die Idee sein Auge richten: er wird sich fort und fort bemühen, sie zu erkennen und mit der unverkürzten Wahrheit zu vereinbaren, sie als den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als ihre Frucht zu fassen und darzustellen und so die Reihe der Ereignisse, die er uns vorführt, zu einem Organismus zu verketten, der durch die Einheit einer inneren Nothwendigkeit zusammengehalten und beseelt sei und erst mit Vollendung der Idee selber ende. Diess Verfahren ist es, das allein den vielfach missbrauchten Namen pragmatische Geschichtsschreibung verdient. Es hat diese Benennung, um das beiläufig zu erinnern, zuerst Polybius aufgebracht Polyb. 9, 2, 15 ὁ πραγματικὸς τρόπος τῆς ἱστορίας ; 1, 2, 8 ὁ τῆς πραγματικῆς ἱστορίας τρόπος . : bei ihm findet sie sich freilich nur im Gegensatze zum Mythus und zur Sage: er versteht darunter die wahrhafte, die wirkliche Geschichte. Der Historiker bemüht sich also, die Wirksamkeit und Vollendung der Idee innerhalb einer unverkürzten Wahrhaftigkeit der berichteten Thatsachen darzuthun: aber nur zu oft ist diese Bemühung eine fruchtlose, nur zu oft erweist sich ihm statt jenes organischen Zusammenhanges der Idee ein bloss mechanischer, nur zu oft auch nicht einmal dieser. Und dennoch darf er, sobald er gewissenhaft ist und kein Epiker sein will, sondern ein Historiker, den Standpunct nicht verlassen, von welchem aus betrachtet ihm die Dinge so abgerissen, so ohne Leben und Bedeutung erscheinen, den der blossen Verständigkeit. Da zeigt sich denn am herbsten und schärfsten der Contrast der Geschichte zur Sage, der Historie zur Epik, das Unkünstlerische, das verglichen mit den Anschauungen der episch erzählenden Poesie denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt: denn die Sage würde mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie jene der Idee widerstreitenden Einzelheiten entweder ganz beseitigen oder sonst wie den Zusammenhang herzustellen wissen, den der Verstand nicht zu erkennen vermag. Es giebt nun freilich Arten von Geschichtsschreibung, wo der Verfasser niemals in jene schmerzliche Verlegenheit geräth; es giebt Historiker und historische Schriften, in denen gar nirgend ein Bemühen waltet, in den Thatsachen die belebende und zusammenhaltende Idee zu erkennen, bei denen also auch nicht zu beklagen ist, dass stellenweise diess Bemühen immer ein unfruchtbares bleiben müsse. Solche niedrig gestellte, ideelose Geschichtswerke sind die Annalen oder Chroniken, wie sie bei allen Völkern des Alterthums und bei den neueren als die ersten rudimenta der eigentlichen Geschichtsschreibung vorgekommen sind. Diese Chroniken verzeichnen eben nur, was Jahr für Jahr, sei es in der ganzen Welt, sei es in einer einzelnen Stadt sich ereignet hat: Seuchen, Hungersnoth, Schlachten, Strassentumulte u. dgl., kurz lauter Einzelheiten, deren jede für sich wahr sein mag, die aber keine höhere Wahrheit der Idee zu einem organischen Ganzen verbindet und somit wahrhaft belebt. Solche niedrig gestellte Geschichtswerke sind aber ausserdem noch, damit wir nicht zu vornehm auf die Anfänge der Geschichtsschreibung hinabsehen, bei weitem die meisten, welche die letzten Jahrhunderte an den Tag gefördert haben, auch die meisten, die den vornehmen Titel pragmatisch an der Stirn tragen. Zwar begnügen sich diese nicht mit trockener Aufzählung, zwar suchen sie überall das Spätere durch das Frühere zu motivieren und bei jedem Ereigniss Ursache und Wirkung nachzuweisen: aber diese ursächlichen Verhältnisse sind gewöhnlich der alleräusserlichsten Art, und namentlich herrscht da ein thörichtes, man könnte auch sagen ein frevelhaftes Bestreben, das Allergrösste nicht bloss aus dem Allerkleinsten, sondern auch aus dem Allerkleinlichsten herzuleiten, wenn z. B. der Grund der Kreuzzüge in den Predigten eines Bettelmönches gesucht wird, oder der dreissigjährige Krieg dadurch soll verursacht worden sein, dass man zu Prag einige österreichische Beamte aus dem Fenster warf, oder die französische Revolution durch den ersten Schuss, der am 10. August 1792 fiel; kurz, es gilt da ein so mechanisches, jeder Idee entfremdetes Verfahren, dass man dergleichen Werke eher mit jedem beliebigen anderen Namen als mit dem einer pragmatischen Geschichte belegen kann. In dergleichen Erbärmlichkeiten liegt kein πρᾶγμα : diess Wort bezeichnet ja nicht jedwedes, das geschieht, sondern etwas, das geschieht, weil es geschehen muss, und das wirksam ist, weil es geschieht. Die volle Nothwendigkeit aber und die wahre Wirksamkeit kann sich immer nur vom Standpuncte der Idee ergeben, und deshalb verdient auch nur jene Art von Geschichtsschreibung den Namen der pragmatischen, die wir neben das Epos gestellt haben als Nebenbuhlerin derselben in der Anschauung der Idee. Daraus, dass die Geschichtsschreibung innerhalb des Verstandes beharren muss, und somit nicht überall die gegebene Wirklichkeit mit der angeschauten Idee in Einklang bringen kann, daraus ergiebt sich noch ein anderer Nachtheil, der in künstlerischer Beziehung den meisten geschichtlichen Werken anhängt, ein Nachtheil, der ihnen aber auch noch aus anderweitigen Gründen unausweichlich zufällt: der Mangel nämlich an Einheit. Der Epiker hat es immer mit einem in sich abgeschlossenen, concentrierten Ganzen zu thun, Einer Sage oder Einem Cyclus von Sagen, die sich alle um Einen Hauptpunct und Eine Hauptbegebenheit herumlegen; es wird ihm aber deshalb Alles so abgeschlossen und concentriert, weil die belebende Seele der Sage, die Idee, das Fremdartige von sich stösst. Wie nun der Historiker? Wo das Gebiet seiner Forschung eng und eingeschränkt ist, da wird es ihm wohl noch möglich, eine Einheit zu behaupten, wie der epische Dichter sie hat, ohne dass er darum sich die Freiheiten des Epikers gestattete; der historische Verlauf, den er berichtet, wird, wenn auch nicht einfach, doch einheitlich sein können. Solche Historiker, die damit dem Epiker am nächsten stehn, sind die Biographen, die Geschichtsschreiber einzelner Personen; die Einheit der Person haben sie schon vorweg; damit pflegen dann aber auch noch andere, mehr oder minder wesentliche Einheiten verbunden zu sein. Je weiter sich nun jedoch das Gebiet des Historikers ausdehnt, desto mehr und mehr schwindet selbst die Möglichkeit der Einheit. Es kommen nun die verschiedenen Arten der sogenannten Specialgeschichte, die Geschichte einzelner ganzer Völker, ganzer aus vielen Jahrhunderten bestehender Zeiträume, die Geschichte der Religionen, der Künste, der Wissenschaften. Es schreibt also nun der Historiker etwa die ganze römische Geschichte. Freilich liegt sie fertig und abgeschlossen vor ihm da, er kann erkennen, er kann wenigstens ahnen, was Gott mit den Römern gewollt habe, er kann zur Anschauung der Idee gelangen, die sich in der römischen Geschichte offenbart: gleichwohl wird es ihm schwerlich glücken, dieser Einheit der Idee gemäss auch eine Einheit des thatsächlichen Inhaltes herzustellen: denn er hat mehr als Eine Hauptperson, mehr als Eine Hauptbegebenheit, und er darf die Thatsachen, in denen er jene Idee nicht wieder erkennt, darum doch nicht beseitigen. Noch schlimmer ist derjenige Historiker daran, dessen Gebiet noch nicht einmal abgegrenzt und abgeschlossen ist, der eine Geschichte schreibt, die unvollendet noch bis in die Gegenwart hereinreicht, wie z. B. die Geschichte eines jetzt lebenden Volkes in politischer oder in litterarischer Hinsicht. Selbst wenn da der Historiker die Idee richtig auffasste, so könnte er sie doch immer nicht zur rechten Anschauung bringen, da sie sich jedesfalls noch nicht ganz in der äusseren Wirklichkeit vollendet hat. Eben diess ist nun auch der unausweichliche Stein des Anstosses für alle diejenigen Historiker, die endlich das allerausgedehnteste Gebiet zum Gegenstande ihrer Forschung haben, für die Universalhistoriker. Der Biograph kann in Bezug auf Einheit gar wohl Schritt halten mit dem Epiker; dem Specialhistoriker wird es schon in den meisten Fällen schwer bis nahe zur Unmöglichkeit; dem Universalhistoriker ist es gradezu unmöglich, denn einmal besitzt der Stoff, der vor ihm liegt, eine zu reiche Fülle, als dass er ihn zur Einheit bewältigen könnte; und sodann ist ja auch dieses weite Gebiet nach der einen Seite hin, auf der Seite, wo der Historiker selber steht, noch ganz unabgegrenzt; er hat vor sich einen weiten leeren Raum, in welchem nur Gott weiss, was Alles noch geschehen kann. Ihm gebricht nothwendiger Weise die Einheit der Idee sammt allen übrigen Einheiten, die zu ihr gehören; eine auf volle Erkenntniss der Idee basierte, eine eigentlich pragmatische Weltgeschichte kann erst am jüngsten Tage geschrieben werden: so dass auch in dieser Wendung das Wort Schillers gilt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ So viel wäre über die historischen Anschauungen zu bemerken gewesen und über die immer mehr und mehr sich ausdehnenden Gebiete, auf welche sie sich richtet, Biographie, Specialgeschichte, Universalgeschichte. Nun noch Einiges über die sprachliche Verkörperung der historischen Anschauungen, über die historische Darstellung. Hier kommt Alles auf Ein Grundgesetz hinaus, das der Historiker mit dem Epiker gemein hat: auch von ihm wird strenge Objectivität gefordert, und von ihm um so mehr, da die Wahrheit, auf welche es in der Geschichtsschreibung abgesehen ist, bei Verletzung der Objectivität offenbar noch weit mehr leiden würde als jene in der Schönheit beruhende Wahrheit der epischen Anschauungen. Es muss also der Historiker vor allen Dingen nur erzählen, nichts aber einmischen, das den Gang der Erzählung irgendwie unterbrechen könnte. Er soll erzählen, d. h. die als wahr erforschten Thatsachen in ihrem ununterbrochenen Verlaufe darstellen. Da darf also erstens die Forschung, die der Darstellung vorangehen soll, nicht mit in dieselbe übergehn. Zwar giebt es Gebiete genug innerhalb des weiten Bereiches der Geschichtsschreibung, in denen es zur Zeit noch unmöglich ist und wohl immer unmöglich bleiben wird, die Darstellung ganz rein zu halten von den Uebergriffen der Forschung und die Resultate der Untersuchung zu geben, ohne zugleich die Untersuchung selbst vor Auge und Ohr des Lesers zu führen. Indessen wird man doch dergleichen immer nur als eine Verschmelzung historischer und didactischer Prosa, als ein Gemisch von Erzählung und Abhandlung betrachten dürfen. Werke, die ganz oder stellenweise so beschaffen sind, werden deshalb auch ganz oder stellenweise ausserhalb der eigentlichen Geschichtsschreibung liegen. Leider so die Werke der meisten neueren Historiker; Muster reiner, ungetrübter Darstellung finden sich fast nur bei den Alten, bei den Griechen und Römern; unter den Neueren etwa noch bei den Engländern und Franzosen. Ziemlich auf Einer Stufe mit dieser unkünstlerischen Einmischung der Forschungen steht, und es begleitet dieselbe gewöhnlich die Einflechtung von Auszügen aus den Quellenschriften. Damit hört der Historiker eigentlich auf zu erzählen, wenigstens er als solcher erzählt nicht mehr, und seine Darstellung verliert jene Gleichmässigkeit des Einen Gusses, bei der allein die ruhige Erfassbarkeit und Objectivität möglich ist; statt dessen giebt er nur eine bunt zerstreute und zerstreuende Mosaik. Damit soll nicht gesagt sein, dass dergleichen ganz und gar zu vermeiden und überall ein Fehler sei: mitunter kann sogar ein geschickt angebrachtes Zeugniss, kann die Aussage eines den erzählten Ereignissen gleichzeitigen Schriftstellers viel dazu beitragen, die Ereignisse selbst zu veranschaulichen, zu objectivieren, da sie unmittelbar aus dem Geiste jener Zeit selbst entsprungen ist. Aber immer und immer wiederkommen darf dergleichen nicht; der Text der Erzählung ist keinesfalls das rechte Bett für den ganzen, vollen Strom von Beweisstellen, den etwa ein Historiker vorführen kann: dazu giebt es Anmerkungen; an denselben Ort verweist er auch am besten die Untersuchungen. Der Historiker soll erzählen, soll Thatsachen in ihrem ununterbrochenen Verlaufe darstellen. Da darf er denn auch zweitens nichts einmischen von seinen subjectiven Empfindungen, nichts von seinen subjectiven Urtheilen. Es stört schon die epische Anschaulichkeit, wenn der Epiker seine Erzählung mit sentimentalen Abschweifungen begleitet, und doch liegt der Einbildung, auf welcher das Epos zumeist beruht, das Gefühl nicht so fern als dem Verstande: wie viel mehr stört es daher die Objectivität eines historischen Werkes, das zunächst Verstandessache ist, wenn der Autor den Ausdruck seiner Empfindung nicht zurückhalten kann. Ebenso wenig darf sich aber auch der Verstand selbst in didactischer Weise geltend machen: er soll hier nur das Wahre erforschen und soll es zu einer objectiven, verständlichen Darstellung bringen; dazu können aber Reflexionen wenig helfen, welcher Art sie nun sein mögen, philosophisch oder politisch oder moralisch. Erzählt der Historiker nur Alles in rechter Treue und Deutlichkeit, und wo möglich von der Idee her, so kann ein verständiger Leser sich all dergleichen und noch diess und jenes dazu selber sagen, besser, als wenn es ihm vorgesagt wird. Es giebt aber nur wenige Historiker, die nicht bald mehr, bald minder sich in solcher subjectiven Didaxis gefallen hätten; namentlich die fälschlich so genannten Pragmatiker sind stark darin, von dem ersten an, der von einer pragmatischen Geschichtsschreibung gesprochen hat, von Polybius an; selbst Livius, sonst ein Muster der Darstellung, geräth zuweilen in unhistorisches Politisieren hinein, mitunter in ein Politisieren von der allermüssigsten und unfruchtbarsten Art, wenn er z. B. (9, 18) berechnet, welchen Ausgang es wohl hätte nehmen können, wenn Alexander auch an die Römer gerathen wäre. Eine den Alten eigenthümliche Form der Reflexion, bei welcher dennoch die Objectivität gewahrt wird, sind die eingelegten Reden: sie enthalten mehr oder weniger Empfindungen und Urtheile des Historikers selbst, werden aber einer objectiven Person in den Mund gelegt und in den Zusammenhang objectiver Ereignisse und Zustände verflochten; so zuerst bei Thucydides, dann bei Livius u. A. Oft indessen, namentlich bei den Römern, ist diese objective Einkleidung nur zu deutlich eine blosse Einkleidung, ein blosser Vorwand, wie bei Sallust. Wo man der philosophischen oder politischen Didaxis allenfalls freien Lauf gestatten mag, das ist zu Anfang oder zu Ende eines Werkes: da hemmt sie wenigstens den Gang der Erzählung nicht. Da mag der Historiker dem Leser namentlich die Idee andeuten, die er in seiner Geschichte als waltend erkannt hat; da mag er so den Leser auf den rechten Standpunct zu setzen und ihn aufmerksam zu machen suchen, indem er in ihm allgemein menschliche und besondere vaterländische Interessen in Anspruch nimmt. Als Beispiel kann der Vater der Geschichtsschreibung dienen, Herodot, der sein Werk mit Erörterung der Frage beginnt, woher der Hass und Zwist zwischen Europa und Asien rühren: er erkennt aber darin nur die gerechte Vergeltung, die nimmer säumende Busse alter gegenseitiger Schuld. Dergleichen Einleitungen werden, wenn sie auch unhistorisch sind, doch immer zu der Sache gehören, die grade vorliegt; tadelnswerth ist es nur, sich in zu allgemeinen Reflexionen zu ergehn, die überall hin gehörten, oder gar in Alltäglichkeiten, die nirgend an ihrer rechten Stelle wären, wie z. B. die bei allem Prunk so trivialen Betrachtungen, mit denen Sallust seinen Catilina eröffnet. Wir wollen jetzt diesen mehr negativen Regeln über die Darstellung noch einige Bemerkungen positiver Art beifügen. Sie betreffen die Anordnung eines historischen Werkes: denn auch diese wird wesentlich dazu beitragen, dass dem reproducierenden Leser der organische Zusammenhang der erzählten Thatsachen deutlich und verständlich werde. Es kann aber die Anordnung je nach der Lage und der Ausdehnung und der sonstigen Beschaffenheit des Gebietes, das der Historiker durchwandert, eine sehr verschiedene sein, grade wie auch die Anordnung der Epopöie nicht überall die gleiche ist. In dieser erlaubt und fordert bald die Einfachheit des sagenhaften Stoffes eine ungesäumt vorwärts schreitende Darstellung, bald die reichere Fülle und Verwickelung desselben eine rechts und links abschweifende, episodische Entfaltung: grade so auch in der Historiographie. Lebensbeschreibungen lassen sich gar wohl ganz in grader Linie vortragen, wohl auch noch die Geschichte mancher mehr seitab dastehenden Völker; aber die meisten Völkergeschichten sind nur mit episodischen Digressionen abzuthun, und gar die Weltgeschichte in keiner anderen Weise. Hier wird es immer und immer wieder erforderlich sein, seitab noch einmal von vorn anzufangen und einen Faden nach dem anderen in das grosse Band der Welt, der Menschheit zu leiten; jedoch muss das so geschehen, dass diess grosse gemeinsame Band niemals darüber vergessen werde, dass es immer seine Bedeutung behaupte, dass man es nun in Asien, nun in Griechenland, nun in Rom, nun endlich bei den Germanen erblicke. Und bis in das Kleinste hinein muss der oberste Zweck der Anordnung die Erfassbarkeit für den Verstand sein, eine verständige Deutlichkeit. Das Hochbedeutsame und das Minderwichtige muss jedwedes durch die Stellung, welche es erhält, und durch die Art, wie es vorgetragen wird, auch als solches erscheinen, und wo dem Historiker der Umfang oder die Bestimmung seines Werkes nicht gestattet, alle Einzelheiten zu berichten, die man kennt, muss er das Mehr- und das Minderwichtige zu unterscheiden wissen, das Eine festhalten, das Andere getrost fallen lassen. Einem Biographen Friedrichs des Grossen kann es ganz angemessen sein, selbst die Farbe und den Namen des Pferdes anzugeben, das dieser König in der Schlacht von Mollwitz geritten; einem Geschichtsschreiber von Deutschland aber wird dergleichen schwerlich in die Feder kommen, er müsste denn sehr ausführlich sein wollen. So lässt auch der Epiker von dem historisch Gegebenen manche Einzelheit fallen: aber er thut das, wie wir früherhin (S. 81. 242) gesehen haben, aus ganz anderen Gründen und zu weit anderen Zwecken als der Historiker. Ein rechtes Beispiel von ungehöriger Einmischung unwesentlicher Kleinigkeiten geben mehrere der Biographien und Characteristiken, welche der König Ludwig von Bayern unter dem Titel Walhallas Genossen veröffentlicht hat. Sie sollen und wollen in einem gewissen Lapidarstil abgefasst sein und nur das Wichtigste und Bedeutendste sagen, so dass man sie etwa als Inschriften sollte einhauen können unter die Steinbilder. Aber wie das beobachtet ist, zeigt z. B. die Biographie Wilhelm Heinses (LB. 3, 2, 1507). So viel von der Geschichtsschreibung; nun wenden wir uns zur zweiten Art der erzählenden Prosa, zum Roman. Die Prosa des Romans liegt dem Epos um viele Schritte näher als die Prosa der Geschichtsschreibung, ja sie liegt eigentlich dicht neben ihm. Wir haben auch gesehen, wie der Roman ganz unmittelbar aus dem Epos hervorgegangen, wie er ursprünglich nichts mehr und nichts weniger gewesen sei, als eine blosse Auflösung und Uebersetzung epischer Poesie in Prosa. Eigentlich bedeutet auch der Name Roman gleich dem Worte Romanze (S. 98) so viel als ein erzählendes Gedicht, abgefasst in der romanischen Volkssprache. Und so sind denn auch die Unterschiede, die sich nach und nach zwischen Epos und Roman ausgebildet haben, zum Theil mehr veranlasst worden durch die einmal erwählte prosaische Form, als sie eigentlich begründet waren in einem ursprünglich eigenthümlichen Wesen des Romans. Wir wollen nun sowohl die Uebereinstimmungen als die Unterschiede zu erörtern suchen. Haupt- und Grundgesetz für den Roman wie für das Epos ist die Einheit, die Einheit in all ihren Abzweigungen und Spiegelungen: Einheit der Idee, Einheit des Verlaufes der Thatsachen, und worin sich diese vorzüglich kund thun wird, Einheit der Hauptperson und Einheit der Hauptbegebenheit, als des Punctes, in welchem alle etwa zerstreuten Radien des Verlaufes der Thatsachen sich zuletzt doch wieder vereinigen. Denn der Verlauf braucht sich hier so wenig als im Epos gradlinig zu entwickeln; ja der Roman liebt, wie die ausgebildete Epopöie, eine kunstreiche Verschlingung, er liebt Episoden, wenn nur der leitende Hauptfaden darüber nicht verloren geht. Die Odyssee bei ihrem Wechsel der Personen und des Locales und bei ihrer episodischen Gliederung würde einen vollkommneren Roman abgeben als die Iliade in ihrem zwar einfachen, aber doch nicht recht einheitlichen Verlaufe. Die Wirklichkeit nun, die in solcher Weise vielgliedrig entfaltet und zugleich durch jene Einheiten wieder zusammengehalten wird, braucht, wie der Roman sich einmal ausgebildet hat, nicht in solcher Weise historisch zu sein, als das vom Epos gefordert wird. Das Epos verlangt jedesmal, wie das früher umständlich ist dargethan worden, einen sagenhaften Stoff: es muss immer entweder Sagen vortragen, oder wenn auch wahrhafte Geschichte, dann diese doch aufgefasst in Art der Sage. Ebenso war es nun freilich auch in den ältesten Romanen: nicht bloss in denen, die nur prosaische Auflösung waren von älteren Epopöien, sondern auch in den selbständigeren Originalschöpfungen, die zunächst auf sie folgten: auch diese lehnten sich immer an die volksmässigen, sagenhaften Ueberlieferungen: so im sechzehnten Jahrhundert der an Riesensagen Südfrankreichs sich anlehnende Roman Gargantua, den französisch zuerst Rabelais und nach ihm dann Fischart deutsch bearbeitete; ebenso auch der Eulenspiegel und der Schwarzkünstler Johannes Faust: beides sind historische Personen, aber umgestaltet von der ausschmückenden Hand der Sage. Indessen war doch das Epos nur darum untergegangen und hatte sich nur darum in die prosaische Form flüchten müssen, weil diejenige poetische Stimmung, auf welcher allein die Sage fussen kann, vom Volke gewichen war. Da konnte denn auch der Roman nicht länger sagenhaft bleiben, und es ward ein Vorrecht dieser neueren prosaischen Epiker vor den früheren poetischen, dass ihnen freie und willkürliche Erfindung gestattet ist. So willkürliche aber doch nicht, dass die Wirklichkeit, in deren Form der Romanschreiber seine Anschauungen kleidet, ganz frei und ohne Halt in der Luft schweben dürfte; sie muss immer noch einen Anschein von historischem Grund und Boden haben. Dieser historische Anschein kann aber von doppelter Art sein. Entweder erfindet der Verfasser Alles, alle Personen und alle Begebenheiten, und giebt ihnen nur im Allgemeinen eine historische Farbe, ein historisches Costüm, verleiht ihnen nur den Localton einer gewissen Zeit und eines bestimmten Landes. Diess Costüm ist sehr der Mode unterworfen: jetzt meistens gilt die jetzige Zeit, vor einem halben Jahrhundert galt der scandinavische Norden, noch früher die Zeit der Kreuzzüge, des Faustrechtes, der heiligen Vehme, und wie es sonst noch beliebt ward das Mittelalter unheimlich zu betiteln, noch früher, wie in den Schäferromanen Salomon Gessners, jenes allerdings mehr geträumte, als historisch gewusste halbgoldene Zeitalter der Hirten und Hirtinnen in Arcadien. Oder aber man giebt dem Roman gradezu einen wirklich historischen Hintergrund und füllt und vertieft diesen Hintergrund mehr oder weniger; man erfindet zwar die hauptsächlichen Personen und die hauptsächlichen Begebenheiten des Vordergrundes, aber man verflicht sie mit historisch gegebenen und in der wirklichen Geschichte bedeutsamen, mögen diese auch in dem Romane minder bedeutsam eingreifen. Solche halbhistorische Romane sind in England durch Walter Scott auf die Bahn gebracht worden; sie fanden zahlreiche deutsche Nachahmer, deren einige mit besonderem Beifall aufgenommen wurden. Man kann auch nicht läugnen, dass diess halbgeschichtliche Verfahren die Anschaulichkeit um ein Beträchtliches fördert, und man mag, wenn man günstig urtheilen will, in dem grossen Beifall, den solche Romane gefunden haben und immer noch finden, einen erfreulichen Ueberrest des epischen Geistes erkennen, der einst alle Völker Europas und vor allen das deutsche beseelt hat. Wohl zu unterscheiden von diesen halbhistorischen Romanen sind die eigentlich historischen, wie sie bei uns im siebzehnten Jahrhundert durch Daniel Caspar von Lohenstein, später wieder, im achtzehnten Jahrhundert, durch August Gottlieb Meissner und Ignaz Aurelius Fessler aufgekommen sind, und wie sie in unseren Tagen Louise Mühlbach mit wahrhaft erschreckender Schreibseligkeit zu liefern pflegt. Solche Romane rücken dicht an das Epos. Denn hier sind die Hauptpersonen selbst historisch und ebenso alle Hauptbegebenheiten, wie z. B. Alcibiades bei Meissner, Alexander der Grosse bei Fessler, Arminius und Thusnelda bei Lohenstein. Aber mit dichterischer Freiheit werden sowohl die historischen Nachrichten anders gewendet, als Lücken in denselben ergänzt. So wären denn solche Romane ihrem Wesen nach durchaus episch, und es ist nur die Schuld der Schriftsteller, dass sie ihren Vortheil nicht besser verstanden und benutzt haben: aber Lohenstein war dafür zu gelehrt und pedantisch, Fessler zu unklar und ungleichmässig in sich selbst, Meissner endlich und manche Andere zu flach. Mit der Erlaubniss, den Stoff selbst zu erfinden, ist jedoch dem Romandichter eine Pflicht auferlegt, die sich unter den Anforderungen an die epische Kunst nicht in dem Masse geltend macht: die Pflicht einer sorgfältigen Characteristik. Der Epiker, dem mit den Begebenheiten und den Namen seiner Personen auch die Charactere derselben überliefert sind, und der von der Sage und der Geschichte her bei seinen Zuhörern einige Bekanntschaft mit denselben voraussetzen darf, ist deswegen auch der Pflicht und der Mühe überhoben, die Charactere weitläuftig zu entfalten: seine Sache ist nur, dass er die Personen ihrem Character gemäss handeln und reden lasse; und in dieser Beziehung genügt dem Epiker oft ein einziges Wort, eine einzige That. Anders im Roman. Da hier die Wirklichkeit ganz oder doch zum grössten Theile eine erst erfundene zu sein pflegt, so bringt der Leser nicht die Erwartung mit, wie die Personen ihrem längst gegebenen und bekannten Character gemäss handeln und reden, sondern vielmehr die, welchen Character sie überhaupt erst zeigen werden. Der Romanschreiber muss also von Anfang bis Ende darauf bedacht sein, seine Personen durch Thaten und Reden zu characterisieren: Thaten und Reden sind hier nicht, wie im Epos, bloss Ergebnisse des Characters, sondern zugleich Mittel der Characteristik. Aber auch wirklich durch Thaten und Reden: der gemeinte Character muss sich lebendig und wirksam an den Personen selbst erweisen und in ihnen und durch sie. Es ist verfehlt, wenn man den Character abgelöst von dem, welchem er eigen ist, zum Gegenstande einer besonderen Darstellung macht; man darf nicht sagen: Felix war gutmüthig, aber schwach u. s. f., sondern man muss es dem Leser überlassen und es ihm überlassen können, aus der ganzen thätigen Erscheinung der Person sich grade diesen Character zu entnehmen. Wir haben nun bereits beim Epos gesehen (S. 62), dass Reden um vieles characteristischer sind als Thaten, dass es daher auch Zeiten und Völker gebe, wo man es in epischen Dichtungen liebe, den Verlauf der Begebenheiten mit einem beinahe überwiegenden Dialog zu begleiten. Noch um so mehr muss im Roman, wo die Characteristik so viel wichtiger ist, die Anwendung characterisierender Reden vortheilhaft erscheinen. In der That giebt es auch genug Romane, die ganz oder doch beinahe ganz in Dialogen abgefasst sind und damit in das Gebiet des Dramas hinübergreifen, weshalb es denn auch für Zschokke ein leichtes gewesen ist, seinen Roman Abällino späterhin in ein Drama zu verwandeln, wie es umgekehrt auch nicht sonderlich schwer sein würde, aus Göthes erstem Drama, dem Götz von Berlichingen, einen dialogischen Roman zu machen; ja er ist gewissermassen schon ein solcher. In anderen Romanen tritt an die Stelle des Zwiegespräches eine Formgebung, die damit verwandt, die auch dramatischer Art ist, die aber vom Drama mehr nur das lyrische Element, die Fixierung einzelner lyrischen Zustände festhält: das ist die Form der Briefe und die des Tagebuches, wie sie in Göthes Werther vereinigt erscheinen. Ebenfalls dramatischer Art ist diese Form in so fern, als eine Reihe von Briefen einem Dialog gleich kommt: sollten sie auch, wie im Werther, alle von einer und derselben Person sein, so ist es doch nur eine Reihe von Fragen ohne Antworten und von Antworten ohne Fragen, zu denen man sich aber die Antworten und die Fragen gar wohl ergänzen kann; also die eine Hälfte eines Dialogs, dessen andere Hälfte sich von selbst versteht. Und die Selbstgespräche in einem Tagebuche stehn ganz gleich den Selbstgesprächen, den Monologen eines Dramas: es sind eben Gespräche, die man mit sich selber führt; man wird von der Leidenschaft so ausser sich gesetzt, dass ein leidenschaftlicher Monolog, wenn auch nicht die Form, doch Wesen und Gehalt eines Dialoges hat. Aber es überwiegt bei dieser Auffassung und Darstellung des Romanstoffes das Individuell-lyrische; darum taugt auch eine solche Form recht eigentlich zum Ausdrucke einer von Moment zu Moment neu aufgeregten Empfindung, und sie hat von jeher ihre Anwendung besonders in solchen Romanen gefunden, die man sentimentale oder empfindsame nennt: an ihrer Spitze steht Göthes Werther. Als wir die Epopöie mit einander besprachen, erwies sich als eine nothwendige Folge ihrer sagenhaften Natur die Ausschliessung des Komischen; es erwies sich, dass jedes komische Epos von vorn herein eine missglückte Unternehmung sei (S. 90). Für den Roman, der sich einmal von jener ersten Grundforderung der sagenhaften Natur frei gemacht hat, gelten natürlich auch nicht die weiteren Folgen derselben; er braucht nicht sagenhaft zu sein, es steht ihm also auch das weite Gebiet des Komischen offen. Das Epos ruht so sehr mit beiden Füssen in der Einbildung, dass es einen fortgesetzten Widerspruch des Gefühles und des Verstandes, die Laune und den Spott nicht als herrschenden Character der ganzen Dichtung dulden mag. Am Roman dagegen hat vermittelst der verständigen Form der Prosa der Verstand einen solchen Antheil gewonnen, und das Gefühl ist durch die hier bedeutsamere Characteristik zu solcher Wichtigkeit gelangt, dass sich beide wohl auch in ihren Widersprüchen können geltend machen, dass im Roman Spott und Laune zulässig sind, sammt den Steigerungen und Veredlungen derselben, Ironie und Humor. Man nennt all dergleichen Romane im Allgemeinen komische, während dann wieder insbesondere diejenigen komisch heissen, in denen die Wirklichkeit unter dem Lachen des Gefühls, mit Laune, angeschaut wird, und mehr mit Laune als mit Spott. Ueberwiegt dagegen der Spott, der lachende Verdruss des Verstandes, so heisst der Roman ein satirischer. Und so bilden dann auch die humoristischen wieder eine besondere Classe. Diese letzteren zeichnen sich vor den übrigen komischen und überhaupt vor allen Romanen durch die grosse Einfachheit aus, durch den Mangel an Verwickelung, der ihrer geschichtlichen Wirklichkeit eigen zu sein pflegt. Führt man Yoricks empfindsame Reise von Sterne, führt man die humoristischen Romane von Jean Paul auf den eigentlichen historischen Kern zurück, wie wenig bleibt da, wie wenige Begebenheiten, und in welcher einfachen Verknüpfung! Aber der Humor braucht nicht mehr, ja ein Mehreres würde ihm nur hinderlich sein. Denn eine grössere Zahl und eine reichere und buntere Verwickelung der Begebenheiten würde die Production wie die Reproduction innerhalb der angeschauten Wirklichkeit festbannen, während grade der Humor sich über sie aufzuschwingen strebt; er braucht und fasst aus ihr nur einige wenige Puncte ins Auge und knüpft an diese sein reiches Gewebe. Spott und Laune sind nicht so mit Wenigem zufrieden; sie verlangen immer neue und neue Situationen, die ihren Widerspruch reizen; denn Laune ist ja nur das Lachen der Sentimentalität: die Sentimentalität wird aber niemals in so nachhaltige Bewegung versetzt wie das Gemüth; deshalb bedarf auch die Laune einen öfter wiederholten Anstoss als der Humor, das wehmüthige Lächeln des Gemüthes. In den satirischen Romanen macht sich der Verstand in höherem Grade geltend, als ihm das jemals in einer Epopöie würde verstattet sein. Gleichwohl macht er sich niemals so ausschliesslich geltend, dass nicht auch das Gefühl mit seiner Laune hineinspielen sollte. Und so ist auch hier dem Roman immer noch in prosaischer Form ein poetischer Gehalt gesichert. Erst in den eigentlich didactischen Romanen sehen wir alle Poesie gänzlich bei Seite geschoben, in solchen Romanen, mit denen es ganz eigentlich nur auf Belehrung des Verstandes abgesehen ist, in denen eine geschichtliche Wirklichkeit nur darum erzählt wird, um damit irgend eine philosophische oder moralische oder politische Tendenz oder dergleichen in lehrhafter Weise zu verfolgen. In solchen Romanen (Deutschland ist zu allen Zeiten reich daran gewesen, im siebzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert: ich erinnere an Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar) hat die prosaische Form über das epische und poetische Wesen einen vollständigen Sieg davon getragen: denn die Einbildung ist hier ganz zur Dienerin des Verstandes, die angeschaute Wirklichkeit ganz zum blossen Werkzeug ihrer Lehren herabgesetzt. Gewonnen hat man damit nicht viel, so wenig als mit dem didactischen Epos. Im didactischen Epos erscheint das didactische Element nur unpasslich für die poetische Darstellung, und im didactischen Romane das epische Element unpasslich für die prosaische; einem didactischen Epiker möchte man am liebsten die Lehre, einem didactischen Romanschreiber am liebsten die epische Wirklichkeit schenken, an welcher er lehrt. Es giebt nun noch eine oder zwei Unterarten vom Roman, die sich zu dem, was gewöhnlich Roman heisst, ziemlich ebenso verhalten, wie die poetische Erzählung zur Epopöie. Es sind das die Erzählung (der Ausdruck wiederholt sich) und die Novelle. Wir hatten früherhin (S. 79. 91) die poetische Erzählung darin von der Epopöie unterschieden gefunden, dass jener ein kleinerer Umfang, eine geringere Verwickelung, ein leichterer Inhalt eigen ist, dass ihre epische Wirklichkeit keine sagenhafte zu sein braucht und sogar erst vom Dichter erfunden sein kann, dass sie endlich deshalb Laune und Spott beinahe mit Vorliebe in sich aufnimmt. So vielseitig ausgebildet ist nun freilich der Unterschied zwischen der prosaischen Erzählung und dem Romane nicht. Denn schon der Roman bedarf keines sagenhaften Bodens, er kann aus Anschauungen der Gegenwart und aus einer frei schöpfenden und erfindenden Phantasie hervorgehn, und Spott und Laune, Ironie und Humor können auch seine Darstellung von Anfang bis zu Ende begleiten. Es bleibt daher nur dieser eine Umstand, dass die prosaische Erzählung in sich einfacher und minder verwickelt und von geringerem Umfange sei als der Roman. Und damit ist allerdings keine sonderlich scharfe Trennungslinie gezogen: denn verschiedene Personen und Zeiten haben für das Mehr oder Minder der Verwickelung und Ausdehnung auch einen verschiedenen Massstab. Zudem halten auch Verwickelung und Ausdehnung nicht immer gleichen Schritt: es giebt erzählende Prosawerke, die in sich so kurz sind, äusserlich aber so lang und breit, dass man sie aus dem einen Grunde Erzählungen nennen könnte und aus dem anderen Romane: so die humoristischen Erzählungen Jean Pauls; und umgekehrt liegt nicht selten in dem geringsten Umfange, wie ihn nur die sogenannten Erzählungen haben, eine Fülle des Inhalts, die für den weitläuftigsten Roman hinreichen würde: Beispiel die Novellen des Cervantes. Daher herrscht denn auch unter den Schriftstellern wie im Publicum eine beständige Unsicherheit im Gebrauche dieser Namen. Gebräuchlicher übrigens als die Benennung Erzählung ist eine von den Italiänern und Spaniern entlehnte, Novelle (novella, novela). Und nicht selten wird in der Theorie wie in der Praxis ein Unterschied zwischen beiden gemacht. In folgender Weise. Eine Erzählung, welche ruhig vorwärts schreitet, den Verlauf der Begebenheiten beim allerersten Anfange beginnt und ihn in möglichst gradem Gange bis zum letzten Ende vollständig ausführt, eine solche gänzlich und rein epische Erzählung nennt man dann auch eine Erzählung. Nimmt dagegen die Darstellung einen mehr dramatisch bewegten Character an, verweilt sie nur bei den bedeutsameren und wichtigeren Situationen, zeigt sie ihren Helden gleich beim ersten Auftreten so, dass er durch Handeln und Leiden eine volle und gespannte Theilnahme in Anspruch nimmt, und bricht sie ab, wenn das Wesentliche geschehen und vollbracht ist, so dass sich der Leser das Minderwesentliche, das noch übrig bleibt, in eigenen Gedanken hinzu ergänzen kann: ist die Erzählung so beschaffen, so heisst sie eine Novelle. Eine Erzählung wird also z. B. damit beginnen, dass der Held von Vater und Mutter Abschied nimmt und in die Fremde zieht, und wird endigen mit dem Gastmal und dem Tanz bei seiner Hochzeit; eine Novelle dagegen zeigt ihn, sowie sie anhebt, etwa gleich mitten in der Wanderung, weit fort in der Fremde, gleich in allerlei Reiseabenteuern, und sie ist schon fertig, sowie jeder sieht, dass es zu einer Hochzeit kommen müsse, aber bis zur Hochzeit selbst geht sie grade nicht fort. Dieser Unterschied wäre ganz gut, und man müsste ihn billigen, wenn er nur durchzuführen wäre. Aber so scharf sondern sich die beiden Arten der Darstellung nicht überall; man bedürfte dann eigentlich noch einiger Unter-Unterschiede, zur vollständigen Classification würden noch novellenartige Erzählungen und erzählungartige Novellen gehören. Zudem erscheint dieser Gegensatz auch in so fern noch willkürlich, als er weder in dem Worte Erzählung, noch in dem Worte Novelle irgendwie sprachlich begründet ist. Die Italiäner haben seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo diese Gattung der Litteratur bei ihnen beginnt, alle und jedwede erzählende Prosa, sobald man meinte damit etwas bisher noch nicht Erzähltes oder nicht so Erzähltes zu berichten, und sobald der Umfang ein eng begrenzter, selbst wenn er der allergeringste war, novella genannt, d. h. eine kleine Neuigkeit. Novelle bedeutet mithin s. v. a. Anecdote, und Anecdote hat ja auch ursprünglich ganz denselben Sinn und bezeichnet eine noch nicht herausgegebene, noch unbekannte, neue Geschichte. Alle und jede eng begrenzte erzählende Prosa, auch die eigentlich historische, kann also mit dem Namen Novelle belegt werden. So enthält die älteste italiänische Novellensammlung, die noch dem dreizehnten Jahrhundert angehörenden Cento novelle antiche, unter andern eine ganze Menge solcher Stücke, die wir historische Anecdoten nennen würden, einzelne Thaten und Reden von bedeutenden Personen des Mittelalters, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Erst über ein halbes Jahrhundert später gelangte die italiänische Novelle durch Boccaccios Decamerone zu einer grösseren Kunst der ausführlichen Darstellung und wandte sich zugleich beinahe gänzlich von dem eigentlich Historischen ab. Aber wohl zu merken: erfunden hat Boccaccio keine einzige seiner hundert Geschichten, sie haben alle, wenn nicht historische, dann immer sagenhafte Natur, die Darstellung hält sich in allen sammt und sonders in der episch ausführlicheren Weise jener sogenannten Erzählungen, und gleichwohl nennt er alle Novellen. Und ebenso sind die spanischen Novellen beschaffen, z. B. die von Cervantes, auch sie würden nach jener Theorie Erzählungen zu nennen sein. Nur darin weicht Cervantes von Boccaccio ab, dass er den Inhalt seiner Novellen wohl grossentheils schon selber erfunden hat: er lebte aber auch in einer Zeit, wo in Spanien wie in anderen Ländern das Epos und mit ihm die sagenhafte Richtung der Litteratur längst abgestorben war. Nach all diesem ist es nichts als eine pure Willkürlichkeit, wenn wir nun die Sache gradezu auf den Kopf stellen wollen und Erzählungen der Art, wie sie bei den Italiänern und Spaniern Novellen heissen, Erzählungen nennen, solche aber, wie jene eigentlich gar nicht gekannt haben, grade solche nur Novellen mit diesem italiänischen und spanischen Namen. Der ganze Unterschied ist ersonnen, wie jener zwischen Ballade und Romanze (S. 99). Noch mag, mehr als eine historische Notiz, bemerkt werden, wie man in neuerer Zeit Romane aus mehreren in sich abgeschlossenen, aber unter einander zusammenhangenden Novellen zusammengesetzt hat. Es giebt dergleichen Romane von Steffens, z. B. Die Familien Walseth und Leith (1827) und Die vier Norweger (1828); er hat dafür den Namen Novellencyclus erfunden. Da hier das Ganze des Romans aus einer Reihe einzelner Novellen erwächst, so ist damit wenigstens das wieder bestätigt, dass sich die Erzählung oder Novelle vom Roman unterscheide durch ihre Einfachheit oder Kürze, oder mit anderen Worten, dass sich die Novelle zum Roman verhalte, wie die epische Rhapsodie zur Epopöie. Nachdem wir so die beiden Hauptarten der erzählenden Prosa, die Prosa der Geschichtsschreibung und die des Romans, für sich und in ihrem Verhältniss unter einander und zur Epik betrachtet haben, ist noch von zwei Abarten derselben zu reden, vom Gespräch und von der Beschreibung. Was nun zuerst das Gespräch betrifft, so haben wir bereits vorher bei Betrachtung des Romans gesehen, dass dieser es liebe, bei einzelnen epischen Situationen in lyrischer Weise zu verweilen und die von irgend einer Thatsache angeregten inneren Zustände in dialogischer Form zu entwickeln. Greift man nun eine solche Situation ganz vereinzelt auf und baut auf sie in dieser Vereinzelung einen Dialog, so dass die Situation nur noch aus diesem Gespräch zu erkennen, selbst aber nicht eigentlich erzählt ist, so entsteht daraus, was man vorzugsweise Gespräch nennt. Dergleichen lässt sich mit der lyrischen Epik zusammenstellen. Als wir von dieser, von Ballade und Romanze sprachen (S. 62. 94 fg.), haben wir in der Poesie mehrerer Völker genug Dichtungen angetroffen, die weiter nichts sind als Dialoge, ruhend auf dem Hintergrunde einer einfachen und bloss durch das Zwiegespräch angedeuteten epischen Situation. Wenn die prosaischen Gespräche gewöhnlich etwas länger und breiter ausgeführt sind, so ist das eine mehr zufällige Folge der äusseren Form. Als Erfinder dieser Nebenart von poetischer Prosa ist wahrscheinlich Lucian zu bezeichnen; in seinen Gesprächen bringt er theils göttliche Wesen zusammen, theils, indem er sie in die Unterwelt verlegt, historische Personen, die im Leben nicht wohl hätten mit einander sprechen können, weil sie ganz verschiedenen Völkern oder gar auch verschiedenen Zeiträumen der Geschichte angehören. Namentlich in diesen Todtengesprächen giebt ihm die Wechselbeziehung, in welche die beiden Redenden durch ihre Reden kommen, oft das beste Mittel an die Hand zu einer anschaulichen Entwickelung ihrer Charaktere. In neuerer Zeit ist Lucian von Engländern und Franzosen nachgeahmt worden; bei uns namentlich von Wieland in dessen Gesprächen im Elysium und in den Neuen Göttergesprächen. Damit zusammenzustellen sind die meisten Idyllen Salomon Gessners und Maler Müllers, insofern die meisten eben solche Gespräche sind, solche dialogische Entwickelungen episch motivierter innerer Zustände, nur Gespräche von Schäfern und Schäferinnen und Satyrn u. dgl. Es ist nicht zufällig, dass diese ganze Art und Form bei den Griechen erst so spät aufgekommen und zu uns nur durch Nachahmung gelangt und jetzt seit Langem wieder ungebräuchlich geworden ist: sie hat etwas Unkünstlerisches, das man nicht wohl läugnen kann: hier, wo der Dialog nicht innerhalb eines Romans, nicht organisches Glied solch eines grösseren Ganzen ist, sondern für sich allein dasteht, macht er auch für sich selbst Ansprüche und sollte nun diese Ansprüche durch grössere Kunstmässigkeit der Darstellungsform zu bekräftigen und zu sichern suchen: grade hier erscheint das prosaische Gewand einer in sich poetischen Production in seiner vollsten Ungehörigkeit. Auch die griechischen Idyllendichter und nach ihnen Virgil bedienten sich wiederholendlich der Gesprächsform; aber diese dialogischen Idyllen sind wie die anderen ganz dichterisch gestaltet, auch in Versen abgefasst. Und schon in einer viel früheren Zeit hatte die griechische Litteratur solche abgerissene Gespräche: die μῖμοι des Syracusaners Sophron, eines Zeitgenossen des Euripides, so genannt, weil darin das gewöhnliche Leben in seinen Sitten und Characteren mit treuer Nachahmung aufgefasst und dargestellt wurde: aber auch diese Mimen waren nicht prosaisch, wenn schon man es hin und wieder so angegeben findet: es ist dargethan, dass sich Sophron nur eine grössere Freiheit im wechselnden Rhythmus und Längenmass der Verse genommen, dass er sich in diesen seinen halbdramatischen Dichtungen nur nicht der im eigentlichen Drama für den Dialog gewohnten Versarten bedient habe. Sodann die Beschreibung, diese das prosaische Gegenbild der didactischen Epik: sie hat es gleich dieser mit der ruhenden Wirklichkeit zu thun. Aber sie handhabt diesen Stoff doch in anderer Weise. Die didactische Epik hat stäts ein lyrisches Element, ihre Lehren haben Bezug auf das Gefühl: hier dagegen, hier in einer prosaischen Schrift wird hauptsächlich eine vom Verstand zum Verstande gerichtete Belehrung bezweckt, hier kann Beziehung auf das Gefühl nicht gefordert werden. Eins jedoch ist auch hier nothwendig, nämlich dass der Verfasser durch eine gleichsam historische Entwickelung es der Einbildungskraft möglich mache, dem reproducierenden Verstande hilfreiche Dienste zu leisten. Und dadurch reiht sich dann die beschreibende Prosa an die erzählende, während sie auf der anderen Seite, da sie keine eigentlich erzählende ist, nicht die bewegte Wirklichkeit darstellt, in das Gebiet der lehrhaften, der didactischen hinüberreicht. Es wird also die prosaische Beschreibung schon der prosaischen Deutlichkeit und Verständlichkeit wegen, es wird auch sie gleich der in Gedichten, wo es nur irgend geht und so gut es geht, sich successiv zu gliedern suchen. Es ist das freilich nicht überall leicht, und am schwersten da, wo die Beschreibung am häufigsten gefordert wird, in den Naturwissenschaften. Aber auch hier wird es in den meisten Fällen möglich sein, sich dieser Regel eines geordneten, gleichsam historischen Fortschrittes wenigstens annäherungsweise zu unterwerfen, und je mehr es geschieht, desto förderlicher wird es auch den lehrhaften Zwecken sein. Hat also z. B. ein Botaniker eine Pflanze zu beschreiben, so wird er nicht jetzt von der Frucht, dann von der Wurzel, dann von der Blüte, dann von den Blättern reden, sondern er wird das Bild am besten in der Reihenfolge entwerfen, in welcher die Pflanze selber sich entwickelt; seine Beschreibung wird Schritt für Schritt einen solchen Gang einschlagen, dass man den Verlauf der Pflanze von der Wurzel an durch Stengel, Blätter und Blüte bis zur Frucht gleichsam geschichtlich verfolgt, dass sie gleichsam vor unseren Augen wächst. So auch in der Geographie, in der Topographie. Hier wird auch der am anschaulichsten beschreiben, den Verstand am besten belehren, der die Einzelheiten des ganzen grossen Bildes successiv zu ordnen weiss, der uns, wie ein Führer den Wanderer, nach und nach von Berg zu Berg, von Fluss zu Fluss geleitet. Ein Muster einer solchen successiven oder progressiven naturhistorischen Landbeschreibung liefern E. Pöppigs Reisen in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome 1827─1832, überhaupt vielleicht eines der besten unter allen neueren Werken dieser Art. Hier soll z. B. einmal die südamericanische Gebirgswelt namentlich in Bezug auf ihre Vegetation geschildert werden. Es wäre schon progressive Anordnung genug gewesen, wenn der Verfasser die Einzelheiten nur aufgezählt hätte, wie sie Stufe für Stufe etwa vom Fusse des Berges bis zum Gipfel auf einander folgen. Aber er weiss die Anschaulichkeit noch zu steigern, indem er wirklich erzählt, wie er eines Tages in die Berge hinauf gezogen sei; und nun sehen wir mit ihm und aus seinen Augen Eins nach dem Anderen an ihm und an uns vorübergehen, und wir können zuletzt die einzelnen Erscheinungen in unserer Erinnerung so ununterbrochen zusammenhangend festhalten, als wären wir mit ihm gegangen. Nicht minder ausgezeichnet und musterhaft ist Alexander von Humboldts Aufsatz Ueber die Steppen und Wüsten (Ansichten der Natur Bd. 1, im Auszug LB. 3, 2, 1161): die Prairien Südamericas werden hier in anschaulichster Folge geschildert, indem die Beschreibung sich an die Tages- und Jahreszeiten anschliesst und die einzelnen Erscheinungen so vorführt, wie sie mit diesem zeitlichen Wechsel selbst auch wechseln. Eine in solcher Weise historisch gewendete Beschreibung ist schon dergleichen naturwissenschaftlichen Werken vortheilhaft und in so fern von ihnen zu fordern: noch um vieles mehr wird es in dem Wesen einer eigentlich erzählenden Schrift begründet sein, dass an denjenigen Stellen, wo die Erzählung in die Beschreibung übergeht, die letztere, um den Ton des Ganzen nicht zu stören, auch den Anschein von Erzählung gewinne. Und dgl. Stellen müssen häufiger oder seltener wie in jedem epischen Gedichte, so auch in den verschiedenen Arten der erzählenden Prosa sich vorfinden, im Roman sowohl wie in Geschichtswerken. Die Geschichtsschreibung wird öfter in die Erdbeschreibung überschweifen müssen; und auch der Verfasser eines Romans hat jezuweilen eine Gegend, oder er hat die Kleidung einer seiner Personen zu beschreiben. Wie es der Historiker zu halten habe, wo er als Geograph sprechen muss, lehrt durch das schönste Beispiel Johannes von Müller im Anfang der Schweizer Geschichte: da ist kein verworrenes und verwirrendes Hin- und Herschweifen, sondern in der wirklich lehrhaften Uebersichtlichkeit schreitet die Beschreibung von Süden gegen Norden, von den Höhen in die Thäler nieder. Insbesondre von der erzählenden Prosa des Romans, d. h. des prosaischen Epos, kann man verlangen, dass ihre Beschreibungen gehalten und getragen seien von dem Fortschritte der Erzählung, dass sich hier die ruhende Wirklichkeit mit und in der thatsächlich bewegten historisch entwickle. So sind z. B. auch alle die vielen norwegischen Landschaftsschilderungen behandelt, die in den erwähnten Romanen von Steffens vorkommen; und ebenso, ich nenne diess Beispiel als eins der vorzüglichsten Muster, verfährt die „Novelle“ von Göthe (LB. 3, 2, 689): hier ist die Erzählung von Anfang bis zu Ende fast unausgesetzt von Beschreibung begleitet, aber die Beschreibung ist so unlösbar in die Erzählung verwoben, dass sie darüber selbst einen ganz historischen Character angenommen hat. Nicht so musterhaft sind bei Walter Scott und seinen Nachahmern die ihnen so beliebten und geläufigen Schilderungen der Aeusserlichkeit von Personen, ihres Aussehens, ihrer Kleidung u. s. f. Auch die epische Poesie ist oft genug im Fall Kleidungen oder Waffen zu beschreiben: aber wie verfährt in dergleichen Umständen z. B. Homer? Wie schon früher (S. 29) berührt worden, erzählt er, wie die Waffen nach und nach entstehn, erzählt er, wie die Kleider Stück für Stück angelegt werden: er weiss das an sich Unbelebte und Unbewegte mit in den belebten und bewegten Gang der Ereignisse hinein zu ziehen. So sollte es denn auch die prosaische Epopöie, der Roman, halten. Nicht aber so Walter Scott: er beschreibt in allen solchen Fällen wirklich nur, er lässt das Ruhende in seiner Ruhe, er schaut das, was in der Wirklichkeit neben einander ist, auch neben einander an, obgleich er es doch nur nach einander vorführen kann, es also auch in einem historischen Nacheinander auffassen sollte, er bleibt stille stehn, geht nicht vorwärts. Von einer Art didactisch erzählender Prosa, die eigentlich als organisches Glied in Werke der Geschichtsschreibung gehört, die aber auch öfters eine selbständige Geltung für sich in Anspruch nimmt, sprechen wir noch zuletzt besonders. Es ist diess die sogenannte Characteristik. Einem Historiker ist es oft zweckdienlich, den Character irgend einer ausgezeichneten Person, deren Geschichte er erzählt hat oder erzählen will, noch zuletzt oder vorher zum Gegenstande einer besonderen Darstellung zu machen, damit derselbe durch diese psychologische Zusammenfassung in ein noch helleres Licht trete. Denn vielleicht gestattet ihm der geringe Umfang oder die Bestimmung seines Werkes nicht, die Geschichte jener Person so umständlich zu erzählen, dass aus den erzählten Thaten und Reden der Character in genügender Deutlichkeit hervorleuchtete, oder er hat auch vielleicht eine solche Fülle thatsächlicher Einzelheiten zu berichten, dass er fürchten muss, der Character werde dadurch eher verdunkelt. Dann ist ihm, dem Historiker, diese Aushilfe, eine abgelöste, besondere Characteristik als Einleitung oder als Recapitulation am Schlusse, wohl zu erlauben, während in einem Roman dergleichen von vorn herein nur tadelhaft wäre: denn der Roman soll einmal, das ist ja ein hauptsächlicher Zug seiner Eigenthümlichkeit, durch Thaten und Reden characterisieren, nicht ausserhalb derselben. Eine solche Characteristik gehört nun wesentlich auch mit zur Beschreibung: denn auch hier ist der Gegenstand der Darstellung ein unbewegt verweilender: der Character ist ja der eine unveränderlich ruhende Grund der vorüberfliessenden und bunt wechselnden Thaten und Begebenheiten. Soll nun aber diese Darstellung zu dem historischen Wesen der übrigen Theile des Werkes passen, so muss auch sie, muss auch die Characteristik eine historische Farbe annehmen. Und das ist gar nicht so schwer, denn einerseits gliedert sich jede wohlgehaltene psychologische Entwickelung von selbst in solcher Weise, entwickelt sich in einer causalen Reihenfolge, und sodann muss hin und wieder auf bezeichnende und beweisende Begebenheiten aus dem Leben der characterisierten Person Bezug genommen werden, womit dann die Characteristik wenigstens stellenweise in das Gleis der eigentlichen Erzählung zurücklenkt. In diesem Stück ist Johannes von Müller weniger ein Muster: seine Characteristiken, z. B. die Ludwigs XI. und Karls des Kühnen (LB. 3, 2, 831 und 835), tragen mehr das Gepräge einer aus Einzelheiten etwas künstlich zusammengesetzten Mosaik, als sie daraus zu einem belebten Organismus erwachsen wären. Höher stehen in dieser Beziehung ausser Fr. Rühs, aus dessen Geschichte von Schweden die Characteristiken Gustav Adolfs und Karls XII. wohl als vorzügliche Beispiele dürfen angeführt werden, der Biograph Karl August Varnhagen von Ense und vor allem der Historiker Leopold von Ranke: es mag genügen von jenem die Schilderung Blüchers (LB. 3, 2, 1313), von diesem die Characteristik des Ignatius Loyola (LB. 3, 2, 1471) als besonders mustergiltig hervorzuheben. In ähnlicher Weise nun wie das Gespräch hat sich auch die Characteristik zu einer besonderen Gattung didactisch erzählender Prosa erhoben. Diese Characteristiken sind von doppelter Art. Entweder schliessen sie sich näher an die Geschichtsschreibung an, insofern ihr Gegenstand eine wirklich historische Person ist: solche Characteristiken sind z. B. die Gedächtnissreden ( éloges ), die von französischen Academikern auf verstorbene Mitglieder gehalten werden, solche auch die litterarischen Characteristiken, wie sie A. W. von Schlegel z. B. von Bürger und Anderen entworfen hat: die Thaten, aus denen hier der Character entnommen wird, sind Schriften, und der Character auch nur der schriftstellerische. Hieher gehören auch die früher schon erwähnten Schilderungen, die der König Ludwig von Bayern Walhallas Genossen betitelt hat (LB. 3, 2, 1493). Oder aber, und diese zweite Art ist in der Litteratur von grösserer Bedeutung, sie schliessen sich mehr an den Roman, und die Persönlichkeiten, deren Character soll geschildert werden, sind erst zu diesem Behufe erfunden. Solche Characteristiken sind die Charactere des Theophrast und seiner Nachahmer, unter denen de la Bruyère der berühmteste ist; auch da wird unter der Annahme einer einzigen bestimmten Persönlichkeit je ein allgemein gangbarer Character entwickelt; ein Geizhals z. B. wird hingestellt und auf dem Grunde dieser erfundenen Persönlichkeit der Geiz von allerlei Seiten her und nach allerlei Seiten hin characteristisch geschildert. Die Freiheit der Erfindung macht dem Verfasser solcher Characteristiken das Geschäft leichter, als es für die Characteristik historischer Personen ist. Für den Verfasser einer historischen Characteristik ist die psychologische Entwickelung fast das einzige, wenigstens das hauptsächlichste Mittel, um seiner Darstellung einen gewissermassen historischen Verlauf zu geben: solch ein Characteristiker dagegen kann auch die einzelnen characteristischen Thatsachen in ganz eigentlicher Art historisch verbinden. Zum Beispiel, er will den Character eines Zerstreuten entwerfen: wäre der Zerstreute eine historische Person, so würde die eine Thatsache, die als Beleg erzählt wird, vielleicht in ihr zehntes, die andere in ihr fünfzigstes Lebensjahr gehören, und es bestünde zwischen ihnen kein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang; hier aber, wo die Persönlichkeit des Zerstreuten mit all ihren Zerstreutheiten frei erfunden ist, darf auch alles das in den ununterbrochen fortschreitenden Verlauf der Geschichte etwa eines einzigen Tages aus dessen Leben zusammengedrängt werden. Solchen Characteristiken fehlte dann, um zu Novellen oder gar zu Romanen zu werden, nur eine grössere Fülle von thatsächlichem Inhalt und eine reichere Verwickelung desselben. Wirklich findet sich dergleichen bei Cervantes unter seinen Novellen; es sind reine Characteristiken, die er jedoch Novellen nennt. 2. DIE LEHRENDE PROSA. Wie sich die erzählende Prosa sowohl ihrem innern Wesen nach als in ihrer äussern historischen Entwickelung an die epische Poesie anlehnt, so ist die zweite Art der Prosa, die lehrende, die didactische, das Nachbild und Gegenbild der Lyrik, und zwar derjenigen Lyrik, in welcher schon eine prosaische Richtung anklingt, der didactischen. Schon früherhin (S. 154) ist angedeutet worden, wie sich das auch wenigstens in der griechischen Litteratur ganz historisch nachweisen lasse: da finden sich die Anfänge der philosophischen Didaxis dem Wesen und der Form des Vortrages nach noch innerhalb der Poesie, und dann erst, als die Erkenntniss wuchs, und die Philosophie auf verschiedenen Wegen immer mehr der systematischen Ausbildung entgegenreifte, erst da stellte sich nach und nach das Bedürfniss der prosaischen Form und die prosaische Form selber ein; die rednerische Prosa aber hielt in ihrer Ausbildung gleichen Schritt mit der philosophischen. In der neuen Zeit freilich ist auf dem Gebiete der lehrenden Prosa kein Stufengang der Art vorhanden, und die Gründe dazu liegen nah. Die Deutschen und die übrigen neueren Völker bekamen zu einer Zeit, da ihre Poesie noch am Anfang ihrer Laufbahn stand, da sie nur noch das einfache Heldenlied besass und noch keine Lyrik, bekamen damals schon mit dem Christenthum und der kirchlichen Gelehrsamkeit auch die lehrende Prosa, und so gehn von den ersten Anfängen unserer Litteratur an neben den verschiedenen Formen der Poesie, wie sie stufenweise sich entwickelten, immer schon die beiden Hauptarten der lehrenden Prosa her, die Abhandlung und die Rede. Gleichwohl wiederholt sich auch in Deutschland, nur unter solchen Umständen mehr verwischt und getrübt, jenes historische Verhältniss der didactischen Prosa zur didactischen Poesie. Denn der erste rechte Aufschwung, die erste reichliche Fülle und Blüte der abhandelnden und redenden Prosa fällt auch bei uns in eine Zeit, wo die Poesie, namentlich aber die Lyrik sich überblüht hatte und reif geworden war zur Ablösung durch die Prosa: die Zeit vom Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts bis um 1350, die Blütezeit namentlich der deutschen Mystik. Vorher hatte man auch in Deutschland für all dergleichen Dinge der poetischen Form den Vorzug gegeben. Es ist nach diesen historischen Bemerkungen nöthig, das verwandtschaftliche Verhältniss dieser beiden Arten von Poesie und Prosa nun auch in Bezug auf ihr inneres Wesen zu berühren; dabei wird sich dann auch ergeben, in welche Arten die didactische Prosa zerfalle. Die Lyrik fasst das innere Leben des Gemüthes als ein gegenwärtiges und im einzelnen Moment fixiertes auf. In so fern kann denn auch die Lyrik Alles in ihren Bereich ziehn, was überhaupt dem geistigen Leben des Menschen zufällt, und was, da es unvergänglich ist, da es immer bestanden hat und bestehn wird, deshalb auch immer gegenwärtig ist und in jedem einzelnen Momente existiert, die Gesetze der Natur, der Sitte, der Religion. Wenn es nun so die Lyrik sich zur Aufgabe setzt, die Wahrheiten der Sittenlehre, der Religion, der Naturkunde zur Erkenntniss zu bringen und von ihnen zu überzeugen, so ist sie didactisch: die gleichen Zwecke aber verfolgt die didactische Prosa. Nur mit dem Unterschiede, dass die didactische Lyrik immer, um ihre poetische Geltung zu behaupten, um eben Lyrik zu sein, über den blossen Verstand hinausgeht und ihren Lehren namentlich eine Beziehung auf das Gefühl zu geben bestrebt ist, und dass, wo sie diess nicht thut, sie auch aufhört, Poesie zu sein, und nichts mehr mit der Poesie gemein hat als die äussere metrische Form; dagegen die didactische Prosa ist erst recht Prosa, je mehr sie innerhalb des Verstandes verharrt, aber es thut ihrem Wesen auch keinen Abbruch, wenn sie, um die Ueberzeugungen des Verstandes mit grösserer Sicherheit durchzusetzen, auch das Gefühl, ja selbst die Phantasie zu Hilfe ruft, sobald nur die Mittheilung der erkannten Wahrheit an den Verstand, sobald nur die Ueberzeugung das zunächst wichtigste Ziel verbleibt. Die lehrhafte Prosa schränkt sich also entweder auf den Verstand und die Ueberzeugung ein, oder sie nimmt auch Gefühl und Phantasie in Anspruch und fügt somit der Ueberzeugung die Ueberredung hinzu: dadurch nun unterscheiden sich auch die beiden Hauptarten der didactischen Prosa, die abhandelnde und die rednerische: die abhandelnde überzeugt, die rednerische überzeugt und überredet. Wir fassen zuerst die abhandelnde Prosa ins Auge. Zur abhandelnden Prosa gehören alle wissenschaftlichen Werke, deren Inhalt kein historischer ist, die nicht eine bewegte und vergangene Wirklichkeit der Aussenwelt zum Gegenstande ihrer Darstellung haben, sondern die Gesetze, die nur dem Geiste wahrnehmbar in beständiger Gegenwart und unveränderlich andauernd hinter und unter der beweglichen und vergehenden äusseren Wirklichkeit liegen. Die Geschichtsschreibung gehört also zur erzählenden Prosa: die Philosophie der Geschichte dagegen zur abhandelnden. Oder: die Naturgeschichte, wie man das Wort jetzt strenger zu nehmen pflegt, ist rein historisch: sie erzählt von der Bildung und Veränderung der Erde oder der ganzen Welt und dessen, was in und auf und mit ihr lebt; die Naturbeschreibung hält zwischen erzählender und abhandelnder, historischer und didactischer Prosa eine Mitte, da ihr Gegenstand zwar eine ruhende Wirklichkeit, aber eine Wirklichkeit der Aussenwelt und eine solche ist, die in der Darstellung den Anschein einer historischen Beweglichkeit gewinnen kann und soll: die Naturkunde dagegen ist rein abhandelnd: denn sie hat bloss von den unwandelbaren Gesetzen zu sprechen, von denen jene bewegte oder ruhende Wirklichkeit nur die äussere vergängliche Erscheinung ist. Und so fort. Trotz diesem wesentlichen Unterschiede kann man es dennoch der abhandelnden Prosa nicht verwehren, dass sie jezuweilen in die Erzählung oder Beschreibung hinüberstreife; es wird ihr auch in vielen Fällen unmöglich sein, anders zu verfahren. Namentlich ist naturwissenschaftlichen Werken diese Freiheit zu lassen: die Naturkunde wird fort und fort genöthigt sein, hier Glieder der Naturgeschichte, dort Glieder der Naturbeschreibung in sich aufzunehmen. An die Erinnerung also darf sich der abhandelnde Prosaiker sehr wohl wenden: denn nur diese eine Seite der Einbildungskraft wird bei solchem Verfahren in Mitwirkung gezogen; aber nicht an die selbständige und willkürlich schöpferische Phantasie und ebenso wenig an das sinnlich und sittlich reizbare Gefühl. Denn sein Ziel ist lediglich die volle unverkürzte Wahrheit, nicht aber das Gute als solches, nicht das Schöne, nicht das Edle und Anmuthige. Die abhandelnde Prosa soll nur überzeugen wollen, die Ueberredung dagegen durch Anregung des Gefühls und der Phantasie muss sie der rednerischen überlassen, bei der sie durch Zweck und begleitende Umstände gefordert wird, wie wir späterhin sehen werden. Es sind nun zwei Arten der abhandelnden Prosa zu unterscheiden, die Abhandlung im engeren Sinne des Wortes und das Lehrbuch. Die Abhandlung unterscheidet sich vom Lehrbuch durch ihre einschränkende Einfachheit: sie hat zum Gegenstande immer nur eine jener gesetzlichen Wahrheiten, nur einen wissenschaftlichen Satz; sie kann aber in dessen Behandlung bejahend oder verneinend oder aus Bejahung und Verneinung zusammengesetzt sein, behaupten oder widerlegen oder vertheidigen. In beiden letzteren Fällen, wo nicht bloss einfach und direct zu überzeugen, sondern zugleich eine entgegenstehende Meinung oder Ueberzeugung aus dem Wege zu räumen ist, in diesen Fällen ist dann eine vorzügliche Strenge und Schärfe der Untersuchung und die grösste Genauigkeit und Ausführlichkeit der Beweisführung erforderlich. Wie aber auch die Abhandlung beschaffen sein möge, sei es bejahend oder verneinend oder vertheidigend, jede muss überall einem in bestimmter Weise geordneten Entwurfe folgen. Und darüber gilt im Allgemeinen folgende Regel, die in so fern sicher ist und unverletzlich, als man sie dem Verstande abgesehen hat, der seine Urtheile durch eben ein solches Verfahren gewinnt. Es besteht nämlich jede rechte Abhandlung aus drei Gliedern, dem Eingang (exordium oder expositio), der Abhandlung im engern Sinne des Wortes oder der Ausführung (disputatio) und dem Beschluss (conclusio). Natürlich dürfen diese Glieder nicht stückweise getrennt auseinanderfallen, sondern der Uebergang vom einen zum andern muss in schicklicher Weise vermittelt sein; es müssen organisch zusammenhangende Glieder sein, nicht mechanisch zusammengesetzte Stücke. Im Eingang wird der Satz, welcher soll erörtert, die Wahrheit, von welcher soll überzeugt werden, in Einem Wort das Thema einfach aufgestellt und zugleich die Wichtigkeit oder Nothwendigkeit der Erörterung nachgewiesen; damit verbindet sich etwa noch, dass von den abweichenden Ansichten oder den grade entgegengesetzten Behauptungen Anderer Bericht erstattet wird. In den meisten Fällen ist es zweckmässig, dass diese Begründung und Einleitung noch vorangehe, um auf das Thema hinzuführen, und dann erst das Thema selbst ausgesprochen werde. Ist diess geschehen, weiss also der Leser, was es gelte, und dass es der Mühe werth sei, darüber nachzudenken und davon zu sprechen, so kommt die Erörterung und Ausführung selbst, der eigentliche Kern der Abhandlung, der deshalb auch wieder insbesondere Abhandlung genannt wird. Hier wird die vorher einfach und einheitlich aufgestellte Wahrheit analysiert: hier wird der Satz, wenn er mehr allgemeiner Art ist, in seine Besonderheiten auseinandergelegt, wenn aber ein besonderer, auf die Allgemeinheit zurückgeführt; in beiden Fällen bedarf es einer Zergliederung seines Inhaltes; von allen Seiten her werden Beweisgründe für seine Wahrheit beigebracht, und nach allen Seiten hin werden Folgerungen daraus gezogen und damit die möglichen oder wirklich gemachten Einwürfe widerlegt. Dann erst, nach dieser analytischen Mannigfaltigkeit der Erörterung kommt im dritten Theile, im Beschluss, die synthetisch zusammenfassende Einheit: hier kehrt der Satz wieder, wie er schon im Eingange ist aufgestellt worden, aber doch in ganz anderer Weise, unter ganz anderen Verhältnissen: dort ward er aufgestellt, um bewiesen zu werden, hier erscheint er als bereits bewiesen; dort ward er vorgelegt, um zergliedert zu werden, hier werden die vereinzelten Glieder von Neuem zu einem Ganzen zusammengefasst. So stellt jede Abhandlung eine Kreislinie dar, die nach einem langen Umschweife von einer anderen Seite her in denselben Punct zurückkehrt, von dem sie ausgegangen. Sodann das Lehrbuch. Das Lehrbuch verhält sich zur Abhandlung ungefähr wie die ausgebildete Epopöie zum einfachen Heldenliede. Während die Abhandlung nur einen vereinzelten wissenschaftlichen Satz erörtert, legt das Lehrbuch ein ganzes System wissenschaftlicher Wahrheiten dar, es enthält alle einzelnen Lehren einer Wissenschaft zusammengefasst in sich. Ueber Plan und Anordnung eines Lehrbuches lassen sich begreiflicher Weise keine allgemeinen Regeln aufstellen, da hierin die eine Wissenschaft diess, die andere jenes Verfahren fordert, ja manche Wissenschaft deren sehr wohl mehrere zulässt, und da auch der jedesmalige Zweck und das Bedürfniss derer, für welche das Lehrbuch zunächst bestimmt ist, manche Verschiedenheiten der inneren und äusseren Einrichtung nöthig machen. Das freilich muss in jedem Lehrbuch beobachtet werden, was sich übrigens ganz von selbst versteht, dass man die Sachen nicht auf den Kopf stelle, dass man die Folgerungen erst dann bringe, wenn die Sätze, von denen sie begründet werden, aus denen sie hervorgehn, bereits dagewesen sind. Dass jedoch begründender Satz und Folgerung immer unmittelbar zusammenstehn, das kann man nicht so verlangen. Wenn man ein System rein in seinem abstracten Schematismus auffasst, so steht da freilich Manches neben einander, was doch die Darstellung immer nur nach einander geben kann, und Manches unmittelbar zusammen, was die Darstellung weit von einander trennen muss; dadurch wird dann der grade Verlauf der Entwickelung mannigfach unterbrochen, und der Verfasser ist fort und fort zu demselben episodischen Verfahren genöthigt, das wir bereits in der Epopöie (S. 83) und in den meisten Arten der Geschichtsschreibung (S. 249) gefunden haben; in der blossen Abhandlung ist wie in der Biographie und im einfachen Heldenliede der Regel nach kein Anlass zu einer solchen episodischen Behandlungsweise. Es giebt nun noch zwei mehr künstlerische Gestaltungen der abhandelnden Prosa, die Form des Dialogs und die Briefform. Wir sind beiden Formen bereits im Gebiet der erzählenden Prosa, des Romans, begegnet, und wie wir sie dort kennen lernten als Mittel, eine dargestellte Persönlichkeit noch individueller zu characterisieren, so werden sie auch in der abhandelnden Prosa dann angewendet, wenn es darauf ankommt, einen wissenschaftlichen Satz oder eine Reihe von Sätzen in der grössten Anschaulichkeit darzustellen und recht siegreich überzeugend durchzuführen. Denn mit diesen Formen ist die Möglichkeit gegeben, die behauptete Wahrheit so erschöpfend von verschiedenen Standpuncten aus zu betrachten und alle Einwürfe, auch die unbedeutendsten, in solcher Ausführlichkeit hin und her zu überlegen und wo nöthig auch zu widerlegen, wie das in der Form der gewöhnlichen Abhandlung nur selten angeht. Und natürlich sind diese Vortheile bei dem schneller wechselnden Dialog in noch reicherem Masse vorhanden als bei der Briefform. Die letztere wird deshalb auch auf Gegenstände, wie sie hier in Betracht kommen, nur seltener angewendet. Ein vorzügliches Beispiel sind die polemischen Briefe Lessings, die an den Pastor Göze in Hamburg 1778 gerichteten über theologische Dinge, und die Briefe antiquarischen Inhalts von 1768. Beidemal haben wir da keinen eigentlichen Briefwechsel, es sind Alles nur Briefe von Lessing, aber sämmtlich in einer so lebendig individuellen Bezüglichkeit, dass man keine Fragen und Antworten von der anderen Seite her vermisst. Sie sind auf dem Gebiete der abhandelnden Prosa dasselbe, was auf dem des Romans Göthes Werther, wo die Briefe auch alle nur von Einer Seite geschrieben sind. Häufiger war von jeher der Dialog. Der Dialog als umkleidende Form der Abhandlung war schon im griechischen und römischen Alterthum bekannt und beliebt, und auch von Neueren wird er häufig genug gebraucht; in Deutschland zuerst von Johann Jacob Engel und Moses Mendelssohn (Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen 1767). Zu Zwischenrednern des lehrhaften Dialoges werden zuweilen fingierte Persönlichkeiten mit willkürlich ihnen beigelegten Characteren und Ansichten gemacht: so bei Lessing (Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer 1778), bei Karl Wilh. Ferd. Solger (Erwin, Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst 1815); das ist jedoch hier, wo die Form sich dem Drama nur annähert, noch um vieles bedenklicher, als im eigentlichen Drama selbst. Schon dem Dichter eines ernsten Dramas wird es schwer, einer erfundenen Persönlichkeit volles Leben und rechten Character zu verleihen, aber es ist doch möglich: in einem abhandelnden Dialog jedoch, der aller eigentlich dramatischen Handlung entbehrt, möchte das gradezu unmöglich sein. Das hat Herder auch sehr wohl erkannt und in seinem vortrefflichen Werk vom Geist der ebräischen Poesie die dialogische Form bald wieder aufgegeben. Daher ist das andre Verfahren, wie es als erstes Muster Plato und nach seinem Vorgange auch Cicero beobachtet, um vieles vorzüglicher. Die Redenden in Platos Dialogen sind sämmtlich wirkliche, mehr oder minder bedeutende Personen seiner Zeit, Persönlichkeiten von gegebenem Character und bereits bekannten Grundansichten. Da hat er nun den grossen Vortheil, dass er ihren Character und ihre Stellung in der geistigen Welt nicht erst durch ihre Reden darzulegen und zu entwickeln braucht, sondern dass er sie als bekannt voraussetzt, sie gleich aus dieser ihrer Stellung und ihrem Character heraus kann reden lassen. Er darf den Dialog handhaben wie ein Epiker, der seine Personen auch nur ihrem Character gemäss reden lässt, nicht wie ein Romanschreiber, der durch Gespräche seine Personen erst muss zu characterisieren suchen. Aber doch ist er es, der sie reden lässt: wenn auch die Redenden selbst keine fingierten Personen sind, so sind sicherlich doch diese ihre Gespräche, wenigstens in dieser Gestalt fingiert, ebenso fingiert als jene Gespräche von Lessing und Herder und Solger. Denn es ist ausgemacht, dass Plato namentlich seinem Socrates Vieles in den Mund legt, was nicht socratisch, sondern nur platonisch ist. Er legt aber seine platonische Weisheit mit derselben Freiheit und demselben Rechte dem Socrates in den Mund, womit ihn Aristophanes in den Wolken allerhand Thorheiten in Wort und That begehn lässt. Beide brauchten ein repräsentierendes Individuum, Aristophanes für die Philosophiererei, Plato für die Philosophie: beide nahmen dazu einen und denselben und fassten und gestalteten ihn jeder von seinem Standpuncte aus und für seine Zwecke. Uebrigens soll die Briefform wie die des Dialogs immer bloss zur Umkleidung dienen: der Gang der Abhandlung muss in ihnen der gleiche, muss ebenso dreitheilig eingerichtet sein, wie das vorher ist angegeben worden. Man darf die Art, wie man sich wohl gewöhnlich bespricht oder Briefe wechselt, nicht so getreu nachahmen, dass man all die Verwirrungen und Missverständnisse, die schiefen Fragen und verkehrten Antworten, die da vorzukommen pflegen, nun auch in die abhandelnden Briefe und Dialoge hinübernähme: denn alsdann würden diese Formen dem letzten Zwecke der Ueberzeugung mehr schaden als nützen. Dergleichen muss natürlich beseitigt werden, ausser wo es, wie bei Plato, zur Entwickelung hilft, oder, wie bei Socrates, zur dialectischen Methode gehört, und die Kunst des Verfassers wird sich besonders darin zeigen, dass der Dialog, der Briefwechsel vollkommen planmässig geordnet sei, und man es ihm doch nicht ansehe, dass es vielmehr scheine, als mache sich das Alles so von selbst, als gehe das Gespräch in leichten, zufälligen Schritten einen vorher noch gar nicht berechneten Weg. Als negatives Muster mag O. F. Gruppes Antaeus gelten, ein gegen die Hegelische Philosophie gerichteter Briefwechsel: hier finden wir nichts als ein planloses Durcheinander, mitten im Briefwechsel ist das gesetzte Ziel schon mehrere Mal erreicht, und mehrere Mal wird wieder von vorn angefangen: es herrscht in diesem fingierten Briefwechsel, der doch auf ein bestimmtes Resultat hinarbeitet, beinahe noch mehr vergessliche und unaufmerksame Nachlässigkeit, als sonst wohl in einem wirklich geführten Briefwechsel herrscht, wenn er mit Verstand geführt wird. Soviel von der ersten Art der lehrenden Prosa; nunmehr haben wir noch die rednerische Prosa zu besprechen. Mit der Betrachtung der rednerischen Prosa gelangen wir zu demjenigen Abschnitte der Rhetorik, der insbesondre für sich den Namen der Rhetorik ansprechen darf, insofern Rhetorik eigentlich die Theorie der Beredsamkeit bezeichnet. Da wir gegen die gewohnte Weise Alles ausschliessen, was der Stilistik angehört, so wird für uns dieser Abschnitt, obwohl immer noch umfangreich genug, kürzer ausfallen, als sonst die Rhetoriken zu sein pflegen. Der Unterschied der rednerischen Prosa von der abhandelnden ist bereits kurz bezeichnet worden: die abhandelnde sucht ihren lehrhaften Zweck zu erreichen durch blosse Ueberzeugung, die rednerische braucht nach der Ueberzeugung auch noch die Ueberredung. Die Abhandlung verbleibt daher bei der blossen Wirksamkeit des Verstandes und der Einwirkung auf den Verstand; von den anderen Kräften darf etwa nur noch die Erinnerung in ihr thätig sein und auch diese nur in so fern, als die Abhandlung zuweilen ihre eigentliche Natur ablegt und in die Erzählung oder Beschreibung übergeht. Die Rede hat freilich als nächstes Ziel auch nur den Verstand: aber sie fügt zu der Gewalt der verständigen Ueberzeugung immer noch diess, dass sie auch die Einbildung in Anspruch nimmt und namentlich mit ihrer Hilfe auch auf das Gefühl einwirkt, und zwar insofern auf diesem der Wille beruht. Der Grund ist der, dass jegliche Rede ausser jenem unmittelbar in ihr selbst liegenden Zwecke der Belehrung noch einen zweiten über ihre unmittelbare Wirkung hinaus liegenden hat: es genügt ihr nicht daran, eine verständige Einsicht der Zuhörer zu bewirken und zu befestigen, sie bezweckt demnächst auch, dass sich dieser gewonnenen Einsicht gemäss der Wille der Zuhörer thatsächlich äussere: hinter der ersten unmittelbaren Wirkung, dem Wissen, zielt sie immer noch auf eine zweite mittelbare, das Wollen und Handeln. Und in so fern könnte man die Rede allenfalls von der übrigen Prosa absondern und sie dieser und der Poesie gegenüberstellen in der Weise, dass, während die Poesie auf das Schöne, die übrige Prosa auf das Wahre zielt, die Rede zum letzten Zwecke das Gute hat. Damit hätte denn auch diese dritte Aufgabe des Menschen ihren sprachlichen Ausdruck und ihre Erfüllung durch das Wort gefunden. Unthunlich ist das nur, weil die Rede doch auch nur Prosa, keine von Poesie und Prosa verschiedene dritte Form ist. Diesen practischen, thatsächlichen Zweck hat aber eine Rede immer nur darum und deshalb, weil sie auch aus einem thatsächlichen Grunde und Anlass hervorgeht: das Factum, das noch in der Zukunft liegt als eines, dessen Wollen erst betrieben wird, steht immer in causalem Zusammenhang mit einer bereits vergangenen oder noch gegenwärtigen, factischen Wirklichkeit. Und so hat jede Rede nach beiden Seiten hin, vor sich und hinter sich, eine factische und practische Beziehung. Solch eine vorwärts und rückwärts gehende Beziehung und solch ein doppeltes Ziel, das theoretische für den Verstand, das practische für den Willen des Hörers, hat jegliche Rede, sobald sie eine rechte Rede, eine Rede dem Wesen nach ist, und nicht bloss der Form und dem Scheine nach. Wir können das Alles am besten des Nähern ausführen, wenn wir gleich hier die verschiedenen Arten der Rede unterscheiden, die zu unterscheiden sind. Da giebt es erst im Allgemeinen den Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher Beredsamkeit; die weltliche ist aber entweder eine politische oder eine gerichtliche. Somit ergeben sich die drei Arten der politischen, der gerichtlichen und der geistlichen Beredsamkeit. Die politischen Reden heissen bei den Theoretikern des Alterthums berathschlagende ( γένος συμβουλευτικόν , genus deliberativum ). Diese Art der Beredsamkeit, und eigentlich auch die gerichtliche, kann sich immer nur bei solchen Völkern ausbilden, denen eine freie Oeffentlichkeit des Staatslebens vergönnt ist, in Republiken und in constitutionellen Monarchien. Wir werden also die Muster politischer Redekunst namentlich bei den Griechen und für die neuere Zeit am frühesten in England und etwa in Frankreich zu suchen haben. Jede solche Rede hat also zuerst einen äusseren Anstoss und Anlass in einer eben geschehenen Thatsache oder in einer noch vorliegenden Wirklichkeit. Es hat sich z. B. Philipp von Macedonien als Eroberer Uebergriffe erlaubt, wodurch Athen in seiner freien Existenz gefährdet ist; oder es ist dadurch, dass die volkreichsten und blühendsten Städte Englands gar nicht im Parlament repräsentiert sind, ein bedrohliches Missverhältniss innerhalb der englischen Verfassung eingetreten. Nun treten Demosthenes und Lord Russel vor dem versammelten Volke auf und entwickeln die politischen Grundsätze, welche bei diesem Anstoss in Betracht kommen: aber sie haben es nicht bloss auf diese Theoreme abgesehen, sie wollen Athen und England nicht bloss von deren Wahrheit überzeugen, sondern sie wollen ihr Volk auch bewegen, dieselben ins Werk zu setzen, jene Theoreme auch practisch zu machen, nicht bloss zu wissen, sondern auch demgemäss zu wollen und zu handeln; die Athener sollen sich zum Schutze ihrer Freiheit waffnen, die Volksvertretung Englands soll reformiert werden: kurz, sie fügen zu der Ueberzeugung noch die Ueberredung: erst damit wird ihr Vortrag zu einer Rede, ohne sie wäre er eine blosse Abhandlung. Und so wie in diesen Beispielen ist jegliche politische Rede immer nur eine Erörterung von Grundsätzen der Staatsweisheit auf einen thatsächlichen Anlass und zu einem thatsächlichen Zwecke. Die gerichtliche Rede ( γένος δικανικόν , genus judiciale ) hat in derselben practischen Doppelbeziehung die Wahrheiten des Rechts, die rechtlichen Grundsätze darzulegen und zu behaupten. Sie klagt entweder an oder sie vertheidigt. In beiden Fällen ist der thatsächliche Anlass eine Rechtsverletzung: denn auch eine unbegründete Anklage, gegen die sich nun die Vertheidigung richtet, ist eine Rechtsverletzung. Der vertheidigende oder anklagende Redner will nun nicht bloss jene Rechtssätze erkannt und anerkannt, sondern auch angewandt haben, es soll sich daraus in der Wirklichkeit eine Wiederherstellung der gestörten Rechtsverhältnisse ergeben, Freigebung des unschuldig Angeklagten, Bestrafung des Schuldigen. Ich brauche kaum zu erinnern, dass sich von den antiken Mustern der gerichtlichen Beredsamkeit die Mehrzahl in der römischen Litteratur, bei diesem Volke des Rechtes vorfindet. Von geistlicher Beredsamkeit weiss das antike Heidenthum nichts; aber sie ist nicht grade dem Christenthum, sie ist überhaupt den monotheistischen Religionen eigen, auch dem Judenthum und dem Mohamedanismus; sie hat sich aber, getragen durch den Gehalt des religiösen Bekenntnisses und durch die anderweitige Bildung, in der christlichen Welt zur höchsten Stufe der Vervollkommnung erhoben. Hier finden wir auch schon frühzeitig und immer wieder ihre Theorie, die Homiletik. Die älteste Homiletik ist in den vier Büchern de doctrina christiana von Aurelius Augustinus (354─430) enthalten. Man macht einen Unterschied zwischen Predigten und Casualreden (Gelegenheitspredigten): danach könnte es scheinen, als wenn die geistliche Beredsamkeit zur Darstellung ihrer, der religiösen Wahrheiten nicht grade immer eines vorliegenden factischen Anlasses, einer Gelegenheit bedürfe, in der Art, wie die gerichtliche und die politische sich immer an einen solchen anlehnen: allerdings haben auch nur die Casualreden einen Anlass, der in ganz gleicher Weise der geschichtlichen Wirklichkeit angehört, z. B. den Tod eines Gemeindegliedes, einen Sieg, eine gesegnete Ernte oder etwa eine Predigerversammlung u. dgl. Indessen auch den im engeren Sinne sogenannten Predigten fehlt der äussere Anlass und Anstoss nicht, sie knüpfen sich auch an etwas historisch Gegebenes, nur freilich an etwas historisch Gegebenes von ganz anderer Art als jene weltlichen Reden, nämlich an das Wort Gottes. Hier ist also der Anlass keine bloss einmal eingetretene Thatsache, es sind keine grade jetzt nur vorliegenden Umstände, sondern eine in unveränderlichem Bestande fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach der strengeren Ordnung der katholischen und der ihr folgenden lutherischen Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr derselbe Kreislauf derselben biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In gleicher Weise unterscheidet sich auch der practische Zweck der geistlichen Beredsamkeit von dem practischen Zwecke der weltlichen. Der gerichtliche Redner und der politische haben, wie ihr Anlass ein momentaner ist, so auch immer nur eine momentane und vereinzelte Wirkung im Auge; die Thatsachen, die sie bezwecken, sind Thatsachen der äusseren Welt und können deswegen auch immer nur einmal grade so zur Erscheinung kommen: die Aussendung der athenischen Flotte, die Freisprechung des Roscius von Ameria sind die Sache eines Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer so vergänglicher Facta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem hier der Redner auf Anlass des göttlichen Wortes die Wahrheiten der Religion verkündigt, ist seine Absicht nicht, die Zuhörer zu einer vorübergehenden äusseren Handlung zu bewegen; wie hier der Anlass ein beständig fortdauernder ist, so liegt auch die bezweckte Wirkung nicht in den Schranken des Momentes und der sinnlichen Aussenwelt, sondern es ist die nirgend von Raum und Zeit abgegrenzte, über das Erdenleben hinausgreifende Erbauung des Reiches Gottes. Also auch hier ein practischer Zweck, zu dessen Herbeiführung die blosse Ueberzeugung nicht ausreichen würde, für den auch der Wille muss angeregt werden; auch hier eine Thatsache, nur keine momentan vergängliche; auch hier eine Wirklichkeit, nur keine mit Auge und Ohr wahrnehmbare. Und jeder Prediger will in jeder neuen Predigt keinen anderen Zweck, als immer wieder diesen selben. Ausser diesen drei Arten von Reden, den politischen, den gerichtlichen und den geistlichen, gab es schon im Alterthum und giebt es namentlich in der neueren Zeit noch mancherlei Reden anderer Art, die sich alle unter dem altherkömmlichen Namen des genus demonstrativum ( γένος ἐπιδεικτικόν ) vereinigen lassen: dieser Name sagt so wenig Bestimmtes aus, dass er zugleich sehr Vieles aussagen kann. Die alten Rhetoriker belegen aber mit diesem Namen insbesondere die Lobreden, Reden, die bestimmt sind, die Verdienste eines Lebenden oder Todten zu verherrlichen, daher auch die Benennung genus laudatorium ( λόγος πανηγυρικός ), womit zunächst eine in der allgemeinen Volksversammlung ( πανήγυρις ) gehaltene Festrede, dann aber auch und vorzugsweise eine Lobrede bezeichnet wird. Wir haben aus dem Alterthum z. B. einen solchen Panegyricus vom jüngern Plinius, eine auf Trajan im Senat gehaltene Lobrede, bei Trajans Lebzeiten und in dessen Anwesenheit, deshalb auch in beständiger Anrede an Trajan selbst gerichtet. Aus neuerer Zeit gehören dahin z. B. Engels noch bei Friedrichs des Grossen Lebzeiten verfasste Lobrede auf diesen, sodann die von Göthe am 18. Februar 1813 in der Freimauerloge zu Weimar gehaltene Gedächtnissrede Zu brüderlichem Andenken Wielands (LB. 3, 2, 647); dahin auch die schon früher (S. 263) genannten academischen Eloges der Franzosen. Indessen ob und inwiefern dergleichen Reden eigentlich noch der Name von Reden gebühre, ist schon früher angedeutet worden. Alle Reden dieser Art haben zuletzt mit den eigentlichen Reden nur noch die Form gemein, und auch diese nur in unvollkommener Weise, da ihnen zu viel von dem rechten Wesen der Rede gebricht. Ihr Anlass ist häufig gar keine rechte Thatsächlichkeit, weder eine momentane, noch eine beständig fortdauernde; einen practischen Zweck haben sie auch nicht, da es keine allgemeinen Wahrheiten sind, die hier sollen dargestellt und auf einen bestimmten Fall angewendet werden. Sondern ein Panegyricus ist von Anfang bis zu Ende eben weiter nichts als eine Characteristik, also eine historisch didactische Darstellung, die aber an der characterisierten Person nur die löblichen Seiten betrachtet und die tadelnswerthen überkleidet; um jedoch diess zu können, müssen Verstand und Erinnerung noch die Phantasie und die Sentimentalität zu Hilfe rufen, und damit ist es denn dem Panegyricus erleichtert, seiner Beschreibung den Anschein einer Rede zu geben. Ein Panegyricus der neueren Zeit jedoch macht von den übrigen eine bemerkenswerthe Ausnahme, die academische Lobrede Johannes von Müllers auf Friedrich den Grossen (De la gloire de Frédéric II.; deutsch von Göthe: LB. 3, 2, 597). Allerdings geht auch sie auf Characteristik aus, aber nicht ohne einen gewissen thatsächlichen Anlass und nicht ohne practischen Zweck, wie beide für eigentliche Reden gefordert werden. Der thatsächliche Anlass ist der in der Berliner Academie beständig fortdauernde Ruhm jenes Königs, wie ja dieselbe noch gehalten ist, alljährlich dessen Gedächtnisstag zu feiern; der practische Zweck lag in den waltenden Zeitumständen: die Rede ist gehalten im Jahre 1807, als die preussische Monarchie vernichtet zu sein schien: da galt es denn, durch das Bild jenes Ruhmes sowohl die Preussen selber zu trösten und zu ermuthigen, als auch den Uebermuth des Siegers zu dämpfen und seine Grossmuth zu gewinnen. Bei der Verdeutschung mag man noch besonders bewundern, wie es Göthe gelungen sei, sich den Eigenthümlichkeiten des Müllerischen Stiles anzuschmiegen. Wenn die Lobreden eigentlich Characteristiken, also wesentlich historisch sind, nur umkleidet mit dem Schmucke der Rhetorik, so sind eine andere Art Reden, die wir auch ganz wohl noch zu dem genus demonstrativum rechnen dürfen, häufig weiter nichts als Abhandlungen. Es sind das die Schulreden, Reden bei academischen und Schulfeierlichkeiten, deren die neuere Zeit viele auch über Gegenstände nicht historischer Art besitzt: das Alterthum kannte dergleichen noch gar nicht. Als Beispiele erwähne ich hier bloss Herders Schulrede von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Nothwendigkeit der Geographie (LB. 3, 2, 485) und Schillers academische Antrittsrede vom Jahre 1789: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Im Grunde sind das nur Abhandlungen über wissenschaftliche Themata, verständig überzeugende, ohne rechte rückwärts und vorwärts deutende factische Bezüglichkeit, denen es aber deshalb möglich war obenhin den Anschein von Reden zu geben, da die Rede in der ganzen Art und Weise ihres Baues so viel Uebereinstimmendes hat mit dem Bau einer Abhandlung, wie dieser früher ist beschrieben worden. Wir sprechen jetzt vom Bau der Rede. Wohlgeordnete Abhandlungen bestehn, wie wir gesehen haben (S. 267), jedesmal aus drei Theilen, dem Eingange, der eigentlichen Abhandlung und dem Beschluss. Die Rede nun, da ihr unmittelbarer und in ihr selbst liegender Zweck auch die Ueberzeugung ist, muss sich, um diesen Zweck zu erlangen, ebenso gliedern und ordnen, wie eine Abhandlung geordnet ist, auch dreitheilig. Aber es ist bei der Rede ein äusserer Anlass, der zur Betrachtung und Erörterung der behandelten Wahrheiten getrieben hat, und es kommt bei ihr zu dem unmittelbaren theoretischen Zwecke der Ueberzeugung noch ein mittelbar practischer: es soll, wenn die Rede vorüber, nicht bloss etwas gewusst, es soll auch etwas gewollt und gethan werden; sie zielt nicht bloss auf das Wahre, sondern darüber hinaus auch noch auf das Gute. Um diess Resultat herbeizuführen, bedarf es nun nächst der Einwirkung auf den Verstand noch der Einwirkung auf den Willen, nächst der Ueberzeugung noch der Ueberredung, diess Wort natürlich nicht in dem gemeinen Sinne genommen, sondern in dem höheren, den ihm die wissenschaftliche Sprache gegeben hat, wo auch die reinste und ehrenhafteste Einwirkung auf einen fremden Willen so genannt wird. Um aber auf den Willen einzuwirken und ihn zu bestimmen, müssen Einbildung und Gefühl angeregt werden: demnach bleibt der dreitheilige Bau der Abhandlung zwar auch die Grundlage für den Bau der Rede, aber die practischen Beziehungen und die Einmischung von Gefühl und Einbildung geben dem Gebäude, das über jener Grundlage errichtet wird, die vielgliedrigste Mannigfaltigkeit. Der factische Anlass will auch, und dieser natürlich gleich zu Anfange im ersten Theile, angegeben sein, der practische Zweck verlangt seinen stärksten Ausdruck natürlich im letzten, im dritten; und so drängt sich Alles, was die Rede vor der Abhandlung voraus hat, in den ersten und in den dritten Theil, an den Anfang und an das Ende, und nur der mittlere Theil bleibt allgemein betrachtet in der Rede so beschaffen, wie er es in der Abhandlung ist: Kern und Mitte bildet auch hier die auf den Verstand berechnete Wirksamkeit des Verstandes, bildet die Abhandlung im engeren Sinne, die zur Ueberzeugung führen soll; wenn auch dieser Theil von der Einbildung und dem Gefühl gefärbt wird, so ist das eben eher nur eine Färbung, damit er im Aeusseren nicht gar zu sehr absteche von den anderen Theilen: sein Wesen aber ist rein verständig. Bei solchem Verhältnisse der Rede zur Abhandlung zerfällt zwar auch jene in drei Glieder, die wie die der Abhandlung benannt werden, nämlich in Eingang, Ausführung oder Abhandlung und Beschluss, oder lateinisch exordium oder expositio, disputatio und conclusio. Aber in das Exordium gehört hier neben der Exposition der Wahrheiten, welche sollen behandelt werden, noch die Angabe des factischen Anlasses, und zugleich wird hier der erste Versuch gemacht, auf den Willen einzuwirken; und in der conclusio kommt zu der verständigen Zusammenfassung des bis dahin Disputierten noch die Beziehung auf den practischen Zweck und deswegen auch ein wiederholter und nun noch stärkerer Anlauf auf den Willen der Zuhörer. Daher zerfallen denn exordium und conclusio wieder in mehrere untergeordnete Glieder. Und diese Mehrgliedrigkeit des ersten und des dritten Theiles ist für viele Rhetoriker ein Grund, bei der Rede ganz und gar nicht von einer dreitheiligen Einrichtung zu sprechen, sondern eine grössere Reihe von Theilen vollkommen coordiniert neben einander zu stellen, deren dann die einen vier, die anderen sechs, ja manche Lehrer der geistlichen Redekunst, der Homiletik, sieben zählen. Wo man vier Theile unterscheidet, heissen sie: Eingang, Exposition, Argumentation und Beschluss; wo sechs, Eingang, Exposition, Erklärung, Beweisführung, pathetischer Theil, Beschluss; die sieben Theile, welche die Homiletik aufstellt, sind: Gebet, Eingang, Uebergang, Thema, Eintheilung, Ausführung, Beschluss. Diese vier, sechs, sieben Theile lassen sich aber alle sehr wohl auf die von der Abhandlung gegebene dreitheilige Grundlage zurückführen, und man thut es mit dem grössten Nutzen und muss es thun: wir haben früher gesehen, welche organische Nothwendigkeit bei der Abhandlung sie besitze. Wir rechnen demnach zum Exordium von den vier Theilen und ebenso von den sechs Eingang und Exposition, von den sieben der Homiletiker Gebet, Eingang, Uebergang, Thema und Eintheilung; mit der disputatio fallen zusammen von den vier Theilen die Argumentation, von den sechs die Erklärung und Beweisführung, von den sieben die Ausführung; mit der conclusio endlich von den vier Theilen der Beschluss, von den sechs der pathetische Theil und der Beschluss, von den sieben der Beschluss. Indem wir jetzt zur näheren Betrachtung der drei Theile der Rede und ihrer Unterabtheilungen übergehn, haben wir noch die allgemeine Bemerkung vorauszuschicken, dass zwar die Theorie der Rhetoriker diese Theile von einander sondere, und dass auch der Redner, wenn er die Rede entwirft, diese Gliederung ins Auge fassen müsse, dass jedoch bei der Ausführung Alles darauf ankomme, die Haupttheile sowohl als die Unterabtheilungen so eng und innig als möglich mit einander zu verketten und zu verschmelzen. Darauf kommt hier, in einer Rede, noch viel mehr an, als das bereits in einer Abhandlung der Fall ist; denn den lebendigen practischen Zwecken, welche jegliche Rede hat, ist wahrlich schlecht damit gedient, wenn der Zuhörer statt eines belebten und beseelten Leibes das starre Gerippe eines Schemas mit nach Hause nimmt. Zwar bleibt ihm alsdann der Gedankengang des Ganzen Schritt für Schritt erinnerlicher, und er weiss sich leichter über das, was er gehört hat, eine verständige Rechenschaft zu geben: aber eben eine verständige Rechenschaft; sein Verstand ist dann mehr in Anspruch genommen als für den wesentlichen Zweck der Rede taugt, neben der Belehrung und durch dieselbe auch auf den Willen einzuwirken. Gleichwohl lässt sich, wie einmal die Sachen stehn, jene enge Verkettung beinahe nur noch von der weltlichen Beredsamkeit fordern: denn in der geistlichen ist es durch Rücksicht auf die alleräusserlichste Bequemlichkeit des Predigers und der Gemeinde zu einer weitverbreiteten Uebung geworden, besonders in der lutherischen Kirche, dass nach Vollendung des ersten Theiles gradezu innegehalten und aller Zusammenhang durch eine wirkliche Pause, durch den Gesang der Gemeinde unterbrochen werde. Dagegen kann nun, wo das einmal üblich ist, der geistliche Redner nichts mehr machen: aber er soll, was er hier verfehlen muss, wenigstens anderswo zu vergüten suchen, soll dann wenigstens anderswo die Uebergänge von Theil zu Theil, von Glied zu Glied desto leichter und unmerklicher, desto mehr innerlich, desto weniger äusserlich bilden. Der erste Theil, das Exordium. Die Bestimmung des Einganges ist, wie Cicero (z. B. de inventione 1, 15, 20) und andere Rhetoriker des Alterthums lehren, den Zuhörer wohlwollend, aufmerksam und gelehrig zu machen: exordium est ut auditorem habeas benevolum attentum docilem. Wir können uns vollkommen an diese Definition halten, und wir wollen ihr mehr bindende Aufmerksamkeit schenken, als das wohl sonst bei den neueren Rhetorikern der Fall ist. Einmal ist auf die Reihenfolge der Adjectiva zu achten: sie sind weder so gleichbedeutend, noch stehn sie einander in ihrem Sinne so fern, dass es gleichgiltig sein könnte, wie man sie ordnet. Ihre Anordnung enthält vielmehr einen causalen Fortschritt: die benevolentia bewirkt die attentio, und die attentio hat zur Folge die docilitas. Demgemäss richtet sich denn auch das Exordium in eben diesem Stufengange auf das genannte dreifache Ziel: es sucht zuerst Wohlwollen zu gewinnen, dann erweckt es Aufmerksamkeit, dann endlich nimmt es die Gelehrigkeit in Anspruch. Sodann ist auch anzuerkennen, wie jene Definition Zweck und Wesen des Exordiums vollständig erschöpfe; sie berücksichtigt das Verhältniss, in welches sich der auftretende Redner zu seiner Zuhörerschaft begiebt; sie berücksichtigt die im Exordium geforderte Rückdeutung auf den Anlass und die Hinweisung auf den bevorstehenden theoretischen Inhalt und den practischen Zweck der Rede, sie berücksichtigt das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte, des Gefühls, der Einbildung, des Verstandes; sie berücksichtigt mit Einem Worte die Mischung des allgemeinen lehrhaften Elementes mit dem besonderen rednerischen, durch welche das Exordium einer Rede sich von dem einer Abhandlung unterscheidet. Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen, mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt: wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise, dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln. Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio benevolentiae; auch werden zuweilen die Benennungen Exordium und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt. Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben? Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich selber von dem Rechte nimmt, sich als Lehrer über die Andern zu erheben, desto gewinnender ist das für diese Andern; desto mehr fühlen sich diese Zuhörer, die doch eigentlich unter dem Redner stehn, neben demselben; desto eher werden sie sich also geneigt finden lassen, seine Zwecke auch zu den ihrigen zu machen. Doch davon später noch einmal und mehr. Wenn nun durch die captatio benevolentiae die Ueberredung eingeleitet ist, so ist es an der Zeit, dass auch die Belehrung ihren Anfang nehme, dass der Redner, nachdem er den subjectiven Theil abgethan, nun auch zu den Objecten übergehe. Denn die Belehrung hat jetzt noch zwei Objecte vor sich, eines, das der Eingang der Rede voraus hat vor dem Eingang der Abhandlung, und eines, das beide mit einander theilen: jenes ist der factische Anlass, der vor der Rede liegt, dieses die theoretische Wahrheit, welche in dem mittleren Haupttheile, in der disputatio ausführlich soll abgehandelt werden, also ein factisches und ein theoretisches, ein mehr historisches und ein mehr eigentlich didactisches Object. Welches soll nun der Redner zuerst berühren? Am besten zuerst den factischen, den thatsächlichen Anlass. Und das aus mehreren Gründen, wovon der einfachste dieser ist, dass derjenige Punct, an welchen die ganze bevorstehende Erörterung soll angeknüpft werden, doch erst muss gegeben und festgesetzt sein, ehe man daran etwas knüpfen kann. Es wird damit aber noch zweierlei gewonnen. Einmal dass die Rede nun auch auf der zweiten Stufe des Einganges noch eben da verharrt, wohin sie sich auf der ersten gestellt hatte, auf dem eigentlichen Grund und Boden der Rede: auf der ersten wandte sie sich durch das Gefühl an den Willen, was die Abhandlung nicht thut; auf der zweiten schaut sie nun durch die Einbildung rückwärts in die Vergangenheit nach thatsächlichen Motiven, was die Abhandlung wiederum nicht thut; so dass nun erst auf der dritten und letzten Stufe des Einganges, auf derjenigen, die zu dem zweiten Haupttheile überführt, die Rede mit der Abhandlung zusammentrifft. Sodann hat diese Anordnung noch einen anderen Vortheil. In der captatio benevolentiae hatte sich der Redner neben, ja er hatte sich vielleicht unter die Zuhörer gestellt, bloss um sie günstig zu stimmen: diess Verhältniss kann aber nicht bestehn bleiben, es kehrt sich um, sowie das rein abhandelnde Element der Rede hervortritt; sobald der Redner zu belehren beginnt zum Behufe der Ueberzeugung, alsobald macht er auch darauf Anspruch, über den Zuhörern zu stehn. So ganz plötzlich kann aber von dem einen Standpuncte zum andern nicht übergesprungen werden: es muss zwischen jene passive Rolle und diese sehr active etwas gleichsam Neutrales mitten hinein gelegt werden. Und das ist eben die Berichterstattung über den der Rede vorangegangenen Anlass; an ihr haben beide, Redner und Zuhörer, gewissermassen gleich viel Antheil und Recht; wenn auch der Redner der Berichterstattende und der Zuhörer in so fern auch schon hier der Belehrte ist, so führt das doch auf keiner von beiden Seiten eine Ueberordnung oder Unterordnung mit sich. Es ist also aus diesen Gründen und zu diesen Zwecken das zweite Glied des Exordiums die narratio facti, und es wird mit ihr die zweite Wirkung, die Cicero von dem Exordium fordert, die attentio, das nächste Ergebniss der benevolentia erreicht, und um so gewisser erreicht, als die Aufmerksamkeit nicht bloss ins Unbestimmte hinein aufgefordert, sondern gleich in thätigen Anspruch genommen und befriedigt wird. Nun endlich kann der Redner zu der dritten und letzten Stufe aufsteigen, die ihm zugleich den Uebergang bildet zu dem zweiten Haupttheil, zu der disputatio. Sie bildet aber dazu den Uebergang, weil auch sie schon sich dem Verstande zuwendet, weil sie selber gleich der disputatio rein didactischer Natur ist, nur dass die Puncte, um welche sich die disputatio drehen soll, hier eben nur noch als Puncte gegeben, und die Grenzen, innerhalb deren die disputatio sich bewegen soll, hier nur noch als unerfüllte Linien gezogen und entworfen werden. Somit entspricht diess dritte Glied des rednerischen Exordiums für sich allein dem gesammten ganzen Exordium einer Abhandlung. Es verkündigt gleich diesem zum ersten Male, welche Grundsätze, welche allgemeinen Wahrheiten sollen abgehandelt werden, und weist gleich diesem auf ein Theoretisches hin, das in der rechten Ausführlichkeit erst noch bevorsteht. Aber diese hier angekündigten allgemeinen Sätze haben, und das gebricht dem Exordium der Abhandlung, ihre Veranlassung in einer historischen Wirklichkeit; dieses theoretische dritte Glied ist das Ergebniss des factischen zweiten; das theoretisch lehrhafte Object, das wir hier haben, ist nur das geistige und abstracte Gegenbild zu dem thatsächlich historischen des zweiten Gliedes. Also hier beginnt die eigentliche Lehre: nach dem neutralen Zwischengliede der narratio facti fängt nun der Redner selber an, in activer Weise ein Recht auszuüben und die thätigste Wirksamkeit zu entfalten. Er kann es aber auch: denn der Zuhörer, nachdem er auf der ersten Stufe benevolus geworden, und sich auf der zweiten attentus erwiesen hat, wird nun in der nothwendigen weiteren Folge docilis, und der Redner beschäftigt und lenkt auch alsbald diese Gelehrigkeit, indem er ihr zeigt, worauf es von nun an ankommen werde, und auf welchem Wege er sie noch länger in Anspruch zu nehmen gedenke. Die umfassende Benennung dieses dritten Theiles ist expositio. Die expositio kann aber auch wieder zweigliedrig geschehen, sie kann zuerst den Hauptgedanken einheitlich darlegen, der sich aus jenem factischen Anlass giebt, und der als Thema (Hauptsatz) die Grundlage der nachfolgenden disputatio bilden soll, sodann aber die einzelnen Theile bezeichnen, in welche sich derselbe zerlegen, die verschiedenen Standpuncte, von denen aus sich derselbe betrachten lasse und auch im weiteren Verlaufe solle betrachtet werden: in diesem Falle heisst das erste einheitlich darlegende Glied die propositio, das die Theile des Themas und der disputatio angebende die partitio. Also, um das bisher Besprochene noch einmal kurz zusammenzufassen und weiter zu verfolgen, exordium est ut auditorem habeas benevolum, attentum et docilem; es besteht aus der captatio benevolentiae, der narratio facti, der expositio; die captatio spricht zum Gefühl, die narratio zur Einbildung, die expositio zum Verstande der Zuhörer. Wenn daher ältere Rhetoriker von der ganzen Rede sagen: conciliat, permovet, docet, so passt das ganz besonders auf die drei Glieder des Exordiums: captatio conciliat, narratio permovet, expositio docet. Aber was schon vorher als Hauptregel ist aufgestellt worden, diese Glieder dürfen nicht auseinander fallen, sie müssen organisch mit einander verwachsen sein. Daraus folgt dann, dass keins von ihnen ausschliesslich nur eine jener drei Wirkungen, der benevolentia, der attentio und der docilitas, hervorbringen, und dass das Gefühl und die Einbildung und der Verstand nicht ausschliesslich nur in je einem ihre Stelle finden dürfen; sondern das erste Glied darf sich nur vorzugsweise an die benevolentia des Gefühls, das zweite nur vorzugsweise an die attentio der Einbildung, das dritte nur vorzugsweise an die docilitas des Verstandes wenden; daneben dann immer noch die anderen Kräfte spielen zu lassen ist keinesweges verwehrt, ja vortheilhaft und in so fern erforderlich. Daher haben denn einige Regeln, die jetzt noch sollen gegeben werden, zwar ihren nächsten Bezug auf je eines der drei Glieder, aber auch ihre allgemeine Anwendbarkeit auf alle drei. Zuerst muss das Gefühl nicht zu leidenschaftlich angeregt werden. Denn man erwäge, dass ihm noch im dritten Haupttheile eine Anregung bevorsteht, und zwar hier zu dem Zwecke, dass der Wille zu einem nachhaltigen Entschlusse, so und so zu handeln, gelange; die Gefühlsanregungen des Exordiums bezwecken keine so bedeutende Wirkung, es ist dabei nur auf Wohlwollen für den Redner abgesehen: überspannt man das Gefühl also hier schon, so ist das Mittel stärker als die zunächst beabsichtigte Wirkung, und kommt es dann zum dritten Theile, so ist das Gefühl abgespannt, unempfänglich gegen jede nachdrückliche Einwirkung, unfähig zu jeder kräftigen Willensäusserung. Dasselbe gilt und aus demselben Grunde in Bezug auf die Einbildungskraft. Sie wird vorzugsweise bei der narratio facti in Anspruch genommen werden: aber man nehme sie nicht zu sehr in Anspruch: denn auch sie soll noch einmal und um vieles lebhafter und kräftiger angeregt werden können im dritten Haupttheil, wenn es gilt, der Ueberredung den letzten, vollsten Nachdruck zu geben. Je einfacher also und je ruhiger die narratio facti gehalten ist, desto besser für die ganze Rede. Die Anforderung endlich der Deutlichkeit und Verständlichkeit, die namentlich an das dritte Glied, an die expositio, zu richten ist, versteht sich nun hier ganz von selbst, wo es nicht bloss gilt zu belehren, sondern noch insbesondere eine nachfolgende ausgeführtere Belehrung in der Kürze einzuleiten und vorzubereiten und einen vorläufigen übersichtlichen Grundriss zu geben. Es ist mithin im Allgemeinen von jedem rednerischen Exordium zu fordern, dass es ruhig, einfach, verständlich sei, oder um es negativ auszudrücken, dass es den Zuhörer weder auf Seite des Gefühls und der Einbildungskraft überreize, noch auf Seiten des Verstandes verwirre und im Unklaren lasse. Aber darum darf es doch nicht alltäglich und trivial sein; und wenn schon jene Vorschrift im Allgemeinen für alle Reden gilt, so werden doch je nach Beschaffenheit des Anlasses oder Themas oder Zweckes die einen mehr, die anderen weniger Ruhe und Einfachheit verlangen, und es ist deshalb fehlerhaft, gewisse Formeln der Auffassung und Darstellung für alle Reden gleichmässig stereotyp festzuhalten, wie z. B. unter zehn deutschen Reden vielleicht neun mit einem Wenn anfangen, weil man meint, nicht besser bescheiden sein zu können, als wenn man sich bedingungsweise ausdrückt. Zu dieser Regel der Ruhe, Einfachheit und Verständlichkeit möge hier noch eine andere gefügt werden, die eine ebenso unbestrittene allgemeine Gültigkeit besitzt, bei der aber auch jeder einzelne Fall erst über das Mehr oder Minder entscheiden muss: der geringe Umfang. Ausgedehnter als der Eingang einer Abhandlung wird freilich der Eingang einer Rede stäts sein können, da er ja neben der expositio die dem Eingang einer Abhandlung entspricht, noch zwei andere Glieder in sich enthält. Gleichwohl ist es immer nur ein vorbereitender Eingang, der sich als solcher dem eigentlichen Kern und Gehalt der Rede, der disputatio, auch in seiner äusseren Ausdehnung unterordnen muss, der die geistigen und physischen Kräfte des Redners und des Zuhörers nicht schon erschöpfen darf, noch ehe es zur eigentlichen Sache kommt. Der Eingang ist freilich einer von den drei Theilen der Rede, aber darum darf er doch nicht den dritten Theil derselben einnehmen. Bisher haben wir das Bild des Exordiums ganz im Allgemeinen entworfen, ohne irgendwie und irgendwo besonders Rücksicht zu nehmen auf die verschiedenen Arten der Beredsamkeit, auf die geistliche und auf die weltliche. Es finden aber innerhalb jenes allgemeinen Grundrisses zwischen diesen beiden nicht unbeträchtliche Unterschiede statt, ja die geistliche Beredsamkeit selbst folgt in verschiedenen Ländern verschiedenen Methoden des Entwurfes, und wir sind dadurch genöthigt, die verschiedenartige Anwendung jener allgemeinen Vorschriften noch nach diesen beiden Richtungen hin ins Besondere zu verfolgen, namentlich aber die geistliche Beredsamkeit näher ins Auge zu fassen. Von einer captatio benevolentiae im eigentlichen und vollen Sinne des Wortes kann im Grunde nur bei der weltlichen Beredsamkeit gesprochen werden, und auch hier bei der gerichtlichen weniger als bei der politischen. Die Persönlichkeit des Redners kommt nur dann in rechten Betracht, und Wohlwollen oder Widerwille der Zuhörerschaft gegen dieselbe ist nur dann von entscheidender Bedeutung, wenn es sich um Fragen der Staatsweisheit handelt, bei denen es auf das Für oder Wider der Parteien ankommt. Wenn sich da ein Einzelner zum Wortführer aufwirft, muss ihm freilich Alles daran gelegen sein, denjenigen unter seinen Zuhörern, die bei der politischen Gegenpartei stehn, wenigstens für diesen Fall die Ungunst und Unfreundlichkeit zu benehmen, die sie gegen ihn sonst empfinden mögen. Nur wo er einen solchen Widerstand der Gesinnung nicht zu fürchten hat, oder wo er ihn getrost übersehen und verachten darf, da darf auch der politische Redner die captatio benevolentiae ganz bei Seite lassen und seinen Vortrag gleich mit dem vollen objectiven Gewicht der narratio facti beginnen. Das wird aber immer nur ausnahmsweise vorkommen; Beispiele bieten hiefür Ciceros erste und zweite Rede gegen Catilina. Bei gerichtlichen Reden ist die Persönlichkeit des Redners nur dann von gleichem Belange wie bei politischen, wenn er auch hier einen Widerwillen, namentlich aus politischer Parteisucht fürchten muss, wenn er dem Einflusse politischer Gesinnungen auf die Entscheidung nicht politischer Rechtshändel vorzubeugen hat. Cicero macht häufig aus diesem Grunde von der captatio benevolentiae Gebrauch. In den meisten Fällen gerichtlicher Beredsamkeit kann aber dieser Theil des Exordiums nicht den Zweck haben, eine feindselige Stimmung in eine geneigte Stimmung zu verwandeln, sondern eben nur den, die Zuhörerschaft geneigt zu machen, geneigt zur Aufmerksamkeit auf die narratio facti, geneigt zur Gelehrigkeit für die expositio und die disputatio. Da genügen denn vollkommen einige Worte der Bescheidenheit und der freundlichen Anerkennung; und zwar einer wirklich bescheidenen Bescheidenheit: ein gerichtlicher Redner, der sich selbst gar zu tief herabsetzt und so den Zuhörern übertrieben schmeichelt, schadet damit nur sich und seiner Sache: denn man sieht den Schmeicheleien gleich die Unwahrheit an und darf argwöhnen, er wolle bestechen statt zu überreden, oder man erkennt doch, dass die Bescheidenheit nur ein Deckmantel der Eitelkeit ist: dann wird denn aus der captatio benevolentiae leicht eine captatio malevolentiae, und es kann sein, dass Cicero hauptsächlich darum, weil er sich in solcher übermässigen und eiteln Bescheidenheit gefiel, so viele Processe verloren hat. Wie aber ist es nun mit der captatio benevolentiae in einer geistlichen Rede, in einer Predigt oder in einer Homilie? Es leuchtet von sich selber ein, dass hier wenigstens im Allgemeinen an eine captatio benevolentiae im Sinne der weltlichen Beredsamkeit ganz und gar nicht könne gedacht werden. Einzelne Fälle mögen eine Ausnahme machen, namentlich unter den Casualreden z. B. die Antrittspredigt eines neu berufenen Geistlichen. Sonst aber ist die Stellung, welche der Geistliche als beständiger Verkündiger des beständigen göttlichen Wortes gegenüber seiner Gemeinde einnimmt, von solcher Art, dass bei der ganzen rednerischen Handlung seine Persönlichkeit von dem allergeringsten Belang ist: er darf keinen Widerwillen gegen sich voraussetzen, und ist ein solcher vorhanden, so werden ihm alle captationes wenig helfen; er darf auch nicht auf ein besondres persönliches Wohlwollen ausgehn: denn er führt weder seine Sache noch die irgend einer Partei. So kommt denn hier die captatio benevolentiae nur darauf hinaus, dass der Geistliche es im Exordium bloss zu vermeiden hat, Uebelwollen zu erregen; es bedarf hier keiner ausdrücklichen Bescheidenheit, er soll sich nur vor Unbescheidenheit, vor geistlich stolzer Ueberhebung hüten; er darf seiner Zuhörerschaft auch nicht von ferne schmeicheln, er soll sie aber ebenso wenig zurückstossen, er soll vielmehr durch den Zuspruch der Liebe sie zu gewinnen und festzuhalten suchen: das ist für ihn die einzig rechte captatio benevolentiae, jede andere wäre seines hohen Amtes unwürdig. Natürlich muss dann dieser Zuruf seine Gestalt und Wendung jedesmal erhalten nach Massgabe des Inhalts der ganzen gesammten Rede. Was hier über die captatio benevolentiae der geistlichen Reden ist bemerkt worden, findet jedoch seine Anwendung nur dann, wenn auch in ihnen, so wie das in den weltlichen Reden der Gebrauch ist, die narratio facti die zweite Stufe des Eingangs bildet, d. h. wenn die Verlesung des biblischen Textes in die Mitte des Eingangs fällt. Aber das ist keineswegs beständig so und überall so. Es ist daneben noch eine andere Uebung in Gültigkeit, z. B. grade hier zu Lande, nämlich dass man gleich den ersten Beginn der Predigt mit der narratio facti macht, d. h. gleich an dem Anfang vor allem Andern den biblischen Text verliest. Bei dieser Einrichtung fällt dann nothwendiger Weise Alles fort, was sich als captatio benevolentiae betrachten liesse, und man kann ja dessen auch ganz wohl entbehren, da diejenige captatio benevolentiae, welche dem Prediger allein gestattet ist, sich doch im Grunde nicht auf das Exordium beschränken dürfte, sondern sich über die ganze Predigt hin ausdehnen muss. Diess erste Glied des Exordiums fällt dann also fort, und die Predigt beginnt gleich mit dem sonstigen zweiten, gleich damit, dass das Factum, d. h. hier der Text, mitgetheilt wird, und unmittelbar hieranf folgt sofort das sonstige dritte Glied, die expositio, wovon wir jetzt noch zu sprechen haben. Die Bestimmung der expositio und ihr Verhältniss zur narratio facti ist, die theoretische Wahrheit, auf die der factische Anlass hinführt, und deren ausführliche Behandlung in dem zweiten Haupttheil der Rede bevorsteht, zuerst aufzustellen und allenfalls noch anzukündigen, in welcher Gliederung diese Behandlung vor sich gehen solle. Der factische Anlass für den Prediger ist aber das Wort Gottes: aus diesem, aus der zuvor verlesenen Textesstelle hat er den darin enthaltenen lehrhaften Satz, die darin gefundene religiöse Wahrheit kurz und deutlich zu entwickeln und mit verständlichen, bestimmt abgrenzenden Worten als das Thema, den Hauptsatz seiner Predigt hinzustellen. Diess Verhältniss des Themas zu dem Texte als des Späteren zu einem Früheren, des abgeleiteten Resultates zu einem gegebenen factischen Grunde ist überall dasselbe, gleichviel ob der Prediger einer wirklich vorgeschriebenen Pericope folgt, oder ob er den Text selbst erst für ein Thema gewählt hat, das er abhandeln will oder soll: denn auch hier, wo in der Wirklichkeit das Thema früher gegeben oder gefunden ist als der entsprechende Text, muss dennoch bei der Ausführung das Thema sich dem Text in gebührender Weise unterordnen und nur als das lehrhafte Ergebniss desselben erscheinen. Ja selbst in solchen Predigten, die sich an gar keine bestimmte einzelne Textesstelle anschliessen, deren Exordium also auch gar keine narratio facti hat (und von dieser Art sind namentlich viele Predigten aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche), selbst in solchen gleichsam textlosen Predigten darf man dennoch das abgehandelte Thema ebenfalls nur als den lehrhaften Widerschein einer oder mehrerer Textesstellen betrachten, nur dass diese unausgesprochen geblieben sind, weil das Wort Gottes ganz in dem Bewusstsein der Gemeinde lebte. Aber dergleichen Predigten sind jetzt kaum mehr gebräuchlich, und wir wollen bei dem Wenigen, was noch über das Verhältniss des Themas zum Texte zu bemerken ist, nur solche Predigten ins Auge fassen, die von einer einzelnen ausgesprochenen, verlesenen Bibelstelle ausgehn. Man hat hier zu unterscheiden zwischen historischen Texten und Lehrtexten, zwischen solchen Bibelstellen, die erzählen, und solchen, die selber schon lehrhaften Inhaltes sind. Die historischen Texte können dann wieder von zwiefacher Art sein. Entweder sind sie rein historisch, oder sie sind didactisch historisch; rein historisch z. B. ein Abschnitt aus dem Leben Jesu, didactisch historisch eines seiner Gleichnisse. Wenn der Text selber schon auf diese Art neben dem historischen Element ein didactisches enthält, so enthält er auch selber schon das Thema in sich; in diesem Falle hat das Auffinden desselben keine Schwierigkeit für den Prediger, und es wird deshalb die expositio leicht und einfach vor sich gehn können. Ist dagegen der Text rein historisch, so ist das Auffinden des Themas, d. h. der darin ausgedrückten religiösen Idee, erst eine Sache der Meditation, und es ist hier für den Prediger die Schwierigkeit vorhanden, einmal den historischen Text in richtiger Weise didactisch aufzufassen, und dann den Zuhörer von der narratio facti zur expositio auf einem solchen Uebergange zu führen und das Thema selbst in solcher Weise hinzustellen, dass kein Zweifel bleibt über die Richtigkeit und Nothwendigkeit grade dieser Auslegung, dass der Hauptsatz, das Thema, leicht und wie von selbst aus dem Text herzufliessen scheint. Wenn endlich der Text selber schon ein rein didactischer, ein sogenannter Lehrtext ist, also z. B. eine Epistelstelle, so wird der Prediger mit ihm ganz wie mit einem historisch didactischen verfahren können, sobald nämlich dieser Lehrtext nur Einen wesentlichen Gedanken enthält. Enthält er aber deren mehrere, so wird es auch da in den meisten Fällen möglich sein, diese mehreren Gedanken um einen Hauptgedanken zu vereinigen, dieselben in ein Hauptthema zusammenzufassen. Und mit dieser Entwickelung des Einen aus dem Mehrfachen hat dann die expositio zu beginnen. Nun giebt es aber sowohl historische Texte als Lehrtexte, deren Concentrierung auf ein einziges Hauptthema entweder unmöglich ist oder wenigstens zu schwierig für eine Predigt, die ja lebendig erbauen soll. Und hier sind wir zu einem Puncte gelangt, auf welchem wir die allgemeine Art der Predigt in zwei besondere Unterarten sich theilen sehen, Predigt und Homilie: beides vollständig willkürliche Beschränkungen und Festsetzungen. Predigt insbesondere nennt man eine solche geistliche Rede, deren Exordium nach dem bisher besprochenen Schematismus gebaut ist, in der also aus dem Text ein einziges einheitliches Thema abgeleitet und diess sodann in dem zweiten Haupttheil erörtert wird. Homilie dagegen heisst nach dem einmal angenommenen Sprachgebrauch die geistliche Rede, wenn der Text eine ausgedehntere Mannigfaltigkeit besitzt und deshalb nicht auf eben solche Art in Einen Hauptgedanken concentriert wird, sondern der Redner sich begnügt, dem Gange seines Textes Schritt für Schritt zu folgen und einen Gedanken desselben nach dem andern zu besprechen. Dabei mag der Redner sich selbst sehr wohl eines leitenden Hauptgedankens bewusst sein, er mag auch aus diesem Bewusstsein heraus den ganzen Gang der vereinzelten Betrachtungen ordnen und lenken und leiten, aber er spricht jenen Einen Gedanken nicht aus, weil damit auch sogleich der gewöhnliche systematische Bau der Predigt gefordert wäre. Natürlich ist bei dieser Auffassung des Textes, also für die Homilie, keine eigentliche expositio möglich, sondern es wird hier von der narratio facti gleich zur disputatio, von dem Texte gleich zur Ausführung übergegangen, und auch die Ausführung wird hier, wo es sich nicht um die Erklärung Eines Gedankens handelt, eine ganz andere sein als sonst, als in eigentlichen Predigten. Es kann aber, wie schon früher (S. 283) ist bemerkt worden, die expositio wieder in zwei untergeordnete Glieder zerfallen, in die propositio und in die partitio. In diesem Falle ist die expositio noch weit absichtlicher und deutlicher bloss die voranlaufende Ankündigung des zweiten Haupttheiles; sie erscheint damit gleichsam als ein blosses Inhaltsverzeichniss desselben. Die weltliche Redekunst weiss von einer solchen Partition nur wenig; man wird in ihr nur seltene Beispiele davon finden, und so gedenken auch die Rhetoriker des Alterthums derselben nicht oft als eines oratorischen Erfordernisses. Eigentlich und ausdrücklich spricht davon mit Bezug auf gerichtliche Reden Cicero de invent. 1, 22. Recte habita in causa partitio (ganze Exposition) illustrem et perspicuam totam efficit orationem. Eius partes duae sunt, quarum utraque magnopere ad aperiendam causam et ad constituendam pertinet controversiam etc. Dagegen in unserer geistlichen Redekunst ist sie zu einer so weit verbreiteten Uebung geworden, Prediger und Gemeinde haben sich fast überall so daran gewöhnt, dass man sie hier beinahe als ein Gesetz betrachten muss, dem die Praxis sich zu unterwerfen und dessen Nutzen und Nothwendigkeit die Theorie aufzusuchen habe. Allerdings lässt sich auch Manches wenigstens zur Rechtfertigung dieses Gebrauches sagen. Quintilian (Institut. orator. 4, 5) macht geltend, wenn die einzelnen Theile schon im voraus aufgestellt und bezeichnet seien, so erhalte das den Zuhörer während der Ausführung bei Kräften, weil er die einzelnen Abgrenzungen wisse, „grade wie einem Reisenden die Meilensteine viel von der Ermüdung benehmen. Denn es thut wohl, das Mass der bereits überstandenen Arbeit zu kennen, und es ermahnt, auch das Uebrige kräftig durchzusetzen, wenn man weiss, wie viel noch bevorsteht. Denn nichts darf lang erscheinen, wobei feststeht, was das Letzte sei.“ Nicht grade diess wollen wir zur Rechtfertigung anführen: denn das Zählen der Meilensteine kann mitunter auch höchst langweilig werden. Ueberhaupt soll ja das Anhören einer Rede keine Arbeit sein, die man über sich nimmt, und bei der es wohlthut, unter fortwährendem Zählen und Berechnen das Ende immer näher heranrücken zu sehen. Sondern, was man hauptsächlich zu Gunsten der Partition sagen kann, ist Folgendes, was Quintilian selbst noch am eben angeführten Orte so ausdrückt: Id efficit, ut clariora fiant, quae dicuntur, rebus velut ex turba extractis et in conspectu judicum (die Worte beziehen sich auf gerichtliche Reden) positis. Also indem sie die Hauptpuncte der Ausführung schon zuvor heraushebt, macht sie die ganze Ausführung selbst übersichtlicher, macht sie es dem Zuhörer leichter, den verständigen Anschauungen des Redners zu folgen und die ausführliche Belehrung in der richtigen Ordnung und Gliederung in sich aufzunehmen. Indessen, was damit auf der einen Seite für den Verstand und dessen Ueberzeugung gewonnen wird, geht auf der anderen leichtlich wieder verloren für die Ueberredung, für die lebendige Einwirkung auf den Willen. Freilich ist die Ausführung Sache des Verstandes; aber darum soll ihr die Beziehung auf das Gefühl nicht ganz genommen werden: diess geschieht jedoch nur zu leicht, wenn man ihr von vorn herein das Gepräge eines nackten, kalten und trockenen Schematismus aufdrückt. Und nur zu häufig glauben sich die Prediger durch die Partition im Exordium berechtigt, ja verpflichtet, dieselbe Partition auch im zweiten Haupttheil wieder anzubringen, in der Weise, dass sie auch hier die einzelnen Theile abgerissen und ohne alle Vermittelung durch überleitende Gedanken und Worte hinter einander aufstellen wie einzelne Paragraphen. Darüber verschwindet dann alle zusammenhaltende Einheit, und von einem geistigen Wachsthum der Gedanken, von einem ununterbrochenen Arbeiten nach dem Ziele hin bleibt kaum eine Spur mehr. Indessen die Partition als Schluss des Einganges ist einmal Sitte, und es mag sein, dass es hin und wieder die Gemeinde störend berühren würde, wenn der Prediger sich eine Abweichung davon erlaubte. Da thut er dann aber wohl, wenn er wenigstens zweierlei nicht aus dem Auge verliert: erstens, er fasse die Partition auf keinen Fall gar zu registerartig ab, sondern gebe ihr eine solche Haltung und suche sie mit der Proposition so zu verschmelzen, dass beide wieder in ein einziges rednerisch belebtes Ganze zusammenfliessen, dass eine gewisse Theilnahme des Gefühls und der Einbildungskraft auch hier nicht zurückgewiesen werde. Und zweitens, er führe diese paragraphierte Eintheilung keinesfalls aus dem Exordium mit in die disputatio hinüber; hier überlasse er es dem Zuhörer, sich das Erstens, Zweitens, Drittens aus eigener Verständigkeit am rechten Orte selber zu sagen, ohne dass der Redner mit einer Unterbrechung des lebhaften Fortschrittes es ihm vorsage und vorrechne. Dann wird doch durch die Ausführung wieder gut gemacht, was durch die Partition vielleicht ist verfehlt worden. Jetzt ist noch von einem Bestandtheile des Eingangs geistlicher Reden zu sprechen, der in der früher (S. 278) erwähnten siebentheiligen Gliederung, welche die Homiletik gewöhnlich der Predigt beilegt, die erste Stelle einnimmt, das Gebet. Die Sitte, den allerersten Eingang einer öffentlichen Redehandlung mit einem Gebet zu machen, welches sich auf den Anlass derselben und auf ihren Inhalt bezog, und in welchem sich der Redner von obenher Segen zu seinem Vorhaben erflehte, diese Sitte war auch den Rednern des unchristlichen Alterthums keineswegs fremd, wenn schon sich in den erhaltenen Denkmälern die Beispiele nicht mehr so gar häufig nachweisen lassen. Zwei mögen hier ausgezeichnet werden: als Beispiel aus der rednerischen Litteratur der Griechen des Demosthenes Rede pro corona, aus der der Römer der Panegyricus des jüngern Plinius; dieser, weil zugleich Zeugniss für die weiter ausgedehnte Verbreitung jener Sitte. Die Lobrede auf Trajan beginnt nämlich also: Bene ac sapienter, patres conscripti, maiores instituerunt ut rerum agendarum ita dicendi initium a precationibus capere, quod nihil rite, nihil providenter homines sine deorum immortalium ope consilio honore auspicarentur. Und so noch weiter. Darauf folgt erst das Gebet selber: Quo magis aptum piumque est te, Juppiter optime maxime, antea conditorem, nunc conservatorem imperii nostri, precari, ut mihi digna consule, digna senatu, digna principe contingat oratio, utque omnibus, quae dicentur a me, libertas fides veritas constet, tantumque a specie adulationis absit gratiarum actio mea, quantum abest a necessitate. Was mithin bei den Rednern des Alterthums ein gar nicht selten beobachteter Gebrauch war, das hat sich in der eigenthümlichen Redekunst der Christen, wie auch natürlich, zu einer unwandelbaren, gesetzlich festen Sitte erhoben, wie denn auch Augustinus (De doctrina christiana 4, § 32) mit einem Wortspiel es vorschreibt: „Sit orator antequam dictor;“ und es wird kaum eine Predigt gehalten, ohne dem Worte die Weihe des Gebetes zu geben, eines Gebetes um göttlichen Beistand so für den Prediger wie für die hörende Gemeinde, natürlich jedesmal mit specieller Beziehung auf das grade vorliegende Thema, eines Gebetes, das also verschieden ist von dem, welches bereits die Liturgie vorschreibt, und welches sich bei jeder kirchlichen Versammlung wörtlich wiederholt. Aber in Rücksicht auf die Stelle des Einganges, an welche diess Gebet zu verlegen sei, herrscht keine durchgreifend gleichmässige Uebung: man bringt es bald an den Anfang, bald an das Ende des Exordiums; die Homiletik pflegt, wie vorher von Neuem ist erwähnt worden, das Erstere vorzuschreiben. Es lassen sich für das Eine wie das Andere, und auch gegen das Eine und das Andere mehrfache Gründe anführen. Für die Stellung des Gebetes gleich an den ersten Anfang des Exordiums, also zuvörderst an die Spitze der ganzen Predigt, spricht einmal, dass dieser Ort derjenigen Bedeutung, die ein solches Gebet haben soll, am meisten angemessen erscheint: denn es ist ja ein eigentliches Weihegebet, eine Bitte um Segen zu einem Werke, das man beginne: da gehört es natürlich auch am besten an den wirklichen Beginn, an den Anfang des Einganges, nicht an dessen Ende. Sodann lässt sich kein schöneres Mittel denken, um die captatio benevolentiae, die dem Prediger sonst beinahe ganz benommen ist, nicht nur beizubehalten, sondern ihr auch noch eine höhere, echt christliche Wendung zu geben. Der weltliche Redner sucht Gunst für seine Person und Wohlwollen für seine Zwecke bei der menschlichen Zuhörerschaft: dem geistlichen Redner könnte dafür das Gebet eine captatio benevolentiae sein, aber eine an Gott gerichtete, eine captatio benevolentiae divinae. Aber es hat auch seine Vortheile, wenn man den Eingang mit dem Gebete beschliesst: auf jeden Fall jedoch mehr äusserliche Vortheile: dieselbe hohe Bedeutung wie ganz zu Anfang besitzt das Gebet hier auf keinen Fall. Die Vortheile sind diese. Einmal, dass nur so das jedesmalige besondere Gebet kann deutlich geschieden und unterschieden werden von dem, welches der Liturgie gemäss bei allen Gottesdiensten unverändert wiederkehrt. Sodann kann man am Ende des Einganges dem Gebete mehr ausdrückliche und verständliche Beziehung auf das Thema der Predigt geben: denn nun ist diess bereits aus den Worten des Bibeltextes abgeleitet, es ist exponiert, es ist proponiert und partiert worden; die Gemeinde weiss also bereits, warum es sich handle, und sie versteht die Bezüge darauf. Das weiss sie am Anfange aber noch nicht, und deshalb wird der Prediger, wenn er das Gebet an den Anfang stellt, sehr oft zwischen den zwei Uebeln schweben, entweder das Gebet ganz allgemein und beziehungslos zu halten, oder aber ihm Beziehungen zu geben, die noch Niemand richtig auffasst und würdigt. Noch ein Vortheil, den das Beschliessen mit dem Gebete hätte, wäre der, dass damit dem Redner ein schickliches Mittel gegeben scheint, um die Rede, die sich in der Exposition und gar mit der Proposition und Partition etwas gar zu tief zur blossen Verständigkeit herabgelassen hatte, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung wieder in die Höhe zu führen. Aber eben diess lässt sich auch grade gegen eine solche Stellung geltend machen. Der Uebergang von der kühlen Verständigkeit der Partition zu der warmen Gemüthlichkeit des Gebetes ist ein gar zu plötzlicher und schwerlich irgendwie zu vermitteln: das Gebet steht abgerissen und recht wie im Gegensatz und wie verloren da; darum ist auch bei dieser Stellung der ziemlich stereotype Anfang des Gebetes ein adversatives Aber: Du aber, u. s. f. Ebenso wird auch in den wenigsten Fällen die Anschauung und die Darstellungsweise des Gebetes recht passen zu dem nachfolgenden zweiten Haupttheil, der Ausführung; so dass nun zwischen dem ersten und zweiten Haupttheil jede rechte Vermittelung mangelt, zwischen beiden gleichsam abgeschnitten wird. Man sieht, es lässt sich für beiderlei Anordnungen diess und jenes sagen, für die zweite, für die Stellung ans Ende aber weniger Triftiges als gegen dieselbe. Das Beste ist es offenbar, sich je nach Umständen bald für das Eine, bald für das Andere zu entscheiden: denn die Art des Themas und der Ausführung wird sich bald zu dem Einen, bald zu dem Anderen besser schicken. Natürlich sollte dann aber auch freigestellt sein, an welcher Stelle des Eingangs der Prediger den Text verlesen wolle: wenn er mit dem Gebet beginnt, so wird der Text in die Mitte fallen; wenn er aber mit dem Gebete schliesst, so kommt von selbst der Text ganz an den Anfang. Eins bedingt das Andere. So viel wäre über Bestimmung und Einrichtung des ersten Theiles der Rede, über Eingang oder Exordium zu bemerken gewesen. Wir haben uns länger dabei aufgehalten, als diess bei den zweien noch übrigen der Fall sein wird: über diese werden wir schneller hingehn können. Aber diese Ausführlichkeit war nöthig bei der ganzen Bedeutung, welche das Exordium besitzt, und bei der Stellung, welche es den nachfolgenden Theilen gegenüber einnimmt. Es bildet die Grundlage des gesammten Gebäudes der Rede; in so fern muss auf seinen Bau im Ganzen und im Einzelnen die meiste voraussichtliche Aufmerksamkeit verwendet werden. Nur wenn das Exordium mit Sorgfalt eingerichtet ist, gewinnt auch die ganze Rede eine feste und sichere Haltung; es trägt dieselbe, es spiegelt sich in seinen beschränkten Grenzen deren ganzes Bild ab. Denn wenn der zweite Haupttheil vorzüglich der Ueberzeugung, und der dritte vorzüglich der Ueberredung gewidmet ist, so vereinigen sich in dem Exordium beide Zwecke; wenn im zweiten Theile der Verstand, im dritten Einbildung und Gefühl vorwalten, so wirken im Exordium alle drei Kräfte neben einander. Es ist demnach mit Vielem, was über das Exordium gesagt worden, inclusive zugleich von der ganzen Rede gehandelt, so dass wir uns von nun an ganz wohl kürzer fassen können. Auch gehn in den beiden andern Theilen die weltliche und die geistliche Redekunst, wenn schon beträchtlich genug, nicht in so mannigfacher Weise auseinander, wie das im Exordium stattfindet. Der zweite Theil, die disputatio. Die weltliche Redekunst liebt es vom ersten zum zweiten Theile fast unmerklich und mit freier Leichtigkeit überzugehn, so dass der Schluss des ersten und der Anfang des zweiten ganz wohl in Einen Satz zusammenfliessen können. Die geistliche Redekunst pflegt den Abschnitt nicht bloss durch die ihr eigenthümliche Einrichtung des Eingangs, sondern hie und da sogar durch eine Pause nach demselben zu bezeichnen, durch ein wirkliches Innehalten, das bald von kürzerer, bald von längerer Dauer ist; nach einer in Deutschland weit verbreiteten Uebung unterbricht hier sogar die Gemeinde den Gang der Predigt durch ihren Gesang. Mithin weicht die geistliche Redekunst schon beim ersten Beginn der disputatio von der weltlichen ab, und ebenso pflegt sie denn auch in der ganzen weiteren Behandlung derselben ihren eigenen Weg einzuschlagen, der leider auch hier oft der minder künstlerische ist. Wir sehen dabei ganz ab von der Homilie, die gar kein irgendwie systematisches Verfahren beobachtet, die nach der Verlesung des Textes alsbald übergeht zu einer blossen erbaulichen Auslegung desselben und die Reihe der darin enthaltenen vereinzelten Gedanken in ihrer Vereinzelung verfolgt, ohne sie ausdrücklich und ausgesprochener Massen unter einen gemeinsamen Hauptgedanken zusammenzufassen. Wir sehen von der Homilie ab und sprechen, wo wir ferner noch die geistliche Redekunst mit der weltlichen vergleichen, nur von der Predigt im engeren Sinne des Wortes. Die Bestimmung des zweiten Haupttheils ist in geistlichen oder in weltlichen Reden überall die gleiche: die verschiedenen Benennungen, welche die Rhetorik diesem Theile giebt, sprechen sie jede ziemlich genügend aus. Er heisst die disputatio: denn es wird hier die aufgestellte Wahrheit darum so erschöpfend durchgesprochen, weil der Redner sie zu behaupten und zu verfechten hat entweder gegen eine wirklich und ausdrücklich entgegengesetzte, ja ihm feindselige Meinung, wie das in der weltlichen Redekunst gewöhnlich der Fall ist, oder weil er, wie die geistlichen Redner, allem Zweifel an der Wahrheit und aller Verneinung derselben wenigstens vorbeugen muss. Es ist ein Zwiegespräch mit einem wirklich vorhandenen oder einem bloss vorausgesetzten Gegner, nur dass dessen Zwischenfragen und Zwischenantworten fortfallen; ein hin und her wandernder Kampf verschiedenartiger Gedanken, in welchem zuletzt die Gedanken des Redners das Feld behaupten. Natürlich aber wird dieser Kampf nur da ein wirklich streithaftes Ansehen gewinnen dürfen, wo auch auf einen wirklichen Gegner gezielt wird, also nur in der weltlichen Redekunst, nicht aber in der geistlichen, es müsste denn auch ihr einmal durch die Umstände eine eigentliche Polemik geboten sein. Auf Deutsch nennt man den zweiten Haupttheil auch die Ausführung, in der Homiletik der gewöhnliche Ausdruck; dieser hat zwar nicht dieselbe lebendige Anschaulichkeit, trifft nicht so ganz wie jener lateinische, ist aber immerhin bezeichnend genug, da er die Art, wie das Thema hier gehandhabt wird, gegenüberstellt derjenigen Art, wie es kurz vorher in der Exposition ist vorgelegt worden, der Kürze und Präcision, womit das dort geschah. Endlich sagt man auch Abhandlung, und dieser Name könnte in so fern den Vorzug verdienen, als er auf das Verhältniss zwischen der Rede und der sonst sogenannten Abhandlung hindeutet, welches grade in diesem Theile besonders klar vor Augen tritt. Denn, wie das schon früherhin (S. 276) ist ausgeführt worden, die Rede stimmt in Allem, was in ihr der verständigen Didaxis dient, mit der Abhandlung überein; von den drei Haupttheilen der Rede ist aber dieser mittlere der einzige, der bei dem Zwecke der verständigen Didaxis, bei der Ueberzeugung, stehn bleibt, während in den ersten, und gar in den dritten Theil auch der Zweck der Ueberredung eingreift. Indessen, wenn auch dieser zweite Theil an und für sich betrachtet nur auf die Ueberzeugung der Zuhörer ausgeht, so ist er immer doch Theil einer Rede, d. h. eines Vortrages, der in seiner Gesammtheit Ueberzeugung und Ueberredung beabsichtigt; es darf also der Redner, wenn er auch im zweiten Theil den Zweck der Ueberredung nicht eigentlich und ausdrücklich verfolgt, ihn dennoch auch hier nie ganz aus den Augen verlieren, seine Lehren müssen immer wenigstens in Beziehung darauf stehn und in beständiger Rücksicht darauf gefasst und vorgetragen werden; es muss, damit dieser zweite Theil nicht gar zu fremdartig in blosser kalter Verständigkeit mitten hinein trete zwischen die Ausflüsse des Gefühls und der Einbildung im ersten und im dritten Theil, es muss auch hier die Darstellung von Gefühl und Einbildung gefärbt sein und nicht bloss vereinzelt und allzu leicht und oberflächlich. Namentlich ist diese Anforderung an den geistlichen Redner zu stellen: den weltlichen Redner, besonders den gerichtlichen, kann wohl die Beschaffenheit des factischen Anlasses und des theoretischen Gegenstandes öfters nöthigen, in der disputatio wo möglich alle Empfindung und Phantasie zu beseitigen, er kann mitunter gezwungen sein, sich in der baarsten Verständigkeit zu halten. Nicht so der geistliche, der Prediger. Sein factischer Anlass ist überall derselbe, das Wort Gottes, und ebenso hat er überall denselben practischen Zweck, die Erbauung. Deshalb muss er diesem zweiten Theile einen fortdauernden Bezug geben auf den Grund und Boden, in welchem die Erbauung lediglich beruht, auf das Gemüth des Menschen. Ein Prediger, der diess vergisst, mag immerhin seine Zuhörer theoretisch belehren über allerhand religiöse oder moralische Wahrheiten, aber practisch macht er sie ihnen nicht; er hält ihnen wohl Vorträge aus der Dogmatik oder der Ethik, aber ein lebendiges Christenthum pflanzt er nicht. Jedoch, nicht zu vergessen, ebenso verfehlt ist es auf der anderen Seite, den hier zunächst vorliegenden Zweck der Belehrung und Ueberzeugung ganz bei Seite zu setzen und bloss zum Gemüthe, nicht aber mit Bezug auf das Gemüth zum Verstande zu sprechen: auch das ist nicht recht; solchen Predigten mangelt eigentlich der ganze zweite Theil, und, was ein noch viel grösserer Fehler ist, sie üben nichts viel Besseres als eine Ueberredung in dem gemeinen üblen Sinne des Wortes, während ihnen doch nur eine Ueberredung in dem höheren wissenschaftlichen Sinne gestattet ist, d. h. eine mit der Ueberzeugung verschwisterte und auf Ueberzeugung begründete Einwirkung auf den Willen. Was sonst noch über Wesen und Bestimmung der disputatio zu bemerken ist, wird sich am besten beibringen lassen, wenn wir zugleich über die Einrichtung, über die Theilung und Gliederung derselben das Nöthige sagen. Die weltliche Redekunst pflegt diesen zweiten Haupttheil der Rede nicht selten wieder in zwei untergeordnete Abtheilungen zerfallen zu lassen, in die Erklärung und die Beweisführung. Die Erklärung besteht in der weiteren Erörterung und Auseinandersetzung des in der Exposition nur kurz vorgelegten theoretischen Satzes, in der erschöpfenden Entwickelung der Begriffe, die derselbe enthält, oder der einzelnen Gedanken, die er als der Hauptgedanke unter sich befasst, kurz in einer Analyse des Themas. Diese Erklärung kann für sich schon hinreichend sein, um die Aufgabe der Disputation zu erfüllen; sie kann hinreichend sein, um den Verstand der Zuhörer zu einem Zugeständnisse der aufgestellten Sätze zu nöthigen, und kann so die Ueberzeugung schon ganz unmittelbar herbeiführen. Reicht sie aber nicht dazu hin, und namentlich sind es die gerichtlichen Reden, in welchen die blosse Erklärung für jenen Zweck noch nicht genügt, so wird ihr als zweite Abtheilung noch die Beweisführung oder Argumentation beigegeben. Beweise können die Ueberzeugung natürlich nur auf mittelbarem Wege hervorbringen: denn zuerst muss die Beweisführung für sich selbst die Zustimmung des Hörers erhalten, eh er auch den für den Hauptsatz daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen beistimmen kann. Die Beweise sind bekanntlich entweder apriorische oder aposteriorische, sie werden entweder bloss aus begrifflichen Abstractionen heraus oder aus der Erfahrung geführt; die alten Rhetoriker gebrauchen dafür mit Aristoteles die griechischen Benennungen ἐνθύμημα und ἐπαγωγή , mit Cicero die lateinischen ratiocinatio und inductio. Erfahrungsbeweise sind aber dem Redner jedesmal dienlicher als die abstracteren Begriffsbeweise, sowohl deswegen, weil sie eher jedem Zuhörer einleuchten, als auch, weil ihre Anlehnung an eine gegebene Wirklichkeit ihnen mehr Anschaulichkeit und Leben giebt, und es dem Redner möglich macht, seiner Darstellung die ansprechende Farbe der Phantasie und einen Bezug auf das Gemüth der Zuhörer zu verleihen: Vorzüge, die den nackten und kalten apriorischen Beweisen eben nicht eigen sind. Es ist daher ein grosser Vortheil für den weltlichen Redner, namentlich aber für den gerichtlichen, dass er häufig, ja gewöhnlich schon durch seinen factischen Anlass genöthigt ist, sich besonders auf Erfahrungsbeweise zu stützen. Vorher ist von der Beweisführung gesagt worden, sie werde der Erklärung noch als zweites Glied beigegeben: aber keineswegs folgen immer diese beiden Glieder eins hinter dem andern; häufig genug werden sie in einander verschränkt, die Beweisführung wird in die Erklärung verflochten, ja umgekehrt die Erklärung als das minder Hervortretende in die Beweisführung. Daher kommt es auch, dass manche alte Rhetoriker wohl den ganzen zweiten Haupttheil, ohne auf die Möglichkeit einer zweigliedrigen Einrichtung zu achten, die argumentatio genannt haben. Welches Verfahren nun aber der Redner beobachten möge, möge er die Beweisführung von der Erklärung trennen oder eine mit der andern verweben, immer wird es der Rede und ihren Zwecken zum Vortheile gereichen, wenn er von den schwächeren Beweisen zu immer stärkeren aufsteigt und mit den allerstärksten schliesst. Diese Reihenfolge wäre schon dann die beste, wenn der ganze Vortrag mit dem zweiten Theile abgethan wäre: denn bei der successiven Natur jeder sprachlichen Mittheilung darf man immer auf einige Vergesslichkeit rechnen und darf annehmen, dass die Nachwirkung des ersten Gedankens schon beinahe erloschen sei, wenn es zum letzten kommt: dieser Gefahr darf man aber nicht grade den allerwichtigsten, nicht grade den stärksten und hauptsächlichsten Beweis aussetzen; eher darf man die minder bedeutenden einer möglichen Vergessenheit und Wirkungslosigkeit preisgeben. Nun ist aber die Rede mit der Beweisführung noch nicht einmal abgethan: sondern es kommt darauf noch der dritte Haupttheil, grade derjenige, wo auf Gefühl und Einbildung mit der meisten Kraft soll eingewirkt, wo sogar eine gewisse Leidenschaftlichkeit soll angeregt werden. Diese Beschaffenheit der conclusio wäre aber durch nichts vorbereitet, und es wäre kein Uebergang zur conclusio vorhanden, wenn der unmittelbar davor liegende Schluss des zweiten Theiles grade von dem mattesten Beweise gebildet, wenn also hier von dem Zuhörer der geringste Grad geistiger Regsamkeit gefordert würde. Steht dagegen zunächst vor der conclusio der stärkste Beweis, so ist dadurch die mitwirkende Theilnahme des Zuhörers schon auf jene Höhe versetzt, welche die conclusio von ihr verlangt. Nun noch Einiges von der Einrichtung des zweiten Haupttheiles in geistlichen Reden. Hier kommt die Zerlegung in zwei untergeordnete Abtheilungen, eine erklärende und eine beweisende, kaum jemals vor. Dem weltlichen Redner, dem gerichtlichen, für den die Argumentation etwas so Hochwichtiges ist, kann eine solche Sonderung in vielen Fällen nur dienlich sein: denn offenbar wirken die einzelnen Beweise am nachdrücklichsten, und auch jener steigernde Gang ihrer Anordnung hat das meiste Gewicht, wenn sie, ohne Unterbrechung durch Gedanken anderer Art, Schlag auf Schlag einer unmittelbar auf den andern folgen. Nicht so ist es in der Predigt. Der ganzen Natur der Predigt nach, da sowohl ihr factischer Anlass ein wesentlich anderer ist als auch ihr practischer Zweck, behauptet in ihr die Argumentation kein so breites Feld, und diese selber ist hier auch in den meisten Stücken eine andere. Die Argumente, die dem geistlichen Redner vorzugsweise zustehn, lassen sich weder apriorisch noch aposteriorisch nennen, Beides wird in ihnen zusammenfliessen: denn seine besten Beweise rühren ja immer her aus der Autorität der göttlichen Offenbarung, aus der heiligen Schrift, worauf bereits Augustin (De doctrina christiana 4, § 8) hinweist: „Quod dixerit suis verbis, probet ex illis (scripturis divinis), et qui propriis verbis minor erat, magnorum testimonio quodammodo crescat.“ Solche Schriftbeweise nun mögen immerhin, allgemein menschlich betrachtet, häufig auch nur apriorische sein: für den Christen sind es aposteriorische Erfahrungsbeweise, da sie für ihn eine volle historische Urkundlichkeit besitzen. Eine solche Argumentation wird aber noch leichter mit in die eigentliche Erklärung hinein verfliessen, als das jemals in einer weltlichen Rede möglich ist: denn das Thema, welchem die Erklärung gewidmet ist, hat ja der Prediger auch wieder nur aus der heiligen Schrift geschöpft. Somit ist hier nicht nur der Nutzen, sondern gewöhnlich selbst die Möglichkeit jener zweitheiligen Ausführung fortgenommen; dafür gilt aber nach alter Uebung eine andere Theilung, die wiederum der weltlichen Redekunst meist fremd ist. Nämlich die Theilung nach Massgabe der Partition am Schluss des Einganges, die Einrichtung, nach welcher der zweite Haupttheil in ebenso viel untergeordnete und gesonderte Stücke zerfällt, als es verschiedene Standpuncte giebt, von denen aus das Thema kann betrachtet werden, oder verschiedene Gedanken, in die sich der angegebene Hauptgedanke zerlegen lässt. Geht die Erklärung leicht und unter den gehörigen Vermittelungen von einem Standpuncte zum andern, von einem Gedanken zum andern über, so ist daran nichts auszusetzen, der künstlerischen Darstellung ist ihre Genüge geschehen, und es bleibt möglich, die Einheit des Themas, des Hauptgedankens immer noch vollständig zu behaupten. Aber nur zu häufig lassen geistliche Redner diese einzelnen Glieder oder vielmehr nun Stücke ganz aus einander brechen, heben bei jedem wie von vorn an, zählen sogar, damit die Theilung recht in die Ohren falle, ein Erstens, Zweitens, Drittens: damit ist dann freilich gewonnen, dass der Zuhörer nach jener Vergleichung Quintilians bei jedem neuen Meilenstein berechnen kann, wie das Ende immer näher heranrücke, aber auch weiter nichts als diess; verloren ist dagegen alle Kunst der Darstellung, alle zusammenhaltende Einheit: denn der Redner hat ja selbst den lebendigen Zusammenhang aufgehoben, durch den allein die untergeordneten Gedanken als organische Glieder des Einen Hauptgedankens erscheinen können. Welchen Zweck aber und welch einen rechten Erfolg kann noch eine Predigt haben, wenn es nicht eine ganze und einheitliche Wahrheit ist, von der sie überzeugt? Der dritte Theil, die conclusio. Den dritten und letzten Haupttheil der Rede bildet die conclusio, der Beschluss. Die conclusio der Rede liegt dem Exordium derselben ebenso parallel gegenüber, wie die conclusio der Abhandlung dem Exordium dieser. In der Abhandlung führt der Beschluss nach Vollendung des Kreislaufes auf den gleichen Punct zurück, von dem der Verfasser im Exordium ausgegangen war; was in dem Exordium der Abhandlung einheitlich war vorgelegt worden, um sodann in analytischer Vereinzelung besprochen, eben abgehandelt zu werden, das fasst die conclusio wiederum synthetisch, einheitlich zusammen. Das gleiche Verhältniss finden wir auch bei der Rede. Auch hier zum Beschluss eine Rückkehr zum Thema, auch hier eine synthetische Einigung. Aber in der Abhandlung hat diese Einrichtung des Beschlusses lediglich den Zweck, die Ueberzeugung zur Vollendung zu bringen; es spricht da also immer wieder und immer noch der Verstand zum Verstande. Anders verhält sichs nun mit der Rede und deren conclusio. Hier hat die den Kreis abschliessende Synthesis nicht bloss der Ueberzeugung zu dienen, sondern auch der Ueberredung und beiden in ihrer engsten Vereinigung: denn die Rede will eben jetzt enden, sie nähert sich dem Zeitpunct, in welchem, nach der Absicht des Redners, sich die gewonnene Ueberzeugung practisch bethätigen soll: da gilt es aus der Einwirkung auf den Verstand nun endlich auch die vollste und nachdrücklichste Einwirkung auf den Willen zu entwickeln; diess geschieht aber, indem von Seiten der Einbildung her das Gefühl angeregt wird. Mithin zeigen sich am Beschluss der Rede der Verstand, die Einbildung, das Gefühl ebenso alle drei zusammen in ihrer Thätigkeit, wie das ihm gegenüber schon im Eingange der Fall gewesen war; mitten inne aber zwischen beiden liegt der verständige Haupttheil der Rede, die Ausführung. Und wie sich jener dreifachen Wirksamkeit gemäss das Exordium dreigliedrig gestaltet, so auch die conclusio. Im Exordium unterschieden wir die captatio benevolentiae, die narratio facti, die expositio; die captatio nahm das Gefühl in Anspruch (conciliavit), die narratio die Einbildung (permovit), die expositio den Verstand (docuit). So zerfällt nun auch die conclusio in drei Unterabtheilungen: die Recapitulation, den pathetischen Theil und den eigentlichen Beschluss. Hier wirken aber die drei Kräfte in umgekehrter Reihenfolge, und das ganz natürlich, da die conclusio der Ausführung nachfolgt, wie das Exordium ihr vorangeht. Es entspricht also die Recapitulation der Exposition, der pathetische Theil der narratio facti, der Beschluss der captatio benevolentiae: die Recapitulation ist an den Verstand (docet), der pathetische Theil an die Einbildung (permovet), der Beschluss an das Gefühl (conciliat) gerichtet. Diese Gliederung der conclusio und dieser ihr Parallelismus mit dem Exordium ist nun noch näher zu betrachten. Die Recapitulation. Wie die Exposition zunächst und unmittelbar in die Ausführung hineinleitet, so leitet nun die Recapitulation aus derselben hinaus; wie in der Exposition die belehrende Sprache des Verstandes zum ersten Male anklingt, so klingt sie in der Recapitulation zum letzten Male nach. Aber während die Exposition das einheitliche Thema hinlegt, damit es analytisch zergliedert werde, so fasst nun die Recapitulation das analytisch Zergliederte wieder einheitlich, synthetisch zusammen; sie enthält in wenigen Gedanken und kurzen Worten das Resultat, das sich aus der ganzen ausführlichen und weitläuftigen disputatio für die Ueberzeugung ergiebt; sie spricht aus, was bei jenem Zwiegespräche streitender Gedanken zuletzt ist erkriegt und ersiegt worden: diess ersiegte Resultat ist aber eben wiederum das Thema, wie es schon drüben in der Exposition aufgestellt war, vielleicht auch wieder in derselben Mehrtheiligkeit untergeordneter Gedanken und verschiedener Standpuncte, wie sie in der Partition waren angegeben worden. Auf diess Letztere geht eigentlich auch allein die Benennung recapitulatio, d. h. Wiederholung der einzelnen capitula, der hauptsächlichen Puncte. Es ist also mit der Recapitulation das Werk des Verstandes abgethan; bei diesem Gliede der Rede heisst es zum letzten Male docet, wie bei der Exposition zum ersten Male; was des Zweckes der Ueberzeugung wegen geschehen konnte, ist nun geschehen und beendet. Nun der pathetische Theil, welcher der narratio facti symmetrisch correspondierend gegenüber liegt. Die narratio facti deutete zurück auf den thatsächlichen Anlass der ganzen rednerischen Handlung und nahm, indem sie diesen berichtete, die Einbildung in Anspruch (permovit). An eben diese wendet sich auch der pathetische Theil, auch er permovet, aber, da er eben ein Theil des Beschlusses ist, so deutet er über diesen hinaus und vorwärts auf den practischen Zweck der Rede, der sich zu jenem factischen Anlass verhält wie die Wirkung zur Ursache. Diesen practischen Zweck legt hier der Redner den Zuhörern ans Herz, er fordert sie auf, der gewonnenen Ueberzeugung gemäss zu wollen und zu handeln. Da es aber eben nur noch ein Zweck ist, da es also jetzt nur gilt, den Willen für eine noch zukünftige Wirklichkeit zu bestimmen, so wird von der Einbildung eine viel grössere und wirksamere Thätigkeit gefordert als dort in der narratio facti, wo es etwas bereits in die Wirklichkeit Eingetretenes bloss zu berichten gab, wo vielleicht bloss die Erinnerung in Anspruch genommen ward. Hier hat sie dagegen eine nur noch gewünschte Wirklichkeit auszumalen, und mit Hilfe der Phantasie so lebhaft auszumalen, dass der Zuhörer dadurch in eine Aufregung der Empfindung versetzt wird, die ihn zu der bezweckten Willensäusserung hintreiben muss. Von dieser mit den Schöpfungen der Einbildungskraft unmittelbar verbundenen Aufregung des Gefühls pflegt man nun das zweite Glied der conclusio eben den pathetischen Theil zu nennen: ein Ausdruck, an dem man sich schon mannigfach gestossen hat, aber eigentlich ohne rechte Noth. Man hat nämlich geglaubt, bei dem Worte pathetisch an unser deutsches Wort Leidenschaft und zwar in seinem gewöhnlichen übeln Sinne denken zu müssen, und nun eingewendet, der Redner dürfe für seinen Zweck keine Unterstützung bei den Leidenschaften seiner Zuhörer suchen; keinem Redner sei das gestattet und gar dem geistlichen am allerwenigsten. Diese Einwendung entspringt aus einer mehrfach unrichtigen Voraussetzung. Denn einmal nöthigt uns nichts, das griechische Wort pathetisch mit leidenschaftlich zu verdeutschen. Den Griechen heisst auch jede vorübergehende Empfindung, auch jede nur momentane Erregung und Stimmung des Gefühles, kurz Alles, was die Lateiner affectus und auch wir Affect nennen, πάθος : auch das Mitleid ist ein πάθος , auch die Begeisterung. Solche πάθη aber selbst auszudrücken und in den Zuhörern sie zu erwecken, das wird man doch wohl dem Redner nicht verwehren: denn was bliebe dem gerichtlichen Redner, wenn man ihm das πάθος des Mitleids und dergleichen, was dem politischen, wenn man ihm das πάθος der vaterländischen, was endlich dem geistlichen, wenn man ihm das πάθος der religiösen Begeisterung benehmen wollte? Und selbst wenn man an die Stelle des griechischen Wortes pathetisch das deutsche leidenschaftlich setzte, so wäre dieser Ausdruck nicht gradezu verwerflich; man könnte ihn nur missverstehn, wenn man ihn missverstehn wollte. Dass der Redner keine gemeinen und niedrigen Leidenschaften anregen soll, versteht sich, ohne dass die Rhetorik davon handelt, schon aus der Sittenlehre und versteht sich schon von selbst um des letzten Zweckes aller Beredsamkeit willen, der ja das Gute ist; aber es giebt auch höhere, sogenannte edle Leidenschaften, wie z. B. die Liebe, wie unter Umständen auch der Hass. Und auf dergleichen Leidenschaften wird jeder Redner, der geistliche wie der weltliche, hinarbeiten dürfen, auf Liebe zu Gott und dem Nächsten, auf Hass gegen die Sünde u. s. w. Der griechische Name pathetisch ist jedoch vorzuziehen, deswegen weil πάθος beides in sich begreift, den vorübergehenden Affect des Gefühls und die andauernde Leidenschaft des Gemüthes, während wir zwischen diesen beiden einen Unterschied machen, wenigstens die Sprache der Wissenschaft. Im pathetischen Theil kann es aber sowohl auf blossen Affect als auch auf Leidenschaft abgesehen sein. Endlich der Beschluss. Mit diesem letzten Gliede der conclusio und der ganzen Rede gelangt der Redner ebendahin, wo er dieselbe mit dem ersten Gliede des Exordiums oder Einganges, zugleich dem ersten der ganzen Rede, begonnen hatte; der Beschluss im engeren Sinne des Wortes entspricht der captatio benevolentiae, die man ja auch vorzugsweise den Eingang nennt. Beide richten sich an das Gefühl; aber es bestehn zwischen beiden diejenigen Unterschiede, welche durch die verschiedene Stellung, die sie in der Rede einnehmen, geboten sind. Im ersten Gliede des Exordiums darf der Redner das Gefühl und somit den Willen seiner Zuhörer noch nicht direct für den beabsichtigten practischen Zweck zu gewinnen suchen: denn sie kennen noch nicht weder den factischen Anlass, noch die theoretische Belehrung, aus denen beiden erst jener Zweck sich als nothwendig gefordertes Resultat ergeben soll. Er muss sich da also vor der Hand noch darauf einschränken, sie nur sich, nur noch seiner Persönlichkeit geneigt zu stimmen: mittelbarer Weise führt das dann auch zu Wohlwollen für seinen Zweck. Bei dieser Bedeutung der captatio benevolentiae kann auch dort die Einwirkung auf das Gefühl der Zuhörer immer nur eine mässige sein. Anders ist es nun in dem ihr entsprechenden Beschluss. Hier ist nun schon Alles vorausgegangen, was die Rede thun und geben kann: die Zuhörer kennen den factischen Anlass, sie sind ausführlich über die daran angeknüpften Theoreme belehrt, soeben ist ihnen auch in dem zunächst vorangegangenen Gliede, in dem pathetischen Theile, der practische Zweck dargestellt und vermittelst der Einbildung ihr Gefühl, ihr Gemüth in Pathos versetzt worden, in Affect, in Leidenschaft: nun bleibt dem Redner nur noch diess Eine übrig, dass er sich unmittelbar an das so erregte Gefühl des Zuhörers wende und ihm in der Sprache des Gefühls die geforderte Willensäusserung dringlich und angelegen mache. Ist auch diess noch geschehen, so ist der Beschluss des Beschlusses und mit ihm die ganze Rede vollendet. In dieser Weise, bei der Unterscheidung von Recapitulation, pathetischem Theil und Beschluss, ist denn auch der dritte Haupttheil der Rede dreigliedrig, ganz entsprechend der gewöhnlichen Einrichtung des ersten. Und in der That giebt es, namentlich in der weltlichen Redekunst, Beispiele genug, die zu dieser Beschreibung stimmen, aus denen dieselbe eben auch entnommen ist. Natürlich jedoch fallen diese drei Glieder in einer guten Rede nicht auseinander, sondern eins ist mit dem andern auf das Engste und Innigste verwachsen, was freilich überall in der Rede gefordert wird, aber nirgend so deutlich im Wesen der Sache selbst begründet ist als hier. Im Exordium sondern sich die drei Unterabtheilungen weit mehr: das ist da auch ganz am Platze: da wendet sich die rednerische Thätigkeit noch ohne eine fester begründete Einigung hinter einander nach ganz verschiedenen Richtungen, auf den practischen Zweck in der captatio, auf den factischen Anlass in der narratio facti, auf den theoretischen Zweck in der expositio. In der conclusio dagegen treffen all diese dort noch getrennten Linien als in ihrem gemeinsamen Endpuncte zusammen: Alles zielt hier auf den einen practischen Zweck ab und dient der Aufforderung und Bestimmung des Willens. Den Kern der conclusio bildet demgemäss der pathetische Theil, der hier dem Verstande das Wort abnimmt und es dort dem Gefühle giebt und so in Ausführlichkeit und Lebhaftigkeit sich nach beiden Seiten hin ausbreitet und der ganzen conclusio einen pathetischen, einen leidenschaftlichen oder affectvollen Character verleiht. Daher kann man die Anforderung, welche die alten Rhetoriker an das Ganze einer Rede stellen, sie solle conciliare, docere, permovere, so vertheilen, dass das permovere auf die conclusio, den dritten Haupttheil kommt, wie das conciliare auf das Exordium und das docere auf die disputatio. Oft aber sprechen die Rhetoriker überhaupt nur von einem Beschlusse ohne weiter gehende Unterabtheilungen, und die gewöhnliche Homiletik, die das Exordium gar fünffach zergliedert, fasst dagegen den Beschluss ganz einfach und ungetheilt auf. Denn allerdings fliessen in einer guten Rede jene drei Glieder so in einander, dass man sie leicht für eins und einig halten kann. Und nicht bloss das: oft fehlt auch wirklich und gradezu das erste Glied: die Recapitulation verschmilzt nicht bloss mit den nachfolgenden, sondern mangelt gänzlich. Allerdings ist auch die Recapitulation unter mancherlei Umständen leicht zu entbehren. Eine Homilie kann sie begreiflicher Weise gar nicht haben: denn einer solchen liegt kein einiges Thema zu Grunde, da vermag also die conclusio nach der Analyse der Ausführung nichts einheitlich zusammenzufassen. In Predigten aber kann der letzte untergeordnete Gedanke der Ausführung oder der Standpunct, von dem aus da das Thema zuletzt ist betrachtet worden, bei aller Vereinzelung doch so bedeutsam und gewichtig sein, es kann auch der Zusammenhang der einzelnen Unterabtheilungen eine so leichte Uebersichtlichkeit besitzen, dass eine Recapitulation nicht bloss unnöthig, sondern sogar durch ihre Müssigkeit störend wäre, und es zweckdienlicher erscheinen muss, den pathetischen Theil gleich an die letzten kräftigen Worte der Ausführung anzuknüpfen. Ebenso ist es denn auch in der weltlichen Redekunst. Im Allgemeinen wird hier freilich die Recapitulation seltener zu entbehren sein, weil hier auch die Ausführung in der Regel verwickelter ist als in der geistlichen Redekunst, und deshalb legen auch die alten Rhetoriker auf diese Forderung ein ziemliches Gewicht; Cicero und Andere schreiben die Recapitulation ausdrücklich vor. Gleichwohl finden sich bei Cicero selbst und bei anderen Rednern Beispiele genug, wo auch sie die Recapitulation ganz haben fallen lassen. Sie ist aber am leichtesten in dem Fall zu entbehren, wo die disputatio in eine Climax der Beweisführung ausgelaufen ist, wo die Ausführung mit dem bedeutsamsten, mit dem folgereichsten der Argumente geendet hat. Da darf dann allerdings nicht wohl noch eine Recapitulation hintendrein kommen, da wäre sie nur ein hemmender Rückschritt: da muss gleich zum vollen Pathos, da muss vom Gipfel der Ueberzeugung zum Gipfel der Ueberredung hinübergeschritten werden. Das dritte Glied der conclusio, der letzte volle Beschluss, erweitert oder wendet sich gern in derselben Weise wie das ihm entsprechende erste Glied des Exordiums, die captatio benevolentiae. Wir haben früherhin (S. 291) gesehen, dass dem weltlichen Redner des Alterthums die Sitte nicht fremd war, die Rede mit einem Weihegebete zu eröffnen, eine Sitte, die natürlich in der kirchlichen Redekunst noch festere Wurzel gefasst hat. Diesem Eröffnungsgebete entspricht nun, obschon minder häufig gebraucht, das Schlussgebet. Demosthenes, wie er seine Rede pro corona mit einem Gebete beginnt, macht auch den Schluss derselben mit einem Gebete; Cicero endigt seine erste Catilinarische Rede wenigstens so. Und so kann es auch dem geistlichen Redner in vielen Fällen gut und schicklich erscheinen, sich zum Schlusse der ganzen Predigt ebenso an Gott zu wenden, betend, dass er dem vollbrachten Werke seinen Segen verleihe, wie vorher ist gebetet worden, dass er das Beginnende segne. Und grade wie der Prediger im Anfangsgebete, als in einer höheren captatio benevolentiae, sich selbst dem Herrn empfohlen hat, so kann er nun zum Schlusse, wo es gilt, auf den Willen der Zuhörer einzuwirken, Gott gleichsam zur Hilfe rufen und seinen Händen das Herz dieser anempfehlen, damit er den Willen stärke und leite. Aber, wie gesagt, diese Erweiterung und Umgestaltung des Beschlusses ist keinesweges gesetzlicher Gebrauch, und es mag auch sein, dass sie nicht überall gleich gut an ihrem Orte wäre. In solchen Dingen muss der Geistliche die Umstände beachten und der jedesmaligen Eingebung folgen. Augustinus freilich sagt, auch am Schlusse solle der tractator beten wie zu Anfange. Es erscheint zweckdienlich, alles über die Rede Bemerkte in eine schematische Tabelle zusammenzufassen und so den symmetrischen Bau einer wohlgebauten Rede zu veranschaulichen. Exordium. Disputatio. Conclusio. conciliat docet permovet (Gebet.) Captat. benev. Narrat. facti. Expositio. Erklärung. Beweisführung. Recapitulatio. Pathet. Theil. Schluss. (Gebet.) Gefühl Einbildung Verstand Verstand Verstand Einbildung Gefühl (Gefühl, Einbildung) conciliat permovet docet docet docet permovet conciliat (conciliat, permovet) pract. Zweck fact. Anlass theoret. Zweck theoret. Zweck pract. Zweck pract. Zweck (Redner) (Zuhörer) synthetisch analytisch. synthetisch Proposit. Partit. Partit. Proposit. Hiemit ist das Bild der Rede zu Ende geführt: wir wollen aber noch auf dem Wege einer Vergleichung einige Schlussbemerkungen anstellen über das Wesen der Rede im Allgemeinen, über deren Bedeutung und Einrichtung; auf dem Wege einer Vergleichung, die bisher schon wiederholendlich ist angedeutet worden, indem wir den Ausdruck rednerische Handlung gebrauchten: wir wollen die Rede vergleichen mit dem Drama. Eine solche Parallele ist schon dadurch motiviert und gleichsam gefordert, dass Drama und Rede, jedes auf seinem Gebiete, der Gipfelpunct der Darstellung durch die Sprache ist, das Drama für die Poesie, die Rede für die Prosa. Sie bezeichnen aber an beiden Orten den Gipfel der Vollendung deshalb, weil sich in ihnen die sonst getrennten Arten der Anschauung und Darstellung wieder vereinigt haben, im Drama die Epik und die Lyrik, in der Rede die Erzählung, die das prosaische Gegenbild des Epos, und die Belehrung, die das prosaische Gegenbild der Lyrik ist. Zwar ist die Rede ihrem hauptsächlichen Inhalte nach lehrhaft, und das Didactische behauptet in ihr ein grösseres Uebergewicht als die Lyrik im Drama; daher wir auch die rednerische Prosa mit unter die didactische geordnet haben: gleichwohl ist das Element der Erzählung von ihr nicht ausgeschlossen: schon der Anfang einer jeden Rede ist erzählender Art: denn jegliche Rede lehnt sich an einen historisch gegebenen, factischen Anlass und geht von der Berichterstattung darüber aus. Und auch im weiteren Verlaufe nimmt die Rede fort und fort einzelne erzählende Bestandtheile in sich auf: so bei der Argumentation, so wieder im pathetischen Theil. Auf diese Art wirken in der Rede Einbildung und Verstand beinahe ebenso zusammen, wie im Drama Einbildung und Gefühl. Aber auch eben das Gefühl liegt, wie sich uns zur Genüge gezeigt hat, innerhalb des Bereiches der Rede; ja ihre ganze und letzte Vollendung findet sie erst in einer Einwirkung auf das Gefühl, insofern die Bestimmung des Willens muss vermittelt werden durch Gefühlsanregung. Ebenso bildet Einwirkung auf das Gefühl das letzte Ende jeder dramatischen Dichtung; jedes Drama führt die religiösen und sittlichen Empfindungen durch den Widerspruch und Zwiespalt hindurch zur Versöhnung und zum Frieden. Indessen der Parallelismus der Rede und des Dramas bleibt nicht so bloss beim Allgemeinen stehn; er lässt sich noch weiter und besser in Einzelheiten hinein verfolgen. Jedes Drama verlangt für den Verlauf seiner Handlung eine dreitheilige Gliederung; es muss zerfallen in die Exposition, die Verwickelung und die Auflösung. Von diesen drei Gliedern sind die beiden ersten wesentlich analytischer Natur, das dritte synthetisch. Die Exposition bringt zuerst die verschiedenen Personen und deren Interessen auf den Schauplatz, die Verwickelung zeigt diese Interessen in ihrem Streit, die Auflösung aber schlägt den ganzen Kampf nieder durch den Sieg und den Frieden der Idee. Dasselbe Verhältniss besteht auch zwischen den drei Gliedern einer Rede, dem Exordium, der disputatio und der conclusio. Auch das Exordium der Rede dient ja hauptsächlich, um die Ausführung exponierend zu begründen; die Ausführung selbst ist durch und durch analytisch; darauf, in der conclusio, folgt die synthetische Einigung. Namentlich aber ist es der zweite Theil, die Ausführung oder die disputatio, in welchem der dramatische Character der Rede besonders deutlich vor Augen tritt, und es ist darauf schon früher (S. 294) hingedeutet worden, als wir den Namen disputatio in nähere Erwägung zogen. Auch hier haben wir einen Kampf, aber nicht von Personen, sondern von Gedanken, nicht von persönlichen Interessen, sondern von theoretischen Sätzen, und die ganze Handlung stellt sich zwar nicht eigentlich dialogisch, aber doch monologisch, monodramatisch, also immerhin in dramatischer Art dar. Es spricht nur der Redner; diejenigen, deren Gedanken und Grundsätze er mit den seinigen bekämpft oder berichtigt, die Gegenpartei, die Zuhörer schweigen ohne dialogisch einzureden: er selber führt an ihrer Stelle das Wort, und aus dem, was er sagt, ergänzen sich die Fragen und die Antworten der Andern. Diess Verhältniss des Redners zu seinen Zuhörern begründet namentlich auch für diesen zweiten Haupttheil der Rede die Anforderung, dass Alles, was gesagt wird, in lebendiger Bezüglichkeit auf die gegenwärtige Zuhörerschaft stehe: eine Anforderung, die aber grade hier gewöhnlich verletzt wird; ganz häufig wenden sich die Redner erst im Beschluss an ihre Zuhörerschaft, während sie die vorhergehende Ausführung oder „Abhandlung“ so beziehungslos gestalten, als wäre sie eben eine Abhandlung im sonstigen Sinne des Wortes. Aber es ist auch schon hier die Sache des Redners, seine Zuhörer unausgesetzt und lebhaft Theil nehmen zu lassen und sie gleichsam fragend und antwortend in sein einseitiges Zwiegespräch hineinzuziehen. Also die Rede das prosaische Gegenbild des Dramas. Wenn man diese Vergleichung ins Auge fasst, bekommt ein bekannter Vers aus Göthes Faust (1, 1) seinen guten Bezug und verliert den Stachel des Hohns, der eigentlich allerdings in ihm liegen soll: „Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren.“ STILISTIK. Wir wollen nicht wiederholen, was früher (S. 235) über die gewöhnliche unklare Vermischung von Rhetorik und Stilistik ist gesagt worden. Aber an Eine Bemerkung darf doch vielleicht wieder erinnert werden, welche sich uns schon aufgedrängt hat, als wir die Poetik zu besprechen anfiengen. Der Zweck einer Poetik, einer Rhetorik kann niemals der sein, den, der sie studiert oder ein Lehrbuch liest, zu einem Dichter, einem Redner zu machen. Ist das Bestreben dessen, der sie lehrt oder ein Lehrbuch schreibt, vernünftig und gewissenhaft, so geht er nur darauf aus, die Poesie und die prosaische Litteratur, wie sie vor uns liegt, auf die Gesetze hin zu betrachten, die in ihnen walten, diese Gesetze zur Anschauung zu bringen und dadurch das Verständniss zu erleichtern, den Genuss zu erhöhen, das Urtheil zu schärfen und zu befestigen. Ist dann unter den Lesern oder Hörern Jemand, dem Gott Dichter- oder Rednergabe verliehen hat, dem werden dann freilich jene Lehren doppelt zu gute kommen, er wird auch practischen Nutzen davon haben: einen solchen wird der Poetiker, der Rhetoriker weiter ausbilden; aber Jemanden zum Dichter oder Redner machen, der es nicht schon ist, das kann weder er, noch sonst ein Mensch. So ist es denn auch mit der Stilistik. Zwar hat sie es nicht mit so innerlichen Dingen zu thun, wie die Poetik und die Rhetorik: ihr Gegenstand ist die Oberfläche der sprachlichen Darstellung, nicht die Idee, nicht der Stoff, sondern lediglich die Form, die Wahl der Worte, der Bau der Sätze. Und solche Aeusserlichkeiten, dürfte man meinen, wären wohl zu lehren, damit sie erlernt würden. Indessen der Stil ist doch keine bloss mechanische Handfertigkeit: die sprachlichen Formen, von denen die Stilistik zu handeln hat, sind in der nothwendigsten Weise durch Stoff und Idee bedingt; der Stil ist keine todte Maske, die über den Inhalt gedeckt wird, sondern er ist die lebensvolle Gebärde des Angesichts, zu welcher Fleisch und Bein sich in der Weise gestalten, wie die Seele von innen heraus wirkt; er ist freilich nur eine Einkleidung des Inhaltes, nur ein Gewand, aber der Faltenwurf des Gewandes ist hervorgebracht durch die Stellung der Glieder, die das Gewand verhüllt, und den Gliedern hat wiederum nur die Seele grade diese Bewegung und Stellung gegeben. Und so darf man denn beim Vortrage der Stilistik nichts Andres verheissen und nichts Andres verlangen als beim Vortrage der Poetik und der Rhetorik. Auch hier kann der Zweck nur eine theoretische Erörterung des objectiv Vorliegenden sein; auch der Stilistiker kann nichts weiter im Auge haben, als einen verständig bewussten Genuss zu erwecken und das Urtheil zu bilden; practisch förderlich kann er nur dem sein wollen, der zu dem Reichthum an schönen Ideen selber auch Sinn für schöne Form besitzt; für jeden Andern haben alle Regeln nur einen negativen Werth, er wird sie nur in so fern in Anwendung bringen können, als er daraus sieht, was er lassen, nicht aber, was er thun solle. Nach diesen wenigen einleitenden Worten können wir nunmehr zur Sache selbst übergehn. I. VOM STIL IM ALLGEMEINEN. Bekanntlich bedeutet das Wort Stil im Griechischen, von woher es zu den Lateinern und durch diese zu uns gelangt ist, einen gleichmässig lang gestreckten, mehr langen als dicken Körper: στῦλος ist sowohl ein hölzerner Pfahl als eine steinerne Säule, als endlich ein metallener Griffel zum Schreiben und Zeichnen: es fällt eben dem Begriffe nach und auch etymologisch zusammen mit unserm Worte Stiel. Hauptsächlich in der letzteren Bedeutung von Griffel haben es sich die Lateiner angeeignet: sie haben, da ihrer Sprache der Laut des v fehlte, daraus stilus gemacht. Bei ihnen, nicht aber schon bei den Griechen, sind von dieser eigentlichen Bedeutung noch andre uneigentliche abgeleitet worden, und es wird stilus genannt erstens, was wir auch uneigentlicher Weise noch mit dem Ausdrucke Hand und die Lateiner sonst mit dem Worte manus bezeichnen, die Art und Weise, die Schriftzüge zu gestalten, zweitens noch uneigentlicher, noch bildlicher die Art und Weise, seine Gedanken in Worte zu kleiden. So schon bei Terenz Andr. prol. 12 (Menandri Andria et Perinthia) dissimili oratione sunt factae ac stilo (= oratione et scriptura Phorm. prol. 5). , bei Cicero Brut. 26, 100 unus sonus est totius orationis et stilus (ibid. 25, 96). u. a. Also ganz wie wir von einer gewandten Feder oder in Bezug auf die Kunst der Malerei von einem zarten Pinsel, von dem Pinsel des Apelles sprechen. In diesem letztern, figürlichen Sinne gebrauchen nun auch wir das Wort Styl, oder, da wir es zunächst von den Römern entlehnt haben, Stil; aber wir haben da seine Anwendung noch weiter ausgedehnt, weiter als in dem eigentlichen Sinne begründet ist. Ueberall in dem ganzen weiten Gebiete aller Kunst, auch der bildlichen, auch der Musik, nennen wir es Stil, wo sich in der äusseren Darstellung eine innere Eigenthümlichkeit durch characteristische Merkmale deutlich ausspricht: wir sprechen also z. B. auch von einem romanischen Stil in der Baukunst, von einem Stile Rafaels und Sebastian Bachs; ja die Künstler sagen ganz im Allgemeinen, ohne irgend eine nähere Bestimmung z. B. von einem Gefässe, es habe Stil, wenn dasselbe zweckmässig und schön und zugleich in irgendwie eigenthümlicher Weise gestaltet ist. Insbesondre aber gebrauchen auch wir das Wort Stil in Bezug auf sprachliche Darstellung, sei das nun prosaische oder poetische; synonym damit ist der Ausdruck Schreibart; synonym, aber nicht gleichbedeutend: man kann in allen Fällen Stil sagen, aber nicht in allen Schreibart. Von einer Abhandlung kann man sowohl Stil als Schreibart gebrauchen: von einem Lied, einer Predigt nur Stil, nicht Schreibart, selbst wenn Lied und Predigt auch geschrieben vor einem liegen und bloss gelesen, nicht gesungen, nicht gesprochen werden; für die Reproduction und die Beurtheilung nimmt man sie doch immer als gesungen und gesprochen. Sollen wir nun den Begriff des Wortes Stil in dieser seiner besonderen Beziehung auf die sprachliche Darstellung noch näher definieren, so wird das ungefähr in folgender Weise geschehen können: Stil ist die Art und Weise der Darstellung durch die Sprache, wie sie bedingt ist theils durch die geistige Eigenthümlichkeit der Darstellenden, theils durch Inhalt und Zweck des Dargestellten. Diese Definition ist weder zu weit noch zu eng. Sie ist weit genug, dass all die verschiedenen Anwendungen, die man innerhalb der Litteratur von dem Worte Stil macht und durchaus billiger Weise macht, sich damit wohl vereinigen lassen, dass es also ganz wohl zu ihr stimmt, wenn man von einem dramatischen Stil und von dem dramatischen Stil der Griechen und dann wieder von dem Stil des Aeschylus spricht. Sie ist aber auch nicht so weit wie eine ziemlich verbreitete, die zwischen Stil und Schreibart einen ganz willkürlichen Unterschied festsetzt und zu diesem Endzweck in den Begriff des Stils Dinge aufnimmt, die eigentlich der Poetik und Rhetorik, ja der Logik zugehören: Stil ist nach dieser unterscheidenden Definition die Art und Weise, wie man zur Erreichung eines bestimmten Zweckes seine Gedanken bildet, ordnet und darstellt; Schreibart dagegen die Art und Weise, wie man die Worte, als blosse hörbare Ausdrücke genommen, wählt und zusammenstellt, geht also nur auf das Verhältniss, in welchem der Vortrag zu den Anforderungen des Wohlklangs und allenfalls noch des Periodenbaus steht. Damit aber ist dem Stil mehr und der Schreibart weniger gegeben, als ihnen gebührt. In unsrer vorher aufgestellten Definition, die ihre Bewährung am besten im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung finden wird, ist gesagt worden, die Art und Weise der Darstellung sei theils bedingt durch die geistige Eigenthümlichkeit des Darstellenden, theils durch Inhalt und Zweck des Dargestellten, d. h. um es mit andern Worten und kürzer auszudrücken, der Stil hat eine subjective, er hat eine objective Seite. Nehmen wir also z. B. die schon früher (S. 276) erwähnte Schulrede von Herder über die Geographie, so ist der Stil, die Art und Weise der sprachlichen Darstellung, einmal objectiv bedingt durch Inhalt und Zweck; durch den Inhalt, d. h. erstlich durch die thematische Idee, die Nützlichkeit und Annehmlichkeit der geographischen Studien, und zweitens durch den Stoff, durch das ganze Gedankenmaterial, das jene Eine Idee um sich versammelt; durch den Zweck, insofern darauf ausgegangen wird, die Zuhörer, und grade diese, nämlich Schüler und Lehrer und Schulfreunde, von Seiten des Gemüthes für die Anerkennung und Bethätigung jener Idee zu gewinnen, und insofern um dieses Zweckes willen jene Gedanken sich zu einer Rede und namentlich zu einer Schulrede gestaltet haben. Objectiv betrachtet hat also das Ganze den Stil einer Schulrede über die Geographie. Indessen das theilt diese Rede mit jeder andern, die über das gleiche Thema vor eben einer solchen Zuhörerschaft etwa ist gehalten worden oder gehalten werden kann. Was sie von diesen unterscheidet, was sie zu einer Rede Herders macht, das ist nun die subjective Seite des Stils, das ist die Art und Weise, in der nur Herder, weil er grade diesen Geist und diese Bildung besass und in dieser Zeit lebte, seinen Gedanken Worte gab, seine Art und Weise, die Gedanken einzukleiden und zu schmücken, die Worte zu ordnen, zu trennen, zu verbinden. Natürlich gehören beide Seiten immer und nothwendig zusammen, sie fallen nicht getrennt und trennbar aus einander, denn es ist ja damit Eines und dasselbe, die äussere sprachliche Form nur von verschiedenen Standpuncten her betrachtet; es kann auch in einer gut und gesund abgefassten Schrift nicht bloss das Eine oder bloss das Andre vorhanden sein: eine Schrift, die nur objectiven Stil hat (leider giebt es solcher nur zu viel) macht, wenn man sie überhaupt lesen mag, zum mindesten denselben unangenehmen Eindruck, den überall die Characterlosigkeit macht. Es muss Beides da sein, Beides in der rechten organischen Vereinigung, und bald mehr von dem Einen, bald mehr von dem Andern. Diess Mehr oder Minder ist jedesmal bedingt durch den Inhalt, dadurch, ob auch dieser von subjectiver oder von objectiver Natur ist: lediglich davon hängt die grössere oder geringere Subjectivität oder Objectivität der äusseren Darstellung, des Stiles ab. Beim Epiker, dessen Sache schon in der Anschauung die grösste Objectivität ist, der Idee und Stoff nicht aus sich heraus holt, sondern lediglich in sich aufnimmt, wird man es nur löblich finden, wenn auch in der Darstellung, im Stil die subjective Seite bis auf ein Minimum zusammenschwindet: denn sie könnte sich doch nur dann in breiterer Ausdehnung zeigen, wenn er schon in der Anschauung ungebührlich subjectiv gewesen wäre. Dagegen wird man den Lyriker nicht tadeln, an dessen Liedern man den allgemeinen Stil aller Lyrik, also die objective Seite kaum gewahrt neben den Eigenthümlichkeiten grade seiner Lyrik: je individueller, je mehr seinem eigenen und innersten Gemüthe angehörig, d. h. je wahrhafter lyrisch seine Anschauungen sind, desto individueller, desto subjectiver wird er sie auch äusserlich darstellen dürfen und nur so darstellen können. Aber die Kunst, hier Mass und Grenze zu halten, ist nur wenigen Auserwählten gegeben, im Stil nur weniger Schriftsteller zeigt sich das rechte natürliche und künstlerische Verhältniss zwischen Subjectivität und Objectivität. Die grosse Masse streift an Characterlosigkeit; Andre aber werden, sei es durch Eitelkeit, sei es durch eine Lebendigkeit des Geistes, die sie selbst nicht zu bemeistern vermögen, in das entgegengesetzte Extrem hineingetrieben, wo ihre Subjectivität unverhältnissmässig überwiegt. Einen so fehlerhaft gemischten Stil nennt man Manier, grade wie man auch in den bildenden Künsten von Manier spricht, sobald z. B. auf einem Gemälde in Composition und Zeichnung Dinge entgegentreten, die nicht im dargestellten Gegenstande selbst begründet, sondern ihm fremdartig sind und nur aus der Laune und Willkür und Angewöhnung des Künstlers ihren Ursprung genommen haben. Es haben also z. B. Manier, d. h. es ordnen das Object ihrem Subjecte unter, wo sie doch eher ihr Subject dem Objecte unterordnen sollten, unter den Griechen Aeschylus, über dessen Manier schon Aristophanes in den Fröschen spottet, gegenüber dem wahrhaften Stil des Sophocles und der Characterlosigkeit in der Darstellungsweise des Euripides; unter den Lateinern Tacitus, unter den deutschen Dichtern des Mittelalters Wolfram von Eschenbach, unter den Prosaisten der neuern Zeit Johannes von Müller und Jean Paul. Ich habe geflissentlich solche genannt, bei denen die Manier nur eine Folge der übermächtigen geistigen Kraft des Schriftstellers ist und eine ihm selbst zum grössten Theile unbewusste Folge, solche Schriftsteller, die in anderer Beziehung mit unter die ersten aller Zeiten gehören, und die, jeder in seinem Fach, leichtlich die ersten von Allen sein würden, wenn sie sich eben von diesem Vorwurfe der Manier hätten frei zu halten gewusst. Eigene und eigentliche Manier ist sogar ein Merkmal ausserordentlicher Autoren: solche, die auf einer tieferen Stufe stehn, bringen es gar nicht so weit: ihre geistige Eigenthümlichkeit ist zu geringfügig, als dass sie in der Darstellung so überwiegen und sich so besonders könnte geltend machen; haben solche eine Manier, so ist es eher die durch Nachahmung angeeignete anderer grösserer Geister, also nicht ihre Manier. Da wird dann freilich die Manier ein doppelter Fehler: denn wenn sie bei dem Original auch nur möglich geworden war durch eine Verrückung des rechten Organismus, so war sie doch immerhin aus einem Organismus hervorgegangen: in der Nachahmung aber sinkt die Manier zu einer rein mechanischen Handhabung herab, zu einer blossen Aeusserlichkeit, ohne einen tiefer im Innern liegenden Kern. Der Stil Johannes von Müllers, der bei aller Wärme des Gemüthes doch spröde und herbe ist, mag in seinen Werken mitunter beschwerlich werden und stören, da er nicht grade durch den gegebenen Stoff bedingt, da er eben Manier ist und die bezweckte Anschaulichkeit oft mehr beeinträchtigt als befördert: aber er ist, wenn man bloss die subjective Seite ins Auge fasst und dieser gebührend Rechnung trägt, der ungezwungene, nothwendige Ausdruck eines von den Historikern der alten Welt genährten und unter den Chronisten der Heimath und des Mittelalters aufgewachsenen Geistes. Kommen nun aber die Nachahmer Johannes von Müllers, die wegen ihrer künstlerischen oder sonstigen Characterlosigkeit sich keinen eigenen Stil, geschweige denn eine eigene Manier bilden können, kommen z. B. Zschokke und der König Ludwig von Bayern und machen die laconischen Sentenzen Johannes von Müllers, seine kurz abgeschnittenen Periodenglieder, seine Inversionen, seine alterthümlichen Wendungen und dergleichen nach, so sieht man eben nur gleichsam ein Wesen, das die Gebärden eines Menschen nachbildet, aber sie ungeschickt nachbildet, weil es sich dabei keines Grundes und Zweckes bewusst ist, und sie haben, wie es in Wallensteins Lager heisst, ihrem Anführer nur sein Räuspern und Spucken abgelernt. Die subjective Seite des Stils ist es, von der Buffons bekannter Ausspruch gilt: „Der Stil ist der Mensch, le style c'est l'homme.“ Sie ist die besondere Physiognomie, durch welche sich ein Dichter, ein Historiker bei aller Familienähnlichkeit von den übrigen Dichtern und Historikern seiner Zeit und seines Volkes und seiner Art unterscheidet. Auf sie wird also auch die grammatische und die ästhetische Kritik vor Allem aus ihr Auge zu richten haben, wo es die Beurtheilung eines einzelnen Autors oder die Vergleichung und Unterscheidung mehrerer unter einander gilt, und sie richtig erkannt zu haben, wird ein um so grösseres Verdienst sein, je objectiver ein Werk seiner Natur nach ist, je mehr also die stilistischen Aeusserungen der Subjectivität in den Hintergrund gerückt werden. Man kann z. B. nicht sagen, es gehöre ein stumpfes Auge dazu, um in der Iliade und im Nibelungenlied nicht zu erkennen, dass diese Dichtungen von einer Mehrheit verschiedener, auch stilistisch verschiedener Verfasser herrühren; denn die einzelnen Verfasser waren alle so gute, d. h. so objective Epiker, dass die subjective Seite ihres Stils sich einem gewöhnlichen Blicke allerdings verbergen muss. Aber wohl kann man und muss man das scharfe Auge Wolfs und Lachmanns rühmen, dass sie trotz dem die stilistischen Subjectivitäten herausgefunden und auch daraus die ursprüngliche Vielgliedrigkeit dieser Heldengedichte erkannt und bewiesen haben. In dieser Weise ist das Subjective im Stil Gegenstand der Kritik einzelner Schriften und Schriftsteller: die Stilistik aber kann sich natürlich nicht darauf einlassen: ihre Sache ist das Auffinden und Erörtern allgemeiner Gesetze, derjenigen Gesetze, denen die sprachliche Darstellung nicht bloss eines Schriftstellers, ja nicht einmal bloss eines Volkes und eines Zeitalters, sondern aller Schriftsteller aller Völker und Zeiten unterliegt: diese allgemeinen Gesetze aber liegen auf der objectiven Seite, liegen da, wo der Stil nicht durch die wechselnde geistige Persönlichkeit des einzelnen Darstellenden, sondern durch etwas überall Gleichartiges, durch Inhalt und Zweck des Dargestellten bedingt ist; sie beziehen sich auf die Wirkung von Motiven, die jeder Einzelne mit allen übrigen theilt. Wir werden mithin im weiteren Verlaufe unsrer Betrachtung immer nur gelegentlich auf diese oder jene stilistische Subjectivität zu sprechen kommen, eigentlich aber und im Wesentlichen kann immer nur das Objective am Stil der Gegenstand unsrer Besprechungen sein. Um aber gleich hier einige neue Seitenblicke solcher Art zu eröffnen, mag es gestattet sein, aus Jean Pauls Vorschule der Aesthetik (2. Aufl. S. 601) einen Abschnitt (§ 76) hervorzuheben, wo er den individuellen Stil einer Reihe von Schriftstellern selbst wieder in seinem individuellen Stil kurz characterisiert; es mag diess als Muster dienen, wie man dergleichen anzufassen habe. Cicero hat in seiner Schrift de oratore eben eine solche Stelle (3, 7─9), eine Characteristik griechischer und römischer Redner und seiner selbst: sicherlich kühler und verständiger als Jean Paul; ob aber in so treffender Anschaulichkeit wie Jean Paul, dürfte man billig bezweifeln. Auf der objectiven Seite betrachtet, auf derjenigen, die uns von nun an allein noch berührt, ist also der Stil, ist die Art und Weise der sprachlichen Darstellung bedingt durch Inhalt und Zweck des Dargestellten. Inhalt und Zweck können aber verschiedenartig sein, je nachdem diese oder jene Seelenkraft bei der Schöpfung des Inhaltes vorzugsweise thätig gewesen ist, und demgemäss auch bei der Rückschöpfung, diesem einzigen Zwecke aller Darstellung, in Anspruch genommen wird. Es sind nun aber drei Kräfte, die hier in Betracht kommen: Verstand, Einbildung, Gefühl. Entweder sind es die Erfahrungen und Urtheile des Verstandes oder die Anschauungen der Einbildung oder endlich die Regungen des Gefühls, die sowohl den Inhalt des Dargestellten ausmachen, als auch mit der Darstellung der Zweck verbunden ist, dass jenes verständige Wissen, jene Bilder der Phantasie, jene Bewegungen des Gemüthes in gleicher Weise nun auch in dem Hörer oder Leser erweckt und hervorgerufen und in seiner Seele ebenso sollen reproduciert werden, als sie dem producierenden Schriftsteller innegewohnt haben. Daraus ergiebt sich uns zuvörderst eine dreifache Unterscheidung zwischen einem Stil des Verstandes, einem Stil der Einbildung und einem Stil des Gefühles. Damit ist aber nur noch bezeichnet, welche Seelenkraft jedesmal hier in dem Schriftsteller und dort in dem Leser thätig sei, nicht aber welches denn nun die Art und Weise der zwischen beiden mitten inne liegenden Darstellung, was der Character des Stiles sei, der jedesmal gefordert werde, um zwischen Schöpfung und Rückschöpfung zu vermitteln. Auch in dieser Rücksicht ergeben sich die Unterscheidungen und Benennungen leicht und von selbst. Wo Schöpfungen des Verstandes dargestellt werden zum Behufe verständiger Reproduction, da wird von der Darstellung scharfe Bestimmtheit und leichte Fasslichkeit, wird mit Einem Worte Deutlichkeit gefordert. Wo Schöpfung und Reproduction das Werk der Einbildung sind, d. h. jener Seelenkraft, welche die Idee unter den Formen der gegebenen Wirklichkeit anschaut, da gehört sich für den Stil eine dem entsprechende Sinnlichkeit und Lebendigkeit, da muss die Darstellung anschaulich sein. Wo endlich die Empfindsamkeit oder die Gemüthlichkeit des Schaffenden auf den Reproducierenden einwirken, wo sich die leichteren oder gewichtigeren Regungen der Freude oder der Trauer in der Seele des letzteren wiederspiegeln sollen, da muss auch die Darstellung, welche jene Einwirkung vermittelt, das Gepräge des bewegten Gefühles tragen, sie muss leidenschaftlich sein. Mithin hätten wir drei Hauptgattungen und drei characteristische Haupteigenschaften des Stils: den Stil des Verstandes, dessen Eigenschaft die Deutlichkeit, den Stil der Einbildung, dessen Eigenschaft die Anschaulichkeit, den Stil des Gefühles, dessen Eigenschaft die Leidenschaftlichkeit ist. Hier wirft sich die Frage auf, wie solch eine dreigliedrige Eintheilung der Gattungen und Eigenschaften des Stils sich vereinigen lasse mit der früher gemachten nur zweigliedrigen Eintheilung aller sprachlichen Darstellung in Poesie und Prosa. Es geschieht das leicht auf folgende Weise. Der Grund und Boden, der Anfang und auch der letzte Ausgang aller Poesie ist die Einbildung, Sache der Poesie ist die Anschauung der Idee unter Formen der gegebenen Wirklichkeit. Diesen Character ganz ausschliesslich trägt nur die älteste Gattung aller Poesie, die Epik; und ebenso ist sinnlich lebendige Anschaulichkeit für die Einbildungskraft wiederum das Wesentliche und Hauptsächliche auf der höchsten Stufe, zu welcher die Poesie gelangen kann, nämlich im Drama. Es ist mithin der Stil der Poesie im Allgemeinen und insbesondere der Epik und des Dramas eben jener Stil der Einbildung, jene vorher genannte anschauliche Art und Weise der Darstellung. Auf der anderen Seite, der Poesie gegenüber, liegt die Prosa, diese in ihrem eigentlichen Wesen ebenso unsinnlich und abstract, als sich die Poesie in lauter concreter Sinnlichkeit bewegt; sie geht auf das Wahre, wenn die Poesie auf das Schöne gerichtet ist; sie will dem Verstande neues Wissen zuführen, ihr erster und letzter Zweck ist zu belehren. Lehrhaftigkeit, das ist ihr allgemeiner Character, wenn schon dann eine näher gehende Eintheilung wieder zu unterscheiden hat zwischen lehrender Prosa im engern Sinne und erzählender. Da also die Prosa die Form der verständigen Belehrung ist, so nimmt sie als Lehre und als Erzählung für sich den Stil des Verstandes, nimmt die deutliche Darstellung in Anspruch. Aber mit der Epik und dem Drama ist das Gebiet der Poesie noch nicht ausgefüllt, und ebensowenig das Gebiet der Prosa mit der Lehre und der Erzählung. Es bleibt hier und dort noch eine Gattung übrig, und diesen beiden überzähligen Gattungen der Poesie und der Prosa fällt dann die dritte Gattung des Stiles zu, der leidenschaftliche Stil des Gefühles. Es ist diess von den Gattungen der Poesie die Lyrik, von den Gattungen der Prosa die Rede. In der Lyrik ist die Poesie über die sonst gewohnten Schranken ihres Bereiches hinausgegangen: sie hat sich frei gemacht von der gegebenen äusseren Wirklichkeit; hier holt der Dichter den Stoff, der seine Idee verkörpere, aus seinem eigenen Gemüthe: es sind die Regungen, die Leidenschaften seines Innern, die der lyrische Dichter darstellt. Und wie somit die Lyrik zur übrigen Poesie sich verhält, ebenso verhält sich auf der anderen Seite die Rede zur übrigen Prosa. Zwar ist es das nächste Geschäft des Redners wie andrer Prosaiker, seine Hörer zu belehren: auch er hat wie der abhandelnde Didactiker die Wahrheit eines aufgestellten Satzes überzeugend durchzuführen: aber diese Belehrung ist ihm nicht der eigentliche und letzte Zweck, sie ist für ihn vielmehr nur Mittel zum Zwecke: er überzeugt nur, um zu überreden: das Ziel, wonach er mit all seinen Lehren hinsteuert, ist nur die Erregung des Gefühles und durch diese und mit derselben die Bestimmung des Willens. Erweckung des Gefühles ist mithin die Sache sowohl des Redners, als die des Lyrikers. So kann denn der Stil, der diesen beiden eigen ist, kein anderer sein als der Stil des Gefühles, die leidenschaftliche Art und Weise der Darstellung. Ganz gleichbedeutend mit der von uns getroffenen Unterscheidung ist eine andere aus dem griechischen und römischen Alterthume entlehnte, die auch in den modernen Lehrbüchern der Rhetorik und Stilistik gäng und gäbe geblieben ist: die Unterscheidung eines niederen, eines mittleren und eines höheren Stils. Aber diesen Ausdrücken niederer, mittlerer, höherer Stil gebricht die Beziehung auf den jedesmaligen Inhalt und Zweck des Dargestellten, und zugleich setzen sie unter den drei Stilgattungen eine Rangordnung fest, die doch gar nicht so vorhanden ist: denn jede Gattung ist an ihrem Orte so viel werth als die anderen an den ihrigen. Es unterscheiden also die Griechen drei χαρακτῆρας oder ἰδέας oder πλάσματα τῆς λέξεως , die Lateiner drei genera oder formas oder figuras dicendi; davon heisst das eine, das unterste, genus dicendi submissum oder auch mit anderen Benennungen, die jedoch weniger feste Kunstausdrücke zu sein scheinen als jeweilige Andeutungen und Umschreibungen jenes ersten Namens, subtile, tenue, acutum; bei den Griechen χαρακτὴρ λιτός (schlicht), ἀφελής (schmucklos), ἰσχνός (dürr, dünn): das andere genus medium, mediocre, mixtum; χαρακτὴρ μέσος, μικτός , ἀνθηρός (blühend): das dritte genus sublime, auch amplum, ornatum, grave, copiosum; griechisch χαρακτὴρ ὑψηλός , auch μεγαλοπρεπής (prachtvoll) und eher tadelnd ἁδρός (schwülstig, grosssprecherisch). Vergl. namentlich Ciceros Orator 23─28. Quintilian 12, 10. Jedoch wohl zu merken, wenn die Alten von einem genus submissum, medium, sublime sprechen, meinen sie damit eigentlich immer nur drei verschiedene Arten einer und derselben Gattung sprachlicher Darstellung, sie wollen damit nur drei verschiedene Arten rednerischer Prosa bezeichnen, nicht aber mit dem genus submissum die Prosa, mit dem genus medium die Poesie, mit dem genus sublime die rednerische Prosa und die lyrische Poesie. Erst die Neueren haben sich bei der ihnen eigenthümlichen Vermischung von Rhetorik und Stilistik veranlasst gesehen, jene Unterscheidung weiter auszudehnen und zu übertragen, so dass sie, jedoch ohne klare systematische Ueberlegung und Durchführung, unter genus submissum alle Prosa mit Ausnahme der rednerischen, unter genus medium alle Poesie auch mit Einschluss der lyrischen, unter genus sublime bloss die rednerische Prosa zu verstehn pflegen. Wir wollen jene antike und diese moderne Auffassung dahin vereinigen und berichtigen, dass wir einmal das genus submissum dem deutlichen Stil des Verstandes, das medium dem anschaulichen Stil der Einbildung, das sublime dem leidenschaftlichen Stil des Gefühls gleich setzen, so dass dieses letztere rednerische Prosa und lyrische Poesie in sich begreift; dann aber wollen wir innerhalb jeder dieser drei Gattungen noch einmal dieselbe dreigliedrige Unterscheidung in eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art vornehmen. Also erste Gattung, der niedere Stil, die deutliche Darstellung des Verstandes, befassend alle Prosa mit Ausschluss der rednerischen; niedere Art: die lehrende Prosa: mittlere Art: die beschreibende; höhere Art: die erzählende. In der lehrenden Prosa macht den Anfang die reinste Verständigkeit; die erzählende nähert sich schon der zweiten Gattung, der anschaulichen Darstellung der Einbildung: darum ist sie die höhere Art; die beschreibende die mittlere: in der Beschreibung fliessen Lehre und Erzählung zusammen. Zweite Gattung, der mittlere Stil, die anschauliche Darstellung der Einbildung, befassend alle Poesie mit Ausschluss der lyrischen; niedere Art: das komische Drama, das noch hart an der Grenze der verständigen Darstellung liegt, da sein hauptsächliches Element der Widerspruch des Verstandes mit der Wirklichkeit ist; mittlere Art: die Epik, die reine Anschauungen der Einbildung gewährt; höhere Art: das tragische Drama, der Uebergang zur dritten Gattung, zu der leidenschaftlichen Darstellung des Gefühls: denn die Tragödie zeigt ja das Gefühl in Widerspruch mit der Wirklichkeit. Dritte Gattung, der höhere Stil, die leidenschaftliche Darstellung des Gefühls, befassend die lyrische Poesie und die rednerische Prosa. Innerhalb beider besteht wieder dieselbe untergeordnete Dreigliedrigkeit: in die niedere Art der Lyrik gehört namentlich die Elegie, die sich noch auf eine angeschaute Wirklichkeit begründet; mittlere Art: das sogenannte Lied, das sich schon losmacht von derselben; höhere Art: die Ode, die sich begeistert über die Wirklichkeit erhebt. So auch innerhalb der Rede, nur dass man da nicht die einzelnen Arten mit so bestimmten Namen unterscheiden kann, man müsste denn etwa, was sich auch ungefähr durchführen liesse, die Homilie als die niedere, die weltliche Rede als die mittlere, die Predigt als die höhere Art betrachten wollen. Es mag hier noch bemerkt werden, dass eine solche Unterscheidung höherer, mittlerer und niederer Lyrik, grade auch mit diesen adjectivischen Benennungen, schon dem deutschen Mittelalter bekannt war. Walther von der Vogelweide sagt einmal (S. 60 Wack.): „Ich traf dâ her vil rehte drîer slahte sanc, den hôhen und den nidern und den mittelswanc, daʒ mir die rederîchen iegeslîches sagten danc.“ Dante aber, in seiner Schrift de vulgari eloquio, unterscheidet für alle Poesie überhaupt drei Gattungen des Stiles, den komischen, den elegischen, den tragischen, entsprechend dem niederen, dem mittleren, dem höheren; sein grosses allegorisch lehrendes Gedicht nannte er Commedia, weil es nach seiner eigenen Ansicht und Stilistik dieser Gattung angehörte; eine „göttliche“ Comödie machte daraus erst die Bewunderung der Folgezeit. Bei dieser dreimal dreigliedrigen Eintheilung in Gattungen und Arten zeigt es sich, dass jedesmal die erste und die dritte vermittelnd und überleitend an der Grenze zweier Gattungen liegen, dass also die höhere Art der verständigen Darstellung, die historische Prosa, und die niedere Art des Stils der Einbildung, die komische Poesie, hier und dort den Uebergang bilden von der einen zur andern Gattung, insofern die historische Prosa gewissermassen schon die Einbildung in Anspruch nimmt, und die komische Poesie wesentlich auch von Wirksamkeit des Verstandes erfüllt ist. Ebenso weist von dem Gebiete der Einbildung die höhere Art dieses Stils, die tragische Poesie, schon vorwärts hin nach dem Gebiete des Gefühls, und von dem Gebiete des Gefühls deuten wiederum die beiden niederen Arten, die Elegie zurück auf den Stil der Einbildung und die Homilie auf den des Verstandes. Aus diesem vorwärts und rückwärts gerichteten Uebergreifen ergiebt es sich, dass die Stilistik mit ihren Gesetzen und Regeln unmöglich eine Gattung ganz scharf und entschieden von der andern absondern könne, dass vielmehr Vieles, was sie z. B. von dem Stil der Einbildung sagt, auch von dem des Gefühles gelten werde, und umgekehrt. Einschränkende und ausschliessende Gültigkeit werden die characteristischen Regeln jeder Gattung immer nur für diejenige Art besitzen, die in keinem solchen Grenzverhältniss zu einer andern Gattung steht. Es werden also die Regeln des verständigen Stils ihre volle, unverkürzte Anwendung nur auf die lehrende Prosa finden; die Regeln des Stiles der Einbildung nur auf die epische Poesie, die Regeln endlich der leidenschaftlichen Darstellung nur auf das Lied und die Ode, auf die weltliche Rede und die Predigt. Und auch so stehn die drei Gattungen des Stils keinesweges in dem vollen Verhältniss einer gegenseitigen Ausschliessung. Es darf zwar kein characteristisches Merkmal der lyrischen Poesie sich vorfinden in epischen Gedichten, und ebenso kein characteristisches Merkmal der epischen Poesie sich in der didactischen Prosa vorfinden: aber wohl haben in umgekehrter, aufsteigender Reihenfolge die Regeln der didactischen Prosa ihre Bedeutung auch noch für die epische Poesie, und die Regeln der epischen Poesie äussern sich auch noch auf dem Gebiete der Lyrik. Solch ein Verhältniss ist auch ganz natürlich, da der Verstand an epischen Schöpfungen immer noch seinen Antheil hat, und da die lyrische Poesie hervorgegangen ist aus der epischen. Und so ist in den Umfang der zweiten Gattung zugleich die erste, in den Umfang der dritten zugleich die erste und die zweite mit einbegriffen. Die verständige prosaische Darstellung ist nur durch sich selbst bedingt; der Stil der Einbildung aber unterliegt neben seinen eigenen Gesetzen auch noch den Gesetzen des prosaischen Stils, und beiderlei Gesetze zugleich stellen sich endlich auf dem Gebiete der dritten Gattung, dem des leidenschaftlichen Stils, neben diejenigen, welche hier ihre besondere Geltung haben. Natürlich ist diese sich fortpflanzende Wirksamkeit immer nur eine untergeordnete, und namentlich machen sich die Regeln des Prosastiles in der poetischen Darstellung mehr nur von ihrer negativen Seite bemerkbar, mehr insofern sie verbieten, als insofern sie fordern, wie ja überhaupt an den Schöpfungen der Poesie der Verstand nur einen negativen Antheil hat, keinen positiven. So viel war nöthig im Allgemeinen und einleitungsweise zu bemerken. Wir gehn von hier an zur näheren Besprechung der einzelnen drei Hauptgattungen über; da wird denn auch Manches, was bisher nur konnte angedeutet werden, seine auch beweisende und deutlicher machende Erörterung finden. II. VOM STIL IM BESONDERN. 1. DER STIL DES VERSTANDES. Wir haben es hier, allgemein betrachtet und ausgedrückt, mit dem Prosastile zu thun. Bei den Griechen hiess alle und jede Prosa ψιλὸς λόγος , die nackte, kahle Rede, d. i. entweder s. v. a. die unumwundene, ungeschmückte, oder auch s. v. a. die leichtgewaffnete, die nicht mit den schweren Waffen der Hopliten kämpft: für letztere Erklärung spricht der Umstand, dass neben ψιλὸς λόγος die Prosa auch πεζὸς λόγος heisst, die zu Fuss gehende, im Gegensatze der gleichsam schnell und zierlich reitenden Poesie; es giebt aber auch innerhalb der Poesie selbst einen πεζὸς λόγος , es wird z. B. die Darstellungsweise der Comödie so genannt, gegenüber der hochtrabenden Tragödie. Dieselbe Doppeldeutung hat der diesem griechischen Ausdrucke nachgebildete lateinische oratio pedestris, sermo pedestris: er gilt nicht bloss von der Prosa, Horaz gebraucht ihn auch vom Stil der Comödie und von dem der Satire: sermo pedestris Ars poet. v. 95; Musa pedestris Sat. 2, 6, 17. Uebrigens ist diese lateinische Benennung den Römern selbst gar nicht so geläufig gewesen als den Neulateinern: das sieht man aus einer Stelle Quintilians (10, 1, 81), wo er das Wort nur gebraucht, indem er es zugleich als Uebersetzung bezeichnet und auf das griechische Originalwort hinweist: „Multum (Plato) supra prosam orationem et quam pedestrem Graeci vocant surgit.“ Prosa oratio, eben diess ist der im Lateinischen gebräuchliche Name. Prosa, d. h. prorsa, proversa, bezeichnet die Rede als die vorwärtsgehende, im Gegensatz zur oratio vorsa, der poetischen Rede, welche in rhythmischer Gliederung sich umwendet und gleichsam in sich selbst zurückkehrt. Daneben wird die Prosa auch oratio soluta genannt, die entbundene, die ungebunden freie (verba soluta modis Ovid. Trist. 4, 10, 24), im Gegensatz zur oratio alligata metris. Wir sagen Prosa oder ungebundene Rede. Vgl. S. 238. Also mit dem Stil der Prosa haben wir es hier zu thun, jedoch nur insofern er die Form der verständigen Darstellung ist. Es gehören somit nicht alle Prosaschriften hieher, sondern nur solche, deren Inhalt ein wesentlich verständiger, deren Zweck ein lehrhafter ist. Da ist demnach mancherlei von der Betrachtung auszuschliessen. Zunächst und vor allem Andern die rednerische Prosa; denn deren letzter und eigentlicher Zweck liegt nicht im Verstande, vielmehr im Gemüth und im Willen der Zuhörer. Wenn auch der Redner um des verständigen Elementes seiner Darstellung willen sich der prosaischen Form bedienen muss, so darf diese doch nicht die gewöhnliche, bloss verständige Prosa bleiben: die Einbildung und namentlich das Gefühl wirken auf deren Gestaltung ein: seine Prosa ist die leidenschaftliche, und als solche haben wir sie erst späterhin zu betrachten, wenn wir zur dritten Gattung des Stils, zu der leidenschaftlichen Darstellungsweise gelangen. Auszuschliessen ist ferner die Prosa des Romans, nicht als besondere Gattung gleich der rednerischen Prosa, sondern als eine Zwitterart zwischen prosaischer und poetischer Darstellung, als blosse Abart und Ausartung der epischen Poesie. Der Roman hat mit dem Epos Inhalt und Zweck gemein; er schöpft aus der Einbildung und für die Einbildung; mit der Prosa theilt er nur die äussere Form. Zwar ist nicht in Abrede zu stellen, und wir haben das an seinem Orte (S. 250) dargethan, dass diese äussere Form des Romans mannigfach schon auf den Inhalt zurückwirke: wir haben gesehn, wie schon da dem Verfasser eines Romans bloss eben der prosaischen Form wegen Manches gestattet wird, was dem eigentlichen Epiker verwehrt ist. Aber natürlich noch viel bedeutender ist der Einfluss, den umgekehrt das Wesen, den der dichterische Inhalt und Zweck auf die äussere Form ausüben, und so hat der Romanschreiber rücksichtlich seiner Darstellungsweise viel vor den übrigen Prosaikern voraus. Nur die Forderungen des Wohlklangs, des poetischen Rhythmus fallen weg, sonst aber liegt der Stil des Romans dicht neben dem des Epos und ist gleich diesem durch die schaffende und wiederschaffende Einbildungskraft bedingt. Wir werden also vom Stil des Romans erst bei der zweiten Hauptgattung, bei der anschaulichen Darstellungsweise der Einbildungskraft zu handeln haben. Auszuschliessen sind endlich, und auch wiederum nur als Zwitterarten, die lehrhaften Briefe und Gespräche, diejenigen lehrhaften Darstellungen, die zwar auch, ihrem didactischen Zwecke gemäss, die Form der Prosa wählen, die aber, was die ganze sonstige Gestaltung des Stoffes betrifft, sich an die dramatische Poesie anlehnen, in denen der verständige Inhalt nicht einfach abgehandelt, sondern mit der Lebendigkeit eines dramatischen Zwiegespräches entwickelt wird. Hier liegt allerdings das Poetische weit mehr auf Seiten der äussern Gestalt als des eigentlichen innern Gehaltes, dennoch kann und darf die Einwirkung davon auf den Stil nicht ausbleiben, und es gebührt diesem ziemlich dieselbe bewegte Anschaulichkeit als dem Stil des Dramas. Wir haben ja auch vorher von Quintilian vernommen: multum Plato supra prosam orationem et quam pedestrem Graeci vocant surgit, Plato in seinen Dialogen. Deshalb kann auch vom Stil der lehrhaften Dialoge und Briefe wiederum erst bei der zweiten Gattung, bei der anschaulichen Darstellungsweise die Rede sein. Was bleibt uns nun noch nach diesen mehrfachen und nicht unbedeutenden Ausschliessungen übrig? Der Character der Prosa ist das Lehrhafte, die Mittheilung von Wahrheiten, die der Verstand sich angeeignet hat, zu dem Behufe, dass sie auch dem Verstande des Lesers oder Hörers eigen werden. Diese Wahrheiten können nun entweder in dem Gebiete der sinnlichen oder in dem der geistigen Wirklichkeit liegen; das Merkmal der sinnlichen Wirklichkeit ist die Bewegung, der geistigen das Verharren, der sinnlichen die Vergänglichkeit, der geistigen die Stätigkeit. Bemächtigt sich nun der Verstand durch die Erfahrung solcher Wahrheiten, die der bewegten sinnlichen Wirklichkeit angehören, und wird das so Gewonnene durch die Sprache mitgetheilt, so ist das Erzählung; werden aber Wahrheiten der stätigen geistigen Wirklichkeit, in deren Besitz der Verstand zumeist durch das Urtheil gelangt, zum Gegenstande der Mittheilung gemacht, so ist das Lehre im engeren Sinne des Wortes. Es kann aber die äussere, sinnliche Wirklichkeit auch, indem man von dem Wechsel der Erscheinungen absieht, für den Augenblick ruhig festgehalten und in dieser Ruhe zum Gegenstande der Darstellung und der Mittheilung gemacht werden: eine solche Darstellung und Mittheilung ist dann Beschreibung. Es ist mithin die prosaische Darstellung entweder Erzählung oder Lehre oder Beschreibung. Und diese drei Arten, die didactische, die historische, die beschreibende Prosa, sind es, die nach Abzug der Rede, des Romans, des Dialoges, des Briefes noch übrig bleiben als die einzelnen Arten der rein und eigentlich verständigen Prosa. Es zeigt sich aber die Verständigkeit am reinsten bei der Lehre, in der Abhandlung und im Lehrbuch: hier hat bei der Production wie bei der Reproduction lediglich der Verstand zu schaffen, eine andere Seelenkraft kommt nicht in Betracht. Die erzählende Prosa dagegen streift schon etwas über die reine Verständigkeit hinaus: wie ihr Gebiet die bewegte sinnliche Welt ist, so stellt sich hier dem Verstande schon die Einbildungskraft zur Seite. Und eben diese entbehrt dann auch niemals gänzlich des Antheils an der Beschreibung: denn auch deren Gegenstand ist die sinnliche Aussenwelt, nur diessmal die ruhige, nicht historisch bewegte; wäre dieser eine Unterschied nicht, so würden Beschreibung und Erzählung ganz zusammenfallen: so aber legt sich die Beschreibung mitten hinein zwischen Lehre und Erzählung, doch näher an die letztere. Aus all diesem ergiebt sich denn, wie diese drei Arten der Prosa in Bezug auf jene fortschreitende Gliederung, von der vorher die Rede war, anzuordnen seien. Die niedere Art wird die didactische Prosa bilden: hier gilt ohne weiteres nur die Deutlichkeit; die mittlere Art aber bildet die Beschreibung, und die höhere die Erzählung: denn hier, und namentlich in der Erzählung macht sich auch schon in etwas die Anschaulichkeit geltend, der Character der zweiten Gattung des Stils. Der allgemeine Character dieser ersten Gattung, die bezeichnende Eigenschaft, welche von jeder lehrenden oder beschreibenden oder erzählenden Prosa zu fordern ist, sobald ihre äussere Form dem Inhalt und dem Zweck entsprechen soll, ist Deutlichkeit, die sowohl zeigt, dass der Verstand des Darstellenden sich des dargestellten Gegenstandes vollkommen bemächtigt habe, als sie es auch dem reproducierenden Verstande des Lesers möglich macht, sich desselben in der gleichen Weise zu bemächtigen. Manche Rhetoriker häufen, um die Sache tiefer zu erschöpfen, einige Synonyma und sagen, es sei vom niedern Stil zu verlangen: Klarheit, Deutlichkeit und Bestimmtheit. Diese drei Begriffe verhalten sich aber zu einander nur wie verschiedene Grade eines und desselben Begriffes. Klarheit ist der erste Grad der Erkenntniss, wo man sich der Vorstellung nicht bloss im Ganzen, sondern bereits auch in ihren Theilen bewusst wird. Deutlich wird sodann der Begriff, wenn wir wesentliche Merkmale anzugeben wissen, wodurch er sich von andern ungleichartigen unterscheidet. Bestimmt endlich, wenn wir auch die Nebenmerkmale so ins Auge fassen und vor Augen stellen, dass dieser Begriff nicht mit ähnlichen kann verwechselt werden. Bei diesem Verhältnisse der drei Worte wird es kein grosser Fehler sein, wenn wir der Kürze wegen bloss das mitten inne liegende, die Deutlichkeit festhalten, den Grad, der die Klarheit bereits in sich enthält und auch den höhern Grad, die Bestimmtheit ganz wohl in sich aufnehmen mag. Also Deutlichkeit wird gefordert, und zwar sowohl in der Wahl der einzelnen Worte und ihrer Formen, als in der Anordnung und Verknüpfung derselben. Das haben wir nun des Näheren und Genaueren auszuführen. Es können dafür einige Worte Ciceros (de oratore 3, 13) als Inhaltsangabe und gleichsam als Motto dienen. Wir haben hier nämlich zu erörtern, „quibus rebus assequi possimus, ut ea, quae dicamus, intelligantur: latine scilicet dicendo, verbis usitatis ac proprie demonstrantibus ea, quae significari ac declarari volemus, sine ambiguo verbo aut sermone, non nimis longa continuatione verborum, non valde productis iis, quae similitudinis causa ex aliis rebus transferuntur, non discerptis sententiis, non praeposteris temporibus, non confusis personis, non perturbato ordine.“ Wir sprechen zuerst von der Deutlichkeit der Darstellung, insofern sie beruht und sich zeigt in der Wahl der Worte und ihrer Formen. Hier gilt nun als vorderste und allgemeinste Regel die Regel der Reinheit und der Richtigkeit. „Sermo purus erit et latinus“, sagt Cicero (Orat. 23) von der niederen Art der Rede, also eben dieser Stilgattung. Rein nennt man den Ausdruck, wenn er sich nur an solche Worte und Redensarten hält, die grade dieser bestimmten Sprache wirklich angehören und grade in der Zeit des Schreibenden selbst, und zwar bei dem gebildeten Theile der Nation üblich und gültig sind; richtig, wenn er die Gesetze der Sprache in Betreff der Wortbildung und Wortbiegung beobachtet. Man sieht, die Forderung der Reinheit geht auf die lexicalische, die der Richtigkeit auf die grammatische Seite der Sprache, beide gehören aber so nah zusammen und fallen so leicht in einander, wie Wörterbuch und Grammatik. Es kann z. B. ein Ausdruck dadurch gegen die Sprachreinheit verstossen, dass er veraltet ist; das Veraltete kann aber sehr wohl nur darin bestehn, dass er nicht gebildet ist nach der Weise der jetzigen Sprache. Es wird aber zum Behufe der Deutlichkeit Reinheit und Richtigkeit im Ausdruck gefordert, weil nichts so sehr von vorn herein das Verstehn erschwert, ja sogar vorübergehend unmöglich macht und aufhebt, als wenn Worte und Wendungen vorkommen, die entweder einer gänzlich fremden, unverständlichen Sprache angehören, oder obgleich der heimischen Sprache, doch einem Zeitalter oder einem Dialect derselben, in welchem sie ebenfalls für uns nichts viel Besseres als eine fremde ist, oder wenn die Worte auf eine Art flectiert werden, die gradezu unerhört und unmöglich ist, oder wenigstens an diesem Orte falsch und dadurch das Verständniss irre leitend. Diese erste Regel der Reinheit und Richtigkeit ist in sich durchaus negativer Natur, und wir können sie deshalb nur abhandeln, indem wir von den verschiedenen Verstössen reden, die gegen sie möglich sind. Die alten Rhetoriker und Grammatiker theilten diese Fehler und Verstösse in zwei Classen: Barbarismen und Solöcismen. Sie unterscheiden sich so, dass der Barbarismus, d. h. Fremdartigkeit, gegen die Reinheit der Sprache fehlt, der Solöcismus (von Soli, einer Stadt in Cilicien, deren Einwohner ein sehr verdorbenes Griechisch sollen gesprochen haben) allgemein betrachtet gegen die Richtigkeit derselben. So haben die Alten selbst den Begriff des einen und des anderen Wortes aufgefasst und bestimmt: es mag in dieser Beziehung namentlich auf Quintilian (1, 5) verwiesen werden. Barbarismen sind nach der Auseinandersetzung Quintilians und Anderer solche Fehler, die in einzelnen Worten für sich betrachtet liegen, nämlich die Einmischung fremdartiger Worte, die einer ganz anderen Sprache angehören, die sprachwidrige Weglassung nothwendiger oder die sprachwidrige Hinzusetzung überflüssiger Buchstaben oder Silben, oder die Vertauschung und Versetzung von Buchstaben und Silben. Die Solöcismen dagegen zeigen sich bei Worten, insofern sie mit anderen in Verbindung stehn, also Unrichtigkeiten im Gebrauch des numerus, des casus, des tempus, des modus, fehlerhafte Beugungen und Constructionen, sprach- und gedankenwidrige Ellipsen oder Pleonasmen. Das Gebiet des Solöcismus erstreckt sich somit doch theilweise noch hinaus über die Unrichtigkeit der einzelnen Worte und Wortformen an und für sich; es wird auch Vieles so genannt, womit man sich gegen die Verknüpfung und Anordnung der Worte verfehlt. Schon dieser Weitläuftigkeit und Unbestimmtheit wegen, die dem Begriffe des Solöcismus eigen ist, thun wir wohl, bei unserer Betrachtung uns nicht an diese antike Classification zu binden, sondern eine neue zu versuchen, und zwar eine mehr als zweitheilige. Wir wollen aber dabei mehr die Sprachreinheit als die Sprachrichtigkeit ins Auge fassen, aus dem einfachen Grunde, weil wir uns sonst von unserem eigentlichen Gegenstande, über die Stilistik hinweg in die Grammatik verlieren würden. „Praetereamus,“ sagt Cicero (de orat. 3, 13), „praetereamus igitur praecepta latine loquendi, quae puerilis doctrina tradit et subtilior cognitio ac ratio litterarum alit aut consuetudo sermonis quotidiani ac domestici, libri confirmant et lectio veterum oratorum et poetarum.“ Zudem sind Fehler gegen die Sprachrichtigkeit überall Fehler, mag man nun lehren oder beschreiben oder erzählen, und nicht nur in der Prosa, sondern auch in der Poesie; Fehler gegen die Sprachreinheit aber können das eine Mal grösser, das andere Mal geringer sein; ja es kann sich ereignen, dass sie mitunter ganz aufhören, Fehler zu sein. Darum wollen wir unsere Zeit eher auf Untersuchung der Sprachreinheit verwenden. Wir unterscheiden vier Arten von Verstössen gegen die Reinheit des Ausdrucks: den Archaismus, den Provincialismus, den Barbarismus und den Neologismus. 1) Archaismus nennt man den Gebrauch alter oder veralteter Wörter und Redensarten und Bildungs- und Biegungsweisen. Also ist es ein Archaismus, wenn man Worte und Wortformen braucht, die im Fortschritte der Sprachentwickelung aus dem Wortvorrath der classischen Schriftsteller und aus der gebildeten Umgangssprache verschwunden sind; und ebenso ist es ein Archaismus, wenn man ein Wort, das zwar noch lebt und besteht, das aber seine alte Bedeutung verloren hat, in eben dieser alten Bedeutung gebraucht. Die Lateiner nennen das verba vetusta, antiqua, antiquata, obsoleta, exoleta. Inwiefern die Anwendung solcher Worte und Formen ein Fehler sei, und wie sehr sie das Auffassen und Verstehn behindere und die Deutlichkeit beeinträchtige, das ist in sich selber klar. Hier ist nur noch zu bemerken, dass man bei der Durchführung dieser negativen Regel einen Unterschied zu machen hat zwischen der belehrenden Prosa auf der einen und der beschreibenden und der erzählenden auf der anderen Seite, und dass die Archaismen selbst von verschiedener Art sind, dass alte Worte, verba vetusta, nicht ganz das Gleiche sind als alterthümliche und veraltete, verba antiqua und antiquata oder obsoleta. Verba antiquata, obsoleta, d. h. veraltete Worte sind ganz und gar erloschene und ausgestorbene, deren sich Niemand bedienen darf, weil sie Niemand anderer versteht, und deren man sich auch niemals zu bedienen braucht, weil die Sprache jetzt einen oder mehrere andre Ausdrücke für den gemeinten Begriff besitzt. Dergleichen ist also dem Historiker eben so wohl verwehrt als etwa dem Philosophen oder dem Naturforscher. Ein schwächerer Grad der Veraltung ist die Alterthümlichkeit. Alterthümliche Worte, lateinisch verba antiqua, heissen solche, die nur noch im Begriffe stehn zu veralten, die bereits selten, die im Allgemeinen auch schon erloschen und nur noch etwa innerhalb gewisser Kreise, unter besonderen Umständen gebräuchlich und zulässig sind. Dergleichen sind bei uns mancherlei Worte und Wortformen der kirchlichen und der Canzleisprache, wie sie auf dem Grunde von Luthers Bibel sich gebildet hat. Endlich verba vetusta, alte Worte, sind solche, die mit dem Begriffe zugleich verschwunden sind, die man also für gewöhnlich nur deswegen nicht gebraucht, weil die bezeichnete Sache selbst für uns nicht mehr vorhanden ist, die man aber gleich gebrauchen muss, so wie auch der Begriff wieder in den Kreis unserer Gedanken gezogen wird. Und in diesem Falle ist dann der Archaismus kein Fehler. Dergleichen wird aber, da es sich hier um Auffrischung vergangener Dinge und Ausdrücke handelt, nur in der historischen und etwa auch in der mit ihr verwandten beschreibenden Prosa vorkommen; in der didactischen dagegen nur in so fern, als sie vielleicht einmal in den Bereich der Geschichtsschreibung hinüberstreift. Als Beispiel mögen die beiden Worte Krieg und Fehde dienen. Sie sind synonym: gleichwohl wird z. B. ein Philosoph nicht ohne weiteres Fehde sagen dürfen: es ist eben ein verbum vetustum, der Begriff ist für uns nicht mehr vorhanden und darum auch nicht das Wort. Wo dagegen ein Historiker und wo der historische Jurist Dinge des Mittelalters und grade diese mittelalterliche Art von Privatkrieg zu behandeln hat, da darf er nicht nur, da muss er sogar auch die alte Sache mit ihrem alten Namen belegen: da ist derselbe kein Fehler. Und wie hier, so ist es auch in hundert anderen Fällen. Weil nun aber die Historiker durch die Gegenstände, welche ihrer Erzählung vorliegen, so oft genöthigt werden, verba vetusta anzuwenden, so lassen sie sich, und da fängt denn der Fehler an, bald unvermerkt, bald freiwillig und bewusst auch zum Gebrauch von antiquis, ja wohl von eigentlichen obsoletis verleiten und setzen alterthümliche und veraltete Worte, wo doch der Begriff kein alter ist, und wo ihnen mehr als Ein noch jetzt allgemein gangbares und darum verständlicheres Wort zu Gebote stünde. Dieser Vorwurf trifft zum Theil Johannes von Müller, er trifft noch mehr die zahlreichen Nachahmer, die er gefunden hat und täglich noch findet. Da geht denn das wunderlichste Gemisch durcheinander von ganz mittelalterlichen Worten und von altfränkischen Worten der Perückenzeit. Da darf z. B. nicht mehr Gelehrsamkeit gesagt werden, sondern Gelahrtheit; nicht Wittwe, sondern Wittib; nicht da und weil, sondern sintemal und dieweil. Indem man so der ganzen Darstellung alter Dinge den Ton und die Farbe vergangener Jahrhunderte giebt, glaubt man sie anschaulicher zu machen, als das mit den gewöhnlichen Worten möglich wäre: es kommt aber hier zunächst auf Deutlichkeit an, und selbst die Anschaulichkeit wird wenigstens auf solchem Wege nicht erlangt, wird nicht dadurch erlangt, dass man Alterthümlichkeiten der verschiedensten Art, von der verschiedensten Gestalt und Farbe aus allen verflossenen Jahrhunderten wie in einer Rumpelkammer bunt und verworren durch einander wirft: dergleichen verwirrt eher die Anschauung, als es dieselbe befördert. 2) Als Provincialismus wird ein Wort zurückgewiesen, wenn es sich mitten in die allgemein gültige Schriftsprache eindrängen will, während es doch dieser fremd und nur in der oder jener Mundart zu Hause ist, nur in der oder jener Provinz verstanden wird. Die Mundarten sind überall nur ältere Gestaltungen der Sprache, die stehn geblieben und in diesem Stillstande mehr oder weniger erstarrt und verarmt sind: viele Provincialismen werden also zugleich noch deshalb verwerflich sein, weil sie auch Archaismen sind; und umgekehrt. Dennoch muss man sich wohl vorsehen, ehe man einen Provincialismus für einen Fehler erklärt. Und das aus doppeltem Grunde. Einmal nimmt jede Schriftsprache ihren ersten Ursprung innerhalb der engen Grenzen einer Provinz, jede Schriftsprache ist zuerst nur eine vereinzelte und abgeschlossene Mundart gewesen, wie alle übrigen, aber von da an, wo sie eben Schriftsprache wird, erweitern sich diese ihre Schranken immer mehr und mehr, mit jedem neuen Geschlecht gewinnt sie an Ausdehnung, die Grenzen werden immer unbestimmter, fort und fort gehn aus der Sprechweise bald dieser, bald jener andern Provinz Ausdrücke in sie über, und zuletzt ist sie so zu sagen überall und nirgend mehr zu Hause, so dass selbst die Mundart, aus der sie zuerst ihren Ursprung genommen hat, nach und nach zu einem von ihr verschiedenen blossen Provincialismus herabsinkt. So ist es überall gewesen; die κοινή der Griechen war nicht mehr der attische, die Schriftsprache der Italiäner nicht mehr der florentinische Dialect; so auch in Deutschland. Verfolgt man unsere Schriftsprache bis auf ihre ersten und äussersten Anfänge zurück, so ist sie freilich eine Mundart gewesen, die Mundart Obersachsens, d. h. ein Gemisch von Ober- und Niederdeutsch, worin jedoch das Oberdeutsch überwog. Da sie aber eben aus solch einem Gemisch hervorgegangen ist, so hat es um so leichter geschehen können, dass sie in ihrer weiteren Fortentwickelung sich nun aus dieser, nun aus jener Mundart, nun des oberen, nun des niederen Deutschlands bereicherte und neu auffrischte; und es ist in ihr durch die bedeutenden süddeutschen Schriftsteller der letzten Periode unserer Litteratur, namentlich durch Göthe und Schiller, so mancher frühere Provincialismus zum unbestrittenen Bürgerrecht gelangt, dass man nicht länger von der obersächsischen Mundart und der Schriftsprache als von einem und demselben Dinge sprechen darf, sondern nur von einer Schriftsprache und daneben von der obersächsischen Mundart als einer Mundart. Und so sind jetzt die Grenzen der Schriftsprache nach allen Seiten hin allen Provincialismen so weit geöffnet, dass es kaum mehr Grenzen und Provincialismen giebt, und dass es jedem frei steht, sie auf eben jenem Wege wie Göthe und Schiller u. s. w. immer fort von Neuem zu bereichern und zu erweitern. Nur sind doch dabei einige Bedingungen in Acht zu nehmen. Erstlich muss, wer dergleichen beginnt, ein einigermassen bedeutender Schriftsteller sein, ein Mann von Autorität, der seine Neuerungen behaupten und durchsetzen kann, dem es nicht an Nachfolgern fehlt, einer wie Göthe und Schiller. Sodann ist es nicht gut, wenn jemand seine Provincialismen in dem Bewusstsein gebraucht, dass sie Provincialismen seien, und in der Absicht, sie nun in die Schriftsprache einzuführen. Je unbefangener er vielmehr dabei ist, je mehr ihm solche Dinge gleichsam unvermerkt entschlüpfen, desto leichter werden sie in der Schriftsprache Platz fassen, desto weniger werden sich auch andere dagegen sträuben, desto eher wird dergleichen, auch ganz unvermerkt, ihm nachgesprochen werden. Ferner müssen es keine überflüssigen und unzulänglichen Worte sein, die Schriftsprache muss nicht für den gleichen Begriff schon andere besitzen, die denselben ebenso gut oder gar besser, bezeichnender, erschöpfender ausdrücken. Und endlich muss ihr Begriff einem Jeden alsobald einleuchten, sie müssen von Wurzeln, die auch in der Schriftsprache zu Hause sind, auf eine Weise gebildet sein, die in Bezug auf den Sinn keinen Zweifel übrig lässt. Falls nur alle diese Bedingungen beobachtet werden, so ist der Gebrauch von Provincialismen kein Fehler mehr, sondern eher dankenswerth und verdienstlich. Zweitens giebt es Fälle, in denen die Provincialismen nicht bloss in dieser Weise erlaubt, sondern sogar geboten und unumgänglich nothwendig werden. Für gar manchen Begriff kann die Schriftsprache kein Wort besitzen, weil die Sache selbst nicht überall, in dem ganzen grossen Lande, das die Schriftsprache beherrscht, zu Hause ist: es giebt z. B. im Süden Gewerbe und Gewerbserzeugnisse, die der Norden nicht kennt, und im Osten Beschäftigungen und Geräthschaften, von denen der Westen nichts weiss. Gleichwohl kann ein Schriftsteller oft genug in den Fall kommen, von diesen Gewerben und Geräthen sprechen zu müssen: die Schriftsprache gewährt ihm kein allgemein gültiges Wort: da bleibt ihm denn nichts Andres übrig, als die Dinge so zu benennen, wie sie da heissen, wo sie zu Hause sind, d. h. mit Provincialismen. Und somit ist auch von dieser Seite her den Provincialismen der Zugang in die Schriftsprache geöffnet, und in alle drei Arten der Prosa, in die lehrende wie in die beschreibende und erzählende, und es werden z. B. schweizerische Provincialismen dieser Art kein Fehler sein in einem technologischen Werke, das vorzüglich auf die Gewerbthätigkeit der Schweiz gerichtet ist, oder in einem beschreibenden oder historischen, das die besondre Natur oder Geschichte der Schweiz zum Gegenstande hat. Diess ist denn auch der Grund, weshalb die Provincialismen namentlich nicht auszuschliessen sind aus dem sogenannten Geschäftsstil, d. h. aus dem Stil jener meistens didactischen, zuweilen aber auch erzählenden und beschreibenden Schriften, die ihren Anlass in den Verkehrsverhältnissen des bürgerlichen Lebens haben: denn hier sind gewöhnlich ganz eng örtliche Beziehungen vorhanden, die jene Freiheit zur Nothwendigkeit machen. 3) Barbarismus. Im allgemeinen weiteren Sinne und im Gegensatz zum Solöcismus bezeichnet die Rhetorik mit Barbarismus jeglichen Verstoss gegen die Reinheit der Sprache. Hier wollen wir darunter eine besondere, mehr eingeschränkte Art solcher Fehler verstehn: Verletzung der Reinheit durch Einmischung von Wörtern und Redeweisen ausländischen Ursprungs, was Quintilian vocabula peregrina oder externa, formas peregrinas, Aristoteles ὀνόματα ξένα, φράσεις ξένας, γλώσσας nennt. Diese Einschränkung verträgt sich auch ganz wohl mit dem Sinne, den bekanntlich die Worte Barbar und barbarisch eigentlich und ursprünglich besitzen, ja sie wird davon sogar gefordert. Also der Gebrauch ausländischer Worte ist auch ein Fehler; denn das Ausländische ist unverständlich, läuft also dem Haupterforderniss der Prosa, der Deutlichkeit, zuwider. Indessen wenn irgendwo zwischen den verschiedenen Arten der Prosa zu unterscheiden ist, um das Mehr oder Minder der Zulässigkeit und der Unzulässigkeit zu bestimmen, so ist es hier. Hier kann der gleiche Ausdruck ein Fehler sein, wenn man erzählt, und kein Fehler mehr, wenn man lehrend abhandelt. Die eigentlich lehrende Prosa und mit ihr die beschreibende, insofern auch sie ein didactisches Element in sich enthält, können beide des Gebrauches undeutscher Kunstausdrücke unmöglich ganz entrathen. Man hat solche wiederholendlich ganz zu beseitigen versucht: aber all diese Versuche sind auch missglückt, und man ist immer wieder jetzt zu einer grösseren, jetzt zu einer geringeren Anzahl fremder Kunstausdrücke zurückgekehrt. Wir können einmal den ganzen Gang und Ursprung, den unsere wissenschaftliche Bildung genommen hat, nicht ungeschehen machen und die Grundlagen, die sie in Rom und in Griechenland und in Frankreich hat, nicht aufheben. Und erwägt man die Sache nur unbefangen, so sieht man alsbald, wie nöthig und unentbehrlich grade für die Deutlichkeit der Belehrung der Gebrauch fremder Wörter ist. Die abstracten Dinge und Verhältnisse, mit denen es die didactische Prosa zu thun hat, verlangen Benennungen, die mehr blosse Zeichen als wirkliche Namen sind, verlangen blosse Zeichen, unter denen man den Begriff nach Belieben verengern und erweitern kann, nicht aber wirkliche Namen, deren Grenzen sich nicht so willkürlich ausdehnen und zusammenziehen lassen, verlangen nur gleichsam leere Gefässe, in die der Sprechende Alles hineinlegen kann, was er will, nicht aber solche, die an sich selber schon gefüllt sind, und wirkliche Namen sind gefüllte Gefässe. Die meisten deutschen Benennungen jener abstracten Dinge sind für das, was sie ausdrücken sollen, immer noch zu concret, sagen bald mehr, als sie sagen sollen, bald weniger, oder sagen es schief und mit störenden sinnlichen Seitenbeziehungen: das Alles nur, weil man sich ihres etymologischen Ursprunges und ihrer anderweitigen, mehr eigentlichen und sinnlichen Bedeutung immer noch zu deutlich bewusst ist. Nicht so die fremden Worte: hier fällt diess lebhafte etymologische Bewusstsein fort, und wir kennen sie in keiner anderen Anwendung als in dieser abstracten. Nehmen wir z. B. eben das Wort abstract. Behält man diess in seiner Fremdheit bei, so weiss gleich ein Jeder, was er sich dabei zu denken habe, eben weil er sich etymologisch genommen nichts mehr dabei denkt, weil es bloss ein ausgesprochenes Zeichen ist, und weil es zugleich möglich macht, dass man je nach dem philosophischen System etwas Anderes dabei denke. Sagt man aber, wie zuerst Leibnitz hat wollen, Grimm, Wörterb. 1, 158. zu deutsch abgezogen, so muss jeden Unbefangenen die Willkür verletzen, die man hier der Sprache anthut, und er wird eher sinnlicher Weise an abgezogene Wasser und abgezogene Thiere denken als an abstracte Begriffe. Oder ein Beispiel aus der Grammatik: Viele haben sich schon an den Benennungen Nominativ, Genitiv u. s. w. gestossen und haben dafür deutsche auf bringen wollen; die Einen haben Nennfall, Zeugefall, Gebefall u. s. f. gesagt, die Andern erster, zweiter, dritter Fall u. s. f., wieder Andere Werfall, Wesfall, Wemfall u. s. f., Andere noch anders: aber alle deutschen Namen werden zum mindesten ungenügend sein und den Begriff nicht erschöpfen; und die angeführten sind gradezu unsinnig und lächerlich. Bei den Worten Genitiv, Dativ u. s. f. denkt Niemand an die Spielerei und den Zufall, wodurch diese Namen sind veranlasst worden, wenn er nicht daran denken will: Zeugefall, Gebefall erinnern mit Gewalt daran, und diese Erinnerung hilft wahrlich nicht zur Deutlichkeit. Erster Fall, zweiter Fall u. s. f., diese zählenden Ausdrücke heften sich an das, was das Alleräusserlichste und die zufälligste Nebensache ist; man nennt da den Accusativ den vierten Fall, und doch würde z. B. einer, der eine Grammatik der gothischen Sprache schriebe, vielleicht am besten thun, wenn er den Accusativ zum ersten Fall machte, weil der bei starken Substantiven den Declinationsstamm in der reinsten Gestalt zeigt. Werfall, Wesfall u. s. f. ist eine Schraube ohne Ende: denn Wer, Wes u. s. w. sind ja selber Declinationsformen: da ist dann also Wer der Werfall, Wes der Wesfall von Wer u. s. f. Und wie hier, so ist's überall. Dulde man daher in der wissenschaftlichen Kunstsprache die fremden Worte, die sich einmal festgesetzt haben, dulde man sie ihrer farblosen und dehnbaren Natur wegen, welche der Deutlichkeit abstracter Begriffe so förderlich ist. Damit soll jedoch einem masslosen und nutzlosen Gebrauche derselben keinesweges das Wort geredet sein: denn wir besitzen auch deutscher Ausdrücke genug, die durch langherkömmliche Anwendung in abstractem Sinn schon ziemlich ebenso farblos geworden und beinahe zu ebenso todten Zeichen herabgesunken sind, wie jene lateinischen und die griechischen Kunstausdrücke: für deren Begriff kann man der fremden Worte gar wohl entbehren, deswegen, weil sie selber, etymologisch genommen, für uns nicht viel Besseres als fremde Worte sind. Ganz anders verhält sichs mit all dem in der geschichtlichen Prosa. Die geschichtliche Prosa hat es, so lange sie in ihrem eigentlichen Gebiete verweilt, immer nur mit der bewegten äusserlichen Wirklichkeit zu thun, nicht mit der geistigen, wie die didactische. Und damit ist ihr beinahe jeder Vorwand benommen und jeder Anlass entzogen, die sinnlich belebten Ausdrücke der heimischen Sprache gegen die übersinnlichen und bloss zeichenartigen einer fremden zu vertauschen. Der geschichtlichen Prosa sind Barbarismen nur in so weit gestattet, als ihr auch Archaismen gestattet sind. Archaismen werden nicht bloss zugelassen, sondern sogar gefordert, wo sie sich auf vergangene Zeiten richtet und da auf Begriffe, die mit denselben vergangen sind. Ebenso ist es mit den Barbarismen. Die Geschichte und mit ihr dann auch die Beschreibung haben aus Vorzeit und Gegenwart mancherlei Dinge zu berühren, die über den Gesichtskreis der unsrem Volk eigenthümlichen Begriffe und ihrer Namen hinausliegen. Da muss denn der Geschichtsschreiber mit der fremden Seele auch das fremde Wort herübernehmen; sei es auch etymologisch unverstanden, sei es auch gleich jenen Fremdworten der lehrhaften Prosa ein blosses Zeichen, es wird immer deutlicher sein, als jeder Versuch einer Verdeutschung, und als gar solche Verdeutschungen, die auf eine schiefe und irre leitende Weise fremde und einheimische, antike und moderne Begriffe in Eins zu schmelzen suchen, wie wenn man z. B. von einem Bürgermeister Kikero spricht, wo der römische Consul Cicero gemeint ist. Es hat sich also die lehrhafte Prosa und die beschreibende und die geschichtliche gar wohl ausländischer, meist lateinischer und griechischer Worte zu bedienen für solche Begriffe, wofür die einheimische Sprache entweder gar keine besitzt, oder unzulängliche und dadurch undeutliche. Wo aber der Deutsche selbst den Begriff und selbst das Wort dafür hat, verdient diess natürlich der Deutlichkeit wegen den Vorzug vor jedem fremden. In solchen Fällen verschafft sich auch die Sprache früher oder später selbst ihr Recht. Bekanntlich gab es Zeiten, wo es in Deutschland für zierlich galt, seine Rede mit bunten Fetzen aus den übrigen lebenden Sprachen, namentlich der französischen, zu behängen, und wo es gelehrte Bildung verrathen sollte, wenn man mehr lateinische Worte in den Mund nahm als deutsche. Im elften Jahrhundert sieht man den Mönchen an, dass sie ihre Lateingelehrsamkeit nicht umsonst haben wollten; ähnlich wieder im dreizehnten Jahrhundert, wo die Ritter an den Höfen sich gerne französischer Worte bedienten; endlich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert traf Beides zusammen, indem die Gelehrten lateinische, die Hofleute dagegen vorzugsweise französische Brocken einzustreuen liebten. Dergleichen ist jetzt so gut als vorüber, und wenn noch Ueberbleibsel jener unglückseligen Zeiten vorhanden sind, so tilgt jedes Jahr mehr und mehr davon. Jetzt wird kaum ein Geschichtsschreiber mehr, der auch Stilist ist, von Armeen sprechen, sondern von Heeren, und er wird schon lieber Reiterei und Fussvolk sagen als Cavallerie und Infanterie. Ein ergötzliches Beispiel, wie weit man es früherhin in der barbarischen Sprachmengerei getrieben, bietet Nicolaus Hieronymus Gundlings „ Academischer Discours über des Freyherrn Samuel von Pufendorffs Einleitung zu der Historie Der vornehmsten Reiche und Staaten“ (Frankfurt a/M. 1737). Die Prolegomena zu seinem Discours hebt Gundling folgendermassen an: „Nicht allein Cicero, sondern auch alle kluge Leute sagen: Dass die Historia sey Magistra, Scholaque vitae. Denn sowohl die Stulti, als Sapientes, können daraus profitiren. Diese, weil sie doch niemals so vollkommen, dass sie nicht noch immer was zu lernen hätten, sonderlich aber ut caveant ab artificiis stultorum, quae detegit aperitque Historia. Jene aber können gar viel aus der Historia lernen. Denn dieselbe ist nichts anders als eine Praxis der gantzen Philosophie. Die Logic wird practiciret; versatur enim circa distinguenda verosimilia a verodissimilibus; Die Moral stecket darinnen, man lernet allerley Leute und Menschen Gemüther erkennen; Die Politic ist ohnstreitig auch in der Historie fast am besten zu lernen; Und dann kommen auch noch Praetensiones, da die Praxis Juris Gent. kann angebracht werden. Zu dem so ist die Historie, wenn sie lebhaft vorgetragen wird, plaisirlich, und wie eine veritable Comödie, darinnen auch manche Narren agiren “ u. s. f. LB. 3, 1, 1057. Noch barbarischer ist ein im Jahre 1729 geschriebener Brief, den Radlof in seinen teutschkundlichen Forschungen und Erheiterungen für Gebildete 1, 186 (aus der Schrift: Der gelehrte Narr, Freiburg 1729. S. 42 fg.) mitgetheilt hat; er ist freilich erfunden, aber kaum übertrieben, und auch die lächerlichen Donatschnitzer, die er enthält, sind ganz in der Ordnung. Der Schreiber dieses Briefes ist „ein wohlehrsamer Schulhalter und respective Küster zu ... am Rheine, der eine lange Reihe von Jahren auf Schulen und Hochschulen verunnützet und seinem Herrn Amtsgenossen buchstäblich zu schreiben geruht, wie folgt:“ „ Laus Deo perennis Gloria! Meine willige Officia zuvor, Clarissime Dn. Frater! Es ist euer Dominus Pastor bey mir gewesen, und hat mich um einen bonum Consilium gefragt, ob er noster Schulzens Filia sollte sumere oder non? Ich habe ihm einen bonum Einschlag gegeben, wie er es sollte facere. Ich habe auch mit dem Domino Pastore brav discuriret, und er hat gar pulcher gestudiret, ist auch ein feiner Graecismus, wie ich merke. Da er solus getrunken tres Cantoros Cerevisia, erfuhr ich erst recht, wie es ihm in neulichster Spolium ergangen. Ich habe es nicht wollen credere, dass dich, mein lieber Domine Frater! das Bellum also valde verderbet; aber jetzo habe ich es erst recht erfahren. Wo ist nun dein Pecuniam? in Bellum. Hättest du deiner Uxor gefolget, könntest du dein Pecuniam in Marsupio behalten haben. Wo sind nun deine andern pulchros Res? auch in Bellum. Mit mir ist es eben so. Meine Res haben einen Namen, und heissen Nihil. Ich bin ein rechter pauper Nebulo, habe nichts mehr, als wie ich eo und sto. Meine neuen Vestii, meine Dies Dominicae Pallium, alle meine Indusia, meine neuen Calcei, darinnen ich fein nach dem Lignum passiren kunnte, mein Pilius mit dem geflochtenen Hut- inculum, der mich quindecim Grossos gekostet, alle meine Superbia und Schmuck, meiner Frauen ihre Vestii, meinen Kindern ihre Vestii sind alle mit port. Unserer magnus Magd, der Magdalenen, der pauper Mähren, sind auch alle ihre Res weg. Die Vacca mit dem Kalbe, der Caper mit denen kleinen Ziegen, Porcus magnus et parvus ist omnes allo. .... In meiner Schola ist nichts mehr totus; die Fenestras sind ex, der Ofen hat wol ein Schock Oculi; dem Ofen- Forca haben die Regio Servii ein Cornu abgerissen; die Vesica ist fort; die Studir- mensa ist grambosuirt; die magna schwarze Tabula, darauf ich meine Adjuvanten das Core informalia geschrieben, haben sie be maculare, und Federn darein gesteckt, siehet aus als der lebendige Diabolus. Mein Atramentum Dolium, alle meine Penna mit dem Pennal und anderthalb Bogen Papier haben sie mir ge furraverunt. Es muss certissime ein Gelehrter darunter gewesen seyn. Mein Cubile hat ein Korporal dehonestrirt. Hoc dicit noster Schulze, der hat solches ge vidit, und müssen leiden. Mein Pecuniam numeratam ist auch allo. Ach es war solch' schön Geld; es waren lauter Bohemios Grossos, die hatte ich in meinem Vacca Stabulum, unter dem grossen Lapis verstecket. Dennoch habens die Bello Servi gefunden. .... Unserm Dominus Pastor ist es auch nicht viel melius ergangen. Denn alle seine Res seynd port. Sie haben ihm seinen schönen longam Barbam ausgerauft, und seine formosa Spons, des Schulzens Filia sehr turbirt. Es ist non alles zu describendi, wie sie mit uns Domus gehalten haben, welches ich dem Dominus Frater zu avisiren nicht vorbey gekunnt, und befehle ihn hiernechst göttlicher Protection, verbleibe auch sein lieber treuer Frater in aeternum etc., Jo. Felix Schusterus. Zu diesem Schulmeisterbriefe macht Radlof S. 189 folgende Bemerkung: „Sollten gewisse sehr gelahrte Kanzeleystylisten, und mit ihnen ein nur viertelsteutscher Zeitungsschreiber, Einem hochangesehenen Publikum vornebeln wollen, solches aberwitzige Sprachgemengsel, und solches Afterlatein, wie vorgeblich dieser wohlehrsame Schulhalter, habe niemals ein vernünftiger Teutscher geschrieben, so würde Verfasser durch unleugbare Beweisstücke darthun, dass eben diese Herren in unsern Zeitungen alltäglich kein besseres Teutsch schreiben; wodurch sie denn also die Aechtheit der obigen Urkunde unwidersprechlich bestätigen.“ 4) Der Neologismus ist das fehlerhafte Widerspiel des Archaismus. Beide rühren her von einem Auflehnen gegen die Selbstkräftigkeit der Sprache; beide entspringen aus dem dünkelhaften Wahn, es stehe nur bei der Willkür des Einzelnen, die Sprache an seinem Gängelbande zu leiten, wie und wohin er wolle; nur dass der Archaist sie zurück, der Neologist gar zu hastig vorwärts schiebt, dass der Archaist sie wieder auf einen Punct bringen will, den sie längst verlassen hat, der Neologist aber sie mit Einem Sprunge dahin zu führen denkt, bis wohin sie doch von Rechts wegen viele Schritte brauchen würde: der Archaist gleicht dem Reactionär, der Neologist dem Revolutionär. Allerdings bedarf eine Sprache, wenn sie nicht abstehn und verdorren soll, eines beständigen frischen Nachwuchses neuer Worte: aber es muss auch ein wirklicher Nachwuchs sein, das neue Wort muss aus dem Grund und Boden, muss aus den alten und noch lebendigen Wurzeln der Sprache heraus durch eine innere Naturnothwendigkeit getrieben werden: kommt ein neues Wort so zur rechten Zeit und in der rechten Gestalt, kommt es hervor, weil auch sein Begriff jetzt zuerst hervorkommt, oder weil die bisherigen Bezeichnungen dieses Begriffes in der That nicht mehr bezeichnend sind, dann ist die neue Schöpfung kein Neologismus, insofern darunter etwas Fehlerhaftes verstanden wird. Unter solchen Bedingungen sind namentlich durch Wieland und Lessing (durch sie, nicht von ihnen) zahlreiche neue Worte in die Sprache gebracht worden, und diese haben sich auch gehalten, sind so in der Sprache haften geblieben, dass man denken möchte, sie seien ihr schon seit Jahrhunderten eigen. Beispiel hiefür das Wort empfindsam, das jetzt ganz alltäglich gäng und gäbe, aber wenig mehr als hundert Jahre alt ist: zuerst gebrauchte es 1768 auf Lessings Rath, wiewohl mit Schüchternheit und entschuldigend, Bode, der Uebersetzer von Yoricks Sentimental Journey von Lorenz Sterne (vgl. Bodens Vorrede p. III und XXI und Grimms Deutsches Wörterbuch 3, 431). Aber man bedurfte es, die Sache kam selber ziemlich neu auf, und da es sprachgemäss gebildet war, so ist es auch verblieben. Aber wohl ist der Neologismus ein Fehler gegen die Reinheit und gegen die Deutlichkeit, wenn man der Sprache ein neues Wort aufdrängen will, dessen sie gar nicht bedarf, weil sie schon andre hinreichend deutliche besitzt, oder weil gar der Begriff für gewöhnlich nicht vorhanden ist, oder wenn man es ihr überhaupt in verkehrter Weise aufdrängen will. Solche willkürliche Erfindungen richten sich auch selbst, schlagen nicht Wurzel, halten sich nicht, sterben alsbald wieder ab, gleichen Reisern, die ein spielendes Kind in den Boden steckt, um daraus einen Garten zu bauen, über Nacht aber verwelkt das Alles wieder. Es zeigt sich aber dieser verkehrte Neologismus besonders als Purismus, als ein Kämpfen gegen den Barbarismus, als ein Ausrotten fremder Worte und Ersetzen derselben durch deutsche, aber erst zu diesem Behufe neu gebildete. In dieser puristischen Richtung, die wir theilweise schon berührt haben (S. 334), hat sich der Neologismus namentlich zweimal in Deutschland geltend gemacht, nach der Mitte des siebzehnten und zu Anfange dieses neunzehnten Jahrhunderts. Beidemal entsprang der Purismus aus einer übertreibenden Reaction gegen die herrschende Ausländerei, und es wurde nicht bloss gegen die eigentlichen Fremdworte gewüthet, sondern auch gegen solche, die schon längst durch allerlei Umgestaltungen zu deutschen geworden waren. So namentlich im siebzehnten Jahrhundert: man stiess sich nicht bloss an den Worten Lieutenant, Natur, Minute, und sagte dafür Waltmann, Zeugemutter, Zeitblick, sondern auch Fenster, Pabst musste noch für fremd gelten und sich eine Vertauschung gegen Tageleuchter, Grosserzvater gefallen lassen; ja sogar Eigennamen der antiken Mythologie, ohne welche die Dichter nicht glaubten bestehn zu können, wurden damals in allem Ernste verdeutscht und hässlich verunstaltet: aus Pallas machte man Kluginne, aus Diana Weidinne, aus Juno Himmelinne, aus Venus Lustinne, aus Pomona Obstinne u. s. f. Der leitende Anführer bei solchen Verkehrtheiten war Filip von Zesen (1619─1689). Ganz so weit sind nun freilich die Puristen der neueren Zeit, als deren Vorfechter Joh. Heinrich Campe (1746─1818), der Bearbeiter des Robinsons und eines eigenen Wörterbuches, nicht gegangen. Aber sie haben es doch auch verkehrt genug getrieben. Es giebt, abgesehen von den philosophischen und grammatischen und naturwissenschaftlichen Kunstausdrücken, noch sonst fremde Worte die Menge, die man ganz wohl belassen kann, weil sie eigentlich ausserhalb der lebendigen Sprache liegen und nur in eng eingeschränkten Kreisen gebraucht werden: indessen auch solche wurden verdeutscht, z. B. statt Alumnus hiess es jetzt Pflegling. Andere mochten und mögen wohl der Verdeutschung werth und fähig sein, aber wenigstens die man versuchte, brachten gleich die Lächerlichkeit mit auf die Welt, wie wenn man Lectüre mit Leserei verdeutschte, Lieutenant bei der Gardecavallerie mit Stellhalter bei der Leibwachgaulerei, Dilettant auf dem Fortepiano mit Vergnügling auf dem Starkschwachtastenrührbrett, und wie die eintönigen Worte auf ─ling und ─ei (selbst eine fremde Endung) sonst noch heissen mögen. Hätten diese Stürmer noch zugewartet, so wäre vielleicht dieses und jenes fremde Wort nach und nach von selbst verschwunden, das uns nun verbleibt, weil man jeder Verdeutschung mit spöttischem Argwohn entgegenkommt. So viel vom Archaismus, Provincialismus, Barbarismus und Neologismus, als den viererlei Verstössen gegen die erste Regel des prosaischen Stils, welche zum Behufe der Deutlichkeit, als seines characteristischen Erfordernisses, Reinheit und Richtigkeit der Sprache verlangt. Jetzt wenden wir uns zu einer zweiten Regel. Bei der Regel der Reinheit und Richtigkeit werden die Worte lediglich an und für sich selbst betrachtet, ohne dass man dabei auf die Bedeutung Rücksicht nimmt, welche dieselben für das Ganze des Gedankens haben, und auf das Verhältniss, in welchem diese Worte, diese Begriffe zu den übrigen Begriffen und Worten des Satzes stehn, dem sie angehören. Ein falsch gebildetes Wort, ein provinzieller Ausdruck, sind fehlerhaft und unverständlich auch ausserhalb aller weiter gehenden Beziehung auf Satz und Gedanken. Nun sind aber die Worte eben noch in dieser Beziehung aufzufassen. Und da gilt denn, damit auch von der Seite her Deutlichkeit erreicht werde, die Regel der Angemessenheit, die Regel, welche verlangt, dass erstens jedes Wort auf das Bestimmteste grade nur den Begriff bezeichne, welchen die Gesammtheit des Gedankens fordert, zweitens, dass die Wechselbeziehung und das Verhältniss der einzelnen Theile des Gedankens klar und scharf ausgeprägt seien, dass also einmal jedes Wort der gemeinten Vorstellung, sodann jedes Wort allen übrigen neben ihm entspreche und angemessen sei. Wir werden auch diese Regel fast nur in der Weise abhandeln können, dass wir von den verschiedenen Fehlern, durch welche sie verletzt wird, sprechen. Bestimmte Eigennamen haben die wenigsten dieser Fehler; sie gehören, wie das schon früherhin ist bemerkt worden, mit in das weitschichtige Fach der sogenannten Solöcismen, wie die alte Rhetorik sagt. Hier ist der erste und bedeutendste Fehler die Uneigentlichkeit, die umschreibende Bildlichkeit der Worte, oder um diesen besonderen Punct, da es angeht, noch positiv zu fassen: die Angemessenheit wird vor allen Dingen darin bestehn, dass die Begriffe in ihrer eigentlichsten Benennung vorgelegt werden, „in propriis usitatisque verbis,“ Cicero orat. 24. Man nenne also jede Sache, wie sie wirklich heisst, ohne die Gewöhnlichkeit des Ausdruckes durch Schmuck und Umschreibung zu verdecken, ohne etwa das Abstracte durch eine bildliche Sprachweise sinnlich zu beleben: dergleichen ist der Poesie und ist der rednerischen Prosa zu überlassen; diese haben sich an die Einbildung und das Gefühl zu wenden: da bedarf es solcher Veredlung und Belebung; die Prosa dagegen, namentlich die lehrhafte, hat es nur mit dem Verstande zu thun, und da ist ihre Aufgabe Deutlichkeit: zu dieser Aufgabe passt aber die uneigentliche Ausdrucksweise nicht: für die Einbildung dient sie freilich zur Anschaulichkeit, für den Verstand dagegen stellt sie die Begriffe in ein unsicheres Halbdunkel, das ihm nicht zusagt. Dasselbe, was dort ganz angemessen ist, erscheint hier unpasslich und fehlerhaft. Der Redner wird also z. B. ganz wohl sagen dürfen: „Das innere Auge bevölkert Welttheile und hebt Länder aus dem Sumpfe;“ der abhandelnde Prosaist muss dasselbe etwa so ausdrücken: „Der Einbildungskraft erscheinen Welttheile bevölkert und ganze Länder dem Sumpfe abgewonnen.“ Die Versinnlichung des Ausdruckes kann unter Umständen gradezu lächerlich ausfallen. Wir sagen z. B. Lehrstuhl für academisches Lehramt, sagen ein Amt niederlegen, ohne an die eigentliche Bedeutung von niederlegen mehr zu denken. Lächerlich aber ist es, wenn einmal die Augsburger Allgemeine Zeitung (1859. S. 1796) berichtet: „Dr. Strauss hat seinen Lehrstuhl wegen vorgerückten Alters niedergelegt.“ Denn diese Verbindung nöthigt sowohl Lehrstuhl als niederlegen wieder in seiner eigentlichen, sinnlichen Bedeutung zu verstehn. Auch aus diesem Grunde ist die Verdeutschung abstracter Fremdworte bedenklich: denn, wie schon bemerkt worden, jedes dafür neu erfundene deutsche Wort wird noch zu concret sein, wird noch zu sehr nach blosser Sinnbildlichkeit aussehen, wird zu viel Uneigentlichkeit besitzen, als dass es sich recht mit dem Character der lehrhaften Prosa vertrüge. Freilich beruhen alle abstracten, auch die abstracten deutschen Worte ursprünglich auf rein sinnlichen Anschauungen; aber für die Prosa sind sie doch erst recht tauglich geworden, seitdem man diese Sinnlichkeit nicht mehr an ihnen gewahrt, seit sie nicht mehr bildlich und uneigentlich, sondern die recht eigentlichen Ausdrücke zu sein scheinen. Soll man aber in Bezug auf Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Ausdrücke etwa einen Unterschied machen zwischen den drei Arten der Prosa, so möchte es der historischen noch am ehesten gestattet sein, die unbelebten und unanschaulichen abstracten Ausdrücke gegen anschaulichere, sinnbildliche concreta zu vertauschen: aber auch nur ihr, ihr als der Grenznachbarin der Poesie, der Epik. Ein zweiter Fehler ist die Katachrese ( κατάχρησις ), d. h. Missbrauch. Der Anlass für ihn liegt darin, dass die ursprünglich nur bildlichen Ausdrücke, sowie sie einmal erst recht in Umlauf gekommen sind, sich immer mehr und mehr abschleifen und entfärben, bis man zuletzt kaum mehr auf ihre frühere sinnliche Bedeutung achtet. Es ist nämlich eine Katachrese, wenn man einen bildlichen Ausdruck in einer Verbindung mit anderen Worten anwendet, die nicht zu dem Bilde stimmen, ja die demselben vielleicht widersprechen und es durch unharmonische, neue Bildlichkeiten aufheben. Zwar macht sich die Prosa nichts aus Bildern, und sie duldet sie eigentlich erst dann, wenn sie zu blossen Rahmen geworden sind; aber sie will dieselben auch so nicht missbraucht und misshandelt wissen. Eine Katachrese ist es, wenn z. B. Adelung in seinem Werke „Ueber den deutschen Stil“ sagt: „Daher erscheint in einem heftigen Affecte so Vieles abgebrochen; daher fehlen hier die gewöhnlichen Verbindungswörter, und dort werden sie wieder gehäuft, wo nämlich ein Schimmer des Verstandes den raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf diese oder jene legen will.“ Oder an einer anderen Stelle: „Das Kriechende findet nur dann statt, wenn der Ton unter den Horizont der jedesmaligen Absicht hinabsinkt.“ Sodann drittens. Alle Sprachen besitzen sogenannte verba oder vocabula solennia, Redensarten, die sich für gewisse Vorstellungen festgesetzt haben und da entweder nur vorzugsweise gelten oder ganz ausschliesslich und allein. Mögen nun dergleichen Festsetzungen ihren guten Grund haben, oder mögen sie auf blossen Zufälligkeiten und einem Eigensinn des Sprachgebrauches beruhen, immer ist es Pflicht, sie zu beobachten; jede Verletzung derselben ist eine den Leser störende und irre leitende, die Verständlichkeit schmälernde Unpasslichkeit und Unangemessenheit. So verhält es sich z. B. mit den beiden Worten Kopf und Haupt; es sind synonyma: Haupt, der edlere, dichterische Ausdruck, Kopf der gewöhnliche, prosaische; für die Prosa unterscheiden sie sich so, dass Haupt, als das ältere, seine eigentlich sinnliche Bedeutung meist eingebüsst und eine übertragene, unsinnliche Bedeutung angenommen hat: so spricht man von dem Haupte einer Partei, nicht von ihrem Kopfe, ebenso in der Redensart die Feinde aufs Haupt schlagen: auch hier hat sich die bildliche Anschauung zu einer blossen Phrase abgeschliffen. Gleichwohl sagt man wieder: er hat einen guten, fähigen, klaren Kopf, den Kopf verlieren, er ist nicht auf den Kopf gefallen; hier ist etwas durchaus Unsinnliches gemeint, dennoch sagt man nicht Haupt, sondern Kopf. Es ist eben ein vocabulum solenne: diess bestätigt auch der Gebrauch, die Menschen nach Köpfen, das Vieh dagegen nach Häuptern zu zählen. Viertens streitet auch gegen die Regel der Angemessenheit und somit gegen das allgemeine Gesetz der Deutlichkeit die Amphibolie, ἀμφιβολία oder ambiguitas, die Zweideutigkeit oder Vieldeutigkeit der Ausdrücke. Sie entsteht, indem man ein Wort, das verschiedene, ja entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinigt, so gebraucht, dass aus dem Zusammenhange nicht klar wird, welche der Bedeutungen man zu verstehn habe, sondern dem Gegebenen nach jede Auffassung gleich richtig ist: z. B. verfolgen, welches bald feindlich nachgehn, bald angelegentlich betreiben, übersehen, welches bald überschauen, überblicken, bald vernachlässigen bedeutet. Also wäre es durchaus zweideutig zu sagen: „Du sollst die Wahrheit stets verfolgen und auch bei der Verwaltung mannigfaltiger Berufsgeschäfte Alles zu übersehen suchen.“ Die Amphibolie ist nur dann kein Fehler, wenn man ein Wortspiel, einen Witz, oder, wie das bei den Orakeln des Alterthums der Fall war, eine neckende und täuschende Räthselhaftigkeit beabsichtigt. Ein fünfter Fehler gegen die Angemessenheit ist es, wenn ein Wort zu allgemein ist für den gemeinten Begriff, wenn es vielleicht einen Gattungsbegriff bezeichnet, und doch ein Artbegriff zu bezeichnen war. Am häufigsten ist dieser Verstoss, wo von Abstracten die Rede ist. Beispiel: „Die Tugend fordert, dass wir uns über die wahre Wohlfahrt unserer Nebenmenschen freuen;“ hier ist das Wort Tugend viel zu allgemein; statt dessen sollte eine besondere Art der Tugend, etwa die Nächstenliebe, genannt sein. Eine sechste Unangemessenheit ist es, wenn man Worte, die ihrem Begriffe nach verwandt, vielleicht nah verwandt, aber doch in dieser oder jener Beziehung wieder unterschieden sind, wenn man also synonyma ohne weiteres eins für das andere gebraucht: ein Fehler, der sich auch am häufigsten da ereignet, wo er auch am gefährlichsten ist, wo er der Deutlichkeit den meisten Schaden thut, in der lehrhaften Prosa: denn natürlich wird man nichts so leicht verwechseln als synonyme abstracta. Es bedarf diess keiner weiteren Ausführung und keiner Beispiele. Eine siebente Unangemessenheit ist der Pleonasmus; er entsteht, wenn man einen Begriff, der schon in einem andern enthalten ist, noch für sich besonders bezeichnet. Beispiele: alter Greis, armer Bettler, tapferer Held, etwas noch einmal wiederholen, ich beschränke mich nur darauf, nicht länger mehr, weiter fortfahren, etwas gewöhnlich zu thun pflegen, los lösen, voll füllen. Ebenso ist es ein Pleonasmus, wenn Platen (LB. 2, 1717, 18) sagt: „Der Väter sonst'gen Ruhm.“ Eine solche Häufung stört die Deutlichkeit, indem sie ermüdet, und äfft den Verstand, der mit jedem neuen Worte auch einen neuen Begriff erwartet und dafür mit dem neuen Worte auf den alten Fleck zurückgeschoben wird. Nah verwandt ist dem Pleonasmus ein achter Fehler, die Tautologie. Nur wird hier nicht neben dem weiteren Begriff noch der mehr besondere eigens und einzeln hingestellt, sondern es wird gradezu ein und derselbe Begriff zwei- oder mehrmal wiederholt: z. B. „Nur wenigen gelingt es, sich die allgemeine Liebe und Achtung aller Menschen zu erwerben;“ ferner: einzig und allein, ehe und bevor, sintemal und alldieweil, einander gegenseitig, so also, nur allein, bereits schon, wieder zurück, mein Hut, den ich gekauft habe. Vgl. LB. 2, 1725, 29: „Wenn lallenden Tons sie zu stammeln begann die gestotterte Phrase der Unkunst.“ Ein neunter Fehler endlich, der mit dem achten beinahe ganz zusammenfällt und ohne sonderlichen Schaden auch mit zu diesem kann gezählt werden, ist die Anhäufung von Synonymen. Freilich sagen Synonymen, genau betrachtet, niemals ganz dasselbe aus, das eine wird immer mehr, das andere weniger von dem gemeinten Begriffe, das eine wird ihn von dieser, das andere von jener Seite zeigen, und in so fern wird auch die Anhäufung von Synonymen niemals eine wirkliche Tautologie sein. Gleichwohl giebt es synonyma, zwischen denen die Grenzen so unvermerkt laufen, dass auch eine Häufung derselben kaum mehr von der Tautologie zu sondern ist; und sicherlich stellt man in den meisten Fällen nicht deswegen viele synonyma neben einander, weil sie Verschiedenes, sondern eben deswegen, weil sie das Gleiche aussagen, also tautologisch sind. Am häufigsten werden geistliche Reden mit Tautologien gestreckt: z. B. „Es ist das Zeichen eines wahren, echten und aufrichtigen Verehrers der Religion, wenn ihm jede Gelegenheit, religiöse Empfindungen und Gefühle in seinem Innern anzuregen, zu erwecken, lebendig und wirksam zu machen, lieb, werth und theuer ist.“ Bisher haben wir immer nur noch von der Wahl der Worte gehandelt, inwiefern sich darin die characteristische Eigenschaft des prosaischen Stils, die Deutlichkeit, als leitendes Gesetz wirksam zeige; mit der Wahl der Worte ist aber die sprachliche Darstellung noch nicht abgethan: es gehört dazu noch die Anordnung und Verknüpfung derselben, die Organisierung der einzelnen Worte zum Satz und zur Periode. Diess also läge jetzt noch unserer Betrachtung vor. Indessen wollen wir wenigstens auf die Erörterung des Satzbaues weiter keine Zeit verwenden und zwar aus demselben Grunde, aus dem wir früherhin auch das Erforderniss der Sprachrichtigkeit nur genannt haben, um sogleich weiter zu gehn: wir würden damit aus der Stilistik in die gewöhnliche Grammatik hineingerathen, da ja den Satzbau schon die Syntax abhandelt. Wir richten deshalb unsere Aufmerksamkeit nur auf den Periodenbau. Das griechische Wort περίοδος bezeichnet ursprünglich und in seiner sinnlichen Bedeutung einen Umlauf, einen Kreislauf, eine Linie, bei deren Zurücklegung man zuletzt wieder bei demselben Puncte anlangt, wovon man früher ausgegangen ist. In übertragenem Sinne, in der Sprache der Rhetoren und Grammatiker heisst daher Periode ein Satz, der durch Nebensätze unterbrochen zuletzt wieder in sich selbst zurückkehrt. Das Wort wird jedoch nicht nur in so eingeschränkter Bedeutung gebraucht: denn es macht keinen Unterschied, ob der Nebensatz vor oder in oder hinter dem Hauptsatze steht. Einige nennen deshalb jeden erweiterten Satz eine Periode. Andere hinwiederum bezeichnen mit diesem Namen nur solche Verbindungen, die aus einem Vordersatz und einem Nachsatz bestehn. Diess ist aber ganz willkürlich. Unpractisch und unhistorisch ist es dagegen, wenn man überhaupt jeden Satz eine Periode nennt, mag er nun einfach oder zusammengesetzt sein. Wir bleiben daher am besten beim alt überlieferten Sinne; nur ist der Begriff zu eng gefasst, wenn unter Periode bloss die Verbindung von Hauptsatz und Nebensatz verstanden wird. Auch die verbundenen Sätze sind Perioden zu nennen; denn häufig genug werden zwei Hauptsätze so mit einander verbunden, dass der eine den logischen Werth eines Nebensatzes hat. Wir nennen es mithin eine Periode, wenn sich eine Mehrheit einzelner Sätze grammaticalisch zu einem Ganzen vereinigt. Einfach heisst die Periode, wenn sie aus zwei Hauptsätzen oder aus einem Hauptsatz und einem Nebensatz besteht; zusammengesetzt, wenn mehrere Hauptsätze unter einander oder mehrere Nebensätze mit einem Hauptsatze verknüpft sind. Von einer Periode ist zweierlei zu verlangen: einmal, mit Rücksicht auf den Inhalt, Ueberschaulichkeit des Gedankens; sodann, mit Rücksicht auf die äussere, sprachliche Gestaltung, Wohlklang im Ganzen der Worte und in der Stellung und Verbindung der Satzglieder. Es wird Ueberschaulichkeit verlangt, damit der Leser alle Glieder in ihrer Bedeutsamkeit erkenne, damit er sehe, welche Glieder eine höhere, welche eine geringere, welche gleiche Bedeutung haben. Dieser Zweck wird durch zwei Hauptmittel erreicht, erstens durch die Hervorhebung eines einzelnen Gliedes der Periode, als des Gipfelpunctes, und zweitens durch das Ebenmass der Glieder, wo es keiner Hervorhebung bedarf. Was der Sprechende hervorhebt, kann schon an sich selbst, logisch betrachtet, der Hervorhebung werth sein, so dass sich die grammatische Hervorhebung von selbst versteht: so ist z. B. bei einem Causalsatze die Wirkung das Vorzüglichere und wird deshalb als Hauptsatz hervorgehoben. Oder aber der Sprechende legt subjectiv einem an und für sich weniger wichtigen Satze eine höhere Bedeutung bei Z. B. um ein Bild verständlicher zu machen, gestaltet er eine Vergleichung zu einem eigenen Satze, statt sie in einen Nebensatz mit wie zu bringen. : in einem Conditionalsatze z. B. kann für den Sprechenden die Bedingung die Hauptsache sein; er wird deshalb einen Hauptsatz in der Form der Frage daraus bilden. Meistens jedoch werden in der reinen Prosa die subjectiven Gründe mit den objectiven, logischen zusammen fallen. Die Hervorhebung aber kann auf dreierlei Weise bewerkstelligt werden, entweder durch die Form des Hauptgliedes, oder durch die Stellung desselben andern Gliedern gegenüber, oder endlich durch die Verknüpfung mit den andern Gliedern. a) Das hauptsächliche Mittel der Hervorhebung durch die Form besteht darin, dass Glieder des Gedankens, die eigentlich als Nebensätze erscheinen sollten, zu selbständigen Hauptsätzen erhoben werden, dass also z. B. bedingende Sätze nicht mit wenn, causale nicht mit da oder weil gebildet werden, sondern dass man der Bedingung die Form der Frage oder des Befehles giebt und den causalen Satz mit denn beginnt. In allen dergleichen Fällen findet also eine formelle Erhebung von Nebengedanken zu Hauptgedanken, von untergeordneten Nebensätzen zu selbständigen Hauptsätzen statt. Nun können aber auch Gedanken und Sätze, die schon für sich selbständig und Hauptsätze sind, durch die Form, die man ihnen giebt, noch mehr und zu noch höherer Würde und Bedeutung hervorgehoben werden. Indessen die verschiedenen Mittel, welche diesem Zwecke dienen, gehören fast ausschliesslich den beiden höheren Stilarten an, dem poetischen und namentlich dem lyrisch-rhetorischen Stil; diese noch höhere Hervorhebung tritt gewöhnlich erst da ein, wo es Anschaulichkeit, und noch mehr, wo es Leidenschaftlichkeit gilt: die Prosa, deren alleinige Aufgabe es ist, die Gedanken in verständiger Deutlichkeit zu entfalten, enthält sich sowohl der Sache als der dazu dienenden Mittel. Nur ein einziges derselben erscheint hier schon zulässig. Es ist diess der Gebrauch, eine Behauptung in Form einer Frage auszudrücken: dadurch wird der Hörer oder Leser angeredet und so mit in die Autorschaft hereingezogen, er soll auch Ja oder Nein sagen, und der Gedanke erhält auf diese Weise zwei Autoren. Und zwar giebt man einer positiven Behauptung die Form einer negativen Frage, einer Frage, die also zu gleicher Zeit einen Zweifel ausspricht und diesen Zweifel selbst schon durch die Verneinung wieder aufhebt: z. B. „Ist es nicht eben die Gleichheit der Menschen, worauf das Wesen des christlichen Glaubens beruht?“ (Jacobi.) Dem entsprechend werden negative Behauptungen verstärkt, wenn man ihnen die Form einer positiven, keine Verneinung enthaltenden Frage giebt, und in dieser Weise den Gedanken als zweifelhaft oder ungewiss hinstellt: z. B. „Wer kann die Sonnen des Himmels zählen?“ In beiden Beispielen wird der Gedanke viel mehr hervorgehoben, als wenn man ohne fragende Form einfach sagte: Es ist die Gleichheit der Menschen, worauf das Wesen des christlichen Glaubens beruht, oder: Niemand kann die Sonnen des Himmels zählen. Wie gesagt, ausser diesem Mittel der weiteren Hervorhebung selbständiger Gedanken kommt kaum noch ein derartiges in der Prosa vor; von den übrigen werden wir also erst späterhin zu handeln haben. b) Nun die Hervorhebung durch die Stellung. Hier können wir die Hervorhebung einzelner Begriffe und Worte und die Hervorhebung ganzer Gedanken und Periodentheile parallel neben einander stellen. Was die Hervorhebung einzelner Begriffe und Worte durch die Stellung betrifft, so führt eigentlich schon jede, auch die leichteste Veränderung des gewöhnlichen Satzbaues eine solche Hervorhebung und Auszeichnung mit sich. Denn unsere Wortstellung steht so fest und beruht auf so guten logischen Principien, dass jede Abweichung von ihr auffallen muss, und man bei jeder Abweichung triftige Gründe voraussetzt. Das hauptsächlichste Mittel aber zur Hervorhebung einzelner Begriffe und die gebräuchlichste Art der Umstellung einzelner Worte ist bekanntlich die sogenannte Hauptinversion, bei welcher dem ausgezeichneten Worte die erste Stelle im Satze gegeben wird, und dann das Verbum und dann erst das Subject folgt, während sonst das Subject den Satz beginnt. Von der Hauptinversion, welche den ganzen Satz in sich selbst umstellt und umwendet, ist die Nebeninversion zu unterscheiden, wo bloss zwei einzelne Worte ihre Stellung vertauschen. Ein Beispiel der Hauptinversion: „Gottes sollst du niemals vergessen.“ Ganz das gleiche Verfahren zeigt sich nun auch, wo nicht ein einzelner Begriff, sondern ein ganzes Periodenglied, wo ein Nebensatz hervorzuheben ist. Auch hier bedient man sich zu diesem Zwecke einer Hauptinversion, d. h. man macht den Nebensatz, der eigentlich als Zwischensatz sollte eingeschaltet werden oder folgen sollte, zum Vordersatz, stellt ihn vor den Hauptsatz, dem er doch untergeordnet ist. Adverbialsätze, z. B. causale, bedingende und dergleichen, sollten eigentlich hinter dem Verbum des Hauptsatzes stehn: aber gewöhnlich stehn sie nicht da, sondern man bringt sie durch eine Hauptinversion vor den ganzen Hauptsatz, beginnt die Periode mit dem da oder weil oder wenn und verleiht so dem Grunde oder der Bedingung mehr Nachdruck. Und so beruht überall der Gebrauch von Vordersatz und Nachsatz lediglich auf dem Streben, dem Nebensatze mehr Bedeutung zu gewähren und ihn durch die Stellung mehr hervorzuheben. Noch eine eigenthümliche Art, durch die Stellung das Gewicht des Satzes zu verstärken, ist die Parenthese. Sie besteht in der Einschaltung eines selbständigen Satzes, ja einer Periode in einen anderen Satz und ist somit von dem Zwischensatz wohl zu unterscheiden. Ein Gedanke, der in solcher Weise einen andern unterbricht, der den Gang eines andern für einige Zeit still stellt, um dafür sich geltend zu machen, kündigt sich natürlich als gewichtig und bedeutsam an: daraus erhellt, dass man die Paranthese nur selten anwenden dürfe: in den meisten Fällen wird sie freilich nur angewendet aus Ungeschick, sich anders auszudrücken. Beispiel: „Auf das Unendliche (das fühlt jeder, der sich selbst versteht) ist bei uns Alles gerichtet.“ Endlich kann noch die Stellung einzelner Worte und ganzer Periodenglieder in der Weise zur Hervorhebung dienen, dass coordinierte Begriffe in der Klimax, in der Steigerung aufgeführt werden, so dass man mit dem minder Bedeutenden anhebt, mit dem mehr Bedeutenden fortfährt und mit dem Bedeutsamsten schliesst. Die Aufmerksamkeit nimmt bei einer Reihe coordinierter Begriffe oder Worte von sich selber ab: schlösse man da mit dem minder Wichtigen, so bliebe es vielleicht unbeachtet, und das Wichtigere geriethe vielleicht auch in Vergessenheit: man beginnt also besser mit dem Unwichtigsten und hält dann die Aufmerksamkeit rege durch die Steigerung der Bedeutsamkeit. Beispiel: „Wir nähern uns dem Tode mit jedem Schritt, mit jedem Athemzug, mit jedem Augenblick.“ c) Die verschiedenen Wege, durch die Art der Verknüpfung hervorzuheben, ergeben sich zum Theil schon aus dem, was vorher über die Hervorhebung durch die Form ist bemerkt worden. Untergeordnete Gedanken also, die eigentlich die Form von Nebensätzen haben und auch als solche mit dem Hauptsatze sollten verknüpft werden, hebt man hervor, indem man ihnen die Form von Hauptsätzen giebt und sie nun auch demgemäss mit der übrigen Periode verknüpft, indem man also z. B. einen causalen Satz nicht als untergeordneten Nebensatz mit da oder weil, einen concessiven nicht mit obgleich anfängt, sondern als zweiten selbständigen Hauptsatz mit denn, mit aber. Hier geschieht also die Hervorhebung zu gleicher Zeit durch beide Mittel, durch die Form und durch die Verknüpfung. Nun können aber auch noch verbundene Sätze, die schon an und für sich jeder ein selbständiger Hauptsatz sind, durch die Art der Verknüpfung hervorgehoben werden. Da gilt denn, allgemein betrachtet, ein doppeltes Verfahren. Entweder die erforderlichen Bindewörter werden ausgelassen oder angehäuft. Bei den sogenannten uneigentlichen Bindewörtern, die einen Gegensatz oder eine Begründung einführen, wie aber, sondern, denn u. s. f. gilt nur die Auslassung, nicht die Anhäufung. Bei der Auslassung bleibt natürlich die logische Beziehung, aber sie tritt nicht so hervor, und die beiden Glieder des Gedankens stehn selbständiger da. Z. B. die Worte Ev. Joh. 5, 22 οὐδὲ γὰρ ὁ πατὴρ κρίνει οὐδένα, ἀλλὰ τὴν κρίσιν πᾶσαν δέδωκε τῷ υἱῷ übersetzt Luther: „denn der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben.“ Aeltere Verdeutschungen aber lassen das sondern, das sed der Vulgata weg, wodurch der zweite Gedanke stärker hervortritt: der fater ne uberteilet niemannin: er gab daʒ urteil al demo sune (Notk. Ps. 80, 5. 85, 16). Anders verhält es sich mit den eigentlichen Bindewörtern und, oder, noch, welche den Fortgang von Gedanken zu Gedanken bezeichnen. Bei den trennenden und verneinenden oder und noch ist ihrer ganzen Bedeutung wegen die Auslassung nicht möglich und die Häufung gar nichts Ungebräuchliches: es ist vielmehr Gesetz, dass oder und noch bei jedem neuen Gliede einer längeren Reihe von Verbindungen auch aufs neue wiederholt werden. Somit bliebe nur noch von und zu reden. In einer längeren Reihe von Verbindungen wird und nur zwischen den zwei letzten Gliedern gesetzt; es kann aber auch hier weggelassen werden. Indessen fällt und nur fort unter Bedingungen und zu Zwecken, die der Prosa fremd sind, die lediglich der Poesie und dem rednerischen Stil angehören, nur zu Zwecken der Anschaulichkeit und aus Motiven der Leidenschaftlichkeit. Es gilt also für die Prosa die Regel, dass sie wohl der uneigentlichen Bindewörter entbehren könne, weil sie eben als uneigentliche entbehrlich sind, nicht aber die eigentlichen, die grade das Bedürfniss der Verständlichkeit und Deutlichkeit schon zu den ältesten Zeiten in die Sprache eingeführt hat. Das Asyndeton, denn so nennt man die Weglassung des Bindewortes, fällt daher nur der Poesie und der Rede zu. Das gleiche gilt vom Gegentheil, von der Anhäufung des Bindewortes und, dem Polysyndeton. Man bedient sich desselben nur um der lebendigsten sinnlichen Anschaulichkeit willen, einer so lebendigen, wie selbst in der erzählenden Prosa nicht am Platze ist, geschweige denn in der didactischen. Wir werden also auch vom Polysyndeton wie vom Asyndeton, erst später zu reden haben. Es war aber hier bereits darauf hinzudeuten, da grade dieses Puncte sind, an denen gar zu gern und zu leicht die abhandelnde Prosa sich in die rednerische, und die erzählende sich in die poetische Darstellung verirrt. Das erste Hauptmittel, um die prosaische Ueberschaulichkeit zu gewinnen, war die Hervorhebung: daran reiht sich als zweites das Ebenmass. Wo keine Hervorhebung bezweckt wird und bezweckt werden darf, ist dann auch danach zu streben, dass Alles in der Periode geordnet und regelrecht zugehe, dass sich kein Glied irgendwie vordränge, dass Alles an seinem gebührenden Orte stehe, dass sich Wort auf Wort und Glied auf Glied angemessen beziehe, dass ein gegenseitiges Anpassen und Anschliessen stattfinde, dass sich die Mannigfaltigkeit der Begriffe und Gedanken zu einem harmonischen Ganzen vereinige, kurz, dass in allen Stücken ein Ebenmass gehalten werde. Wir können die verschiedenen Anforderungen, die sich in dieser Beziehung aufstellen lassen, wieder unter die drei Gesichtspuncte vertheilen, von denen wir die Hervorhebung betrachtet haben: Ebenmass in der Form der einzelnen Satzglieder, in der Stellung und in der Verknüpfung. a) Für das Ebenmass in der Form gilt die allgemeine Regel: Sätze, die ihrem Inhalte nach gleiche Würde haben, sucht man auch in der grammatischen Form so gleich als möglich zu gestalten. Bei Hauptsätzen wird das namentlich dann zu beachten sein, wenn die Gedanken selber schon in einem gewissen Verhältniss des Parallelismus stehn: alsdann wird auch die Form durchaus gleichmässig gestaltet. Beispiel: „So ruht der Acker, damit er desto reicher trage; so erstirbt der Baum im Winter, damit er im Frühling neu sprosse und treibe“ (Herder). Falsch wäre es, wenn man im zweiten Gliede dieser Periode statt so etwa auf diese Art, und statt damit ein auf dass setzen wollte. Vielfältiger kommt jene Regel in Betracht, wo es sich um die Gestaltung beigeordneter Nebensätze handelt, d. h. solcher Nebensätze, die sich in gleichen Beziehungen unter einem gemeinsamen Hauptsatz vereinigen, selbst aber keiner vom andern abhangen. Solche beigeordnete Nebensätze müssen in ihrer Form das vollkommenste Ebenmass halten. Daher ist es fehlerhaft, wenn, was häufig vorkommt, von zwei gleichmässig untergeordneten Gedankengliedern nur das eine als Nebensatz, das andere aber als selbständiger Hauptsatz gebildet wird: z. B. „Ein König gleicht einem Meer, von dem man sich entfernen muss, wenn es stürmt; wenn es aber ruhig ist, fischt man Perlen daraus“ (statt: aus dem man aber Perlen fischt, wenn es ruhig ist). Ebenso verstösst es gegen die Regel, wenn von zwei Satzgliedern das eine zum Nebensatz erweitert wird, das andere aber unerweitert im Hauptsatze steht: z. B. „Es ist Spanien ein langer, von aussen und innen ungestörter Frieden und der jungen Königin, auf die jetzt alle Hoffnungen gerichtet sind, zu wünschen, dass sie einsichtsvoll und glücklich ihre Rathgeber wähle“ (Quandt, Reise durch Spanien 121). Oder: „Der Wucherer findet den Schlaf nicht vor Gewissensbissen und weil er für seine Schätze fürchtet.“ Beispiele aus Luthers Bibelübersetzung: Alles Volk sahe den Donner und Blitz, und den Ton der Posaune und den Berg rauchen, 2. Mos. 20, 18 (Accusativ und accusativus cum infinitivo). Siehe, ich sehe den Himmel offen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehn, Apostelgesch. 7, 55. Indessen wenn man nun auch mehrere gleichmässig untergeordnete Gedankenglieder alle als Nebensätze gestaltet, so kann man immer noch darin fehlen, dass man diesen nicht die gehörig übereinstimmende Form giebt. Die ältere Sprache freilich war, was solche regelrechte Gleichförmigkeit der beigeordneten Nebensätze betrifft, bei weitem nicht so ängstlich als die neuere, und das gewiss nicht zu ihrem Nachtheil. Diess gilt namentlich von beigeordneten Bedingungssätzen: mit wenn eingeleitete Nebensätze coordinierte man früher unbedenklich mit solchen, welche die Form der Frage oder der Behauptung haben: z. B. „Ist aber der Ochs vorhin stössig gewesen, und seinem Herrn ist angesagt, und er ihn nicht verwahret hat, und tödtet darüber einen Mann oder Weib, so soll man den Ochsen steinigen, und sein Herr soll sterben,“ 2. Mos. 21, 29. Oder: „Werdet ihr euch aber von mir hinten abwenden, und nicht halten meine Gebote und Rechte, die ich euch vorgelegt habe, und hingehet und anderen Göttern dienet und sie anbetet, so werde ich Israel ausrotten von dem Lande,“ 1. Könige 9, 6. Die neuere Sprache aber ist darin einmal sehr streng geworden, und wir dürfen die Regeln, so hemmend sie auch in vielen Fällen sein mögen, nicht mehr wohl bei Seite setzen. So darf man denn auch vollständige und zu Appositionen verkürzte Nebensätze einander nicht beiordnen: entweder sind beide vollständig oder beide verkürzt zu bilden. Es ist z. B. nicht erlaubt zu sagen: „Dem Könige war von seiner Gattin ein Kind hinterlassen, so schön, so sanft wie sie, und in welchem er sich wieder aufleben sah.“ Ebenso unrichtig ist es, zwei Substantivsätze zu coordinieren, von denen der eine mit dass gebildet ist, der andere bloss die conjunctivische Form der indirecten Rede hat. Ferner darf von zwei beigeordneten Adjectivsätzen nicht der eine mit welcher, der andere mit der eingeleitet werden. Und diese Anforderung ist wohl nicht so ganz äusserlich; es ist wohl nicht bloss der verschiedene Laut, der die beiden Ausdrucksarten mit der und mit welcher verschieden erscheinen lässt, sondern wohl noch ein Ueberrest von dem etymologischen und lexicalischen Unterschiede beider Wörter, die sich zu einander verhalten wie qui zu qualis; diess Bewusstsein wird stärker angeregt, sobald beide Worte neben einander stehn. Während also für coordinierte Sätze Gleichheit der Form als Regel gilt, wird als natürlicher Gegensatz die Verschiedenheit der Form beobachtet, wo mehrere Nebensätze einer dem anderen untergeordnet sind. Hier lässt sich wieder eine Parallele ziehen zwischen der Behandlung einzelner Worte und ganzer Sätze. Auch gleiche Wortformen ordnet man nicht gern eine der anderen unter: natürlich, da es schwer fällt, wenn die Wortformen gleich sind, dennoch die Verschiedenheit der Beziehung zu erkennen; man lässt z. B. nicht gern einen Genitiv von einem andern abhangen, namentlich nicht, wenn die Genitive von gleicher Flexionsart, gleichem numerus und gleichem genus sind. Als Beispiel kann hier der bekannte Ausdruck eines Exegeten dienen: „Das Verführerische des Genusses der Frucht des Baumes der Erkenntniss des Guten und des Bösen verleitete Adam und Eva zum ersten Sündenfall.“ Ebenso falsch und übellautend ist folgendes Beispiel: „Der Präsident des Ministerrathes brachte folgenden Trinkspruch aus: Auf das Wohl der Armee, des Stolzes des Thrones und des Vaterlandes, der Stütze der Charte und der Gesetze der Franzosen, der Wächterin des Friedens, des Unterpfandes des Sieges unserer Waffen.“ Vgl. Offenbar. Joh. 19, 15; 5 Mos. 31, 25. 26. Bei solcher Ausdrucksweise spinnt sich der Gedanke einseitig in einer einzigen Richtung, in einer langen Reihe immer neuer Unterordnungen fort, so dass es nachher ein langer Weg ist und ein weiter Zwischenraum, über den man nach der übrigen Masse des Satzes zurückspringen muss; ausserdem ist damit durch die Häufung des s und r ein störender Misslaut verbunden. Bis ins sechzehnte Jahrhundert wusste man diesem Uebelstande mehrfacher genitivischer Bekleidung durch eine eigenthümliche Wortstellung zu begegnen: man fieng mit dem entferntesten Genitiv an und schloss mit dem regierenden Substantiv, so dass man mit dem letzten Worte der Reihe wieder in den Verband des Satzes eintrat. Z. B. „Daʒ nieman dâ enrêrte der kinde bluotes einen trahen,“ Konrad v. Würzburg Silv. 1081. Noch bei Luther findet sich diese Wortstellung: „Zeuch in Mesopotamien zu Bethuels, deiner Mutter Vaters Haus“, 1 Mos. 28, 2. „Sie nahmen auch mit sich Lot, Abrams Bruders Sohn“, 1 Mos. 14, 12. „Da kam des Hohenpriesters Mägde eine“ Marc. 14, 66. Das Gleiche gilt auch von Infinitiven mit zu, die ja meistentheils genitivische Verhältnisse ausdrücken; es ist nicht gut, einen vom andern abhangen zu lassen. Und auch sonst vermeidet man die Unterordnung gleicher präpositioneller Bekleidungen. Es ist mithin fehlerhaft, wenn in einer Reisebeschreibung gesagt wird: „Wir stiessen auf zwei auf den Wallfischfang ausgehende Schiffe; den 19. kamen die zwei Wallfischfänger mit ihren mit Fischen beladenen Schiffen zurück.“ Auch die bekannte Cabinetsordre des Königs Ernst August von Hannover verstösst gegen die Regel, wenn es darin heisst: „Die bei dem Curatorio der, Unserm Herzen so theuern, Universität Göttingen von sieben bei derselben angestellten Professoren: Dahlmann, Albrecht, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Gervinus, Ewald und Weber gegen das, von Uns unterm 1. Nov. d. J. erlassene Patent eingereichte Protestationsschrift vom 18. Nov. ist Uns vorgelegt worden.“ Noch schlimmer steht es mit folgendem Satze: „Man hat es in Preussen, nach Art. 1 der zu beleuchtenden Instruction, für zweckmässig erachtet, vorläufig („bis auf Weiteres“ heisst es im Gesetz) ein permanentes, in drei Vereine zur Beurtheilung von ─ an Schriftstellern und Verlegern ─ an Componisten von musikalischen Werken ─ endlich an Urhebern von Werken der bildenden Kunst ─ verübten Rechtskränkungen zerfallendes Sachverständigencollegium zur Begutachtung aller in der ganzen Monarchie vorkommenden Fälle in der Hauptstadt niederzusetzen.“ Wie bei einzelnen Worten, so gilt nun das Gesetz der Formveränderung auch bei einer stufenweise immer tiefer steigenden Unterordnung ganzer Sätze; Formgleichheit ist auch hier ein Fehler: jeder untergeordnete Satz soll, wenn auch gleichartig, doch anders gebaut sein als der ihm zunächst übergeordnete. Wenn also z. B. ein indirect angeführter Gedanke von einem gleichfalls indirecten Satze abhängig ist, so wird man den einen mit dem blossen Conjunctiv, den andern mit dass bilden. Richtig sagt daher Forster: „Man sollte denken, es verstünde sich von selbst, dass die Fähigkeit zu geniessen auch eine Bestimmung dazu mit in sich schliesse.“ Fehlerhaft ist dagegen der folgende Satz Wilh. von Humboldts: „Ich habe mich bemüht zu zeigen, dass der Character der vollkommen gebildeten Sprachen dadurch bestimmt wird, dass die Natur ihres Baues beweist, dass es dem Geist nicht bloss auf den Inhalt, sondern vorzüglich auf die Form der Gedanken ankommt.“ Wie hier bei Substantivsätzen, ebenso wird auch bei Adjectivsätzen verfahren: von zwei einander untergeordneten Sätzen dieser Art wird der obere mit welcher, der untere mit der eingeleitet oder umgekehrt: z. B. „Wer kann die Zahl der Jahre berechnen, welche die zahllosen Sonnen, die wir durch die Räume des Himmels verbreitet sehen, bereits vollendet haben.“ Weicht man von dieser Regel ab, so kann der Fehler leicht zum Unsinn werden, namentlich wenn beide Relativpronomen auch noch im gleichen Casus stehn, wie in der folgenden Zeitungsanzeige: „Ein Bedienter, der lange Zeit treu und redlich einem Herrn gedient, der aber nun gestorben ist, sucht ein anderweitiges Unterkommen.“ Auch bei gleichartigen Adverbialsätzen wird die Unterordnung und Abstufung durch verschiedene, natürlich aber synonyme Fügewörter oder sonst durch den Wechsel der Form bezeichnet; von zwei einander untergeordneten Conditionalsätzen leitet man den einen mit wenn, den andern mit falls ein, oder man braucht etwa auch die Form der Frage oder des Befehls. So sagt z. B. Lessing: „Es ist immer rührend, wenn auch der schwache abgelebte Nestor sich dem ausfordernden Hector stellen will, falls kein jüngerer und stärkerer Grieche mit ihm anzubinden sich getraut.“ Fienge hier der zweite Bedingungssatz auch mit wenn an, so wäre die Ueberschaulichkeit gestört. Fehlerhaft sagt also Jacobi: „Ich kann dir deine Frage beantworten, wenn du glauben willst, dass ich es gut mit dir meine, wenn ich dir einige unangenehme Wahrheiten sage.“ Hier war abzuwechseln und das zweite wenn gegen indem zu vertauschen. Aber das Streben nach Formveränderung geht noch weiter. Nicht bloss die Anhäufung gleicher Wendungen wird vermieden, sondern sogar eine zu grosse Menge bloss ähnlicher. Es wird undeutlich, sobald man mehrere gleiche präpositionelle Bekleidungen eine der andern unterordnet; aber auch undeutlich, sobald überhaupt zu viele präpositionelle Bekleidungen wiederkehren, wenn auch die Präpositionen nicht die gleichen sind: diese Art der Bekleidung ist immer zu ähnlich, und auch das verwirrt und stört. Beispiel: „Das Oel aus den Oliven von den Bergen bei Aix in der Provence ist besonders fein.“ Oder noch fehlerhafter: „Am Donnerstag den 9. Mai fuhren der König und die Königin von Griechenland nebst ihrem Gefolge in vier Vierspännern vom Palais durch die Strassen der Stadt auf der neuen trefflich ausgeführten Chaussée durch den Olivenwald über Daphni und Eleusis durch das baumreiche Gebirge von Kontoura nach Eleutherä.“ Ferner ist es, wie bemerkt, undeutlich, gleichartige Nebensätze in gleicher Form einen dem andern zu subordinieren; aber man vermeidet überhaupt eine zu grosse Reihe von Nebensätzen, deren je einer sich dem andern immer wieder im Verhältniss der Unterordnung anschliesst, sollte auch die Form wechseln und auch die Art der Verknüpfung verschieden sein. Beispiel: „Kaum hatten sich die Römer eine Strecke vom Lager entfernt, als der Angriff der Germanen mit dem grössten Ungestüm begann, welcher, von stätem Ungewitter begleitet, bis an den sinkenden Abend dauerte, wo die Römer abermals eine lichte Stelle erreichten, auf welcher sich eine kleine Anhöhe erhob, die eine römische Heeresabtheilung besetzte, welche dabei unzählige Leute verlor.“ Hier haben wir zwar lauter verschiedene Arten der Unterordnung; aber schon das immerfort wiederkehrende Verhältniss der Unterordnung macht ein Glied der Periode dem andern zu ähnlich und hebt durch diese Einförmigkeit in der Entwickelung des Gedankens die rechte Ueberschaulichkeit desselben auf. b) Wir wenden uns nun zur Besprechung des Ebenmasses in der Stellung, fassen aber hier nur die Nebensätze ins Auge, und zwar zunächst in ihrem Verhältnisse zu den Sätzen, denen sie untergeordnet sind, sodann im Verhältniss zu andern beigeordneten und endlich im Verhältniss zu andern weder über- noch beigeordneten Nebensätzen. Unterordnung der Nebensätze unter andere Sätze. Adjectivsätze und solche Substantivsätze, die nicht die Stelle des Subjects einnehmen, pflegen in den übergeordneten Satz als Zwischensätze eingeschaltet zu werden, indem sie dicht beim bekleideten Worte stehn: z. B. „Die gewöhnliche Beschuldigung, dass in den Zeiten des Faustrechtes alle andern Rechte verletzt und verdunkelt werden, ist sicherlich falsch“ (Joh. v. Müller). Doch trennt man wohl auch dergleichen Erweiterungen von dem Worte, auf das sie sich beziehen, und lässt den Nebensatz erst hinter dem Hauptsatze folgen: z. B. „Wo ist die Kraft, die mit dem Geiste verglichen werden könnte, der diesen Körper beseelt?“ (Schiller). Diese Stellung erhält der Nebensatz besonders dann, wenn nach ihm nur ein kleiner Theil des Hauptsatzes, vielleicht nur ein einsilbiges Wort übrig bliebe. Hier lässt man des Ebenmasses und auch des Wohlklanges wegen lieber den ganzen Hauptsatz beisammen. Es ist mithin nicht gut, wenn Wieland sagt: „Die Christen standen allen Verführern, welche den Geist ihres Meisters zu heucheln und die Stimme des guten Hirten nachzuäffen wussten, bloss.“ Zu weit aber darf der Nebensatz auch nicht von dem bezüglichen Worte des Hauptsatzes abliegen; besonders wenn andere Worte dazwischen treten, auf die man ihn nun fälschlicher Weise beziehen könnte, wie das in den folgenden Beispielen der Fall ist: „Nû nam der zwelver iegeslich zwelf tûsent ritter zuo sich, die ich dâ vor hân genant“, Strickers Karl 51 b . „Der Maler N. malt Bildnisse zu den billigsten Preisen, die in jeder Beziehung als gelungen dürfen bezeichnet werden.“ Namentlich dürfen zu Appositionen verkürzte Adjectiv- und Adverbialsätze nicht zu weit von ihrem Substantiv abliegen, und an die Spitze des Hauptsatzes dürfen sie nur dann gestellt werden, wenn sie das Subject mit demselben gemein haben. Mithin ist es nicht richtig zu sagen: „Tiefgebeugt von dem unerbittlichen Schicksal, entriss mir der Tod meinen geliebten Mann“ (statt: verlor ich durch den Tod u. s. w.). Oder: „Noch betrübt über das Hinscheiden unserer Schwester, raubte uns der Tod abermals unsern Bruder“ (statt: Während wir noch betrübt waren u. s. w.). Noch zweierlei ist über die Zwischensätze zu bemerken: sie dürfen nicht zu lang sein, und es dürfen ihrer nicht zu viele in einander geschoben werden. Lange Zwischensätze sind überall ein Uebel: je länger ein Zwischensatz sich ausdehnt, desto ferner tritt der Inhalt und Zusammenhang des übergeordneten Satzes, und zuletzt verliert man ganz den leitenden Faden. Wo aber dieser Uebelstand nicht zu vermeiden ist, und dergleichen kommt oft genug vor, da kann man die Deutlichkeit am besten dadurch retten, dass man, sobald der Zwischensatz abgethan ist, den übergeordneten Satz entweder wirklich von Neuem beginnt, oder doch mit einer kurzen Rückdeutung auf das bereits Dagewesene fortsetzt. Ein althochdeutsches Beispiel und zugleich einen Beleg für den Barbarismus des elften Jahrhunderts bietet Willirams Erklärung des Hohen Liedes 33, 26: „Ih gescaffo daʒ die keisere unte die cuningâ unte andere werltvurston die nu sizzent in demo hêrstuole, unte sie wider dir superbiunt mit liste unte mit grimme alse die pardi unte die lewon, daʒ sie adorabunt vestigia pedum tuorum.“ Was dann ferner die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen anbelangt, so muss man sich besonders hüten, den zweiten Nebensatz gleich hinter dem Fügeworte des ihm übergeordneten ersten einzuschalten: es muss jedesmal wenigstens auch schon das Subject da gewesen sein, damit man doch einigermassen etwas von dem Inhalt des oberen Nebensatzes in Händen habe und dadurch befähigt sei, das Verhältniss beider Sätze zu einander aufzufassen und zu beurtheilen. Es ist also falsch, wenn Wilh. von Humboldt sagt: „Es genügt, wenn, da der Geist immer unbewusst danach verfährt, er für jeden einzelnen Theil einen solchen Ausdruck findet, der ihn wieder einen andern mit richtiger Bestimmtheit auffassen lässt,“ eine Periode, die gegen die Regel fehlt, welche sie selber ausspricht. Bei einer solchen Behandlung der Nebensätze wird die Periode ungefüge und unverständlich, und es ist beständiger Anlass gegeben zu sogenannten Anacoluthien, zu fehlerhaften Constructionsveränderungen. So ist es z. B. ein gewöhnlicher Fehler, Nebensätze, welche durch einen temporalen, causalen oder conditionalen Zwischensatz unterbrochen sind, nachher so weiter zu führen, als wären sie selbst unabhängige Hauptsätze. Z. B. „Klopstock hat sich gewisse Gegenstände der Religion so eingedrückt, dass, wenn er im Laufe der Erzählung oder der Betrachtung auf sie geräth, so verweilt er dabei und bricht in Empfindungen aus, die bei dem Leser nicht genug vorbereitet sind.“ Aehnliche Beispiele in Luthers Bibelübersetzung: 1 Kön. 9, 8; 2 Kön. 4, 10; 18, 21; Jes. 36, 6; Luc. 16, 26; Joh. 11, 22. 31; Röm. 3, 19; Hebr. 13, 23. In der alten Sprache kommen dergleichen steife Satzgebäude nicht vor: entweder erlaubte man sich eben noch Anacoluthien, man beschloss den Satz anders, als er begonnen war, z. B. „Sô werdent dîne doctores quasi botri vineae, wante sie iro auditores, die sie zêrist ziehent mit lacte historiae, sô sie ieht robustiores sensibus werdent, sô trenchent sie se mit vino mysteriorum“, Williram 65, 4; oder man pflegte da den zweiten Nebensatz voranzustellen, z. B. „Tô kebôt er, sie nerûmdin Ravenna êr demo tagedinge daʒ er in legeta, daʒ man sie under ougôn zeichendi“ (im Antlitz brandmarken sollte), Boeth. 23. Die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen ist besonders dann ein Uebelstand, wenn sie stufenweise immer weiter schreitet, wenn in den eingeschalteten wieder einer eingeschaltet wird u. s. f., so dass man zuerst eine Reihe von lauter Satzanfängen, dann eine zweite Reihe von lauter Satzschlüssen hat, und die Periode aussieht, wie ein Pack Schachteln, von denen eine in der anderen steckt. Beispiel jene Bekanntmachung einer preussischen Behörde: „Der, der den, der den den 25. August noch stehenden Laternenpfahl umgeworfen hat, kennt, ist ersucht, ihn gehörigen Orts anzuzeigen.“ Oder: „Die Gesetze der Schwere, wie sie Newton und andere grosse Astronomen, welche dadurch einen Ruhm, der bis in die Ewigkeit dauern wird, erlangt haben, aufstellten, sind jetzt allgemein bekannt.“ Der gleiche Fehler kommt schon innerhalb einfacher Sätze vor, bei einzelnen Worten, indem man gleichartige Bekleidungen eine der andern u. s. f. unterordnet und je eine in die andere hineinschiebt; z. B.: „Man meldet noch die Verhaftung von zwanzig jungen Leuten, die eingestanden, dass sie zu einem von einem vor einem Monat getödteten Diener des Herrn von Mesnard befehligten Haufen gehört hätten.“ Ebenmass in der Stellung beigeordneter Satzglieder und Nebensätze. Einander beigeordnete einzelne Satzglieder werden der Regel nach neben einander gehalten, eine Regel, die wenigstens in der Prosa nicht darf ausser Acht gelassen werden. Ein auffallendes Beispiel von Verletzung dieser Regel bietet eine Periode Wilh. von Humboldts, wo das eine Prädicat in die Mitte zwischen mehrfache Subjecte gestellt ist: „Durch einzelne Bilder der Phantasie den Geist auf einen hohen und weitumschauenden Standpunct zu führen, ist die schöne Bestimmung des Dichters, vermittelst durchgängiger Begrenzung seines Stoffes eine unbegrenzte und unendliche Wirkung hervorzubringen, durch Ein Individuum einer Idee Genüge zu leisten, und von Einem Puncte aus eine ganze Welt von Erscheinungen zu eröffnen.“ Wie mit einzelnen Satzgliedern, so verhält es sich auch mit ganzen beigeordneten Nebensätzen. Sie müssen immer neben einander stehn, entweder vor oder nach dem Hauptsatze oder in denselben eingeschaltet; sie dürfen nie durch ihn getrennt werden. Eine merkenswerthe Freiheit der alten Sprache ist es, Perioden, die aus einem zusammengesetzten Vordersatz und einem Nachsatz bestehn, so zu bauen, dass der Nachsatz mitten inne zwischen die beiden Theile des Vordersatzes eingeschoben wird. Dergleichen findet sich noch bei Luther: „Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr auch alt ist“, 1 Mos. 18, 12. „Und der noch nicht ist, ist besser, denn alle beide, und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht“, Pred. Salom. 4, 3. Ebenmass in der Stellung ungleichartiger Nebensätze. Nebensätze, die nicht in derselben Beziehung zum Hauptsatze stehn, die also nicht einander beigeordnet, die aber auch nicht einer dem andern untergeordnet sind, dürfen nicht neben einander gestellt, sondern diese müssen durch den Satz, der ihnen übergeordnet ist, oder durch ein Stück desselben getrennt werden. Mit Recht sagt also Wieland: „Immer wird viel Behutsamkeit von Nöthen sein, damit wir den Menschen, indem wir ihnen Gutes zu thun glauben, nicht Schaden zufügen, wenn unsere Arznei noch schlimmere Wirkungen thut, als das Uebel ist, dem wir abhelfen wollen.“ Falsch ist es dagegen zu sagen: „Wird der Geist sichs nicht mit der frohesten Zuversicht sagen, dass er sich unversehrt und frei in die höhern Verbindungen hinüber retten wird, deren Mitglied er schon ist, sobald ihn der Tod von der Erde vertreibt?“ Hier sollte der Adjectivsatz (deren Mitglied er schon ist) unmittelbar dem Worte angereiht werden, zu dem er gehört. c) Das rechte Ebenmass in der Verknüpfung der Periodenglieder wird dadurch erreicht, dass man ein Hauptgesetz beobachtet, nämlich diess, die Verknüpfung nicht bloss nach dem Inhalt, sondern auch nach der Form der bezüglichen Sätze und Satztheile zu gestalten: richtet man sich bloss nach dem Inhalt, so wird man leicht und oft gegen die Grammatik, gegen die Regel der Richtigkeit verstossen; richtet man sich nach der Form, so ist damit, weil ja die Form den Inhalt in sich schliesst, meistens zugleich auf den Inhalt Rücksicht genommen, und man kann nicht wohl fehlen. Wir wollen hier wiederum die Beziehung von Satz auf Satz mit der von Wort auf Wort zusammenstellen. Was zuerst diese betrifft, so gilt es jenem allgemeinen Gesetze gemäss für einen Fehler, wenigstens jetzt und in der ausgebildeten Schriftsprache für einen Fehler, auf ein Wort hinzudeuten, das selber gar nicht vorkommt, sondern nur implicite in einem andern enthalten ist, einem andern davon abgeleiteten oder damit zusammengesetzten. Dergleichen Fehler finden wir jedoch bei den besten Schriftstellern der ältern wie der neuern Zeit. So sagt z. B. Schiller: „Tilly erschien in der Mitte des Winters an der Spitze von 20000 Mann vor Frankfurt a/O., wo er sich mit dem Ueberrest der Schaumburgischen Truppen vereinigte. Er übergab diesem Feldherrn die Vertheidigung Frankfurts mit einer hinlänglich starken Besatzung.“ „Niowiht ne ist hârlôs noh zanelôs âne daʒ siu haben solta unde aber ne hât“, Aristot. Org. 336. So darf man denn auch keinem zusammengesetzten Substantiv eine Bekleidung beigeben, die nur auf den ersten Theil dieser Zusammensetzung geht. Dagegen fehlt namentlich die Sprache des gewöhnlichen Lebens; aber auch die ältere Zeit bietet Beispiele: „dirre geladen wagenman“, Glosse zum Sachsenspiegel 2, 59; „schone wiphurre“ LB. 1 4 , 215, 26. Unrichtige Bekleidungen eines zusammengesetzten Substantivs mit einem Genitiv sind z. B. die Todesnachricht Napoleons, ein Beförderungsmittel guter Sitten, Sittengemälde der Völker, Reinigungsdienst der Strassen, Zeichenlösung der Hunde (Basler Kantonsblatt), das wirksamste Verlängerungsmittel des menschlichen Lebens (Titel eines Buches von Zwierlein, Frankfurt 1817). Falsch sind ferner folgende präpositionell vermittelte Bekleidungen: Reisegelegenheit nach Zürich, Vorbereitungszeit auf die Ewigkeit; Pflichterfüllung gegen das Vaterland, Reisebeschreibung während der Ferien, Eisenbahnconcession bis Basel, Reisetagebuch durch Deutschland, Reiselust nach Riesenheim (Chamisso, LB. 2, 1660, 10), Russlands und Deutschlands Befreiungskriege von der Franzosenherrschaft (Titel eines Buches von Venturini, Leipzig 1816). Am häufigsten und bei der noch grösseren Unmittelbarkeit der Verbindung noch auffälliger sind adjectivische Bekleidungen zusammengesetzter Substantiva wie: wohlriechender Wasserfabricant, beinerner Knopfmacher (Basler Kantonsblatt), gedörrter Obsthändler, zahlreicher Familienvater, schwarze Hühnereier (Kreutzwalds und Löwes Estnische Märchen S. 34), ausgestopfte Thierhändlerin, aufgelöste Klosterjungfrauen, höchst gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land, billige Verkaufsanzeige, verwahrloste Kinderanstalt, gegenseitige Hilfsgesellschaft, reitende Artilleriecaserne, todtgeborene Kindersärge, weisser Sclavenmarkt, Taverniers vierzehnjährige Reisebeschreibung, aetherische Oelfabriken, roher Seidenhändler, harte Strafanwendung (Augsb. Allgemeine Zeitung), toller Hundsbiss, alter Weibersommer, Lieder für arme Kinderanstalten (Knapp), kurzer Aufenthaltsort, goldenes Hochzeitsgeschenk, spanische Schuldinhaber, unverzinsliche Vorschusscasse, physikalischer Instrumentenmacher, wollener Strumpfweber, fortschreitendes Bewegungsprincip, körperlicher Bildungsunterricht, rothe Schneckenbrühe, kleines Kindergeschrei, kleine Fingerspitze, französische Pensionsanzeige, gezogenes Geschützsystem, indianische Feigenhecke, gegenseitige Versicherungsgesellschaft gegen den Hagel, rother Weintrinker, wilder Schweinskopf, schwarze Kaffetasse, bittre Mandelseife, blödsinniger Kinderarzt u. s. w. Einiges, was ganz und gar derselben Art ist, ist so üblich geworden, dass wir uns daran nicht mehr stossen, sondern alle Welt es gebraucht, als wäre nun das in vollkommener Ordnung: z. B. Deutsche Sprachlehre, griechische Litteraturgeschichte, bairische Bierbrauerei, königlich bayerische Oberaufschlagsamt-Controleurs-Wittwe, schwarzer und rother Adlerorden, Verein für ältere Geschichtskunde, Lebensbeschreibung Karls des Grossen, Stundenverzeichniss des Gymnasiums, grober Sünder u. s. w. Man sieht, was die Gewohnheit macht. Eben jenes Gesetzes wegen ist endlich auch Rücksicht zu nehmen auf Geschlecht und Zahl der Worte: man darf auf ein Neutrum wieder nur in neutraler, auf einen Singular wieder nur in singularischer Form zurückdeuten. Zuweilen widerstreitet aber doch die grammatische Form zu sehr der Wirklichkeit und dem concreten Begriff: da gewinnt denn im weiteren Gange der Rede das natürliche Geschlecht alsbald auch das Uebergewicht, wenigstens wo man nicht gar zu pedantisch sprechen will. Es werden also z. B. Weib, Fräulein, Mädchen, Frauenzimmer, Kind, Väterchen, Mütterchen im weiteren Verlaufe als feminina oder masculina verstanden und dem entsprechend persönliche Singulare von collectivem Sinn als Plurale. Z. B. „Die Menge, die dich zerstreuen, werden so viele sein als ein dünner Staub“, Jes. 29, 5. „Dô sand ein rât nâch im, und muotetent im an in ze sagen“ u. s. w. Justinger 78. „Eine falsche Zunge hasset, der ihn strafet“ Sprüche 26, 28. „Ein Mädchen schön und wunderbar. Sie war nicht in dem Thal geboren“ (Schiller). Dergleichen Veränderungen von genus und numerus nennt die griechische Grammatik synesis (d. h. Zusammentreffen, Zusammenfliessen), die lateinische constructio ad sensum. Eben jenes Grundgesetz nun und eben solche Freiheiten in der Beobachtung desselben walten auch bei der Verknüpfung ganzer Sätze. Namentlich kommen hier die zusammengezogenen Sätze in Betracht. Verbundene, nämlich durch eigentliche Bindewörter verbundene Sätze können nur dann zusammengezogen werden, d. h. es ist nur dann erlaubt, den Begriff oder die Begriffe, die sie mit einander gemein haben, bloss einmal auszusprechen, sobald diese Begriffe nicht nur dem Inhalte, sondern auch der grammatischen Form nach mit einander übereinstimmen und so in beiden Beziehungen wirklich beidemal dieselben sind. Es genügt z. B. nicht, dass in zwei verbundenen Sätzen der Begriff Herr bloss dem Inhalte nach vorhanden sei: er muss auch, wenn auf diesem Puncte die Zusammenziehung vor sich gehn soll, in beiden Sätzen gleiche Form haben, in beiden Subject oder in beiden Object sein. Man darf also nicht sagen: „Das erst ist die vollkommene Freiheit, einen Herrn weder zu haben noch zu sein“ (statt: weder einen Herrn zu haben, noch ein Herr zu sein). Es darf aber auch nicht umgekehrter Weise zwar die Form beidemal die gleiche, aber der Inhalt ein verschiedener sein, wie z. B. in folgenden Perioden: „Den älteren Sohn hatte der Fürst verloren und nur den jüngeren noch am Leben.“ „Der Spaziergang erstreckt sich der ganzen Länge des Seeufers nach, nimmt aber schon um vier Uhr ein Ende.“ Ungenauigkeiten kommen namentlich bei der Zusammenziehung verbundener Nebensätze vor. In der älteren Sprache findet sich dergleichen von aller Art, aber auch die neuere, selbst in der Feder der besten Schriftsteller, ist nicht frei davon. Wenn z. B. zwei Nebensätze gleiches Fügewort haben, dieses aber in verschiedenem Casus steht, so sollte es eigentlich beidemal ausgesprochen werden. Göthe setzt in diesem Falle das Fügewort nur einmal, nur im Beginn des ersten Nebensatzes, z. B. „Dieses Anerbieten, das ich für kein leeres Compliment halten durfte und für mich höchst schmeichelhaft war, lehnte ich jedoch dankbarlichst ab.“ Ein anderer häufiger Fehler ist der, dass man von zwei verbundenen Adjectivsätzen den zweiten nicht mit dem Fügewort, dem pronomen relativum, einleitet, sondern statt dessen ein pronomen personale oder demonstrativum einschaltet. Beispiel: „Die Gesellschaft ward unterwegs von Seeräubern überfallen, die sie anfangs zwar nach einem kurzen Gefechte zurücktrieben (Synesis), bei dem zweiten Anfalle aber von ihnen überwunden wurden“ (statt: von denen sie aber u. s. w.), Fischer, Geschichte des t. Handels 1, 259. Oder: „Hier lag ein Dorf, dessen Namen ich zwar nicht kannte, mich aber wohl erinnerte schon früher in demselben gewesen zu sein“ (statt: in dem ich mich aber u. s. w.). „Um der Sünde willen Jerobeams, die er that und damit Israel sündigen machte“, 1 Könige 15, 30. Noch ärger ist es, wenn der zweite Nebensatz eigentlich dem ersten untergeordnet sein sollte, aber doch mit demselben zusammengezogen und nur das Fügewort dieses ersten ausgesprochen wird, als ob sie einander beigeordnet wären und das Fügewort gemein hätten. So z. B.: „Hier befand sich der Käfig des Vogels, in welchem dieser die Nacht zuzubringen pflegte, bei Tage aber frei nach Nahrung umherflog“ (statt: während er bei Tage u. s. w.). So viel von der Ueberschaulichkeit; wir haben nur die wichtigsten Regeln besprochen und die, gegen welche am häufigsten gefehlt wird. Nächst der Ueberschaulichkeit, die theils durch Hervorhebung einzelner, theils durch Ebenmass aller Glieder bezweckt und hervorgebracht wird, verlangt man von einer Periode auch noch Wohlklang; es stellt sich damit neben jene mehr materiellen Forderungen noch eine ganz und gar formelle. Wohlklang wird aber gleich der Ueberschaulichkeit gefordert, um der letzten und hauptsächlichen Aufgabe willen, die jede prosaische Darstellung zu erfüllen hat, um der verständigen Deutlichkeit willen, und um die Ueberschaulichkeit zu unterstützen. Denn die Sinne haben auf die Seele, der sie das äusserlich Wahrgenommene und Empfundene mittheilen, eine so entschiedene Einwirkung, und Lust oder Unlust der Sinne befördern oder stören so sehr die Seelenthätigkeit, dass auch eine sprachliche Darstellung, welche dem Gehör wohlgethan hat, leichter verstanden, leichter überschaut, leichter reproduciert wird als eine, die das Gehör durch Missklang verletzt. Also auch Wohlklang wird von einer Periode gefordert, und auch dieser nur um der Deutlichkeit willen. Dabei sind aber Wohlklang und Wohllaut nicht zu verwechseln. Der Wohllaut beruht auf der Wahl und der Mischung der einzelnen Vocale und Consonanten; darauf, dass stärkere und schwächere, hellere und dunklere Vocale, härtere und weichere, schwerere und leichtere Consonanten mit einander abwechseln; dass sich nicht derselbe Laut zu viel Mal hinter einander wiederhole, ausser wo es etwa ausdrückliche und wohlbegründete Absicht ist und dergleichen. Indessen das sind Dinge, die den Bau der Periode gar nichts angehn, sondern die nur bei der Wahl der einzelnen Ausdrücke und zum Theil auch nur für den dichterischen Stil in Betracht kommen; überhaupt aber möchte es schwer sein, und gradezu verwegen wäre es, darüber umfassende Regeln geben zu wollen: denn wer könnte dabei all die Besonderheiten der Sprechenden und der besprochenen Gegenstände vorsehen, auf die doch nothwendig müsste Rücksicht genommen werden? Will man hier eine Regel geben, so ist es etwa nur diese ganz allgemeine: Denke richtig und gieb jedem Begriff den angemessenen Ausdruck: es liegt in der Sprache eine solche Nothwendigkeit der Form, eine so innige Beziehung zwischen Form und Inhalt, dass alsdann die Worte sowohl für sich als in ihrer Verbindung mit andern grade den rechten Laut und Wohllaut haben werden. Vom Wohllaut also, der auf der Wahl und Anordnung der einzelnen Vocale und Consonanten beruht, ist nicht weiter zu reden, sondern vom Wohlklang. Der Grund des Wohlklangs aber liegt in einer anderen Seite der sprachlichen Gestaltung, im Ton, im Accent; nicht in den Lauten, sondern in der Betonung, welche sie begleitet; nicht in irgend einem Wechsel vocalischer und consonantischer Laute, sondern in dem Wechsel höherer und tieferer Töne, also in der rhythmischen Gliederung der Accente. Und das geht wirklich die Periode in ihrer Gesammtheit, geht wirklich den Bau derselben an und unterliegt auch sehr wohl einer Berechnung und Bestimmung durch feste Regeln. Der Grundrythmus der deutschen Sprache ist der trochäische, er besteht in dem Wechsel von betonten und unbetonten, von hochtonigen und tieftonigen Silben, von Hebungen und Senkungen: das Wort rathen z. B. enthält eine betonte und eine unbetonte Silbe, rathsam eine stärker und eine schwächer betonte, eine hochtonige und eine tieftonige. Diess Verhältniss ist natürlich, weil es eine Grundregel der deutschen Sprache ist, dass auf die erste Silbe eines Wortes der höhere oder der einzige Ton fällt; hievon machen nur Composita eine Ausnahme. Den einzelnen Worten können wir nun auch hier wieder die Sätze parallel gegenüber stellen. Wie die einzelnen Worte trochäisch sind, so ist auch der Rhythmus des einfachen Satzes und der Periode ein trochäischer: auch der Satz beginnt mit einem gehobenen Gliede und endigt mit einem gesenkten; er kann mithin als ein einziger Trochäus aufgefasst werden. Dieser trochäische Rhythmus zeigt sich schon bei dem einfachsten Satze. Jeder Satz beginnt, wenn er die gewöhnliche Wortfolge hat, mit dem würdigsten Worte, dem Subject und dem Verb, und schliesst mit dem minder bedeutenden. In dem Satze: „Gott lenkt die Welt“ bilden das Subject und das Verb die Hebung, das Object die Senkung. Wenn aber ein anderes Glied als das Subject den Hauptton hat und die höchste Würde anspricht, so darf das Subject nicht an der Spitze des Satzes bleiben, es tritt eine Hauptinversion ein, wodurch wiederum der trochäische Rhythmus hergestellt wird: z. B. „Also hat Gott die Welt geliebt“; hier ruht auf dem ersten Worte der Hochton; der Schluss des Satzes ist tieftonig. Eine Ausnahme von dieser allgemein gültigen Regel machen bloss die Fragesätze: hier ist der Rhythmus des Satzes ein iambischer, die Stimme erhebt sich am Ende desselben um anzuzeigen, dass der Gedanke unvollständig sei; die Senkung soll erst durch die Antwort hinzugefügt werden. Abgesehen von dieser einen Ausnahme liegt die Senkung immer am Schlusse des Satzes. Es ist daher ein Fehler nicht bloss gegen die Ueberschaulichkeit, sondern auch gegen den Rhythmus, wenn man, wie wir schon früher (S. 356) gesehen haben, einen Satz durch Zwischensätze unterbricht, dass nur ein kleiner Theil übrig bleibt: z. B. „Welche Verantwortung ladet man sich auf, wenn man die Einsicht der Oberen zu unverdienten Nachlässen, womit nach einer nothwendigen Folge Andere wieder beschwert werden, verleitet.“ Das letzte Wort erhält auf diese Weise einen höhern Ton, als ihm eigentlich zukommt, und der Rhythmus des Satzes wird jambisch. Die allgemeine Regel vom trochäischen Rhythmus spiegelt sich auch in der Gestaltung einzelner Satzglieder zurück: höher betonte Glieder treten vor die tiefer betonten. Das Substantiv z. B. ist wichtiger als das zu seiner Bekleidung dienende Adjectiv. Nun setzt freilich die heutige Sprache das Adjectiv vor das Substantiv, so dass jambischer Rhythmus entsteht; die alte Sprache verfuhr umgekehrt, sie setzte das Adjectiv gern hinter das Substantiv, ein Gebrauch, der in der dichterischen Sprache auch jetzt noch häufig genug ist. Umgekehrt verhält es sich mit der genitivischen Bekleidung eines Substantivums: während jetzt der Genitiv seinen Platz meist hinter dem bekleideten, regierenden Substantiv hat, stellte ihn die ältere Sprache vorzugsweise vor dasselbe, wie diess noch in vielen Zusammensetzungen zu sehen ist, z. B. Freundesdienst, Kindespflicht, Liebeslied, Andachtsbuch. Besonders deutlich zeigt sich das Streben nach trochäischem Rhythmus da, wo mehrere von einander abhangende Verbalformen einen Satz beschliessen. Nach der strengen Wortfolge sollte man also z. B. sagen: „Der Fromme glaubt nicht, dass ihn Gott verderben lassen wollen werde.“ Zwischen den vier letzten Worten ist aber kein trochäisches Verhältniss mehr, sie bilden vielmehr einen Päon primus (_ ‿ ‿ ‿). Wie nun dieser Fuss auch da, wo es auf rhythmische Zusammenstellung von Silben ankommt, im Deutschen wegen der Aufeinanderfolge von drei unbetonten Silben unmöglich ist, so duldet man auch nicht jenen Päon von Worten, sondern man stellt sie so um, dass der Satz trochäischen Schluss erhält und sagt: „Der Fromme glaubt nicht, dass ihn Gott werde wollen verderben lassen.“ Von der rhythmischen Gestaltung des Satzes im Allgemeinen unterscheidet sich wesentlich die rhythmische Anordnung der einzelnen Silben. Diese gehört zur Technik der Poesie, wo schöne Form verlangt wird. In der deutschen Poesie überwiegt bei weitem der jambische Rhythmus, und es beruht hierauf eben auch die Verschiedenheit von der Prosa. Diese, als der unmittelbare Ausdruck des Verstandes, bleibt bei dem trochäischen Rhythmus stehn, und in demselben Grade, als die Poesie das Widerspiel gegen die Prosa zu halten trachtet, wird in dieser Alles vermieden, was in die poetischen Rhythmen hinüberspielen könnte. Aber auch der trochäische Rhythmus darf in der Prosa nur im Ganzen und Grossen vorkommen, und es gilt als ein Fehler, wenn in einem Satze Silbe für Silbe Hebung und Senkung mit einander wechseln, wenn die einzelnen Worte Trochäen bilden, wie etwa in folgendem Satze: „Wenn wir immer glücklich und zufrieden leben wollen, müssen wir vor allen Dingen nicht so viel bedürfen.“ Oder bei Wieland: „Die Streitigkeiten mussten unvermerkt den Geist der Liebe, der Eintracht ersticken, der aus allen Gemeinden einen einzigen Leib, deren Seele Christus wäre, hätte machen sollen.“ Nicht minder falsch ist es, wenn die Prosa in dactylischen Rhythmus verfällt: z. B. „Grünende Matten und blühende Bäume wechseln, so weit man das Auge sendet;“ oder wenn man in Jamben hinein geräth, was da besonders häufig ist, wo man sich aus der Abhandlung in das Gebiet der Rede oder aus der Erzählung in das der Poesie verliert. Dergleichen findet sich nicht selten in Schleiermachers Monologen, bei Achim von Arnim und namentlich in Gessners Idyllen. Aus rhythmischen Gründen sind auch die mehrmaligen Wiederholungen ähnlicher Wendungen zu vermeiden; sie erzeugen leicht einen widrigen Gleichklang. Insbesondere gilt diess von der Anhäufung mehrerer Genitive, von der Construction eines Infinitivs mit zu hinter einem Infinitiv mit zu, von der Einschaltung eines Zwischensatzes in einen andern Zwischensatz. Auch mehrere gleichgebaute Hauptsätze auf einander folgen zu lassen, ist ein Fehler, weil dadurch der gleiche syntactische Rhythmus wiederholt wird. Eine Ausnahme hiervon ist nur dann gestattet, wenn ein innerer Parallelismus der Sätze stattfindet, namentlich wenn die Gedanken eine Klimax bilden. Mit vollem Recht sagt daher Lessing: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht, mit einem mittelmässigen verfährt man gelinde, gegen einen grossen ist man unerbittlich.“ Wo aber kein derartiges Verhältniss waltet, vermeidet man die Gleichmässigkeit: man lässt lieber eine materielle Steigerung eintreten und giebt dem letzten Theil eine grössere Ausdehnung: z. B. „Der Dichter soll zwar die Einbildungskraft anregen, aber nicht so, dass er die Vernunft zerrütte; er soll den Witz schärfen, aber nicht so, dass die geselligen Tugenden leiden; er soll die Liebe besingen, aber nicht so, dass wir ihren Ausschweifungen oder gar ihren natürlichen Ausartungen Beifall zollen.“ Es fragt sich nun, wie sich die im Vorhergehenden besprochene Regel auf Vordersatz und Nachsatz anwenden lasse. Vordersatz und Nachsatz einer Periode werden als Hebung und Senkung gesprochen; im erstern steigt die Stimme, im letztern fällt sie, sinkt sie herab. Und das mit vollem Rechte. Der Nebensatz ist der Auszeichnung und Hervorhebung wegen vorangestellt und trägt darum auch den Hauptton, während der Hauptsatz die Senkung bildet. Dieses Verhältniss erklärt sich durch Vergleichung mit den zusammengesetzten Substantiven: da bildet der zweite Bestandtheil die Grundlage des Ganzen; der erste Theil aber, der jenen nur näher bestimmen hilft, trägt den Hochton, z. B. Kirchthurm. So erhält denn auch der Nebensatz, der durch eine Hauptinversion zum Vordersatz geworden ist, den stärkern Ton, während der Nachsatz in die Senkung fällt. In diesem Verhältniss findet auch das Gesetz seine Erklärung, dass man Nachsätze nicht gern aus mehreren an einander gereihten Gliedern bestehn lässt; denn es ist unschön, wenn die Senkung einer Periode aus mehreren Theilen besteht, so dass sich gleichsam ein dactylischer Rhythmus ergiebt. Darum ist folgende Periode von Fr. H. Jacobi nicht mustergiltig: „Wenn sich der Andrang übler Laune dir verkündigt, wenn die Miene, die Bewegungen eine feindliche Stimmung des Gemüthes verrathen wollen, wenn sich eine Neigung zu beleidigen und zu kränken der Seele bemächtigt, so gewinne es dann wenigstens über dich, die Scene, die dich umgiebt, in Gedanken zu verändern; lege die Personen, die du verletzen möchtest, in das Grab, wo du nichts mehr gut machen kannst.“ So fehlerhaft es ist, mehrere gleich gesenkte Sätze neben einander zu stellen, so tadellos ist es dagegen, wenn von den mehreren Gliedern des Nachsatzes je eines einem Gliede des Vordersatzes parallel läuft: in diesem Falle sind gewissermassen zwei Perioden in einander geschoben. Beispiel: „Wenn wir auch Alles betrachtet haben, was die Natur uns zeigt, wenn wir auch Alles genossen haben, was sie uns darbietet, wenn wir auch Alles geleistet haben, was in ihrem Gebiete sich thun lässt, unser Durst nach Erkenntniss ist noch lange nicht gestillt, wir sehnen uns nach mehr Wahrheit und Licht, unser Wunsch nach Wohlsein ist noch lange nicht befriedigt; wir schmachten nach einem höhern Genuss; unserm Triebe nach Vollkommenheit ist noch lange nicht Genüge geschehen; er kennt ein höchstes Ziel, er strebt nach unendlichem Fortschritt“ (Reinhard). In solchen Perioden besteht der Nachsatz nicht aus mehreren zusammengehörigen Senkungen, sondern je einer Hebung des Vordersatzes stellt sich eine Senkung des Nachsatzes gegenüber. Gegen Perioden mit mehrgliedrigem Vordersatze ist nichts einzuwenden, wie denn auch eine mehrfache Hebung keine Bedenken erregt, wie eine mehrfache Senkung; der Rhythmus einer solchen Periode entspricht dann dem Antibacchius (_ _ ‿) oder dem Epitritus quartus (_ _ _ ‿). Auch hiefür ein Beispiel von Jacobi: „Dass mein Geist das Unendliche denkt, dass er in diesem Gedanken eine Seligkeit fühlt, die weit über alle irdische Grösse hinausgeht, dass eben diese Seligkeit, wenn ich ihren Quellen nachspüre, mit der Reue über das Verschwinden des sinnlich Grossen so eng zusammenhängt, alles das beweist, dass nicht die eng begrenzte Welt die Heimath meines Geistes ist.“ Auf solche Weise gewinnt nun freilich der Vordersatz durch die Mehrzahl seiner Glieder ein starkes Uebergewicht über den Nachsatz; er würde denselben ganz erdrücken, wenn man diesen nicht durch den Inhalt, durch die Kraft des Gedankens stärkte: ja grade die Kürze des Nachsatzes kann zur Verstärkung des Gedankens und zur Ausgleichung des Uebergewichtes dienen. Vgl. LB. 2, 762, 10─33. Fehlt es dem Nachsatze an einem solchen Gegengewichte durch die Inhaltsschwere des Gedankens, so kann er sich dem mehrgliedrigen Vordersatze gegenüber nur durch die Masse, den Reichthum an Worten und Nebensätzen u. s. f. behaupten. Beispiel: „Ist Jemand in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen, im Umgang mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen musste, um das Uebrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Hoffnungen so getrübt, dass er das Gute kräftig, leicht und bequem vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen: so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommeneres und glücklicheres Leben führen als ein Anderer, der seine ersten Jugendkräfte im Widerstand gegen den Irrthum zugesetzt hat.“ Wenn endlich die Glieder einer Periode nicht im Verhältniss von Vordersatz und Nachsatz stehn, wenn sie einander beigeordnet sind, so kann von jenem rhythmischen Gesetze nicht die Rede sein. Bei der Verbindung von Hauptsätzen durch und, oder u. s. f. bildet jedes Glied der Periode ein rhythmisches Ganzes für sich: z. B. „Wünsche können ohne Kraft und ohne Talente sein: aber nie sind Kraft und Talente ohne Wünsche.“ Hier bildet die Periode einen Ditrochäus (_ ‿ _ ‿), jedes Glied derselben hat eine Hebung und eine Senkung. Bei so gestalteten Perioden fallen denn auch für den zweiten Theil die Beschränkungen weg, die sonst für den Nachsatz gelten: hier erregt die Mehrgliedrigkeit keinerlei Bedenken: z. B. „Gott ist die Liebe; also können wir ihm uns und unser Schicksal ruhig übergeben; also dürfen wir nicht ängstlich für die Zukunft sorgen.“ 2. DER STIL DER EINBILDUNG. Wir gelangen nunmehr zu der zweiten Gattung des Stils, die wir im Anschluss an einen altüberlieferten Sprachgebrauch auch den mittleren Stil nennen mögen. Die bisher besprochene erste Gattung, der niedere Stil, dient den Mittheilungen des Verstandes, deren Gegenstand die Wahrheit, deren Zweck die Belehrung ist: demgemäss ist die characteristische Eigenschaft des niederen Stils die Deutlichkeit, Deutlichkeit sowohl in der Wahl der Worte als in deren Anordnung; diese verständige Deutlichkeit zum Behuf der Belehrung duldet keine anderen Worte als die eigentlichsten, seien das auch zugleich die unsinnlichsten, und keinen anderen Rhythmus als den, welcher der Sprache von Natur eigenthümlich ist, und auch diesen nur im Verhältniss der Worte zu Worten, der Satzglieder zu Satzgliedern, nicht aber der Silben zu Silben. Bei der zweiten Stilgattung treten uns ganz andere Zwecke und Mittel entgegen, ganz andere Merkmale und Forderungen. Hier liegt als Gegenstand nicht unmittelbar das Wahre vor, sondern das Schöne, das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande, insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden, um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen, das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein, und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeit gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen Stil der Einbildung die Anschaulichkeit. Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische, ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn die Poesie auch zunächst und hauptsächlich auf der Einbildung beruht, so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil. So nun auch in der Art und Weise der poetischen Darstellung, im poetischen Stil: Anschaulichkeit für die Einbildung ist freilich die Hauptsache: aber darum sind die Rechte des Verstandes, ist die Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer noch geltend, wenn schon in zweiter Linie, mehr implicite als explicite, und bei der einen Art des poetischen Stils mehr als bei der anderen. Wir haben nämlich schon früher (S. 321) innerhalb dieser mittleren von den drei Hauptgattungen des Stils wiederum drei Arten unterschieden, eine niedere, eine mittlere und eine höhere Art. Als niedere Art haben wir die komische, als mittlere die epische, als höhere die tragische Poesie hingestellt. Von diesen drei Arten zeigt nur die mittlere, nur die Epik, das Gesetz der Anschaulichkeit in seiner reinsten und am mindesten beschränkten Geltung: die Epik ist eine so unverkümmerte Schöpfung der Einbildungskraft, wie sonst keinerlei Dichtung, und es werden deshalb die einzelnen Bemerkungen, mit denen wir jenes allgemeine Gesetz weiterhin zu entwickeln haben, sich vorzüglich und meistentheils auf die epische Poesie beziehen. Die komische und die tragische dagegen liegen jede an einer Grenze des Uebergangs: bei jener übt noch der Verstand, bei dieser schon das Gefühl einen sehr merkbaren Einfluss sowohl auf die Anschauung als auf die Art und Weise der Darstellung. Denn in der komischen Poesie ist die Anschauung von Spott, in der tragischen von Wehmuth begleitet; in der komischen geräth der Verstand, in der tragischen das Gefühl mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Somit wird denn auch der Stil der komischen Poesie Vieles in sich aufnehmen müssen, was sonst dem deutlichen Stil des Verstandes zukommt, und der Stil der tragischen Poesie Vieles, was sonst dem leidenschaftlichen Stil der Lyrik eigenthümlich ist, freilich stäts in demselben Masse untergeordnet, als auch bei der ersten dichterischen Schöpfung selbst Verstand und Gefühl untergeordnet sind. Unter diesen dreigliedrigen Stufengang von Komik, Epik und Tragik, wie er in dem Wesen der Poesie selbst organisch begründet ist, vertheilen sich dann auch noch einige eigenthümliche Zwitterarten von Poesie, die entweder auf Seiten der Schöpfung poetisch, auf Seiten der Darstellung aber prosaisch sind, oder umgekehrt auf Seiten der Production prosaisch, auf Seiten der Darstellung dagegen poetisch. Es ist diess einmal der Roman, d. h. das Epos in prosaischer Form, es sind diess ferner die verschiedenen Arten der didactischen Epik, d. h. der prosaischen Lehre des Verstandes in epischer Form, es ist das endlich der lehrhafte Dialog und der lehrhafte Brief, d. h. wiederum prosaische Lehre auch in prosaischer Form, aber doch nach Art des Dramas abgefasst. Von diesen drei Zwitterarten mag man den Roman seitwärts neben das eigentliche Epos stellen: denn er kann, was den Stil betrifft, beinahe Alles mit diesem theilen, wenn man nur absieht von der rhythmischen Anordnung der Worte; die lehrhafte Epik dagegen und der Dialog und der Brief gehören nur zu der niederen Art des poetischen Stils, die an der Grenze der Prosa liegt, und greifen noch um vieles mehr als die komische Poesie rückwärts hinüber in das Gebiet der blossen verständigen Deutlichkeit. Wir wollen jetzt jenes allgemeine Gesetz der Anschaulichkeit mit Rücksicht auf die angedeuteten Einschränkungen des Näheren ausführen. Anschaulichkeit wird durch zwei einander nah verwandte und in einander fliessende Mittel erreicht, durch Sinnlichkeit und durch Lebendigkeit des Ausdrucks: jene gilt für die Wahl der Worte, diese für die Anordnung derselben. Was nun zuerst die Sinnlichkeit in der Wahl der Worte betrifft, so zeigt sich gleich hier der Unterschied der poetischen Darstellung von der prosaischen auf das Schärfste und Bestimmteste und in den mannigfaltigsten Beziehungen ausgeprägt. Die Prosa ist durch die Aufgabe der Deutlichkeit überall auf die zunächst liegenden und auf die gangbaren Worte angewiesen: sie giebt nirgend einen bildlichen, nirgend einen uneigentlichen Ausdruck, sondern immer nur den ganz eigentlich bezeichnenden und unbildlichen: sie lässt daher abstracte Begriffe auch in der Art und Weise der Darstellung abstract; sie verschmäht den Barbarismus, den Gebrauch fremder Worte nicht, insoweit er ein wohlgeeignetes Mittel ist, eben abstracte Begriffe auch recht abstract zu bezeichnen; sie vermeidet dagegen den Neologismus, da neugeschaffene Worte gewöhnlich zu viel sinnliche Bildlichkeit besitzen und mithin mehr die Einbildung als den Verstand ansprechen; sie vermeidet den Archaismus und den Provincialismus, die Anwendung veralteter und mundartlicher Wörter, weil diese nicht auf der gewohnten und gebahnten Strasse der angenommenen Schriftsprache liegen. Das ist Alles anders in der Poesie. Sie verschmäht das, worauf die Prosa ausgeht, und geht auf dasselbe aus, was jene verschmäht. Ihr kommt es vor Allem auf das Concrete an, auf sinnlichen Eindruck, auf sinnliche Fasslichkeit. Wo sie abstracte Begriffe in sich aufzunehmen hat, werden dieselben auch gleich durch irgend eine bildliche Wendung versinnlicht, werden sie durch die Art und Weise der Auffassung und Darstellung zu concreten gemacht. Alles, was unsinnlich ist, ist ihr auch zuwider: deshalb vermeidet sie auch die fremden Worte überhaupt, besonders aber wiederum die, welche abstracte Begriffe ausdrücken. Diese sind ihr doppelt untauglich, einmal weil es Worte von abstracter Bedeutung, dann weil sie in der Fremdheit ihrer Laute doch nur todte Zeichen für diese Bedeutung sind: von intuitiver Perception und dergleichen kann ein Dichter nicht wohl reden; andere Fremdworte mag sich die Poesie eher gestatten, aber auch nur, sobald sie irgendwelche Sinnlichkeit und Bildlichkeit mit sich führen, wie z. B. Legionen der Engel, wo die Anspielung, die in dem fremden Begriff und Worte liegt, zur Versinnlichung der grossen Zahl dient. Aus demselben Grunde, aus dem die Poesie den Barbarismus verschmäht, aus demselben verschmäht sie auch den Gebrauch der gar zu gangbaren und alltäglichen Worte: denn auch diese haben, da ihr Gepräge sich im beständigen Umlauf abgeschliffen hat, da man sich ihrer ursprünglichen Sinnlichkeit und Bildlichkeit nicht mehr bewusst ist, auch diese haben nicht mehr jenen sinnlichen Ausdruck und Eindruck, dessen der poetische Stil bedarf: sie werden deshalb, wo es angeht, umgetauscht gegen minder gangbare, minder abgeschliffene, und somit ist für die Poesie im Allgemeinen kein Fehler, was für die Prosa einer ist, kein Fehler der Archaismus, keiner der Neologismus, keiner der Provincialismus. Im Allgemeinen: denn Einschränkungen gelten auch hier. Der Gebrauch provincieller, der Gebrauch veralteter oder neu erfundener Ausdrücke steht der Poesie natürlich nur in so fern zu, als er eben dem Zwecke der Sinnlichkeit entspricht: sonst ist dergleichen hier eben so gut ein Fehler als in der Prosa. Wenn man mit vielen unserer Dichter Ausdrücke wie Degen und Recke wieder auffrischt, so ist damit eben nicht sonderlich viel gewonnen, da die jetzige Zeit mit dergleichen Worten entweder gar keine Anschauung verbindet oder eine falsche; sondern es müssen Worte sein, deren Sinn und deren Sinnlichkeit auch auf dem Grunde der jetzigen Sprache und der Schriftsprache etymologisch sogleich einleuchtet: wo das nicht der Fall ist, so dienen sie nicht einmal zur Deutlichkeit, viel weniger zur Anschaulichkeit. Alles diess, was bisher als characteristische Eigenthümlichkeit des poetischen Stils gegenüber dem prosaischen ist aufgezählt worden, hat jedoch seine nächste Beziehung nur auf die mittlere und daran sich schliessend noch für die höhere Art, nur für die Epik und die Tragik, nicht aber auf die niedere und nicht auch auf die erwähnten Zwitterarten von Poesie und Prosa. Der Roman z. B., wenn schon er ein Epos nur in prosaischer Einkleidung ist, wird sich doch dieser seiner prosaischen Einkleidung wegen mehr als das Epos vor gar zu ungewohnten Worten zu hüten haben; der lehrhaften Epik wird man eher als der reinen, eigentlichen Epik einen leblosen, abstracten Ausdruck zu Gute halten; die Satire aber, das komische Epos und das komische Drama, deren Sache der Spott und die Laune ist, bedürfen sogar, um diesen Widerspruch gegen die Wirklichkeit wahrnehmbar auszudrücken, häufig namentlich solcher Archaismen, die anderswo befremdlich, ja fehlerhaft und verletzend wären. Ich erinnere beispielsweise nur an die Jobsiade, diess komische, und an den Oberon, diess ernsthaft gemeinte Epos: in der Jobsiade sind all die archaistischen Wunderlichkeiten ganz prächtig an der Stelle, im Oberon nicht so: aber das ist ja eben der grosse Fehler dieser Wielandischen Dichtung, dass man fort und fort in neuen Zweifel geräth, ob dieses ernsthafte Epos nicht vielmehr ein komisches sei. Ganz dasselbe, was vom Archaismus, gilt von der Anwendung und der Anwendbarkeit der Provincialismen, einzelner Provincialismen. Es kommt aber auch vor, dass nicht bloss einzelne Provincialismen eingemischt werden, sondern dass ein Gedicht seinem ganzen Verlaufe nach, Wort für Wort ein einziger Provincialismus ist, dass es nämlich ganz und gar in einer provinciellen Mundart abgefasst wird. Es ist dagegen die practische, aus der Erfahrung hergenommene Einwendung erlaubt, dass damit die Reproduction auf diese eine Provinz eingeschränkt wird, wie man z. B. Hebels Gedichte in anderen Theilen Deutschlands entweder gar nicht oder doch nicht recht versteht und geniesst und deshalb sogar wiederholendlich ins Hochdeutsche übersetzt. Und abgesehen hievon laufen Dichter, welche provinciell dichten, eine zwiefache Gefahr, die sich beide mit Beispielen belegen liessen. Entweder wird das Provincielle gesucht in Plattheit und Niedrigkeit der Gedanken, Empfindungen und Worte, und diese Darstellungsweise wird dann doch auf Gegenstände übertragen, die nicht gemein und niedrig sind. Oder die Mundart wird über sich selbst hinausgeschraubt und verfälscht, man gebraucht hochdeutsche Worte, hochdeutschen Satzbau nebst der ganzen höheren Denk- und Empfindungsweise, die durch solche Worte und Sätze verlangt wird, so dass zuletzt nur die Laute mundartlich sind, alles Uebrige aber als ein mundartlich ausgesprochenes Hochdeutsch erscheint. Diese zwei Klippen werden nur selten vermieden; ganz vermieden wurden sie vielleicht nur von Hebel und Usteri, die sich der alemannischen Mundart bedienten. Sie zeigen aber, was sich auch schon a priori feststellen liesse, dass die Mundarten nicht auf die höheren Arten der Poesie anwendbar seien, sondern bloss auf die tiefer liegenden, namentlich auf die niederen Arten der Epik und besonders auf das eigentliche Idyll und was sonst idyllischen Character trägt: hier darf die Sprache des Volkes wohl die angemessenste Kunstform scheinen für die Darstellung des Volkes selbst in all seinem Denken und Handeln, und die Laune, die in den niederen Dichtarten zu Hause ist, wird in der Mundart einen noch viel grösseren Reichthum von Ausdrucksweisen vorfinden als in der Schriftsprache. Und besitzt ein Dichter, wie Hebel, nicht bloss Laune, sondern auch den höheren, edleren Humor, so wird der gemüthliche Zwiespalt, der im Humor liegt, nur noch viel eindringlicher und tiefer wirken, weil die Höhe und der Adel in ein so alltägliches Volksgewand gekleidet ist. In Bezug aber auf die Barbarismen innerhalb der poetischen Rede ist hier eine kleine litterar-historische Abschweifung zu machen. Das Mittelalter, von den letzten Zeiten der römischen Litteratur, von deren Verfall an gerechnet, kannte zwei Arten von Barbarismen im poetischen Stil, zwei Arten, die aber nah zusammengrenzen und sich nicht selten vereinigen. Beide Arten aber gestattete man sich gewöhnlich nur da, wo man sie sich wohl gestatten durfte, wo sie sogar förderlich erscheinen konnten, in komischen, in spöttischen Dichtungen, zuweilen auch sonst, wiewohl ungehörig genug; aber auch für die Komik waren beide doch ein etwas zu derbes Mittel, Lachen zu erregen: daher sind sie denn auch in den letzten Epochen der Litteratur wieder gänzlich verschwunden. Die eine Art bestand in dem Gebrauch, bald mehr, bald weniger Worte einer fremden Sprache, ja ganze Verse einer solchen in die sonst nationale Dichtung einzumischen. Natürlich war die fremde Sprache nie eine ganz fremde, ganz unverständliche, sondern eine, deren Kenntniss man wenigstens bei gebildeten und gelehrten Lesern und Hörern voraussetzen durfte. So mischt Ausonius (Epistol. 12. Epigram. 28. 32. 40) Scherzes halber Lateinisch und Griechisch durch einander; so giebt es von Dante eine ganz ernsthafte Canzone, die aus italiänischen, lateinischen und provenzalischen Versen besteht, so von Lope de Vega Sonette, wo castilische, lateinische, portugiesische und italiänische Verse mit einander abwechseln. So endlich auch schon vom zehnten Jahrhundert an deutsch-lateinische Gedichte; z. B. ein ernstes historisches Gedicht des zehnten Jahrhunderts, dessen Verse abwechselnd lateinisch und deutsch sind: „Nunc almus thero ewigun filius assis thiernun benignus fautor mihi, thaʒ ig iʒ cosan muoʒi de quodam duce, themo heron Heinriche, qui cum dignitate thero Beiaro riche bewarode“ u. s. f. LB. 1 4 , 109 (1 5 , 287); ein satirisches Lied, wahrscheinlich für fahrende Schüler, aus dem zwölften Jahrhundert: „Audientes audiant! diu schande vert al über daʒ lant“ u. s. w. LB. 1 4 , 218 (1 5 , 396. Carmina buran. 73 fg.); dann wieder geistliche Lieder, z. B. ein Weihnachtslied, das gewöhnlich dem Peter von Dresden (gest. 1440) zugeschrieben wird, aber schon im vierzehnten Jahrhundert bekannt war und bis um das Jahr 1700 auch in protestantischen Gesangbüchern vorkommt: „In dulci jubilo nu singet und seit fro! aller unser wonne leit in praesepio; sie leuchtet vor die sonne matris in gremio; qui est a et o, qui est a et o“ LB. 1 4 , 1177 (1 5 , 1357). Endlich begegnet uns die Sprachmischung wieder im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: besonders sind es Trinklieder, die deutsch-lateinisch abgefasst wurden; Studenten sind wohl die Dichter derselben, und wandernde Studenten mochten sie auch singen, um eine Gabe zu erhalten, vgl. LB. 2, 131. 133. 224. Namentlich sind von solcher Art die meisten unter den älteren Versuchen, die Hexameter und Pentameter auch im Deutschen nachzubilden: allerdings erleichterte man sich die Germanisierung der lateinischen Masse, indem man dabei zahlreiche lateinische Worte brauchte; ausserdem that man das auch und zuvörderst aus scherzhafter Absicht, wie nirgend zu verkennen ist: z. B. die Unterschrift einer Strassburger Handschrift: „Est pretium mihi krank, cum nihil (statt nil) dabitur nisi habdank.“ Oder: „Pringet humores Baccharach vinum meliores“, wie Fischart im Gargantua (cap. 24) den medicinischen Denkspruch der Schola Salernitana verarbeitet: „Gignit et humores melius vinum meliores“ (Regimen sanitat. v. 47). Anderswo überwiegen in dergleichen Versen die deutschen Worte; so z. B. wiederum bei Fischart: „Vier ding auss winden veniunt, so ventre verschwinden (quatuor ex vento veniunt in ventre retento, regim. sanit. v. 18); dan vinum saure klinglitum machet in aure“ (ebrietas, frigus tinnitum causat in aure, reg. sanit. v. 234). Die andere Art des Barbarismus führte diesen Muthwillen noch um einige Schritte weiter. Nicht bloss fremde Worte und einzelne Verse in fremder Sprache werden eingemischt, sondern die Worte der Nationalsprache selbst werden mit ausländischen, z. B. die der deutschen mit lateinischen Endungen versehen, so dass sie nun nach lateinischer Weise abgeleitet erscheinen und nach lateinischer Weise decliniert und conjugiert werden. Die ältesten Scherze der Art finden wir wiederum bei Ausonius in derselben zwölften Epistel, wo lateinische Wörter griechisch flectiert werden, z. B. V. 28: „ ἔν τε φορῷ caus αῖς τε καὶ ingrat αῖσι καθέδραις “ u. dgl. Späterhin taucht diese Art erst in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts wieder auf, in Italien und in Frankreich; dort zeichnete sich besonders Teofilo de' Folenghi oder Folengo aus, oder wie er sich als Dichter zu nennen pflegte, Merlinus Cocajus (1491─1544), hier Antonius de Arena. Jener schrieb in latinisiertem Italiänisch, dieser in latinisiertem Französisch allerlei komische, meist satirische Gedichte. Nun empfieng diese Stilart auch ihren besondern Namen: nach dem Lieblingsgericht der Italiäner macaronische Poesie. Noch im sechzehnten Jahrhundert und so fort bis gegen das Jahr 1700 gab es viel der Art auch in Deutschland. Fischart verkehrte und übersetzte in solch latinisiertes Deutsch manche arzneiliche Denksprüche der Schola Salernitana; eines der ältesten und berühmtesten macaronischen Gedichte ist die 1593 zuerst gedruckte Floia, die in latinisiertem Niederdeutsch abgefasst ist und folgenden Titel führt: „Floia, cortum versicale, de flois schwartibus, illis deiriculis, quae omnes fere Minschos, Nonnas, Weibras, Jungfras etc. behuppere, et spitzibns suis schnaflis steckere et bitere solent; autore Gripholdo Knickknackio ex Floilandia.“ Dieses Gedicht, das einen unbekannten Hamburger zum Verfasser hat, beginnt mit folgenden Versen: „Angla floosque canam qui wassunt pulvere swarto Ex watroque simul flectenti et blaside dicko, Multipedes deiri, qui possunt huppere longe Non aliter quam si flöglos natura dedisset. Illis sunt equidem, sunt, inquam, corpora kleina, Sed mille erregunt menschis martrasque plagasque.“ Aus dem achtzehnten Jahrhundert verdient hier noch ein macaronisches Hochzeitsgedicht hervorgehoben zu werden: der Titel heisst: „Rhapsodia Versu Heroico-Macaronico ad Brautsuppam in Nuptiis Butschkio-Denickianis praesentata a Scholae Dresdensis Petri Alumno.“ Der Anfang lautet: „Lobibus Ehstandum quis non erheberet hochis Himmlorum Sternis glänzentium ad usque Gewölbos? und der Schluss: Quod superest, Glasum magnum Weinoque gefülltum Rhenano laeti in sponsique suaeque salutem Brautae ausstechamus! De Tischo surgite, Pfeifri! Blasite Trompetas et Kessli schlagite Paukas!“ Vgl. Litt. Gesch. S. 431. Kl. Schrift. 2, S. 44 fg. So viel von diesen komischen Ausschweifungen des Barbarismus. Jetzt wollen wir wieder in den graden Weg unserer Erörterungen einlenken. Die Sinnlichkeit, um deren Willen, wie wir gesehen, die Poesie das Concrete dem Abstracten, das Bildliche dem Eigentlichen, das Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen vorzieht, muss jedoch eine durch die Einbildung producierbare und reproducierbare sein und darf niemals dem ersten und obersten Gesetze, dem ersten und letzten Ziele aller Poesie, darf der Schönheit nicht widerstreiten; mag ein Wort, mag eine Wendung noch so sinnlich sein, wenn die Sinnlichkeit nicht innerhalb des Schönen bleibt, und sie nicht für die producierende und reproducierende Einbildung taugt, so ists gefehlt. Nun ist die Frage, welche Sinnlichkeit des Ausdruckes der producierenden und reproducierenden Einbildung zustehe und welche nicht; welche über die Schönheit hinausgehe, welche bei ihr bleibe. Die Antwort ergiebt sich aus dem bekannten Unterschiede, den man macht zwischen höheren und niederen, oder feineren und gröberen Sinnen. Höhere Sinne sind das Gesicht und das Gehör, niedere Gefühl, Geruch, Geschmack; Gesicht und Gehör darum höhere, weil sie die objectivere, die bewusstere Wahrnehmung gewähren, wogegen die Wahrnehmungen des Gefühls, des Geruchs, des Geschmackes minder rein und immer mit unfreiwilligen subjectiven Empfindungen verknüpft sind. Gesicht und Gehör, mit Unterschieden, die wieder zwischen ihnen beiden selbst bestehn, nehmen Dinge, Thätigkeiten und Eigenschaften wahr; Gefühl, Geruch, Geschmack nur Eigenschaften an Dingen. Gesicht und Gehör nun, als die feineren und bewussteren, stehn auch allein den Eindrücken des Schönen offen; für die anderen, für die niederen und gröberen Sinne giebt es nichts Schönes: sie unterscheiden wohl zwischen hart und weich, zwischen süss und bitter; zwischen schön und unschön aber nicht. Gesicht und Gehör gehn auch allein in die Einbildung über: man kann sich in der Stille der Seele ganz wohl einbilden und man kann träumen, dass man etwas sehe oder höre; Gefühl dagegen und Geruch und Geschmack bestehn nur in der groben und handgreiflichen Wirklichkeit, in der Einbildung und im Traume dagegen nicht, ausser etwa bei einem irgendwie krankhaften Zustande der Seele oder des Leibes. Mithin giebt es für die Einbildungskraft keine andere sinnliche Wahrnehmung als die des Sehens und des Hörens, und wiederum sind es nur das Gesicht und das Gehör, für die es ein Schönes und ein Unschönes, für die es auch eine Darstellung des Schönen, eine Kunst giebt, nicht aber z. B. für die Zunge, und es ist eine der ungeschicktesten Uebersetzungen gewesen, das griechische αἴσθησις im Französischen mit goût, im Deutschen mit Geschmack zu übersetzen und so nun von einem guten Geschmack in Kunstwerken zu sprechen. Aus alle dem ergiebt es sich leicht und einfach, dass in der poetischen Rede nur diejenige Sinnlichkeit des Ausdruckes zulässig sei, die auf Gesicht und Gehör sich beruft und diese beiden Sinne für die Einbildung in Anspruch nimmt, wogegen alle Sinnlichkeit, die sich an Wahrnehmungen des Gefühls, des Geruches, des Geschmackes wendet, untauglich ist für die Darstellung des Schönen und untauglich für die schaffende Thätigkeit der Einbildungskraft. Eben dieser Unterschied zwischen höheren und niederen Sinnen ist es auch, auf den sich für die meisten Fälle der Unterschied zurückführen lässt, den man zwischen edelm und unedelm Ausdruck zu machen pflegt; ist ein Ausdruck nicht schon deshalb unedel, weil er vielleicht einer plumpen oder sittlich unsaubern Art des Empfindens angehört, so wird er es deshalb sein, weil er sich nur auf die niedern Sinne gründet, die dem Schönen verschlossen sind, und die nicht in die Einbildung übergehn. Man lehrt z. B., es sei unedel, die beschneiten und bereiften Bäume überzuckert zu nennen; es ist aber nicht wohl abzusehen, was hier das Edle und Unedle sollen, Begriffe, die durchaus ethischer Natur sind; sagt man dagegen, der Ausdruck sei unpoetisch oder geschmacklos, weil er sich auf den niedern Sinn des Geschmackes beziehe, so wird man es richtiger aufgefasst haben. So sei es auch unedel, wenn man von einem Thiere sage, es verrecke, oder wenn man die Gebeine eines Verstorbenen nicht Gebeine nennt, sondern Knochen. Sie sind aber nur darum verwerflich, weil der Ausdruck verrecken die Vorstellung des Gestankes, der Ausdruck Knochen auch entweder diese oder doch die des Schmeckens mit sich führt. Indessen keine Regel ohne Ausnahme. Mitunter können grade solche niedrige sinnliche Worte wohl an ihrem Platze sein, und besser am Platze, als andere es wären. Der herbe Spott, die bittere Ironie können mitunter dergleichen gradezu fordern, können um die Schärfe ihres Widerspruches recht herauszukehren, das eigentlichste, niedrigste, unschönste Wort verlangen. Als Beispiel mögen zwei Gedichte dienen, eins von Platen, eins von Chamisso, in denen beiden grade die angeführten Ausdrücke verrecken und Knochen als letztes stärkstes Wort vorkommen, und die beide viel von der Energie ihrer Bitterkeit verlieren würden, wenn man diese Ausdrücke gegen sogenannte edlere vertauschen wollte. Platen schliesst seinen Gesang der Polen mit den Worten: „Aber einst aus meinen Knochen wird ein Rächer auferstehn“ (vgl. Virgil. Aen. 4, 625 exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor); und Chamisso endigt sein Gedicht „Der Bettler und sein Hund“ mit folgender Strophe: „Er ward verscharret in stiller Stund; Es folgt' ihm winselnd nur der Hund. Der hat, wo der Leib die Erde deckt, Sich hingestreckt, und ist da verreckt“ LB. 2, 1676. Abgesehen von dergleichen Ausnahmen, die jezuweilen eintreten mögen, aus denen sich aber keine allgemein gültige Vorschrift ableiten lässt, abgesehen davon muss die Sinnlichkeit des poetischen Ausdruckes immer eine Sinnlichkeit für Auge oder Ohr sein. Auf dieselbe Weise aber, wie Gesicht und Gehör über dem Gefühl, dem Geruch und dem Geschmack stehn, auf dieselbe Weise steht das Gesicht wiederum über dem Gehör, aus Gründen, deren vollständige Erörterung hier zu weit und aus der Stilistik in die Physiologie und Psychologie führen würde. Das Gesicht nimmt Dinge, Thätigkeiten und Eigenschaften wahr, das Gehör nur Thätigkeiten und kaum Eigenschaften: kurz das Gesicht nimmt in der Rangordnung der Sinne den obersten Platz ein, und erst nach ihm kommt das Gehör. Diesen Vorrang des Gesichts vor dem Gehör und gar vor den übrigen Sinnen zeigt schon überall die Sprache darin, dass die meisten Ausdrücke für sinnliche Wahrnehmungen überhaupt sich zurückleiten auf den Sinn des Gesichts, von seinen Wahrnehmungen erst auf die der andern Sinne übertragen sind. So heisst z. B. riechen eigentlich s. v. a. rauchen, Duft s. v. a. Dunst, Nebel, beides also ursprünglich Wahrnehmungen des Gesichts. Besonders aber pflegen die Vorstellungen, die sich auf das Sehen und das Hören begründen, in das gleiche Wort zusammenzufliessen, und in der Regel so, dass dabei ursprünglich vom Sehen ist ausgegangen worden: so gelten z. B. hell und klar und dunkel erstens von Farben und zweitens von Tönen, und wenn man von hohen und niedern Tönen spricht, so sind dabei die Töne zuerst gleichsam sichtbar gedacht worden. Vgl. J. Grimm, Kl. Schrift. 3, 302. Diese höhere Würde des Gesichtssinnes zeigt sich wie in der Sprache überhaupt, so nun auch im poetischen Stil. Alle Sinnlichkeit des Ausdruckes ist, sobald man auf dessen inneren geistigen Gehalt, auf die Vorstellung selber sieht, die ihm innewohnt, eine Sinnlichkeit für das Gesicht; eine Sinnlichkeit des Ausdruckes für das Gehör aber giebt es nur, insofern der äusserliche Klang, insofern bloss die Laute und die Töne eines Wortes die Einbildungskraft in Anspruch nehmen. Die Sinnlichkeit für das Gehör beruht also lediglich auf einer Malerei mit Lauten und Tönen. Wir wollen das Wenige, was in Bezug hierauf zu bemerken ist, gleich jetzt abthun, um erst dann die Sinnlichkeit für das Gesicht abzuhandeln, die eine ausgeführtere Betrachtung erfordert. Malerische Nachahmung der Naturlaute ist allen Sprachen eigen, wenn schon nicht, wie z. B. Herder gewollt hat, der erste Grund und Anfang der menschlichen Sprache überhaupt bloss solche Nachahmung ist. Worte wie brüllen und rollen, rasseln und prasseln, heulen und murmeln enthalten allerdings nicht zufällig grade diese Consonanten und diese Vocale. Abgesehen von solcher in der Sprache selbst schon gegebenen Lautmalerei kann dieselbe auch mit bewusster Absicht noch eigens gesucht werden, und in so fern hat dann auch die Stilistik davon zu reden. Die Dichter verfahren mit den Lauten, auf deren Darstellung sie ausgehn, in zwiefacher Weise. Entweder ahmen sie dieselben nicht eigentlich nach, sondern nehmen sie lediglich in ihrer unveränderten Gestalt selbst in das Gedicht mit herüber, so z. B. Bürger in der Lenore: „Hurre, hurre, hopp hopp hopp“ und dergleichen. Das kann man eigentlich nicht billigen: es ist bedenklich, ganze Zeilen mit Worten auszufüllen, die nichts bedeuten, die sogar eigentlich gar keine Worte, sondern bloss Laute sind und weiter nichts. Andre und höher stehende Dichter haben sich dergleichen auch nicht in den Sinn kommen lassen, ausser etwa im Scherze, wie z. B. Aristophanes in den Vögeln, wo allerdings Strophen vorkommen, die beinahe ganz aus τιὸ τιὸ τιοτίξ u. dgl. zusammengesetzt sind (V. 738 fgg.). Oder aber, und dergleichen kommt mehr oder weniger bei allen Dichtern vor, die gewählten Worte fügen sich in ihren Lauten und Tönen zu dem Klange, der in der hörenden Einbildung des Dichters liegt, sie drücken ausser dem Begriff, den sie enthalten, zugleich den Klang aus, der das mit ihnen Dargestellte in der Wirklichkeit begleitet, sie stimmen dazu in Vocal und Consonant und Accent, ohne jedoch irgendwelche etymologische Beziehung darauf zu haben. So bei Voss im Siebzigsten Geburtstage (LB. 2, 901, 33): „Näher und näher Kam das Gekling und das Klatschen der Peitsch' und der Pferde Getrampel“; oder in dem bekannten Verse Virgils (Aen. 8, 596): „Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum“: es ist nicht bloss der dactylische Rhythmus, es ist vielmehr die Mischung der Laute k, kl, p, tsch bei Voss, q p t bei Virgil, die das Getrappel der Pferde malerisch nachahmt, malerischer und dichterischer als das bei Bürger der Fall ist. Oder bei Ovid (Metamorph. 6, 376) von quakenden Fröschen: „Quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant“, wo die Malerei kunstreicher ist, als wenn er etwa bloss das Wort coaxare oder auf Deutsch quaken gebraucht hätte: denn coaxare, quaken bezeichnet eben nur und unmittelbar das Schreien der Frösche selbst, quamvis und aqua haben aber sonst und für sich gar nichts damit zu thun. Oder endlich zwei Spassverse des berühmten Taubmann auf die Schwatzhaftigkeit der Weiber: „Quando conveniunt Maria, Camilla, Sibylla, Sermonem faciunt et ab hoc et ab hac et ab illa.“ Wir kommen später noch einmal bei einer anderen Gelegenheit auf diese Lautmalerei zurück. Vgl. Voc. var. animant. S. 21. Jetzt ist zu reden von der Sinnlichkeit des Ausdruckes für das Gesicht, von derjenigen Concretheit und Bildlichkeit der Vorstellungen, zu deren genügender Auffassung, zu deren Production und Reproduction, ein inneres, nur in der Einbildung ruhendes Sehen erfordert wird. Andere Sinne mögen zuweilen auch hineinspielen und die Gesichtswahrnehmung begleiten: aber sie thun das immer nur in untergeordneter Stellung, und das Sehen bleibt jedesmal das Hauptsächliche und Wesentliche. Natürlich haben wir hier diese sinnliche Ausdrucksweise nur in so fern zu betrachten, als sie innerhalb der dichterischen Rede an die Stelle der minder sinnlichen oder ganz unsinnlichen tritt, deren sich unter gleichen Umständen die Prosa bedienen würde; wir sprechen von derselben nur, insofern sie im Vergleich mit dem prosaischen Stile die uneigentliche ist. Da giebt es denn eine grosse Mannigfaltigkeit von Wendungen, die schon von den griechischen Rhetoren in einzelne Gruppen vertheilt, und jede mit ihrem besonderen Namen sind belegt worden, je nach den verschiedenen Mitteln und Wegen, welche die dichterische Anschauung und Darstellung einschlägt, um einem Ausdruck, um einer Vorstellung eine über das Gewohnte hinaus belebte Sinnlichkeit zu verleihen. All diese einzelnen Arten aber werden von den griechischen Rhetoren, und nach ihrem Beispiel von den römischen und von den modernen, wieder unter zwei grosse Hauptclassen vereinigt, werden theils auf griechisch σχήματα , auf lateinisch figurae, theils τρόποι , tropi genannt. Ueber die Gründe und Merkmale dieser Unterscheidung lässt sich jedoch kaum ein einziger weder von den Alten noch von den Neuen mit rechter Schärfe und Deutlichkeit vernehmen. Man vergleiche darüber etwa Quintilian 1, 8 und 9, 1, der aber auch diesen Gegenstand weder sich selbst, noch Anderen recht klar zu machen weiss. Es kommt der Unterschied etwa auf Folgendes hinaus: bei der Figur bleibt die Vorstellung selbst unverändert, und man giebt ihr nur durch Umschreibung oder durch Hinzufügung anderer Begriffe oder durch eine Vergleichung mehr Sinnlichkeit des Ausdruckes; beim Tropus dagegen wird die zunächst liegende und eigentliche Vorstellung selbst gegen eine andere vertauscht; die Figur verändert nur den Ausdruck, nicht aber die Vorstellung: der Tropus die Vorstellung und mit ihr den Ausdruck; bei der Figur liegt hinter dem uneigentlichen Ausdruck immer noch der eigentliche, und beide sind durch ein wirklich Ausgesprochenes oder auch Verschwiegenes gleichwie mit einander verbunden: beim Tropus aber ist nur der uneigentliche Ausdruck vorhanden, da ja die Vorstellung selbst uneigentlich geworden ist. Bei der Figur ist die Vorstellung in sich dieselbe geblieben und nur äusserlich anders gestaltet; darum der Name σχῆμα : beim Tropus dagegen haben Vorstellung und Ausdruck beide die eigentliche Stelle ganz verlassen und sich anderswohin gewendet und gerichtet; darum der Name τρόπος . Es ist also z. B. eine blosse Figur, wenn man sagt das blaue Meer, der silberne Bach: die Vorstellung Meer und Bach bleibt, wird nur mehr versinnlicht durch das Beiwort blau, silbern; sagt man dagegen anstatt Meer blaues Salz oder anstatt Bach silbernes Band, so ist es ein Tropus, eine ungewöhnliche, mehr sinnliche Vorstellung, welche die gewöhnliche, darum minder sinnliche von ihrem Platze verdrängt. Ein so merklicher Unterschied mithin allerdings besteht zwischen Tropen und Figuren, sobald man die Sache im Grossen und Ganzen nimmt, so unbequem wird er und so unpractisch, sobald man ihn in das Einzelne hinein weiter ausführen will; oft genug wird man zweifeln, ob eine Ausdrucksweise figürlich oder tropisch sei. Ein Beispiel dieser Art ist Himmelszelt: das ganz eigentlich bezeichnende Wort Himmel ist hier noch mit beibehalten, und in so fern ist es eine Figur; aber der Hauptbegriff dieser Zusammensetzung ist das uneigentliche bildliche Wort Zelt, in so fern ist es ein Tropus. Zudem kennt auch die producierende Einbildung eines rechten Dichters diesen Unterschied nicht: ihr ist im Grunde Alles Tropus, nicht blosse Figur, Alles ein innerer organischer Wandel der Vorstellung, nicht bloss ein äusserer mechanischer des Ausdruckes. Deshalb haben sich auch mehrere Rhetoriker um diesen Unterschied gar nicht bekümmert, an ihrer Spitze Cicero, der beides, Figur und Tropus, nur translatio nennt, Uebertragung. Wir aber wollen den Unterschied festhalten und zuerst diejenigen sinnlichen Ausdrucksweisen abhandeln, die man Figuren, dann diejenigen, die man Tropen nennt, jedoch nicht festhalten, weil die Unterscheidung brauchbar und richtig sei, sondern eigentlich nur im Sinne einer geschichtlichen Notiz, um uns zu merken, was sonst Tropus und was Figur ist genannt worden und gewöhnlich noch so genannt wird. Ehe wir jedoch die Reihe der Figuren und der Tropen im Einzelnen betrachten, sind zwei allgemeine Regeln und Bemerkungen vorauf zu schicken, deren Zweck ist, auf Fehler aufmerksam zu machen und davor zu warnen, in welche man hiebei nur zu häufig verfällt. Der erste Fehler ist die Ueberhäufung des Stils mit bildlichen und uneigentlichen Wendungen, mit Figuren und Tropen. Sowie sich Figur auf Figur, Tropus auf Tropus drängt, wird damit der Geist des Zuhörers oder Lesers unverhältnissmässig in Anspruch genommen bloss für die Darstellung, bloss für die Gestalt der poetischen Schöpfung, er behält kaum noch Zeit und Kraft übrig, sich auch auf das Innere, auf den eigentlichen Gehalt hinzuwenden. Und selbst an der blossen Aeusserlichkeit kann die Einbildungskraft so keine rechte Freude gewinnen, und gar dem Verstande wird die ihm stäts noch gebührende Mitwirkung erschwert und verkürzt. Denn führt man durch eine Reihe von Gedanken eine ebenso lange Reihe von zusammenhangenden und gleichmässigen Bildlichkeiten durch, so ermattet die Einbildungskraft zuletzt in der Anschauung, und dem Verstande wird es leicht je mehr und mehr unklar, was denn eigentlich gemeint sei; wechselt man aber mit den Bildlichkeiten, und bringt jeder neue Gedanke auch eine neue, von den früheren ganz verschiedene, so wird die Einbildung zerstreut und in sich selbst zersplittert, und für den Verstand erwächst nun erst die rechte Undeutlichkeit. In dem unablässigen Hin- und Herwerfen erreicht die eine wie die andere Kraft keine ruhige, feste, sichere Auffassung weder des Einzelnen noch des Ganzen. So einleuchtend dieser Fehler des Uebermasses der Bildlichkeiten ist, so sehr er die einheitliche Production und Reproduction des Dargestellten beeinträchtigt, so häufig ist er dennoch, häufig gewesen und noch heut zu Tage. Es können ihn allerlei Umstände veranlassen. Bei den Einen ist er genau betrachtet nur die Folge des stilistischen Bewusstseins, womit sie ihre Darstellung figürlich und tropisch verzieren. Sie wissen: was ich jetzt schreibe, ist eine Synecdoche , und diess eine Metonymie , und diess eine Metapher, und da ist es denn zu natürlich, dass ihnen diese ihre Gelehrsamkeit einen übeln Streich spielt. So ist es namentlich mit den meisten römischen Dichtern, auch denen des sogenannten goldenen Zeitalters, Quellenangabe Personengruppe: Die römischen Dichter des goldenen Zeitalters z. B. auch mit Virgil Quellenangabe Person Virgil . Die Philologen gewahren zwar diesen Fehler gewöhnlich nicht, oder wollen wenigstens nicht zugeben, dass es ein Fehler sei; und diese Verblendung ist bei ihnen ebenso natürlich, als es bei ihren Autoren der Fehler ist: denn grade wie es diesen von der Rhetorenschule her eine Freude war, den Vers mit einer Synecdoche zu beginnen und mit einer Metonymie zu schliessen und mitten hinein noch eine Metapher zu setzen, grade so ist es nun auch den modernen Auslegern eine gar grosse Freude, die Synecdoche , die Metonymie , die Metapher zu erkennen und zu erklären. Wie bei jenen lateinischen Dichtern, ebenso und nach ihrem Muster auch bei den meisten deutschen Dichtern des siebzehnten Jahrhunderts. Auch hier eine endlose Fülle von Figürlichkeiten, und auch hier nur als Folge von Pedanterei und Gelehrtthuerei. Quelle: die deutschen Dicher des siebzehnten Jahrhunderts Und nicht bloss die Dichter waren damals in dieser Unart befangen: sie ergriff auch die Prosa, ja sogar die Umgangssprache des gewöhnlichen Lebens, und hier war es ein doppelter und dreifacher Fehler. Eine ergötzliche Probe davon und ergötzlicher Spott darüber findet sich in einem dialogischen Tractat von Joh. Balthasar Schupp, Der teutsche Lehrmeister, LB. 3, 1, 764─767 (wo zugleich auch der unnütze Purismus spöttisch gemacht wird). Schupp, der teutsche Lehrmeister, Unterscheidung prosaisch-poetisch??? Bei andern liegt der Grund und Anlass tiefer, und die Ueberfülle des bildlichen Schmuckes rührt davon her, dass die Einbildung sich dem Verstande untergeordnet, oder aber davon, dass sie dem Verstande nicht Recht genug eingeräumt hat. So z. B. Jean Paul. Seine Schriften strotzen von bildlichen Wendungen: aber diese sind beinahe alle nicht sowohl Erzeugnisse der Einbildung als des Witzes; nicht der Einbildung, sonst würden sie wohl um der Anschaulichkeit willen seltener sein, sondern des Witzes, der überall das Gleiche herausfindet, unbekümmert darum, ob es auch der Einbildung möglich sei, ihm überall hin zu folgen. Jean Paul, Überfülle als negative Bewertung? Oder ein mittelhochdeutscher Dichter, Wolfram von Eschenbach. Auch hier Uneigentlichkeit und Bildlichkeit im Uebermass; auch hier dieselbe, in vielen Fällen wenigstens, ein Ergebniss des hin und her fahrenden Witzes, noch öfter aber und gewöhnlich der ungezügelten Einbildung selbst, die kühn und beweglich und unterstützt von einer Sprachgewalt und Sprachgewandtheit, wie sie nur wenigen Dichtern verliehen ist, nach allen Seiten hin in das Gebiet der sinnlichen Anschauungen greift. Wird Wolfram von Eschenbach bewertet? Werden kognitive/semantische Aspekte der Metapher thematisiert? Oder endlich, um noch ein drittes Beispiel zu nennen, Tacitus. Obgleich ein Historiker, obgleich also ein Prosaiker, hat Tacitus dennoch nicht die eigentliche Darstellungsweise, die sonst für die Geschichtsschreibung characteristisch ist und von ihr gefordert wird: er drückt vielmehr wo möglich Alles uneigentlich oder doch ungewöhnlich aus, es ist bei ihm beinahe Alles Figur oder Tropus oder grenzt doch an das eine und das andere. Aber hier hängt an dieser Art des Stils kein Schulstaub: hier ist sie das nothwendige Ergebniss des fortdauernden Kampfes zwischen einer Einbildungskraft, die Alles mit poetischer Energie sinnlich anschaut, und einem schneidend scharfen Verstande, einem vom tiefsten Ingrimm erregten sittlichen Gefühl, eines Kampfes, wobei all jene Anschaulichkeiten zu keiner einheitlichen Ruhe und Objectivität gelangen können. Rhetorikbezug bei Tacitus? Tacitus Stil ist der Widerschein des in ihm ungelösten Gegensatzes zwischen Dichter und Politiker: eine Seite stört die andere in der Ausbildung der rechten Form: eben deswegen ist sein Stil, wie der Wolframs, wie der Jean Pauls, Manier. Vgl. S. 315. Der zweite Fehler, von dem wir zu sprechen haben, hängt mit dem ersten nah zusammen und ist, wo er vorkommt, gewöhnlich nur eine Folge desselben: es ist die Katachrese, κατάχρησις , zu deutsch Missbrauch, d. h. die Anwendnng ganz verschiedener Bildlichkeiten innerhalb eines und desselben Gedankens, so dass im ersten Worte die Einbildung rechts, im zweiten links hin gezogen wird. Z. B. „Lass nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Geist.“ Zügel des Neides und den Geist umnebeln, jedwedes für sich ist ein ganz gutes, anschaulich passendes Bild: aber in dieser Weise vereinigen lassen sie sich nicht, da es Anschauungen von der bestimmtesten Verschiedenheit sind. Wir haben von der Katachrese schon bei der Erörterung des prosaischen Stils gehandelt (S. 342): schon da zeigte sie sich als ein Fehler. War sie es aber dort schon, wo man gar nicht gewohnt ist, die Worte so sinnlich aufzufassen, war sie es dort schon, bloss weil sie die etymologische Erinnerung an die frühere, mehr sinnliche Bedeutung der Worte verletzt, so ist sie natürlich ein noch viel grösserer Fehler in der Sprache der Poesie, wo jeder bildliche Ausdruck Anspruch macht an die lebendigste Sinnlichkeit, wo der Zügel des Neides der Einbildungskraft als ein wirklicher Zügel, der umnebelte Geist ihr als wirklich in Nebel eingehüllt erscheinen soll. Dass aber solche Katachresen sich da am häufigsten einstellen müssen, wo man zugleich den ersten Fehler des Uebermasses und der Ueberhäufung begeht, das leuchtet von selber ein. Wer im Gebrauche der Bilder überhaupt Mass hält, der wird auch Acht darauf haben, dass sie zu einander passen; wer aber, sei es aus Pedanterei oder aus Ueberfülle der Phantasie oder aus welchem Grunde sonst, Bild auf Bild häuft, den wird auch die Pedanterei immer nur auf das Einzelne achten lassen, und die Phantasie wird ihm die Klüfte verbergen, die ein Bild vom andern trennen. Katachrese als parallelkategorie Auch für diesen Fehler giebt es bei den römischen Schriftstellern viele Beispiele; so bei Virgil am Anfang des sechsten Buches der Aeneis V. 4─8: „Obvertunt pelago proras; tum dente tenaci Ancora fundabat navis, et litora curvae Praetexunt puppes. Juvenum manus emicat ardens Litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae Abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum Tecta rapit silvas inventaque flumina monstrat.“ Quelle Virgil, Aeneis V. 4-8, Anfang des sechsten Buches Virgil Aeneis V. 4-8 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi0690.phi003.perseus-lat1:6.1-6.13 Und nun zur Betrachtung erst der Figuren, dann der Tropen. Die Figuren stehn also auf der niederen Stufe der Versinnlichung, insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck giebt ihr nur ein grösseres Mass von sinnlicher Anschaulichkeit. Von allen Figuren die geläufigste, mit der wir deshalb den Anfang der Reihe machen wollen, ist die Versinnlichung und Veranschaulichung eines substantivischen Begriffes durch ein schmückendes Beiwort, ein sogenanntes Epitheton ornans, dass man also z. B. nicht von einer Hütte spricht, sondern von einer niederen Hütte, und nicht von einem Dache dieser niederen Hütte, sondern von einem bemoosten Dache, und nicht von einem Landmann in derselben, sondern von einem zufriedenen Landmann. Diese Epitheta bezeichnen entweder allgemein gültige, den Substantiven ein für alle Mal und unter allen Umständen anhangende oder doch zukommende Eigenschaften, sind also stehende epische Beiwörter der Personen und Dinge; oder ihre Begründung und Gültigkeit liegt erst in den grade waltenden Umständen, sie hangen den Substantiven nur an, insofern sie grade hier und grade so erscheinen und wirken: zu jener Art gehört die niedere Hütte, der zufriedene Landmann, zu dieser dagegen das bemooste Dach, weil dieses Beiwort bloss gelegentlich beigelegt ist. Die Epitheta ornantia sind aller Poesie aller Völker und Zeiten geläufig, und das ist auch ganz natürlich bei der grossen Einfachheit. Aber der Gebrauch wird auch oft genug übertrieben: es giebt Dichter, die kaum mehr ein Substantiv setzen können ohne ein Epitheton: da läuft denn auch manches Müssige mit unter, mancher Pleonasmus, wie alter Greis, und diese gleichmässig fortlaufende Reihe von Substantiv und Adjectiv, Substantiv und Adjectiv hat für die Einbildung und sogar für das Ohr bald etwas höchst Ermüdendes und Langweiliges. Der Ueberfluss solcher Epitheta characterisiert wie die lateinischen Dichter, so die deutschen des siebzehnten und aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; der gebräuchliche Vers, der Alexandriner, verleitete dazu: es machte sich wie von selbst, dass man vor die Cäsur ein solches Wortpaar setzte und hinter die Cäsur wieder eins. So selbst bei den besten Dichtern jener Zeit, z. B. bei Albrecht von Haller (LB. 2, 631, 30─633, 8). Dass es in der That hauptsächlich die Noth gewesen sei, die zu einer solchen eintönigen Häufung von Epithetis getrieben habe, die Noth, den langen Vers zu füllen und den rechten Abschnitt zu gewinnen, das verräth ein Zeitgenosse Hallers, der selber auch genug Alexandriner geschrieben hat, K. Fr. Drollinger, in seinem Spottgedicht auf den Alexandriner (Ueber die Tyrannei der deutschen Dichtkunst: LB. 2, 582). Eine andere Figur, die in dem Wesen aller Sprache vielleicht noch tiefer begründet ist, deren Anwendung sich auch bis tief in die alltägliche Rede hinein erstreckt, ist die Umschreibung, περίφρασις . Umschreibung entsteht dann, wenn man eine Person oder Sache oder eine Thätigkeit nicht bei ihrem gewöhnlichen, einfachen Namen nennt, sondern sie statt dessen weitläuftiger durch eine oder mehrere characteristische Eigenschaften oder Wirkungen oder dergleichen bezeichnet; wenn man z. B. statt Wein sagt „das schäumende Blut des Weinstockes.“ Bescheiden eingeschränkt kann diese Weitläuftigkeit allerdings der sinnlichen Anschauung wesentliche Dienste leisten, und hat sie ihr auch von jeher geleistet. Misslich aber wird die Umschreibung, sowie sie über die dem einfachen Ausdruck immer noch nahe liegende Zweigliedrigkeit hinausgeht. Besonders stark in solchen weitläuftigen Weitläuftigkeiten ist Ramler, „der deutsche Horaz.“ Stilistiker seiner Zeit oder seines Geistes haben immer eine grosse Freude daran gezeigt, wie kunstreich er z. B. die Begriffe Kanone, Eis und Schlittschuh zu umschreiben wisse. Statt Kanone nämlich sagt er, indem er dieselbe anredet: „O du, dem glühend Eisen, donnernd Feuer, Aus offnem Aetnaschlunde flammt, Die frommen Dichter zu zerschmettern, Ungeheuer, Das aus der Hölle stammt“ (LB. 2, 725); statt Eis: „der diamantene Schild des Stromes, der alle Pfeile der Sonne verhöhnt“; statt Schlittschuhe: „Schuhe von Stahl, worin der Mann der freundlichen Venus (Umschreibung für Vulcan) der Blitze Geschwindigkeit barg.“ Dergleichen wird dann alles Ernstes als Muster angeführt und zur Nachahmung empfohlen. Gleichwohl sind solche gar zu ausgeführte Umschreibungen misslich, deswegen weil sie dem Gesetze der Deutlichkeit, das ja auch für die Poesie immer noch gilt, Eintrag thun und darum auch zur Anschaulichkeit weiter nicht helfen. In einer Art von Gedichten ist freilich die ausgeführte Umschreibung wohl an der Stelle, aber nur weil da auch Undeutlichkeit an der Stelle ist, nämlich in Räthseln. Das Wesen des Räthsels (S. 161) besteht ja darin, dass man statt des Gegenstandes nur die Merkmale angiebt, die ihn kennzeichnen, und es nun der Einbildung und dem Witze des Zuhörers anheimstellt, aus dieser weitläuftigen Umschreibung den einfachen Begriff herauszufinden. Vergl. LB. 2, 1145. Wo es aber nicht die Absicht ist, ein Räthsel zu dichten, wo man den Leser nicht mit den Schwierigkeiten necken will, da ist es ein Fehler, wenn es dennoch geschieht. Es geschieht aber beinahe jedesmal, wo die Umschreibung sich in solche Ramlerische Weitläuftigkeiten verliert. Bei der Umschreibung wird die einfache Grundvorstellung von der sinnlichen Bildlichkeit umhüllt; bei einer dritten und vierten Figur treten beide, jedwede selbständig für sich, neben einander. Es sind die Figuren der Vergleichung und des Gleichnisses. Vergleichung und Gleichniss, beide gehören nah zusammen, sind aber doch verschieden; die Vergleichung ist das Kürzere, das Gleichniss das Ausgeführtere; die Vergleichung deutet nur an, das Gleichniss malt vollständig aus. Die Vergleichung macht nur mit einem Winke aufmerksam auf etwas, das in der sinnlichen Wirklichkeit ähnlich ist der vorliegenden minder sinnlichen Vorstellung. Hart wie Stahl, aber edel wie Gold; klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben: das sind blosse Vergleichungen. Und so wie hier werden einfache Vergleichungen sich gewöhnlich da ergeben, wo auch nur einzelne Begriffe zu versinnlichen sind. Das Gleichniss dagegen stellt nicht den einzelnen sinnlichen Begriff neben den einzelnen unsinnlichen, sondern das Sinnliche neben das Sinnliche und eine ganze in sich abgeschlossene Reihenfolge von Vorstellungen neben die andere; es lässt neben eine der Wirklichkeit angehörige vollständige Anschauung noch eine andere gleichfalls der Wirklichkeit entnommene treten, damit jene durch diese noch anschaulicher werde, als sie es schon für sich allein sein würde. Bekanntlich ist der Gebrauch solcher Gleichnisse eine Eigenthümlichkeit des Homerischen Epos und Virgils; weiterhin bei den Römern finden sich Homerische Gleichnisse auch ausserhalb des Epos in den Tragödien des Seneca und aus ihm bei Andreas Gryphius; dann auch in den serbischen Heldenliedern. Häufig sind sie in modernen Heldengedichten, indem man sie der epischen Poesie unentbehrlich erachtet; aber man hat diese Regel doch erst aus dem Homer abstrahiert: die alte, eigentlich nationale Epik der Deutschen und sonst eines neueren Volkes, mit Ausnahme der Serben, weiss davon nichts. Wie es aber zu gehn pflegt, wo man etwas bloss nachahmt, Virgil und die neueren Dichter übertreiben es darin, und während die Homeriden gewiss sparsam mit ihren Gleichnissen sind (Häufungen wie II. 2, 455 fgg. sind selten und erklären sich aus dem Ursprunge des Gedichtes), wird man bei neueren Epikern recht eigentlich damit überschüttet, und man kann keine Seite lesen, ohne auf ein Wie zu stossen. Ja in einem neueren Epos der schweizerischen Litteratur, Die Enkel Winkelrieds von Tobler, einem sonst nicht unverdienstlichen Werke, kommen zuweilen unmittelbar hinter einander drei, vier vor (S. 8. 14 fgg.), eine Uebertreibung, die häufig zur Katachrese führt. Ausserdem fehlt Tobler und fehlen andere neuere Epiker noch darin, dass sie ihre Gleichnisse zu weit herholen. Die Naturerscheinungen z. B., die Homer etwa gelegentlich als Gleichniss braucht, sind Erscheinungen der den Griechen täglich und überall umgebenden Natur, Ströme, die bergab stürzen, Kraniche, die durch die Luft ziehen, Steine, die über das Feld hin verstreut sind: ebenso gut sind nun noch die Toblerischen Gleichnisse von der Lauine, der Wettertanne u. dgl. Sowie er aber darüber hinaus geht, sowie er z. B. von wilden Thieren der americanischen Urwälder spricht, wird es auch fehlerhaft: es sind Gleichnisse, die von der Darstellung weitab liegen und die Phantasie zerstreuen, die nur die Gelehrsamkeit producieren, nur die Gelehrsamkeit reproducieren kann, denen also viel abgeht zu einer allgemein gültigen Anschaulichkeit. Besondere Beachtung verdient die eigenthümliche Form, welche die serbische Poesie den Gleichnissen zu geben liebt: zuerst wird das verglichene Naturbild, vielleicht in Form einer Frage, hingestellt, dann folgt die Negation des Bildes und die Entgegenstellung des wirklichen Ereignisses, das erzählt werden soll. Z. B. Talvj 2, 159: „Wuchsen einst zwei Kiefern bei einander, Mitten eine Tanne schlanken Wipfels. Aber nicht zwei grüne Kiefern warens, War nicht eine Tanne schlanken Wipfels, Waren Brüder, Söhne eines Leibes, Zwischen ihnen Jelitza, die Schwester.“ Oder Talvj 1, 201: „Rollt der Donner? oder bebt die Erde? Nicht der Donner ist es, noch die Erde, Die Kanonen krachen in der Feste.“ Vgl. Talvj 1, 164; 2, 165. Durch diese Formgebung erhält das Naturbild eine grössere Selbständigkeit und Anschaulichkeit, zugleich wird es durch die Frage und dann die Negation eben als Bild, als unwirklich bezeichnet. Uebrigens beschäftigt jede Vergleichung und jedes Gleichniss nicht bloss die Einbildungskraft, sondern zugleich immer den Verstand: denn eigentlich er ist es ja, seine Thätigkeit im Witz, die uns das sogenannte tertium comparationis entdecken lässt, d. h. den Punct, worin die zwei Glieder einer Vergleichung, worin Bild und Gegenbild sich ähnlich sind. Bei dieser verständigen Betrachtung zeigt sich aber jedesmal, dass neben dem Aehnlichen auch wieder manches Verschiedene sei: daher der Satz „Omne simile claudicat, Jede Vergleichung hinkt.“ Das ist nicht zu vermeiden, der Dichter kann nur dafür sorgen, dass es nicht gar zu augenfällig hinke, oder dass gar das tertium comparationis gänzlich fehle. Besonderen Reiz aber haben solche Vergleichungen und Gleichnisse, die einen auffallenden Contrast des Grossen und des Kleinen, des Gewaltigen und des Geringfügigen enthalten; hier wird entweder der messende und nachrechnende Verstand überrascht und überwältigt, und es ergiebt sich das Erhabene; oder er geräth in Widerspruch und verharrt darin, und es ergiebt sich das Lächerliche: das Erhabene, wenn das zur Vergleichung herbeigezogene Bild an sich geringfügig, das, womit es verglichen wird, grossartig ist; das Lächerliche bei umgekehrtem Verhältniss, wenn die Grundanschauung geringfügig, das Bild aber grossartig ist. Erhaben ist der Contrast z. B. in dem Homerischen Gleichnisse Il. 12, 433, wo die unentschieden schwebende Schlacht mit der gleichstehenden Wage einer Wollenspinnerin zusammengestellt wird; lächerlich dagegen in Zachariäs Renommisten, wenn das Bier, das bei einem Studentengelage über den Tisch fliesst, verglichen wird mit dem anschwellenden und übertretenden Nil (LB. 2, 649). Fünftens die Anspielung oder Allusio. Sie gehört mit zu der Vergleichung, doch hat sie die eigenthümliche Beschaffenheit, dass nur das zur Vergleichung Gezogene ausgesprochen wird, bloss diess eine, nicht beide Glieder, und dass dieses eine der geschichtlichen Wirklichkeit angehört: es wird also in einer verkürzten Vergleichung hingewiesen auf eine historische Person oder Räumlichkeit oder Begebenheit oder Sitte und dergleichen. Z. B. „Jetzt bin ich über den Rubico gegangen“, d. h. jetzt habe ich einen entscheidenden Schritt gethan, wie Cäsar, da er über den Rubico gieng. Anspielungen sind es ferner, wenn eine Person ein Spartaner, ein Sybarit, ein Epicuräer, ein Cyniker, ein Attila, ein Vandale, ein Salomon, ein Mentor, wenn eine böse Frau eine Xanthippe, wenn ein schönes Thal ein Tempe, ein reizender Ort ein Elysium, wenn eine kurze Antwort laconisch, ein schwelgerisches Mahl lucullisch genannt wird, oder endlich, wenn man von Argusaugen, Hiobsgeduld, Tagen von Aranjuez, Herculischen Arbeiten, Neronischer Grausamkeit u. s. f. spricht. Bedenklich wird die Anspielung, wenn das Verständniss Gelehrsamkeit erfordert. Dieser Weg wurde namentlich damals viel betreten, als unsere Poesie noch bis über die Ohren in der antiken Mythologie steckte. Die Tropen. Von den Tropen wird, da sie die Vorstellung in viel höherem Grade versinnlichen als die Figuren, auch die Einbildung mehr angesprochen, und sie sagen der Poesie noch mehr zu als diese. Deshalb hat sich diese Ausdrucksweise auch reicher und mannigfaltiger ausgebildet, und die Reihe der Tropen ist grösser als die der Figuren. Wir beginnen dieselbe mit der Metonymie ( μετωνυμία ). Metonymie heisst eigentlich Umnennung, Vertauschung des Namens: es wird aber doch nicht bloss der Name, sondern in der That die Vorstellung selbst wesentlich verändert und deshalb auch der Name. Es werden nämlich bei der Metonymie Begriffe mit einander vertauscht, die in einer natürlichen, durch Einbildung und Verstand leicht findbaren Verbindung mit einander stehn: sie hat ihren Grund in einem Zusammenhange oder einer Verwandtschaft der Begriffe. Solcher Zusammenhangs- und Verwandtschaftsverhältnisse giebt es aber eine grosse Menge. Die wichtigsten sind etwa folgende. Zunächst das Raumverhältniss: man nennt den Ort statt dessen, was sich darin befindet; z. B. „Der Wald besingt des Schöpfers Lob“, d. h. die Vögel im Wald. Jerem. 4, 29: „Alle Städte werden vor dem Geschrei der Reiter und Schützen fliehen und in die dicken Wälder laufen und in die Felsen kriechen.“ 1 Mos. 41, 57: „Alle Lande kamen in Aegypten, zu kaufen bei Joseph.“ Matth. 3, 5: „Da gieng zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan.“ Sodann das Zeitverhältniss: es wird der Zeitraum gesetzt statt derer, die darin leben; z. B. „Jahrhunderte harrten vergebens“; das Vorhergehende statt des unmittelbar Nachfolgenden; man sagt z. B. die letzte Umarmung und meint die Trennung, die darauf folgt, ein Tropus, den man auch mit dem besondern Namen μετάληψις , Nachfolge benennt. Ferner das Stoffverhältniss: man nennt den Stoff statt dessen, was daraus bereitet ist; z. B. Eisen, Stahl statt Schwert; Eisen statt Ketten; Fichte, Esche statt Schiff; Esche statt Lanze; Linde statt Schild. Dann das Causalitätsverhältniss: man nennt die Ursache statt der Wirkung, z. B. Arbeit der Stiere statt Getreide; die Wirkung statt der Ursache, z. B. „Die Wolken träufeln Segen“ (statt Regen); „Hütten, um die der Landmann stille Schatten pflanzt“ (statt Bäume); zuweilen wird auch eine Wirkung statt der andern gesetzt, so z. B. wenn man das Getreide den Schweiss des Landmanns nennt, da der Schweiss auch nur begleitende Wirkung der Arbeit ist; der Zweck statt des Werkzeuges, z. B. „Die Straf er zückt vom Leder,“ d. h. das Schwert, womit er strafen will (Spee, Trutz- Nachtigall 138). Endlich das Symbolverhältniss: man nennt das Zeichen statt des Bezeichneten, z. B. Lorbeer statt Ruhm, Sieg; Oelzweig, Palme statt Frieden; ebenso Thron, Stuhl, Krone, Scepter, Sprengel. Eine Art der Metonymie streift nahe an die Allusion, nämlich der Gebrauch des Beinamens statt der Person oder Sache selbst; z. B. Stagirit statt Aristoteles, Pelide statt Achilles, Mäonide statt Homer, Sieger von Marengo statt Napoleon, Themsestadt statt London. Ausserdem giebt es noch mancherlei andere Metonymien, die sich nicht mit solcher Bestimmtheit classificieren lassen, z. B. wenn man von Jemanden sagt, er sei abgebrannt, während doch nur sein Haus verbrannte, eine Metonymie, die schon die Römer kannten: „Hospes arsit“ Hor. Sat. 1, 5, 72. „Proximus ardet Ucalegon“ Virg. Aen. 2, 311 (Wenn erst Ukalegon, dein Nachbar, steht im Rauch, Rachel Sat. 3 im LB. 2, 462). Die Metonymie ist gut und recht, wenn man sie nicht häuft, und wenn die Vertauschung so natürlich ist, dass die Möglichkeit derselben nahe an die Nothwendigkeit grenzt. Aber namentlich beim Symbolverhältniss und beim Gebrauch der Beinamen wird oft gefehlt und die Anschaulichkeit der Gelehrsamkeit aufgeopfert. Einen andern Tropus stellen wir am besten gleich mit der Metonymie zusammen, weil er gewissermassen die grade Umkehrung desselben ist: das Wortspiel. Bei der Metonymie werden beide, Vorstellung und Wort, verändert, aber das Wort mehr als die Vorstellung: denn die neue Vorstellung verharrt in der allernächsten Beziehung zu der eigentlichen alten, während das eigentliche und das uneigentliche Wort, als Worte betrachtet, nichts mit einander gemein haben. Anders beim Wortspiel: hier wird das gegeben vorliegende Wort als Wort nur unmerklich verändert, aber mit dieser unmerklichen Veränderung des Wortes verknüpft sich die merklichste und wesentlichste Veränderung der Vorstellung: es tritt eine neue Vorstellung ein, die mit der des veränderten Wortes wenig oder vielleicht nichts mehr gemein hat; ja es kann das Wort selbst in seiner Form gänzlich unverändert bleiben und sich dennoch dem Zusammenhange gemäss plötzlich eine ganz andre und neue Vorstellung damit verbinden. Bei der Metonymie wird also nur die Vorstellung etwas auf die Seite hin gerückt, und damit wechselt der Ausdruck; beim Wortspiel rückt man den Ausdruck etwas auf die Seite, und damit wechselt die Vorstellung. Diess ist das Wesentliche des Wortspiels; Alles, was sonst noch darüber kann gesagt werden, leitet sich einfach und von selbst aus diesem her und bedarf deshalb keiner weiteren Ausführung. Die griechische Rhetorik nennt das Wortspiel παρονομασία , die lateinische annominatio; so bei Quintilian an mehreren Stellen (Inst. 9, 3, 66); auch handelt davon ein Capitel in den Rhetoricis ad Herennium 4, 21, das einige Proben des lateinischen Wortspielwitzes darbietet, wie z. B. Veniit a te, antequam Romam venit ; Quos homines vincit, eos ferro statim vincit; Hunc avium dulcedo ducit ad avium; Si lenones tanquam leones vitasset; Videte, judices, utrum homini navo an vano credere malitis, u. s. f. In Fällen, wo bloss der Anfangsbuchstabe verändert wird, ist das Wortspiel zugleich ein Reim; so Vell. Pat. 2, 108: „Maroboduus natione magis quam ratione barbarus“; so ferner der Ausspruch des Bias bei Gellius Noct. Att. 5, 11: „ ἤτοι καλὴν ἄξεις \̓ η αἰσχράν· καὶ εἰ καλήν, ἕξεις κοινήν, εἰ δὲ αἰσχράν, ἕξεις ποινήν .“ Aeschyl. Supplic. v. 826: „ ὅδε μάρπτις νάϊος γάϊος .“ Und so ist in den meisten Fällen, wo Griechen reimen, ein Wortspiel der Anlass dazu; im Lateinischen und Deutschen dagegen hat der Reim noch anderweitigen Grund und Sinn. Natürlich hat, da es beim Wortspiel zugleich auf Aehnlichkeit und auf Verschiedenheit ankommt, auf Aehnlichkeit des Ausdrucks und auf Verschiedenheit der Vorstellungen, der Verstand an ihm einen vorwaltenden Antheil, einen grösseren Antheil als die Einbildung, der Verstand in den beiden nah verwandten Thätigkeiten des Witzes und des Scharfsinnes. Deshalb ist auch das Wortspiel vornehmlich und beinahe ausschliesslich zu Hause in der komischen Poesie, in der Comödie, in der Satire (LB. 2, 1292), im satirischen Epigramm, im komischen Epos, im komischen Roman und in der scherzhaften Lyrik, zu Hause da, wo ein Widerspruch des Verstandes darzustellen ist gegen die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit: so finden wir es denn in der griechischen Comödie des Aristophanes wie in der lateinischen des Plautus und in der englischen Shakspeares, bei Rabelais und Fischart (LB. 3, 1, 471) im komischen Roman Gargantua, wie bei Abraham a Sancta Clara im satirischen Roman Judas der Erzschelm und in satirischen Predigten, und bei Jean Paul. Das ernsthafte Epos dagegen und die tragische Poesie können das Wortspiel nur so und in so fern in sich aufnehmen, als sie auch jenen Widerspruch des Verstandes gegen die Einbildung in sich aufnehmen können, d. h. nur vorübergehend und den höheren Zwecken des Epos und der Tragödie dienend untergeordnet, nur als Ausdruck der tragischen Ironie, nicht aber der Laune und des Spottes. Ein Beispiel der Art aus dem classischen Alterthum, noch eins nach dem eben angeführten aus den Supplices, findet sich bei Aeschylus in den Septem V. 830, wo mit Rücksicht auf Polynices diess Wort als Adjectiv im Sinne von zanksüchtig gebraucht wird; ein Wortspiel, das Sophocles und Euripides an passlichen Orten wieder aufgenommen haben, und das als ein Beispiel der Art zu bemerken ist, wo das Wort selbst gar nicht verändert wird. Beispiele aus der epischen Poesie der Deutschen sind etwa, wenn in den Nibelungen (Str. 2256 Lachm.) Dietrich von Bern, nachdem er alle seine Mannen verloren hat, im bittersten Schmerze ausruft: „Und sint erstorben alle mîne man, sô hât mîn got vergeʒʒen, ich armer Dietrîch! “ Hier wird Dietrich in seiner eigentlichen Bedeutung Dietreich, Volkreich aufgefasst, und das ist bei dem antithetischen Beiworte arm ein Wortspiel. Oder wenn in einem anderen Gedicht aus der Dietrichssage, Dietrichs Flucht betitelt, Dietrich, nachdem er eine Schlacht verloren, durch die er sein Reich in Bern wieder zu erlangen hoffte, ausruft: „Von Berne (d. h. der von Bern getrennte) mac wol heiʒen ich, wan ich dâ niht ze schaffen hân“ (V. 4762). Oder wenn es in der Gudrun Str. 623 heisst: „Daʒ muote Hartmuoten harte sêre.“ Wie aber gesagt, das Wesen des ernsthaften Epos und der Tragödie duldet dergleichen nur selten und unter besonderen Umständen, und deshalb darf man auch zweifeln, ob Paul Gerhardt (S. 97 b . 137 a ) und Benjamin Schmolck recht daran gethan haben, dass sie sogar in das geistliche Lied Wortspiele gebracht haben. Die komische Poesie und Prosa dagegen begünstigt es, und von je lebhafterem Witz Autoren dieser Art waren, desto mehr haben sie auch eben diese Seite und diese Form des Witzes herausgekehrt. Als Beispiel diene ein Abschnitt aus dem eben erwähnten geistlich satirischen Romane Judas der Erzschelm von Abraham a Sancta Clara, in welchem Abschnitte unter einer wahren Flut der mannigfaltigsten Wortspiele das Leben des verlorenen Sohnes erzählt wird (LB. 3, 1, 909). Bekanntlich sind die Wortspiele in Schillers Capuzinerpredigt zum grössten Theil aus Abraham a S. Clara entlehnt, die anderen ihm wenigstens nachgebildet, und grade in diesem Abschnitte finden wir die Originale zu mehreren Schillerischen. Drittens die Synecdoche ( συνεκδοχή ), eigentlich das Mitverstehen. Die Synecdoche ist im Grunde nur eine Abart der Metonymie: auch hier findet eine Vertauschung nah zusammenhangender Begriffe statt, aber unter einem bestimmten Verhältnisse: dem des Theiles zum Ganzen. Sie beruht also auf einem Umfangsverhältniss, oder, wenn man will, Theilverhältniss, und es ist eine Synecdoche, so wie man den Theil für das Ganze, partem pro toto, oder umgekehrt das Ganze für den Theil setzt. Dieser Theil muss aber unter all den Einzelheiten, die sich an dem Ganzen unterscheiden lassen, die wichtigste und hauptsächlichste sein, muss Wesen und Zweck des Ganzen recht eigentlich characterisieren. Wo er nicht so beschaffen ist, da fehlt der Synecdoche die rechte Anschaulichkeit. Es steht z. B. ganz einfach der characteristische Theil für das Ganze, wenn man statt des Schwertes ort, die Spitze des Schwertes, oder ecke, die Schärfe des Schwertes setzt oder Schneide oder Heft; statt des Schildes umbo, Buckel, oder nach altdeutscher Weise rant (mit Bezug auf den eisernen Rand, der das Geflecht von Zweigen oder die Bretter zusammenhielt, woraus der Schild bestand), statt Schiff Kiel oder Mast oder Segel, statt See Wellen, oder wenn altdeutsche Dichter die deutsche Kaiserkrone weise nennen nach dem vorzüglichsten Edelstein derselben; und ebenso, wenn man in der Kriegssprache, die noch theilweise die sinnlich poetische Färbung des Mittelalters trägt, nicht hundert Reiter sagt, sondern hundert Pferde, und hundert Helme, hundert Lanzen statt der mit Helm und Lanze gerüsteten Krieger. Eine recht starke Synecdoche, bei welcher das totum pro parte steht, wird in der Sanctgallischen Rhetorik (LB. 1 4 , 135. 1 5 , 313) angeführt: „Porcus per taurum sequitur vestigia ferri;“ hier bezeichnet porcus die Schweinsborste, taurus das Rindsleder und unter den vestigia ferri wird metonymisch das mit der Ahle geborte Loch verstanden (synecdochice de opere sutoris totum dicitur et pars intelligitur). In anderen synecdochischen Wendungen lässt sich das Theilverhältniss noch schärfer bezeichnen: es wird z. B. die Gattung statt der Art gesetzt: so, wenn man Künstler statt Maler, Sterbliche statt Menschen sagt; oder die Art statt der Gattung: z. B. „Der Geizige schielt nach harten Thalern (Geld); der frohe Landmann missgönnt dem Städter seine Bälle (Vergnügungen) nicht.“ Man geht auch wohl eine Stufe weiter und gebraucht die Art statt des Individuums, z. B. wenn man Herr sagt statt Gott, König; oder das Individuum statt der Art, wenn man einen grossen Redner Cicero, einen weisen Richter Salomo, einen Kunstfreund Mäcen, einen strengen Sittenrichter Cato, eine der Schwelgerei ergebene Stadt Babel nennt; eine Art der Synecdoche, die sich mit der Allusion (S. 389) berührt und oft mit dem besonderen Namen ἀντονομασία , Umnennung, bezeichnet wird. Endlich wird in synecdochischer Weise nicht selten die bestimmte Zahl statt der unzähligen Menge gesetzt: z. B. „Tausend Zungen verkündigen Gottes Lob“; namentlich aber wird der Singular im Sinne der pluralischen Gesammtheit gebraucht: z. B. „Die Lerche verkündet den Frühling“; G. Schwab: „Der Indier ist da, der Mohr! Der Ahnherr hat die Stadt zerstöret: Wer weiss, was uns der Enkel schwor!“ (LB. 2, 1459). Der vierte Tropus, nach Quintilian 8, 6 tum frequentissimus, tum longe pulcherrimus, ist die Metapher; sie trägt den allgemeinsten Namen von allen: μεταφορά heisst die Uebertragung , eine Benennung, die am Ende auf alle figürlichen und tropischen Wendungen passt. Die griechischen Rhetoren nennen denn auch nicht bloss diesen einen Tropus, der in specie so heisst, sondern daneben auch alle übrigen Tropen und Figuren Metaphern, Quelle: Die griechischen Rhetoren und Cicero hat den lateinischen Namen translatio, womit er Figuren und Tropen insgemein belegt, sichtlich diesem griechischen μεταφορά nachgebildet. Quelle: Cicero Sofern man jedoch Metapher in dem auch altgebräuchlichen, mehr beschränkten Sinne auffasst, der freilich, wenn man das Wort etymologisch nimmt, rein willkürlich so beschränkt ist, so bezeichnet sie im Gebiete der Tropen dasselbe, was im Gebiete der Figuren die Vergleichung ist. Bei der Figur der Vergleichung wird neben die gewöhnliche Vorstellung und den gewöhnlichen Ausdruck eine andere Vorstellung und deren Ausdruck gesetzt, die ungewöhnlicher und sinnlicher und dadurch anschaulicher sind. Beim Tropus der Metapher aber wird die gewöhnliche, minder sinnliche Vorstellung sammt ihrem Ausdruck gänzlich unterdrückt und das sinnlichere Gegenbild tritt gradezu an ihre Stelle. Mit Einem Worte also, die Metapher ist eine abgekürzte Vergleichung. Während es z. B. nur noch eine Vergleichung ist, so lange man sagt: er war beständig wie ein Diamant, wo neben den abstracten Begriff beständig nur vergleichungsweise der sinnliche Begriff Diamant gesetzt wird: so wird es eine Metapher, sobald man etwa mit Hartmann von Aue sagt: er war an beständiger Treue ein Diamant Hartmann von Aue, angenommenes Werk: Armer Heinrich ; mit dem Verschwinden des wie tritt die abstracte Vorstellung zurück, und die sinnliche rückt an ihren Platz. Als Beispiel mag hier eine Stelle aus Hartmanns Armem Heinrich dienen, die neben der eben angeführten noch eine ganze Reihe von Metaphern enthält. Ritter Heinrich von Aue wird mit folgenden Worten geschildert: „Er was ein bluome der jugent, der werlte fröude ein spiegelglas, staeter triuwe ein adamas, ein ganziu krône der zuht. er was der nôthaften fluht, ein schilt sîner mâge, der milte ein glîchiu wâge: ime enwart über noch gebrast. er truoc den arbeitsamen last der êren über rücke. er was des râtes brücke und sanc vil wol von minnen“ Quelle: Hartmann von Aue, Armer Heinrich https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Hartmann/har_hein.html (LB. 1 4 , 347. 1 5 , 525). Uebrigens kann der Sitz der Metapher jegliches Wort sein, nicht bloss ein Substantiv, sondern auch ein Adjectiv und auch ein Verbum: auf jedem dieser drei Gebiete kann eine abstracte Vorstellung gegen ihr concretes, eine minder sinnliche gegen ihr mehr sinnliches Gegenbild vertauscht werden. Substantivische Metaphern sind z. B.: Lenz des Lebens, Rosen der Jugend, Hefe des Volkes, Haupt des Staates, Stütze des Thrones, Schiff der Wüste, Ross des Meeres Explikation: substantivische Metapher ; adjectivische, wo dann der Tropus der Metapher zusammenzufallen pflegt mit der Figur des schmückenden Beiwortes: Der silberne Bach, die goldene Ernte, das sterbende Jahr; Explikation: adjektivische Metapher verbale Metaphern sind: Die Schönheit verblüht, Gewitter lagern sich am Himmel, der Sturmwind heult, das Schwert dürstet nach Blut. Explikation: verbale Metapher Die Uebereinstimmung des Tropus der Metapher mit der Figur der Vergleichung geht aber noch hinaus über den so eben berührten Punct. Wir haben gesehen (S. 387), dass aus der Vergleichung, so wie man sie noch weiter, zu einer noch sinnlicheren Anschaulichkeit entwickelt und ausführt, das Gleichniss hervorgehe: grade so giebt es auch eine weitere, noch sinnlichere Ausführung der Metapher; man nennt dieselbe Allegorie, von ἀλληγορέω d. h. etwas anderes sagen, als zu verstehen ist. Es ist diess wieder eine sehr allgemein gehaltene Benennung und darin liegt auch der Grund zu mannigfachen Irrthümern, worein alte und neue Rhetoren bei der Allegorie gerathen sind; selbst Quintilian (8, 6), der es eine Allegorie nennt, dass Quintilian Institutio Oratoria 8,6 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi1002.phi0018.perseus-lat1:6.1 Virgil Eclog. 9 seinen Namen gegen den Namen Menalcas vertausche. Quelle zitiert nach Quintilian Virgil Eclogues 9 http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi0690.phi001.perseus-lat1:9 Der Tropus der Allegorie steht ebenso der Figur des Gleichnisses gegenüber, wie der Tropus der Metapher der Figur der Vergleichung gegenübersteht. Nämlich die Allegorie veranschaulicht nicht nur Einen Begriff durch Versinnlichung desselben, sondern eine ganze, eng zusammengehörige Reihe von Begriffen, indem sie einen Gegenstand nebst den Eigenschaften, die ihm anhangen, und den Wirkungen, die er ausübt, in einem fortgeführten, umfangreicheren, in sich einigen Bilde ausmalt. Ein Beispiel wird hinreichen, um diess Verhältniss der Allegorie zur Metapher klar zu machen. Allegorie als erweiterte Metapher Es wäre also eine blosse Vergleichung, wenn man sagte: „Die Dichtkunst der Römer war wie eine ausländische Blume.“ Daraus entsteht eine Metapher, wenn man sagt: „Die Dichtkunst war zu Rom eine ausländische Blume.“ Sobald man nun mit Herder diese Metapher in folgender Weise noch sinnlicher ausführt: „Die römische Dichtkunst war aus griechischem Samen in den Garten eines Kaisers verpflanzt, wo sie als schöne Blume da stand und blühte,“ sobald man also dem einfachen sinnlichen Begriffe Blume noch die weitere sinnliche Beziehung auf Samen, auf Garten, auf die Person eines Kaisers, auf die Thätigkeit des Blühens beifügt, so ergiebt sich die Allegorie. Allegorie als erweiterte Metapher Einen vorwaltenden Hang zur Allegorie hat die morgenländische Dichtkunst: man begegnet in den poetischen Büchern des Alten Testamentes zahlreichen Beispielen. poetische Bücher des alten Testaments Statt vieler möge hier eines angeführt werden, Psalm 80, 9─17, wo das Volk Israel mit einem Weinstock verglichen und nun diese Vergleichung eben zur Allegorie ausgeführt wird. Bibel Psalm 80, 9-17 http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/bibeltext/bibel/text/lesen/?tx_buhbibelmodul_bibletext%5Bscripture%5D=Psalm+80%2C+9 Räthsel und Allegorie finden sich vereinigt bei Hesekiel 17, 2 fgg. Bibel Hesekiel 17, 2fgg. http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/26/170001/179999/ch/32b36f22f31369ecfe18e8ccb02da49c/ Gewöhnlich verbindet sich mit dem Tropus der Allegorie noch der der Personification, und dann ist erst die volle poetische Schönheit erreicht, insofern erst dann sinnliche Anschaulichkeit in ihrer ganzen Fülle vorhanden ist. Wir handeln demnach gleich auch von diesem Tropus. Bei der Prosopopöie ( προσωποποιία ) oder Personification sind zwei Stufen zu unterscheiden, je nachdem man das Wort im engeren oder weiteren Sinne fasst. Im weiteren Sinne sind alle Metaphern, die zur höheren Versinnlichung lebloser Wesen dienen, Personificationen; hier überall liegt der Versinnlichung mehr oder minder deutlich eine persönliche Auffassung zum Grunde. Sagt man z. B. der Sturmwind heult, so wird der Sturmwind als ein die Luft durchfahrendes, dämonisches Ungethüm (Windsbraut) aufgefasst; und wenn bereits altnordische Dichter von dem Schwerte sagen, dass es nach Blut dürste, so hängt das mit ihrem Glauben zusammen, dass ein Schwert dämonisch beseelt sein könne; daher rührt ja auch die mittelalterliche Sitte der deutschen und anderer Völker, den Schwertern persönliche Eigennamen beizulegen. Bei ihnen ist demnach der Ausdruck von dem dürstenden Schwerte mehr als eine blosse Metapher. Ebenso ist es eine Personification, wenn Jeremias 46, 10 von einem Schwerte spricht, das fressen und von Blut voll und trunken werden wird, Bibel Jeremias 46, 10 http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/bibeltext/bibel/text/lesen/?tx_buhbibelmodul_bibletext%5Bscripture%5D=Jeremia+46%2C+10 oder wenn er 47, 6 ausruft: „O du Schwert des Herrn, wann willst du doch aufhören? Fahre doch in deine Scheide und ruhe und sei still.“ Bibel Jeremias 47, 6 http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/bibeltext/bibel/text/lesen/?tx_buhbibelmodul_bibletext%5Bscripture%5D=Jeremia+47%2C6 Ja zuletzt beruht die ganze Sprachschöpfung auf Prosopopöie; denn dass sie leblosen Wesen, dass sie abstracten Begriffen ein Geschlecht beilegt, dass die einen masculina sind, die anderen feminina, kommt doch nur daher, dass sie gleichsam Personen, gleichsam Männer und Weiber sind: denn sonst würde die Leblosigkeit und Abstractheit für dergleichen Worte auch überall die Geschlechtslosigkeit, das Neutrum gefordert haben. Indessen die Personification in diesem weiteren Verstande geht die Stilistik nichts an, sondern nur in einem engeren, wo man es Personification nennt, wenn ein lebloses, namentlich ein abstractes Ding ungewöhnlicher, vom sonstigen Sprachgebrauch abweichender Weise als ein beseelt wirkendes, als handelnd, hörend, redend hingestellt, mithin dem leblosen ein Bewusstsein, dem abstracten eine Körperlichkeit verliehen wird. Solche Personificationen sind allen Dichtern und allen Zeiten geläufig gewesen: die Götter der Heiden waren meistens nichts als Personificationen. Beispiele aus neuerer Zeit bieten Hebels Wiese, wo der Rhein als ein Jüngling, die Wiese als Jungfrau aufgefasst wird, und der Prinz Zerbino von Tieck, wo im Garten der Poesie der Wald, die Blumen, der Vogelgesang, ja das Himmelblau redend auftreten (LB. 2, 1239). Vielleicht aber haben keine Dichter in solchem Grade von der Personification Gebrauch gemacht als die deutschen und die romanischen des Mittelalters. Beispiel ein Lied Herzog Heinrichs IV. von Breslau, wo nach einander der Mai, die Sommerwonne, die Haide, der Klee, der Wald, die Sonne als Personen angeredet werden und auf die Anreden antworten (LB. 1 4 , 803. 1 5 , 983). Gewöhnlich wird die Personification noch dadurch verstärkt und erhält einen angenehmen Anflug von Laune, dass man solchen personificierten Dingen und Abstractionen noch die unter Menschen üblichen Titel giebt, z. B. Frau Minne, Frau Ehre, Frau Welt, Frau Abenteuer (die romantische Erzählung, LB. 1 4 , 605. 1 5 , 785). Während diese Personificationen ganz häufig vorkommen, sind andere, wie es die Sache mit sich bringt, seltener: im Renner, einem Lehrgedichte Hugos von Trimberg vom Jahre 1300, wird z. B. V. 11365 ein kegelschiebender Bauer geschildert, welcher der zu langsam rollenden Kugel nachruft: „Louf, kugel, vrouwe! zouw dîn (eile), liebiu frou, nu zouwe!“ Und in einem Liede singt Christian von Hamle (HMS. 1, 112 b ): „Her Anger, waʒ ir iuch fröiden muostent nieten dô mîn frowe kom gegân! ... Erloubet mir, her Grüener Plân, daʒ ich mîne füeʒe setzen müeʒe dâ mîn frowe hât gegân.“ Auch Walther von der Vogelweide macht von derartigen Personificationen gern Gebrauch; so Hêr Meie (LB. 1 4 , 395. 1 5 , 575); Frô Unfuoge (d. h. Frau Unkunst, LB. 1 4 , 399. 1 5 , 578); ja er redet sogar den Almosenstock an, den Pabst Innocenz III. in Deutschland aufstellte, um Beiträge für einen Kreuzzug zu sammeln: „Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet, daʒ ir in rîchet und uns Tiutschen ermet unde pfendet? (LB. 1 4 , 406. 1 5 , 584) Durch diese lebendige Sinnlichkeit der Ausführung hat sich ein früherer Ausleger Walthers, Gleim, verleiten lassen, den Herrn Stock für einen wahren Namen zu halten und die Uebersetzung des Gedichtes zu überschreiben: An Herrn Stock, päbstlichen Legaten in Deutschland. Gewöhnlich aber, wie schon vorher gesagt, braucht man die Personification bei der Allegorie und verstärkt die letztere durch die noch hinzutretende Personification; schon die Allegorie belebt das Unsinnliche oder minder Sinnliche durch die Aeusserlichkeit und historische Beweglichkeit, womit sie es umkleidet; noch höheres Leben erhält sie, wenn diess Aeusserliche gar als eine Person erscheint, in menschlicher Weise handelnd und leidend. Beispiele allegorischer Personification sind häufig: vgl. Hesekiel 16, wo Jerusalem als Weib personificiert erscheint und die ganze Geschichte der Stadt und des Volkes in der Lebensgeschichte dieses einen Weibes anschaulich concentriert wird. So ferner die Allegorie, die sich durch Platos Phaedrus hindurchzieht, indem die Seele des Menschen als ein Wagenlenker mit zwei Rossen, einem weissen und einem schwarzen, dargestellt wird; so in Göthes Zueignung seiner Gedichte (LB. 2, 1065) die Allegorie der Wahrheit; so in Schillers Mädchen aus der Fremde (LB. 2, 1133) die Allegorie der Dichtkunst; so endlich in einem Gedichte von Tieck, die Phantasie (LB. 2, 1335), die ausgeführte Allegorie eben der Phantasie, der Vernunft, der Erinnerung, des Schlafs. Hier überall besteht die Allegorie nur dadurch, dass sie zugleich eine Personification ist. Auf dem Gipfel aber der möglichen Ausbildung zeigt sich die personificierende Allegorie dann, wenn mit der Personification eines abstracten Begriffes noch die Namengebung verbunden ist, die Beilegung eines bezeichnenden persönlichen Eigennamens; wenn man z. B. nicht den Neid, die Selbstsucht ohne Weiteres als Person auffasst, sondern an ihre Stelle einen Herrn Neidhart, einen Herrn Selphart setzt. Hier haben wir die vollste Personificierung. Auch diese war besonders im deutschen Mittelalter beliebt und characterisiert jene Zeit unserer Litteratur. Ein Hauptbeispiel für diese Art der personificierenden Allegorie ist die Regula Selphardi, eine ascetische Schrift des dreizehnten Jahrhunderts (LB. 1 4 , 811. 1 5 , 991), worin die Selbstsucht, der Eigenwille, als ein Kloster aufgefasst wird; der Abt desselben heisst Bruder Bösewicht, der Prior Anetugent, der Küster Klaffer von der Welt, der Cantor Bruder Kiverêre (Zänker), das Haupt des Conventes Bruder Hêrstuol (Thron), die übrigen Conventualen sind Bruder Zornlin, Bruder Ergelin, Bruder Werre, Bruder Irrsichselben, Bruder Glichesêre, Bruder Hindersprache, Bruder Itelspot, Bruder Clûterêre (Beschmutzer), Bruder Schimphelin, Bruder Unmuoʒe, Bruder Zitverlies und Bruder Itelehre u. s. w. Wenn all dem gegenüber die allegorischen Personificationen der französischen und der deutschen Dichter der Alexandrinerzeit meistens etwas sehr Langweiliges haben, so liegt die Schuld nicht am Tropus, sondern am Dichter. Vgl. Germania Bd. 5, 290 fgg. Wie mit der Allegorie, so verbindet sich die Personification gern noch mit einem anderen Tropus, mit der Anrede, Apostrophe, d. h. Abwendung von der Sache weg zur Person hin. Die Anrede versinnlicht durch Vergegenwärtigung des Abwesenden. Es wird also entweder eine abwesende Person aufgefasst, als wäre sie gegenwärtig, z. B. ein Verstorbener, als stünde er lebend da, und man dürfte zu ihm sprechen. Eines der schönsten Beispiele bietet ein Lied von Haller, das zugleich auch eins seiner schönsten Gedichte ist: Trauer-Ode beym Absterben seiner geliebten Mariane (LB. 2, 645), wo die Apostrophe durch all die vielen Strophen durchgeführt ist. Oder die Anrede ist an leblose oder abstracte Dinge gerichtet, als wären sie belebt, als wären sie körperlich und gegenwärtig, ein Verfahren, das den graden Gegensatz bildet zu dem Gebrauche, Anwesende mit Er und Sie anzureden. Diese Art der Apostrophe ist ganz häufig; ich erinnere an die bei der Personification beigebrachten Beispiele aus Heinrich von Breslau, aus dem Renner, aus Christian von Hamle und aus Walther von der Vogelweide; aus der neueren Litteratur ist hier namentlich Schillers Lied an die Freude zu erwähnen. Eine Apostrophe ist auch die Invocation, die gelegentliche Anrufung einer Gottheit, wie die bei den epischen Dichtern auch noch der neueren Zeit beliebte Anrufung der Muse. Bei der Apostrophe wird das Abwesende vergegenwärtigt. Noch eine andere Wendung erzielt auch durch Vergegenwärtigung die Sinnlichkeit, aber durch Vergegenwärtigung des Vergangenen: es ist das die Erzählung im Praesens, das sogenannte Praesens historicum. Es giebt Mundarten, die immer nur im Praesens erzählen; davon haben wir hier nicht zu reden; hier kommt das Praesens in Betracht, sofern es neben der sonst gebräuchlichen und gebräuchlicheren Form des Praeteritums und statt derselben angewendet wird. Da geschieht es denn immer nur, um die Anschaulichkeit zu erhöhen, um das Vergangene wie gegenwärtig vor die Augen zu führen, so dass eigentlich nicht mehr erzählt, sondern geschildert wird. Wenn man darin Mass hält, wenn nicht zu oft, wenn nur dann, wo die sinnliche Vergegenwärtigung von Werth und Wichtigkeit ist, davon Gebrauch gemacht wird, so ist die Wirkung vortrefflich. Freilich halten nur wenige Mass, und in diesen Fehler verfallen natürlich am häufigsten und leichtesten Schriftsteller solcher Provinzen, deren Mundart das Praesens historicum überall anwendet. Auch darin wird oft gefehlt, dass innerhalb eines und desselben Gedankens Praesens und Praeteritum wechseln, d. h. die angeschaute Vorstellung hin und her geschoben wird, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder aus der Gegenwart in die Vergangenheit; dass aus der Erzählung in die Schilderung und aus dieser wieder in die Erzählung übergegangen wird, wie diess z. B. in Schillers Taucher der Fall ist (LB. 2, 1169, 33 fgg.). Ein Anderes ist es, wenn der Wechsel der Tempora mit einem neuen Gedanken, mit einer plötzlich hereinbrechenden neuen Thatsache zusammenhängt: hier ist dann keine solche Unruhe und Einheitlosigkeit vorhanden, sondern vermehrte Anschaulichkeit. So z. B. in Göthes Fischer (LB. 2, 1033, 11): hier tritt das Praesens erst mit dem neuen Gedanken ein, mit diesem einen überraschend plötzlichen, bedeutungsvollen Factum. Neben das Praesens historicum stellt sich im Lateinischen noch der sogenannte Infinitivus historicus: denn auch er tritt ein, wo vergangene Dinge nicht als hinter einander vergangen, sondern gleichsam als neben einander bestehend aufgefasst, wo sie nicht erzählt, sondern geschildert werden sollen. Und für diese Zwecke ist auch der Infinitivus ein ganz passliches Mittel, und ein noch passlicheres als das Praesens: denn er bezeichnet wohl eine Thätigkeit des Subjectes, und bezeichnet sie auch, da er eben immer ein Infinitivus praesens ist, im Allgemeinen als eine gegenwärtige; aber einen bestimmten Zeitpunct und eine bestimmte Dauer setzt er nicht fest, weder in dieser Gegenwart, noch gar in der Vergangenheit; er drückt eben nur ein Geschehen aus, aber kein Wann und Wie lange dieses Geschehens; er enthebt das vergangene Factum allem Wechsel und allen Schranken der Zeit und macht es zum Gegenstande der Schilderung, für die es keine zeitliche Abgrenzung giebt. Beispiel bei Cic. pro Rosc. Am. 38, § 110. Die deutsche Sprache, und sie vorzüglich und mehr als andere Sprachen, liebt es, auch das Futurum gegen das Praesens zu vertauschen, also die Zukunft in die Gegenwart zu rücken, das noch Ungewisse als gewiss zu behaupten, das noch ganz Unschaubare schon in gegenwärtiger Anschaulichkeit aufzufassen. Indessen diese Vertauschung ist so gewöhnlich, dass man sie kaum mehr zu den Tropen rechnen darf. Die deutsche Sprache hat eben nie ein rechtes Futurum besessen, sie hat diese Zeitstufe immer nur durch Umschreibungen bezeichnen können, im Gothischen zuweilen durch haben mit dem Infinitiv, wie in den romanischen Sprachen (dirai), im Althochdeutschen durch sollen, wie im Englischen, später durch werden mit dem Participium praesentis, woraus erst nach und nach durch Entstellung auch ein Infinitiv geworden ist. Am geläufigsten aber ist der älteren Sprache, wie noch jetzt der einfachen des gewöhnlichen Lebens, das blosse Praesens im Sinne des Futurums, und es giebt ganze, grosse altdeutsche Schriften, in denen kein einziges umschriebenes Futurum vorkommt, so z. B. die zahlreichen umfassenden Uebersetzungswerke der Sanctgaller. Im Psalm 28 z. B. übersetzt Notker die Worte: Et in templo eius omnes dicent gloriam durch: Vnde in sînero chilichun sagent sie alle sîna guôllichi. Et sedebit dominus rex in aeternum: Vnde dara nâh sizzet er rîchesondo iêmer. Dominus virtutem populo suo dabit: Truhten gibet herti sînemo liûte (LB. 1 5 , 292). Jetzt endlich sind noch einige Tropen, es sind ihrer vier, zusammenzustellen, die auch ihrem Wesen nach enge zusammengehören, und die, da an ihnen nicht bloss die Einbildung Antheil hat, auch in die prosaische Sprache, die Sprache des Verstandes und die alltägliche Rede übergreifen. Zuerst die Hyperbel, ὑπερβολή , d. h. Uebertreibung, Vergrösserung über die Wahrheit hinaus. Eines der ältesten Beispiele aus der deutschen Litteratur wird in der Sanctgallischen Rhetorik (LB. 1 4 , 136. 1 5 , 314) angeführt: von einem Eber heisst es, er habe Füsse einem Fuder an Grösse gleich, Borsten so hoch wie Forsten und Zähne zwölf Ellen lang (imo sint fûoʒe fûodermâʒe, imo sint burste eben hô forste, unde zene sîne zuuelifelnîge). Ebenda auch ein lateinisches Beispiel aus Virgils Aeneide 3, 421 fg. Eine gewöhnliche Hyperbel ist es auch, wenn wir statt ich den Pluralis maiestatis wir gebrauchen, oder wenn wir eine einzelne Person mit Ihr, Sie anreden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Hyperbel für beiderlei kann gebraucht werden, für das Erhabene und für das Lächerliche. Aber eben deswegen wird sie oft lächerlich, wo sie erhaben sein soll, wie diess bei Ramler oft genug der Fall ist. Hier kann nur ein glücklicher Tact den rechten Ort und das rechte Mass finden lehren. Das Gegentheil zur Hyperbel bildet die Litotes ( λιτότης ), d. h. Kleinheit, Geringfügigkeit. Man versteht darunter die Uebertreibung nach unten hin, die Herabsetzung unter die Wahrheit. Man unterscheidet wohl von der Litotes noch die ταπείνωσις , Erniedrigung, oder die μείωσις , Verkleinerung: dann nimmt man die Litotes in transitivem Sinne und versteht darunter den Ausdruck der Verachtung gegen einen Andern, während die ταπείνωσις und μείωσις reflexiv gegen den Sprechenden selbst gerichtet ist und auf Bescheidenheit und Selbstgeringschätzung beruht. Eine solche Herabsetzung aus Bescheidenheit ist es, wenn David sich vor Saul einen todten Hund und einen Floh nennt: 1. Sam. 24, 15: „Wem zeuchst du nach, König von Israel? Wem jagst du nach? Einem todten Hunde, einem einigen Floh?“ und ebenso 1. Sam. 26, 20: „Der König Israels ist ausgezogen, zu suchen einen Floh, wie man ein Rebhuhn jagt auf den Bergen.“ Eine ταπείνωσις ist es ferner, wenn in Schillers Cabale und Liebe (1. Act. 3. Sc.) Louise von sich selbst sagt: „Diess Bischen Leben ─ dürft' ich es hinhauchen in ein leises, schmeichelndes Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen! ─ Diess Blümchen Jugend ─ wäre es ein Veilchen, und er träte darauf, und es dürfte bescheiden unter ihm sterben!“ Beide, Hyperbel und Litotes wirken am meisten, geben die sinnlichste Anschaulichkeit, wenn das Auf- und Absteigen stufenweise geschieht, wenn damit noch die Gradation verbunden ist, wovon späterhin noch die Rede sein wird (S. 410). Hyperbel und Litotes schieben die Vorstellung von ihrem rechten Puncte fort und darüber hinauf oder hinunter, ohne bestimmte Grenze, bis wie weit und wohin. Bei zwei anderen Tropen ist diese Grenzlinie des Verschiebens von dem rechten Punct vorhanden, die Grenzlinie des Gegentheils: ich meine die Ironie und den Euphemismus. Bekanntlich bezeichnet Ironie ( εἰρωνεία ) eigentlich jede mehr oder minder spöttische Verstellung, wodurch Unwissenheit über einen Gegenstand vorgegeben wird, den man gleichwohl recht gut kennt. In diesem Sinne ist die Ironie des Socrates sprichwörtlich geworden: denn sein dialectisches Verfahren beruhte vorzüglich auf dieser fingierten Unwissenheit. Aber schon die griechischen Rhetoren haben den Begriff der Ironie auf diejenige Verstellung in der Rede eingeschränkt, die von dem, was man verstanden wissen will, das Gegentheilige und dadurch Ueberraschende sagt. Also ist es z. B. und namentlich Ironie, wenn man Lob ausspricht und Tadel meint, wenn man an einem Geizhals die Wohlthätigkeit, an einem Verschwender die Sparsamkeit rühmt. In diesem Sinne greift die Ironie über die Stilistik hinaus in die weitere Lebensanschauung, in die bildende Kunst und in die Sprachschöpfung. Im deutschen Mittelalter war es gewöhnlich, eine Schlacht als eine Disputation oder einen Process aufzufassen, wie diess im Ludwigsleich vom Jahre 881 (LB. 1 4 , 106, 13) der Fall ist, oder auch als ein Gastmal, ein Weinschenken und Bewirthen (ebenda 1 4 , 106, 33); als Spiel und Tanz wird der blutige Kampf im Nibelungenliede verstanden, Str. 1939, wo es von dem Helden und Spielmann Volker heisst: „Sîn leiche lûtent übele, sîn züge sint rôt: jâ vellent sîne doene manegen helt tôt; Str. 1943 Sîn videlboge snîdet durch den herten stâl, und Str. 1944 Sîne leiche hellent durch helm und durch rant.“ Im Rosengarten endlich (LB. 1 4 , 879, 35), im Sempacher Liede (LB. 1 4 , 1108, 8; 1113, 12; 1118, 27), im Hildebrandsliede, bei Kasper von der Rön (LB. 1 4 , 1244, 33) wird der Kampf mit dem Feinde als ein Beichtehören, dessen Tödtung als eine Ertheilung von Segen und Ablass gedacht. Ueberall wird der Eindruck der Ironie dadurch geschärft, dass der Contrast zugleich etwas Erhabenes und etwas Lächerliches hat. Auch in die bildende Kunst griff die Ironie: ich erinnere bloss an den Todtentanz (Kl. Schrift. 1, 302). Auf dem Gebiet der Sprache finden wir sie in der Namengebung: ich denke hier an ironisch erfundene Namen in imperativischer Form wie Saufaus, Störenfried, Taugenichts, Springinsfeld, womit von solchen Leuten grade das Gegentheil dessen verlangt wird, was der eigentliche Wortsinn besagt (German. 5, 308). In der Litteratur wird die Ironie viel gebraucht, aber auch viel missbraucht. Gewöhnlich ist sie mehr Figur als Tropus, oder gar zu sehr Tropus, d. h. entweder sieht man es der ironischen Darstellung gar zu sehr im ersten Augenblick an, dass Alles nur uneigentlich, und dass man Alles von vorn herein Wort für Wort ins Gegentheil zu übersetzen habe; es ist dann also die Ironie eine blosse Veränderung des Ausdrucks, nicht aber auch der Vorstellung; oder aber man spürt ihr die Uneigentlichkeit gar nicht an, man merkt es gar nicht oder erst zu spät, dass die Vorstellungen von ihrem rechten und eigentlichen Platze an einen falschen und entgegengesetzten gerückt seien, und man nimmt Alles für baaren, trockenen Ernst. Beides ist verfehlt: im ersten Falle ist die Ironie müssig, frostig, langweilig; im zweiten irreführend und gegen die Deutlichkeit und Anschaulichkeit verstossend. Das rechte Mass erhält den Leser in einem Schwanken zwischen Wissen und Nichtwissen, so zu sagen zwischen Mitlügen und Belogenwerden, das für Verstand und Einbildung gleich viel Reiz hat. Indessen nur Wenigen ist dieses Mass gegeben; Rabener z. B., in seinen Satiren, besass es: darum gefällt er sich aber auch in der Ironie beinahe bis zum Ueberdruss, er kannte kaum eine andere Form des Spottes als die Ironie. Vgl. LB. 3, 2, 47 fg. 55 fg. Noch ein Meister in der Ironie ist Jean Paul: als Probe diene ein kleiner, in den Quintus Fixlein eingeschalteter Excurs über den Aemterverkauf (Sämmtl. Werke 1826 Bd. 4, 104) und Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben (Komischer Anhang zum Titan Bd. 31, 46). Als Muster der Ironie verdient auch die Rede hervorgehoben zu werden, die im dritten Acte von Shakspeares Julius Cäsar Antonius an das versammelte Volk hält; hier finden wir nichts als Anerkennung und Lob der Mörder Cäsars, aber Alles ist Ironie, und der Zweck und der Erfolg dieser Rede ist denn auch, dass Antonius das Volk gegen Brutus und die Uebrigen und für sich gewinnt. Eine Abart der Ironie ist das Oxymoron ( ὀξύμωρον ), d. h. eigentlich spitze, scharfe Dummheit. Man nennt so die Zusammenstellung zweier Worte, wobei das eine thörichter, unverständiger Weise grade das Gegentheil von dem zu sagen scheint, was das andere fordert, aber nur zu sagen scheint, so dass keine wirkliche contradictio in adjecto stattfindet: in diesem Ueberraschenden des scheinbaren Widerspruchs liegt denn das ὀξύ , das Spitzige, Witzige. Z. B. Junger Greis, alter Jüngling; armer Dietrîch Nibel. 2256. Ein schönes Beispiel bietet Hebels Vergänglichkeit (LB. 2, 1373, 32): „S Hus würd alt und wüest. Der Rege wäscht ders wüester alli Nacht, Und d Sunne bleicht ders schwärzer alli Tag.“ Auch der Euphemismus ( εὐφημισμός ) kann als eine Abart der Ironie betrachtet werden, insofern man nicht bloss die spöttisch-satirische, sondern mit einer Erweiterung des Ausdruckes jegliche Verkehrung ins Gegentheil Ironie nennen will. Der Euphemismus weicht dem Anstössigen, dem Bösen, dem Gehassten und Gefürchteten in Vorstellung und Darstellung aus und nennt aus Zucht und Schonung und Furcht nur das gegentheilige Gute. Der Aberglaube ist auch eine Art Poesie und in dieser Art ist der Euphemismus recht eigentlich zu Hause. Ein bekanntes Beispiel aus dem griechischen Heidenthum ist der Gebrauch, die Erinyen Eumeniden, d. h. die Gnädigen, die Huldvollen zu nennen; ebenso heisst die grauenvolle Nacht nicht νύξ , sondern εὐφρόνη , die wohlwollende; die Wolfsmilch, griechisch εὐφόρβιον , lateinisch euphorbia, d. h. gute Nahrung, von φορβιά, φορβή , Futter, Weide; die linke Hand εὐώνυμος , die gutnamige, obgleich sie gar nicht boni ominis war: denn auch den Griechen kamen die bösen Vorzeichen von der linken Seite; vielleicht ist auch der gewöhnliche Name des Linken, ἀριστερός , ein Euphemismus, falls er mit ἄριστος , der beste, zusammenhängt. Als euphemistische Verwünschungen brauchten die Griechen εἰς ὀλβίαν, εἰς μακαρίαν , grade wie auch in der altdeutschen Sprache sælic im Sinne von verwünscht vorkommt (LB. 1 4 , 464, 38; 636, 37). Sogar die Worte εὔφημος und εὐφημία selbst werden euphemistisch angewandt statt δύσφημος und δυσφημία , wo man eine böse Vorbedeutung meint. Auf einem Euphemismus beruht bei den Römern der Name der Todesgöttinnen, Parcae, d. h. die Schonenden, und nach Procopius (Bell. Gotth. 1, 15) wurde der eigentliche Name Maleventum des Omens wegen gegen Beneventum vertauscht. Derselbe Euphemismus des Aberglaubens ist es, wenn die drei bösen und gefährlichen Thiere, der Wolf, der Fuchs und der Bär, bei vielen Völkern wo möglich nie mit ihren eigentlichen Namen, sondern mit andern Appellativen oder gar mit nominibus propriis belegt werden. Im sechzehnten Jahrhundert hiess der Wolf bei den Deutschen Hölzing; die Schweden nennen den Fuchs Waldgänger, den Wolf Goldbein, den Bär Süssfuss oder Grossvater u. dgl. Und so mögen auch die Eigennamen der Thiersage, Reinhart, Isengrin, Braun, ihren Grund nicht bloss in dem epischen Triebe zu menschlicher Benennung, sondern auch in abergläubischer Scheu ihren Grund haben. Vgl. Kl. Schrift. 2, 214. Es ist vorher gesagt worden, diese Tropen zeigten sich auch in der gewöhnlichen Alltagssprache, und das gilt namentlich vom Euphemismus. Denn im Grunde sind ja unsere meisten Höflichkeitsreden nichts oder häufig nichts als blosse Euphemismen: vgl. Rabener, Versuch eines deutschen Wörterbuchs LB. 3, 2, 47 (über das Wort Compliment ). Und so ist es von jeher gewesen; ein altes Beispiel von Höflichkeitseuphemismus findet sich schon in der Sanctgallischen Rhetorik LB. 1 4 , 136: Item per contrarium intelliguntur sententiae ut in suetudine latinorum interrogantibus „quaesivit nos aliquis?“ respondetur „bona fortuna“ i. Hel unde salida, et intelligitur „nemo,“ quod durum esset i. unminnesam ze sprechenne. Similiter teutonice postulantibus obsonia promittimus sic: „Alles liebes genuoge,“ et intelligitur per contrarium propter gravitatem vocis. So werden z. B. auch hina wesan euphemistisch statt sterben, hinafart statt Tod gebraucht. Gern verbindet sich der Euphemismus der Alltagssprache mit dem Wortspiel, und dann wird er eben nur ein Vermeiden des eigentlichen Ausdruckes, ohne diesen darum in das Gegentheil zu verändern. Solche euphemistische Wortspiele sind die meisten Schwüre und Flüche, die von dem Worte, das man vermeidet, weil es böse ist oder heilig und deshalb nicht soll missbraucht werden, nur einen Theil beibehalten, sonst aber ihn irgendwie verändern. So z. B. statt Sacrament Sapperment, statt Sapperment Sappermost, statt Herr Jesus Her Je oder Her Jegerle, statt Gottes Wetter Potz Wetter, statt Gottes Leichnam Potz Leichnam, statt Gottes Blitz Potz Blitz, statt Gottes Teufel Potz Tausend, statt der Teufel der Tausend, statt Teufel auch Deixel oder Deiker. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch 2, 279. Aehnliches auch im Französischen: diantre statt diable, morbleu statt mort Dieu, corbleu statt corps Dieu. So viel von den Figuren und Tropen, die zur Sinnlichkeit des Ausdrucks dienen, und die somit auf dem einen Wege liegen, der zur Anschaulichkeit hinführt (S. 371). Neben jenem Wege her läuft nun noch ein anderer: ausser der Sinnlichkeit kommt es im Stil der Poesie noch an auf Lebendigkeit. Die Sinnlichkeit beruhte und zeigte sich in der Auffassung und im Ausdruck der einzelnen Vorstellungen, in der Wahl der Worte und ihrer Formen: die Lebendigkeit hat es mit der organisierten Entwickelung der Vorstellungen zu thun, sie wird sich also kund thun in der Anordnung und Verbindung der Worte. Es ist nicht genug an der blossen Sinnlichkeit der einzelnen Vorstellungen, denn damit hat man wenn auch sinnliche Einzelheiten, doch immer nur Einzelheiten: ein anschauliches Ganzes wird daraus erst dann, wenn diese Einzelheiten zusammentreten und sich vereinigen unter dem Merkmal der Lebendigkeit, nämlich in einem bewegten Vorwärtsschreiten von Vorstellung zu Vorstellung, das jedoch, damit die Einbildung ihm folgen und auch der Verstand es fassen könne, wieder in sich selbst gezügelt und gemässigt und zur Einheit zusammengehalten sein muss. Also Bewegung und doch wieder Ruhe, Vorwärtsschreiten und doch wieder Innehalten. Es wird für die bessere Verdeutlichung dieses Gegenstandes nicht ohne Nutzen sein, wenn wir von dem Gebiete der blossen äusseren Darstellung, des Stils, einen Blick hinüberwerfen in das Gebiet der poetischen Production und Composition selbst: wir nehmen da ein entsprechendes und auch in sich scheinbar ebenso zwiespältiges Verfahren wahr. Auch hier wird zum Behufe der Lebendigkeit ebensowohl das eigentlich Ruhende bewegt aufgefasst, als auch in dem an sich Bewegten wieder ruhend innegehalten. Was zuerst die Belebung des Ruhenden durch Bewegung betrifft, so zeigt sich diese in dem organischen Gesetze aller Poesie, nirgend eigentlich zu beschreiben, sondern überall die Beschreibung in Erzählung übergehn zu lassen, also in das Leblose und unbewegt Verweilende einen historischen Fortschritt, eine lebendige Entwickelung zu verlegen. Es werden also, um ein schon früher (S. 29. 262) herbeigezogenes Beispiel zu wiederholen, Waffen, und es wird der gewaffnete Held nicht beschrieben: denn das wäre ein todter und tödtender Stillstand; sondern es wird erzählt, wie die Waffen nach und nach aus der Hand des Schmiedes hervorgehn, wie der Held nach und nach erst die Beinschienen anlegt, dann den Helm aufsetzt, dann Schild und Lanze ergreift. So hält es Homer, und wenn es Walter Scott nicht auch so hält, so ist er eben kein Homer. Oder eine Landschaft: sie wird von guten Dichtern nicht in dem unbewegt ruhenden Nebeneinander und Durcheinander ihrer Einzelheiten geschildert (dergleichen findet sich nur bei Matthisson), sondern auch sie wird historisch entwickelt, indem sie von einem bewegt vorwärts schreitenden Standpuncte durchzogen und von diesem aus nach und nach zur Anschauung gebracht wird. Beispiel hiefür Schillers Elegie Der Spaziergang (LB. 2, 1145), wo der Dichter selbst dieser wandelnde Standpunct ist, und Göthes Novelle Die Jagd (LB. 3, 2, 689). Beinahe die grösste Anschaulichkeit aber wird erlangt, wenn man diess progressive Durchwandern einer Landschaft mehr der Einbildung des Lesers anheimstellt, indem man ihr bloss die Richtung zeigt, in welcher sie den Blick immer weiter und weiter zu senden habe, selbst aber den Raum nicht mit Handlung ausfüllt; weit ausgedehnte Landschaften sind nur auf diesem Wege zur Anschauung zu bringen. So, um ein ganz umfangloses Beispiel anzuführen, Der Räuber von Uhland (Volksausgabe 2, 118), ein Gedicht, das nicht zu seinen berühmtesten gehört, weil es etwas Unscheinbares hat, aber eins der ausgezeichnetsten ist. Im Gegensatz zu dieser Belebung des Ruhenden durch historische Bewegung steht das Innehalten und Festhalten des Bewegten auf einem unveränderten Standpunct; es steht dazu im Gegensatz, gleichwohl dient auch diess wieder nur demselben Zwecke der Lebendigkeit. Es wird nämlich eine bewegte Reihe von einzelnen Erscheinungen und Ereignissen, die jedoch jede für sich zu wenig Bedeutung haben oder eine der anderen zu gleichartig sind, gern in Beziehung gebracht auf einen ruhenden Standpunct, von dem aus und an dem vorüber die Anschauung vor sich geht; ohne diese Concentration würde die Einbildungskraft zerstreut werden und ermüden. Während also bei dem vorigen Verfahren der Standpunct in fortschreitender Veränderlichkeit sich neben dem Ruhenden und durch das Ruhende hin bewegt, ist er hier unveränderlich festgestellt, und die bewegte Handlung geht an ihm vorüber. Beispiele davon sind bei guten Epikern und Dramatikern nicht selten. So in der Iliade (Buch 3), wenn Helena dem alten Priamos von einem Thurme herab die um die Stadt gelagerten Helden zeigt und benennt. Aehnlich Aeschylus in den Sieben gegen Theben. So ferner in einer alten Sage von Karl dem Grossen und dem Langobardenkönig Desiderius, wo Karls gewaltige Heeresmacht nach und nach vor den erschrockenen Augen des Letzteren vorüberzieht; vor den Augen des Desiderius: in diesem ruhigen Standpunct concentriert sich die Erzählung und erzielt so die wirksamste Lebendigkeit: Monachus Sangallensis 2, 17 und Grimm, Sagen 2, 102 (der eiserne Karl). So in den Nibelungen Str. 392 fgg., wenn nicht vom Dichter gradezu erzählt wird, wie die Helden zu Island einer nach dem andern aus dem Schiffe steigen, sondern die Frauen im Schlosse sie heraussteigen sehen und benennen und besprechen (LB. 1 4 , 517. 1 5 , 697). So auch, wenn in Schillers Jungfrau von Orleans 5, 11 die Schlacht nicht dem Zuschauer selber vorgeführt, sondern ihr Verlauf nur von einem zuschauenden Soldaten berichtet wird; so endlich, wenn man auch in Tiecks Octavian 313 den Kampf des Florens mit dem Riesen nicht zu sehen, sondern nur seine wesentlichsten Momente aus dem Munde Einiger zu vernehmen bekommt, die von dem Walle der Stadt her ihn anschauen. Hätte hier Schiller, hätte Tieck statt des begleitenden Gespräches der Zuschauer den Kampf selbst auf die Bühne gebracht, so würde er damit wenig oder gar keine Lebendigkeit erreicht haben: denn es wäre das nur eine Reihe von Einzelheiten gewesen, deren jede für sich zu unbedeutend, die einander zu gleichartig wären, als dass daraus ein recht anschauliches und wirklich belebtes Ganzes hätte hervorgehn können. Erst dadurch wird es ein solches, dass der Dichter die Einzelheiten in dem Gemüthe der Zuschauer concentriert und auf diese Art dem raschen Fortschritte Einhalt thut und ihn beruhigt. Wir haben also gesehen, wie schon auf der Stufe der poetischen Production je nach Verschiedenheit der Umstände zwei ganz verschiedene Mittel zu dem gleichen Ziele der Lebendigkeit führen: Bewegung des Ruhenden durch Fortschritt, Beruhigung des Fortschreitenden durch Innehalten. Eben ein solches zwiefältiges und zwiespältiges Verfahren kehrt nun auch wieder auf der Stufe der äusseren Darstellung, auch in dem stilistischen Theile der poetischen Schöpfung, in der Anordnung und der Verbindung der Worte. Auch hier wird bald das Ruhende beweglich und das Bewegliche noch beweglicher gemacht; bald wieder der zu rasche Fortschritt des Beweglichen gemässigt, gehemmt, innegehalten. Es kommen aber bei der Anordnung und der Verbindung der Worte dieselben in Betracht entweder als der Ausdruck von Vorstellungen und Gedanken, oder als blosses klingendes Material, entweder was ihren inneren Gehalt oder was bloss ihre äussere Gestalt betrifft. Beide Rücksichten sind streng von einander zu sondern, ebenso streng, als wir bei der Betrachtung des prosaischen Periodenbaues die Anforderungen der Ueberschaulichkeit getrennt haben von denen des Wohlklanges (S. 346). Wir reden zuerst von der Lebendigkeit in der Anordnung und der Verbindung der Worte, insofern man Rücksicht nimmt auf den Gehalt derselben. Schon früher (S. 369), als wir anfiengen den poetischen Stil zu betrachten, ist bemerkt worden, dass die Regeln des prosaischen implicite mit für ihn gelten, dass neben der Forderung der Anschaulichkeit für die Einbildung auch die der Deutlichkeit für den Verstand immer noch fortbestehe. Deshalb findet denn auch Alles, was früherhin auf Anlass des deutlichen Stils der Prosa über den Bau der Sätze und der Perioden ist bemerkt worden, auch auf den anschaulichen Stil der Poesie seine Anwendung; aber keine volle, Alles umfassende Anwendung: denn es kommen nun auf diesem Gebiete allerlei Eigenthümlichkeiten hinzu, die das gewöhnliche prosaische Verfahren mannigfach beschränken und umändern und theilweise aufheben. Und solche Eigenthümlichkeiten sind es, von denen wir jetzt zu sprechen haben; Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils darum, weil sie eintreten um eines Zweckes willen, von dem der prosaische Stil nichts weiss, eben um des Zweckes der Lebendigkeit willen. Von Mitteln zur Bewegung des Ruhigen und zur Verstärkung der Bewegung sind nur zwei oder drei anzuführen: die Unverbundenheit, die Steigerung und die Abgebrochenheit. Die Unverbundenheit oder das Asyndeton besteht darin, dass man das Bindewort, welches die eigentliche und gewöhnliche Rede fordert, fallen lässt und die einzelnen Vorstellungen unmittelbar eine an die andere reiht. Offenbar wird dadurch eine grössere Beweglichkeit, ein schnellerer Fortschritt erreicht. Gebraucht man das Bindewort, verknüpft man eine Vorstellung mit der anderen, so wird damit auch jede spätere Vorstellung auf den Standpunct der früheren zurückgezogen, und Alles wird auf einem und demselben Platze festgehalten; lässt man dagegen das Bindewort weg, so nimmt auch jede Vorstellung ihren Platz für sich ein und einen anderen als die vorhergehende, d. h. die Vorstellungen entwickeln sich in einer belebten Succession und Progression. So bei Klopstock (Messias 10, 1048): „Er rufte mit lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward bleicher, betete, rufte: Vater, in deine Hände befehl' ich meine Seele.“ Oder bei demselben (3, 516): „Jetzt wollten Tausend ihn sehen, dann wieder Tausend; sie stürmten, sie riefen, Standen, weinten, erstaunten, verfluchten, segneten.“ Wären hier Bindewörter gebraucht, so würden alle diese gleichzeitigen Vorstellungen mehr ruhig neben einander liegen; da keine vorhanden sind, so wird das Ruhende in Bewegung gebracht und aus dem Nebeneinander wird ein bewegtes Nacheinander. Schon der älteren deutschen Poesie waren solche Asyndeta zu eben diesem Zwecke ganz geläufig. Auch da liebte man es, wie in den alten Sprachen, eine Aufzählung von coordinierten Begriffen durch die Unverbundenheit zu beleben. So bei Walther von der Vogelweide (LB. 1 4 , 401. 1 5 , 579): „Zungen, ougen, ôren sint dicke schalchaft, zêren blint,“ und in Wolframs Titurel (LB. 1 4 , 453. 1 5 , 633): „Lâ wider clâren dîn ougen, wange, kinne.“ Noch schöner ist eine andere Stelle im Titurel (Str. 103): „Si liuhtec bluome ûf heide, in walde, ûf velde!“ Hier führt der Fortschritt des Asyndetons eine gewisse landschaftliche Anschaulichkeit mit sich, die ohne das nicht wohl vorhanden wäre. Das deutsche Asyndeton ist der Regel nach zum mindesten dreigliedrig; zweigliedrige sind Ausnahmen: so bei Freidank 149, 9: „Silber golt ist fremede mir;“ 154, 15: „Stelen rouben naht unt tac;“ 165, 20 fgg.: „Liegen triegen ist ein site, dem vil der werlte volget mite. liegen triegen dicke gât mit fürsten an des rîches rât.“ In den antiken Sprachen ist das Asyndeton schon bei zwei Begriffen zulässig und häufig. Classische Beispiele: Suet. Caes. 37. Cic. 2. Catil. 1. Ganz gewöhnlich verbindet sich mit dem Asyndeton die Gradation oder mit griechischem Namen die Climax ( ἡ κλίμαξ ), die steigernde Anordnung der einzelnen Begriffe. Schon das Asyndeton belebte den Fortschritt, die Steigerung belebt und bewegt ihn noch mehr. Die gewöhnliche Unterscheidung zwischen aufsteigender und absteigender Climax, zwischen Climax und Anticlimax ist falsch, sobald man sich bei der Anticlimax den letzten Begriff als den schwächsten in der Reihenfolge denkt. Er ist immer der stärkste derselben, und wenn er auch sonst an sich vielleicht schwächer sein mag als der erste, in diesem Zusammenhange immer der am höchsten stehende. Z. B.: „Wenn wir gross sind, so sind wir es überall, auf dem Thron, im Palaste, in der Hütte.“ Das nennt man eine Anticlimax; die Hütte steht freilich sonst unter dem Palaste, hier aber darüber, da Grösse in der Hütte seltener und minder erwartet ist als auf dem Throne und im Palast. Diese Gradation vereinigt sich, wie gesagt, mit dem Asyndeton; sie kommt auch sonst vor, aber sie ist hier, wo eine Ausdrucksweise die andere trägt und hebt, am besten angebracht und am wirksamsten. Nun noch Einiges vom Asyndeton. Gleich den angeführten Beispielen, so besteht auch sonst das Asyndeton, wie man das Wort gewöhnlich auffasst und braucht, eben nur darin, dass ein Bindewort ausgelassen ist, und zwar wieder nur das Bindewort und, der Ausdruck für eine copulative und positive Zusammenstellung, wogegen oder und noch, die disjunctiven und negativen Sinn haben, eben dieses ihres Sinnes wegen niemals fortbleiben können, und zwar aus Gründen der Deutlichkeit (S. 350). Man darf aber füglich den Begriff des Asyndetons etwas weiter ausdehnen und auch das so nennen, wenn ein Fügewort, ein Wort zur Anknüpfung eines Nebensatzes nicht angewendet wird, während doch der gewöhnliche Sprachgebrauch es fordern würde, so dass nun ein Satz, der eigentlich Nebensatz sein sollte, zur Würde eines Hauptsatzes erhoben wird. Man darf auch diess Asyndeton nennen; denn auch hier ist eine ungewöhnliche Unverbundenheit, und auch diese dient zur Belebung durch den Fortschritt in der Entwickelung der Gedanken; dass zugleich durch die Hervorhebung, welche damit verknüpft ist, dem Zwecke der Deutlichkeit entsprochen werde, davon ist schon früher (S. 349) gesprochen worden. So z. B. wenn Schiller im Abschied vom Leser sagt: „Der Lenz erwacht: auf den erwärmten Triften schiesst frohes Leben jugendlich empor .... Der Lenz entflieht: die Blume schiesst in Samen, und keine bleibt von allen, welche kamen.“ Die gewöhnliche Ausdrucksweise würde hier einen conditionalen Nebensatz gebildet haben: „Wenn der Lenz u. s. w.“ Es ist diess allerdings das logische Verhältniss der Vorstellungen: aber offenbar würde damit die Anschauung auf einem Puncte ziemlich unbewegt festgehalten, und erst dann wird sie zu beweglichem Fortschritt belebt, wenn die beiden Glieder des Gedankens jeder als selbständiger Hauptsatz dastehn, und einer dem andern in historischer Entwicklung folgt. Es wird diese asyndetische Auslassung der Fügewörter besonders auf das Verhältniss von Ursache und Grund und auf das der Vergleichung angewendet. Beispiel der ersteren Art jenes von Schiller. Eine asyndetische Vergleichung, wo also kein wie gebraucht ist, bietet der bekannte Anfang von Schillers Macht des Gesanges (LB. 2, 1132): „Ein Regenstrom aus Felsenrissen, Er kommt mit Donners Ungestüm; Bergtrümmer folgen seinen Güssen, Und Felsen stürzen unter ihm; Erstaunt, mit wollustvollem Grausen Hört ihn der Wanderer und lauscht; Er hört die Flut vom Felsen brausen, Doch weiss er nicht, woher sie rauscht: So strömen des Gesanges Wellen Hervor aus nie entdeckten Quellen.“ Viel weniger belebt wäre diese Vergleichung, wenn sie nach streng logischer Weise mit einem Wie begönne; sie erhebt sich dagegen zur lebhaftesten Anschaulichkeit, nun von Bild zu Gegenbild als von einem Hauptsatze zum anderen kann fortgeschritten werden. Nun die Abgebrochenheit. Sie besteht darin, dass man den Satz nicht ausführt, dass man ihn abbricht, noch ehe Alles gesagt ist, was eigentlich zu sagen wäre. Es giebt zwei Arten der abgebrochenen Rede: die Ellipse und die Aposiopese; sie sind wesentlich von einander verschieden. Bei der Ellipse ( ἔλλειψις ) lässt man der Kürze wegen das minder Wichtige und Unbedeutende fort, weil es sich von selbst versteht, und weil man vielleicht sogar im Augenblick deutlicher spricht, wenn man unterdrückt, was nichts zur Sache thut; oder man lässt es fort aus leidenschaftlicher Bewegung des Gemüthes, in der man es übersieht: die Ellipse lässt also den bedeutsamen Vorstellungen zu Liebe die unbedeutenden fort und spricht nur jene aus. Insofern damit theils der Deutlichkeit, theils der Leidenschaftlichkeit gedient wird, hat die Ellipse ihren eigentlichen Platz theils in dem gewöhnlichen prosaischen, theils in dem lyrischen oder rednerischen Stil, nicht aber in den übrigen poetischen Stilarten; Ellipsen der Deutlichkeit hat jede Sprache zu Hunderten: die militärischen Commandowörter sind beinahe alle ellipsisch. Ellipsen der Leidenschaft gehören zwar, wie gesagt, eigentlich der Lyrik und der Rede an, aber sie können auch sonst vorkommen, insofern auch andere Gattungen der Poesie stellenweise in die Lyrik hinübergreifen können, und deshalb namentlich in der Tragödie. Z. B. Schillers Räuber (4. Act. 5. Sc.): „Wer mir Bürge wäre? ─ ─ es ist Alles so finster ─ verworrene Labyrinthe ─ kein Ausgang ─ kein leitendes Gestirn ─ wenn's aus wäre mit diesem letzten Odemzug ─ aus, wie ein schales Marionettenspiel!“ Ganz anders bei der Aposiopese, ἀποσιώπησις , lateinisch reticentia: sie verschweigt recht im Gegensatze zur Ellipse das Wichtige und spricht nur das Untergeordnete aus: sie bricht den Satz gerade da ab, wo erst die Hauptsache kommen soll. So bei Gellert: „Komm ich hinauf zu dir, so soll dein Blut“ ─; so bei Virgil (Aen. 1, 139) die bekannte Drohung Neptuns: „Quos ego!“ (Wartet, ich will euch ─); so in Herders Cid: „Wer hier wagt zu mucken ─.“ Offenbar hat die Aposiopese mehr Poetisches als die Ellipse, insofern sie mehr als diese die Einbildungskraft beschäftigt; was die Ellipse auslässt, sind untergeordnete Wörter, blosse Hilfswörter; sie zu ergänzen, bedarf es der Einbildungskraft nicht; wohl aber wird diese in Anspruch genommen, wo zur Vollständigkeit des Gedankens gerade das Wichtigste fehlt, wo so grosse Lücken auszufüllen sind, wie diess bei der Aposiopese der Fall ist. Hier muss der Hörer oder Leser, nachdem der Sprechende, der Dichter verstummt ist, für ihn eintreten und selbst weiter phantasieren, und diess ist es, was die Aposiopese zu einer Wendung des beweglichen Fortschrittes macht; sie ist auf dem stilistischen Standpuncte ungefähr dasselbe, was auf dem Standpuncte der poetischen Production ein Landschaftsgedicht ist, welches dem Leser überlässt, sich die Landschaft in ihrer weiteren und immer weiteren Ausdehnung selbst auszumalen, wie die früher (S. 407) besprochene Romanze Der Räuber von Uhland. Zahlreicher als die stilistischen Mittel zur Bewegung des Ruhigen sind die zur Beruhigung des Bewegten, und das ist auch ganz natürlich: das Denken und Sprechen ist in sich selbst schon progressiv bewegt, man muss also eher und öfter in den Fall kommen, die Bewegung zu hemmen, weil sie zu schnell ist, als sie zu beschleunigen, weil sie ins Stocken geräth. Wir können diese Mittel in zwei Classen theilen: sie hemmen die Bewegung, theils indem sie die Anschauung nöthigen, längere Zeit auf einem Puncte zu verweilen, theils indem sie dieselbe auf eine Vorstellung zurückführen, die ihr schon früher einmal vorgelegen hat, also theils durch Verharren, theils durch Wiederholung. Eins der geläufigsten stilistischen Mittel, um die Einbildungskraft zum Verharren zu nöthigen und dadurch die lebendige Anschaulichkeit der Vorstellungen zu erhöhen und zu kräftigen, ist das Polysyndeton, auf Deutsch etwa die Vielverbundenheit, dem Namen und der Sache nach das reine Gegentheil des Asyndetons, der Unverbundenheit. Das Asyndeton giebt die sonst gewohnte grammatische Verbindung der Vorstellungen auf, dadurch erhält jede einzelne mehr Selbständigkeit, die ganze Reihe aber mehr Beweglichkeit des Fortschrittes. Das Polysyndeton dagegen verknüpft in einer längeren Reihe von Vorstellungen jede mit der ihr vorangehenden, und dadurch wird die Einbildung, die vorwärts möchte, fort und fort auf dem gleichen Puncte festgehalten, gezwungen, sich an dem Ganzen der Reihe wirklich auch als an einem Ganzen recht satt zu schauen. Das Asyndeton giebt eine progressive Folge von Momenten; das Polysyndeton macht die einzelnen Momente einander gleichzeitig. Beispiele aus Klopstocks Messias, die sich schön und lehrreich den früher (S. 409) gegebenen von der Unverbundenheit gegenüberstellen: „Er glaubt zu vergehen. Drauf erhebt er sich wieder und ist noch und denkt noch und fluchet, Dass er noch ist, und spritzt mit bleichen, sterbenden Händen Himmelan Blut“ (4. Gesang, V. 11). „Er weinte vor Wonne! Wonn' und ewiges Leben und Schauer und Wehmuth und Staunen Ueberströmten sein Herz“ (8. Gesang, LB. 2, 738, 33). Das Asyndeton, weil es eine schnelle Progression bezeichnet, dient der eigentlichen Erzählung und belebt und erhebt die Schilderung, indem es ihr den Anschein der Schilderung giebt; das Polysyndeton, weil es in einem Kreise gleichzeitiger Facta verharrt, ist eher geschickt zur Schilderung, und zur Erzählung nur in so fern, als man einzelne Situationen mehr in der Weise der verweilenden Schilderung fixieren will. Ein eigentlich schilderndes Polysyndeton findet sich in Schillers Glocke: „Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise Im häuslichen Kreise, Und lehret die Mädchen Und wehret den Knaben Und reget ohn' Ende Die fleissigen Hände Und mehrt den Gewinn Mit ordnendem Sinn Und füllet mit Schätzen die duftenden Laden Und dreht um die schnurrende Spindel den Faden Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein Die schimmernde Wolle, den schneeigen Lein Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer Und ruhet nimmer“ (Vers 116─132). Oder in Uhlands Ernst von Schwaben, wo im 3. Aufzug (Vers 1289 fgg.) Gisela zu Adalbert spricht: „Und wenn du nun durch deutsche Gaue wallst Und siehst die Burgen glänzen auf den Höhn Und siehst die Ritter reiten durch das Thal Und hörst des Jagdhorns Klänge durch den Wald, ... Und siehst das Feuer brennen auf dem Herd Und siehst die Kinder spielen vor der Thür: Musst du nicht schamroth werden vor dir selbst, Dass du so leblos durch das Leben gehst?“ Vgl. auch Brief an die Römer 9, 4. Ein Polysyndeton, wo die Erzählung in der Form der Schilderung und darum auch das Zeitwort in präsentischer Form erscheint, bietet Schillers Taucher: „Und es wallet und siedet und brauset und zischt, Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt; Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt, Und Well' auf Well sich ohn' Ende drängt; Und wie mit des fernen Donners Getose Entstürzt es brüllend dem finstern Schoosse. Und sieh! aus dem finster flutenden Schooss, Da hebt sich's schwanenweiss, Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloss, Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiss; Und er ists, und hoch in seiner Linken Schwingt er den Becher mit freudigem Winken“ (LB. 2, 1171, 6 fg.). Nächst dem Polysyndeton kommt sodann in Betracht die Cumulation oder Anhäufung ähnlicher, einander nah verwandter Vorstellungen auf einen und denselben Punct: auch hier wird die Einbildungskraft, indem man ihr mit jedem neuen Athemzuge wiederum beinahe das Gleiche vorführt, genöthigt, die Anschauung recht bis auf den Grund auszukosten. Sie verbindet sich meistens mit dem Polysyndeton: darum können auch die eben angeführten Polysyndeta als Beispiele für die Cumulation gelten. Sie ist übrigens ein bedenkliches Mittel; denn es ist schwer, das rechte Mass zu halten; sowie man es aber überschreitet, tritt an die Stelle der Lebendigkeit breite, müssige, tödtende Weitläuftigkeit. Die Cumulation häuft also Vorstellungen an, die nah an einander grenzen; sie verharrt nicht grade bei Einem und demselben, nicht bei vollkommen Gleichem, sie bringt nur Aehnliches zum Aehnlichen. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied derselben von zwei anderen Ausdrucksweisen, von der Tautologie und vom Parallelismus. Tautologische Redensarten sind der Poesie aller Völker und demgemäss auch der feierlichen, poetisch gefärbten Sprache des Rechtes und staatlicher Handlungen von jeher ganz geläufig gewesen. Es ist aber eine tautologische Redensart, wenn derselbe Begriff zwei- oder wohl gar dreimal hinter einander mit wechselnden Worten benannt wird, wenn nicht bloss ähnliche, nah verwandte Begriffe gehäuft, sondern verschiedene Ausdrucksweisen des gleichen Begriffes mit einander gepaart werden. Zweigliedrige Tautologien sind z. B.: „Art und Weise, Hohn und Spott, Ort und Stelle, nackt und bloss, lieb und werth;“ bei den Römern: „aequius melius, palam atque aperte;“ dreigliedrige: „frei, los und ledig; hegen, schirmen und schützen; volo statuo iubeo, fauste feliciter prospereque.“ Das waren zum Theil Beispiele aus der Rechtssprache; aber wie gesagt, diese Redensarten gehören mit zu der Poesie des Rechtes, und so sind sie auch sonst in der Poesie wohl zu Hause; es giebt Dichter, die von tautologischen Redensarten wimmeln, die sich ihrer bis zum Uebermass und Ueberdruss bedienen. So namentlich Konrad von Würzburg, bei dem auch viele Cumulationen verwandter Begriffe vorkommen. Als Beispiel diene der Anfang des Trojanerkrieges, wo Konrad das Wesen und die Würde der Dichtkunst mit einer Einsicht und einer Begeisterung erörtert, die freilich sein Vermögen namhaft überragen (LB. 1 4 , 769. 1 5 , 949). Die in diesem Eingang begegnenden Tautologien sind: „bringen unde geben, schœne unde wæhe, tiur unde fremde, sîn fuoge und sîn kunst, dicke und ofte, spannet unde dont, rinnet unde fliuʒet, lûter unde glanz, merket unde erkennet“ u. s. w. Zahlreiche Beispiele aus der Rechtssprache bei Jac. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer (2. Ausg.) S. 13 fgg. Eine besondere Art der Tautologie ist diejenige, wo der gleiche Begriff erst positiv, dann negativ, erst als positiver Satz, dann als negativer Gegensatz erscheint. So bei Jeremias 30, 19: „Denn ich will sie mehren und nicht mindern, ich will sie herrlich machen und nicht kleinern.“ Dergleichen schon bei Homer: „ πάλαι οὔτι νέον γε “ (Il. 9, 527 u. a.) und bei altdeutschen Dichtern, wie in altdeutschen Rechtsbüchern und Urkunden, z. B. Titurel (LB. 1 4 , 451. 1 5 , 631): „Man mac mich vür die alten senden wol zelen, niht für die jungen.“ So ferner: „fördern und nicht hindern, bessern und nicht ärgern“ (Grimm, Rechtsalterthümer S. 27 fgg.). Jetzt ist die Tautologie ziemlich veraltet; die Dichter pflegen sich ihrer zu enthalten, und die Rechtssprache sowie der Canzleistil wissen auch nur noch hin und wieder davon. In einem Lustspiele von Holberg, Die Wochenstube betitelt, findet sich ein ergötzliches Beispiel, wie dieser feierliche Canzleistil zuweilen auch in den Mund gewöhnlicher Leute und in die Alltagssprache gerieth (Andere Handlung, 7. und 8. Auftritt). Die Tautologie verharrt bei dem gleichen Begriffe; wenn es ein ganzer Gedanke ist, den diese zweimalige Darstellung in verschiedener Form getroffen hat, so heisst es Parallelismus: der Parallelismus ist eine Tautologie der Gedanken. Er ist bekanntlich ein wesentliches Stück in der Technik der hebräischen Poesie; vgl. Psalm 24: „Die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist; der Erdboden, und was darauf wohnet. Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den Wassern gegründet. Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?“ u. s. f. 1. Mos. 49, 6. 7. 11. 13. 15. 17. 26; 4. Mos. 23, 19: „Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen und nicht thun? Sollte er etwas reden und nicht halten?“ Aber auch der Dichtkunst des Abendlandes ist der Parallelismus nicht fremd. Es wird hier also der gleiche Gedanke dicht neben einander zweimal ausgesprochen, nur in verschiedener Art der Auffassung und des Ausdruckes: das gleiche Verfahren liegt aber auch dem Epigramm (S. 138), einer Dichtart also auch des Abendlandes zu Grunde, das ja für gewöhnlich auch nichts weiter ist als ein zweimaliger Ausdruck der gleichen Vorstellung, nur zuerst in bildlicher, dann in unbildlicher Auffassung, zuerst episch, dann lyrisch oder didactisch, während der orientalische Parallelismus beide Glieder bildlich oder beide unbildlich zu gestalten pflegt. Man kann jedoch nur denjenigen orientalischen Parallelismus mit dem Epigramm zusammenstellen, wo die beiden Glieder wirklich das Gleiche aussagen, nur den tautologischen, im eigentlichen und engeren Sinne sogenannten Parallelismus, nicht aber den Parallelismus der Antithese, der Ungleiches mit Ungleichem zusammenbringt, und bei dem auch das Parallele nur in Einzelheiten der äusserlichen Ausdrucksweise beruht. Beiderlei Parallelismen nehmen vorzugsweise den Scharfsinn und den Witz in Anspruch, sie wenden sich also an den Verstand und haben didactischen Character. Eine Eigenheit der Spruchdichtung der Hebräer ist es, den tautologischen Parallelismus zu verbinden mit einer Theilung und Zählung. So im Hiob 5, 19: „Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Uebel rühren,“ vgl. Sprüche Sal. 6, 16 (Tautologie). Sprüche Sal. 30, 18: „Drei Dinge sind mir zu wunderlich, und das vierte weiss ich nicht;“ 30, 21: „Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das vierte mag es nicht ertragen.“ Endlich sind noch als Mittel des Hemmens und des Festhaltens auf einem Puncte zu betrachten die Inversionen und die Hysterologie. Inversion nennt man eine Umstellung, wodurch die Worte in eine andere Ordnung gebracht werden, als die gewöhnliche Regel fordert. Die gewöhnliche Wortstellung stimmt, wenigstens und namentlich im Deutschen, so überein mit dem natürlichen Fortschritt in der Entwickelung der Vorstellungen, dass eben darum überall, wo man von ihr abweicht, auch dieser Fortschritt vorübergehend ins Stocken geräth. Nach der gewöhnlichen Weise des Denkens und Sprechens beginnt der Satz mit dem Subject, dann folgt das Verb und dann das Object, z. B.: „Ich preise den Herrn;“ erst also der Ausgangspunct der Thätigkeit, dann die Thätigkeit selbst, dann der Punct, in welchem sie ihr Ziel findet. Bringt man nun durch eine Inversion diess Object, um es auszuzeichnen, an die Spitze des Satzes und sagt: „Den Herrn preis' ich,“ so ist damit das Ende zum Anfang gemacht, und der Gedanke, statt nun noch vorwärts zu schreiten, wandelt eher in sich selbst zurück. Und wie hier, so überall. Es kommt aber von allen Hemmungsmitteln keins so häufig vor, als eben dieses, als die Inversion; namentlich in dem neueren Stil der Lyrik und der Tragödie, wie er durch Schiller ist in Uebung gebracht worden. Früherhin waren die Inversionen weitaus seltener, sie hatten deshalb auch in jedem einzelnen Fall, wo sie in Anwendung kamen, eine weit nachdrücklichere Wirkung: in der neueren Zeit ist es beinahe schwer, noch einen Satz, selbst bei Prosaisten, aufzufinden, der nicht invertiert sei. Während die Inversion unmittelbar in das Gebiet der Grammatik, nur mittelbar in das der Logik gehört, steht die Hysterologie oder das Hysteron proteron ( ὕστερον πρότερον ) unmittelbar und zuvörderst in Widerspruch mit der Logik. Die Inversion verändert die gewöhnliche sprachliche Gestaltung des Gedankens, wie sie allerdings auch logisch begründet ist; die Hysterologie kehrt die Zeitfolge und die Causalfolge der einzelnen Gedankenglieder selbst um, wie sie sonst auch im Sprechen beobachtet wird: sie stellt die anfangenden und bewirkenden Vorstellungen ans Ende und macht das Spätere zum Früheren. Bei Homer lassen sich wirkliche Hysterologien nicht mit Sicherheit nachweisen; dafür aber hat Virgil davon oft mit Bewusstsein Gebrauch gemacht, z. B. Georg. 1, 456: „Non illa quisquam me nocte per altum Ire, neque ab terra moneat convellere funem“ (das Hinausfahren folgt eigentlich erst auf das Ablösen des Seiles, welches das Schiff fest hält); Aen. 3, 662: „Postquam altos tetigit fluctus et ad aequora venit“ (zuerst zum Meer, dann auf die Höhe); Aen. 4, 6: „Postera Phoebea lustrabat lampade terras Humentemque Aurora polo dimoverat umbram“ (zuerst Aurora, dann Phöbus). Allerdings verstösst also die Hysterologie gegen die Chronologie und die Logik, aber sie thut es zum Besten der Anschaulichkeit: denn es wird wie bei der Inversion jedesmal die Hauptsache vorangestellt, und indem der Gang der Ereignisse in sich umgekehrt wird, tritt eine Hemmung des Fortschrittes ein, die das Ganze und namentlich jenes Hauptereigniss zu höherer Lebendigkeit erhebt. Auch bei den altdeutschen Dichtern finden sich Beispiele; so in Wolframs Parzival 117, 17: „Liute, die bî ir dâ sint, müeʒen bûwn und riuten“ (das Bebauen ist als das Wesentliche, Wichtigere dem Reuten vorangestellt; ebenso Konrad, Trojanerkr. 6263: „Mit bûwe und mit geriute“). Parz. 119, 3: „Die hieʒ si vaste gâhen, vogele würgn unde vâhen“ (auf das Würgen kommt es hier besonders an). Nibel. 2033, 2 Lachm.: „Slaht uns ellende, und lât uns zuo iu gân hin nider an die wîte.“ Walther 63, 4 Wack.: „Sûmunge schât dem snit und schât der sæte.“ Diess wären die Wege, auf denen man den bewegten Fortschritt dadurch beruhigt, dass man die Einbildungskraft hindert, vorwärts zu gehen, und sie zwingt, bei dem Gleichen zu verharren; nun sind noch diejenigen Wege zu betrachten, auf denen man sie nöthigt, zu früherhin schon Dagewesenem und Ausgesprochenem zurückzukehren, also die verschiedenen Arten der Wiederholung des Gleichen. Die Wiederholung des Gleichen ist eins der wesentlichsten Stücke in der Technik aller alterthümlichen und volksmässigen Epik (S. 63). Sowie in der Erzählung, im Gespräch die gleiche Vorstellung wiederkehrt, kehren auch die schon früher dafür gebrauchten Worte wieder, und zugleich wird jeder leiseste Anlass benützt, um die gleichen Vorstellungen wiederkehren zu lassen. Am ausgedehntesten, am wenigsten eingeschränkt zeigt sich dieses Verfahren der volksmässigen Epik in den Liedern der Serben und auch der Finnen (Talvj 1, 117; Schröter 143). Gemässigter in solchen Wiederholungen ist das Homerische Epos; doch wird auch hier jeder neue Tag mit den gleichen Worten eingeleitet: ἦμος δ ' ἠριγένεια φάνη ῥοδοδάκτυλος Ἠώς , und die vorzüglichsten Personen und Dinge haben ihre beständig wiederkehrenden, schmückenden Beinamen: Achilles heisst schnellfüssig ( πόδας ὠκύς, ποδώκης ), auch wo er ruhig dasitzt (Il. 1, 489), die Schiffe schnell ( θοαί, ὠκεῖαι , ὠκύποροι ), auch wo sie am Lande liegen (Il. 1, 421). Noch gemässigter ist die volksmässige altdeutsche Epik: sie kennt beinahe nur die epitheta perpetua, die stehenden Beinamen der Personen, und auch diese sind bei weitem nicht so stehend als bei Homer: im Nibelungenlied heisst Hagen zwar wiederholendlich der grimme Hagene, aber keineswegs immer und jedesmal nur da, wo die Umstände das Beiwort noch eigens motivieren. Unsere neuere erzählende Poesie kennt dergleichen eigentlich nur, insofern sie auf Nachahmung der Homerischen beruht: so ist z. B. eine stehende Wendung in Vossens Luise (LB. 2, 914, 13) der Vers: „Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau.“ Diese stereotype Einführung der sprechenden Person ist Homerisch, kommt aber in der That nur in der Odyssee 13, 55 u. s. f. vor und nur, um die Reden des göttlichen Sauhirten einzuleiten. Hier ist die Apostrophe offenbar eine von den launigen Schalkhaftigkeiten der Odyssee; in der Luise ist sie nicht recht an der Stelle. Sonst aber wissen unsere Dichter von solchen Wiederholungen so gut als nichts; in Schillers Taucher, in Schlegels Arion (LB. 2, 1269) und in Rückerts Weisheit des Brahmanen kommt etwas der Art vor, indem eine Situation, da wo sie in der Wirklichkeit sich wiederholt, nun auch im Gedicht ganz mit denselben Worten als das erste Mal dargestellt wird. Im Taucher die schon früher (S. 414) citierte Strophe: „Und es wallet und siedet und brauset und zischt“ u. s. f.; bei Schlegel heisst es von Arion, ehe er ins Meer springt, und dann wieder, wie er sich den heimgekehrten Schiffern zeigt: „Gehüllt sind seine schönen Glieder In Gold und Purpur wunderbar: Bis auf die Sohlen wallt hernieder Ein leichter, faltiger Talar; Die Arme zieren Spangen; Um Hals und Stirn und Wangen Fliegt duftend das bekränzte Haar. Die Cither ruht in seiner Linken, Die Rechte hält das Elfenbein.“ Bei Rückert im Lehrgedicht 3, 202 hat die Wiederholung, da sie zugleich in der Sache eine Steigerung bewirkt, etwas besonders Feierliches und Ahnungsvolles. Sonst sind diese epischen Wiederholungen im Allgemeinen selten; dass sie aber der neueren Poesie, zumal der Kunstpoesie so gänzlich fremd geworden, ist auch ganz natürlich. Die alte, die noch volksthümliche Epik bedarf ihrer: deren Erzeugnisse existieren nur durch den mündlichen Vortrag, durch den lebendigen Gesang; sie werden erhalten und fortgepflanzt durch Hörensagen und Wiedersagen, nicht durch Schreiben und Lesen: da muss denn nothwendig der Erinnerung zur Hilfe gekommen werden durch dergleichen Wiederholungen, und der Phantasie ihr Geschäft erleichtert, indem man den schnellen Fortschritt unterbricht und hemmt. In der Kunstpoesie fällt dieser äussere Anlass gänzlich fort und damit auch dessen Wirkung für den Stil: unsere Heldengedichte werden gedruckt und gelesen, bloss mit den Augen gelesen, da geht die Reproduction leichter und bequemer vorwärts, Erinnerung und Phantasie haben es nicht mehr so schwer, und hat auch der Leser einmal etwas vergessen, so kann er ja allenfalls rückwärts nachschlagen. Indessen, es ist nur die moderne Kunstpoesie, die von jenen altepischen Wiederholungen wenig weiss und eigentlich auch nichts wissen kann. Ein Theil der volksmässigen Poesie auch bei uns bedient sich ihrer noch bis auf den heutigen Tag, nämlich die Märchen und die Kinderlieder. Hier bleibt die sonst veraltete Wirkung, weil hier die alte Ursache immer noch lebt und fortbesteht: denn hier wird mündlich erzählt und gesungen, nicht geschrieben und gelesen, und da es hier gilt, die noch ungeübte, kindliche Phantasie zu beschäftigen, ist das altepische Erleichterungsmittel besonders gut an der Stelle. So im Märchen von den zwei Brüdern (Grimm, K. u. HM. 1, S. 311). Ganz häufig aber ist, besonders in den Kinderliedern, das Erleichterungsmittel in echt pädagogischer Art zugleich ein übendes Reizmittel, indem mit der Wiederholung ein Anwachs des Wiederholten verbunden ist, mit jeder neuen Wiederholung auch immer mehr Gedanken oder Begriffe wiederholt werden. So in dem bekannten und vielfach variierten Liede vom Jockeli, der Birnen schütteln wollte: Simrock, Kinderbuch (1848) S. 218 und Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 1, S. 31 u. 129. Ein anderes Beispiel der Art ist die Geschichte vom Hähnchen und seinem Hühnchen, wo wir die Poesie auf all ihren Stufen, in all ihren Tönen und Farben finden: Simrock, Kinderbuch S. 198. Abgesehen nun von jenen Wiederholungen, die man die epischen Wiederholungen nennen kann, da sie in den besonderen Bedürfnissen des Epos begründet sind und zu den characteristischen Eigenthümlichkeiten des epischen Stils gehören, abgesehen von den epischen Wiederholungen giebt es nun noch andere Formen der äusseren Darstellung, bei denen auch der Strom der poetischen Rede von Zeit zu Zeit durch Wiederholung gehemmt und innegehalten wird, die jedoch ihrer ganzen Beschaffenheit nach nicht gerade auf das Epos eingeschränkt, ja sogar theilweise von dem eigentlichen Epos ausgeschlossen sind. Hier ist zuerst von der Anacoluthie ( ἀνακολουθία ), d. h. Folgewidrigkeit, Aufhebung der Construction zu sprechen. Ein Ausdruck der wiederholenden Anschauung ist in vielen Fällen die Anacoluthie, insofern sie nämlich ganz gewöhnlich darin besteht, dass man eine Periode, nachdem sie begonnen hat, ganz ohne streng grammatische Rücksicht auf diesen ihren Beginn weiter bildet, am Ende aber den unterbrochenen Faden wieder aufnimmt und sie nun mit solcher Wiederholung doch noch demgemäss abschliesst, wie sie angefangen hat. Solche Anacoluthien, die zuletzt der Regel doch wieder ihr Genüge leisten, sind namentlich die Anacoluthien der Homerischen Gleichnisse: sie pflegen mit einem wie wenn ( ὡς ὅτε ) zu beginnen; alsbald aber verschwindet diese Form der Abhängigkeit und die weiteren Züge des Bildes erscheinen als selbständige Hauptsätze: ist aber das Bild in der Weise abgethan, so kommt dann doch mit einem rückdeutenden so ( ὧς ) das Gegenbild, mit einem so, dem nur zu Anfange des Ganzen ein entsprechendes wie gegenübersteht. Wie das Homerische Gleichniss überhaupt, so haben sich mit ihm unsere Dichter auch diese anacoluthische Form desselben angeeignet; und diese Anacoluthien sind auch beinahe die einzigen von Belang, die unsere neueren Dichter sich gestatten, und mit Bewusstsein gestatten. Sie fühlen sich hier gegen die Grammatik durch Homers Autorität gedeckt. So Göthe, Hermann und Dorothea 7, 1 fgg.: „Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnell verschwindende, fasste, Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben siehet ihr Bild; wohin er die Blicke nur wendet, Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben: So bewegte vor Hermann die liebliche Bildung des Mädchens Sanft sich vorbei und schien dem Pfad ins Getreide zu folgen.“ Noch freier und kühner Schiller, Die Macht des Gesanges (LB. 2, 1132): „Wie wenn auf einmal in die Kreise Der Freude mit Gigantenschritt Geheimnissvoll nach Geisterweise Ein ungeheures Schicksal tritt; Da beugt sich jede Erdengrösse Dem Fremdling aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöse Verstummt und jede Larve fällt, Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege Verschwindet jedes Werk der Lüge: So rafft von jeder eiteln Bürde, Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde Und tritt in heilige Gewalt.“ In solchen Anacoluthien zeigt sich eigentlich beides zu gleicher Zeit wirksam, einmal die Bewegung des Ruhenden, sodann die Beruhigung des Bewegten: die Bewegung des Ruhenden, indem zuerst die einzelnen Züge des Bildes, die in der streng grammatischen Form sämmtlich als beigeordnete Nebensätze auf dem gleichen Puncte verweilen würden, durch die selbständige Form, die man ihnen giebt, in eine fortschreitende Entwicklung gebracht werden; die Beruhigung des Bewegten, indem diesem Fortschritt zuletzt doch wieder Einhalt gethan und die Bewegung dadurch gehemmt und zurückgedrängt wird, dass die Periode mit dem letzten Schritte wieder in ihren Ausgangspunct zurücktritt. Aber auch ausserhalb des epischen oder Homerischen Gleichnisses kommen erlaubte Anacoluthien vor: bei der Parenthese, auf Anlass eines parenthetisch eingeschalteten Satzes (S. 348). Auch hier ist dann zugleich beides vorhanden, vermehrte Bewegung und einlenkende Hemmung derselben. Denn die Parenthese macht einen Schritt vorwärts aus dem Satze hinaus, da sie selbständig, nicht ein Zwischensatz, sondern ein Hauptsatz ist; aber nach der Parenthese wird der abgebrochene Faden anacoluthisch mit Wiederholung früherer Worte von Neuem aufgenommen. So der erzählende Anfang einer Ode Klopstocks, Die beiden Musen (LB. 2, 767): „Ich sah ─ o sagt mir, sah ich, was jetzt geschieht? Erblickt' ich Zukunft? ─ mit der Britannischen Sah ich in Streitlauf Deutschlands Muse Heiss zu den krönenden Zielen fliegen.“ Eine andere Art der Wiederholung besteht in Theilung und Zusammenzählung. Sie ist vorhanden, wenn eine Reihe gleichartiger, einander beigeordneter Vorstellungen in möglichst übereinstimmender Ausdrucksweise Stück für Stück vorgeführt und ausgeführt und dann zuletzt all diese Einzelheiten noch einmal, aber nur kurz genannt und aufgezählt werden, um sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunct, um einen Hauptbegriff, der den Mittelpunct bildet, zu vereinigen. Diese Form der Wiederholung ist eine bezeichnende Eigenthümlichkeit der älteren spanischen Poesie, und von daher ist sie auch in die deutsche Poesie des siebzehnten Jahrhunderts aufgenommen worden. Z. B. ein Sonett von Martin Opitz (LB. 2, 318) und Rückerts Abschied, ein Gedicht, das nicht nur eins der schönsten und trefflichsten dieses Dichters, sondern überhaupt der neueren deutschen Poesie ist (LB. 2, 1539). Ein weiteres Mittel, den Strom der poetischen Rede durch Wiederholung zu hemmen, ist der Refrain oder mit einem puristischen Ausdruck der Kehrreim. Die letztere Benennung ist unpasslich, weil es auch in der antiken Poesie Refrains giebt, die doch des Reimes entbehren. So bei Theocrit, Id. 1 u. 2; bei Catull 61. 62. 64, und mit Nachahmung Theocrits auch bei Virgil Eclog. 8 u. a. Man nennt es einen Refrain, wenn in einem Gedichte, das strophisch gebaut oder doch strophenartig gegliedert ist, hinter, vielleicht auch vor jeder einzelnen Strophe oder jedem Absatze der gleiche Vers oder die gleiche Verbindung mehrerer Verse immer von Neuem wiederholt wird. Auf die Wiederholung zielt denn auch wahrscheinlich der Name: Refrain ist eigentlich s. v. a. Sprichwort: man bekommt hier wie in einem Sprichwort, das allgemein gäng und gäbe ist, immer wieder das Gleiche zu hören. Bei den Lateinern heisst der Refrain versus intercalaris (von calare rufen, woher auch dies intercalaris, Schalttag), weil er in den Verlauf des Gedichtes eingeschaltet wird; bei den Griechen ἡ ἐπῳδός , was nicht nur den Bezug auf die einzelne vorangegangene Strophe ausdrückt, sondern auch den Sinn der sprichwörtlichen Rede hat. Dem eigentlichen reinen Epos ist der Refrain durchaus fremd: er bezeichnet vielmehr meistens die Mischung und zwar eine in sich selbst entzweite Mischung von epischer und lyrischer Poesie, ja er kommt auch in reiner Lyrik vor, wie z. B. bei Catull. Es ist früher (S. 97) aus der Litteratur mehrerer Völker nachgewiesen worden, dass die erste Spaltung der alten einfachen epischen Poesie in epische und und lyrische sich darstellt in einer solchen Verbindung von Strophe und Refrain: in der Reihe der Strophen schreitet die Erzählung ungesäumt vom Anfang dem Ende entgegen: sie bilden das epische Element der Dichtung; aber hinter jeder Strophe kehrt nun der Refrain wieder, ein kurzer, abgerissen hingeworfener lyrischer Gedanke, d. h. immer und immer wieder spricht sich die Empfindung aus, die durch das Erzählte angeregt wird: neben das beweglich fortschreitende epische Element stellt sich, auf dem gleichen Puncte beharrlich verweilend und den Hörer immer wieder dahin zurückziehend, das lyrische. Diese zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, diese lyrische Beruhigung des episch Bewegten, diese Verbindung von Strophe und Refrain characterisiert besonders die mittelalterliche und moderne Volkspoesie der scandinavischen Völker, die Balladen der Dänen, der Schweden u. s. f. Es characterisiert diess die Volkspoesie der nordischen Völker, insofern es dort wenige Lieder giebt, die nicht in solcher Weise Epik und Lyrik, Strophe und Refrain neben und mit einander aufwiesen. Aber es ist das keineswegs ihr ausschliessliches Eigenthum. Auch die ersten Anfänge der deutschen Lyrik zeigen sich in dieser Form. Den Hauptanfang und die Hauptgrundlage unserer Lyrik bilden geistliche Lieder, und diese waren zuerst, so viel kann man nachweisen, an und für sich durchaus episch, aber zugleich war ihnen immer ein lyrischer Refrain beigegeben, der Ausruf nämlich Kyrie eleison oder Halleluja oder bloss die Vocale dieses Wortes aeuia, oder euouae, die Vocale von seculorum amen; und zwar hielt man es beim Vortrage durch Gesang mit diesen beiden Bestandtheilen so, dass Einer die Strophe sang, die Menge nur den Refrain hinzufügte, d. h. Einer erzählte, die Gesammtheit drückte die angeregte Empfindung aus. So heisst es in dem Leich auf den Sieg König Ludwigs III. bei Saucourt (881): Ther kuning reit kuono, Sang lioth frano, Ioh alle saman sungun „Kyrrie leison!“ LB. 1 4 , 106. 1 5 , 284. Ganz ebenso wie hier bei Beginn einer Schlacht mit einem geistlichen Liede verfuhr man im späteren Mittelalter mit den Tanzliedern. Auch hier begegnen wir häufig eigentlich erzählenden Gedichten, aber mit Refrain, und dieser Refrain pflegt dann aus blossen Interjectionen oder gar erst neugeschaffenen Worten ohne Sinn und Verstand, bloss von abenteuerlich lustigem Klange zu bestehn, wie z. B. traranuretum traranuriruntundeie in einem Liede Neidharts von Reuenthal LB. 1 4 , 545. 1 5 , 725. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man auf solche Refrains durch eben jenen geistlichen (Kyrie eleison, Hallelujah) geführt wurde: denn auch dieser war für das Volk natürlich eine blosse Ausrufung ohne bestimmten Sinn, ein blosses Empfindungswort. In unserer jetzigen Poesie nun ist der Refrain selten, selten aus einem dem ähnlichen Grunde, aus dem auch die vorher (S. 418) besprochenen epischen Wiederholungen ausser Gebrauch gekommen sind. Der Refrain bezeichnet den Uebergang von der Epik zur Lyrik: dieser Schritt ist aber für uns und vor uns schon längst gethan; seine Anwendung ist bedingt in dem lebendigen Vortrage durch den Gesang: unsere Poesie steht aber in keinem nothwendigen Zusammenhange mehr mit der Musik: beide Künste, die früherhin fast nur eine waren, gehen jetzt jede beinahe ihren eigenen Weg für sich. Wo jedoch der Refrain jetzt noch in Anwendung kommt, hat er auch immer noch etwas von seiner alten Natur bewahrt: wird ein Gedicht mit Refrain gesungen, so trägt Einer die Strophe, der Chor den Refrain vor, und dem Inhalte nach ist er immer noch mehr oder minder deutlich der lyrische Zusatz zu einer sonst epischen Dichtung, die Beruhigung des Bewegten, die zusammenhaltende Einigung einer zerstreuten Reihe von Anschauungen. Beispiele: Uhlands Trinklied: „Wir sind nicht mehr am ersten Glas“ LB. 2, 1389; Rückerts Kriegslied: „Das ruft so laut“ LB. 2, 1547. Jede Strophe bringt hier eine neue Situation epischer Art; alle aber werden durch den Refrain zusammengefasst und in Beziehung gebracht auf Eine durchgehende lyrische Grundempfindung; die beständige Wiederkehr derselben Empfindung gleicht die Unruhe wieder aus, mit welcher die Einbildungskraft in den Strophen selbst von einem Puncte zum andern fortgezogen wird. Diese Bedeutung wird aufgehoben, wenn man den Refrain gradezu mit in die Erzählung oder Schilderung hineinzieht und nach Massgabe der einzelnen Situationen bald so, bald so abändert, so dass weder die Erzählung ohne den Refrain bestehn kann, noch der Refrain für sich ohne die Erzählung einen Sinn hat. So bei Körner, Lützows wilde Jagd (LB. 2, 1519), und nicht minder fehlerhaft bei Chamisso: „Die Sonne bringt es an den Tag“ (LB. 2, 1661): hier hat man einen Refrain und hat auch wieder keinen. Vgl. Litt. Gesch. S. 232. Nach allem bisher Bemerkten hat der Refrain der Regel nach seine Stelle weder in der rein epischen noch in der rein lyrischen Poesie: denn er selber ist lyrischer Natur, setzt aber ein sonst episches oder doch episch geartetes Gedicht voraus. Mehrere andre Formen der Wiederholung nun sind nicht in solcher Weise eingeschränkt, sie können in jeglicher Gattung der Poesie vorkommen, auch in der reinen Lyrik. Die Benennungen, welche sie tragen, sind lauter aus dem Alterthum überlieferte Namen; der alte Gesammtname ist Repetitio. Man hat sie aber zuerst in zwei Classen einzutheilen. Entweder kehrt ganz dasselbe Wort wieder in derselben Bedeutung und in derselben grammatischen Form, oder dasselbe Wort, aber in verschiedenen grammatischen Formen und somit auch in mehr oder weniger verschiedener Bedeutung. Dann sind innerhalb dieser zwei Gattungen wieder vielfache besondere Arten zu unterscheiden. Die Arten der ersten Gattung, wo dasselbe Wort ohne Veränderung der Bedeutung und der Form wiederkehrt, sind mit den griechischen Namen die Anaphora, die Epiphora, die Epanalepsis, die Epanodos, die Epizeuxis und die Symploke. Anaphora, ἀναφορά , Zurückführung, nennt man die Wiederkehr desselben Wortes, derselben Wendung am Anfange mehrerer auf einander folgender Sätze oder Satzglieder. Beispiele aus der altdeutschen Poesie: Walther von der Vogelweide (LB. 1 4 , 407; Wack. Ausg. S. 77), ein Lied, wo am Anfang jeder Strophe das Wort owê wiederkehrt. Sodann Gottfried von Neifen (LB. 1 4 , 679): „Rôter munt, nu lache, daʒ mir sorge swinde; rôter munt, nu lache, daʒ mir sendeʒ leit zergê! Lachen du mir mache, daʒ ich frœide vinde; rôter munt, nu lache, daʒ mîn herze frô bestê!“ In einem Spruche auf die Unfreigebigkeit König Rudolfs wiederholt Meister Stolle am Anfange jedes Verses die Worte: „Ern gît ouch niht“ (LB. 1 4 , 751). So nun auch in der neueren Poesie, z. B. gleich in den ersten Versen von Schillers Elegie Der Spaziergang: „Sei mir gegrüsst, mein Berg, mit dem röthlich stralenden Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüsst, die ihn so lieblich bescheint!“ (LB. 2, 1145). Reich an Anaphern ist ferner auch Göthes Ballade Der Fischer (LB. 2, 1033). Die Anapher verbindet sich gern mit der Gradation, wie z. B. bei Martial (Epigr. 8, 14): „Dat populus, dat gratus eques, dat tura senatus.“ Im Zeitalter der silbernen Latinität findet sich die Anapher auch in Prosa nicht selten, und in Verbindung mit der Gradation bildet sie eine von den Eigenthümlichkeiten des Taciteischen Stiles; z. B. Germania 7: „Et in proximo pignora, unde feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium. hi cuique sanctissimi testes, hi maximi laudatores. ad matres, ad coniuges vulnera ferunt.“ Epiphora, ἐπιφορά , Zugabe, heisst die Wiederkehr desselben Wortes, derselben Wendung zum Schluss eines Satzes oder Satzgliedes: sie ist mithin das reine Gegentheil der Anapher. Z. B. Ovid (Metamorph. 1, 361): „Namque ego, crede mihi, si te modo pontus haberet, Te sequerer, coniux, et me quoque pontus haberet.“ Schiller, Don Carlos (1. Act, 2. Auftr.): „Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz Schlug meine Zähne knirschend an einander: Ich weinte nicht. Mein königliches Blut Floss schändlich unter unbarmherz'gen Streichen: Ich sah auf dich und weinte nicht.“ Also ist auch der gleiche Reim als eine Epiphora zu betrachten: vgl. Schlegels Bund der Kirche mit den Künsten (LB. 2, 1281, 35 u. 1283, 11). Das Gleiche gilt auch von dem überzähligen Reime, der aus einem gewöhnlichen und einem gleichen zusammengesetzt ist: er findet sich namentlich in der hauptsächlichsten Form der arabischen und der persischen Lyrik, in der Kasside, und in deren Abart, dem Ghasel, indem hier häufig am Ende jedes neuen Distichons dasselbe Wort oder dieselben Worte wiederkehren. Ein Gedicht von Rückert in der Form des Ghasels wird das am besten zeigen; es ist an die Poesie gerichtet und beginnt also: „Du Duft, der meine Seele speiset, verlass mich nicht! Traum, der mit mir durchs Leben reiset, verlass mich nicht! Du Paradiesesvogel, dessen Schwing' ungesehn Mit leisem Säuseln mich umkreiset, verlass mich nicht!“ u. s. f. (LB. 2, 1566). Epanalepsis, ἐπανάληψις , Wiederaufnahme, oder Anadiplosis, ἀναδίπλωσις , Verdoppelung: so heisst man es, wenn der Anfang des einen Satzes am Ende des andern wiederholt wird. Beispiel, Klopstock (Messias 2, 763): „Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! er liebt mich nicht wieder, ewig nicht wieder: ach, weinet um mich!“ Eine Epanalepsis ist es auch, wenn Walther von der Vogelweide jede Strophe eines Liedes mit dem Worte owê beginnt und schliesst (LB. 1 4 , 408; Wack. Ausg. S. 74); oder wenn Joh. Mentzer am Anfang und am Ende jeder Strophe seines Passionsliedes die Worte: „Der am Kreuz ist meine Liebe,“ wiederkehren lässt. In der Epanalepsis vereinigen sich gewissermassen die Anaphora und die Epiphora. Eine wirkliche und eigentliche Vereinigung beider ist die Epanodos, ἐπάνοδος , der Rückweg, wo sich die Wortfolge bei der Wiederholung umkehrt, wo, was vorher das erste Wort gewesen, nun das letzte wird und umgekehrt. Ganze Verse werden in umgekehrter Folge wiederholt in einem Liede Walthers, das zwar einen moralischen Zweck verfolgt, gleichwohl aber scherzhaften Character hat (LB. 1 4 , 400; Wack. Ausg. S. 64). Seb. Brant, Narrenschiff (Cap. 103, 92; LB. 1 5 , 1505, 22): „Die zyt die kumt, es kumt die zyt.“ Hesekiel 7, 6: „Das Ende kommt, es kommt das Ende.“ 1. Mos. 5, 17: „Pharao sprach: Ihr seid müssig, müssig seid ihr.“ Lächerlich aber ist es, wenn die Epanodos einzelne inhaltslose Worte trifft; so z. B. in der Medea, einem Melodrama von Gotter: „Hier lag ich sonst, sonst lag ich hier und flehte Segen Auf Jasons Haupt. Nun lieg' ich hier, hier lieg' ich nun Und flehe Rache auf Jasons Haupt“ (zugleich ein Beispiel der Epiphora). Epizeuxis, ἐπίζευξις , Hinzufügung, heisst im Allgemeinen überhaupt jede Wiederholung ohne besondre Localisierung wie bei der Anaphora und der Epiphora; z. B. die weite weite Welt; er sprach und sprach und fand kein Ende. Da die Epizeuxis nicht grade immer am Schluss oder immer am Anfang steht, ist sie natürlich eben auch von allen Wiederholungen die häufigste; Beispiele dafür finden sich denn auch bei jedem Dichter, aller Orten und Enden, sogar in der Alltagssprache. Jesaia 24, 16: „Und ich muss sagen: Wie bin ich aber so mager? Wie bin ich aber so mager? Weh mir; denn die Verächter verachten, ja die Verächter verachten“; 62, 10: „Gehet hin, gehet hin durch die Thore, bereitet dem Volk den Weg; machet Bahn, machet Bahn“. Gern verbindet sich die Epizeuxis mit der Antithese, man bringt die wiederkehrenden Worte gern in antithetisch wechselnde Beziehung, z. B. das erste Mal auf ein ich, das zweite Mal auf ein du. So in dem altschwäbischen Rechtsformular für ein Verlöbniss LB. 1 4 , 187. 1 5 , 365: „Mir zemineme rethe, îv zuo ivwereme rethe, mit mineme uolewerde engegen ivvereme uollen werde.“ Die alte Rechtssprache liebt die Epizeuxis, wie sie die Cumulation und die Tautologie liebt; auch die Wiederholung dient, indem sie den Moment fixiert und die Eile hemmt, zur Erhöhung der Feierlichkeit, deren die rechtliche Handlung bedarf. Als eine besondere Abart der Epizeuxis kann man solche reduplicierende Redensarten betrachten wie Hand in Hand, Mund an Mund, Mann für Mann, Auge um Auge, Zahn um Zahn u. dgl. Sagte man in prosaischer Weise eine Hand in der andern, so würde dieser zählende Fortschritt vom Ersten zum Zweiten die Vorstellung eben zu einer fortschreitenden machen; die Wiederholung des gleichen Wortes hält diesen Fortschritt inne und erhöht dadurch die sinnliche Anschaulichkeit. Diese reduplicierenden Redensarten sind als die einfachste Art der Epizeuxis und überhaupt der Wiederholungen auch der poetischen Sprache aller Völker eigen: sie finden sich bei den Orientalen wie bei den Griechen und Römern und Deutschen. Eine Symploke ( συμπλοκή ) endlich, d. h. eine Verflechtung, nennt man es, wenn in einem Satze oder in einer eng zusammenhangenden Reihe von Sätzen mehrere von den bisherigen Arten der Wiederholung zugleich vorkommen, sich mit einander verbinden und verflechten. So z. B. in Schillers Don Carlos 1. Act, 2. Auftr.: „Lass mich weinen, an deinem Herzen heisse Thränen weinen (Epiphora), du einz'ger Freund. Ich habe niemand, niemand (Epizeuxis), auf dieser grossen weiten Erde niemand (Epiphora). Soweit das Scepter meines Vaters reicht, soweit (Anaphora) die Schifffahrt unsre Flaggen sendet, Ist keine Stelle, keine, keine (Epizeuxis), wo Ich meiner Thränen mich entlasten darf, als diese. O bei Allem, Rodrigo, Was du und ich dereinst im Himmel hoffen, Von dieser Stelle, Rodrigo, verjage, verjage (Epanodos) mich von dieser Stelle nicht!“ Wir wenden uns nun zur zweiten Hauptgattung dieser Wiederholungen; hier kehrt nicht dasselbe Wort in unveränderter Form und Bedeutung wieder, sondern mit wechselnder Form und demgemäss auch mit noch mehr oder weniger veränderter Bedeutung. Wenn zuerst die Flexionsform wechselt, wenn das wiederholt gebrauchte Wort verschiedene Declinations- oder Conjugationsformen zeigt, so nennt man das ein Polyptoton ( πολύπτωτον ). Eigentlich passt dieser Name nur, wo vielerlei verschiedene Declinationsformen vorkommen, da πτῶσις Fall, Casus bedeutet; aber die Benennung gilt auch, wo es die wechselnde Conjugationsweise betrifft. Ein reiches Beispiel bietet Homers Odyssee 19, 204 fgg., wo in fünf Versen 1) τῆς δ' ἄρ ἀκουούσης ῥέε δάκρυα, τήκετο δὲ χρώς . ὡς δὲ χιὼν κατατήκετ' ἐν ἀκροπόλοισιν ὄρεσσιν , ἥν τ' Εὖρος κατέτηξεν, ἐπὴν Ζέφυρος καταχεύῃ· τήκομενος δ' ἄρα τῆς ποταμοὶ πλήθουσι ῥέοντες· ὧς τῆς τήκετο καλὰ παρήϊα δάκρυ χεούσης . der Begriff τήκειν , schmelzen, in den Formen τήκετο, κατατήκετο, κατέτηξεν, τηκόμενος, τήκετο wiederkehrt. Voss hat dieses Polyptoton in seiner Uebersetzung trefflich nachgeahmt: „Aber den Hörenden floss die schmelzende Thrän' auf die Wang' hin; So wie der Schnee hinschmilzt auf hochgescheitelten Bergen, Welchen der Ost hinschmelzte, nachdem ihn geschüttelt der Westwind; Dass von geschmolzener Nässe gedrängt abfliessen die Bäche: Also schmolz in Thränen der Gattin liebliches Antlitz.“ Mit Epizeuxis verbunden erscheint das Polyptoton in einem Xenion Göthes auf Nicolai (LB. 2, 1086, 30): „Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert, er sagt sie, Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt und geht ab.“ Nicht so häufige Wiederkehr und doch das stärkste Beispiel bietet Ovid Metam. 1, 325: „Et superesse videt de tot modo millibus unum, Et superesse videt de tot modo millibus unam: “ hier verbindet sich mit dem Polyptoton noch die Anaphora, oder wie man es nennen wolle. Geht der Wechsel der Form weiter, wechselt sie, weil ein anderes von der gleichen Wurzel oder dem gleichen Stamm gebildetes Wort eintritt, so heisst das Annominatio, ein Name, der, wie wir früher (S. 391) gesehen, auch das Wortspiel bezeichnet. Z. B. bei Klopstock: „Die Stille ward stiller;“ oder wiederum Klopstock (Mess. 6, 190): „Lass, den meine Seele geliebt hat, Den ich liebe mit viel mehr Liebe wie Liebe der Brüder, Lass mich mit dir, du Heiligster, sterben!“ So auch Voss: „Schreibend schreibt er im Schreiben geschriebene Schriften der Schreiber.“ Beispiele aus der altdeutschen Poesie: Heinrich von Rugge (Minnesangs Frühling S. 100, 34 fgg.): „Minne minnet stæten man. Ob er ûf minne minnen wil, Sô sol im minnen lôn geschehen. Ich minne minne als ichs began. Die minne ich gerne minnen wil. Der minne minne ich hân verjehen. Die minne erzeige ich mit der minne, Daʒ ich ûf minne minne minne. Die minne meine ich an ein wîp. Ich minne, wan ich minnen sol Dur minne ir minneclîchen lîp.“ Ebenso schliesst Ulrich von Singenberg ein Lied mit folgender Strophe (Wackern. Walth. S. 223, 2): „Minne, minneclîche Minne, Minne mich, sît ich von herzen minne dich. Mich (ich minne dîne sinne) Minne: wilt dû danne dîne minne an mich Unminneclîchen kêren, Minne, owê! So ist Minne ir minne unminneclîch, wil sî daʒ vröide an mir zergê.“ Polyptoton und Annominatio wechseln mit einander in den Reimspielen Gottfrieds von Neifen LB. 1 4 , 681 (1 5 , 861) und Konrads von Würzburg LB. 1 4 , 755 (1 5 , 935). An die bisher besprochenen Arten der Wiederholung schliesst sich noch das Echo an: es grenzt zunächt an die Epiphora und den Refrain, indem das letzte Wort der Verse oder der Strophen von einem Wiederhall zurückgegeben wird. Das wiederholte Wort bleibt beim Echo bald dasselbe, bald verändert es Form und Sinn; es berührt sich also bald mit der Epizeuxis, bald mit dem Polyptoton und der Annominatio. Das Echo hat zugleich eine musikalische Wirkung und die Form des Witzes; es artet aber leicht in Tändelei aus. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde es namentlich von den spanischen Dichtern und nach ihrem Vorgange von den Pegnitzschäfern angewandt. So bei Reinhold von Freientahl ein Waldlied, „in welchem der Wiederhall ausser dem Verse“ LB. 2, 545. Bei neuern Dichtern findet sich das Echo nur selten: in Tiecks Octavian 146 ein Beispiel, wo es mit Theilung und Zusammenzählung verbunden ist. Wodurch diese verschiedenen Formen der Wiederholung, von der Anaphora, Epiphora u. s. w. bis zum Echo, sich von den epischen Wiederholungen und von der Wiederholung im Refrain unterscheiden, das ist ziemlich klar an sich selbst. Die epische Wiederholung kann sich auf ganze grosse Reihen von Vorstellungen erstrecken, der Refrain kann auch aus mehreren Versen bestehn: Anaphora, Epiphora, Epizeuxis haben es immer nur mit einzelnen Worten, mit Satztheilen zu thun. Die epische Wiederholung hat etwas schon Entfernteres, vielleicht lange vorher Vorgekommenes zum Gegenstande, die Wiederholung durch den Refrain kann durch sehr grosse dazwischen tretende Strophen unterbrochen sein: Anaphora, Epiphora, Epizeuxis u. s. w. kommen nur innerhalb eines Satzes, oder wenn auch in mehr als einem Satze, doch nur in Sätzen vor, die unmittelbar auf einander folgen. Aber alle Formen der Wiederholung sind eine wie die andere ein stilistisches Mittel, den Fortschritt zu mässigen, die Beweglichkeit zu beruhigen, die Zerstreuung zu sammeln, ein Mittel, die Einbildungskraft immer wieder auf den gleichen festen Punct zurückzuführen. So viel von der einen Hauptseite des poetischen Stils, von der Anordnung der Worte, insofern man auf den Gehalt derselben sieht (S. 409). Treten wir nun auf den anderen uns noch übrigen Standpunct und fassen die Worte bloss von Seiten ihrer Gestalt ganz äusserlich, nur als tönendes und lautendes Material. Hier ist denn zu sprechen vom Wohlklang und vom Wohllaut, wie wir diese beiden schon früher (S. 363) unterschieden haben. Zuerst der Wohlklang. Auch hier, ganz auf der Oberfläche der sprachlichen Darstellung, laufen die beiden Wege, die zu lebendigem Ausdrucke führen, neben einander her und durch einander, die Bewegung und die Beruhigung. Beides zeigt sich gleich wirksam in dem künstlerischen Rhythmus der poetischen Rede: die Bewegung in dem Wechsel des Verschiedenen, verschiedener Quantität, verschiedener Accente; die Beruhigung darin, dass dieser Wechsel in sich selbst gleichmässig gegliedert ist, dass er in einer bestimmten Anordnung vor sich geht; die Bewegung in der Zusammenstellung verschiedener, immer anders gestalteter Füsse zu einem Verse, und verschiedener, immer anders gestalteter Verse zu einer Strophe: die Beruhigung darin, dass mit dem nächsten Verse der gleiche Wechsel von Füssen, mit der nächsten Strophe der gleiche Wechsel von Versen wiederkehrt. Es fallen hier also die beiden Merkmale der Lebendigkeit ganz zusammen mit den beiden Merkmalen der Schönheit, der Mannigfaltigkeit und der Einheit: in der Bewegung ist die Mannigfaltigkeit begründet, in der Beruhigung die Einheit, und umgekehrt. Auch von der prosaischen Rede hat die Stilistik einen gewissen Rhythmus zu fordern; wir haben diesen Punct früherhin (S. 363 fgg.) ausführlich behandelt. Aber der prosaische Rhythmus macht sich nur im Grossen und Ganzen geltend, nur im Verhältniss eines Satzgliedes zum andern, einer Periodenhälfte zur andern; es wird überall nur verlangt, dass sich in diesen grossen Verhältnissen der trochäische Rhythmus darstelle, dass ein Satz mit den wichtigern, also stärker betonten Worten beginne, mit den unwichtigern, also minder betonten endige, dass von beiden Hälften einer Periode die durch ihren Inhalt gehobene als Vordersatz vorangehe, die gesenkte als Nachsatz folge und beschliesse. In der poetischen Rede dauert diese Forderung des trochäischen Rhythmus im Grossen immer noch fort; diese trochäische Gliederung der Sätze und Perioden wird hier nicht minder verlangt. Aber zugleich waltet hier noch ein Rhythmus, der bis ins Einzelne hinein, bis auf die Silbe, ja bis auf den Buchstaben künstlerisch ausgebildet und fort- und durchgeführt wird, und dieser kann ein ganz anderer sein als der trochäische, ja demselben grade entgegengesetzt. Nehmen wir z. B. die Verse Schillers: „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, Da kann sich kein Gebild gestalten; Wenn sich die Völker selbst befrein, So kann die Wohlfahrt nicht gedeihn:“ hier ist der Rhythmus der Periodenglieder trochäisch; die einzelnen Worte und Silben sind jambisch. Wie in diesem Beispiele, stellt sich dann dieser künstlerische Rhythmus der poetischen Rede überall auf die mannigfachste Weise ebenso in Gegensatz zu dem unkünstlerischen, natürlich gegebenen Rhythmus, der schon in der Prosa waltet, wie sich auch sonst die poetische Darstellung zu der gewöhnlichen und zunächst gegebenen in Gegensatz und Widerspruch stellt. Ein solcher Gegensatz des künstlerischen Rhythmus gegen den unkünstlerischen ist es, wenn man die Versfüsse in Widerspruch bringt mit den Wortfüssen, wodurch Cäsuren (Neben- und Hauptcäsuren) entstehn, wenn also z. B. in einem Hexameter nicht auch die einzelnen Worte und Wortfüsse für sich schon Dactylen und Spondeen sind, sondern die Versfüsse zwar Dactylen, die Wortfüsse aber etwa Anapäste. In dieser Beziehung ist folgender Vers von Klopstock: „Eile dahin, wo der Tod und das Grab und die Nacht dich erwarten,“ künstlerisch vollendeter, ist wohlklingender als folgender des Grafen von Platen (LB. 2, 1737, 31): „Saht hier Spanier, saht hier Britten und Gallier herschen.“ Hier fallen Wortfüsse und Versfüsse durchaus zusammen: der Rhythmus des Verses ist kein anderer, als der in den Worten selbst schon gegeben ist. Eben ein solcher Gegensatz ist es auch, wenn die poetische Rede überhaupt demjenigen Rhythmus ausweicht und ihn zu vermeiden sucht, welcher der Sprache sonst natürlich und ihr gleichsam angeboren ist. Der natürliche Grundrhythmus der deutschen Sprache ist eben der trochäische: darum gehören bei uns auch trochäische Verse zu den seltenern, und am häufigsten ist der jambische Rhythmus, der reine Gegensatz jenes natürlichen trochäischen. Umgekehrt ist der natürliche Rhythmus der romanischen Sprachen der jambische: die spanische Poesie, die ihre Formen am kunstmässigsten ausgebildet hat, enthält sich nun auch des jambischen Rhythmus fast gänzlich und kennt fast nur seinen Gegensatz, den trochäischen. Es ist vorher gesagt und nachgewiesen worden, dass die rhythmische Gliederung der poetischen Rede beiden Principien zugleich diene, der Bewegung und der Beruhigung. Und das gilt überall, der Rhythmus möge sein, welcher er wolle, jambisch oder trochäisch, dactylisch oder anapästisch. Indessen haben dann doch die einzelnen Rhythmen jeder wieder seinen individuellen Character, und die eine Zusammenstellung von Längen und Kürzen, von betonten und unbetonten Silben bezeichnet und malt mehr die Bewegung, die andere mehr die Ruhe. Bei dieser Unterscheidung des characteristischen Ausdruckes kommt es lediglich auf die Stelle an, welche die betonte oder die lange Silbe einnimmt, ob sie die vordere oder die hintere ist, und auf die Zahl der kurzen oder unbetonten Silben, die ihr beigegeben sind. Fallende Füsse, d. h. solche, welche mit einer langen oder einer betonten Silbe beginnen, bezeichnen einen in sich selbst durch Gleichmässigkeit beruhigten, steigende, d. h. solche, die mit einer kurzen oder einer unbetonten Silbe anheben, einen bewegteren Fortschritt; und wo in solch einem Fuss zwei unbetonte oder zwei kurze Silben hinter einander stehn, malen sie eine grössere Bewegung als nur eine. Ein schwebender Fuss aber von zwei Längen oder zwei Tönen bezeichnet die fest und schwer verharrende Ruhe. Wir können demgemäss die gebräuchlichsten Rhythmen, (von denen die übrigen nur weitere Combinationen und Ausbildungen sind) in folgender Weise ordnen: Feste Ruhe stellt der Spondeus dar; beruhigten Fortschritt der Trochaeus, weniger beruhigten der Dactylus; bewegten Fortschritt der Iambus, noch bewegteren der Anapäst. Diese Auffassung wird durchaus bestätigt durch die Verschiedenheit der Dichtungsarten, denen die einzelnen Füsse zufallen, und die Art und Weise, wie sie da verwendet werden: in der antiken Poesie, wo die Form die höchste Vollendung erreicht hat, braucht den bewegten Iambus und den noch bewegteren Anapäst das Drama, jenen in dem halb lyrischen Dialog, diesen im ganz lyrischen Vortrage des Chores; den ruhiger fortschreitenden Dactylus das gleichmässig fort erzählende Epos; es untermischt ihn aber, um die Bewegung noch mehr zu beruhigen, mit den minder bewegten Trochäen (bei Homer finden sich genug Trochäen) und den ganz fest ruhenden Spondeen; einen je schnelleren Fortschritt der epische Hexameter bezeichnen soll, desto mehr Dactylen hat er; ein je festeres und schwereres Verharren er bezeichnen soll, desto mehr Spondeen enthält er auch. Am festesten und schwersten stellt sich das Verharren im Versus spondiacus dar. Man vergleiche z. B. folgende Hexameter von A. W. von Schlegel (LB 2, 1308, 5 fgg.): „Wie vom Okeanos quellend, dem weithin strömenden Herscher, Alle Gewässer auf Erden entrieselen oder entbrausen. Wie oft Seefahrt kaum vorrückt, mühvolleres Rudern Fortarbeitet das Schiff, dann plötzlich der Wog' Abgründe Sturm aufwühlt, und den Kiel in den Wallungen schaukelnd dahinreisst: So kann ernst bald ruhn, bald flüchtiger wieder enteilen, Bald, o wie kühn in dem Schwung! der Hexameter immer sich selbst gleich.“ So viel von dem rhythmischen Bau der poetischen Rede und dem darauf beruhenden Wohlklang. Jetzt ist noch vom Wohllaut zu sprechen. Der Wohllaut wird auf positivem und negativem Wege erzielt. Der letztere besteht in der Vermeidung des Misslautes. Die allgemeine Regel ist hier, dass die dichterische Rede leicht zu sprechen und leicht zu hören sei. Es dürfen also keine Härten vorkommen, die durch Wegwerfung eines Endconsonanten oder durch Häufung allzuvieler Consonanten entstehn. Ebenso hat man die eintönige Wiederkehr derselben Vocale zu vermeiden und eine mannigfache Mischung zu erstreben. Aber dieses rechte Mass und diese rechte Mischung ist schwer zu treffen und nur Wenigen gegeben. Nehmen wir z. B. zwei Verskünstler der neuern Zeit, Voss und A. W. von Schlegel, so zeigt sich gleich, dass Voss in der Behandlung der Vocale ein Meister ist, während die Consonanten bei ihm bei weitem nicht so glücklich gemischt sind. Umgekehrt verhält es sich mit Schlegel: so weich und gefüge er in den Consonanten ist, so eintönig ist er, was die Vocale betrifft. Die Vermeidung des Misslautes zeigt sich hauptsächlich gegenüber dem sogenannten Hiatus, d. h. dem Zusammentreffen zweier Worte, von denen das eine mit einem Vocal schliesst, das andre mit einem Vocal beginnt. Er hat seinen Namen davon, dass beim Uebergang von einem vocalisch schliessenden Worte zu einem vocalisch anhebenden der Mund offen stehn bleibt. Das Zusammentreffen von Vocalen innerhalb eines und desselben Wortes gilt nicht als Hiatus: den Griechen erschienen dergleichen Worte, wie z. B. ἰάομαι, ἑώϊος, ἀοιδιάουσα , eher wohllautend als misslautend. Die Griechen und Römer tilgten den Hiatus durch eine Apocope des einen der zusammentreffenden Vocale oder durch eine Synaloephe (Verschleifung) beider zu einem Mischlaut, und diess Verfahren galt nicht nur in Versen, sondern auch in Prosa, ja in der Alltagssprache. Die deutsche und die romanischen Sprachen sind in der Tilgung des Hiatus weniger streng; sie kennen die Apocope nur in der Poesie, in der prosaischen Rede wird der Hiatus nicht beseitigt, da er hier nicht als fehlerhaft gilt. Im Deutschen gelten für die Tilgung des Hiatus durch Apocope folgende Regeln, die aus dem Gebrauche der guten Dichter entnommen sind. Das erste Wort muss mit einem stummen e schliessen, und dieses muss tonlos sein; sobald es einen auch nur schwächern Accent hat, ist die Tilgung nicht gestattet: man darf also wohl sagen: „Wandl' in Frieden, zittr' aus Furcht,“ nicht aber „wandel' in Frieden, zitter' aus Furcht,“ weil das hier apocopierte e nicht tonlos, sondern tieftonig ist: „wándelè in Frieden, zitterè aus Furcht.“ Das zweite Wort muss vocalisch anfangen, aber der Vocal darf nicht betont sein. Hier gilt keine Einschränkung auf das unbetonte e, es ist vielmehr jeder Vocal, auch ein langer, zugelassen, wenn er nur unbetont ist. Dergleichen unbetonte Anfangssilben sind die Vorsilben ent, er, un; auch einsilbige Worte von proclitischer oder enclitischer Natur wie die Pronomina und die Praepositionen, z. B. er, ich, in, an, aus u. s. w. entsprechen der aufgestellten Forderung. Unrichtig wäre also nach dem Gesagten die Apocope: „Es herrsch' Ándacht; der graus' Ánblick.“ In volksmässigen, freier gebauten Versen kann auch vor einem zweisilbigen Worte Apocope eintreten, falls dieses von untergeordneter Bedeutung und in beiden Silben tonlos ist: z. B. „Ich hatt' einen Kameraden“ (Uhland). Bei der Tilgung des Schluss- e fliesst das so gekürzte Wort mit dem folgenden wie in eins zusammen; es findet nicht bloss Apocope des ersten statt, sondern dieses wird zugleich mit dem zweiten in eins gezogen und verschleift, so dass die beiden Worte wie Silben eines und desselben Wortes erscheinen. Z. B. „Mit deiner Lieb' umgeben; lass eine Weis' erklingen:“ hier folgen um, er unmittelbar und ungetrennt auf das b, s. Diese Verschleifung ist unmöglich, wenn die Worte durch Interpunction getrennt sind, also eine Pause zwischen beiden eintritt: in diesem Falle wird die Apocope unterlassen. Aus dem gleichen Grunde war nun gar das eine Verkehrtheit, wenn Dichter des siebzehnten Jahrhunderts sogar aus einem Vers in den andern hinein apocopierten und ein e am Schluss des ersten Verses wegliessen, weil der zweite vocalisch begann. Die bisherigen positiven und negativen Bestimmungen geben nur das Allgemeine; will man sie in das Einzelne hinein anwenden, so erleiden sie mehrfache Beschränkungen. Es kommt namentlich darauf an, welcher Art von Worten das erste Wort angehört, und welcherlei Consonanten dem e vorangehn. Substantiva können unbedenklich apocopiert werden, wenn dem stummen e eine Media, ein b, d, g, s, w vorangeht: z. B. „Seine Hab' ist ihm entwandt; Gottes Gnad' und Güte; alle Tag' in Sorg' und Klage; dass auch ein Löw' erschrickt“ u. dgl. Bei der richtigen weichen Aussprache hört man hier, dass ein e apocopiert, dass eine Verschleifung eingetreten ist; denn b, d, g, s, w sind nur vor Vocalen rein auszusprechen, nicht aber am wirklichen Schluss eines Wortes. Da klingt die Apocope weder wie eine harte Abbrechung, noch ist irgendwie ein Missverständniss möglich. Das ist aber der Fall, wo vor dem tonlosen e eine Tenuis, eine Aspirata oder eine Liquida steht: dergleichen Consonanten sind auch ohne nachfolgenden Vocal zu sprechen, k ch l haben denselben Laut, wo sie unmittelbar am Schluss stehn, und wo noch ein Vocal darauf folgt: hier ist also nicht zu vernehmen, ob ein e weggefallen ist oder nicht. Ebenso verhält es sich, wo dem stummen e ein vocalischer Laut vorangeht: das äu in Bläue bedarf zu seiner Aussprache nicht des e. In all solchen Fällen ist die Apocope unthunlich, weil harte Abbrechungen und Missverständnisse entstehen. Man darf also nicht wohl sagen: „Die Bläu' erscheinet wieder, die Tulp' erblüht, die Wölfe haben Schaf' erwürgt“ u. dgl. Diess pluralische Schaf wäre gleichlautend mit dem Singular, die Apocope würde also eine Undeutlichkeit bewirken. Eher geht es noch an, das e zu apocopieren, wo wenigstens keine Undeutlichkeit stattfinden kann: z. B. „Die Störch' erheben ihren Flug;“ hier ist zwar die Flexionsendung spurlos verloren gegangen, aber der Umlaut lässt doch wenigstens den Plural erkennen. Gut und schön ist aber die Apocope auch so nicht. Erscheint mithin die Apocope unthunlich, so heisst das nun aber nicht, der Hiatus sei gestattet, und man dürfe sagen: „Die Bläue erscheint, die Wölfe haben die Schafe erwürgt.“ Weder solch ein Hiatus, noch solch eine Tilgung desselben ist erlaubt; es ist vielmehr beidem auszuweichen. Noch viel beschränkter als bei Substantiven ist die Anwendung der Apocope bei Adjectiven. Und diess ist auch ganz natürlich: die adjectivischen Worte bestehn nur durch ihre Beziehung auf andre, auf Substantiva, und diese Beziehung wird ausgedrückt durch die Flexion. Die Tilgung der Flexionsendung ist darum bedenklich. Einverleibte Adjectiva dürfen niemals apocopiert werden, gleichviel ob dem stummen e ein Consonant oder ein Vocal und welcher Consonant ihm vorangehe: man kann also z. B. weder: „Die neu' Entdeckung,“ noch „die ganz' Erfindung,“ noch „die hold' Empfindung,“ noch „mein' Erinnerung“ sagen. Aber so wenig die Apocope gestattet ist, so fehlerhaft ist freilich auch der Hiat in diesem Falle. Absolut gebrauchte, substantivische Adjectiva werden wie Substantiva behandelt. Hiernach mag es gestattet sein zu sagen: „Es bellt der Hund, der Blind' erschrickt,“ nicht aber: „Der Alt' ist todt,“ oder: „Er zog nimmer das Schwert, lass auch das dein' in der Scheide.“ Ebenso verfährt man auch mit Adjectiven, die schon in der unflectierten Form auf e endigen, sobald sie in dieser Form als Prädicat oder als Adverb gebraucht werden; gestattet ist also wohl: „Schnöd' ist solch ein Lohn; Heute bös' und morgen gut.“ Bei den Zeitwörtern endlich gelten all die bisher berührten Schranken nicht. Hier wird hinter allen Consonanten apocopiert, hinter den Tenues, den Aspiraten, den Liquiden wie hinter den Mediae: z. B. „Da grünt' und blüht' es überall; ich mach' ihn selig; er bleib' in Ruhe“ u. dgl. Der Grund hiervon liegt in der Häufigkeit und Unentbehrlichkeit der ganzen Wortart. Wenn hier auch jene Schranken bestünden, so wäre es schwer und beinahe unmöglich noch einen Satz und Vers zu bilden. Bei der nun geltenden Freiheit ist es aber doppelt nothwendig, nicht nur die Apocope, sondern auch die Verschleifung vorzunehmen und beide Worte in eins zu ziehen. Wird diess in dem Beispiel: „Da grünt' und blüht' es“ unterlassen, so läuft man Gefahr, dass die beiden Verba präsentisch aufgefasst werden. Noch eine Freiheit verdient hervorgehoben zu werden. In den bisher besprochenen Fällen war das erste Wort jeweilen betont und apocopiert, das zweite dagegen war unbetont, oder es begann mit einer unbetonten Silbe. Bei Verben kann auch das Umgekehrte vorkommen: das erste Wort ist ein tonloses und apocopiertes Verbum, und darauf folgt ein betontes Wort, so dass das Verbum proclitische Natur annimmt; z. B. „Doch ích musst' únten stehn; Ueb' ímmer Treu und Redlichkeit.“ Wir pflegen jetzt diese Apocope mit dem Apostroph zu bezeichnen, einem von den Griechen entlehnten Zeichen. In Deutschland gebrauchte es zuerst Konrad Gesner bei seinen antik gemessenen Versen: vgl. die Proben aus Gesners Mithridates vom Jahre 1555 im LB. 2, 117. Vorher, im Mittelalter, galten zwei andre Verfahrensarten. Entweder wurde der getilgte Vocal gar nicht geschrieben, aber auch kein Apostroph angewendet, oder, und das ist das Gewöhnlichere, man schrieb ihn orthographisch regelrecht und überliess dem Leser ihn zu tilgen, konnte es ihm auch überlassen, da keiner den Hiatus sich gestattete, wo Tilgung nöthig und möglich war. Man verfuhr also ganz wie die Römer und wie noch heut zu Tage die Franzosen und überhaupt die Romanen, und von den germanischen Völkern die Niederländer. Die besprochenen Vocaltilgungen kommen darauf hinaus, dass sie den Ueberfluss an tonlosen stummen e, den die deutsche Sprache seit dem zwölften Jahrhundert besitzt, verringern und theilweis beseitigen sollen; sie sollen dazu dienen, dass der Wohllaut der poetischen Rede nicht gestört werde durch das hässliche Zusammenstossen zweier gleich stummen oder wenigstens gleich unbetonten Vocale; dass also, wenn bereits das erste Wort mit einem stummen e endigt, nicht das zweite wieder damit beginne oder mit einem Vocal, der zwar anders lautet, aber ebenso wenig betont ist. Es bleiben indessen noch genug Hiate übrig, die nicht so durch Apocope können beseitigt werden: zwei unbetonte Vocale stossen zusammen, z. B. „milde Erquickung;“ ein stummes e und ein betonter Vocal, z. B. „leise Athmung;“ zwei betonte Vocale, z. B. „treu ausharrender Sinn.“ Diese Beispiele geben eine Stufenfolge vom Unerlaubten zum Nichtverbotenen bis zum Erlaubten. „Milde Erquickung“ ist lediglich fehlerhaft und durchaus zu vermeiden; „leise Athmung“ ist weder ganz hässlich noch auch ganz schön; vermeidet man dergleichen, so ist es gut; erlaubt man sichs, so schadets auch nicht; „treu ausharrender Sinn“ endlich ist für unser Ohr und nach unserem Gebrauche durchaus fehlerlos. „Milde Erquickung“ würde nur apocopiert, wenn milde nicht Adjectiv wäre; „leise Athmung“ nur, wenn der zweite Vocal nicht betont wäre; bei den Worten „treu ausharrender Sinn“ endlich ist keine Apocope möglich. Die bisher besprochenen Vocaltilgungen sind erst mit dem Mittelhochdeutschen, seit dem zwölften Jahrhundert aufgekommen, da es erst seit dieser Zeit stumme e giebt. Das Althochdeutsche kennt die Apocope nicht, da es kein stummes e hatte; nichtsdestoweniger nahm man schon damals Anstoss am Hiatus, wie die Griechen und die Römer am Zusammenstossen auch voller lautender Vocale. Das Mittel zur Beseitigung war auch antiker Art: man half sich nicht durch Tilgung des einen oder andern Vocals, da jeder zu klangreich war; es trat vielmehr eine Verschmelzung, eine Synaloephe ein; es entstand ein Mischlaut, der beide Vocale in sich schloss, jedoch so, dass bald dieser, bald jener überwog. Eine klare Einsicht in das Wesen der altdeutschen Synaloephe verdanken wir den Handschriften von Otfrieds Evangelienharmonie: sie setzen unter den Vocal, der am meisten zurücktritt, einen Punct, ein Zeichen also, das sonst im Mittelalter, gleich unserem Strich, die Tilgung bezeichnet. Dass aber mit dem Puncte eine Synaloephe gemeint sei, das bezeugt Otfried selbst in der lateinisch geschriebenen Vorrede seines Gedichtes. Nachdem wir im Vorhergehenden die Vermeidung des Misslautes erörtert haben, betrachten wir nun noch die positiven Mittel zur Beförderung des Wohllautes. Ein solches Mittel kennen wir bereits, wir haben es schon früher (S. 379) besprochen und werden es nachher (S. 442) noch einmal zu berühren haben: die Anwendung characteristisch malerischer Laute und Worte. Ein anderes bietet sich jetzt erst unserer Betrachtung dar, nämlich die Ausschmückung der Verse durch wiederkehrenden Gleichlaut. Hierüber ist Folgendes zu bemerken. Der künstlerische Rhythmus der poetischen Rede kann auf zweierlei Wegen bewerkstelligt werden; auf dem einen beachtet man den Laut, auf dem andern den Ton der Worte; auf dem einen ihre Quantität, auf dem andern ihre Qualität; auf dem einen die Länge und Kürze, auf dem andern den Accent der Silben. Der Rhythmus des Accentes ist das Princip der deutschen und, minder streng, der romanischen Verskunst; der Rhythmus der Quantität das der griechischen; die römischen Verse sind ursprünglich gleichfalls nach dem Accent, erst späterhin nach der Quantität gebaut worden; dasselbe lässt sich vielleicht auch von den griechischen Versen behaupten. Ueberall nun, wo die Rede bloss nach dem Rhythmus des Accentes gestaltet und geordnet wurde, wo der Rhythmus nicht so materiell, nicht so körperlich war, wie beim quantitierenden Versbau, hat es geschienen, dass damit der Kunst noch kein Genügen geleistet, dass damit die poetische Rede noch nicht hinlänglich der alltäglichen Sprechweise entfremdet und von ihr unterschieden sei: es hat sich da immer das Bedürfniss nach noch einer weiteren Ausschmückung geltend gemacht. Zum Wohlklang, den der Rhythmus bewirkt, gesellte sich noch der Wohllaut. Diese Ausschmückung bot sich den Deutschen in der Allitteration, d. h. in der Uebereinstimmung der Anfangslaute mehrerer Worte, den lateinisch redenden Völkern in der Allitteration und im Reime; ich meine von beiderlei Völkern nur die nationalen Anfänge der Poesie: da kannten die Deutschen allerdings nur noch die Allitteration, die Lateiner sowohl Allitteration als Reim; erst als sich die Litteratur beider fremdem Einflusse hingab, liessen die Römer den Reim und die Allitteration fallen, die Deutschen aber vertauschten die Allitteration gegen den Reim. Diess geschah im neunten Jahrhundert. Nur bei den Angelsachsen und den Scandinaviern blieb die Allitteration länger im Gebrauche: ein Beispiel aus der Poesie der letzteren in deutscher Uebersetzung Chamissos Lied von Thrym (LB. 2, 1653). In diesen zweierlei Mitteln der Ausschmückung wirken beide, das Streben nach Bewegung durch Wechsel und das Streben nach Beruhigung durch Wiederholung, oder mit andern Worten das Streben nach Mannigfaltigkeit und das nach Einheit zusammen, ebenso zusammen, wie schon in dem Rhythmus der Rede, dem diese Ausschmückung noch beigegeben wird. Ein Beispiel mag das Gesagte verdeutlichen. Im Gedicht vom Jüngsten Tage (Muspilli) heisst es z. B. (LB. 1 4 , 78. 1 5 , 256): „Sô in p rinnant diê p ergâ, p oum ni kistentit“ (so entbrennen die Berge, kein Baum steht fest). Von diesen zwei Versen hat jeder zwei gehobene Silben; darin besteht also die Wiederholung des Gleichen. Zu dieser Gleichmässigkeit kommt nun aber auch eine Abwechslung, indem man nur drei dieser vier Silben allitterieren lässt. Die Allitteration selbst aber besteht in einer Wiederholung: in dem vorliegenden Beispiel wird dreimal der Anfangslaut p wiederholt. Dabei ist aber auch gleich wieder eine Abwechslung: es sind nämlich nur die Anfangslaute gleich, das Uebrige ist verschieden. Beim Reime ist es grade umgekehrt: hier sind die Anfangslaute verschieden, alles Uebrige gleich: Baum, Berg, brennen allitterieren; Baum: Traum, Berg: Zwerg, brennen: kennen bilden einen Reim. Die Allitteration kann den Vers beginnen, der Reim schliesst ihn immer. Also findet sich auch hier, auch beim Reim, nur in umgekehrter Ordnung Gleichheit und Verschiedenheit, Wiederholung und Wechsel, d. h. Ruhe und Bewegung, Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Allitteration ist somit die Anaphora, der Reim die Epiphora des Verses. Die Allitteration beginnt also mit dem Gleichen, der Reim mit dem Ungleichen. Mit diesem Unterschiede in der Form hängt zusammen der Unterschied in der Bedeutung, der zwischen den allitterierenden und den reimenden Redensarten besteht. Wir haben nämlich bis in die gewöhnliche Rede hinein, in Prosa, eine Menge von sprichwörtlichen, feststehenden Wortpaarungen, die aber ihrem Gehalte, ihrer Fassung und ihrem Ursprunge nach eigentlich in die Poesie gehören. Sie allitterieren theils, theils reimen sie. Und da ist denn eine Regel, die freilich nicht ausnahmslos ist, dass die Wortpaare, welche allitterieren, begriffsverwandt oder gar tautologisch sind, die reimenden dagegen eine Antithese bilden oder doch verschieden sind; z. B. allitterierend: „Feuer und Flamme, Geld und Gut;“ reimend: „Stein und Bein (Todtes und Lebendes), Gut und Blut.“ Also, wo der gleiche Anfang, bei der Allitteration, da herrscht auch Gleichheit des Sinnes; wo aber ungleicher Anfang, beim Reim, da ist auch der Sinn ungleich oder gar entgegengesetzt. In beiden Fällen zeigt sich kein indifferentes Verhältniss, sondern ein Parallelismus. So verhält es sich auch im Lateinischen mit der Allitteration und dem Reim. Die Allitteration haben vorzugsweise die sprichwörtlichen Redensarten und Formeln namentlich der Rechtssprache und sonstiger öffentlicher Verhandlungen, kurz die Ausdrücke, die man vocabula forensia nennt; sie beruhen meist auf Tautologie oder auf Begriffsverwandtschaft, wie z. B.: „Do, dono, dedico; felix faustum fortunatumque, muri et moenia, longe lateque.“ Der Reim ist bei den Römern aus der accentuierenden Volkspoesie auch in die gebildete, quantitierende Kunstpoesie übergegangen. Ovid z. B. liebt es im Hexameter und Pentameter, die Cäsur und den Schluss zu reimen, und die Reimworte bilden alsdann gern einen Gegensatz, wie in dem Verse: „Haec tibi sint mecum, mihi sint communia tecum “ (Amor. 2, 5, 31). Aber noch häufiger besteht zwischen beiden Reimworten eine enge Verbindung, wie zwischen Substantiv und Adjectiv; so Trist. 1, 6, 32: „Exstinctum longis occidit omne malis. “ Also gesellt sich zur Uebereinstimmung der Laute der Parallelismus des Inhaltes. Die lateinische Poesie des Mittelalters hielt den Reim in der Cäsur und am Schlusse des Hexameters fest, aber in indifferenter Weise und ohne ein bestimmtes Verhältniss der reimenden Worte. Es sind das die sogenannten leoninischen Verse: ein solcher ist z. B. der bekannte Stossseufzer eines Abschreibers, womit häufig mittelalterliche Handschriften schliessen: „Explicit hoc totum, infunde, da mihi potum.“ Auch der deutsche Reim, wie er seit dem neunten Jahrhundert und seit Otfried zur Geltung gekommen ist, entbehrt dieser tieferen Beziehung, er ist ein bloss äusserer Schmuck. Durch tausendjährigen Gebrauch ist er aber ein unentbehrliches und elementares Eigenthum unserer poetischen Rede geworden, insofern sie nämlich deutsch sein und sich nicht der Antike oder der Poesie anderer Völker nachgestalten will. Freilich, wie unsere meisten Dichter reimen, trägt er nicht sonderlich zur Ausschmückung durch Wohllaut bei, eher zur Entstellung durch Misslaut. Fast jeder hält es für erlaubt, hier allerlei Ungenauigkeit und namentlich die Unarten seines Dialectes in die Schriftsprache einzuschwärzen. Die einen fehlen in den Consonanten, die anderen in den Vocalen; in jenen namentlich die Norddeutschen. Die eigentlichen Niederdeutschen, wie sie in ihrer Mundart und in ihrem Hochdeutsch zu Ende eines Wortes g und ch nicht unterscheiden können, werfen so nun auch im Reim diese Laute durcheinander und stehn nicht an Buch auf Flug und Pflug, Bug auf Fluch, kriecht auf siegt, taugt auf raucht zu reimen, und da bei ihnen ng wie nk lautet, so verbinden sie unbedenklich Sang: Schwank oder sank: Schwang. Die Obersachsen dagegen verwechseln auch innerhalb des Wortes g und ch, d und t und reimen so Reigen: Zeichen, reichen: zeigen, Tode: Bote, todten: Boden. Ebenso verhält es sich auch mit ss und s in Mittel- und Oberdeutschland, wo man keinen Anstand nimmt, Schoosse: Rose zu reimen. Vgl. A. W. v. Schlegels Kennzeichen (LB. 2, 1309). In den Vocalen fehlen mehr die Oberdeutschen und die an den Grenzen, deren Sprache schon halb und halb aufhört, deutsch zu sein. So können die Oestreicher auch im Reime lange und kurze Vocale nicht sondern, sie reimen z. B. viel: still (stîl). Die Schwaben, die Schlesier und manche Schweizer verwechseln Mischlaute und einfache Laute; sie sprechen ö wie e, ü wie i, eu wie ei, und so reimen sie denn beten: Nöthen, göthisch: poetisch, biegen: fügen, Eule: Weile. Und dass die Schwaben e i und ü nicht unterscheiden, zeigt Schillers Leichenphantasie, wo Str. 5 Menschen auf Wünschen reimt. Sicherlich ist das Alles tadelnswerth; der eigentliche Zweck des Reimes, der Wohllaut, geht darüber ganz verloren: denn wenn z. B. Theodor Körner Gotte: Tode reimt, so ist hier mehr Verschiedenheit als Gleichheit. Nun wäre es freilich eine vergebliche Mühe, Grenzen stecken zu wollen, und es wäre verkehrt zu sagen, der Reim entblättert: vergöttert sei eher erlaubt als erwidert: erschüttert, weil dort nur in den Vocalen, hier aber in den Vocalen und den Consonanten gefehlt wird. Jede Grenze ist willkürlich und unsicher: darum soll nicht weniger Unreinheit stattfinden, sondern gar keine; der Reim verlangt volle Reinheit. Und es geht auch ganz wohl. Wenn es den deutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts möglich war, wo Gedichte von 50,000 Versen ohne einen einzigen unreinen Reim vorkommen, warum sollte es Vielen unter uns unmöglich sein, nur vier Verse von Misslauten frei zu halten? Dass es aber möglich ist, beweisen auch einzelne Dichter, wie Rückert und Platen. Platen freilich ist bei allem Streben nach Reinheit des Reimes nicht frei von Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung sucht; er reimt wohl Mut: Blut, Güte: Blüte, nicht aber grün: blühn, dawider: Lieder. Rückert aber zeigt, dass, wenn man sich die Reinheit zum Gesetze macht, dem Dichter darum nicht weniger Reime zu Gebote stehn, im Gegentheil mehr, und dass die Genauigkeit des Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern: finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende, wohllautende Gleichklänge! Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische und deutsche und französische Schriftsteller des Mittelalters mit den arabischen theilen, ist die Einmischung des Reimes in die Prosa, die Ausschmückung der sonst unrhythmischen Rede mit dem Gleichlaute des Reims, indem den einzelnen Sätzen und Satzgliedern reimende Schlussworte gegeben werden. Das namhafteste arabische Beispiel dieser Art sind die durch Rückert nun auch in Deutschland einheimisch gewordenen Makamen des Hariri, eines Dichters aus Basra, der um das Jahr 1100 lebte (LB. 2, 1569). Der Reim in lateinischer Prosa findet sich in der lex Salica, namentlich in der Vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrhundert, dann bei mehreren deutschen und böhmischen Geschichtsschreibern der fränkischen Kaiser, also des 11. Jahrhunderts; damals und nach dem Vorgange der lateinischen Litteratur kam die reimende Prosa auch in Deutschland und Frankreich zur Geltung und war hier bis zum 13. Jahrhundert ganz allgemein üblich. Das hauptsächlichste Beispiel ist eine Schrift des 12. Jahrhunderts, die Verdeutschung von des heiligen Nortpert Tractatus de Virtutibus (LB. 1 4 , 189. 1 5 , 367), wo der im lateinischen Original fehlende Prosareim noch auf den Schluss der Abschnitte beschränkt ist. Vgl. Litt. Gesch. S. 84 fgg. Zum Reime kommt nun noch als eine Abart und Verarmung desselben die Assonanz. Hier stimmen nicht auch die Consonanten, sondern nur die Vocale überein, z. B. R a th: Th a l; h u rtig: unverw u ndlich. Bekanntlich ist die Assonanz in Spanien zu Hause; von daher wurde sie erst zu Anfang unseres Jahrhunderts auch in Deutschland eingeführt. Der Gebrauch ist aber bedenklich, da ein nicht theoretisch gebildetes Ohr die Assonanz in den meisten Fällen überhören wird. Eins kann ihr noch aufhelfen und Bedeutung geben: wenn man sie nicht bloss zur Ausschmückung gebraucht, sondern auch noch zu einer eigentlichen Lautmalerei, wenn die assonierenden Vocale in ihrem Laute characteristisch zu dem Inhalte der Dichtung stimmen. Ein namhaftes Beispiel hiefür bietet eine grosse Romanze von Tieck, Die Zeichen im Walde, eine schauerlich unheimliche Dichtung, wo die ganze lange Reihe von Versen hindurch lauter Assonanzen auf den Vocal u vorkommen: ein echtes Probestück der Romantik, zugleich aber in einer andern Beziehung ein negatives Muster, insofern das Gedicht viele unnütze, oft noch falsch nachgebildete oder erfundene Archaismen enthält: Gedichte (1821) 1, 22. Wie mit der Assonanz, so ists jetzt auch mit der Allitteration. Wenn sie nicht eigens der Lautmalerei dient, also etwas Auffälliges und Ansprechendes im Klange hat, wird sie gar nicht bemerkt. Zu diesem Behufe aber kommt sie nicht selten bei alten und auch bei neueren Dichtern vor, neben dem Reim oder neben künstlicheren, antiken Rhythmen. Schon Ennius hat in dieser Weise davon Gebrauch gemacht in dem Verse: „At tuba terribili tonitu taratantara dixit.“ Ein Beispiel aus dem Nibelungenliede (Str. 1887, 2): „Dô sluog er etelîchen sô sw æren sw ertes sw anc.“ Ebenso Walther 9, 19 (LB. 1 4 , 402. 1 5 , 580): „Daʒ wilt und daʒ gewürme die st rîtent st arke st ürme.“ Konrad von Würzburg (v. d. Hagen, Minnes. 2, 317 a ): „Diu vogellîn s ingent s üeʒen s umersanc“ und im Refrain desselben Liedes: „Der m eie m achet hôhen m uot.“ Von neueren Dichtern bedient sich der Allitteration zur Lautmalerei Schiller, so z. B. im Taucher: „Und h ohler und h ohler h ört mans h eulen;“ und Bürger, von dem ein besonders bezeichnendes Beispiel kann angeführt werden: „ W onne w eht von Thal und Hügel, W eht von Flur und W iesenplan, W eht vom glatten W asserspiegel, W onne w eht mit w eichem Flügel Des Piloten W ange an.“ Diese Beispiele zeigen aber auch zugleich, wie abgehärtet jetzt unsere Ohren sind; unseren Vorfahren vor 1100 Jahren genügte ein dreimaliges, ja nur ein zweimaliges W : wir brauchen ihrer zehn, um den Gleichklang zu merken; eine dreimalige Wiederholung des gleichen Anlautes beachten wir kaum, wie z. B. in Schillers Mädchen aus der Fremde die Allitteration: „Erschien mit j edem j ungen J ahr.“ Ja die Dichter brauchen ausser der häufigen Wiederholung noch andere Hilfsmittel, um das Ohr zum Hören zu zwingen: es muss, wie in den angeführten Beispielen von Schiller und Bürger, noch die Epizeuxis und die Anapher hinzukommen. Jedenfalls haben in solcher Anwendung Assonanz und Allitteration einen ganz anderen Zweck, als der ihnen eigentlich zugehört: denn hier dienen sie nur noch der Sinnlichkeit für das Gehör, wie ja auch Ennius dort mit einem sonst begrifflosen Worte nur den Ton der Trompete onomatopoetisch nachahmt. Tiefer geht die Bedeutung nicht. Zum Schluss dieses Abschnittes mag noch auf Rückerts 39. Makame, der Schulmeister von Hims, hingewiesen werden, einmal um der Makamenform willen, dann aber auch, weil sie sonst allerhand enthält, was als Beispiel und Zeugniss für manches bisher Besprochene zu brauchen ist: sie verspottet z. B. in ergötzlicher Weise die sächsischen und schwäbischen Provincialfehler in der Aussprache der Consonanten und Diphthonge und liefert zahlreiche Belege für den Neologismus, das Wortspiel, die Allitteration, die Epiphora, die Epanalepsis, das Polyptoton und die Annominatio im Reime (LB. 2, 1588). 3. DER STIL DES GEFÜHLS. Die erste Art und Weise der äusseren Darstellung, der niedere Stil, ist, wie wir gesehen haben (S. 318), die Redeform des Verstandes, sein Ziel ist die Deutlichkeit, sein Gebiet die gesammte Prosa mit Ausschluss der rednerischen. Die zweite Art, der mittlere Stil, dient der Production und der Reproduction durch die Einbildungskraft, bei ihm kommt es demnach an auf Anschaulichkeit, er findet sich in der gesammten Poesie mit Ausschluss allein der lyrischen. Nun ist noch von der dritten Art zu handeln, dem sogenannten höheren Stil. Er ist die Form der Darstellung für solche Werke, die ihren Grund und Boden oder doch Ziel und Zweck in der dritten Seelenkraft haben, welche hier in Betracht kommen kann, nämlich im Gefühl. Wenn sich aber in der Gestaltung der Sprache das bewegte Gefühl des Sprechenden abspiegeln, und wenn durch dieselbe das Gefühl des Hörenden gleichermassen soll bewegt und angeregt werden, wenn sie ebensowohl ein Ausdruck des Gefühls sein, als auf das Gefühl Eindruck machen soll, so muss sie leidenschaftlich sein; mithin ist der Character dieser dritten Stilart die Leidenschaftlichkeit. Es ist jedoch bereits früherhin (S. 322) ausgeführt worden, wie die Anforderungen, die man an eine niedere Stufe des Stils macht, sich auf der höheren und den höheren wiederholen, nur in einer mehr untergeordneten Weise und mehr implicite. Verständige Deutlichkeit characterisiert freilich zunächst den prosaischen Stil des Philosophen und des Historikers: aber darum ist sie nicht ausgeschlossen von den Darstellungen des Epikers und des Dramatikers; sie ist für den poetischen Stil zwar nicht das oberste und hauptsächlichste Merkmal und Erforderniss, aber nächst der Anschaulichkeit wird sie dennoch auch da unausweichlich verlangt. Dem entsprechend verhält es sich nun auch mit dem Stil der dritten Stufe, welche wir jetzt betreten haben. Bewegung des Gefühls auf Seiten des Producierenden wie des Reproducierenden ist allerdings das Wesentliche und Hauptsächliche, das vor allem Andern nicht fehlen darf, Leidenschaftlichkeit ist das characteristische Merkmal dieser Art: aber doch nimmt der Stil auch die Merkmale und Erfordernisse der beiden ersten Stufen mit auf diese hinüber, und neben und unter der Leidenschaftlichkeit gelten auch hier noch Anschaulichkeit und Deutlichkeit; denn neben dem Gefühle und unter ihm wirken auch hier noch Einbildung und Verstand in ihrem Theil und auf ihre Weise fort. Da kann nun aber das Mischungsverhältniss ein verschiedenes sein, je nachdem von den beiden untergeordneten Anforderungen mehr die eine oder mehr die andere hervortritt, je nachdem sich das leidenschaftliche Gefühl näher an den prosaischen Verstand oder näher an die poetische Einbildung anlehnt. Derjenige höhere Stil nun, der nächst der Erregung des Gefühls besonders auf verständige Deutlichkeit ausgeht, ist der Stil der Rede, der oratorische Stil. Denn der letzte Zweck jeglicher Rede ist zwar Bestimmung des Willens, ist die Ueberredung, und die Ueberredung wird zunächst erreicht durch leidenschaftliche Aufregung des Gefühls: aber es gesellt sich in jeglicher Rede zur Ueberredung auch die Ueberzeugung, die gewinnende Belehrung des Verstandes, und diese muss immer vorangehn, eh jene kann bezweckt werden; Ueberredung, die nicht auf dem Grunde der Ueberzeugung ruht, ist betrügerisch und führt zu nichts. Die Rede hebt also an mit verständiger Deutlichkeit, und deshalb bleibt auch für sie die Darstellungsform des Verstandes fort bestehn, die prosaische Form, jedoch in so weit umgestaltet, als es dann wieder der Character der Leidenschaftlichkeit fordert. Gegenüber dem rednerischen Stil liegt als eine zweite Art eben dieser Stufe diejenige sprachliche Darstellung, in der das Gefühl seine grösste Stütze und Hilfe nicht beim Verstande sucht, sondern bei der Einbildung, nicht bei der Deutlichkeit, sondern bei der Anschaulichkeit. Es ist das die lyrische Poesie. Die lyrische Poesie geht überall, innerlich und äusserlich betrachtet, sowohl ihrem Wesen nach, als auch erweislich in der historischen Entwickelung, hervor aus der epischen: sie fügt nur der objectiven Anschauung noch die subjective Empfindung bei; die innere geistige Wirklichkeit, in die sie uns blicken lässt, ist immer von aussen her angeregt, in ihr Getriebe ist immer der Anstoss aus der Wirklichkeit um den Dichter oder über dem Dichter gekommen. Darum kann auch die lyrische Leidenschaftlichkeit niemals ganz der epischen Anschaulichkeit entrathen; ein episches Element ist ihr immer beigesellt, dränge es sich auch noch so wenig hervor, sei es auch noch so unscheinbar und fast unmerklich. Und so dauert denn die Form der poetischen Rede, dauert die Anordnung der Worte nach einem künstlerischen Rhythmus auch für die lyrische Poesie fort, wie dieselbe zuvor schon von der epischen und ebenso von der dramatischen Poesie gefordert ward. Es zerfällt mithin der höhere Stil in zwei ziemlich aus einander gehende Arten, eine prosaische und eine poetische, in Rede und in Lyrik. Was aber diese zwei bei all ihrer Verschiedenheit zusammenhält, der Punct, in welchem beide übereintreffen, ist die gemeinsame Anforderung der Leidenschaftlichkeit; beide sollen das Gefühl des Redners, des Dichters in erregtem Zustande zeigen, und zugleich das des Hörers, des Lesers in einen ebenso erregten Zustand versetzen. Die leidenschaftliche Erregung des Gefühls kann nun eine zwiefache sein; sie ist, um eine wohlbegründete und ganz zweckmässige Unterscheidung der griechischen Rhetoren beizubehalten, entweder Ethos ( ἦθος ) oder Pathos ( πάθος ). Quintilian, der für beides das gleiche lateinische Substantiv affectus gebraucht, bestimmt dann ἦθος näher als affectus mites oder dulciores, πάθος als affectus concitatos (10, 1, 48. 101). Und damit ist der Unterschied beider hinreichend angedeutet: unter Ethos versteht man solche Stimmungen und Bewegungen des Gemüthes, die mehr sanfter und ruhiger Art sind und z. B. in der Rede mehr nur dazu taugen, den Hörer zunächst für den Redner selbst einzunehmen und zu gewinnen, ihm eine Gesinnung beizubringen, die dem Redner günstig ist; unter Pathos die lebhafteren, heftigeren, aber auch schneller vorübergehenden Gemüthsbewegungen, deren Ausdruck den Hörer ergreift und erschüttert und ihm nicht sowohl Sympathie für den Redner als Sympathie für und Antipathie gegen eine Sache einflösst; Pathos ist lebhaft bewegte, feurige, fortreissende Leidenschaftlichkeit, dem Ethos fällt mehr das Rührende und das sogenannte Gemüthliche zu. Gemäss diesem Gegensatze zwischen Ethos und Pathos und gemäss der Verwandtschaft, die zwischen der Rede und der übrigen Prosa, zwischen der Lyrik und der übrigen Poesie besteht, lässt sich innerhalb des Stiles beider eine weiter geführte Unterscheidung treffen. Schon bei den zwei früheren Stufen der Prosa und der Poesie haben wir gesehen (S. 321), wie sich da die dreigliedrige Eintheilung in niederen, mittleren und höheren Stil leicht und fügsam wiederhole. So nun auch auf dieser dritten Stufe, innerhalb des höheren Stils der Rede und der Lyrik. Es giebt einen niederen, mittleren und höheren Stil der Lyrik, einen niederen, mittleren und höheren Stil der Rede. Für die Lyrik lässt sich diese Abstufung leicht in den einzelnen Arten dieser Gattung des Dichtens nachweisen: der niedere Stil gehört der Elegie: in dieser liegt die objective Aeusserlichkeit noch beinahe gleichgewichtig neben der subjectiven Innerlichkeit, ja sie ist die unentbehrliche Grundlage derselben, sie giebt dem Lyrischen noch die stärkste Beimischung von Epischem; der höhere Stil ist der der Ode nach Pindars wie auch Horazens Art, des Hymnus, des Dithyrambus, wo die Lyrik sich auf dem Gipfel ihrer Vollendung zeigt, wo sich die Empfindung ganz empor geschwungen hat zu einer idealisch vergeistigten Wirklichkeit: zwischen beiden liegt als der mittlere Stil der Stil des sogenannten Liedes, das weder so hoch und rein geistig ist wie die Ode, der Hymnus und der Dithyrambus, noch so zur Hälfte befangen in epischer Aeusserlichkeit wie die Elegie, das die Lyrik weder in ihrer möglichsten Unvollkommenheit zeigt, noch in ihrer möglichsten Vollkommenheit. Und wie nun die niedere Lyrik der Elegie beschaffen ist, wie sie gern zur Wehmuth hinneigt, so fällt ihr vornehmlich das Ethos zu, das Rührende, Sanfte, Gemüthliche; der Ode, dem Hymnus, dem Dithyrambus aber das rauschende und dahinreissende Pathos: dem Liede endlich keines von beiden ausschliesslich, sondern sowohl das eine als das andre, und zwar so, dass beide bald diese, bald jene vermittelnde Mischung eingehn, und so das eine durch das andere gehoben oder gemässigt wird. Für den rednerischen Stil gilt die gleiche dreigliedrige Abstufung: es giebt auch hier einen niederen, vorzugsweise ethischen, einen höheren, vorzugsweise pathetischen Stil, und einen zwischen beiden in der Mitte liegenden, dem Ethos und Pathos gleichermassen zu Gebote stehn. Nur kann man hier diese Abstufung nicht so ohne Weiteres an bestimmte Specialnamen knüpfen: es giebt weltliche Reden, es giebt Predigten von allen drei Arten, je nachdem es die Beschaffenheit des Gegenstandes, je nachdem auch die Fähigkeiten der Zuhörer oder die Fähigkeiten und die geistige Richtung des Redners selbst es mit sich bringen. Der höheren Art des rednerischen Stiles gehören die meisten Predigten von Herder und, bloss stilistisch betrachtet, von Reinhard an, der mittleren die von Schleiermacher, der niederen endlich die von Balthasar Schuppius und von Abraham a S. Clara. Die beiden letzteren werden noch durch eine sie besonders bezeichnende Eigenthümlichkeit auf dieser Stufe festgehalten: beide sind voll von Witz und Spott und Laune, d. h. von solchen Aeusserungsweisen des Verstandes und des Gefühles, wie sie auf einer höheren Stufe nicht mehr möglich sind. Nur war Abraham a S. Clara ein in seiner Art sehr belesener Barfüssermönch, Schuppius dagegen ein gelehrter protestantischer Geistlicher: darum ist auch die Komik Abrahams derber, die des Schuppius feiner. Sonst haben sie viel Uebereinstimmendes, wie sie denn auch derselben Periode unserer Litteratur angehören: Schuppius lebte von 1610─1661, Abraham von 1642─1709. Will man auch bei der rednerischen Prosa eine Unterscheidung mit Bezug auf die einzelnen Arten treffen, so könnte man allenfalls auf die niedere Stufe die sogenannte Homilie, auf die mittlere die weltliche Rede, auf die höhere die Predigt im engeren Sinne dieses Wortes stellen. In der That kann sich auch eine eigentliche Homilie nie über jene niedere Stufe erheben: dahin wird sie gewiesen sowohl durch die einfach verständige Deutlichkeit, die von ihr gefordert wird, als durch das enge, wenig Freiheit lassende Anschliessen an den Faden des gegebenen Textes, das ihr eigenthümlich ist, und durch den Fortschritt einer Entwickelung von gleichsam epischer Art. Dass dann auf der anderen Seite die Predigt wiederum über die weltliche Rede sich erheben, dass sie auf dem Gipfelpunct der Beredsamkeit stehn kann und stehn sollte, das folgt von selber daraus, dass sie eben eine Predigt, eine geistliche Rede ist, der Gegenstände und Zwecke hoch und weit hinaus über alle weltliche Beredsamkeit liegen, ebenso hoch und weit, als sich dort die Ode und der Hymnus über das gewöhnliche Lied erheben. Vom mittleren und höheren Stil der Rede ist es unnütz, Beispiele anzuführen, da diese beiden Arten die gewöhnlichen sind. Bei Abraham und Schuppius scheint es eher am Platze, um so mehr, da ihre Werke nicht zu den gangbaren gehören und namentlich Schuppius selten ist. Von ersterem kommt besonders in Betracht die Türkenpredigt von 1683, die auch historisches und litterarisches Interesse darbietet, insofern sie die Hauptquelle für die Wortspiele des Capuziners in Wallensteins Lager ist (LB. 3, 1, 891). Vgl. S. 393. Von Schuppius verdient hier besonders eine academische Rede hervorgehoben zu werden, die z. B. auch als Muster der Ironie und namentlich als ironische Anweisung eben zur Beredsamkeit und als Empfehlung derselben beachtenswerth ist: Schupps Schriften 1, 852. Besondere, eigenthümlich characteristische Regeln für den Stil der rednerischen Prosa und der lyrischen Poesie lassen sich kaum geben, deshalb weil die rednerische Prosa eben Prosa, und die lyrische Poesie eben Poesie ist, mithin im Ganzen und Allgemeinen dieselben Regeln hier fortgelten, die wir früherhin für die Prosa und die Poesie gefunden haben, und weil wir auch schon mehrfach sind genöthigt gewesen, in Besonderheiten vorzugreifen. Es lassen sich deren nur noch einige einzelne hervorheben; dieser letzte Abschnitt der Stilistik wird deswegen alsbald abgethan sein. Wir sprechen zunächst von der oratorischen Prosa. Es hat dieselbe zuerst eine rein prosaische Seite: denn verständige Ueberzeugung ist überall und für jeglichen Redner eine wesentliche und hauptsächliche Absicht, und dieser Absicht gemäss ist Deutlichkeit für den Verstand auch eine wesentliche und hauptsächliche Anforderung. Demnach wiederholen sich auf dieser Seite all die einzelnen positiven und negativen Regeln, die wir seiner Zeit als Regeln des prosaischen Stils haben kennen lernen; es wiederholen sich namentlich die Regeln über den Periodenbau (S. 345). Diess ist aber auch zugleich ein Punct, in welchem sich die prosaische Seite des rednerischen Stils mit der mehr poetischen berührt, und in welchem sich deshalb auch die rednerische Prosa von der übrigen um einige Schritte entfernt. Die gewöhnliche Prosa nämlich, da verständige Deutlichkeit die einzige Aufgabe ist, die sie zu erfüllen hat, verlangt einfache, leicht überschaubare Perioden, kürzere Satzgefüge, in denen Anfang und Ende nicht zu weit von einander liegen: die rednerische Prosa, die nicht bloss auf Deutlichkeit ausgeht, die auch der Einbildung und dem Gefühle dient, von der mithin eine lebensvollere schöne Sinnlichkeit gefordert wird, duldet nicht bloss, sie liebt sogar grössere, umfangreichere Perioden, weil sich deren Bau eher zu künstlerischer Schönheit ausbilden lässt; bei kürzeren Satzgefügen führt der beständige gleichmässige Wechsel gehobener und gesenkter Glieder leicht und bald zur Eintönigkeit: der oratorische Stil verdeckt diese Eintönigkeit und vermeidet sie, indem er seinen Perioden eine grössere Fülle verschiedenartiger Glieder giebt und in deren Aufbau eine den Sinnen wohlthuende Mannigfaltigkeit entwickelt. Natürlich verfährt in dieser Beziehung der niedere Stil der Rede anders als der höhere, und der mittlere hält eben die schwebende Mitte zwischen beiden. Dem niederen Stil stehn noch die einfacheren Perioden zu: denn er liegt noch an der Grenze der gewöhnlichen Prosa; dem höheren Stil die kunstreicher ausgeführten: denn er hat mit der gewöhnlichen Prosa am wenigsten gemein. Homilien verlangen einfache, leicht gebaute Sätze: Perioden mit einer reichen Gliederung beigeordneter und untergeordneter Satztheile sind eher nur in einer eigentlichen Predigt an der Stelle. Meister dieses rednerischen Periodenbaues in seiner höchsten Vollendung, vielleicht zu sehr mit Schule und Bewusstsein Meister desselben ist Franz Volkmar Reinhard: LB. 3, 2, 1009. Neben der prosaischen Seite hat die Rede auch eine mehr poetische: denn sie nimmt nächst der verständigen Deutlichkeit auch die Anschaulichkeit für die Einbildung in sich auf, und nimmt sie auf, um durch sie auf ihr letztes Ziel hinzuarbeiten, auf leidenschaftliche Erregung des Gefühls. Während mithin die Rede der verständigen Deutlichkeit wegen die prosaische, unmetrische Anordnung der Worte beibehält, bedient sie sich in dieser prosaischen Form gleichwohl zum Behufe der sinnlichen Anschaulichkeit jenes ganzen Vorrathes von Tropen und Figuren, der sonst die poetische Darstellung von der prosaischen unterscheidet. Sie hat prosaische Form, aber sie giebt in dieser prosaischen Form nicht bloss prosaische, sondern zugleich auch poetische Anschauungen. Auch in dieser Beziehung unterscheiden sich die drei Arten des oratorischen Stils merklich von einander. Zunächst in der Wahl der Worte. Insofern man Tropen und Figuren trennen will, haben die Tropen mehr Poetisches als die Figuren: denn die Tropen verändern die Vorstellung selbst, die Figuren nur den Ausdruck. Demgemäss gehören dann die Tropen eher in die höhere, die blossen Figuren in die niedere Art des Stils: denn die niedere grenzt ja noch an die gewöhnliche prosaische Darstellungsweise. Der sinnlichen Anschaulichkeit wegen sind in der Rede mancherlei Worte erlaubt, die in rein prosaischer Darstellung meistens fehlerhaft wären: so sind Archaismen im kirchlichen Redestil nicht zu tadeln, wenn sie sich auf die Alterthümlichkeit der Bibel gründen; und sowohl auf dem geistlichen als dem weltlichen Gebiete sind Provincialismen wenigstens im niederen Stil gelegentlich zulässig, vernünftige Neologismen ohne Bedenken namentlich im höheren; ausgeschlossen aber ist der Barbarismus, da er gleichmässig undeutlich und unanschaulich ist. Sodann haben wir (S. 406) innerhalb des poetischen Stils ein doppeltes Verfahren bei der Anordnung der Worte wahrgenommen, je nachdem entweder Beruhigung des Bewegten oder Bewegung des Ruhigen bezweckt wurde. Beiderlei Verfahren kommen nun auch im Stil der Rede vor. Die ruhige, zögernde Darstellung gilt da, wo die Leidenschaftlichkeit, die ausgedrückt und erregt werden soll, blosses Ethos ist, also im niederen Stil; die bewegte, vorwärts eilende da, wo es auf Pathos abgesehen ist, also im höheren Stil. Es wird also z. B. das Polysyndeton eher im niederen, das Asyndeton im höheren Stil anzuwenden sein. Vom mittleren Stil lässt sich eben nur sagen, dass er die characteristischen Eigenthümlichkeiten der beiden andern Arten vermischt anwendet und eine gegen die andere ausgleicht, dass er auf einer rechten Mitte die Figur neben dem Tropus, das Polysyndeton neben dem Asyndeton gebraucht. Es zeigt sich aber diese poetische Seite des Redestils am reichsten ausgebildet bei Herder (LB. 3, 2, 439): hier beruht das Dichterische auf grösster Lebensfülle, auf Kraft und Wahrheit des Gemüthes; sein Stil ist darum auch weit verschieden von den schönthuenden Redensarten und dem sogenannten blühenden Stil mancher Modeprediger. Indessen der rednerische Stil nimmt doch nicht den ganzen Schmuck der poetischen Darstellung in sich auf: nicht gebräuchlich sind z. B. die epischen Wiederholungen: diese sind eben nur in der Epik an der Stelle, haben nur da ihre gute Begründung durch die alterthümliche Art und Weise des musikalischen Vortrages, und auch da sind sie beschränkt, da man jetzt nicht überall mehr den alterthümlichen Vorbildern folgen darf; nicht gebräuchlich sind ferner die epischen Gleichnisse: denn auch diese sind nur eine Ueberlieferung und würden zudem den Hörer zerstreuen und ablenken von dem Ziel der Ueberzeugung und der Ueberredung. Nun zweitens die lyrische Poesie. Der Stil der Lyrik unterscheidet sich von dem Stile der Rede nur in zwei Stücken, die dann freilich Hauptstücke sind: einmal darin, dass er sich alles dessen zu enthalten hat, was allein und ausschliesslich der verständigen Deutlichkeit dient: denn in der Poesie ist dem Verstande überall nur eine negative Rolle zugewiesen; und zweitens darin, dass er von der zweiten Hauptstufe des Stils die metrische Anordnung der Worte mit auf diese dritte Stufe hinübernimmt. Abgesehen von diesen zwei Puncten hat die Lyrik fast Alles mit der rednerischen Prosa gemein: denn auch ihr Ziel ist Ausdruck und Erregung des Gefühls, und auch sie nimmt als Mittel zu diesem Zwecke die Einbildungskraft in Anspruch durch Anschaulichkeit der Darstellung; auch sie geht bald auf Ethos aus, bald auf Pathos, bald auf ein schwebendes Gemisch beider, auf Ethos in elegischen Dichtungen, auf Pathos in Oden, Hymnen und Dithyramben, auf eine Mitte beider im Liede. Auch sie sucht gleich der Rede Ethos zu erregen durch eine gemächlich zögernde, Pathos durch eine unruhig vorwärts eilende Darstellung: sanfte Ruhe, Anmuth, Wehmuth characterisieren ja die Elegie, Erhabenheit und stürmischer Schwung die Ode, den Hymnus, den Dithyrambus. Auch sie braucht in der niederen Art eher nur Figuren, in der höheren dagegen die lebensvolleren Tropen; auch sie gestattet in der niederen Art einen volksmässigen, idyllischen Ton und demgemäss die Anwendung von Provincialismen, ja die ganz mundartliche Abfassung von Gedichten, in der höheren dagegen, entsprechend dem kühnen Flug der Gedanken, kühne neue Wortschöpfungen, Neologismen. Auch sie liebt in der niederen Art leicht und einfach gebaute Perioden, in der höheren ausgedehntere, kunstmässiger gebildete: am deutlichsten wird dieser Unterschied vor Auge und Ohr treten, wenn man Elegien von Göthe oder Schiller mit Oden von Klopstock vergleicht. Eine Ode, die aus einer Reihe so gleichmässig kurzer Satzgefüge bestünde, wie z. B. Schillers Elegie Der Spaziergang, wäre ein Unding, und umgekehrt wäre es unmöglich, in einer Elegie Perioden von solchem Bau anzuwenden, wie z. B. Klopstock in der Ode an Ebert LB. 2, 762, 10─763, 9. Aber neben all diesen Uebereinstimmungen findet sich auch eine wesentliche Abweichung: während sich die Rede der eigentlich epischen Wendungen enthält, sind sie der Lyrik nicht versagt, die als Poesie dem Epos näher steht und ja auf dessen Grunde gewachsen ist: hier also sind die verschiedenen Formen der epischen Wiederholung, sind epische Gleichnisse und Anacoluthien zulässig: dieselbe Ode Klopstocks kann auch hiefür als Beispiel dienen: LB. 2, 761, 32 fgg. Die Lyrik ist aber nicht bloss eine Gattung der Poesie gleich den übrigen, sie ist, wenn man will, zugleich die höchste, nicht die vollkommenste (dieser Ruhm gebührt dem Drama), aber die höchste, insofern sie den Geist aus dem Staube und den Schranken der sinnlichen Aeusserlichkeit und der gemeinen Wirklichkeit zu einer Wirklichkeit, welche weit darüber liegt, in das Gebiet des Geistigen und Innerlichen erhebt. Die Lyrik hat in dieser Beziehung ebensowohl einen Vorrang vor Epos und Drama, als die rednerische Prosa den Vorzug hat vor der historischen und der didactischen. Dieser höhere Rang prägt sich nun auch überall aus in einer höheren künstlerischen Entwickelung und Ausbildung der metrischen Formen, deren sich die Lyrik bedient. Sie begnügt sich nicht mit jenen einfachen Rhythmen und mit jener beständigen Wiederkehr gleicher Verse, die das Epos und das Drama characterisieren: sie zeigt jene beiden Principien der Ruhe und der Bewegung, der Wiederholung und des Wechsels in dem lebendigsten Durcheinanderwirken, in der verschlungensten Combination: die Lyrik setzt ihre Verse, wo es nur die Sprache erlaubt, nicht aus lauter gleichen, sondern aus verschiedenen Füssen zusammen, sie mischt, wie diess namentlich in der antiken Poesie der Fall ist, Dactylen und Trochäen, Choriamben und Iamben; sie lässt auch nicht immer wieder einen gleichen Vers auf den andern folgen, sondern sie vereinigt ungleiche Verse zur Strophe, wie auch die Lyrik des Mittelalters iambische und trochäische, iambische und anapästische Verse verband; sie löst aber alsbald diese Verschiedenheit wieder auf in einer höheren Einheit, indem sie den Strophen eine den Anforderungen der Symmetrie gemässe Gestaltung giebt, und beruhigt die bewegte Mannigfaltigkeit durch Wiederholung der gleichen Strophengebäude. Auch da tritt uns der Unterschied der drei Stufen dieser Stilgattung wieder entgegen: die antike Elegie bedient sich einer nur zweizeiligen, aus einfachen Versen gebildeten Strophe, des Distichons, das aus dem epischen Hexameter und dem Pentameter besteht; die melische Lyrik des Alterthums, das Lied gebraucht drei- und vierzeilige Strophen, die aber aus zusammengesetzten Versen bestehn und dreitheilig gebaut sind: also auch hier wieder Fortschritt und Beruhigung, Wechsel und Gleichmass. Die Strophen der chorischen Lyrik, der Pindarischen Ode und der dramatischen Chorgesänge sind aus vielen Zeilen aufgebaut, aber auch hier, auf einer Stufe höher, herrscht wiederum das Gesetz der Dreitheiligkeit: auf je zwei gleiche Strophen, auf Strophe und Antistrophe, folgt eine ungleiche dritte, die Epode ( ἐπῳδός ). Die Hymnen aber und die Dithyramben, die in ihrem Schwunge noch bewegter, ja ungestüm bewegt sind, werden aus ungleichen Strophen aufgebaut; sie sind πολύστροφα oder gar ἄστροφα , binden sich an keine Dreitheiligkeit mehr und kennen nur den freiesten Wechsel verschiedener Versformen, zeigen also nur Bewegung, keine Beruhigung. So viel konnte über den Stil der rednerischen Prosa und der lyrischen Poesie jetzt noch gesagt werden. Wir können somit, da es über den Stil des Gefühls hinaus keine weitere Stufe giebt, die ganze Stilistik schliessen. Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses. Echtermeyer , Dr. Th., Auswahl deutscher Gedichte für Schulen. 19. unveränderte Aufl., herausgegeben von Herm. Masius. 1873. 59 Bog. gr. 8. cart. 1 Thlr. 10 Sgr., eleg. in Leinwand geb. 1 Thlr. 15 Sgr. Hiecke, Rob. Heinr., Auswahl deutscher Gedichte für Bürgerschulen. Jn drei Abtheilungen für das Alter von 10─14 Jahren. 2. Auflage. 1863. 23¼ Bog. gr. 8. cart. 15 Sgr. Koberstein, Prof. Dr. Aug., Laut- und Flexionslehre der mittelhochdeutschen und der neuhochdeutschen Sprache in ihren Grundzügen. Zum Gebrauch auf Gymnasien. 3. verb. Auflage von Dr. Oscar Schade. 1873. 5⅝ Bog. gr. 8. geh. 12 Sgr. Lesebuch, Deutsches, für die gehobene Bürgerschule, herausgegeben von H. Keck. Mit vielen in den Text gedruckten Abbildungen. 1. Theil. Für mittlere Klassen. 1872. 14 Bog. gr. 8. 7½ Sgr. 2. Theil. Für obere Klassen. 1872. 21 Bog. gr. 8. 10 Sgr. Lesebuch, Norddeutsches. Mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der einklassigen Volksschule herausgegeben unter Mitwirkung von Dr. L. Meyn und Dr. A. Sach von H. Keck und Chr. Johansen. Zehnte, verbesserte Auflage mit vielen in den Text gedruckten Jllustrationen. 1873. 20 Bog. gr. 8. geh. 9 Sgr., in starkem Schulband 12 Sgr. Dasselbe, Ausgabe für nichtpreußische Schulen, siebente, verbesserte Auflage. 1871. 20½ Bog. gr. 8. geh. 9 Sgr., in Schulband. 12 Sgr. Dasselbe, Ausgabe für Simultanschulen, zweite Bearbeitung. (8. Aufl.) 1871. 19½ Bog. gr. 8. geh. 8 Sgr., in Schulband 11 Sgr. Lesebuch, Vaterländisches, für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands. Unter Mitwirkung von Dr. L. Meyn in Uetersen und Dr. A. Sach in Schleswig herausgegeben von H. Keck und Chr. Johansen. Fünfte, sehr verb. u. verm. Aufl. mit in den Text gedruckten Jllustrationen. 1873. 28½ Bog. gr. 8. geh. 13 Sgr., in starkem Schulband 16─17 Sgr. Masius, Herm., Deutsches Lesebuch für höhere Unterrichtsanstalten. 1. Theil. Für untere Klassen. 6. verbesserte Aufl. 1872. 38 Bog. gr. 8. geh. 25 Sgr. (Jn neuer Auflage unter der Presse.) 2. Theil. Für mittlere Klassen. 5. verb. Aufl. 1873. 35 Bog. geh. 1 Thlr. 3. Theil. Für obere Klassen. 2. Auflage. 1870. 43½ Bog. geh. 1 Thlr. 10 Sgr. Verlagskatalog der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle a / S., alphabetisch und fachwissenschaftlich geordnet. Nachtrag, umfassend die Jahre 1854─1872. Nebst einem Preis-Courant der Canstein'schen Bibeln. (Mit einem Vorbericht über die Geschichte der Buchhandlung und Buchdruckerei des Waisenhauses sowie der v. Canstein'schen Bibel-Anstalt seit der Gründung in den Jahren 1697 resp. 1710.) 1873. 9¼ Bog. 8. Dieser Katalog ist gratis durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Frîdankes Bescheidenheit. Mit erläuternden Anmerkungen herausgegeben von H. E. Bezzenberger. 1872. 30¼ Bog. gr. 8. geh. 2 Thlr. 15 Sgr. Handbibliothek, germanistische, herausgegeben von Dr. Jul. Zacher, o. Prof. an d. Universität Halle. 1. Band. Walther von der Vogelweide, herausgegeben und erklärt von W. Wilmanns (Berlin). 1869. 25½ Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 15 Sgr. 2. Band. Kudrun, herausgegeben und erklärt von Prof. Dr. Ernst Martin (Freiburg i. B.). 1872. 28 Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 22½ Sgr. Hildebrandslied, Das, die Merseburger Zaubersprüche und das fränkische Taufgelöbnis. Mit photographischen Facsimiles nach den Handschriften herausgegeben von Dr. Eduard Sievers a. o. Prof. in Jena. 1872. 4 Bl. Photogr. und 2 Bog. Text. 4. geh. 2 Thlr. 20 Sgr. Kurschat, Friedrich, Kgl. Prof., evangel. litt. Prediger und Dirigent des litt. Seminars an der Universität Königsberg in Pr., Wörterbuch der littauischen Sprache. 1. Theil. Deutsch-litt. Wörterbuch. Erste Abth. A─K. 1873. 647 und XX Seiten (47½ Bog.). Lex. 8. geh. 5 Thlr. Der Subscriptionspreis ist erloschen. Die bedeutend gesteigerten Herstellungskosten nöthigen uns den Preis zu erhöhen, und den Lieferungspreis nur für die alten Subscribenten offen zu halten. ─ ─ Wörterbuch der littauischen Sprache. I. Theil. Deutsch-litt. Wörterbuch. II. Band. 1. Lieterung. L─S. 1873. 9 Bog. Lex.-8. geh. 25 Sgr. Der Schluss des ersten Bandes erscheint noch im Laufe dieses Jahres. Lehmann, Prof. Dr. Aug., Gymnasialdirektor a. D., Luthers Sprache in seiner Uebersetzung des Neuen Testaments. Nebst einem Wörterbuche. 1873. 18 Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 20 Sgr. Leo, Prof. Dr. Heinrich, Angelsächsisches Glossar. 1. Hälfte. 1872. 28 Bog. hoch 4. geh. 2 Thlr. 15 Sgr. Das erste Buch Mose nach der deutschen Uebersetzung Dr. Martin Luthers in revidirtem Text mit Vorbemerkungen und Erläuterungen und einem die Berichtigungen zu Jesaja enthaltenden Anhang, im Auftrag der zur Revision der Uebersetzung des Alten Testamentes berufenen Conferenz herausgegeben von Eduard Riehm, D. und ord. Prof. der Theologie in Halle a/S. Nebst einer Beilage von D. Ahlfeld und D. Baur über die sprachliche Revision der Lutherbibel. 1873. 9 Bog. Lex.-8. geh. 15 Sgr. Richter, Dr. Gustav, Prof. am Gymnasium zu Weimar, Annalen des Fränkischen Reiches im Zeitalter der Merovinger. Vom ersten Auftreten der Franken bis zur Krönung Pipins. Mit fortlaufenden Quellenauszügen und Literaturangaben. 1873. 15½ Bog. Lex. 8. 2 Thlr. Auch unter dem Titel: Annalen der deutschen Geschichte im Mittelalter. 1. Abtheil. Schade, Dr. Oskar, Prof. in Königsberg, Paradigmen zur deutschen Grammatik. Gothisch, althochdeutsch, mittelhochdeutsch, neuhochdeutsch. Für Vorlesungen. 3. Aufl. 1873. 6½ Bog. gr. 8. geh. 15 Sgr. ─ ─ Altdeutsches Lesebuch. Gothisch, altsächsisch, alt- und mittelhochdeutsch. Mit einem erklärenden Wortverzeichniss. In zwei Theilen. 1. Theil: Lesebuch. 1862. 24 Bog. gr. 8. geh. 1 Thlr. 15 Sgr. ─ ─ Altdeutsches Wörterbuch. Auch als zweiter Theil des Lesebuches. Zweite wesentlich vermehrte und umgestaltete Auflage. 1. Lieferung A─F. Bog. 1─10. 1873. gr. 8. geh. 1 Thlr. Erscheint vollständig in 6 Lieferungen bis Mitte 1874. Wilken, E., Ueber die kritische Behandlung der geistlichen Spiele. 1873. 2½ Bog. gr. 8. geh. 8 Sgr. Wolfram von Eschenbach, Wilhelm von Orange, Heldengedicht. Zum ersten Male aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von San-Marte (Dr. A. Schulz, Geh. Reg.-Rath. etc. etc.). 1873. 26¼ Bog. gr. 8. geh. 2 Thlr. Zeitschrift für deutsche Philologie, herausgegeben von Dr. Ernst Höpfner, Provinzialschulrath in Koblenz und Dr. Julius Zacher, Professor an der Universität zu Halle. V. Band. 1873. 1. Heft 8 Bog., pr. cplt. 32 Bog. Lex.-8. geh. 4 Thlr. Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses. H. K.