Poetik . Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß von Eugen Wolff . Oldenburg und Leipzig, 1899. Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei. A. Schwartz. Exemplare in feinen Original-Einbänden sind mit geringem Poetik . Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß von Eugen Wolff . Oldenburg und Leipzig, 1899. Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei. A. Schwartz. Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten. Vorwort . D ie Eigenart dieser Poetik ist bereits im Titel ausgesprochen: Wenn ich nicht Regeln für die Poesie der Zukunft, sondern Gesetze in der Poesie der Vergangenheit suche, dürfte ich aus wissenschaftlich ernst zu nehmenden Kreisen Widerspruch kaum zu befahren haben. Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens, die geschichtliche Begrenztheit aller geistigen Erscheinungen ist namentlich von Hegel zu grundsätzlicher Anerkennung gebracht worden, nur daß gewaltsame Konstruktionen die folgerechte Durchführung vereitelten. Auf dem Gebiete der Poetik hat Wilhelm Dilthey mit Verwirklichung dieses Gedankens Ernst gemacht, namentlich in seiner programmatischen Abhandlung über „Die Einbildungskraft des Dichters“ (in dem Sammelwerk verschiedener Autoren: „Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller gewidmet“ ─ 1887). Die von Dilthey aufgestellte Forderung litteraturgeschichtlicher Jnduktion zum Zweck psychologischer Ergründung des so gewonnenen Materials wüßte der Verfasser des vorliegenden Buches als einzigen Beitrag zur Poetik zu nennen, mit dem sich seine Betrachtungsweise verwandt fühlt. Obgleich ich glaube, daß die von mir gewählte Methode eine notwendige Folge des von Dilthey begonnenen Verfahrens darstellt, muß ich die Verantwortung für geschichtlich zusammenhängende Betrachtung des litteraturgeschichtlichen Gesamtmaterials und demgemäß für unmittelbare Entwicklung der poetischen Gesetze vorerst allein tragen. Dürfte doch jede Jnduktion ihre letzte Vollendung erst dann erreichen, wenn sie über beliebige Auswahl und zusammenhangslosen Vergleich ihrer Erfahrungsthatsachen hinaus zu dem inneren Zusammenhang der sei es konformen, sei es variablen Erscheinungen vorschreitet, ─ zumal die Hauptstufen der Entwicklung menschlicher Poesie im großen sich so oft nachweislich mit nur schnellerer Folge in den Litteraturen der Einzelvölker gesetzmäßig wiederholen.   Wo es sich um Erhellung der für eine solche Betrachtung immer besonders wichtigen Anfänge handelt, steht mein Verfahren wohl dem weithin auf die heutigen Naturvölker fußenden Vorgehen Diltheys ferner als einem Verfahren, wie es Hermann Paul zur Erkenntnis der „Prinzipien der Sprachgeschichte“ anwendet: „Wir haben es uns,“ erläutert Paul treffend, „zum Gesetz gemacht uns unsere Anschauungen über die sprachlichen Vorgänge aus solchen Beobachtungen zu bilden, die wir an der historisch deutlich zu verfolgenden Entwicklung machen konnten, und erst von diesen aus Rückschlüsse auf die Urgeschichte der Sprache zu machen.“ An anderer Stelle nimmt Paul bereits für seine Methode in Anspruch, was ähnlich in vorliegender Schrift für die Poetik zur Geltung gebracht wird: „Wenn unsere Betrachtungsweise richtig durchgeführt wird, so müssen die allgemeinen Ergebnisse derselben auf alle Sprachen und auf alle Entwicklungsstufen derselben anwendbar sein, auch auf die Anfänge der Sprache überhaupt.“   Von ausgeführten Lehrbüchern konnte für meine Zwecke nur die an litteraturgeschichtlichem Material reiche „Poetik, Rhetorik und Stilistik“ von Wilhelm Wackernagel bahnweisend wirken. Andererseits drängten die zusammenhängenden Betrachtungen der Weltlitteratur von Moritz Carriere, Adolf Stern und Julius Hart immer entschiedener auf eine systematische Zusammenordnung verwandter Erscheinungen hin. Daneben war es namentlich die „Griechische Litteraturgeschichte“ von Theodor Bergk, die mich in organischer Auffassung der Poesieentwicklung bestärkte.   Die Notwendigkeit des von mir ausgeübten Verfahrens entwickelten bereits 1890 meine „Prolegomena der litterar=evolutionistischen Poetik“. Proben der Ausführung erschienen alsdann in der „Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte“ (Neue Folge, Band VI , S. 423 ff.) sowie in der Beilage der „Täglichen Rundschau“ (Herbst 1897). Jnzwischen sind einige in der erstgenannten Schrift entwickelte Gedanken, besonders über die durch die Tragödie bewirkte Entladung von Leid, statt von dem bisher als Entladungsstoff vorausgesetzten Mitleid, sowie über die Ausdehnung der Katharsislehre auf alle poetischen Gattungen, auch von Alfred Freiherr von Berger zur Aussprache gelangt (vgl. Bergers Abhandlung: „Wahrheit und Jrrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles“ in der Schrift: „Aristoteles Poetik, übersetzt und eingeleitet von Theodor Gomperz“ (1897). Verwandte Jdeen klingen ferner in Emil Mauerhofs Abhandlung über „Das Wesen des Tragischen“ (1897) wieder.   Das letzte Ziel meiner Betrachtung muß bleiben, die Theorie der Dichtkunst auf einer umfassenden Geschichte der Weltpoesie aufzubauen ─ ich spreche nicht von Weltlitteratur, weil für Erkenntnis der ästhetischen Gesetze gerade die vorlitterarischen Anfänge nur mündlich fortgepflanzter Poesie von besonderer Bedeutung sind. Der vorliegende Grundriß sucht die Poesieentwicklung in ihren Grundzügen und Hauptmomenten zu zeichnen und damit eine Erkenntnis ihrer ausschlaggebenden Faktoren, ihrer treibenden Kräfte anzubahnen. Die äußere Form des Buches nimmt auf Lehrzwecke Rücksicht: besonders schwebt die Einführung von Lehrern und Studierenden in das Werden und die Wandlung der Kunstgesetze vor.   Jndem ich diese Poetik der Oeffentlichkeit übergebe, wage ich zu hoffen, daß auch diejenigen, deren Weg nicht der meine ist, in der Lage sein werden, dem größten Teil meiner Ergebnisse zuzustimmen. Von vorn herein lege ich Gewicht auf die Feststellung, daß die weit überwiegende Zahl der ästhetischen Forscher die Nachahmungstheorie als äußerlich und unzureichend aufgegeben haben. Angesichts des platten, geistlosen, „konsequenten“ Naturalismus in der jüngsten Poesie ist die geschichtliche Erinnerung heilsam, daß der deutsche Poetiker, welcher in der Kunst nichts anderes als pedantisch genaue Naturwiedergabe sah, ─ Gottsched hieß! Dieser Nüchternheitsapostel und seine Schule sind es, die das Vergnügen, soweit es ihnen Endzweck der Kunst ist, hauptsächlich aus Wahrnehmung der Aehnlichkeit zwischen Urbild und Abbild herleiten. Schon Alexander Baumgarten nahm indes eine besondere Seelenkraft für die Kunst in Anspruch. Die seitdem vorherrschende Auffassung der Schönheit als eigentliches Ziel der Poesie ist freilich von der neueren Kunstentwicklung mit Recht als zu eng empfunden worden. Die geschichtliche Entwicklung, wie sie in vorliegender Poetik verfolgt wird, führt nun zu der Wahrnehmung: das Erhabene, das Schöne und das Charakteristische seien auf einander folgende Stufen des Kunststils.   Soweit die Entwicklung der Poesie geschichtlich verfolgbar, läßt sich ein allmählicher Uebergang von objektiver Gestaltung zu subjektiver Vergeistigung erkennen. So vollzieht sich die entscheidende Wendung vom Epischen zum Lyrischen. Volle Uebereinstimmung wird herrschen, wo immer wir sorglich zwischen dem Stil der gesungenen und der litterarisch aufgezeichneten Poesie unterscheiden. Ebenso dürfte die durchgehende Abstufung des Kunststils nach dem griechischen, romanischen und germanischen Geiste für sich selbst sprechen. Nicht minder leuchtet die Scheidung des Dramas nach der antiken und christlichen Weltanschauung sowie der besondere Beruf des Christentums für die sittliche Vertiefung der Tragödie ein. Auch das Vorschreiten des germanisch=reformierten Trauerspiels über das romanischkatholische sowie weiterhin des deutschen über das englische Trauerspiel läßt das Walten einer gesetzmäßigen Entwicklung mit nötigender Beweiskraft erkennen. Auffallend berühren sich bei alledem die Erscheinungen aus der Verfallzeit der antiken Tragödie mit mancherlei Zeichen, die im nachklassischen Trauerspiel unseres Vaterlandes hervortreten. Das deutsche Lustspiel steht dagegen ersichtlich erst in den Anfängen und hat seine Blüte noch vor sich zu suchen. Ueberhaupt läßt die Verfolgung der geschichtlichen Entwicklung anschaulich werden, welche Formen der einzelnen poetischen Arten abgeblüht, welch andre noch eine organisch reiche Zukunft versprechen.   Die von mir versuchte geschichtliche Betrachtung des dichterischen Seelenlebens führt aus ursprünglicher Simplizität zur allmählichen Ausbildung der späteren Mannigfaltigkeit und geistigen Fülle. ─ Die poetischen Figuren erscheinen in diesem Zusammenhang als natürliche Funktionen des Dichtergeistes, als Ausdrucksformen seines bildlichen Schauens, seiner plastischen Phantasie. Das ist wieder ein Punkt, an welchem schon Wilhelm Wackernagel und Wilhelm Dilthey angesetzt.   Die der Metrik gewidmeten Betrachtungen konnten nicht über jede Vers- und Strophenart als Selbstzweck belehren: es galt nur die metrischen Funktionen in ihrer Ausbildung zu verfolgen, die bedeutsamen Momente in der Entwicklung der poetischen Form als gesetzmäßige Aeußerungen durchgehender Prinzipien zu erkennen. Diese metrische Prinzipienlehre führt zu der Wahrnehmung, wie Reim= und Strophenbildung nur neue Kundgebungen desselben Strebens nach Bindung der Rede sind, aus dem zunächst die Versform selbst erwuchs. Als willkommene Wegweiser dienten mir besonders die metrischen Studien von Rudolf Westphal, Hermann Usener, Eduard Sievers, Hermann Paul und Friedrich Kauffmann, obschon ich auch hier stellenweise genötigt war, meine eigenen Wege zu gehen.   So entschieden sich der ─ besonders in der Naturwissenschaft durchgeführte ─ Gedanke einer zusammenhängenden und gesetzmäßigen Entwicklung auch auf unserm geistigen Gebiete bewährt, ist sich der Verfasser doch bewußt, nichts so sorgsam vermieden zu haben wie ein willkürliches Herübernehmen naturwissenschaftlicher Anschauungen oder gar eine rein materialistische Auffassung der Kunst. Darum erscheint mir ein Ausgehen der Poetik von den Liebeslockrufen der Tiere und manch ähnliche physiologische Ausdeutung poetischer Funktionen unerlaubt, ja im Gegensatz zu einer wahrhaft objektiven Jnduktion und damit zu den geschichtlichen Thatsachen. Vor Ausbildung des menschlichen Geistes ist an irgend welche mit der Poesie verwandte Erscheinung nicht zu denken; im Dienst des religiösen Kultus, ausschließlich als etwas Heiliges, Geweihtes erscheint die Dichtkunst bei allen Völkern in ältester geschichtlich erreichbaren Zeit. Wie viel sich auch eine dilettierende Empirie mit ihren naturwissenschaftlichen Phrasen wissen mag, die geschichtliche Jnduktion der Poetik führt zu der wissenschaftlichen Thatsache: die Dichtkunst ist nicht sowohl eine Naturgabe der natürlichen Arten, als vielmehr ein Geschenk der Kultur an die Menschheit. Kiel. Der Verfasser. Einleitung . Begriff und Methoden der Poetik. § 1. Begriff der Poetik.   Poetik ist die Wissenschaft von den Gesetzen der Poesie.   Eine Wissenschaft ist die systematisch geordnete Summe dessen, was wir über ein Gebiet wissen. Folglich ist Material der Poetik, aus dem sie ihre Gesetze ableitet, die systematisch geordnete Summe dessen, was wir über die Poesie wissen; d. h. Gegenstand der Poetik ist die systematisch geordnete Geschichte der Weltpoesie.   Als Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Poetik ergeben sich: a ) Ausgehen von der Weltpoesiegeschichte, b ) Ordnung der Weltpoesiegeschichte nach einheitlichen Gesichtspunkten.   Die Poetik beruht somit auf einem Rückblick über alle bisherige Poesie, um deren Gesetze abzuleiten. § 2. Ursprüngliche Auffassung der Poetik.   Ursprünglich hat man den rein wissenschaftlichen Charakter der Poetik verkannt, ihr vielmehr ganz oder teilweise praktischen Zweck unterschieben wollen. Damals blickte die Poetik wesentlich vorwärts, um Regeln für alle zukünftige Poesie aufzustellen. Die Poetik gab sich dogmatisch.   Aus welchen Quellen leiteten sich diese Regeln her? Sie fußten auf Aussprüchen angesehener Kunstrichter des Altertums, das in der Entstehungszeit der deutschen und überhaupt der modernen Poetik, im Zeitalter der Renaissance, als unbedingte Autorität in Fragen der Kunst galt. § 3. Autoritativ=dogmatische Poetik: Horaz .   Wie die Renaissance sich überall enger an die Vermittlung der Römer als an die griechischen Quellen der antiken Kunst anschloß, war es zunächst Horaz, dessen Epistel an die Pisonen, ursprünglich ein Gelegenheitsgedicht, zum Rang einer Poetik erhoben wurde. Ohne Vollständigkeit zu erstreben oder auch nur das Wesen der Dichtkunst in den Vordergrund stellen zu wollen, ging Horaz davon aus, daß zu den Erfordernissen des vollendeten Dichters nicht bloß Begabung gehöre, die er als selbstverständlich erwähnt, sondern auch treue Beobachtung behufs Nachahmung der Wirklichkeit, ferner Studium und zur Erreichung formeller Meisterschaft Uebung, ebenso Fähigkeit zu einheitlicher Ordnung der Gedanken, schließlich eine Reihe besonderer Eigenschaften namentlich für die dramatische Poesie. Jhm war es vor allem darum zu thun, eine in seiner Zeit eingerissene schwindelhafte Liederlichkeit zu geißeln, die ─ wie zu manchen Zeiten sonst ─ prätendierte, daß Talent sowohl den Charakterhalt als Studium und formelle Durchbildung ersetzen könne. Jndem die Renaissance-Poetik diese Beziehung der Epistel außer acht ließ, wurde der kunstmäßigen Form, die Horaz neben der Begabung zur Geltung bringen wollte, entscheidender Wert und breitester Raum gewährt, und jede gelegentliche Aeußerung dieser römischen Satire zum Kanon erhoben.   Gewiß ist auch in der frühesten modernen Poetik schon eine selbständige Bethätigung zu verspüren: aber sie beschränkte sich in Ergründung des poetischen Wesens gerade darauf, einseitig diejenigen Punkte herauszugreifen, die dem eigenen lehrhaften und formalistischen Geiste Raum zu bieten schienen. „Entweder nützen oder ergötzen wollen die Dichter oder zugleich beides, das Angenehme und Nützliche des Lebens, zur Aussprache bringen“: solche gelegentliche Feststellung ward als Begriffsbestimmung der Poesie ausgegeben, überdies mit einseitiger Betonung des Nützlichen. ─ „Wie die Malerei so die Poesie: es giebt eine, die mehr einnimmt, wenn man näher hinzutritt, und eine, wenn man sie in weiterem Abstand betrachtet“: dieser äußerliche Vergleich unterlag bis zu Lessings Tagen einer Verallgemeinerung, als ob Horaz damit für die Poesie habe die Gesetze der Malerei empfehlen wollen.   Wie die metrischen Untersuchungen entscheidend in den Vordergrund traten, vollbrachte Martin Opitz 1624 in seinem „Buch von der deutschen Poeterei“ die Entdeckung des deutschen Versgesetzes im Unterschied von dem antiken. Abgesehen von dieser bedeutsamen Regung der Selbständigkeit verharrte die Poetik unter der Autorität des Altertums und seiner Mittler aus den modernen Renaissance= Völkern. § 4. Fortsetzung: Aristoteles .   Selbst der hervorragendste Kunstrichter und praktische Philosoph des Altertums, Aristoteles, kam nicht in seinem reinen griechischen Urtext zur Geltung, vielmehr übernahm ihn die deutsche Poetik in der Auffassung französischer Kommentatoren.   Opitz hat noch keinen entscheidenden Einfluß von Aristoteles erfahren. Verständnislos benutzt haben ihn wohl die Theoretiker der jüngeren Dichterschulen des 17. Jahrhunderts. Erst Gottsched sucht 1730 in seinem „Versuch einer kritischen Dichtkunst“ die Theorien des Stagiriten grundsätzlich durchzuführen. Auch er verkannte, in Uebereinstimmung mit den Franzosen, den eigentlichen Charakter der Aristotelischen Poetik. Sie fußte auf reichem Erfahrungsmaterial, namentlich auf voller geschichtlichen Würdigung der griechischen Tragödie und des Epos. Wiederum stellt die moderne Poetik die Kennzeichen und Gesetze, welche der antike Kunstrichter an den ihm vorliegenden Dichtwerken entdeckt, als Regeln und Richtschnur für alle künftige Poesie hin.   Als Ursache für Entstehung der Dichtkunst faßt Aristoteles den Nachahmungstrieb auf; so sucht er die Dichtkunst von andern Arten der Nachahmung zu scheiden, die idealisierenden Mittel festzustellen, durch welche sie das Vorbild zur Kunst gestaltet. Der unkünstlerische, naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung, und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst.   Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform hin.   Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767─1769) zum ersten mal kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften und ihre Katharsis.   Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur Geltung durchgerungen. § 5. Fortsetzung: Die Franzosen.   Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.   Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters ─ des Zeitalters von Ludwig XIV . ─ in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft der beiden kritischen Köpfe.   Mit Boileau gelangt der „gesunde Menschenverstand“ ( bon sens ) in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott ─ so war er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus prädestiniert.   Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac, der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine bunte Musterkarte französischer Autoritäten. § 6. Spekulativ=dogmatische Poetik.   Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre Schwingen.   Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen, zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.   Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander Baumgarten, dessen „ Aesthetika “ (Band I : 1750, Band II : 1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip der Kunst erhoben war.   Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das Streben nach Klassifizierung notgedrungen zu einer Abzweigung dieser eigenartigen Seelenfunktion.   Jn Kant erhob sich die deutsche Philosophie zu klassischer Höhe. Auf dem Gebiete der Aesthetik bewirkt Kants „Kritik der Urteilskraft“ (1790) nicht eine gleiche Umwälzung wie in der modernen Weltanschauung seine „Kritik der reinen Vernunft“. Fruchtbar wurde vor allem seine eindrucksvolle Begriffsbestimmung des Schönen und des Erhabenen, sowie die Unterordnung des Sinnentriebes und so auch der ästhetischen Neigung unter den Moraltrieb, die eherne Unterjochung des Natürlich-Gefälligen unter das Geistig-Notwendige.   Unsere klassischen Dichter fühlten sich von dieser kategorischen Schroffheit abgestoßen. Jn den Xenien parodierten sie den rigoristischen Zug des großen Königsberger Philosophen: „ Gewissensskrupel . Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum . Da ist kein andrer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.“ Schiller war es, der einen Ausgleich zwischen Naturtrieb und Geist, eine freiwillige Unterwerfung des Sinneninstinktes unter das Sittengesetz suchte und gerade in „ästhetischer Erziehung“ fand: so offenbarte sich ihm die Kunst als Mittlerin zwischen den menschlichen Leidenschaften und Pflichten, als Weg zur Vergeistigung der menschlichen Natur.   Die spekulative Aesthetik erreichte ihren Höhepunkt in Hegel: er faßt die Kunst nicht allein als eine Erscheinungsform des absoluten Geistes, vielmehr als ein geschichtliches Stadium desselben und leitet so zu der fruchtbaren entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung über, welche sich nicht darauf beschränkt, die Künste in ihrem heutigen Nebeneinander hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und ihr ursprüngliches Verhältnis zu erfassen sucht. Die Durchführung dieses richtigen und epochemachenden Prinzips scheitert bei Hegel an der willkürlichen Konstruktion einer solchen Geschichte des menschlichen Geistes. Namentlich handelt er die Religion als eine höhere Stufe des Geistes hinter der Kunst ab, ohne ernstlich nach der geschichtlichen Priorität zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich zu belauschen. § 7. Empirische Poetik.   Mit der Ausdehnung und den Erfolgen der Einzelforschung sah sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus umfassender Beobachtung des Einzelmaterials durchgehende Gesetze abzuleiten, wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen Gebieten verfügt sie thatsächlich bereits über ein genügend reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie, noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen her an ihre Gegenstände heranträte.   Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele zu belegen, vielmehr umgekehrt Beispiele poetischer Bethätigung in möglichst großer Zahl zu sammeln, um aus ihrer systematischen Ordnung die Gesetze abzuleiten.   Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm Scherer. Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen über Poetik, ein Jahr darauf starb er. Das aus seinem Nachlaß herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes System, sondern nur als Entwurf beurteilt sein.   Scherer bezeichnet als sein Programm: „die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen“. Eine Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials beschränkt, würde ─ wie von vorn herein einleuchtet ─ rein empirisch bleiben, nur die Erfahrung geben, ohne sie zu erklären, geistig zu durchdringen. Jn einem an sich berechtigten Eifer, vorschnelle Folgerungen abzuwehren, will sich Scherer denn auch philosophischer Schlußfassung möglichst entschlagen. Dieses Streben, an der Philosophie vorbeizugehen, läßt die äußere, materielle Erscheinung einseitig in den Vordergrund treten und den geistigen Prozeß in der Dichterseele dahinter verschwinden. Wo möglichst nur das, was mit Händen greifbar, als Erfahrungsmaterial anerkannt ist, wird naturgemäß für das innere Wesen der Dichtung leicht die äußere Erscheinungsform hingenommen.   Dieses selbe Streben, statt an den Geist sich möglichst weit an die Natur zu halten, läßt Scherer über den Rahmen der philosophischen und selbst der litteraturgeschichtlichen Erfahrung nach rein naturgeschichtlichen Beobachtungen blicken, die namentlich für die Entstehnng der Poesie zur Verwertung kommen. Eine solche unmittelbare Uebertragung tierischer Funktionen (wie der Liebeslockrufe als erster Form poetischer Aeußerungen) auf das Gebiet des menschlichen Geistes bleibt nun in jedem Falle materialistisch; für die Poesie ist dies Verfahren um so weniger statthaft, als von ihr nicht vor Entwicklung der artikulierten Sprache die Rede sein kann.   Bei alledem bringt Scherers Versuch eine Fülle von fruchtbaren Einzelbemerkungen und glücklich herangezogenen litteraturgeschichtlichen Belegen bei. Daß nicht in noch umfassenderem Maße die Weltlitteratur zugrunde gelegt und so der naturwissenschaftliche und nationalökonomische Zug stärker zurückgedrängt ist, erklärt sich unschwer aus der Entstehung und dem jähen Abbruch des Werkes. § 8. Psychologisch=induktive Poetik.   Ungefähr gleichzeitig mit Scherers unphilosophischer Poetik gab Wilhelm Dilthey Bausteine für eine neue Poetik durch seine Abhandlung über „Die Einbildungskraft des Dichters“ (1887 in dem Eduard Zeller gewidmeten Sammelwerk verschiedener Autoren: „Philosophische Aufsätze“).   Auch hier wird der Ruf nach einer induktiven Poetik erhoben, und Dilthey stützt sich im Prinzip auf das richtige, allein mögliche Material der Erfahrung über die Litteratur: d. i. die Litteraturgeschichte, ohne aus der Naturgeschichte hypothetische Analogien zu übertragen. Als Philosoph vergißt Dilthey ebenso wenig, daß die Aesthetik Kunstphilosophie ist.   Besonders bedeutsam erscheint, daß Dilthey auch im Hinblick auf die Poesie wiederholt die Geschichtlichkeit des Seelenlebens betont, so daß er sich der geschichtlichen Begrenztheit ästhetischer Gesetze nicht verschließt, aber, über die bloße Empirie hinaus, die Allgemeingültigkeit gewisser Grundzüge sucht. Dilthey geht so weit, von entwicklungsgeschichtlicher Auffassung zu sprechen.   Die Ausführung dieses fruchtbaren Gedankens wird beschränkt durch Berufung auf die Methode „der wechselseitigen Erhellung, wie sie Scherer bezeichnet hat“, d. i. auf die Vergleichung beliebiger, ohne historischen Zusammenhang herangezogener Beispiele. So sind an die umfassende und feine psychologische Untersuchung einstweilen nur wenige Seiten bestätigender Zeugnisse gereiht. Und dieser Schatz der Erfahrung ist als starre Masse betrachtet, Erscheinungen verschiedener Zeiten sind als klassische Beispiele beliebig durch einander geschoben ─ mit einem Wort, auch in dieser verheißungsvollen Programmschrift noch ist die Litteraturgeschichte nur als Raritätenkasten, in den sich nach Bedürfniß hineingreifen läßt, statt als fließender Organismus behandelt. § 9. Entwicklungsgeschichtliche Poetik.   Noch ist die Anschauung weit verbreitet, daß durch „klassische Beispiele“ aus der Neuzeit oder aus früheren Blüteperioden der Litteratur allgemeingültige Gesetze der Poetik gewonnen werden könnten. Wo indes eine wissenschaftliche Allgemeingültigkeit erreicht werden soll, ist die Vorbedingung in jeder ausgebildeten Wissenschaft Allumfassung des Materials. Will also die induktive Poetik aus dem Stadium der Experimente in das des wissenschaftlichen Systems übergehen, so muß sie auf zusammenhängender Betrachtung der Geschichte der Weltpoesie fußen.   Liegt es an sich schon nahe, daß ein jeder Ueberblick den geschichtlichen Zusammenhang in geschichtlicher Folge durchläuft, so benötigt die induktive Poetik um so mehr dieser Verfahrungsweise, als sich aus Verfolgung der geschichtlichen Wandlungen und Umbildungen die allein zuverlässige Erklärung für die mancherlei offenbaren Abweichungen innerhalb derselben poetischen Arten und Formen gewinnen läßt, für Abweichungen, die bei ungeschichtlicher bloßen Nebeneinanderstellung an der Möglichkeit allgemeingültiger Begriffsbestimmung der Poesie Zweifel aufkommen ließen.   Wenn wir alle inneren und äußeren Uebereinstimmungen der so verschieden gearteten und gestalteten Zweige der Weltpoesie zusammenhängend überblicken, so muß damit das Grundprinzip aller Poesie herauszuheben sein; es muß auch aus dem geschichtlichen Zusammenhang und der geschichtlichen Entwicklung das Prinzip der Wandlungen erhellen, denen die Poesie unterworfen war.   Zusammenhängende Aufwicklung der geschichtlich gegebenen Erscheinungen, systematische Geschichte der Weltpoesie, erscheint danach als notwendige Grundlage der induktiven Poetik. Und diese hört auf, empirisch zu sein, wird wahrhaft zur Kunstphilosophie, sobald sie die Teile des Materials nicht mehr als Regel, sondern als geregelt betrachtet, sobald sie die psychologische Quintessenz des Ganzen zum alleinigen Gesetz erhebt: denn die Einzelerscheinungen nach ewigen Prinzipien zu ergründen, ist das Wesen der Philosophie.   Aber die Poetik hört damit auch auf, die Gesetze einer einzig wahren Poesie zu suchen: sie ergründet die Entwicklungsgesetze der Poesie nach den Grundzügen wie den Variationen ─ nicht nur die Methode, auch der Gehalt der neuen Poetik ist entwicklungsgeschichtlich. § 10. Fortsetzung: Einschränkungen.   Wir werden von vorn herein genötigt sein, die Bedenken und Beschränkungen ins Auge zu fassen, denen die entwicklungsgeschichtliche Poetik unterliegen könnte.   1. Wir wollen auf poetischem Material fußen, um die Poesie zu erklären. Die Poetik will die Poesie regeln ─ und soll sich nun von der Poesie regeln lassen!   Kennen wir die Gesetze, welche die Dichtung der Vergangenheit in sich trägt, dann kennen wir freilich diejenigen, welche der zukünftigen Litteratur zukommen, nur so weit wie wir überhaupt Zukünftiges mit geschichtsphilosophischem Geist voraussetzen können. Weiter vermag aber keine Wissenschaft zu dringen. Genug, daß wir mit den Grundzügen der Poesieentwicklung, d. i. mit den Gesetzen, welche der Gesamtpoesie der Vergangenheit zugrunde liegen, einen Maßstab für Beurteilung der Einzelerscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart gewonnen haben.   2. Die Poetik will allgemeingültig sein ─ und nimmt doch verschieden gestaltete Entwicklungsstufen der Poesie an!   Jndes erkennt sie nicht jede Entwicklungsstufe für sich als gesetzgebend an, was ein Chaos von Widersprüchen ergäbe. Die Poetik erkennt vielmehr jede Entwicklungsstufe nur als eine Potenz, eine Aeußerungsform der Entwicklung an und erst aus dem Jneinandergreifen und einheitlichen Grundzug dieser Potenzen erschließt sie das durchgehends zugrunde liegende Prinzip der Entwicklung. Dieses ist zugleich partikulär für jede einzelne Entwicklungsstufe und allgemeingültig für alle Stufen insgesamt, somit unanfechtbar gesetzgebend.   Es giebt ein einheitliches Wesen der Poesie, aber es hat viele Offenbarungsformen, und die identischen Urzellen derselben werden dem Beschauer erst durch geordnetes Zusammenrücken sichtbar.   3. Die entwicklungsgeschichtliche Poetik hat ihre Untersuchung mit dem Beginn der Entwicklung, mit der Urpoesie, einzusetzen ─ aber sie muß sich mit der ältesten geschichtlich erschließbaren Poesie als Ausgangspunkt begnügen! Wie die Dichtung der Zukunft liegt auch die der vorgeschichtlichen Vergangenheit in Dunkel gehüllt.   Ausschlaggebend ist: ob der vorhandene Ausschnitt der Weltpoesiegeschichte von der ältesten ergründeten Zeit bis auf die Gegenwart ausgedehnt d. h. entwicklungsreich genug ist, um ein bestimmtes Entwicklungsprinzip erkennen zu lassen. Besteht diese Möglichkeit, dann dürfen wir hypothetisch den Faden ebenso rückwärts in vorgeschichtliche Zeit spinnen, wie wir ihn durch Aufstellung von Gesetzen, wenigstens bedingungsweise, vorwärts in eine ständig ergänzende und revidierende Zukunft ziehen. Nachdem wir die in geschichtlicher Zeit waltenden Gesetze erkannt haben, werden wir zum mindesten voraussetzen dürfen, daß die Entwicklung der Poesie in geschichtlich noch nicht erschlossener Zeit nicht nach entgegengesetzten Normen erfolgte.   Je umfassender, je voller ausgeführt, je tiefer eingehend die Jnduktion, desto präziser werden die Ergebnisse sein. Vorerst wird es möglich und notwendig sein, in den Grundzügen die Richtung der Poesieentwicklung zu erkennen. Definitionen der Poesie. § 11. Die formale Definition der Poesie.   Wie die bisherigen Methoden der Poetik, so drängen die bisher gezeitigten Definitionen der Poesie zu einer neuen, fruchtbareren Betrachtungsweise. Sehen wir uns vor die Thatsache gestellt, daß die gelieferten Erklärungen nur für beschränkte Teile der Poesie gelten, nicht aber hinreichen, das allem dichterischen Schaffen zugrunde liegende schöpferische Prinzip auszudrücken, so weist diese Sachlage ebenfalls gebieterisch auf zusammenhängende Berücksichtigung des poesiegeschichtlichen Gesamtmaterials hin.   Jn ihren Definitionen weichen die beiden Extreme der kunsttheoretischen Methode kaum von einander ab: wie die autoritätengläubige Poetik des 17. Jahrhunderts, findet die empirische Poetik Scherers ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in Hervorhebung der poetischen Form. Dieser neue Forscher glaubt „schließlich ungefähr so“ definieren zu müssen: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher Verwandtschaft stehen.“   Damit ist jedoch das Eingeständnis abgelegt, daß die formale Definition eine zureichende, wissenschaftlich präzise Begriffsbestimmung nicht in sich zu schließen vermag. Einmal wäre hiernach die Zugehörigkeit des Märchens, Romans und anderer Prosadichtungen, vor allem aber des nicht versifizierten Dramas zur Dichtkunst nur durch den vagen und nicht einmal zutreffenden Begriff „naher Verwandtschaft“ mit der gebundenen Rede zu rechtfertigen. Jn anderer Hinsicht ist die Bestimmung umgekehrt sogar zu weit, denn sie schließt jedes Hochzeitskarmen, jede in gebundener Rede entworfene Geschäftsreklame in den Bezirk der Dichtung. § 12. Der Nutzen als Zweck der Poesie.   Die Poetik des 17. Jahrhunderts hatte noch eine weitere Lehre aus Horaz gezogen: nützen oder ergötzen, am besten beides solle die Poesie. Jndem man jedoch das Hauptgewicht auf den Nutzen legte, erschien die Bereicherung der intellektuellen und moralischen Anlagen als Ziel der Poesie.   Der Geist damaliger Dichtung ist mit dieser Begriffsbestimmung gewiß getroffen, nicht aber der Geist aller Dichtung ─ und der höchsten am wenigsten. Um die Unzulänglichkeit einer Definition zu erweisen, bedarf es nicht eines umfassenden Gegenbeweises, es genügt die Erkenntnis, daß sie nicht allgemeingültig ist, ja wie wenig sie das Wesen derjenigen Dichtungen kennzeichnet, die als besonders eindrucksvolle Schöpfungen der Poesie erscheinen.   Niemand wird als Zweck der Shakespeareschen Dramen den Nutzen hinstellen wollen. Der Zweck des „Hamlet“ sollte in einer schalen Warnung vor dem Zaudern bestehen? „König Lear“ wäre nichts als oder überhaupt ein Exempel zu dem Volksspruch: „Wer seinen Kindern giebt das Brot Und leidet nachmals selber Not, Den soll man schlagen mit der Keule tot“? Aehnlich müßte der Nutzen von „Romeo und Julia“ in der Warnung vor Zwietracht oder vor Leidenschaft oder vor zu eilfertigem Selbstmord bestehen ─ genug, man gelangt auf diesem Wege zu unzähligen Absurditäten.   Ebenso wenig sprechen Goethesche Gedichte von Nutzen und Belehrung: „Fühle, was dies Herz empfindet!“ fordert das eine, „Warte nur, balde Ruhest du auch“ ─ tröstet ein andres. Der Zweck dieser Dichtungen muß tiefer greifen. § 13. Das Vergnügen als Zweck der Poesie.   Auch das Ergötzen fordert sein Recht unter den Definitionen der Poesie. Zuerst taucht es im Zusammenhang mit dem Nutzen, im Anschluß an die Horatianische Epistel auf; im 18. Jahrhundert wird das Vergnügen sodann selbständig als Endzweck und Wirkung der Dichtkunst hingestellt.   Wir dürften geneigt sein, dieser Erklärung einen gewissen Raum in der Begriffsbestimmung der Poesie zuzugestehen. Früh erregte jedoch schon Bedenken, auch die Wirkung der Tragödie schlechtweg als Vergnügen zu bezeichnen. Schiller suchte den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen festzustellen, giebt aber diesem Vergnügen einen eigenartigen Gehalt: es „gewähre uns die Zweckmäßigkeit eines jeden menschlichen Geschäfts an sich selbst Vergnügen“, „sie beziehe sich entweder gar nicht auf das Sittliche, oder sie widerstreite demselben“. Nun ist ihm aber insbesondre gewiß, „daß jedes Vergnügen, insofern es aus sittlichen Quellen fließt, den Menschen sittlich verbessert.“ Das ästhetische Vergnügen erscheint danach jedenfalls von allen sonstigen Vergnügungsarten wesentlich geschieden, ja den meisten geradezu entgegengesetzt. Der Begriff Vergnügen faßt so zum mindesten Ziel und Wirkung der Poesie nicht scharf genug.   Hierzu gesellt sich noch eine weitere Erwägung. Da wohl dasjenige Kunstwerk am höchsten steht, das seinen Zweck am vollkommensten erfüllt, könnte man, solange Vergnügen schlechtweg als poetische Absicht gilt, sich versucht fühlen, die Fastnachtspiele, Possen, Schwänke, oder andererseits Räubergeschichten, Kriminalnovellen, Kolportageromane u. dgl. auf die höchste dichterische Stufe zu stellen; denn unstreitig machen diese niedern Arten den meisten Menschen das meiste Vergnügen.   Den Ausschlag giebt ein Hinblick auf die Absichten des Dichters selbst. Wer im höheren Sinne Anspruch auf diesen Ehrentitel erhebt, schafft nicht in der Berechnung, dem Publikum Vergnügen zu bereiten: aus einer innern Nötigung wachsen alle echten Kunstwerke hervor. Nun kann die wahre Vollkommenheit einer Dichtung doch nur in vollendeter Erreichung der Absichten ihres Schöpfers bestehen. Folglich kann das Vergnügen nicht die Hauptwirkung des poetischen Werkes, sondern nur eine sekundäre Begleit- oder Folgeerscheinung derselben darbieten. Am wenigsten kann als Begriffsbestimmung davon die Rede sein, daß die Dichter (nützen oder) ergötzen wollen ( aut prodesse volunt aut delectare poetae ). § 14. Die Nachahmungstheorie in der Poetik.   Weiteste Anerkennung bis in unsere Tage hinein genießt die Definition der Kunst als Nachahmung der Natur. Auf jeden Zweifel antwortete die deutsche Poetik im Umkreis von anderthalb Jahrhunderten mit dem Hinweis auf die Autorität des Aristoteles. Dieselbe Auffassung verkündet und bethätigt aber der litterarische Nachwuchs der Gegenwart als angeblich neueste und vorgeschrittenste Offenbarung vom Wesen der Kunst.   Jn Wirklichkeit ist die Nachahmungstheorie schon deshalb unhaltbar, weil sie zu eng ist. Sie würde die Lyrik aus dem Bereich der Poesie ausschließen: denn wenn man schon zugestehen wollte, daß Epos und Drama in gewissem Sinne Begebenheiten, Handlungen und Charaktere nachahmen, so läßt sich in wissenschaftlicher Terminologie sicherlich nicht sagen, daß die Lyrik Gefühle „nachahmt“. Dieser Einwurf zu enger Fassung richtet sich nicht eigentlich gegen Aristoteles selbst, der in seiner Poetik eben nur Tragödie und Epos abhandelt. Daß er den Nachahmungstrieb zum Ausgangspunkt wählt, wird besonders durch seine wesentlich auf dem Drama fußende Betrachtung verständlicher.   Diese Definition erscheint indes nicht nur zu eng, sondern auch zu vag und allgemein. Sie giebt nur die an sich schon evidente Beziehung zum Stoff, nicht aber das ausschlaggebende Mittel, durch welches sich die Nachahmung von dem Vorbild scheidet, die Kunst über die Natur erhebt.   Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung ─ um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer wiederholt idealisierende Elemente der Poesie.   Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in dieser Auffassung nicht zur Geltung. § 15. Die Schönheitstheorie in der Poetik.   Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten. Allerdings will schon Lessings „Laokoon“ nur feststellen, „daß bei den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei“. Dahingegen „oft vernachlässiget der Dichter die Schönheit gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an die körperliche Gestalt garnicht denken“. Aber im übertragenen Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der Poesie als „schöner Darstellung des Schönen durch das Wort“.   Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, wenn sie ihr eine „schönfärberische“ Tendenz unterschieben und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt oder aber jeder andere, nicht rein angenehme Gegenstand in der dichterischen Darstellung nach der Seite der Beschönigung verfälscht würde.   Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung der behandelten Stoffe, daß ihre Darstellung einen möglichst anmutenden Eindruck hervorruft, zum mindesten nicht grell unser Schönheitsgefühl herausfordert.   Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven Ausdruck? Zielt Shakespeares „Richard III .“ auf möglichst weitgehende Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht eines Schönheitskultus geschaffen? Oder wird auch nur das Wesen einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie des Goetheschen „Prometheus“ durch die Schönheitstheorie irgend getroffen, geschweige erschöpft? „Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten, Wie ich!“ Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen finden; an ganz andern Seelenkräften wird es sich getroffen fühlen, weit mächtiger durchdrungen sein! Denken wir schließlich noch an Goethes „Götz von Berlichingen“ oder gar an Schillers „Räuber“. Jst deren Wesen irgend durch „Schönheit“ bezeichnet? Also wären es keine Dichtungen?! Aber wir schreiben von ihnen doch die Erneuerung, die Verjüngung unserer Litteratur her.   Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch am Rohstoff haften bleibt, das Streben nach Schönheit als oberstes Kunstgesetz zu eng befunden, in ihrem immer entschiedeneren Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung, deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen. Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen, das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich poetische Wirkung stört.   Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ, indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv, indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein, dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt.   Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt, die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu gewinnen. § 16. Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie.   Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt.   Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch hier entgegen. „Poesie ist tiefes Schmerzen, Und es kommt das echte Lied Einzig aus dem Menschenherzen, Das ein heißes Weh durchglüht“ ─ stöhnt der eine (Justinus Kerner), „Und singend einst und jubelnd Durchs alte Erdenhaus Zieht als der letzte Dichter Der letzte Mensch hinaus“ ─ jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt“, ─ dissentiert Schiller: „Jch glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt“.   Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos; sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung nicht völlig gesichert.   Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, ─ Auslassungen, die sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß geben sollen.   Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung kritisch beleuchtet wird. Variationen der Poesie. § 17. Variationen der Poesie: a ) in der Theorie.   Allen Definitionen der Poesie durch Theoretiker wie durch Dichter liegt naturgemäß eine Anschauung bestimmter Dichtungen zugrunde. Aber selbst die klassischsten Beispiele reichen nicht hin, um so weniger als es nicht bloß das Wesen der klassischen, sondern das aller Dichtung zu ergründen gilt. Ebenso hat, was der einzelne Dichter über seine Kunst gesteht, keine Verbindlichkeit für alle Dichter.   Die Thatsache verschiedener Offenbarungsformen der poetischen Kraft trat bis zu einem gewissen Grade bereits durch Lessings Kritik zu Tage. Schon er sieht sich genötigt, die griechische und englische Tragödie der französischen entgegenzustellen: freilich noch mit der Schlußfolgerung, daß sich letztere gegenüber den ersteren als eine unvollkommnere Dichtweise bekunde. Herder führt alsdann die zunächst überaus fruchtbare, wenn auch zu schroffe Scheidung von Volks= und Kunstdichtung ein. Schiller sucht der sentimentalischen Poesie einen gleichberechtigten Platz neben der naiven zu sichern, indem er die idealistische und realistische Geistesrichtung ausdrücklich als Quellen verschiedengearteter Poesie anerkennt. Unter dem Einfluß der Romantik erwächst die Gegenüberstellung von klassischer und romantischer Dichtung. Jm Laufe des 19. Jahrhunderts beginnt man neben der klassischen und der romantischen noch die realistische Kunstform als eine dritte Variation zur Geltung zu bringen. § 18. Fortsetzung: b ) in der Produktion.   Nicht allein in theoretischer Gruppierung gelangen Variationen der Poesie zur Anerkennung. Ersichtlich sehen die Dichter selbst zu verschiedenen Zeiten ihre Aufgabe gar verschieden an.   Unsere heimische Dichtung läßt diese Wandlungen typisch hervortreten. Der alte Volkssänger ist von rein stofflichem Jnteresse an der nationalen Sage erfüllt, die er als heilige Ueberlieferung unverfälscht und nur in den Schmuck der gefälligen poetischen Form gekleidet seinem Volke vermitteln will. Schon das Zeitalter der Kreuzzüge läßt den Gefühlsüberschwang, das Bedürfnis nach ästhetischem Genuß stark hervortreten. Die Dichtung des Reformationszeitalters zeigt sich von religiös=ethischen Tendenzen geleitet. Die Gelehrtenpoesie des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts hat ersichtlich den Verstand zu Gevatter gebeten; die Dichtung wird thatsächlich, was der Titel einer Gottschedianischen Zeitschrift verräterisch ausplaudert: Belustigung des Verstandes und Witzes. Aesthetische und religiössittliche Momente streben noch in Klopstocks und Schillers Poesie nach einem Ausgleich. Die humanistischen Ansätze der klassischen Periode steigern sich in Goethe zum Gipfel. Eine rein ästhetische Kunst um der Kunst willen gelangt in der Romantik zur Selbstüberbietung u. s. f. Aus einem jedenfalls weitgehend andersgearteten Drang greift der Dichter der Gegenwart zur Feder als das Germanenheer zur Zeit des Tacitus den Schild an den Mund legte, damit sein Schlachtgesang um so dröhnender gelle. Selbst ein Ludwig Anzengruber dichtet aus andern Voraussetzungen und zu andern Zwecken, vor allem nach andern ihm halb bewußt, halb unbewußt vorschwebenden Gesetzen als sein ebenfalls unserm Jahrhundert angehöriger Landsmann Franz Grillparzer. § 19. Fortsetzung: c ) in der Wirkung.   Noch heute läßt sich erkennen, wie die Poesie selbst von Zeitgenossen je nach Alter, Bildungsgrad und Jndividualität aus wesentlich verschiedenen Motiven gesucht und genossen wird.   Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den interessanten Jnhalt, den Stoff, die „Geschichte“ kennen zu lernen. Daneben sucht man eine Nahrung für das Gefühlsleben. Weiter gelangen namentlich Ungebildete selten. Sobald man eigene Anforderungen stellt, verlangt der größte Teil des Publikums, was schon die Xenien zur Zielscheibe berechtigten Spottes nehmen: „Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“ Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch die Neigung, den Jnhalt auf seine Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Eine weitere Alters- und Bildungsstufe erwartet wohl, daß die Tendenzen der Tagesströmung zur Aussprache gelangen u. s. f. Erst der voll ausgereifte Geist von geschlossener Bildung und Lebenserfahrung vermag den vollen Gehalt der humanistischen Dichtung auszuschöpfen ─ wie z. B. von Berthold Auerbach das bezeichnende Wort „goethereif“ geprägt wurde.   Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der Poesie hervortretenden Verschiedenheiten Parallelen zu der Variation, die wir im Laufe der geschichtlichen Entwicklung obwalten sahen. Jedenfalls wird unwiderleglich, daß die Poesie ─ so gewiß ihr ein einheitliches Wesen zugrunde liegen muß ─ zu verschiedenen Zeiten verschieden aufgefaßt wurde und noch heute von verschiedenen Personen verschieden aufgefaßt wird. Allgemeingültige Gesetze werden sich nur durch Berücksichtigung der sich vollziehenden Entwicklungen und Umbildungen gewinnen lassen. § 20. Verhältnis der poetischen Gattungen.   Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle poetischer Gattungen dar. Eine ungeschichtliche Auffassung könnte zu der Voraussetzung verleiten, sie wären stets in gleicher Mannigfaltigkeit vorhanden gewesen und hätten stets denselben Charakter an sich getragen.   Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen, weil er in einen nicht mit voller Klarheit durchdringlichen Nebel gehüllt ist, ─ auch wenn wir unsern Blick nur zu den ältesten Zeiten zurückschweifen lassen, die uns geschichtlich erreichbar sind, suchen wir vergebens den heutigen Reichtum poetischer Formen oder Gattungen. Vielmehr läßt sich bei allen nicht von außen beeinflußten Völkern zunächst nur eine gleichartige, höchst einfache, in jedem Sinne einförmige Poesie erkennen. Sofort wird die Ueberzeugung unabweisbar: die poetischen Gattungen bestanden nicht von vorn herein neben einander.   Daß sie nach einander entstanden, läßt sich wenigstens für das Drama bei den hervorragendsten Kulturvölkern im vollen Licht der Geschichte beobachten. Aber auch eine subjektive Lyrik können wir in selbständiger Entfaltung für die ältesten erreichbaren Zeiten geschichtlich nicht nachweisen. Freilich dürfte nun auch von epischer Dichtung im heutigen Sinne kaum die Rede sein; aber konkreter, objektiver Charakter herrscht grundsätzlich vor.   Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag sie sich nicht in abstrakten Wendungen auszusprechen.   1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der Masse auf, seiner Jndividualität wird er sich nicht bewußt, ja sie ist geistig nur im bescheidensten Maße vorhanden. Aber wäre die Jndividualität selbst bewußter ausgebildet, sie käme nicht zur Geltung, weil garnicht der Einzelne, sondern die Masse spricht. Das uns bekannte poesiegeschichtliche Material nötigt zu der Annahme, daß die älteste Dichtung chorartigen Charakter trug.   An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende Zeugnis, die Germania des Tacitus, ausdrücklich diese Eigenschaft: gemeinsam sangen die alten Germanen sowohl vor der Schlacht wie beim Mahle. Besonders hebt er Lieder hervor, durch deren Vortrag sie den Mut anfeuern und den Ausgang des bevorstehenden Kampfes aus dem Gesange selbst vorausdeuten. Ebenso wenig läßt der Vortrag der religiösen Gesänge, die auch für die älteste deutsche und griechische Dichtung bezeugt sind, subjektive Elemente zu. Wie aus den ersten poetischen Denkmälern der orientalischen Poesien erschließbar, wie es auch jedem späteren Kultusgesang natürlich, spricht diese Poesie aus den Empfindungen der gesamten Gemeinde heraus, gleichviel ob dieser selbst der Gesang zugeteilt ist oder aber der Priester sich an sie wendet, um ihre Herzen zur Gottheit zu erheben.   2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt auszusprechen. Jn konkreter Gestaltung veranschaulicht der religiöse Mythos das Walten der Naturmächte; in konkreter Erzählung bewahrt die Sage die nationalen Thaten der Vorzeit. Selbst individuelle Empfindungen, sobald die Zeit für ihre Aussprache reif geworden, leihen zunächst ein konkretes Gewand, eine Art epischer Einkleidung.   Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des Geliebten die Eigenschaften und Handlungen aufzählt, durch die er sich bei Lebzeiten ausgezeichnet: offenbar will sie durch Vergegenwärtigung seiner Vorzüge sich und andern die Größe ihres Verlustes klar machen. Man vergleiche noch die ältesten deutschen Minnelieder. „ Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen; dô hôrt ich einen ritter vil wol singen in Kürenberges wîse al ûz der menigîn: er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn .“ Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch accentuiert ist. Für die ältesten bekannten Gattungen der griechischen Lyrik steht nicht nur der chorische Vortrag, sondern ebenfalls ein starrer epischer Kern fest, der sich besonders in mythischen Elementen darbietet. Es wird klar: das Gefühl vermag sich zunächst nur an Thatsachen emporzuranken, es kennt keine geistigen Abstraktionen, nur greifbare Eigenschaften und Geschehnisse. § 21. Fortsetzung: Entwicklung.   Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter Abgehen von ursprünglich starrer Gegenständlichkeit wird vor allem durch die Entwicklung der epischen Dichtung selbst klar gespiegelt.   Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen in gedrungener Kraft eng an einander; für Reflexionen und Gefühlsausbrüche ist kein Raum. Damit vergleiche man die Gefühlserweichung, die das Nibelungenlied offenbart: wie nicht nur die milden und lieblichen Empfindungen den gigantischen Stoff durchsetzen, nicht nur der Stil der Erzählung von Beschreibungen und Reflexionen durchbrochen ist, sogar die Charaktere ihrer düstern Erhabenheit entkleidet, dem Typus idealer Normalmenschen angeähnelt sind. Und nun beachte man gar die unentrinnbare Ueberschwemmung und Durchtränkung von subjektiven und reflexiven Elementen, der all diejenigen Epen des sinkenden 12. und gar des 13. Jahrhunderts mehr und mehr ausgesetzt waren, deren Quellen nicht ─ wie noch im Nibelungenliede ─ teilweise auf älteren germanischen Stil zurückgehen. Statt Erzählung der Thatsachen tritt allmählich Auflösung derselben in Reflexion über die Thatsachen. Erst mit Beginn dieser Epoche aber, im 12. Jahrhundert, läßt sich eine deutsche Lyrik als selbständige Gattung durch fortlaufende Zeugnisse nachweisen, erst jetzt zum mindesten sind ihre Keime zum Blühen reif.   Nicht anders stellt sich die Entwicklung des Epos und ihr Verhältnis zur Lyrik in Griechenland. Abgebrochener, sprunghafter Stil, der nur in rohen Umrissen derb skizziert, läßt sich für die ältesten epischen Lieder erschließen. Homer zeigt in aller behäbigen Breite der Epopöe großen Stils noch die plastische Objektivität reiner Epik; fehlt es zwar durchaus nicht an reflexiven und selbst gnomischen Elementen, so sind diese doch den handelnden Personen in den Mund gelegt und entsprechen durchaus ihrem Charakter. Dagegen überwuchern solche Betrachtungen als subjektive Aeußerungen der Dichter in der späteren Epik, so entschieden sie im allgemeinen Anschluß an den Stil des Homer sucht. Die kyklischen Epiker sprechen nur zu häufig selbst, wo Homer seine Personen handelnd und redend sich unmittelbar vorführen ließ. Jn einer Entwicklung, die von der klassischen Philologie längst als streng organisch anerkannt ist, gelangt nun erst die Lyrik zu selbständiger Blüte ─ nun eben bricht sich erst die Subjektivität im Volksgemüte Bahn.   Auch in den orientalischen Poesien durchbricht das Einzelpersönliche erst in einer späteren Epoche die ursprünglich starre Einförmigkeit und Allgemeingültigkeit. Vom Drama gar ist auf den drei beobachteten großen Domänen der Weltpoesie auch am Anfang dieser vorherrschend lyrischen Periode noch nicht die Rede.   Ja, womöglich noch klarer wie die Lyrik sich aus epischen Elementen herauswickelt, sehen wir das Drama bei den antiken wie modernen Völkern ausdrücklich vor allem durch epische und in zweiter Linie durch lyrische Voraussetzungen bedingt. Aus Gesängen beim Dionysosfest hat sich das griechische Drama entwickelt: Man pries teils mit Ernst, teils mit Uebermut die Thaten und Funktionen des Gottes. Gesten und scenische Veranschaulichung belebten den Gesang. Anstelle der ursprünglichen Abwechselung zwischen dem Vorsänger und dem Chor trat erst allmählich eine Sonderung individueller Personen. Aehnlich bildete sich das Drama der modernen Völker aus dem christlichen Kultus heraus: Die Verlesung von Bibelstellen wurde, zunächst in der Passionszeit, durch Geberden und Rollenverteilung, alsdann durch dekorative Elemente veranschaulicht. Anstelle der Erzählung tritt die Empfindung der Einzelpersonen in den Vordergrund.   Aus alledem gelangen wir zu der gesetzmäßigen Wahrnehmung, daß die einzelnen poetischen Gattungen nicht nur nach einander entstanden sind, sondern sich in gewissem Sinne aus einander entwickelten. Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens beginnt damit für uns einen festen Jnhalt zu gewinnen. § 22. Analogie der Sprachentwicklung.   Der Verlauf geschichtlicher Entwicklung der Poesie hat zunächst etwas Ueberraschendes: Die Poesie fließt allem heutigen Anschein nach aus dem Geiste eines einzelnen Subjektes zu dem Geiste einzelner Subjekte, ─ und doch soll nicht die subjektive Empfindung, sondern die konkrete Objektivität den Anfang der Poesie bezeichnen!   Wir wissen nun bereits, daß die Subjekte in den ersten Epochen jedes Volkes noch nicht wesentlich aus dem Herdeninstinkt heraustreten; wissen ebenso, daß die zugrunde liegende Empfindung vorerst nur einen konkreten, an Thatsachen sich emporrankenden, in Anschauung gekleideten Ausdruck kennt.   Aber schon die Analogie der Sprachentwicklung erhärtet die allgemeine Geltung dieses Entwicklungszuges. Auch an der Sprache deckt Jakob Grimm eine Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen, von epischen bis zu dramatischen Vorstellungen auf. Jn der Einleitung zum ersten Teil seiner Deutschen Grammatik überschaut er an unserer Muttersprache bereits diesen Thatbestand: „Je weiter wir zurückgehn, desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt ... Der geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben.“ § 23. Scheinbare Ausnahmen.   Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar noch episch=lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung stellenweise bis zur Phantastik entartet.   Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte kaum abweisen. ─ Gar für die Edda unterliegt heute die späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen des Christentums keinem Zweifel mehr.   Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns überlieferten Mythen, besonders „Veda und Edda und was diesen beiden näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht ... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.“ § 24. Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.   Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen in betracht.   Daß sich bei jenen häufig Tänze und mimische Darstellungen mit lyrisch=epischen Vorträgen vereinen, veranlaßt zahlreiche Forscher zu der Annahme, in solchem Urbrei sei ein getreues Spiegelbild von den Anfängen menschlicher Poesie überhaupt zu sehen. Jndessen kann der heutige Zustand ungeschichtlicher wilder Stämme keine sichere Grundlage für unsere Auffassung vom Urstand geistiger Entwicklung bilden, am wenigsten gegen die Gesetzmäßigkeit der Gestaltung beweisen, in welcher sich uns die erreichbar oder erschließbar ältesten poetischen Schöpfungen der hervorragendsten Kulturvölker darbieten.   Auch Paul de Lagarde weist die Verfassung wilder Stämme als Zeugin für natürliche Urzustände ab. Zunächst im Hinblick auf religiöse Vorstellungen führt er aus: „Die aus dem Glauben jetzt lebender wilder Völker entnommenen Beweise dürfen nicht gelten. Der Mensch ist, weil fortdauernder Entwicklung fähig, weil unsterblich, weil ein Gedanke des göttlichen Geistes, nur in der Entwicklung, also nur in der Geschichte, Mensch. Ungeschichtliche Völker sind nicht das Normale, sondern die Wirkung einer Krankheit. Wer will aber dann aus ihrer Art, welche in That und Wahrheit nur Un-Art heißen darf, Schlüsse auf die an der Spitze der Entwicklung stehende, also gewiß, da sie die Fähigkeit der Vaterschaft besaß, kerngesunde Phase unserer Geschichte machen?“   Genug, nicht die Unnatur der ungeschichtlichen Wilden, die Naturzustände der geschichtlichen Kulturvölker haben wir aufzusuchen, wenn wir die Grundlage für die Entwicklung der uns bekannten Poesie gewinnen wollen. Das Wesen der Poesie. § 25. Religiöser Charakter der ältesten Poesie.   Wir stehen am Beginn unseres Weges. Vor uns liegt die vorgeschichtliche Zeit in undurchdringlichem Nebel, welcher auch den Quell der Poesie unserm Blicke entrückt. Auf Kombinationen heißt uns unsere Methode der Thatsachen verzichten. Nur so viel stellten wir bereits fest: sehen wir in geschichtlich erschlossener Zeit sich die Poesie nach einer bestimmten Richtung entwickeln, so kann in der noch unerschlossenen Zeit, der wir andauernd neue Jahrhunderte abringen, die Entwicklung nicht in umgekehrter Richtung geschehen sein.   Vor welche Thatsachen stellt uns aber die älteste erschlossene Poesie? So vielen Eingriffen im einzelnen Sprache und Stil derselben bei der Verpflanzung durch die Jahrhunderte ausgesetzt gewesen, die indischen Veden bleiben das der Zeit nach erste unter den erhaltenen poetischen Denkmalen der indogermanischen Völkerfamilie. Jm Rig-Veda hören wir die als Göttin personifizierte Rede ihre Macht also preisen: „Jch bin die Fürstin, Sammlerin der Güter, Zuerst hab' ich erkannt die heil'gen Götter; Drum haben sie mich überall verbreitet, Die ich in vieles dringe und drin weile. Jch zeug' des Weltalls Vater in der Höhe, Mein Sitz ist in den Wassern, in dem Meere, Von da verbreit' ich mich in alle Wesen, Berühr' mit meinem Scheitel dort den Himmel. Jch bin es, die da wehet gleich dem Winde, Jm Weh'n ergreif' ich alles, was da lebet, Jenseit des Himmels, jenseit dieser Erde; So groß bin ich durch meine Macht und Größe.“ An anderer Stelle unterrichten uns die Sänger selbst über ihre Mission: „Den Jndra hat die Götterschaar Zur Vitratötung ausersehn; Jhm tönet zu der Sänger Chor Zu hoher Kraft. Den Großen preisen wir mit Macht; Mit Loblied den, der Ruf erhört, Erheben ihn mit Liederschall Zu hoher Kraft ... Dies Preislied bringt, o Jndra, dir Der Sänger dar mit frommem Sinn, Das schwesterlich den Schritten folgt Beim Opferfest .“ Göttlichen Ursprungs rühmt sich demnach diese Poesie, und eine göttliche Mission glaubt sie zu erfüllen; die Götter erhebt sie und ragt selbst über Menschliches hinaus an den Himmel.   Religiös erhaben tritt uns auch die älteste bekannte Dichtung der Parsen entgegen. Jm Zend-Avesta fleht der Sänger zu Ormuzd: „Mir, deinem Freund, der zu dir betet mit Reinigkeit ..., gieb eine Zunge der Weisheit! ... Jetzt gieb mir alles Großen Vollendung! Meines Herzens Sehnen und Regungen müssen erhaben sein! Durch dich werden sie groß und glänzend wie des Tages Licht!“ Den gleichen, durchaus religiösen Gehalt zeigt, wie zur Genüge bekannt, die ältere hebräische Poesie. Sehen wir zu, wie ein solcher Sänger das Anheben seines Liedes motiviert. Der Lobgesang Mose schallt: „Singen will ich dem Herrn, denn er ist hoch erhaben; Roß und Reiter stürzt er ins Meer.“ Aehnlich bezeichnet Hannah die Ursache ihres Dankliedes: „Mein Herz frohlockt in dem Herrn! Erhoben ist meine Kraft durch den Herrn! Es thut sich mein Mund auf gegen meine Feinde, denn ich erfreue mich deiner Hilfe. “ All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein Gott gab, zu sagen“, was sie empfinden.   Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet: „Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern; Walvater wünscht es, so will ich erzählen Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“ „Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt: Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott, und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres Geschlechtes.“   Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt. Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte Snorra Edda: „Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' Bragi antwortete: ‚Die Götter hatten eine Fehde mit den Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat. Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein Blut in zwei Krüge und einen Kessel rinnen. Danach mischten sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand so klug gewesen sei, daß er sie ihm habe abfragen können.'“ Auf welche Weise nun auch die einzelnen Völker ihre Dichtergabe von den Göttern herleiten, religiös=erhaben ist thatsächlich die älteste uns erreichbare Poesie.   Aehnlich sehen wir in geschichtlicher Zeit neue Ansätze zu poetischen Entwicklungen vorherrschend von dem Religiös-Erhabenen ausgehen. Religiös ist überall der Ursprung des Dramas; im Zeitalter der Kreuzzüge, im Zeitalter der Reformation, mit den Gesängen des „Messias“ verjüngt sich unsere Dichtung dreimal; Goethe und Schiller beginnen ihre schöpferische Thätigkeit mit einem „Joseph“ und „Moses“. § 26. Die Erhabenheit der ältesten Poesie.   Jn durchgehender Uebereinstimmung betont die älteste uns erreichbare Poesie ihren erhabenen Charakter, ihr Ziel zu den Göttern zu erheben. Die Erhebung über das Jrdische, die Erhabenheit, tritt auf dieser ersten Stufe als Wesenheit der Poesie auf. Von einer Tendenz zur Schönheit ist dagegen noch nirgends die Rede.   Schon auf Grund dieser Betrachtung müssen Zweifel aufkommen, ob die bloße ungeschichtliche Gegenüberstellung von Erhabenheit und Schönheit haltbar ist. „Zwei Genien sind es,“ führt Schillers Abhandlung „Ueber das Erhabene“ aus, „die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der Eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindligte Tiefe. Jn dem ersten dieser Genien erkennet man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen.“ Aehnlich faßt Wilhelm Wackernagel das Verhältnis in seiner Poetik: „Die Einbildungskraft kann den Verstand vorübergehend gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urteile unzureichend ist. Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen.“   Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in diesen deduktiven Spekulationen: Das schöne Ebenmaß der griechischen Litteratur fällt später als die erhabene Gigantik der ältesten religiösen Poesie. Erst Jahrhunderte nach dem Hildebrandslied und der Edda weiß die germanische Poesie Formen zu finden, die anstelle der alten Felsschlucht-Zerrissenheit schöne Lieblichkeit setzen, ─ Klänge wie im Nibelungenlied von Volkers Fiedel: „Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang, Die stolzen Heimatlosen sagten ihm großen Dank“; wie in der Gudrun „die süße Weise Horunds“; und einen Sänger, „der uns Freude brächte“, wie Walther von der Vogelweide ersehnt.   So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaften desselben in jahrtausendelangem Werdeprozeß sich nach und aus einander herausgebildet haben. Keineswegs hat diejenige Fülle und Feinheit, über welche der heutige Geist verfügt, von vorn herein neben einander im Bewußtsein des Menschen gelegen. Erwacht doch auch im Geiste des Einzelmenschen zuerst das Gefühl für Erhabenheit: Religion, Furcht u. dergl., viel später erst das für Schönheit: Kunst, Liebe u. dergl. § 27. Vergöttlichung als poetisches Stilmittel.   Wie tief die Poesie in der Religion wurzelt, wie durchaus die Erhebung über das Jrdische auch weiterhin eine Tendenz der Dichtung bleibt, das offenbart sich im ganzen Verlauf der Weltpoesie. Weit entfernt, daß sich deren einzelne Perioden in buntem Wechsel ablösen, sehen wir vielmehr die einmal errungene Geisteskraft neben den neu herausgebildeten fortbestehen. Nicht schlechtweg anders, sondern reicher wird der Menschengeist.   Schreiten wir nämlich von den ältesten Dokumenten der Poesie einen Schritt weiter zeitlich vor, dann noch einen Schritt, und so fort bis in die Gegenwart, so sehen wir zwar neue Stoffe und neue Formen in zunehmender Fülle, ─ ohne daß doch die religiös=erhabene Empfindung zurückgedrängt ist. Keineswegs bloß die rein äußerliche und selbstverständliche Thatsache tritt uns entgegen, daß religiöses Empfinden zu allen Zeiten dichterischen Ausdruck sucht. Augenfällig wird vielmehr die Erscheinung, daß auch die menschlichen Helden, die nun für dichterische Gestaltung reif werden, von der Poesie zu göttlichem Schein erhoben werden, ja daß die Vergöttlichung geradezu die Hauptmethode der Poetisierung wird und bleibt.   Zunächst in der Heldendichtung. Die größere Episode „Nal und Damajanti“ im indischen „Mahabharata“ beginnt unmittelbar: „Es war ein König Nala, Des Virasena Sproß, Schön, hochbegabt und mächtig, Vertraut mit Wagen und Roß; Die Herrscher überragend Wie Jndra die Götterwelt ...“ Aehnlich wird die Heldin eingeführt: „Und als sie älter wurde, Umgab eine Mädchenschar Die holde Damajanti Wie eine Göttin gar ... Von Schönheit hehr und herrlich, Mit großem Augenpaar; Und unter allen Göttern Und unter Menschen war Ein solcher Liebreiz nimmer Vernommen noch gesehn; Ein herzentzückend Mädchen, Für Götter selbst zu schön !“ Bekundete schon der Vergleich mit den Göttern das Streben des Dichters, seine Heldin aus dem gewöhnlich menschlichen Bereich emporzuheben, so ist der Superlativ mit der Erhebung selbst über die göttliche Höhe erreicht: „Für Götter selbst zu schön!“   Ueberall legt die Sage und alte Dichtung ihren Helden gern göttlichen Ursprung bei. So ist noch die Heldin von Kalidasas Drama „Sakuntala“ nicht ohne göttliches Zuthun in die Welt getreten. Jm ersten Akt des indischen Dramas heißt es darüber: „Als einst jener königliche Weise am Ufer der G á utami strenge Buße übte, so gerieten die Götter darüber in Angst und sandten die Nymphe M é naka herab, um seinen Bußübungen Hindernisse in den Weg zu legen ... Jn den Tagen, wo der Frühling zur Erde niedersteigt, sah er ihre bezaubernde Schönheit, und da ─“ „Das Uebrige kann ich erraten,“ unterbricht der König zartfühlend die Erzählerin. „ Auf jeden Fall stammt sie von einer himmlischen Nymphe ...“   Von besonderer, grundsätzlicher Bedeutung ist der Schluß dieser Bemerkung: „Das stimmt auch zu allem. Wie könnte diese Huldgestalt Von einem ird'schen Weibe stammen? Der Wetterstrahl, der glänzend zuckt, Steigt nicht von dieser Erde auf.“ Scheint dem Redenden einmal die Geliebte über die andern Weiber emporzuragen, so ist damit die Vergöttlichung unmittelbar gegeben. Denn wie könnte es anders sein? „Wie könnte diese Huldgestalt Von einem ird'schen Weibe stammen?“ Ein solches Zeugnis wird um so bemerkenswerter, als wir uns mit ihm um anderthalb bis zwei Jahrtausende von den Grundlagen der religiösen Veda-Poesie entfernen.   Dieser Prozeß bleibt nicht auf die indische Poesie beschränkt. Aehnlich singt Homer von dem „göttergleichen Odysseus“ und giebt gerade dem Sänger den charakteristischen Beinamen des „göttlichen“: „... Denn ihm gab Gott überschwenglich Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt.“ Er ist der „Vertraute der Muse“, die, ebenfalls eine Gottheit, ihm das Lied eingiebt, „... deß Ruhm damals den Himmel erreichte.“ An späterer Stelle der Odyssee kommt dasselbe Stilmittel unter anderm zu folgender Verwendung: „Aber Nausikaa stand, geschmückt mit göttlicher Schönheit, Und betrachtete wundernd den göttergleichen Odysseus.“ Dieser seinerseits gelobt: „Täglich werd' ich auch dort wie einer Göttin voll Ehrfurcht Dir danksagen ...“ Sogar noch in der Parodie tritt dieselbe Neigung der Poesie hervor. Aristophanes läßt in seinen „Vögeln“ den Wiedehopf zur Nachtigall sagen: „Laß ertönen die Weisen geweihten Gesangs, Die aus göttlichem Munde dir quellen hervor ... Hell dringet hindurch durch der Bäume Gezweig Der süße Klang bis zum Throne des Zeus .“   So weit wir auch zeitlich vorschreiten und in welche Zone wir blicken, die Vergöttlichung blinkt uns immer wieder aus der Poesie entgegen. Ein Jahrtausend nach Christus benutzt der Perser Firdusi in seinem „Königsbuch“ gleichsam eine dramatische Form zur Aussprache der Gottähnlichkeit seines Helden: „Die Augen ihm, die Lippen küßte sie, Der Anblick, schien's, ersättigte sie nie. Sie pries den Schöpfer tausendfach darob Und sprach: ‚ Dem Herren, der dich schuf, sei Lob! Weil keiner sonst vergleichbar ist mit dir, Kein andrer Sohn des Schahs sich mißt mit dir!'“ Hier zeichnet der Dichter die Schönheit seines Helden durch ihre Wirkung: ihr Anblick stimmt religiös.   Wenden wir uns der Neuzeit zu, so kann es nicht überraschen, etwa einen Racine seinen König über die Götter erheben zu sehen, die, „von seinem Ruhm geblendet, den Nektar geringer schätzen, als die hohe Lust, Ludwig nahe zu sein“ ─ in solchen Wendungen richtet sich leibhaft „Der Ruhm an die Musen“. Aber Racine läßt auch die Gottheit der Liebe vom Himmel steigen, damit sie den schönen Augen der Geliebten huldige. Und zahlreiche andre moderne Dichter haben dieselbe Gottheit zu ähnlichem Zwecke bemüht.   Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller „Die Macht des Gesanges“ ausdrücklich als religiös schildert: „So rafft von jeder eiteln Bürde, Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde Und tritt in heilige Gewalt; Den hohen Göttern ist er eigen, Jhm darf nichts Jrdisches sich nahn, Und jede andre Macht muß schweigen, Und kein Verhängnis fällt ihn an.“ Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse Gefühle zu Tendenzzwecken geheuchelt haben, müssen sie in Ausübung der Dichtkunst wirklich etwas empfunden haben, das dem religiösen Gefühl nahe kommt.   Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen heranzieht, kleidet gerade „Künstlers Morgenlied“ in religiöse Bilder: „Der Tempel ist euch aufgebaut, Jhr hohen Musen all, Und hier in meinem Herzen ist Das Allerheiligste .“ Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er „Liebchens Kammer“, wahrlich nicht in heiliger Absicht, betritt: „Willkommen, süßer Dämmerschein, Der du dies Heiligtum durchwebst! ... Jn dieser Armut welche Fülle, Jn diesem Kerker welche Seligkeit! ... O liebe Hand! so göttergleich! Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich .“ Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang hebt er, indem er sinnt: „Und hier mit heilig reinem Weben Entwirkte sich das Götterbild .“ Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser Drang treibt ihn wahrlich nicht, wenn er in der „Braut von Abydos“ singt: „Wen dünkten Worte nicht zu arm und schal, Zu bannen fest der Schönheit Himmelsstrahl ?“ Selbst in seinem so unheiligen Don Juan singt er: „Sie liebte, ja, sie betete ihn an, ─ Sie ward geliebt, als Heilige verehrt “ (im Original „ worshipped “). Auch hier greift, wo jedes menschliche Maß zu schwinden beginnt, der Dichter zur Vergöttlichung seiner Gestalten.   Die letzten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Stilmittels zerstreut ein Hinblick auf die neueste naturalistische Dichtung. Obgleich diese sich geneigt zeigt, möglichst alles Geistige auf physische Ursachen zurückzuführen, flutet sie wie jede andere Poesie von Vorstellungen aus göttlichem Bereich über. So hebt ein Vorkämpfer dieser Richtung, Wilhelm Arent, gleich im Prolog seiner Lieder an: „Der reinsten Stirne Götterlinien trügen, Süßester Rehaugen Madonnenstrahlen lügen! Fremd bleibt dem Weib Des Künstlers Himmelsstreben .“ Das erste Lied selbst beginnt: „Du bist so stolz und rein, Du lilienblasse Maid, Dich küßte in der Wiege Des Himmels Herrlichkeit.“ Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von ihrem Liebhaber als „ Göttin und Jdol “ feiern, ja ihr die Verse widmen: „Mein flammend Herz ─ das ist ein Tabernakel: Zu Weihrauch dort verbrennen deine Mängel. Und aus der Flamme steigst du ohne Makel, Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein Engel .“   Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht, wird recht augenscheinlich, wie weit diese Vorstellungen selbst in die Alltagssprache eingedrungen sind, wo immer sie nach dem Ausdruck gehobener Gefühle ringt. Jedermann bezeichnet seine Auserkorene gern als „Engel“ oder gar als „Göttin“; auch Erdenfürsten wird „Weihrauch“ gestreut; ein junges Wesen findet womöglich die eigene Kleidung „himmlisch“ ─ und so schwächen sich alle Begriffe durch häufigen Gebrauch ab. Schaltet indes jemand gar zu freigebig mit solchen Wendungen: Engel, Madonna, himmlisch u. dergl., so nennen wir ihn nicht etwa „religiös gestimmt“, sondern ausdrücklich „poetisch“.   Man hat sich gewöhnt, den Anthropomorphismus der menschlichen Phantasie hervorzuheben, die Modelung alles Außermenschlichen nach menschlichen Begriffen. Jn Art dieses technischen Ausdruckes ließe sich nach alledem von einem Theomorphismus der Poesie sprechen, von ihrer Neigung, das Jrdische in überirdischen Schein zu erheben. § 28. Heroische Epoche der Poesie.   Wollten wir aus unsern bisherigen ersten Wahrnehmungen ohne weiteres das Grundgesetz aller Poesie formulieren, so müßte es notgedrungen einseitig ausfallen, wofern wir nicht den von späteren Dichtungsepochen geschaffenen Stilmitteln gleicherweise nachgegangen sind.   Von welcher Seite kommt der Poesie die nächste Bereicherung zu, sobald sie den ausschließlich religiösen Charakter aufgegeben?   Mit einer unverkennbaren Gesetzmäßigkeit leuchtet uns nunmehr das heroische Jdeal entgegen. Eine Beziehung zur Gottheit wird noch gesucht, und man knüpft die ältesten und tapfersten Helden, von denen die Sage berichtet, die Stammväter, an das Geschlecht der Götter an. Diese Halbgötter-Halbmenschen ragen nun ebenfalls noch ohne weiteres über die bloßen Menschen hinaus; zudem begabt sie der Dichter in reichem Maße mit durchgehenden Jdealen des Heldentums.   Als Denkmal der Heroenzeit lernten wir bereits das indische Nationalepos „Mahabharata“ kennen. Vergegenwärtigen wir uns nochmals den Beginn der Episode „Nal und Damajanti“: „Es war ein König Nala, Des Virasena Sproß, Schön, hochbegabt und mächtig, Vertraut mit Wagen und Roß .“ Alsbald erfahren wir weiteres über die heroischen Jdeale: „Jn Nischadha, da thronte Der fromme Nal, der Held, Der Edle, Vedakund'ge, Der große Führer im Feld: Ein sichrer Schütz', ein Herrscher Wie Manu selber traun! Der eignen Sinne Meister, Ein Liebling schöner Frau'n .“ Schließlich: „So gab's auf Erden keinen, Der Nal, dem Helden, glich, Der selbst dem Liebesgotte An Wohlgestalt nicht wich.“ Ebenso wohlgebildet ist die weibliche Jdealgestalt der Heroenzeit: Holdselig in Anmut strahlend, Voll Liebreiz wunderbar, Schlankleibig und schönäugig, Blühend in Jugend ganz.“ ─   Als außergewöhnliche Menschen erscheinen auch die Helden des Homer. Wie weiß er nicht sofort Odysseus als bedeutungsvollen Charakter vorzustellen: „Sage mir, Muse, die Thaten des viel gewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitten gelernt hat, Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet.“ Eine Fülle von Heldencharakteren zeichnet vor allem die Jlias. Nun auch ist die Harfe „lieblich klingend“; „das Lob der Helden zu singen“, wird als ihr Zweck bezeichnet. Nicht mehr des Opfers, „des festlichen Mahles Gespielin“ ist sie. Aber noch immer gilt: „Alle sterblichen Menschen der Erde nehmen die Sänger Billig mit Achtung auf und Ehrfurcht; selber die Muse Lehrt sie den hohen Gesang.“ Wie schon Homer zaubert auch Firdusi vor unsern Blick einen „Sänger mit der Leier, lieblich singend“; und er singt: „Das ganze Land, so weit es sich erstreckt, Jst mit Geschmeide, Seid' und Gold bedeckt; Die Priester dort sind goldbediademt, Die Großen tragen Gürtel goldverbrämt .“ Also selbst die Priester sind jetzt goldbediademt! Desgleichen die Dichter: „Aus diademgeschmückter Sänger Reih'n Erscholl Gesang.“ Der Held ist wiederum der Unvergleichliche: „O ─ riefen alle Frau'n ─ der Kühn aufstrebende, Der Kronen werte, stolz sein Haupt Erhebende, Den andern Menschen gleicht er nun und nimmer; Es strahlt sein Geist aus ihm mit hellem Schimmer.“ Jst er schon ein Mensch, so gleicht er wenigstens nicht andern Menschen.   Kampf ist natürlich das eigentliche, ursprünglich wohl ausschließliche Element dieser Heroendichtung. „ Von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen “ ─ lautet die Vorankündigung des Nibelungenliedes.   Aber dieses Gedicht wie die übrigen vorgeführten Nationalepopöen gehören bereits einer weit vorgeschrittenen Periode der heroischen Epoche an, wo Glanz und Behagen errungen waren. Der älteren Heldendichtung scheint Schönheit nur als Kraft begehrenswert gewesen. Dieser Zusammenhang mit der alten Erhabenheit der Poesie läßt sich gerade noch auf germanischem Gebiete verfolgen, wie überall wo einige wenn auch noch so spärliche Reste von jenen heroischen Einzelliedern erhalten sind, welche der ausgeführten litterarischen Epopöe vorangehen. Das Hildebrandslied und die in die Edda aufgenommenen Heldenlieder vermitteln uns die rauhe Kraft und furchtbar tragische Gewalt des alten Heldentums.   Doch alle Zeugnisse aus der Heroenzeit beweisen gleichmäßig, daß noch immer, trotz des Herabsteigens von den Göttern zu den Heroen, eine Erhebung über die gewöhnlich menschliche Sphäre in der Tendenz der poetischen Entwicklung liegt. Als außergewöhnlich, einzig in ihrer Art erscheinen die Helden, ausgezeichnet durch Kraft, Tapferkeit, Hoheit, Wohlgestalt, Beliebtheit bei Frauen, nicht minder durch äußern Schmuck: Kronen, Gold, Geschmeide.   Wenn statt der Erhabenheit schon stellenweise die Schönheit gepriesen und erstrebt wird, so offenbart sich damit nur eine neue Erscheinungsform desselben Prinzipes: Der Dichter sucht mit seinem Ausdruck die ungewöhnliche Größe seines Helden zu erreichen. Ragt dieser über Menschliches völlig hinaus, so kann der dichterische Ausdruck sich ihm nur annähern, ihn nicht erreichen, ─ wird danach erhaben. Jn dem Maße aber, wie der Held in die menschliche Sphäre hineinragt, vermag das Wort des Dichters ihn konform zu erreichen; und die geschlossene Harmonie zwischen Form und Jnhalt nennen wir Schönheit. § 29. Heldenhafte Vorstellungen in der Poesie.   Wiederum bestätigt sich der Grundsatz, daß dem menschlichen Geiste nichts verloren geht, was er einmal errungen hat: ein Ausfluß des Theismus der ältesten bekannten Poesie war der Theomorphismus, als Ausfluß des Heroismus der zweiten großen Epoche darf man eine Art von poetischem Heroomorphismus ansetzen, das Fortleben heldenhafter Vorstellungen in aller künftigen, wie immer sonst gearteten Poesie.   Die durchgreifende Wirksamkeit dieses geistigen Erbes läßt sich ebenfalls auf fast jeder Seite der Weltlitteratur nachweisen.   Jn diesem Zusammenhang erscheint es nicht mehr als „Eigentümlichkeit“, sondern als Gesetzmäßigkeit, wenn die Minnepoesie des Mittelalters die Liebe gern als Lehnsverhältnis faßt. Kein Zufall darf uns gelten, daß die poetische Auffassung von den Beziehungen beider Geschlechter noch heute einen Nachklang dieser Auffassung bietet. Auch andere Vorstellungen solcher Art blieben noch der neueren Dichtung erhalten. Shakespeares Desdemona spricht von dem Geliebten nicht nur in Wendungen wie:   „Mein Herz ergab sich Ganz unbedingt an meines Herrn Beruf“; sie verwendet ebenso gegen den Vater die Vorstellung: „Jhr seid Herrscher meiner Pflicht.“ Boileau schreibt eine „Apologie der Wahrheit“ in Ausdrücken wie: „sie muß regieren, glänzen, siegen“ u. s. f., alles doch Vorstellungen, die dem Helden- und Herrschertum entnommen sind. Vergleichen wir, welche Bilder Rousseau von seinem Aufenthalt auf der Jnsel St. Pierre entrollt: „Der erhabene und hinreißende Anblick des Sees und seiner Ufer, gekrönt von nahen Bergen“ &c., ebenso Lamartine: „dort die einsame Eiche, von welcher der Felsen gekrönt ist“. Lesen wir in demselben Gedicht („Die Eiche“) vom Riesen, superben Koloß u. dergl. als Sinnbild, so sind wiederum Vorstellungen des Heroenzeitalters auf heterogene Erscheinungen zu poetischen Zwecken übertragen. Auch Goethe wendet in „Willkommen und Abschied“ auf die Eiche dasselbe Bild an: „ein aufgetürmter Riese“. Selbst Dorothea, das landflüchtige Mädchen, wird dem Dichter zur „Heldin“, und zwar in einer Lage, die das Mädchen nichts weniger als heldenhaft, vielmehr gerade weiblich hilfsbedürftig erscheinen läßt: „Es knackte der Fuß, sie drohte zu fallen ... Und so fühlt er die herrliche Last ..., Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes“ ─ nämlich Hermann, als er die stolpernde Geliebte stützt, um sie vor dem Fall zu bewahren.   Auch Schiller verwendet in ausgedehntem Maße Vorstellungen aus heroischem Bereich; von besonderer Bedeutung ist die in den „Künstlern“ gebotene Charakteristik der Schönheit selbst als Majestät mit der Krone: „... die, eine Glorie von Orionen Ums Angesicht, in hehrer Majestät, ... Die furchtbar herrliche Urania, Mit abgelegter Feuerkrone Steht sie ─ als Schönheit vor uns da.“   Typischen Ausdruck für die Beziehung der Liebe zu heldenhaften Vorstellungen findet Byron, wenn er in der „Braut von Abydos“ ruft: „Wer fühlte nicht, bis, von dem eignen Glück Geblendet, fast erblindete sein Blick, Bald rot, bald bleich, verzehrt von Lust und Leid, Die Macht, die Majestät der Lieblichkeit?“   Jn gewöhnlicher Auffassung stellen wir uns die Lieblichkeit am wenigsten königlich vor. Es ist aber poetisches Stilmittel, auch das Naive und Schlichte in eine vornehme Region zu erheben.   Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung dieses poetischen Stilmittels: „Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund, aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher Wehmut deckte ihre vornehmen Züge. Jch ergriff ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre schmalen Finger drückten die meinen mit einem krampfhaften Druck.“ Die „schmalen Finger“ gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit. Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung. Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist: „Als sie oben auf der Bühne stand,“ philosophiert er über die weibliche Hauptfigur, „war wenigstens ein Schatten äußerer Vornehmheit vorhanden. Jetzt ─ ... mir gegenüberhockend ─ ... o jetzt fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung.“ Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg.   So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen, die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl. § 30. Die Natur als Anschauung und Sinnbild.   Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich= Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen diesen Wandlungen: auf den Gott oder Gottmenschen folgen die Fürsten und Helden als Gegenstand dramatischer Behandlung, erst im 18. Jahrhundert hebt das „bürgerliche Trauerspiel“ an. Aber noch immer haben die älteren poetischen Gattungen, Epos und Tragödie, im wesentlichen heroischen Charakter bewahrt, während die jüngeren, Komödie und Roman, fast durchweg bürgerlichen Charakter tragen.   Um welche charakteristischen Elemente bereichert sich nun die Poesie, sobald sie aus dem Bezirk des Einseitig-Heroischen herausblickt, um die Menschheit selbst unmittelbar zu verklären?   Zunächst sind bereits alle Mythologien aus Naturbeseelung hervorgegangen. Man kann deshalb nicht eigentlich behaupten, das Naturgefühl sei spät erwacht; wohl aber ist die Naturschwärmerei Erzeugnis einer jüngeren, verhältnismäßig vorgeschrittenen Zeit. Doch im Mythos erscheint die Natur noch unter Menschengestalt. Ein neues Reich beginnt für die Poesie, sobald der menschliche Geist die Natur unmittelbar in ihrem Organismus und Mechanismus erfaßt.   Neue poetische Gattungen verdanken dieser Wendung ihr Entstehen. Nach dem Heldenepos bildet sich das Tierepos aus; die Tierfabel ist gar erst ein moralisierender Ausläufer der ursprünglich naiven Tierdichtung. Ebenso fällt in die Spätzeit des Naturgefühls die Entstehung des Jdylls. Doch überhaupt wächst jetzt eine Poesie an, welche die Tiere teils als Gefährten des Menschen, teils als Sinnbilder menschlicher Eigenschaften vorführt ─ man denke auch an die Aristophanischen Komödien „Die Vögel“ und „Die Frösche“.   Schon früh muß die Tierwelt zu einsilbigen Vergleichen herhalten: in der Jugendepoche der Sprache und besonders bei der Namengebung spielen solche Symbole bereits eine Rolle. Gewiß ist den Nomadenvölkern gerade ein Blick in die Tierwelt am nächsten, sobald ihnen die Götter und Heroen nicht mehr ausschließlich Gegenstand der Weihe und Verherrlichung geblieben.   Ein weiterer Schritt geschieht dann mit Anwendung der gesamten, unmittelbar angeschauten Natur als Bild für menschliche Verhältnisse. So bietet schon Homer ausgeführte Vergleiche mit dem Tier- und Pflanzenreich sowie den Naturgewalten, besonders der Welt des Meeres. Jm 13. Gesang der Jlias heißt es so:   „... Da taumelt' er hin, wie die Esche, Welche hoch auf dem Gipfel des weitgesehenen Berges Abgehaun mit dem Erz ihr zartes Gezweig hinabstreckt; So sank jener, umklirrt von dem Erz der prangenden Rüstung.“ Oder gar im 11. Gesang: „Wie wenn oft ein Jäger die Schar weißzahniger Hunde Reizt auf den grimmigen Eber des Waldthals, oder den Löwen: So auf die Danaer reizte die edelmütigen Troer Hektor, Priamos Sohn, dem mordenden Ares vergleichbar. Selbst voll trotzendes Muts durchwandelt' er vorn das Getümmel, Stürzte sich dann in die Schlacht, wie ein hochherbrausender Sturmwind, Der in gewaltigem Sturz die dunkelen Wogen empöret.“ Oft kehren ähnliche Vorstellungen in Gleichnissen Homers wieder.   Vor allem schwelgt schon die jüngere indische Poesie üppig in Naturvergleichen behufs Heraushebung des Gegenstandes aus der nüchternen Wirklichkeit. Wie sich einst der Dichter schier nimmer an der Versenkung ins Göttliche ersättigen konnte, so kann er sich jetzt an Versenkung in die Natur nicht genugthun. Auf solche neue Weise poetischen Zauber zu verbreiten, gelingt namentlich auch dem „Wolkenboten“, einem Kalidasa zugeschriebenen Gedicht: „Denn wie bei Sonnenuntergang Sich schließt der zarte Kelch der Blüte, So schließt sich bei der Trennung auch Der Frauen blumengleich Gemüte ... Von dort laß deines Blitzes Blick Jns Jnn're ihres Hauses schimmern, Doch nur mit mildem, mildem Schein, Wie Nachts Johanniswürmchen flimmern ... Wohl wird sie hingeschwunden sein Jn schmerzensvollem, bangem Hoffen, Wie wenn des Lotos zarte Blüt' Von einem Froste hart getroffen.“ Schon darin bietet sich das charakteristische Zeugnis einer neuen Epoche der Poesie, daß eine Wolke als Liebesbote ausgesandt wird. Wir mögen uns erinnern, daß ähnlich der Schillerschen Maria Stuart „eilende Wolken, Segler der Lüfte“ als Boten an ihr Jugendland dienen.   Durch das Christentum wird zunächst der Sinn von der Natur abgezogen und zum Uebersinnlichen erhoben. Nicht ohne Einfluß lateinischer Dichtungen bricht der Natursinn wieder durch. Bei uns in Deutschland gewinnt diese Richtung der Poesie im 12. Jahrhundert eigentliche Ausdehnung. Als bezeichnend für den ritterlichen Geist damaliger Dichtung trat uns schon die Einführung gerade des Falken, des ritterlichen Jagdtiers, entgegen. Betrachten wir, nach welchen Richtungen dieses poetische Motiv gewendet wird. Der Kürnberger singt: „ Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. dô ich in gezamete, als ich in wolte hân, und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant, er huob sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant .“ Aehnlich träumt im Nibelungenlied Kriemhild  „ in tugenden, der sie pflac, wie sie einen valken wilden züge manegen tac, den ir zwên arn erkrummen, daz si daz muoste sehen, ir erkunde in dirre werlde nimmer leider sîn geschehen .“ Die Mutter vollendet ausdrücklich das Bild: „ Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man: in welle got behüeten, du muost in schiere vloren hân .“ Zu einem andern Bilde verwendet ihn Dietmar von Aist: „Sô wol dir valke daz du bist! du fliugest, swar dir lieb ist; du erkiusest dir in dem walde einen boum, der dir gevalle.   Alsô hân auch ich getân: ich erkôs mir selben einen man ...“ Weniger äußerlich verwendet Hartmann von Aue im „Erec“ dasselbe Tier als Bild: „ Dô einz daz ander an sach, sô was in beiden niht baz dann einem habech, der im sîn maz von geschihten ze ougen bringet, sô in der hunger twinget: und als ez im gezeiget wirt, swaz er's dâ für mêre enbirt, dâ von muoz im wirs geschehen danne ob er's niht hete gesehen .“   Vor allem ist es unter den Tieren das Roß, welches in der epischen Ritterdichtung der Romanen wie der Germanen Beachtung findet. Jn der Minnelyrik spielt aber bereits die Nachtigall ihre Rolle. Das Ausgehen eines Minneliedes von der Naturfreude, besonders im Mai, überhaupt im Frühling und Sommer, ist zu einem feinen Kunstmittel ausgebildet. Vergleiche zwischen Natur und Liebe stellen sich so von selbst ein, wie sich denn in Gleichnissen überhaupt die Anteilnahme an der Natur am offensten bekundet.   Herr Ulrich von Gutenburg singt von der Geliebten: „Si ist mîn sumerwünne. Si sæjet bluomen unde klê in mînes herzen anger: des muoz ich sîn, swiez mir ergê, vil rîcher fröiden swanger. Ir güete mich vil lützel lât dekeinen kumber müejen. der schîn der von ir ougen gât, der tuot mich schône blüejen, Alsam der heize sunne tuot die boume in dem touwe. sus senftet mir den swæren muot von tage zu tage mîn frouwe. Ir schœner gruoz, ir milter segen, mit eime senften nîgen, daz tuot mir einen meien regen reht an daz herze sîgen.“ Vergleiche mit den Gestirnen lagen der neuen religiösen Minnelyrik nahe, dringen aber bald in die weltliche Dichtung ein. Vor allem auch im Nibelungenlied finden sie Verwendung. Von Lyrikern handhabt sie Heinrich von Morungen mit künstlerischer Meisterschaft: „ Ir tugent reine ist der sunnen gelîch, diu trüebiu wolken tuot liehte gevar, swenne in dem meien ir schîn ist so klâr .“ Walther von der Vogelweide, der in seinen Anlehnungen an Reinmar von Hagenau noch eigentliche Teilnahme für die Natur vermissen läßt, hat in seiner selbständigen Blüte gerade durch sinnige Naturbetrachtung seinen Liedern so lichten Schein und frischen Duft verliehen. Hier ist das Verhältnis zwischen Natur und Geist zu voller Traulichkeit gediehen. „Wie wol der heide ir manicvaltiu varwe stât! sô wil ich doch dem walde jehen, daz er vil mêre wünneclîcher Dinge hât: noch ist dem velde baz geschehen. sô wol dir, sumer, sus getâner hôchgezît! sumer, daz ich iemer lobe dîne tage, trôst, sô trœste ouch mîne klage. ich sage dir waz mir wirret: der mir ist liep, dem bin ich leit.“ Wie wir den Dichter zu der Natur sprechen hören, so leiht er selbst der Pflanzenwelt Zungen: „ Dû bist kurzer, ich bin langer: alsô strîtents ûf dem anger, bluomen unde klê .“ Dem entsprechend begegnen auch in den Bildern ─ nicht mehr bloßen Vergleichen ─ neben den typischen Beziehungen zu den Gestirnen durchaus eigenartige Naturanschauungen: „ Des fürsten milte ûz Osterrîche fröit dem süezen regen gelîche .“ Oder: „ Friundes lachen sol sîn âne missetât, süeze als der abentrôt, der kündet lûter mære .“ Dahingegen kann er sich an Bildern für trügerisches Lachen kaum genugthun: „Ich hân gesehen in der werlte ein michel wunder: wærz ûf dem mer, ez diuhte ein seltsæne kunder; des mîn fröide erschrocken ist, mîn trûren worden munder. daz glîchet einem bœsen man. Swer nu des lachen strîchet an der triuwen stein, der vindet kunterfeit. er bîzet, dâ sîn grînen niht hât widerseit. sîn valscheit tuot vil manegem dicke leit. zwô zungen habent kalt und warm, die ligent in sîme rachen. in sîme süezen honge lît ein giftic nagel. sîn wolkenlôsez lachen bringet scharpfen hagel. swâ man daz spürt, ez kêrt sîn hant, und wirt ein swalwen zagel.“ Genug, wo wir die Poesie über kurze Heldenlieder hinaus zur litterarischen Nationalepopöe herangereift sehen, treffen wir bereits Einkleidung in Naturbilder oder doch ausgeführte Vergleiche. Jn der Lyrik gelangt diese Versenkung in die Natur zu voller Ausbildung. Während zunächst menschliche Gestalt im Gewande des Tier= oder Pflanzenlebens, der Gestirne oder der Naturgewalten auftritt, sind mit zunehmender Reflexion auch bloße Gefühle in Beziehung zu gleichgearteten Naturkörpern gesetzt. Sehr bezeichnend verliert der Einzelgegenstand mit Anknüpfung solcher Beziehung, mit Einkleidung in solchen Schein, den Charakter des Rohstoffes, um durch den Vergleich poetische Beleuchtung, durch das Bild poetisches Wesen zu gewinnen.   Ueberhaupt wird die Natur nun in ausgedehnte Beziehung zum Menschenleben gesetzt. Alle Gebiete der Natur durchmißt des Dichters Blick, um ein poetisches Seitenstück für das Menschentreiben zu gewinnen: „Ich hôrte ein wazzer diezen Und sach die vische fliezen; Ich sach, swaz in der welte was, Felt unde walt, loup, rôr unt gras, Swaz kriuchet unde fliuget Und bein zer erde biuget, Daz sach ich, unde sage iu daz: Der keinez lebet âne haz.“ Damit hat der Dichter sein Thema, wenn auch nicht mehr wie früher wörtlich in eine höhere, so doch in eine weitere Sphäre gehoben. Dies Jnbeziehungsetzen zum Höheren oder Weiteren erscheint danach immer als eine Methode der Poetisierung.   Eine letzte Wendung im Verhältnis des Menschen zur Natur tritt mit Störung der naiven Harmonie zwischen beiden ein: der Mensch fühlt die Entzweiung und sehnt sich nach Harmonie mit der Natur zurück. Schon in der griechischen Dichtung ist diese Periode durch die Schöpfung des Jdylls bezeichnet. Eine sentimentale Sehnsucht nach Naturzuständen bekundet schon damals am unmittelbarsten den Verlust der Natur. Für die moderne Welt bezeichnet Jean Jacques Rousseau den vollen Ausbruch dieser Naturschwärmerei, Goethes „Werther“ ihren Gipfel.   Wie recht eigentlich durch solch ein Sehnen nach Harmonie mit der Außenwelt der Stoff poetische Beleuchtung erfährt, zeigt sehr deutlich ein Gedicht Ch é niers: „Die junge Gefangene“. Für die Guillotine bestimmt, ruft sie in heißem Lebensdrang: „Jch will noch nicht sterben“. Das wäre nun an sich durchaus noch kein poetischer Ausruf; aber sie leitet ihn folgendermaßen ein: „Die wachsende Aehre reift, von der Sense verschont; ─ ohne Furcht vor der Kelter trinkt die Rebe jeden Lenz die linden Gaben der Morgenröte; und ich, wie sie schön, und jung wie sie, was auch die Gegenwart an Schmerz und Unruh' bringt, ich will noch nicht sterben.“ Erst mit dieser Begründung hat der an sich willkürliche Wunsch, wenn nicht für unsern Verstand, doch für unser Gefühl Berechtigung gewonnen.   Wie sonach die Poesie Himmel und Erde, die ganze Schöpfung beschwört, um ihren Gestalten höheren Glanz, künstlerische Beleuchtung zu verleihen, zeigt mit gewohnter Meisterschaft auch Byron, so in der „Braut von Abydos“: „Die Barke teilend, woll' ihr Segen leih'n, Und meiner Arche Friedenstaube sein! Ach! da der Welt voll Kampf dies Glück entzogen, Sei für des Lebens Sturm der Regenbogen, Der Abendstrahl, der durch die Wolken bricht Und eines schönern Morgens Glanz verspricht!“   Andauernd sehen wir menschliches Wesen in außermenschliche Natur-Sinnbilder gekleidet. Eine Art Physiomorphismus hat statt: durch physische Beziehungen von charakteristischer Eindrucksfähigkeit gewinnt der Stoff poetische Form. § 31. Allegorie und Symbol.   Wir sahen nicht nur den menschlichen Körper, schließlich bereits den menschlichen Geist in Natursinnbilder gekleidet, in physiomorphische Beziehung gerückt. Wie die Erschließung der Natur auf das theistische und heroische Zeitalter der Poesie folgt, finden wir nun überhaupt als viertes Reich die Herrschaft des Geistes begründet. So wird schließlich Körperliches und Geistiges allgemein in Austausch gesetzt.   Das Abstrakte einerseits wird in konkreter Gestalt poetisch. Jn der deutschen Dichtung zeigt sich die Neigung zu solcher Allegorie (d. i. zu anderem, nämlich bildlichem Ausdruck ) zunächst spärlich in der Personifikation der „Frau Minne“, erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts; dann ruft auch bald Walther von der Vogelweide: „Frô unfuoge, ir habt gesiget.“   Ausgedehnter findet sich diese Darstellungsweise schon in Gottfrieds „Tristan“: „Ir kleider wâren ûf geleit mit vier hande rîcheit, und was der vierre iegelîch in ir ambete rîch. daz eine daz was hôher muot; daz ander daz was vollez guot; daz dritte was bescheidenheit, diu disiu zwei ze samene sneit“ u. s. f. Ueberhand nimmt die Allegorie in der Didaktik des 13. Jahrhunderts, wie denn die nun hereinbrechende didaktische Epoche als eigentlicher Nährboden der Allegorie erscheint. So fragt Reinmar von Zweter: „Waz kleider frowen wol an stê? des wil ich iuch bescheidn. ein hemde wîz alsam ein snê: daz ist, daz si got minne und habe in liep; dêst wol ein rîchez kleit. dar obe sol sîn ein roc gesniten, sô daz si liep und leit sol tragen mit vil kiuschen siten. ir gürtel sî diu minne; ir vürspan, daz si tugende sî bereit ...“   Andererseits werden die materiellsten und scheinbar materialistischsten Dinge, die Schöpfungen des Mechanismus, durch Uebertragung in das Gebiet der lebendigen Welt, sei es der Natur oder des Geistes, poetisch. Diese Symbolisierung vermag selbst die prosaischsten Dinge poetisch annehmbar zu machen. So verhilft Karl Beck den Eisenbahnaktien zu einem poetischen Eindruck: „Die Papiere ─ feilgeboten ─ Steigen ─ fallen ─ o Gemeinheit! Mir sind die Papiere Noten, Ausgestellt auf Deutschlands Einheit. Diese Schienen, Hochzeitsbänder, Trauungsringe blankgegossen: Liebend tauschen sie die Länder, Und die Ehe wird geschlossen.“ Wie hier der Dichter die Bedeutung der Eisenbahn für die Annäherung der deutschen Stämme feiert, so wird in neuester Zeit ihr Einfluß auf die Verbrüderung der Völker gepriesen.   Nicht nur in den fremden modernen Litteraturen, auch schon im Altertum sehen wir in durchgehender Gesetzmäßigkeit mit zunehmendem Abstraktionsvermögen die Allegorie Platz greifen, um Jdeen in die Welt der Gestalten überzuführen. § 32. Das Wesen der Poesie.   Fragen wir nun, welcher Grundzug den verschiedenen Entwicklungsstufen der Poesie gemeinsam ist, so läßt sich überall eine Erhebung aus der gewöhnlichen Sphäre erkennen. Ob die Geliebte als Göttin oder als Königin, als Gazelle oder als Rose verherrlicht, ob schließlich gar das Gefühl der Liebe in eine anmutende körperliche Gestalt gekleidet wird: immer zeigt sich die Poesie als konformer Ausdruck der ungewöhnlichen Empfindung des Dichters für den dargestellten Gegenstand. Ob die Kraft des Mannes als göttlich oder heroisch oder löwenhaft oder als sein Schmuck bezeichnet wird: der Dichter hat für sein erhöhtes Gefühl einen entsprechend erhöhten Ausdruck durch die Sprache gesucht und gefunden.   Als notwendige Attribute des Dichters ergeben sich daraus ohne weiteres:   1. erhöhtes, stark entwickeltes Gefühlsleben,   2. Fähigkeit zu entsprechend erhöhtem Ausdruck ─ Gestaltungskraft.   Dieses Prinzip erweist sich als allgemein, weil allem Wechsel zugrunde liegend. Aber innerhalb des durchgehenden Prinzips offenbaren sich die verschiedensten Potenzen. Bis zu übernatürlichem Schein hebt die dichterische Phantasie im ersten erhabenen Anlauf den Gegenstand ihrer Verherrlichung. Bald durchmißt sie ein zweites Gebiet, welches über das Gewöhnlich-Menschliche hinausragt, seinen Repräsentanten in dem Heroen, Halbgott, Helden sieht. Aber selbst innerhalb der natürlichen Sphäre weitet sich der Horizont und die Poesie greift, um menschliche Eigenschaften und Gefühle wenigstens in höchster physischer Vollendung zu zeichnen, zu demjenigen geschlossenen Bild aus der Natur, welches den in Rede stehenden Charakterzug rein und prägnant herausstellt; auch hier ist ein Erheben bis in den Himmel im physischen Sinne, bis an die Gestirne besonders naheliegend. Aehnlich wird das Gestaltenlose und Mechanische zu lebendigem Schein erhoben. Allüberall erhebt die Poesie ihre Gegenstände in eine höhere Welt oder einen vollkommneren Schein und bringt jede wesentliche Eigenschaft, sei sie gut oder übel, zum erreichbar prägnantesten Ausdruck, zur schärfsten Accentuierung. § 33. Superlative Darstellung.   Die Poesie ist Ausdruck erhobener Gefühle: in dieser Tendenz zeigt sich die Poesie ganz entsprechend der Geschichte des Geisteslebens überhaupt abgestuft. Nach dem unmittelbaren Emporringen der Seele zum Göttlichen sehen wir in den gottentsprossenen Heroen Mittler zwischen dem Göttlichen und Menschlichen, deren Kult genau ebenso in dem menschlichen Geistesbedürfnis gesetzmäßig begründet ist wie nur immer der des Mittlers, des Gottmenschen, in der erhabensten Religion. Wir sehen alsdann den Zauber der beseelten Natur wirken, in ihr das Höhere und Höchste selbst beschlossen, ─ eine Auffassung, die auf religiös=philosophischem Gebiete im Pantheismus ihre Entsprechung anerkennen wird. Schließlich thut das Reich des Geistes sich auf, Jdeen selbst gewinnen organisches Leben. Jmmer liegt die Erhebung in ein als höher betrachtetes Reich dem poetischen Streben zugrunde.   Es muß danach selbstverständlich erscheinen, daß auch sonst Verstärkung und Erhöhung in dem Urwesen der Poesie liegen. Nicht mehr werden wir als eine absonderliche, rätselhafte Eigentümlichkeit anstaunen, daß ein Homer all seinen Gestalten schmückende Beiworte zulegt und gar gern das attributive Adjektiv im Superlativ verwendet ─ man vergleiche auch den Gebrauch der so rhetorischen lateininischen Sprache. Auf dasselbe notwendig wirkende Gesetz werden wir es nun zurückführen, daß im mittelhochdeutschen Epos jeder Held als der kühnste Degen, jede Heldin als die minniglichste Maid übereinstimmend vorgestellt wird, beide Teile aber als so reich, daß niemand reicher könnte sein, u. ä. m.   Zur Potenzierung drängt denn alle poetische Darstellung hin. Darum muß in Goethes „Willkommen und Abschied“ „Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen“ sehen, darum ebenda „die Nacht tausend Ungeheuer“ schaffen; im „Mailied“   „dringen Blüten Aus jedem Zweig, Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch.“ Ewig, unendlich, all überschwemmen die Poesie. Von Verben sind die sinnlich ergiebigsten, die Handlung am schärfsten ausdrückenden gewählt. So kleidet Goethes „West=östlicher Divan“ den Gedanken der Umbildung und Entwicklung in die Wendungen: „Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.“ Aehnlich genügt seinem dichterischen Ausdruck nicht die Feststellung: „Befindet sich einer heiter und gut, Gleich will ihn der Nachbar peinigen;“ er potenziert sie in dem Reim: „So lang der Tüchtige lebt und thut, Möchten sie ihn gerne steinigen .“ Daß Goethe in seinem Alter vielen seiner Volksgenossen unbequem geworden, spitzt sich in derselben Sammlung ähnlich zu: „Mit der Deutschen Freundschaft Hat's keine Not ..... Sie lassen mich alle grüßen, Und hassen mich bis in Tod .“ § 34. Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie.   Jst das Wesen der Poesie Ausdruck gehobener Gefühle, so bilden gehobene Gefühle des Dichters die Voraussetzung, die Ursache jedes poetischen Werkes.   Ferner: ist die Dichtung Ausdruck gehobener Gefühle, so besteht ihre Wirkung eben darin, daß sie diese gehobenen Gefühle überallhin, wohin sie wirkt, eindrückt. Hiernach erwirkt sie eine Gefühlserhebung im Publikum: das ist der eigentliche Sinn ihrer veredelnden Wirkung, die in scholastischer Auffassung als moralisierend erschien.   Damit ist der einheitliche Zusammenhang von Ursache, Wesen und Wirkung der Poesie festgestellt und die Dichtung als Mittlerin zwischen der Dichterseele und der Seele der Menschheit erkannt. Dieser Beruf erscheint würdiger als er der Poesie ehedem im Vergnügen an Nachahmungskunststücken oder in der Bereicherung an guten Lehren zugesprochen wurde.   Der Dualismus überdies, welcher zwischen Ursache und Wirkung der Poesie, wie in der Beziehung zwischen Dichter und Publikum bestand, ist nunmehr überwunden. Hatte man die Nachahmung als Ursache der Dichtkunst hingestellt, so war man noch immer in Zweifel, wie die Wirkung zu erklären sei, bis man bald das Vergnügen, bald die Belehrung als äußerlichen Notbehelf heranzog. Faßte man andererseits zunächst nur ─ um von dem so äußerlichen Belehrungsprinzip ganz zu geschweigen ─ das Vergnügen als Wirkung ins Auge, so blieb noch immer unentschieden, worin dieses Vergnügen bestand: in der Freude an der wahrgenommenen Aehnlichkeit, meinten die einen, während anderen das Wohlgefallen an der poetischen Form vorschwebte, wieder anderen Vergnügen am Stoff, manchen aber schon richtiger aus der Anregung der Gefühle Vergnügen hervorzugehen schien. § 35. Einheit der Dichtungsarten.   Jn demselben Prinzip der Gefühlserhebung ist weiterhin die Einheit der Dichtungsarten beschlossen.   Während die Nachahmungstheorie die Lyrik aus der Poesie ausschließen müßte, besteht das Ergebnis eines entwicklungsgeschichtlichen Ueberblicks: die in verschiedenen Aeußerungsformen doch immer ausgeprägte Gefühlserhebung, gerade die Probe auf die lyrische Dichtungsart unmittelbar. Ebenso erhellt ohne weiteres, daß die epische wie die dramatische Darstellung einer Person die entsprechend lebhafte Empfindung des Dichters zur Voraussetzung hat: die poetische Verherrlichung eines Helden ist Ausfluß von des Dichters Bewunderung oder Mitgefühl für denselben. § 36. Einheit der Künste.   Auch die Einheit der Künste erweist sich in dem Beruf zur Gefühlserhebung offenkundig. Die Poesie tritt als verwandte Erscheinung in den Kreis ihrer Schwesterkünste. Wie diese sich aus dem Gefühl an das Gefühl wenden, erhellt leichter; die Poesie allein, weil sie durch das intellektuelle Wort wirkt, hat man oft verstandesmäßig erklärt.   Die Abweichung der Künste unter einander liegt ausschließlich in den verschiedenen Mitteln, durch welche sie zur Gefühlserhebung gelangen. Während die bildenden Künste durch Körper unmittelbar ein gesteigertes Empfindungsleben ausdrücken, wirken die redenden Künste durch Töne: die Musik durch melodische Töne, die Poesie ihrerseits durch die artikulierte Sprache.   Ebenso wenig wie die Dichtungsarten haben eben diese Künste allezeit neben und unabhängig von einander bestanden. Wie die Kunst aus der Religion herauswächst, schafft der primitive Geist feierlich geschmückte Wohnstätten für die Gottheit (bildende Künste), alsdann zu Ehren der Gottheit feierliche Bewegungen der äußern Organe (Mimik), bald unter Teilnahme der innern Organe (Musik), schließlich feierlich bewegte Sprache (Poesie). § 37. Unterschied von der Prosa.   Weiterhin wird durch Annahme des Gefühlsausdruckes als Wesen der Poesie deren innerer Unterschied von der Prosa hervorleuchtend. Nicht mehr sind wir angewiesen auf die rein formelle Erklärung der Poesie als „der gebundenen Rede; außerdem aber einiger Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher Verwandtschaft stehen.“ Der Unterschied heißt nun: hier Sprache des Gefühls, dort Sprache des bloßen Gedankens. Aehnlich wie sich die Kunstmalerei von der mechanischen Photographie unterscheidet: während die letztere unbedingte, reflexionslose Wiedergabe des Gegenstandes bietet, erstrebt die Kunst stimmungsvolle Erfassung, gemütvolle Durchdringung desselben.   Zur Beurteilung der platt=naturalistischen Doktrin ergiebt sich gleichzeitig ein neuer Maßstab: sie, die der Prosa näher steht als der Poesie, ignoriert den Zweck ─ die Gesühlserhebung ─, um das Mittel, den Anreger der Gefühle ─ den Stoff ─ zur Alleinherrschaft in ihrem Werk zu verstatten.   Die poetische Wirkung selbst ist stofflos: nicht mehr den einzelnen Helden, unser eigenes immanentes Gefühlsleben geht der künstlerische Eindruck an. Jndem sie uns „auf schwanker Leiter der Gefühle“ emporhebt, führt uns die Poesie über die Alltäglichkeit hinaus, stärkt unser Gefühlsleben, auf daß wir nicht im dumpfen Sinnentrieb verkommen, ─ „Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar schliefen“, wie Schiller durchaus bezeichnend sagt. § 38. Die Gefühlsstärke des Dichters.   Noch eine bedeutungsvolle Thatsache ist hier anzureihen: betreffend die allgemeine Gemütsbeschaffenheit des Künstlers, besonders des Dichters. Bestände sein Talent in bloßer Nachahmungsgabe, so hätte er kein Recht auf andere Beurteilung seines Gefühlslebens, als der übrigen Menschheit zugestanden wird. Bestände sein Talent gar in einer direkt erzieherischen Anlage, so bliebe noch weniger Veranlassung, die Leidenschaft der Dichterseele anzuerkennen.   Anders, wenn verstärktes Gefühlsleben das Wesen des Dichters ausmacht. Dann verstehen wir den scheinbaren Widerspruch, daß er zugleich die heiligsten, hehrsten Töne der Verehrung und die überschwenglichsten Sinnenergüsse beherrscht; daß ein Dichter die erhabensten Jdeen verkünden und doch das Leben übervoll genießen kann; daß er andererseits die Leidenschaft bis in ihre dunkelsten Tiefen darstellen und doch ein imponierender Charakter sein kann. All seine Gefühle sind eben potenziert: in dem gesteigerten Gefühlsleben liegt seine Dichtergabe.   Aehnliches gilt für den Schauspieler und die Schauspielerin. Soweit nicht durch ihre exponierte Stellung gegenüber der Oeffentlichkeit und den Mitspielern ein verändertes Auftreten begreiflich wird, findet es seine Erklärung in dem auch ihnen notwendigen gesteigerten Gefühlsleben, ohne welches sie keine kongenialen Mittler des Dichterwortes wären. § 39. Begründung der poetischen Form.   Die innere Ergründung der Poesie als Ausdruck erhobener Gefühle darf ungleich größere Bedeutung in Anspruch nehmen als jede rein formale Erklärung. Dennoch leuchtet nicht ohne weiteres ein, welche Rolle angesichts der gewonnenen Definition nun der poetischen Form zuzuerkennen ist, die doch auf irgend eine, wennschon nicht ausschlaggebende Weise in der Begriffsbestimmung der Poesie enthalten sein muß.   Wie kaum an einem zweiten Punkte der Poetik versagen hier die meisten Versuche fast gänzlich. Um nur die fortgeschrittensten Forscher zu berücksichtigen, blicken wir zunächst auf die in so vieler Hinsicht reichhaltige und treffsichere Poetik von Wilhelm Wackernagel. Hier lehrt er ganz abstrakt: „Schönheit der Darstellung wird erreicht, wenn auch deren Mittel, die Sprache, die Worte dem Gesetz der Schönheit unterworfen sind, wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen waltet. Dies Gesetz wird am deutlichsten ausgeprägt und beherrscht die Rede am sichersten durch rhythmische Gliederung derselben.“ Eine Definition, welche die Dichter in Versen schreiben läßt, um „Einheit des Mannigfaltigen“ herzustellen, kann auf Klarheit und positive Greifbarkeit wenig Anspruch erheben. Noch bedenklicher ist die empirische Erklärung Wilhelm Scherers: „Der Rhythmus ist entsprungen aus dem Tanz. Das Wohlgefallen am Rhythmus beruht auf der Erinnerung an das Vergnügen des Tanzes; durch Vererbung wird diese Erinnerung, dies Wohlgefallen so gesteigert, daß es späteren Generationen vielleicht geradezu angeboren ist.“ Sehen wir von der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit dieses Erklärungsversuches ab. Das Wohlgefallen am Vers soll aus der Erinnerung an das Vergnügen des Tanzes entspringen: das wäre zum mindesten ein sehr mittelbares Vergnügen, eine sehr entfernte Erinnerung! Solche spekulativen oder naturwissenschaftlichen Deutungen sind so gut wie das Eingeständnis des Unvermögens, der Sache auf den Grund zu kommen.   Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen selbst zum Führer erwählt, so können uns diese nicht völlig vom rechten Wege abirren lassen.   Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen. Jn Zusammenhang mit Musik und Tanz ist der Vers der ältesten Poesie wohl begreiflich. Aber wann singen wir? wann tanzen wir? Es fällt uns nicht bei, jede beliebige Thatsache, z. B. die Katze ist grau, das Buch hat 24 Bogen oder dergl., singend und tanzend zum Ausdruck zu bringen. Haben wir jedoch z. B. ein lang ersehntes Ziel erreicht oder eine unerwartete Freude erfahren, dann jubeln und springen wir wohl; ähnlich bei jeder andern lebhaften Gemütsbewegung. Jn dieser Verwendung sehen wir die Form der ältesten Poesie. Zur Höhe des Göttlichen sucht sich der poetische Ausdruck zu erheben; sein Rhythmus folgt dem Schwung der Musik, dem Takt des Tanzens oder Schreitens. So erscheint der poetische Ausdruck selbst als die schwungvolle Sprache des schwungvollen Gefühls.   Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem Jnhalt angeschmiegt und entsprechend. Das in dem Wechsel der Worte wiederkehrende Metrum bildet einen einheitlichen Grundtakt, auf den der ganze Jnhalt gestimmt ist, ein Leitmotiv der Empfindung, welches durch ständige Wiederkehr das ihm zugrunde liegende Gefühl stark hervortreten läßt oder sogar verstärkt.   Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges, als ein Mittel, welches zur Verstärkung des Gefühlsausdruckes beiträgt. Der alte Langvers entspricht dem langen Anhalten des Atems zu immer höherer Steigerung der Sprache d. i. des Gefühlsausdrucks, der in den älteren Epochen ja zum Erhabenen emporstrebt.   Die Einheit dieses Langverses finden wir von der Allitteration oder von der Assonanz durchbrochen; er fällt in zwei Vershälften auseinander, deren Hauptbegriffe durch Stabreime ─ wie man allgemein sagen kann ─ gebunden werden. Wiederum ist diese Versart in ihrer Entstehung durch die Vortragsweise aufs natürlichste erklärt: das Rezitativ, der Sprechgesang, ließ die Saiten des begleitenden Jnstrumentes nur bei den Hauptbegriffen zu deren stärkerer Hervorhebung erklingen.   Die Bindung der Vershälften nun geschah durch Gleichklang der Hauptbegriffe, sei es in den Konsonanten oder in den Vokalen, entsprechend dem Charakter der Sprachen: so daß die knochigen, robust abgestuften germanischen auf die Konsonanten, die fleischigen, üppigen romanischen auf die Vokale das entscheidende Gewicht legen. Da die Sprache ursprünglich onomatopöetisch ist, so malte der Stabreim den Eindruck nach, welchen die zur Aussprache kommenden Gegenstände erweckten. Das Wehen und Wallen, das Sausen und Sieden hat tonmalende Gewalt, nicht minder das Sausen und Brausen, Gischt und Zischen u. ä. Wirkte der Stabreim zur Gefühlserregung mit, so mußte abermals der Wiederklang dieser Hauptbegriffe zur stärkeren Hervorhebung der Grundempfindung dienen.   Die Wiederholung derselben Wendungen sowie der Parallelismus des Satzbaus, die gliedweise Beschreibung durch Wiederaufnahme eines Satzteiles des vorhergehenden Verses behufs nachträglich genauerer Bestimmung, diese höchst verbreiteten sogenannten Eigentümlichkeiten der Stabreimpoesie, beruhen auf demselben Gesetz der Aufstellung und des Weiterspinnens eines Grundmotivs.   Diese Periode schwindet dahin, um eine neue Art poetischer Formbindung sich ausbilden zu lassen. Mit Auflösung der metrischen Strenge und begünstigt durch die vollen Flexionsendungen des Kirchenlateins entwickelt sich ein anderes, eigenartiges Bindemittel in dem Endreim.   Er bietet zwar eine Uebereinstimmung von Konsonanten und Vokalen zugleich; doch hat die Sprache inzwischen an tonmalerischer Kraft erheblich verloren, und nicht mehr das Gerüst des Wortes ist es, welches in den Reim gestellt wird. Trotzdem erhält das gesprochene Wort, obschon es in zunehmendem Maße auf musikalische Begleitung verzichtet, durch den Gleichklang, durch die Wiederkehr bestimmter Töne, einen musikalischen Hauch, eine Harmonie. Da der Schluß es ist, welcher reimt, wird überdies der Vers ohne weiteres auf das Gefühl zugespitzt und abgerundet. „Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht. Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine ─ Hoffnung“, wäre ein Gedanke, der leicht weiteren Gedanken Spielraum giebt: ist dem wirklich so? darf ich hoffen? Aber setzen wir statt „Hoffnung“ den Reim Rückerts: „Zuversicht“ ein, und der Ring erscheint sofort lückenlos geschlossen: es kann nicht anders sein! so stimmt es zusammen! ist jetzt unsere unbewußte Empfindung. „Jch ging. Du standst und sahst zur Erden Und sahst mir nach mit nassem Blick. Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Das alles wendet sich schon durch den Gleichklang des Tones an unser Ohr und durch dieses an unser Empfinden. Bei wirklich kunstvoller Verwendung des Reims klingen noch immer gerade Hauptbegriffe nach: „Blick“ ─ wir haben damit des Mädchens thränenden Blick vor Augen; „Glück“ ─ es zittert in uns das Glück des Liebenden nach. Auch hier noch geschieht ein Hervorheben der Grundstimmung durch die Form.   Wir stehen damit vor dem überraschenden und doch auch so natürlichen Ergebnis: Form und Jnhalt der Poesie treten in Uebereinstimmung; die poetische Form ist nur ein Mittel mehr, wodurch das poetische Wesen zur Geltung kommt: Gefühlsausdruck, und zwar verstärkter, gehobener Gefühlsausdruck. Die Dichtungsarten. A . Die epische Poesie. § 40. Ausgangspunkt.   Wenden wir unsern Blick den einzelnen Dichtungsarten zu, so muß es sich darum handeln, die besondere Weise kennen zu lernen, in welcher jede die gemeinsame Aufgabe aller Poesie zu lösen bemüht ist.   Keine Dichtungsart trug von Anbeginn ihren heutigen Charakter. Dieser stellt vielmehr nur ein Glied einer langen Entwicklungskette dar, die keineswegs immer zu größerer Vollkommenheit führt. Das Wesen der epischen Poesie läßt sich deshalb nicht unmittelbar aus dem heutigen Epos erschließen, selbst nicht aus ein paar besonders hervorragenden Schöpfungen dieser Art, wie etwa den Homerischen Dichtungen, ableiten: die volle prinzipielle Berücksichtigung der Wandlungen und Entwicklungsstufen innerhalb dieser dichterischen Spezies wird allein den Grundzug und die treibende Kraft der epischen Dichtung erkennen lassen.   Die erste Dichtungsart, deren Ausbildung wir mit einiger Klarheit zu überblicken vermögen, die erste, die überhaupt zu eigentlicher Ausbildung gelangt, ist die epische. Freilich dürfen wir bei solchem Zugeständnis nicht an moderne oder klassische Vorstellungen von epischer Form denken.   Nicht die Epopöe, d. i. das Epos im engern Sinne, steht an der Spitze der epischen Entwicklung; vielmehr handelt es sich um kürzere, für Gesangsvortrag bestimmte, mündlich fortgepflanzte Lieder, zunächst zu Ehren der Götter. Die erste größere poetische Gesamtleistung eines Volkes besteht im religiösen Mythos. Als geschlossenes System, wo es überhaupt zu einem solchen kam, gehört dieser indes einer Spätzeit an; zunächst tritt er hervor und lebt nur in einer Reihe selbständiger Dichtungen zu Ehren der einzelnen Götter. § 41. Der Mythos.   Die Stoff-Grundlage dieser ältesten erhaltenen oder durch Zeugnisse erschließbaren Poesie bilden die mythischen Vorstellungen jedes Volkes. Der Mythos (nach der griechischen Bezeichnung) gesteht schon im Namen seinen erzählenden Charakter: d. h. Bericht, und zwar im besonderen über die Thaten der Götter.   Aus welchen Keimen erwächst ein solcher dichterischer Bericht? Welche Thatsachen liegen zugrunde? und wo beginnt die dichterische Ausgestaltung? Zugrunde liegt dem Mythos die Anschauung der Natur: zunächst von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, alsdann von Sommer und Winter. Was alle Tage, ähnlich was alle Jahre geschieht, wird nun persönlichen, unter menschlichen oder tierischen Bildern vorgestellten Kräften zugeschrieben und danach als einmal vorzugsweise geschehen erzählt. Durch Personifizierung und singularisierende Zurückschiebung in die Vergangenheit gewinnt die thatsächliche Anschauung poetischen, im besondern erzählenden Charakter.   Jn immer neuen Spiegelungen desselben einheitlich zugrundeliegenden Naturverhältnisses setzt der Mythos neue Zweige an. Durch solche Sprossenbildung entsteht eine Vielheit von Göttern, von mythischen Gestalten.   Für Deutschland lassen sich in der Ausbildung des Siegfried= Mythos noch alle Stufen dieses Entwicklungsganges erkennen. Den Ausgangspunkt bildet der Tagesmythos vom Kampf des Lichtgottes gegen den Dämon der Finsternis: vorerst ist es der Lichtgott, welcher den Mächten der Nacht obsiegt; dennoch sinkt er schließlich in ihr finsteres Reich hinab. Jn der Erweiterung zum Jahresmythos wirft der Frühlingsgott den grausamen, starren Winterdämon zu Boden; doch auch er erliegt später dem tödlichen Hauch des Feindes. Schließlich steigert sich der Naturmythos durch ethische Ausdeutung zu einem Symbol: der Vorkämpfer der sittlichen Mächte unterjocht die böse Gewalt; am Ende aber verfällt auch er ihr, weil er ihre Herrschaft in Besitz genommen.   Zunächst verkörpert Siegfrieds Kampf mit dem Drachen jene Naturanschauungen. Eine weitere Spiegelung desselben Motivs erscheint in der Beziehung Siegfrieds zu Brunhilde. Wiederum erweckt der Licht- und Frühlingsgott die erstarrte Erde aus dem nächtlichen Winterschlaf; wiederum spinnt dieselbe Macht, die er befreit hat, sein Verderben. Mit einer dritten Wendung derselben Grundvorstellung treten sich schließlich Siegfried und der grimme, düstere Hagen als Repräsentanten der feindlichen Naturmächte gegenüber.   Der Siegfried-Mythos ist zwar die noch heute in allen Wandlungen am klarsten übersehbare, doch keineswegs die älteste Umbildung der Naturanschauung in Erzählung von Geschehnissen. Sobald die zunächst unpersönlich angebeteten Naturkräfte in der Phantasie des germanischen Volkes Persönlichkeit gewinnen, werden Himmel und Erde in Wechselwirkung gesetzt: die Erde, vom Himmel liebend umfangen, wird zur Mutter alles Lebenden. Aehnlich hört die erregte Phantasie später aus dem Wehen des Windes das Wesen eines Gottes (deutsch Wodan) heraus, der als Führer des Wilden Heeres dahinbraust. Wie aus dem Rollen des Donners vernimmt die naive Menschheit aus dem Rauschen des Meeres die Stimmen persönlicher Götter. § 42. Poetische Gestaltung der mythologischen Anschauungen.   Am plastischsten hat die griechische Poesie diese Naturgottheiten ausgestaltet, am weitesten ihre Jndividualisierung geführt. Jndessen giebt die vollendete Gestalt, in welcher die Göttergestalten in Homers Epen erscheinen, nicht mehr eine klare Vorstellung von der ursprünglichen Mythendichtung. Einen Nachklang von dieser bietet Homer noch am ehesten in den stehenden Beiworten, welche überall die erste Form scheinen, in der man das Wesen der Götter darzustellen unternahm. Stammelnd versuchte die Sprache in immer neuen Ansätzen die Funktion der Götter zu bezeichnen, ihre Erhabenheit andeutend zu erreichen. Neben adjektivischen Attributen gewinnen deshalb partizipiale den uns bekannten weiten Raum. Wie man von Anschauung ausgeht und zur Personifikation vorschreitet, kleidet gerade diese älteste Dichtung ihre Gegenstände in eine fortlaufende Fülle von Bildern. Das Streben, die Gottheit durch Aufzählung ihrer Großthaten, ihres Segens zu verherrlichen, bildet aus diesen primitiven, zunächst allem Anschein nach thatsächlich rein aufzählenden Stilelementen später eine geordnete Erzählung durch Auflösung der handlungsreichen Beiwörter in entwickelnde Sätze.   Die Dichter sind durchaus im Priesterstand, dem alleinigen Träger der Bildung, zu suchen. Aber indem die Gemeinde der Volksgenossen als Publikum vorschwebt und die Bestimmung der Gesänge zum freien Vortrag beim Opfer ausschließlich ist, erscheint die Darstellung naturgemäß aus dem Geiste der Gesamtheit gedacht, unterliegt sonach keinerlei Versuchung zu subjektiven Eingriffen. Die Stoffgrundlage ist durch die religiösen Ueberzeugungen der Gesamtheit d. i. durch den jeweiligen Stand der Mythenbildung gegeben. Auch die Form ist feststehend, primitiv aus dem Charakter der nationalen Sprache geschaffen und der nicht minder einförmigen musikalischen Melodie angeschmiegt. § 43. Die Sage.   Hellere Beleuchtung erfährt die vorlitterarische Epoche der Poesie, sobald neben die religiösen Gesänge Heldenlieder treten. Wie der Mythos für jene, bildet für diese die Sage den Stoffgehalt.   Was ist die Sage? Um über die Fülle widersprechender, überaus unklarer Definitionen hinauszugelangen, halten wir uns am besten an den Gang der Thatsachen und fragen zunächst: wie entsteht die Sage?   Ein entscheidendes geschichtliches Ereignis ist eingetreten: ein fruchtbringender Sieg, eine verheerende Niederlage, vor allem eine Verschiebung der Wohnsitze, oder was immer in seiner Wirkung über den Tag hinausdauert. Da das Volk noch unlitterarisch ist, tritt anstelle schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest: die Sage ist der mündlich fortgepflanzte Bericht über die nationale Vergangenheit.   Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen, wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten Bericht über die nationale Vergangenheit in ständiger Umbildung durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie.   Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch=heroisches Gewand.   Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung. Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme; so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer, den römischen Kaiser; aber siebzehn Jahre später fällt Odovakar selbst durch List von der Hand Theodorichs. An diese große Persönlichkeit knüpft sich die Blüte des ostgothischen Reiches. Schon 552 erliegt auch dieses dem Ansturm des byzantinischen Heeres.   Was macht aus diesen geschichtlichen Thatsachen die Volksphantasie? Jn ihr blieb der endgültige Untergang des Ostgothenreiches fester haften als die vorübergegangene Blüte. Andererseits war ihr Theodorich (Dietrich) als Hauptträger ostgothischer Heldenkämpfe geläufig. So kehrt sie die geschichtliche Ueberlieferung geradezu um: Ermanrich wird mit Odovakar zusammengeworfen und zum gefährlichsten Feind Dietrichs gestempelt. Vor seinem Zorn flieht Dietrich; alle Mannen, d. h. sein ganzes Reich, hat er verloren. Später aber kehrt er zurück und wird in Rom gekrönt. Dazwischen erscheint er, nach seiner Flucht, an Etzels Hof in einer Art Abhängigkeitsverhältnis, äußerlich etwa wie in der Geschichte sein Vater Theodomer, während Dietrich selbst gar kein Zeitgenosse des Etzel ist.   Noch schärfer können wir die geschichtlichen Bestandteile der Burgundensage von einander scheiden bezw. in ihrem Zusammenwachsen verfolgen. Jns Jahr 437 fällt die Besiegung der Burgunden unter Gundahari durch die Hunnen. 454 stirbt Etzel, unmittelbar nach seiner (zweiten) Vermählung mit der Burgundin Hildiko. Erst 534 erfolgt die Zerstörung des Burgundenreiches jenseits der Vogesen auf Veranlassung der mit Chlodwig I . von Franken vermählten burgundischen Prinzessin Chlothilde durch deren Söhne.   Aus allem diesen wird zunächst die Vermählung von Gundaharis Schwester mit Etzel, sowie dessen Tod von der Hand seiner Neuvermählten. Diese Fassung der Sage gelangt noch vor Ablauf des fünften Jahrhunderts stufenweise zur Ausbildung. Als Motiv der Thäterin erscheint Rache für ihre Brüder. So gelangt die Sage nach Skandinavien, und die nordische Darstellung zeugt noch für diese der Geschichte näher stehende Auffassung. Nach der 534 erfolgten Zerstörung des Burgundenreiches erfährt der Abschluß der Sage eine volle Umbiegung, indem nun die burgundische Prinzessin nicht mehr ihre Brüder an Etzel rächt, sondern mit Etzels Hilfe an ihren Brüdern Rache nimmt. Eine Begründung dieser Rache bot sich durch ein inzwischen von anderer Seite hinzugeflossenes Element: auch die mythische Erzählung von Siegfried und den Nibelungen wies eine Gestalt mit dem Namen Gunther und eine Hilde auf; die Namensgleichheit veranlaßte eine Jdentifizierung dieser Personen und dadurch eine Verschmelzung der Burgunden- und der Nibelungensage. So geschieht die Rache Kriemhilds an ihren Brüdern zur Sühne von Siegfrieds Tod.   Schon für die indische Poesie war ähnlich eine große Völkerwanderung fruchtbar geworden: die Verschiebung der Wohnsitze aus dem Pendschab nach Osten mit den diesen geschichtlichen Akt begleitenden Kämpfen bildet die Keime für Ausbildung jener nationaler Sagen, die dem Mahabharata zugrunde liegen.   Die griechische Sagenbildung setzt ebenfalls an solche geschichtliche Ereignisse an, die dem Volke einen weiteren Horizont, im eigentlichen geographischen Sinne des Wortes, eröffneten. Der Trojanische Krieg ist längst vor Homer in Einzelliedern besungen worden, gehört indes den jüngsten Teilen der griechischen Sage an. Jm äolischen Stamm ist dieser Sagenkreis ausgebildet, nur daß auch hier durch unorganische Kombination ionische Sagenelemente eindringen. Sonst ward die Kunde von der Argonautenfahrt anscheinend mit besondrer Vorliebe durch die Sage fortgesponnen. Doch hatte wie in Deutschland ursprünglich jeder Stamm seine eigenen Sagen aus seinen politischen Verschiebungen herausgebildet. Wie die geschichtlichen Erinnerungen von mythischen Ueberlieferungen durchflochten werden, tritt gerade auf griechischem Boden in der so weit gehenden, bei Homer unauflöslich erscheinenden Verbindung der Götter- und Heldendichtung hervor. Noch Xenophanes erzählt, daß man zu seiner Zeit die Kämpfe der Titanen und Giganten sowie die Schlachten der Kentauren bei festlichen Gelagen gerade so als wirkliche Geschichte vorgetragen habe, wie unmittelbare Ereignisse der Wirklichkeit. §. 44. Fortsetzung.   Nicht allein die geschichtlichen Ereignisse erfahren in der Sage dauernd Wandlungen: selbst die Charaktere unterliegen entscheidenden Modelungen, zum guten Teil völliger Umbiegung.   Als Gottesgeißel, als schlauer, überlegener, aber blutiger Barbar schreitet Etzel durch die Geschichte. 500 Jahre später im Waltharilied ist kaum noch ein Nachklang dieses furchtbaren Rufes vernehmbar; ersichtlich ist die Erinnerung an seinen historischen Charakter verblaßt und nur die äußere Thatsache seiner überlegenen Macht in den Vordergrund getreten. Nach mehr als zwei weiteren Jahrhunderten, im Nibelungenlied, ist jedenfalls auch die letzte innere Beziehung zu der historischen Persönlichkeit abgestreift; nur äußerlich ist seine Stellung als mächtigster Fürst seiner Zeit, dem viele Könige als Vasallen dienen, noch festgehalten. Jm übrigen ist aus der Gottesgeißel ein typisches Jdealbild fürstlicher Gesinnung nach den kultivierten Anschauungen des 10. und gar des 12. Jahrhunderts geworden: edel, mildthätig, selbst mild im modernen Sinne. Aehnlich verblaßt das Bild der dämonischen Frauen jener wilden Zeit, in welcher die Sage wurzelt, bis sie schließlich zu minniglichen Maiden nach der höfischen Konvenienz des 12. Jahrhunderts werden. Den grimmen Hagen sieht man stattlich unter den Recken hin zu Hofe gehen; in Züchten verneigt sich vor ihm der gute Rüdiger. Dieselbe Veräußerung ursprünglicher Gigantik auch anderweit: einen besonders drastischen Beleg bietet in der Gudrunsage der Meerriese Wate, der da schließlich das Haar mit goldenen Borten umwunden auftritt. Welche Umbildungen mußten diese Figuren in der Volksphantasie erfahren haben, bevor eine solche Einkleidung möglich wurde!   Von Helden der griechischen Sage läßt sich namentlich Nestor in seiner Charaktermodelung überschauen. Er und die andern Helden aus Pylos sind dem troischen Sagenkreis ursprünglich fern. Schon zeitlich ragt er in eine weit zurückliegende Epoche hinauf, und dieser Umstand bewirkte, daß er als Repräsentant des erfahrenen Greisenalters eingeführt wird. An dem Homerischen Achill andrerseits ist aufgefallen, daß ihm das Epitheton schnellfüßig eignet, ohne daß es in der Dichtung selbst eine Begründung oder thatsächliche Unterlage findet. Ersichtlich hat Homer in älteren Ueberlieferungen diese Bezeichnung vorgefunden, die wohl auf des Helden Jugendschicksale bezugnimmt. § 45. Abschluß und dichterische Behandlung der Sage.   Die Fortbildung der Sage als solcher findet mit dem Hereinbrechen des litterarischen Zeitalters ihr natürliches Ende. Fortan unterliegt die mündliche Ueberlieferung der Kontrole schriftlicher Aufzeichnungen. Gelangt eine dichterische Behandlung der Sage erst einmal zur Niederschrift und bleibt diese Niederschrift der Kenntnis nicht allzu enger Kreise erhalten, so ist damit neuen unbewußten Kombinationen der Boden entzogen und die eigentliche Sagenbildung abgeschlossen: die Sage setzt sich.   Um so weniger aber bleibt ihre Gestalt gegen Eingriffe gefeit: nur handelt es sich jetzt nicht mehr um echte Sagenbildung, nicht mehr um eine unbewußte Schöpfung der Volksphantasie, sondern um bewußte Umgestaltungen und Bearbeitungen durch subjektive Eingriffe von Einzeldichtern, also um willkürliche Dichtung.   Freilich tritt die Sage nicht erst durch solche Eigenmächtigkeit eines einzelnen in dichterische Gestalt. Jn dieser geschieht vielmehr von Anfang an ihre Ueberlieferung: aber nicht individuelle, sondern Volksdichtung war sie bislang. Die Sage selbst bleibt immer nur Stoffgrundlage; um die Volksdichtung zu fertiger Gestalt zu führen, muß dieser Jnhalt in eine Form gegossen werden. Auch sie ist von Natur gegeben: jede Sprache erschafft aus ihrem Wesen heraus eine eigenartige rhythmische Form. Sobald die nationale Sage in diesen nationalen Vers gegossen ist, kann von einer fertigen Volksdichtung die Rede sein. § 46. Stil der Volksdichtung.   Nur wenige Splitter alten Volksgesanges sind uns erhalten. Durch Zeugnisse ist eine weitere Anzahl belegt, aus der nur wenige ihre Gestalt ahnen lassen. Jn deutscher Sprache sind Heldenlieder bereits für die Zeit des Tacitus bezeugt. Da sie von dem Heer besonders vor der Schlacht gemeinsam gesungen wurden, muß in ihnen noch chorartiger Charakter durchgeführt gewesen sein. Von den zahlreichen Liedern aus den Sagenkreisen der Völkerwanderung liegt wenigstens lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem Sohn behandelt.   Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied eine charakteristisch ausgeprägte Darstellungsart. Es repräsentiert schon die Zeit, da ein Einzelsänger die Volksdichtung vorträgt. Aber ausdrücklich beruft er sich auf mündliche Sagenüberlieferung: „Ik gihôrta dhat seggen “, und zwar „ dhat sih urhêttun | ænon muotin Hiltibrant enti Hadhubrant | untar heriun tuêm .“ So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren mit fortgesetzt abgerissenem Lakonismus die (uns bereits in ihrem Abstand von der Geschichte bekannt gewordene) Sagenauffassung von Dietrichs Flucht. Aber nicht mechanisch erzählt wird diese Vorfabel: schon sie wird mit dramatischer Unmittelbarkeit in Dialogform entwickelt, die denn fortgesetzt Trägerin der Darstellung bleibt; nur wenige rein thatsächliche Bemerkungen des Dichters leiten sprunghaft von Rede zu Rede über.   Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der handelnden Helden, während die Ausmalung vorerst der Phantasie der Hörer überlassen blieb.   Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern, denen erst in der Neuzeit voller Eintritt in die Kultur beschieden ist: durchgehends geschieht die Verherrlichung von Helden durch Erzählung ihrer Heldenthaten, und zwar durch eine Erzählungsart, die Einfachheit mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag, sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.   Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine solche Jndividualitätslosigkeit notgedrungen schlichte Gegenständlichkeit der Darstellung. Die nackten Thatsachen der Ueberlieferung sind in den nationalen Vers gekleidet; noch fehlt äußerer Schmuck der Erzählung, der als unorganischer Zusatz zur Thatsächlichkeit der Darstellung empfunden wäre; noch fehlt das Streben nach Abwechselung und Mannigfaltigkeit, die ebenfalls über die vorläufig alleinige Aufgabe: Einkleidung der thatsächlichen Ueberlieferung in den nationalen Vers, hinausführen würden.   Aus dieser Voraussetzung erklärt sich das Fortschreiten der Erzählung in zahlreichen feststehenden Formeln.   Zunächst sind stehende Beiwörter aus jenem primitiven Stil bis in die späteren Epopöen übergegangen. Vorerst ist das Beiwort typisch und wird allen Helden gleichmäßig zugestanden. Daneben treten bald zu den einzelnen Jndividuen charakteristische Beiwörter, die an ihnen haften bleiben, auch wo ihr Auftreten garnicht unmittelbar an das nun einmal in der Volksphantasie feststehende Bild ihrer Persönlichkeit erinnert. Aehnlich sind allen Gegenständen typische Attribute beigelegt. Noch das Nibelungenlied läßt durchblicken, wie dem Heldensang alle preiswürdigen Objekte weiß oder licht, alle verdammlichen schwarz oder doch düster erscheinen; derselben Erscheinung begegnen wir in slavischen Liedern. Die See ist blau, die Rosse sind schnell u. dergl. Auch die Lieder der Edda führen diese Stilelemente durch. Zu virtuoser Fortbildung gelangt dieselbe Manier überhaupt in der skandinavischen Poesie. Feststehende Kennzeichen (Kenningar) werden für die Person selbst gesetzt. Jm jüngern Heldensang führt dies Stilmittel durch Steigerung bis zu raffinierter Künstelei gerade in Dunkel zurück.   Verwandt mit attributiven Adjektiven erscheinen stehende Appositionen, namentlich die stete Einführung jedes Handelnden und Redenden oder auch nur Erwähnten mit seinem Vatersnamen als Beisatz. Das Hildebrandslied versäumt nie die Bezeichnung: „ Hiltibrant gimahalta, Heribrantes sunu,“ „Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu .“ Aehnlich in den eddischen Liedern, wie auch in den orientalischen Poesieen. Zu den stereotypen Stilmitteln gehören ebenso die paarweise zusammengeordneten Begriffe in formelhafter Prägung und Wiederkehr. Germanisch finden wir bis in die mittelhochdeutsche Blütezeit erhalten Allitterationen wie liute unde lant, wâfen unde gewant, liep unde leit , ferner Ergänzungen wie wîp unde man, êre unde lîp u. a., schon im Hildebrandslied besonders alte anti frôte, sumaro enti wintro mit der Zahl der Jahre.   Zu festen Formeln sind namentlich die Bezeichnungen und Vergleiche für Rüstung und Kampf überall in dieser Poesie gefügt. Doch lassen sich auch sonst vielfach stehende Ausdrücke und Redensarten erkennen. Schon der Anfang der Lieder setzt gern mit einer stereotypen Wendung ein. Talvj betont, wie eine ganze Anzahl serbischer Volkslieder beginnt: „Tranken Wein zwei wackere Serbenhelden“, oder dem ähnlich; eine andere Anzahl: „Jn der Frühe ritten die Woiwoden.“ Eine ältere und natürlichere Einleitungsformel können wir in der deutschen Dichtung beobachten: die Quellenberufung. Nicht nur das Hildebrandslied beginnt: „Ik gihôrta dhat seggen “; wie derselbe Stil auf andere mündlich fortgepflanzte Dichtungen übergeht, darf man auch das Wessobrunner Gebet heranziehen, das ähnlich einsetzt: „Dat gefregin ih mit firahim.“ Ebenso lernten wir schon beiher die stehende Einführung der direkten Rede kennen. Ja, auch in der Rede und ihrer Vorankündigung sowie in Frage und Antwort kehren die gleichen Wendungen wieder. Jm eddischen Lied von Thrym vergleiche man wiederholt (Strophe 26 und 28): „Bei Freyja saß | die findige Magd, Die Erwid'rung wußte | auf das Wort des Riesen.“ Thrym fragt (Strophe 6): „Wie steht's bei den Asen, | wie steht's bei den Elben? Was reistest du einsam | nach Riesenheim?“ Loki . Schlimm steht's bei den Asen, | schlimm steht's bei den Elben; Hast du Hlorridis | Hammer verborgen? Thrym . Jch habe Hlorridis | Hammer verborgen Acht Meilen tief | im Erdenschoße ...“ Nicht minder reich an solchen Wiederholungen erweist sich das Hildebrandslied: „ Hiltibrant gimahalta, Heribrantes sunu: | her uuas hêrôro man, ferahes frôtôro; | her frâgên gistuont ...“ Vers 18: „ Forn her ôstar giweit, | flôh her Otachres nîd, hina miti Theotrîhhe ─“ bis Vers 22 die Wendung wiederaufnimmt: ... „ her ræt ôstar hina .“ Jn den orientalischen Poesien, besonders der hebräischen, spielen die Wiederholungen noch weit mehr eine ausschlaggebende Rolle.   Dazu gesellt sich im Orient wie im Occident ein ausdrücklicher Parallelismus der Satzglieder als Form dieser alten Lieder. Auf eine Person oder einen Gegenstand wird inmitten des Satzgefüges zunächst kurz hingedeutet, nachträglich werden in den folgenden Versen attributive Begriffserweiterungen angefügt. So im Hildebrandslied: „Sunufatarungo | iro saro rihtun, garutun sê iro gûdhhamun, | gurtun sih iro suert ana, helidos, uber hringa ...“ Ferner:   ... „ sô imo sê der chuning gap, Hûneo truhtîn ...“ Oder: ... „ der dir nû wîges warne, | nû dih es sô wel lustit, gûdea gimeinûn .“ § 47. Fortsetzung. Liedartiger Charakter.   Weitere Eigenschaften der alten heroischen Volksdichtung erklären sich aus der Bestimmung zu mündlichem Vortrag, aus dem Charakter als Lied.   Was nicht schriftlich vor unser Auge tritt, muß um so plastischer, sinnfälliger gezeichnet sein; und was nicht hinter einander an dem lesenden Auge vorüberrollt, muß sich um so bewegter scenisch entfalten.   Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert gleichmäßig Anschaulichkeit. Sie läßt sich denn auch bereits an den primitivsten Heldenliedern erkennen, ─ und wir können uns dieselben in der Frühzeit nicht gut primitiv genug vorstellen. Zur Veranschaulichung genügt oft nicht die allgemeine Bezeichnung der handelnden Person: vielmehr werden als Organe der Thätigkeit die entsprechenden Körperteile genannt: die Füße gehen, die Hand streitet; ebenso tritt zur äußeren Bezeichnung der Person oft die handgreifliche Wendung: der Leib des Ritters oder dergl. Der Drang nach Handlungsfülle zieht überall inhaltreiche Verba herbei, namentlich auch zum Ersatz von Substantiven mit Praeposition: man geht nicht zu jemand hin, sondern: man geht hin, wo er sitzt oder dergl.; das Gesinde befolgt nicht des Königs Gebot, sondern: was der König gebot. Solche Elemente fand anscheinend noch der Nibelungendichter in den umlaufenden Liedern des gleichen Stoffes, zum teil wurde dieser Stil von den ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Heldensage übernommen.   Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja der Stilepoche angehören, wo neben einander Göttermythos und Heldensage in erzählenden Liedern erscheinen. „Es schüttelte den Bart, | es schwenkte das Haar Der Erde Sohn, | um sich greifend,“ wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser sinnfällige Stil beschränkt seine Wirkung nicht auf das Gesicht: daneben wird, echt dramatisch, der Schall für das Ohr veranschaulicht. Wenn Loki fliegt, rauscht sein Federkleid. Gudrun sieht des toten Gatten Haupt: „Dann sank sie kraftlos | aufs Kissen zurück, Das Haar war gelöst, | heiß brannte die Wange, Und ein Strom von Zähren | stürzt' in den Schoß.   Da weinte Gudrun, | Gjukis Tochter, Daß wie tosende Bäche | die Thränen rannen Und gellend im Hofe | die Gänse aufschrien, Die weißen Vögel, | die das Weib besaß.“ Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe veranschaulicht. Gegen Schluß des Hildebrand-Fragmentes vermeint man das Krachen der Speere und Schilde zu vernehmen: „ Dô lêttun sê ærist | asckim scrîtan, scarpên scûrim: | dat in dêm sciltim stônt. dô stôpun tô samane | staimbort chlubun, heuwun harmlîcco | huîtte scilti ...“ Noch im Nibelungenlied heißt es von Brunhilds Kampf mit Gunther: „Dô spranc si nâch dem wurfe, daz lûte erklang ir gewant.“ Wir sehen damit nicht nur den Sprung, wir hören ihn zugleich, so daß er für alle energischen Sinne vergegenwärtigt ist. Sehr wirksam veranschaulicht man ferner Handlungen durch ihre in die Sinne fallenden Folgen, ähnlich Gemütsbewegungen durch ihre sichtbaren Aeußerungen.   Die weitere Ausbildung all dieser Stilelemente ist allmählich zu denken: aus ursprünglicher Einfachheit bildet sich später eine gewisse Kunstfertigkeit scenischer Darstellung.   Bei aller Zeichnung in Umrissen immer von unmittelbarer Anschaulichkeit zeigen sich gleicherweise die hebräischen Heldenlieder. Jn Deborahs Siegeslied steht: „Da rasselten der Pferde Füße vor dem Zagen ihrer mächtigen Reiter ... Sie griff mit ihrer Hand den Nagel, und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer, und schlug Sisera durch sein Haupt, und zerquetschte und durchbohrte seinen Schlaf ... Die Mutter Siseras sahe zum Fenster aus, und heulte durchs Gitter: Warum verzieht sein Wagen, daß er nicht kommt? Wie bleiben die Räder seiner Wagen so dahinten?“ Da haben wir das Rasseln fürs Ohr vernehmlich; nicht genug an den Pferden: als Organ ihrer Thätigkeit ausdrücklich die Füße; das Töten handlungsreich in all seine einzelnen Bestandteile zerlegt: greifen ─ und zwar mit der Hand, alsdann im besondern mit der Rechten ─, schlagen, zerquetschen und durchbohren; ähnlich sehen wir die Mutter Siseras in ihrem Schmerze nicht nur, wir hören sie wiederum; wie ebenfalls in den germanischen Dichtungen wird die Handlung selbst in ihre positive und negative Seite zerlegt: verziehen und nicht kommen; schließlich wird das Subjekt abermals spezialisiert: die Räder sind als Organe der vom Wagen ausgehenden Handlung eingeführt. § 48. Einfluß der Rhapsoden.   Wennschon natürlich immer für jedes Lied ein Einzeldichter vorauszusetzen ist, heißen die ältesten Dichtungen dennoch mit Recht Volkspoesie, schon weil an der Gestaltung des Stoffes, der Sage, ganze Volksgeschlechter Jahrhunderte hindurch unbewußt zusammengewirkt. Aber auch den Vortrag sahen wir ursprünglich in den Mund der Gesamtheit gelegt.   Eine bedeutsame Wendung bereitet sich eigentlich bereits mit dem Auftreten des Einzelsängers vor. Zwar ist er zunächst lange Zeit im Stoff an die Sagenüberlieferung, im Stil an die alte Schlichtheit und Knappheit gebunden. Aber im Laufe der Jahrhunderte mußte sich mit Ausbildung eines besonderen Sängerstandes die Subjektivität der einzelnen Dichter bemerkbar machen. Nicht nur daß zahlreiche Parallelversionen derselben Sage umlaufen: es bedarf nun stärkerer Mittel zur Beglaubigung und Ausschmückung seitens der konkurrierenden Rhapsoden. Denn anders spricht das Volk, anders wer um die Gunst des Volkes wirbt: ist die Sprache des Volkes, die Volkspoesie, schlicht und einsilbig, so wird die Sprache der dem Volk zu Munde Redenden, der volkstümlichen oder doch Volkstümlichkeit erstrebenden Poesie leicht aufdringlich und großsprecherisch.   Nicht mehr genügt die rein thatsächliche Quellenberufung zur Einführung: „Ik gihôrta dhat seggen “ o. ä. Mitten in der Darstellung häufen sich die Berufungen auf die Quelle und andre Wahrheitsbeteuerungen: ih sage iu, mære zallen zîten wart so vil geseit, so wir hœren sagen, waz mag ih sagen mêre? ir mugt daz hie wol hœren, nu wizzit mêr der rede, daz wizzin wêrlîche, nu wizzistaz in trowin etc .   Auch von andern Ausrufen des Dichters ist die Darstellung auf Schritt und Tritt durchbrochen, wodurch eine künstliche Lebhaftigkeit platzgreift: wie! hey! hey waz! waz! wie balde! wie schire sie geloufin was !   Vor allen Dingen erhielt die im Grundtrieb der Poesie liegende superlative Ausdrucksweise ihre vollendete Ausbildung und Ueberbietung in der wichtigthuenden Spielmannsdichtung: so reich wie dreißig Königinnen, ja wie keine sonst; wie konnte jemand kühner sein? oder ein kühnerer je geboren werden? nimmer begeht ein Held größere Missethat; nichts konnte lieber oder leider geschehen. Noch in der größeren Spielmannsaufzeichnung von König Rother lesen wir dicht bei einander: „Nu ne wart ich nee sô ungezogin ...“ „... so nemachtu, kuninc, nimir mêr bezzer tugint gewinnen.“ ─   Ein eigentlicher Sängerstand als Kaste wetteifernder und konkurrierender Zunftgenossen setzt bereits weiter ausgebildete Kulturzustände voraus, Zeiten friedlichen Ausbaus und wohligen Behagens nach Abschluß der politisch und wirtschaftlich umgestaltenden, gewaltigen Völkerkämpfe. So weiß Homer von Sängern zu melden, die nicht nur in den Versammlungen von Stammesgenossen, sondern auch beim fröhlichen Mahle ihre Lieder zum Preis der Helden ertönen lassen.   Damit verlieren die Gesänge indes naturgemäß von ihrem ehrfurchtgebietenden, erhabenen, vorherrschend tragischen Ernst, um Gegenstand frohen Schmuckes und Glanzes zu werden, was den Stil noch weiter von seiner schlichten Kraft entfernt.   Südöstlich wie nordwestlich steht gleichmäßig fest, daß diese Spielleute wandern, von Fürstenhof zu Fürstenhof, doch auch sonst im Lande umherziehen und an Herrensitzen Halt machen.   Teils um dem eigenen Gedächtnis nachzuhelfen und einen immer reicheren Liederbestand zu erwerben, teils um jüngeren Nachwuchs, zunächst die eigenen Kinder für den Sängerberuf zu erziehen, schließlich bisweilen schon auf Ersuchen ihrer fürstlichen Gönner legen die Spielleute Handbücher an, worin die Texte, nicht selten auch die Melodieen verzeichnet waren. Schon damit ist ein Schritt in die litterarische Epoche der Heldenerzählung angebahnt und die Möglichkeit zu litterarischer Zusammenfassung aller im Liede behandelten Teile eines Sagenkreises gegeben. § 49. Die litterarische Epopöe.   Mit planmäßiger Aufzeichnung der nationalen Erzählungen bahnt sich naturgemäß in zweierlei Hinsicht ein Umschwung des Stils an: zu den liedartigen Elementen treten mehr und mehr überwuchernd Kennzeichen des litterarischen d. i. schriftgemäßen Stils; ebenso wird die kurze, springende Darstellungsweise des räumlich begrenzten Heldensangs von einer breiteren Ausführung und vollständigen Rundung der Erzählung abgelöst. So ist die Möglichkeit gegeben, die gesamten Sagen eines oder mehrerer Stämme, ganze Sagenkreise zu einer großen, einheitlich komponierten Epopöe zusammenzufassen.   Die ersten derartigen Versuche aller Völker verharren dabei noch immer tief in der alten Objektivität und gedrungenen Kraft, auch wo sie sich bereits ausgedehnt in Episoden ergehen. So in den ältesten Teilen des indischen Mahabharata: „Der Tag brach an; die strahlende Sonne verscheuchte die Schatten der dunklen Nacht. Jn beiden Lagern erschollen die Hörner, der Ruf der Kampfbegierigen, Und wieder standen gegeneinander die beiden Heere todeskühn. Die Helden mit ihren Zeichen und Fahnen auf Wagen, Rossen, Jlfen (Elefanten) hoch, Von seinem Gefolge jeder umgeben, sie blickten trotzig einander an. Vor allen aber strahlten hervor Waikartana und Ardschuna An ihrer Heere Spitze, bereit zu fechten den Entscheidungskampf, Mit himmlischen Bögen beide bewaffnet, an Heldenruhm sich beide gleich, Mit Löwenschultern, breit von Brust, mit langen Armen und Trotz im Blick, Ein jeder den andren zu töten bedacht, zwei wutentbrannten Jlfen gleich, Auf goldenen Wagen beide gestellt, auf hohem, unzerbrechlichem, Mit Tigerfellen prächtig bedecktem, von weißen Rossen gezogenem, Der mit dem schrecklichen Affen im Banner, der mit dem Elefantengurt.“   Hier sehen wir noch den alten Parallelismus, die Zeichnung in kräftigen Einzelstrichen mit immer neuen Ansätzen; aber diese Striche sind gehäuft und runden sich zu einem breit ausgeführten Gesamtbild. Die Gegenstände werden rein thatsächlich bezeichnet; schon greifen Bilder aus dem Tierreich ein, doch in knapper Ausführung.   Viel blumenreicher, viel weniger erhaben als lieblich halten sich spätere Aufschwemmungen dieser Nationalepopöe; Nal trat uns bereits als „Der eignen Sinne Meister, Ein Liebling schöner Frau'n“ entgegen. ─   Ungewöhnlich reich an ausgeführten Bildern zeigt sich Homer; im übrigen stellt er die Objektivität noch vollendet dar. Durch deren Vereinigung mit der behaglichsten Breite des Schriftwerkes gelangt er zu glücklichster Harmonie zwischen altem und neuem epischen Stil.   Noch bewahrt Homer viele Kennzeichen der alten Simplicität. So kehren dieselben Wendungen in Frage und Antwort, in Botenauftrag und Botenbericht wieder. Ueberhaupt kommen Gebot und Ausführung in parallelen Wendungen zum Ausdruck: „Und der verständige Jüngling Telemachos sagte dagegen: Mutter, eriunre mich nicht an meinen Kummer, und reize Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin. Sondern bade dich erst, und lege reine Gewand' an. Steig' in das Obergemach, von deinen Mägden begleitet, Und gelobe den Göttern, vollkommene Hekatomben Darzubringen, wenn Zeus doch endlich Rache vergölte ... Also sprach er zu ihr, und redete nicht in die Winde. Jene badete sich, und legte reine Gewand' an, Und gelobte den Göttern, vollkommene Hekatomben Darzubringen, wenn Zeus doch endlich Rache vergölte.“ Die Anschaulichkeit geht hier freilich schon bis ins Einzelne, und solche umständliche Kleinmalerei regt nicht mehr die Phantasie zur Ergänzung an. Die stehenden Beiworte haften an den Personen dermaßen fest, daß sie auch in Situationen wiederkehren, wo sie nicht gerade am Platze sind. Wie im Heldenlied geschieht die Darstellung nach kurzer Einführung in dramatischer Unmittelbarkeit vorwiegend durch direkte Rede der handelnden Personen. Weit entfernt von rhetorischer Phrase oder von bloßen Gefühlsäußerungen des Dichters in der Maske seiner Figuren, fließen diese Reden aus dem Charakter des Sprechenden und vermeiden trotz ihrer Ausdehnung leeren Wortschwall.   Jndes legen gerade die Reden schon von fortgeschrittener psychologischen Kunst Zeugnis ab. Die künstlerische Motivierung geht bis ins Einzelne. Ja auch gnomische Aeußerungen, Meinungen, Aussprache allgemeiner Wahrheiten begegnen in reichem Maße: nur daß sie immer, auch wo sie dem Dichter selbst aus dem Herzen gesprochen scheinen, als organische Auslassung einzelner, nicht als unorganische Zuthat des Dichters erscheinen. Nicht Homer, sondern sein Held spricht die vielgerühmten Worte: οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη ─ „Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher, Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.“ Seelenschilderungen werden nicht mehr gescheut; und nicht immer bleiben sie so kurz wie der Hinweis: „Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet, Wandelt umher ...“ Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog und äußere Handlung ─ genug, nach allen Seiten sehen wir die Vorzüge der alten und neuen, der liedartigen und litterarischen Erzählungsweise vereint.   Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren, daß die beiden Epen Homers zwar aufgezeichnet, aber noch immer mündlich vorgetragen, vielleicht sogar gesungen wurden. So gewiß diese Dichtungen nach einem einheitlichen Plane in einheitlichem Geiste für unmittelbare Niederschrift abgefaßt wurden, liegen ihnen doch auf weiten Strecken Einzellieder als Quellen zugrunde.   Nur steht der Dichter nun bereits mit Bewußtsein über seinem Stoff, in solch einer Mischung von Gläubigkeit und Selbständigkeit, wie sie für das Stadium der Epopöe bezeichnend ist. Noch frei von Skepsis und Jronie, bleibt Homer von Bewunderung und Vertrauen für seine Götter und Helden erfüllt; aber sein Glaube steht fest nur gegenüber dem Geist und den Grundzügen der Ueberlieferung; er ist kein Wortgläubiger mehr, dem ein bewußtes An= und Umordnen, ein auf künstlerischer Berechnung beruhendes Unterdrücken und Hinzudichten als Entweihung und Vergewaltigung erschiene. Mit künstlerischem Jnteresse, mit der Absicht, die Teile eines nationalen Sagenkreises zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen, tritt der Dichter solcher Schriftwerke an seinen Stoff heran.   Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem Dichter nun inmitten von Kampf und wilder Gewalt, wo vordem düstre Farben vorherrschten, sich in behaglichem Humor zu verbreiten. Die Kleinmalerei begünstigt diese Neigung zu launiger Betrachtung der Dinge außerordentlich. Gedenkt man der immer ausschließlicheren Bestimmung des Vortrags zu festlichen Gelegenheiten, so trat eine äußere Nötigung zum Einflechten heiterer Töne hinzu. ─   Unter den neueren Völkern kam es früh zur Niederschrift eines auf echter germanischen Sage beruhenden Epos in England. Jm 6. Jahrhundert zog ein Held Beowulf mit König Hygelac vom schwedischen Götaland gegen die Franken an den Niederrhein. Mit ihm ist eine mythische Figur Beaw verschmolzen, in der wir die Mannhaftigkeit der Nordsee-Küstenbewohner verkörpert sehen. Diese Sage flog mit nordischen Sängern über Meer nach England, wo sie am Anfang des 8. Jahrhunderts angelsächsische Bearbeitung fand.   Noch zahlreiche Stilelemente des Heldensanges treffen im Beowulf zusammen. Die schmückenden Beiworte und Umschreibungen finden sich ebenso wie die Wiederholungen. Unverkennbar ist vor allem die superlative Ausdrucksweise.   Wie man dem Dichter die naive Gestaltungsfreude anmerkt, ergeht sich denn die Darstellung, die in einem Schriftwerk breiteren Rahmen findet, in behaglicher, stellenweise umständlicher Kleinmalerei, namentlich auch in sorgfältiger Berücksichtigung des höfischen Ceremoniells. Begünstigt von der frühen Einführung des Christentums in England, ist der Durchbruch des milderen Gefühlslebens und reflexiver Vergeistigung bereits klar bemerkbar; schon ist Sinnfälliges in die geistige Sphäre übertragen. ─   Besonders augenfällig wird die sich vollziehende Wendung in der Entwicklung des epischen Stils beim Gegenüberstellen von Behandlungen gleicher Stoffe. Halten wir uns die Darstellung in unserem althochdeutschen Hildebrandslied aus dem 8. Jahrhundert gegenwärtig, so rückt die stoffverwandte Episode von Rustem und Sohrab aus der persischen Epopöe, dem Königsbuch des Firdusi (vollendet 1011), in volle geschichtliche Beleuchtung. Bewahren die Kampfschilderungen selbst noch die alte Kraft, so werden sie doch schon in voller Breite ausgemalt: „Die Schranken waren eng, der Kampf begann, Mit kurzen Speeren griffen sie sich an; So Schaft als Spitze gingen bald in Splitter, Da prallten, links sich wendend, beide Ritter Mit ihrem Hinduschwerterpaar zusammen, Aus beiden Klingen sprühten helle Flammen, Schlag fiel auf Schlag, der Klingen Stahl zerbrach, Es schien, als wär's der Auferstehungstag ...“ Nicht genug an solchen vereinzelten Urteilen des Dichters: Seelenschilderungen durchbrechen weithin die Handlung: „Schweißtriefend stand der Alte wie der Junge, Den Mund mit Staub gefüllt und dürr die Zunge; So ließen denn die beiden ab vom Streit, Voll Weh der Vater und der Sohn voll Leid. O Welt, wie wunderbar ist doch dein Lauf! Du stürzest nieder und du richtest auf! Nicht regte in den beiden sich die Liebe, Nicht zeigte die Verwandtschaft ihre Triebe! Kennt doch ein jedes Tier ─ das Wild der Flur, Der Fisch des Meers ─ sein Junges von Natur, Vom Menschen nur, im Kampfe sonder Frieden, Wird nicht der Sohn vom Feinde unterschieden. Zu sich sprach Rustem so: ‚Dies junge Blut Kämpft hitz'ger als ein Krokodil in Wut ...'“ Ein solches lang fortgesponnenes Selbstgespräch entfernt vollends von der reflexionslosen Gegenständlichkeit und Plastik des alten Liederstils. „Auch Sohrabs Mutter hörte, was geschehn, Daß ihr der Sohn geraubt sei und durch wen: Da ihr Gewand zerriß das schöne Weib, Rubinengleich erschien ihr nackter Leib; Die Hände rang sie, schluchzte laut vor Qual, Jn Ohnmacht sank sie ein ums andre Mal, Die Locken um die Finger rollte sie, Und riß sie aus, nicht Tröstung wollte sie.“ Jn gleicher Ausführlichkeit wird noch weiter ihr Schmerz geschildert, bis sie ihm überdies direkt in einer langen Kette von Versen leidenschaftlich Luft macht. Die Erweichung des Stils erhellt allerorten: „Sagt' ich dir nicht, woran des Vaters Haupt Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt! Nun dein beraubt und ohne Lebenskraft, Verzweifelnd lieg' ich in Gefangenschaft! Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt? Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt.“ § 50. Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung.   Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in Deutschland eingehend verfolgen, müssen wir mit der Thatsache rechnen, daß der Volksgeist inzwischen sich selten rein, selten unbeeinflußt von fremden, auf ihn von außen eindringenden Bildungselementen erhält, und so auch die Poesie, die noch immer im wesentlichen Erzählungskunst ist, unorganischer Beeinflussung ihrer Entwicklung ausgesetzt ist.   Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende Krise der Eintritt des Christentums. Jn deutscher Sprache liegen selbst ein paar heidnische Zaubersprüche mit epischer Haltung vor, in welche nachträglich christliche Namen und Vorstellungen hineingetragen wurden. Charakteristisch für die zunächst unorganische Vermischung der heidnisch=nationalen und der christlich=weltreligiösen Elemente erscheinen für unsere Dichtung alsdann zunächst zwei kleine christliche Dichtungen, die sich weder heidnischer Vorstellungen noch des alten nationalen Stils erwehren können. Jm Wessobrunner Gebet herrschen die formelhaften Elemente so weit vor, daß sich allerhand Berührungen mit andern Gedichten ergeben. Das Muspilli versucht schon höchst bezeichnend eine kriegerische Einkleidung der christlichen Lehre. Eine gewaltige Phantasie gefällt sich in Ausmalung der Schrecken des Jüngsten Gerichtes; die Entwicklung geschieht durchaus anschaulich: sowohl der Streit zwischen Elias und dem Antichristen als der Aufzug zum Gericht entfaltet sich in scenischer Folge. Der zweite Teil beginnt mit einer Quellenberufung. Die gliedweise Beschreibung, der alte Parallelismus hält zu unerschöpflicher Ausmalung der Situation her. Jm ganzen ist doch im Stil das Lyrisch-Christliche vom Episch-Nationalen überwuchert. Doch schon finden sich Erläuterungen und didaktische Elemente, wie denn die Handlung überhaupt Unterbrechungen leidet.   Wir müssen für die modernen germanischen und romanischen Völker dieser Zeit im Auge behalten, daß wiederum die Geistlichkeit, nunmehr die christliche, zum alleinigen Träger der Bildung erwächst. So begegnen wir in England schon während des 8. Jahrhunderts, in Deutschland während des 9. biblischen Dichtungen in Form umfangreicher Schriftwerke. Bedeutsam ragt hier der Heliand und die auf denselben Kreis zurückgehende altsächsische Genesisdichtung auf, weil man den oder die Verfasser unter jenen Geistlichen suchen muß, die, aus dem sächsischen Volke selbst hervorgegangen, den Stil der Volkssänger gründlich kennen und nachempfinden. Jn der Auffassung des Stoffes ist das weltliche Verhältnis eines germanischen Königs zu seinen Gefolgsmannen auf Christus und seine Jünger übertragen, auch sonst sind die orientalischen Zustände unter germanischem Bilde oder doch Kostüm geschaut. Bedingt der christliche Stoff naturgemäß didaktische Elemente und stärkeren Gefühlsdurchbruch, so finden wir doch immer den reichen Formelschatz der altgermanischen Dichtung wieder, in großer Ausdehnung desgleichen die gliedweise vorschreitende Beschreibung und Satzverknüpfung, vor allem auch manch treffend veranschaulichte Scene. Als litterarische Stilmittel bemerken wir aber bereits außer dem Verweilen bei Seelenzuständen die Begründungen und Erläuterungen der Handlung, mancherlei Episoden und behagliche Kleinmalerei, oft doch auch durch unplastische, allgemein gehaltene Erzählung.   Weiter noch entfernt sich geflissentlich vom Volksgesang Otfried, der Verfasser eines in unserm Jahrhundert unter dem Titel „Krist“ herausgegebenen Evangelienbuches. Zwar zeigt sich der Verfasser, ein fränkischer Benediktinermönch, von nationalem Eifer erfüllt, wie schon seine Vornahme beweist, nicht Latein, die Weltsprache der christlichen Mönche, sondern die Muttersprache zu schreiben. Doch in seiner lateinischen Vorrede betont er als Zweck seiner Dichtung, daß durch sie der Volksgesang weltlichen Jnhalts ( laicorum cantus obscenus ) verdrängt werde. So flicht er denn lange moralische und sogar schon symbolische Erklärungen ein, verleugnet auch nie den Gelehrten. Jn psychologischen Reflexionen ergehen sich nicht nur die handelnden Personen, vor allem der Dichter selbst, der überhaupt gern hervortritt; auch Motivierung wird möglichst immer gesucht, Kleinmalerei bisweilen glücklich eingeführt. Dabei erzeugt das Streben nach Veranschaulichung noch immer manch plastisches Bild. Die Auflösung des Langverses in zwei durch Endreim gebundene Halbverse bedingte aber auch eine weitere Auflösung der alten Stilelemente: der parallele Gliederbau des Satzes verliert viel von der alten anschaulichen Architektonik, die Strich auf Strich zu einem plastischen Gesamtbild zusammentrug; jetzt geht er in die Breite oft nur um die Strophe zu füllen. Aehnlich begegnen sich in formelhaften Zusammensetzungen liedartige und litterarische Rücksichten. Die Satzverknüpfung geschieht nach litterarischem Stil schon weithin durch Konjunktionen. ─   Von besonderer Bedeutung ist, zu verfolgen, wie sich die Erzählung nationaler Heldenthaten unter den Händen der Geistlichen gestaltet: von den Händen darf man thatsächlich sprechen, da diese Dichtungen für die Niederschrift gedichtet sind. Das Ludwigslied aus dem Jahre 881 verherrlicht den Sieg, welchen Ludwig III . über die Normannen bei Saucourt davontrug. Jn echt epischer Weise unternimmt es nicht bloß eine Siegesfeier, vielmehr eine Erzählung, zunächst von Ludwigs Vorleben; daran schließt sich die Unterredung zwischen Gott und dem König, alsdann zwischen diesem und seinen Kampfgenossen; an die kurze, bedeutsame Bezeugung des Schlachtgesanges schließt sich eine ganz eng gedrängte Uebersicht über das Anheben des Kampfes; das Lob Gottes macht den Schluß. Die schnelle Handlungsfolge hat der geistliche Dichter indes durch subjektive Zwischenbemerkungen, teils Ausrufe, teils Urteile durchbrochen. ─   Schon Otfried wollte der lateinischen Poesie nacheifern, freilich in deutscher Sprache mit ihr wetteifern. Dagegen gelangen eine Reihe nationaler Sagen von geistlicher Hand zu lateinischer Niederschrift. Während das Waltharilied des 10. Jahrhunderts noch den germanischen Geist und Stil aus dem fremden Gewande hervorblicken läßt, spiegelt der in die Mitte des 11. Jahrhunderts fallende Ruodlieb, wie nun anstelle des alten landfahrenden Reckentums ein seßhaftes Rittertum mit milderen, aber äußerlich glänzenderen Jdealen zur Herrschaft gelangt ist. Die Darstellung umfaßt in epischer Ausführlichkeit alle Lebensverhältnisse; der Dichter selbst tritt beschreibend und lehrend hervor. Der zugrunde liegende Abenteuerroman mischt sich später unter Einfluß der Spielleute mit Zügen aus der nationalen Sage. ─   Zu den christlichen und lateinischen Einwirkungen gesellen sich für die deutsche Erzählung französische und neuere orientalische Einflüsse aus Anlaß persönlicher Berührung im Zeitalter der Kreuzzüge. Epen deutscher Geistlichen, wie das Alexanderlied und das Rolandslied, lassen all diese Elemente durch einander wirbeln; den germanischen Stil bewahren sie am weitesten noch in den Kampfschilderungen. Auch Spielleute schreiten zur Abfassung größerer Schriftepen vor, in die sie mannigfach altepische Stilelemente aus den von ihnen vorgetragenen Liedern übernehmen, im übrigen aber je nach ihrer Bildung ─ auch Kleriker mit Kenntnis des Latein traten in ihre Scharen ─ französische, lateinische und orientalische Quellen hineinleiten. Die Tendenz zu ungeheuerlichen Uebertreibungen und zu drastischer Wirkung läßt den epischen Stil stellenweise bereits arg verrohen. § 51. Fortsetzung: Die nationale Epopöe in Deutschland.   Erst in der Blüte höfischen Rittertums gelangt die nationale Epopöe zur Vollendung.   Schon der Spielmann muß seinen Stil den veränderten Zeitverhältnissen anpassen. Singt er nicht mehr den Volksgenossen, sondern dem König und dem Hofgesinde, singt er nicht mehr vor der blutigen Männerschlacht, sondern zu festlicher Feier, so muß höfische Anschauung eindringen, die Schilderung höfischer Pracht überhandnehmen, überhaupt der Kern der Handlung von Ausmalung unwesentlicher Einzelheiten überwuchert werden.   Festpracht, glänzende Waffen, schmucke Kleider werden mit Vorliebe beschrieben. Das rote Gold beginnt jetzt eine Rolle in der Dichtung zu spielen. Sogar werden Helden nicht selten nach der Schönheit ihrer Rosse und Gewänder beurteilt.   Jn unserer Nationalepopöe, dem Nibelungenlied, entspricht dieser höfischen Ausrüstung bereits eine durchaus höfische Gesin= nung. Für das ceremonielle Benehmen, besonders das zahlreiche Verneigen und Küssen genüge das drastische Beispiel, welches uns Rüdeger vor Hagen zeigt: „Des neig im mit zühten der guote Rüedegêr.“ In tugenden, mit zühten, tugentlîch, zühteclîch kehren ständig als adverbiale Bestimmungen wieder; selbst der sturmküene recke, meister Hilprant , will nach Rüdegers Tod noch „ in sînen zühten zuo den gesten gân “. Daneben werden êre, triuwe, stæte, guot als Jdeale gepriesen. Schlechten Ruf, üble Nachrede fürchtet man; es giebt bereits einen Kodex dessen, „was sich ziemt“: darum thut man etwas von rehte oder umgekehrt, swie künege niene solten . Fürsten und Fürstinnen heißen wol geborn , es giebt stolze ritter, ziere recken .   Zu alledem tritt die Frau, in der Rolle, welche sie im höfischen Leben spielt. Der Glanz ihrer Schönheit und Gewänder kehrt ebenso typisch wieder wie ihre Vorsorge für die fürstlich reiche Ausrüstung abziehender Ritter und das beim Abschied anhebende Weinen. Die Liebe ist nun neben dem Heldentum der bedeutsamste Faktor der Poesie geworden und trägt zur Erweichung der Gefühle wesentlich bei.   Milde und Maß gelten als Jdeal und drängen die im Stoff und alten Stil liegende ungeschlachte Wildheit stellenweise in den Hintergrund. Nun vollzieht sich unter dem Einfluß höfischen Geistes eine weitere Umgestaltung der Charaktere. Neben Hagen und Etzel ist aus dem deutschen Nibelungenliede namentlich an die dämonische Brunhild zu denken, die zu einer vrowen wol geborn , zu einem minneclîchen wîp gemildert ist. Hildebrands Neffe findet im Tode für die Seinen keinen bessern Trost als: „ daz si nâch mir iht weinen, daz sî âne nôt. von eines küneges handen lig ich hie hêrlîchen tôt .“ Einen ähnlichen Gipfel höfischer Gesinnung bezeichnet es, wenn der sterbende Siegfried seinen Sohn nicht etwa beklagt, weil er, der Vater, ermordet ist, sondern weil man es dem Sohne aufmutzen wird, „daz sîne mâge ieman mortlîch hânt erslagen.“ Die Scene ist eben durchgehends ze hove .   Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits feststellen.   Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten durch die verschiedene Vortragsweise. Lernten wir auch die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle von Episoden, daher die Kleinmalerei, der Reichtum an Einzelheiten überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden Parenthesen beliebt.   Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen Motivierung des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung. Nicht nur die Handlungen, auch die Seelenkämpfe der Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen Urteile des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung ein, wie: „daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit “ oder: „von schulden si dô klageten: des gie in wærlîchen nôt.“   Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon mit Bewußtsein bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken der Schriftcharakter, ihr ausgedehnter Umfang sowie mehr oder minder die eingreifende Jndividualität des Dichters aufgedrückt.   Wie sich jedoch diese ersten auf nationale Sage zurückgehenden Schriftwerke von den alten Volksgesängen sondern, so heben sie sich nicht minder klar von den zahlreichen teils gleichzeitigen, teils späteren Erzählungen ab, die auf nichtsagenhafte, wohl gar fremde Quellen zurückgehen ─ oder selbst die nationalen Sagen in gefühlvolle Subjektivität auflösen. Denn unaufhaltsam schreitet die Entwicklung fort. § 52. Entartung des nationalen Erzählungsstils.   Auf indischem Boden spiegelt die Stildifferenz zwischen älteren und jüngeren Teilen des Mahabharata bereits den Zug der Entwicklung: vom Konkreten und Starren zum Gefühlvollen, Weichen. Das Ramajana veräußerlicht den Zug zum Abenteuer und zu möglichst wunderbaren, bunten Kämpfen, läßt vor allem die milden Tugenden, Liebe, Buße und Entsagung den kriegerischen Geist der Heldensage durchbrechen. Später noch, in den Epen eines Kalidasa, treffen alle Kennzeichen eines künstlicheren Geschmacks zusammen. Die volle Versandung in Didaktik wird durch den Versuch des Battikavja belegt, die Grammatik poetisch zu erläutern. Der Gipfel der Verkünstelung wird erstiegen, wenn Kaviraja es gar unternimmt, durch Zusammenhäufung doppelsinniger Wendungen mit denselben Worten zugleich die Fabel des Mahabharata und des Ramajana zu erzählen.   Weit entfernt von einer Erstarrung zu doktrinärem Regelwerk, tritt uns ─ trotz aller Variationen, denen lebendige Organismen wie die Geisteserzeugnisse verschiedener Kulturvölker naturgemäß ausgesetzt sind ─ mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit in Griechenland derselbe Grundzug der Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten entgegen, und wir vermögen ihn psychologisch sehr wohl zu begründen.   Jn viel höherem Maße und auf weit längere Zeit als unser Nibelungenlied beherrschten die Homerischen Gedichte die litterarische Tradition. Zunächst richtet sich ausdrücklich das litterarische Mühen auf Fortbildung der Homerischen Poesie. Die Kykliker können sich trotzdem der schon leise beginnenden Auflösung des epischen Stils nicht erwehren.   Bereits in der Gestaltung des Stoffes tritt unorganische Willkür und selbst Verrohung hervor. Anstelle des künstlerischen Ernstes reißt ein freies Spiel mit der Sage ein, anstelle der einfachen Gediegenheit die Sucht nach Mannigfaltigkeit und äußerer Lebhaftigkeit. Das Streben nach drastischen Effekten verleitet bisweilen zu unverantwortlichen Geschmacklosigkeiten: so läßt man Thersites der toten Penthesilea ein Auge ausschlagen und darauf von Achill durch einen Faustschlag getötet werden.   Nicht minder aber bekundet die Erzählungsweise eine Zersetzung des objektiven Geistes. Jn unverkennbarer Ausdehnung wächst die Neigung an, über die Personen zu reden statt sie selbst andauernd handeln und reden zu lassen. Der Dichter führt ihre Sache, wo sie ehedem ganz auf eigenen Füßen zu stehen schienen. So greift denn auch die Subjektivität des Dichters ein: er stellt nicht nur dar, er reflektiert gern über die Handlung. Während Homer die bei ihm schon ziemlich ausgedehnten Sentenzen und allgemeinen Urteile den handelnden Personen je nach Charakter und Situation in den Mund legt, giebt nun der Dichter oft seine eigene Weisheit kund.    Hesiods Darstellungsweise sucht zwar formalen Anschluß an den Stil Homers, soweit sie nicht durch die hymnischen Quellen bestimmt ist. Dennoch legt die losere Aneinanderreihung heterogener Elemente beredtes Zeugnis ab, daß die klassische Harmonie der Form bereits gesprengt ist. Hesiod ist es bereits, welcher in der griechischen Poesie den lehrhaften Zug stark herausarbeitet. Die Spruchweisheit feiert in seiner Darstellung Triumphe, allgemeine Erfahrungen treten weithin anstelle individueller Zeichnung von Einzelgestalten. Das landwirtschaftliche Lehrgedicht inmitten der „Werke und Tage“ sowie schon die Bestimmung des Ganzen zur praktischen Einwirkung auf seinen Bruder verbieten es überhaupt, diese Dichtung für das eigentlich epische, erzählende Gebiet in Anspruch zu nehmen.   Doch auch im Epos selbst wächst der didaktische Zug an. Die Naturphilosophen übertragen die erzählende Form vollends auf jenes Gebiet, das, obschon zugleich materiell und geistig, doch der plastischen Gestalten entbehrt und in das Reich der Allegorie hinüberleitet.   Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung menschlicher Verhältnisse kommen auf epischem Gebiet seit Beginn der lyrischen Blüte zur Verwendung. Die Batrachomyomachie bietet ein besonders augenfälliges Zeugnis von der Parodie des heroischen Stils. ─   Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen Epos. Nach Firdusis Zeiten treten die verschiedensten Anzeichen einer beginnenden Entartung des epischen Stils hervor. Virtuoses Spiel mit Worten und Bildern, formale Effekthascherei läßt schon äußerlich die Verflüchtigung des ernsten Heroengeistes erkennen. Unentrinnbar dringen didaktische Neigungen vor. Eine glänzende Erscheinung wie Nizami repräsentiert den phantastischen Geist, der zweihundert Jahre nach Firdusi zu voller Herrschaft gelangt ist: wieder mehr Abenteuer als nationale Heldenthaten, die Liebe als ein ausschlaggebender Faktor im Ritterleben, mehr ein Zug zum Jdyllischen als zum Erhabenen, Großen.   Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender Prozeß in jedem Völkerleben, wirkt doch auf die echte epische Form auflösend. Mit Saadi ist die persische Litteratur voll und bewußt in das Zeichen des Geistes getreten: die Erzählung ist zur bloßen Jllustration einer sittlichen Wahrheit herabgedrückt. Mit ihr hebt er an: „Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken, Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken. Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist; Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist; Getroffen ward er von des Schicksals Streichen, Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen? Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld, Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld, Daß sich nach dir die Augen vieler wenden Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen. Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm: Nein, sie ist der Propheten Eigentum.“ Erst nach solcher ethischen Einführung setzt die eigentliche Erzählung ein: „Jn einer Woche war, wie ich vernommen, Kein Wandrer einst zu Abraham gekommen. Jn edlem Sinn aß früh er nichts allein, Es kehrte denn ein Armer bei ihm ein“ etc. Auch innerhalb der persischen Litteratur verflüchtigt sich der epische Stil schließlich in Symbolistik und Allegorie. ─   Von den romanischen Völkern erregen zunächst die Franzosen durch die bedeutsame Wendung in der Geschichte ihres Epos Aufmerksamkeit. Das Rolandslied und die übrigen Behandlungen des kärlingischen Sagenkreises geben vorerst in schmuckloser Thatsächlichkeit schlicht objektive, von nationalem Geist, Vaterlandsliebe und Vasallentreue wie von frommer Gesinnung erfüllte Bilder heldenhafter Kämpfe. Welche Umbiegung auch der romanische Geist erfährt, läßt sich an den Geschicken der Rolandsdichtung vornehmlich auf italienischen Boden erkennen. Aus dem kraftvollen Recken, der für Karl den Großen einen Heldentod stirbt, macht bereits Bojardo einen abenteuernden Liebeshelden, eben den „Verliebten Roland“, den schon der Titel seines Epos ankündigt. An dieses schließt sich als Fortsetzung „Der rasende Roland“ des Ariost, eine in ihrer Art glänzende Bekundung romanischer Weltlust und Genußfreude. Jn farbenreicher Pracht entfaltet die Phantasie ihre ganze Fülle und Weichheit. Hier ist sogar keine Frage, wen wir als den größeren Künstler anerkennen werden: den Dichter des alten Rolandliedes oder Ariost. Fragen wir jedoch, wo dies glänzende Werk in der Geschichte des epischen Stils steht, so erkennen wir ihm gewiß einen Gipfel zu, aber die schönste Vollendung derjenigen Darstellungsform, die mit dem objektiv erzählenden Stil entschlossen gebrochen hat, um in üppigster Behaglichkeit das Subjekt auszuleben, die Erscheinungen der Außenwelt mit souveräner Phantasie zu überfliegen.   Gerade Frankreich selbst sollte den Geist zur Blüte heranreifen lassen, der als Ferment an der Zersetzung des epischen Stils bei den modernen Völkern überhaupt thätig war. Jm Zeitalter der Kreuzzüge geschieht die Berührung mit dem Orient, von dessen Wundergeschichten sich die leicht erregliche Phantasie der Romanen lebhaft angezogen fühlte. Auch begünstigte der abenteuerliche Geist der Kreuzzüge die Sucht ins Ferne, Phantastische; handelte es sich doch nicht mehr um nationale Existenz- und Entscheidungskämpfe, nicht einmal um nationale Jnteressen. Zu alledem machte die mächtig geweckte Gefühlswelt ihre Rechte unmittelbarer geltend: genug, es waren alle Bedingungen für einen Umschwung des epischen Stils bei den modernen christlichen Völkern gegeben.   Jnternationale Verbreitung und Färbung gewinnt die bretonische Sage vom König Artus und seiner Tafelrunde fahrender Ritter. Vor allen hat Chrestien von Troyes die Sagen dichterisch behandelt, die sich an Abenteuer hervorragender Artusritter knüpften. Noch immer sollten erhebende Muster der Ritterlichkeit und heldenhafter Gesinnung aufgestellt werden. Aber wie das Jdeal des Heldentums hatte sich auch die Form seiner Darstellung gewandelt. Phantastische Abenteuerlust und Liebesverwicklungen heischen eine andere Wiedergabe als rauh männliche Kämpfe um Sein oder Nichtsein des Stammes. Leichter Fluß der Erzählung, Buntheit der Farben, künstliche Spannung, gefühlvoll sinnende Reflexion treten nun anstelle einfacher Erhabenheit gegenständlicher Gestaltung. Eine neue Bahn ist eröffnet, auf welcher die festen Gestalten, die scenisch entfalteten Thatsachen von der Schnellkraft des auf sich selbst gestellten Gefühlslebens rasch überflügelt werden. § 53. Fortsetzung: Entartung des deutschen Epos.   Lenken wir unser Auge auf die weitere Entwicklung des heimischen Erzählungsstils, so werden wir Zeugen, wie selbst die Behandlung der nationalen Sage mehr und mehr den gleichzeitigen Einflüssen fremder Stilarten und der überwuchernden Gefühlsweichheit, für welche das deutsche Geistesleben nun reif geworden, erliegen.   Gegenüber dem Nibelungenlied und der im Stil ihm nahestehenden Dichtung von Alpharts Tod zeigt schon die Gudrun weitere Fortschritte auf diesem Wege, der, weit entfernt zu größerer künstlerischen Vollkommenheit überzulenken, den erzählenden Stil im letzten Ende vielmehr seiner Auflösung entgegenführt. Die Gudrun wenigstens bewahrt noch weithin die alte elementare Kraft. Freilich ist die Ueberlieferung auch hier in höfisches Gewand gekleidet; daneben dringen aus romanischen bezw. orientalischen Quellen mancherlei zauberhafte Züge ein. Drastisch äußert sich die Verquickung heterogener Dinge, wenn in heidnische Elemente christliche Anschauungen hineingetragen werden: so wenn ein weissagender Vogel ein Engel Gottes genannt oder wenn nach der Schlacht auf dem Wülpensande ein Kloster gebaut wird. Die nachträgliche, äußerlich gebliebene Uebertragung christlicher Anschauungen auf den heidnischen Stoff bahnt sich schon im Nibelungenlied an.   Während indes diese Sagen durch die Sorgfalt ritterlicher Dichter eine würdige und im ganzen noch immer harmonische Gestalt gewinnen, entarten andere besonders unter Spielmannseinfluß immer weiter. Ja selbst diejenigen Sagengestalten, die in der Dichtung bereits eine in ihrer Art klassische Form gefunden, sind später unwürdiger Herabzerrung ausgesetzt. Anstelle des heiligen Ernstes, mit dem der alte Sänger zu seinen Gestalten aufblickte, anstelle der Bewunderung und Liebe, mit der sie noch der Dichter der Epopöe hegte, reißt ein schwankhafter Ton, eine ironische Beleuchtung ein.   Verfolgen wir einige Heldengestalten in ihren litterarhistorischen Schicksalen. Schon Theodorich und Hildebrand erliegen arger Herabdrückung. Der große Theodorich wird zum jungen, fürwitzigen Dietrich, dem gegenüber sein Waffenmeister Hildebrand das weise, überlegene Alter repräsentiert, eine Art Vorsehung spielt. So soll Dietrich im „Rosengarten“ des 13. Jahrhunderts mit Siegfried kämpfen, scheut sich aber vor diesem Wagnis. Da versucht Hildebrand ihn durch einen Faustschlag zur Wut zu reizen: mit einem Schwerthieb rächt Dietrich den Schimpf und stürmt dann gegen Siegfried an. Weil er indes lange den Gegner nicht zu besiegen vermag und schon sein Ermatten zu befürchten ist, läßt Hildebrand ihm die Kunde zutragen, der rächende Schwerthieb habe ihn, den Waffenmeister, getötet. Nun flammt Dietrichs Zorn furchtbar auf, und Siegfried muß zu der Kriemhild Füßen Schutz suchen. Da sprengt Hildebrand heran: „Du hast gesiegt, nun bin ich wiedergeboren!“ ─ Hier sind alle Charaktere ─ Dietrich und Hildebrand wie Siegfried ─ gleichmäßig ins Schwankhafte gewendet. So kam es schließlich zu einer Art Travestie des Hildebrandsliedes, zu einer neuen, nunmehr humoristischen Behandlung des alten Stoffes. Dies jüngere Hildebrandslied des 15. Jahrhunderts nimmt einen glücklichen Ausgang. Schließlich wird sogar ein zweiter Kampf angefügt, ein Scheinkampf vor den Augen von Hildebrands Frau. Zum Schein läßt sich dieser vom Sohn gefangen nehmen, wird alsdann aber an der Tafel obenan gesetzt. Als die Mutter es dem Sohn verweist, einen Gefangenen derart zu ehren, enthüllt der junge Held das Geheimnis, und so löst sich die düstere Reckensage in eitel Scherz und Wohlgefallen.   Wo es sich, wie bei diesem jüngern Hildebrandslied, nochmals um ein zum Sang bestimmtes Lied handelt, finden sich im Stil naturgemäß wieder eine Reihe von liedartigen Elementen an. Sonst aber ist der Abstand dieser Wortlust und muntern Behäbigkeit von der alten Einsilbigkeit und kraftvollen Gedrungenheit unverkennbar; am meisten wird man an den Ton der Spielleute erinnert. „Der alt det sine pflegen wol in dem grunen tan, pis er dem jungen degen sein waffen untertran; er tet in zu im rucken, do er amm schmelsten was, und warff in an den rucken wol in das grune gras. ‚Wer sich an ein alten kessel reibt, der fecht so geren ran. sag, junger, wis umb dich beleibt; wie sol es dir dergan? nun sag mir her dein peichte: dein prister wil ich wessen. pistu ein Wulfing villeichte, so mochstu wol genessen.'“ Der Dichter arbeitet reichlich mit Flickworten. Die Neigung zur Großsprecherei wie zu Sentenzen tritt gleich charakteristisch hervor.   Auch die Gestalt Siegfrieds erlag noch weiter der travestierenden Art, in welcher seit dem 13. Jahrhundert die Heldensage zu Schwänken und Schnurren herhalten mußte. Das spätere Lied vom „Hürnen Seyfried“ erzählt anekdotisch Siegfrieds Aufenthalt beim Schmied, seinen Kampf mit dem Lindwurm und die Erwerbung der Hornhaut. Jn welchem Maße die Sage verliedert war, zeigt das Durcheinanderwerfen der verschiedensten Gestalten und Ereignisse. So befreit Siegfried hier nicht mehr Brunhilden, sondern Kriemhilden, und zwar aus der Gewalt des Drachen! § 54. Das internationale Ritterepos.   Während so die nationale Sage, der eigentliche Gehalt der Erzählungskunst während ihres Blühens, der Entartung anheimfiel, fordert die Zeit noch in andrer Weise vom epischen Stil ihren Tribut. Schon sahen wir Reflexion über Gefühle in die Darstellung der Thatsachen eindringen; im Zusammenhang mit dem nun hereinbrechenden Zeitalter lyrischer Blüte sowie unter Begünstigung durch romanisches Muster tritt zusehends die Erzählung der Thatsachen immer weiter in den Hintergrund, zu Gunsten eines Schwelgens in Gefühlen. Nicht sowohl die äußeren Geschehnisse als die Seelenzustände gewinnen für dies Zeitalter das Hauptinteresse: anstelle der Thatenfreude tritt die Selbstversenkung.   Jn der auf nationale Sage zurückgehenden Epopöe bilden die Großthaten der Vorfahren noch einen starken Damm konkreter Geschehnisse gegenüber dem sich regenden modernen Gefühlsleben. Viel weniger behindert flutet es in die Darstellung der fremdher geholten Abenteuer, die nun zu einer Art internationaler Stoffwelt an einander rücken. Auch in die deutschen Bearbeitungen geht überdies weithin der Stil ihrer romanischen Quellen über.   Wohl konnten hie und da eine Reihe günstiger Umstände zusammentreffen, um auch diesem neuen Stil einen gewissen Zusammenhang mit der alten Erzählungskunst zu wahren. Wenn ein echter und deutsch=gemütvoller Dichter wie Wolfram von Eschenbach sich fremder Stoffe bemächtigt, muß sich der Darstellung notgedrungen etwas von heimischem Geist aufprägen, zumal seine fränkische Heimat nicht unmittelbar der fremden Hochflut ausgesetzt war. Kommt hinzu, daß er, des Schreibens unkundig, zu mündlichem Diktat seiner Dichtung genötigt ist, so muß von selbst ein gut Stück Anschaulichkeit des liedartigen Stils in seine Erzählung übergehen.   Wolfram behält aus dem nationalen Stil nicht nur eine Fülle einzelner alter Wörter und Wendungen bei, welche in andern Ritterepen bereits durch neumodische ersetzt wurden, besonders die Bezeichnungen für Helden und für den gesamten Bereich des Kampfes. Jn alter Weise sucht er vor allem anschaulich in die Situation zu versetzen ( man sach, schouwet &c.). Die thätigen Organe der Handlung kommen aus gleichem Anlaß zur Bezeichnung. Schmückende Beiwörter sind zahlreich. Ebenso wird von Vorgängen gern ein charakteristisches Merkmal genannt, wie denn spezielle Momente vor allgemeinen fast immer bevorzugt sind. Auch der tiefe, heilige Ernst der Darstellung wahrt die alte Würde der Poesie; der Humor hält sich durchaus auf jener feinkomischen Höhe, die wir von der behaglichen Darstellung der Epopöe erreicht sahen. Eine Verschmelzung des deutschnationalen mit dem christlichen Geist ist hier zur Harmonie gediehen.   Von jüngeren Stilelementen finden wir, auch abgesehen von Quellenberufungen, Anreden an das Publikum sowie zahlreiche persönliche Bemerkungen. An Gleichnissen und Bildern ist Wolfram unerschöpflich. Am weitesten entfernt er sich vom alten Stil durch Operieren mit abstrakten Begriffen, die er gern personifiziert. Vor allem aber geht er auf Seelenschilderungen ein, durchtränkt auch die Erzählung mit subjektiv= ethischen Betrachtungen. Jm allegorischen Stile der Zeit zeigt sich nun die Handlung oft von den Befehlen der Frau Minne oder der Frau Aventiure gelenkt.   Weiter griff die Abwendung von dem überkommenen nationalen Stil in den übrigen ritterlich=abenteuerlichen Modedichtungen. Anstelle der Kraft ist schon mit Heinrich von Veldeke Sanftheit getreten. Auf die Gemütszustände wird eingegangen, ohne daß man zunächst mit dem Herzen anteilnimmt. Von Menschen wird mehr die prächtige Kleidung als die Gestalt gezeichnet. Wichtiger fast werden die Rosse behandelt. Neben lebhaften Fragen und Ausrufen greifen Monologe ein. Die Etiquette ( zuht ) bestimmt das Benehmen, ohne daß dadurch frivole Elemente ferngehalten werden. Vor allem ist die Liebe ( minne ) zu einem sentimentalen Gefühl erwachsen: sie ist Allgewalt und Krankheit, macht kraftlos, heiß und kalt.   Der Schwabe Hartmann von Aue giebt diesem Stil zwar eine gewandte, harmonische Durchbildung. Eine Herrschaft der konventionellen Empfindungen hebt jedoch an; maßvoll und farblos wie die Gefühle ist die Darstellungsweise. Allerdings gestaltet sich nun die Verknüpfung der Sätze, die Ueberleitung der Gedanken immer kunstvoller. Jm übrigen aber verliert die Darstellung an künstlerischer Schärfe: anstelle des Besondern tritt das Allgemeine, das Einzelne wird durch den Typus bezeichnet. Das innere Leben tritt unter Zurückdrängung thatsächlicher Erzählung nun in den Vordergrund. Die menschlichen Affekte werden personifiziert ─ die Darstellung mündet immer tiefer in Allegorie ein. Auch die Wirkung der Gestalten und Geschehnisse auf andere ist schon ins Auge gefaßt (wer hätte sie gesehen, der nicht geweint hätte? u. dgl.) ─ womit über das lyrische Niveau schon auf ein Moment dramatischer Psychologie leise vorgedeutet wird, wie der Dichter denn auch gemischte Gefühle zu analysieren weiß. Die Charakterzeichnung freilich arbeitet fast ausschließlich mit leuchtendem Weiß und tiefem Schwarz.   Zu psychologischer Vertiefung, zur poetischen Bemeisterung der Leidenschaft dringt erst Gottfried von Straßburg vor. Die subjektiven Elemente, die Gefühle der Personen wie des Dichters, gelangen nun zu einer souveränen Herrschaft. Dem entsprechend sehen wir den gesamten Stil einer vollendeten Umwälzung unterzogen. Reich an psychologischen Erläuterungen und an rhetorischen Reflexionen, geht die Darstellung nun entschlossen in erster Linie auf Durchdringung des Geistigen. So erklärt sich auch die zunehmende Vorliebe für Allegorien: statt von dem Schwerte und tapfern Kampfgenossen ist ein Held nun von personifizierten geistigen Eigenschaften im Kampfe unterstützt; nun greifen Wendungen platz, wie sie uns schon in ihrer prinzipiellen Bedeutung bekannt geworden: „Ir kleider wâren ûf geleit mit vier hande rîcheit, und was der vierre iegelîch in ir ambete rîch. daz eine daz was hôher muot, daz ander daz was vollez guot; daz dritte was bescheidenheit, diu disiu zwei ze samene sneit; daz vierde daz was hövescher sin: der næte disen allen drin.“ Ebenso: „ Ir muoten harte sêre sîn triuwe und sîn êre: so muote in aber diu minne mê. diu tet im wirs danne wê; sî tet im mê ze leide dan triuwe und êre beide.“ Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte symbolisch auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es leuchtet ein, daß wir damit vor dem vollen Gegensatz zum ursprünglich epischen Stil stehen. So finden wir bei Gottfried denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich direkt ausspricht und zugleich in kunstvollster Stilistik bethätigt. Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung. Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes. § 55. Das allegorische Epos.   Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen. Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven. Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des Dichters über die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen. So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit.   Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Konrad von Würzburg läßt in seiner „Klage der Kunst“ die personifizierte Kunst von der Phantasie in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande gegen die Freigebigkeit erfolgreich Klage führt. Als Richterinnen treten auf: Frau Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit, Treue u. a.   Jm 14. Jahrhundert stellt Hadamar von Laber das Liebeswerben unter dem Bilde der Jagd dar. Wenig geschmackvoll erscheint das Herz als Hund, der auf die Spur des Wildes führt. Auch Beständigkeit, Treue, Lust sind als Jagdhunde personifiziert.   Noch Kaiser Maximilian I . ließ im „ Teuerdank “ unter allegorischer Vermummung seine Brautfahrt zu Maria von Burgund (Ehrenreich) erzählen. Als Feinde stellen sich dem Helden Fürwittig, Unfalo, Neidelhart entgegen.   Mit dem allegorischen Epos ist die epische Form vollends aufgelöst: Thatsachen und Gestalten, alle Elemente der Erzählung dienen nur noch als Vermummung von Jdeen. § 56. Das Tierepos.   Die gesamte Entwicklung, deren Zeuge wir geworden, spiegelt sich in dem engeren Rahmen des Tierepos. Darf man doch ursprünglich von einer Art Tiersage sprechen, deren Wurzeln bis in die Zeit der Hirtenvölker zurückreichen mögen. Jedenfalls beruhen die ersten Erzählungen aus dem Tierreich auf naiver Anteilnahme an dem Leben und den Charakteren der in Feld und Wald beobachteten Geschöpfe. Das ist aus den mittelalterlich lateinischen wie aus den französischen Bearbeitungen zunächst ersichtlich. Ein deutsches Epos über die um den Kampf zwischen Fuchs und Wolf konzentrierte Tiersage besitzen wir bruchstückweise unter dem Titel „ Isengrîmes nôt “ von Heinrich dem Glîchezære (Gleißner, Pseudonymus). Um 1180 entstanden, berührt es sich ziemlich eng mit dem nationalen Stil, wie er noch im Nibelungenlied und den besseren Erzeugnissen der Spielmannsdichtung des 12. Jahrhunderts erscheint. Vor allem aber läßt uns die Geschichte einer germanischen Fuchsdichtung, deren Kernpartie um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Holland gedichtet ist, den Zug der epischen Entwicklung klar verfolgen.    Willems ursprüngliches Gedicht „ Van den Vos Reinaerde “ hält sich prinzipiell im erzählenden Stil, ohne andere Beimischungen als kürzere Sentenzen, wie sie auch im Heldenepos begegnen. Jede lehrhafte Zuspitzung der Handlung, ja jeder aufdringliche Hinweis auf entsprechende menschliche Verhältnisse fehlt.   Dieses naive Kunstwerk voll reiner Gestaltungsfreude findet im 14. Jahrhundert eine Ueberarbeitung und Erweiterung: „ Reinaerts Historie “. Die Zuthaten sind schon inhaltlich dürftig, rein äußerlich zusammengeraffte weitere Abenteuer und heterogene orientalische Wundergeschichten. Die Sentenzensucht ist stark angewachsen, gelehrte Elemente bekunden sich in Citaten und Anspielungen aller Art. Mehr noch fällt die grundsätzliche Umbiegung des absichtslosen Stils in eine bewußte Satire auf menschliche Verhältnisse ins Gewicht.   Gegen Ende des 15. Jahrhunderts zieht Hinrek van Alckmer die weiteren Konsequenzen des einmal eingeschlagenen Verfahrens, indem er seiner neuen Ueberarbeitung hinter jedem einzelnen Kapitel ausdrücklich eine didaktische Auslegung als Prosaglosse einverleibt. Eine niederdeutsche Uebertragung des derart zustande gekommenen Werkes bietet unser „ Reinke de vos “.   So spiegelt diese Erzählung die verschiedensten Entwicklungsstadien des epischen Stils. Zunächst macht sich die Anschaulichkeit der Darstellung angenehm bemerkbar. Wald und Feld waren nicht nur grün: sie standen grün; sie standen nicht nur grün: man sah sie grün stehen ( datmen de wolde unde velde sach grone staen ). Noch ganz wie im Nibelungenlied wird anstelle moderner Präposition ein besonderer Satz mit besonderer Handlung gebaut: nach dieser Klage == do desse klaghe was ghehort , ging zu Jsegrim == gynck, dar he Ysegryme vornam . Ebenso wenig fehlt es an den formelhaften Elementen echt epischer Rede. Besonders der Titelheld Reinke ist reichlich, freilich wenig schmeichelhaft bedacht: nicht nur de rode heißt er, auch de valsche, de loze wycht, de loze deef u. s. f. Paarweise zusammengeordnete Begriffe greifen mit Vorliebe spezialisierend anstelle allgemeiner Begriffe ein: arm unde ryke, gy kleynen unde gy groten, wer meer edder mynder, ysset by nachte efte ysset by daghe . Die altepische Sucht nach Zerlegung der Handlung in all ihre Teile äußert sich namentlich darin, daß sie erst als geschehend, dann ausdrücklich noch als vollendet erwähnt wird: Reynke alsus was ghevangen; ... do Reynke alsus was ghevangen ... Wie in der Epopöe wird in aller breiten Kleinmalerei von der ursprünglichen Wortkargheit noch immer Gebrauch gemacht, insofern jede neue Wendung desselben Gedankens auf die alten Ausdrücke zurückgreift: wente de schat was ghestolen; ... hadde de schat nicht ghestolen worden; ... dat de schat sus ghestolen wart . Auch Parallelismus zur näheren Bestimmung oder Erweiterung des Begriffes zeigt sich in großer Ausdehnung: Eft Reynke er gaff eyn deel syner truwen, Vrouwen Ghyremod, der schonen vrouwen ; ferner: Dat ik en under de oghen mach seen, Den konninck, unde so myt em spreken ; ähnlich: Dat schal em syn eyn ewych vorderff, Em unde ok al syneme slechte . Schließlich finden sich in Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil nur wenige und einfache Bilder.   Jüngere Stilelemente, wie sie zuerst in Spielmannskreisen virtuose Ausbildung fanden, dokumentieren sich in Zwischenbemerkungen aller Art: Wahrheitsbeteurungen, lebhaften Ausrufen, Schwüren, Flüchen, Anreden an das Publikum u. a.   Das Stilmittel der Parenthese, das sich unter französischem Einfluß bei uns verstärkte, hat hier große Ausdehnung gewonnen. An höfischen Wendungen fehlt es schon im ersten Buche nicht.   Den Uebergang zu einer andern Stilart bezeichnet sofort am Beginn der jüngeren Partie eine Folge rein lyrischer Verse. Sind im übrigen altepische Stilelemente noch in Ausläufern vertreten, so überwuchern doch nun didaktische Elemente und in zunehmendem Maße treten rekapitulierende Rückblicke anstelle unmittelbarer Geschehnisse. Gegen Schluß wird die verallgemeinernde Typisierung und moralische Absicht direkt aufgetragen: Dar synt vele Reynken nu in der warde (Wol hebben se nicht al rode barde), Isset in des pawes, efte keysers hoff. Se makent eyn deel nu yo to groff &c.   Den vollen Uebergang der Tiererzählung in moralisierende Dienste bezeichnet die endliche Gestalt der Fabel. §. 57. Das christliche Epos.   Jn der vorschreitenden Vergeistigung des Epos nimmt die aus christlich religiöser Versenkung erwachsene Erzählung eine besondere Stelle ein. Die Heiligung des Geistes, die Ertötung der Sinne mußte der schwärmerisch sehnenden Lyrik einen gewaltigen Aufschwung verleihen: in der Epik mußte sie an der Auflösung der konkreten Form wirklicher Thatsachen grundsätzlich teilnehmen, um volle seelische Durchdringung, wennschon nicht reine Geistigkeit, zu erreichen und das Uebersinnliche auszumalen.   Der Gegensatz der romanisch=katholischen und der germanischprotestantischen Weltanschauung kommt auch auf diesem poetischen Gebiete zum Durchbruch.   Mit großartiger Einbildungskraft beschwört Dante Himmel und Hölle, um den Zustand der Seelen nach dem Tode zu ergründen. Nicht der Erde, sondern dem Jenseits gehören die Gestalten seiner Göttlichen Komödie; mit schreckensvoller spätmittelalterlicher Phantasie sind die Qualen der Sünder, ist die Seligkeit der weltüberwindenden Liebe und Erlösung visionär geschaut.   Ein Vierteljahrtausend trennt Tasso von ihm. „Das befreite Jerusalem“ wählt im wesentlichen eine irdische Handlung, ja man meint stellenweise das Muster Homers zu erkennen; aber nicht die geschichtlichen Thatsachen, die er sich anschickt zu erzählen, ziehen den Dichter an: er schaut die Dinge nicht in ihrem Kern, er umspinnt sie mit seinen Träumen, taucht sie in eine Wunderwelt. Tasso entrückt die christlichen Ritter aus der Welt des bloßen Abenteuers in den Dienst einer höheren, religiös geweihten sittlichen Aufgabe. Aber Himmel und Hölle, christliche Heldenthaten und verklärte Liebesabenteuer sind weniger aus religiösem als künstlerischem Jnteresse gezeichnet. Tasso will kein Weltbild geben, auch kein Bild des Uebersinnlichen, nur ein Phantasiebild.   Noch weiter greift die Naturentfremdung in der protestantischen Dichtung Miltons. Der individuelle Geist ist ganz auf sich allein gestellt, die souveräne Freiheit des Christenmenschen macht sich zum Herrn der objektiven Welt, die ihm nur eine Erscheinungsform der inneren Welt ist. Nicht mehr Gestaltenfreude, und sei es die Freude an den Gestaltungen der Phantasie, sondern sinnende Versenkung in die moralische und metaphysische Welt führt den Griffel. Philosophische Reflexion über den Ursprung des Uebels, wie sie die ganze konsequent=protestantische Christenheit während des 17. und 18. Jahrhunderts in Erregung hielt, wird hier in die Erzählung vom Verlorenen und vom Wiedergewonnenen Paradies als Kern der Handlung versenkt. So wird die Darstellung bei allen Versuchen, das Uebersinnliche in seinen großen Zügen wie im kleinen Detail vernunftgemäß auszumalen, vorherrschend zum rhetorischen Ausdruck fortreißender Begeisterung für den erhabenen Gegenstand.   Einen ferneren Schritt zur Auflösung epischer Gestaltenwelt geht Klopstock. Wenn sein „Messias“ in mächtigen Tönen die klassische Periode unserer Litteratur einläutet, so bekundet sich noch einmal die ganze Bedeutung epischer Poesie: der Grundzug ihres Wesens, der in allen Variationen ihrer Form erhalten bleibt, tritt noch einmal in majestätischem Strom vor unser Auge. Bewunderung für Gestalten einer höheren Welt, einer über unseren Durchschnitt hinausragenden Sphäre, und Erhebung zu der heroischen Größe dieser Gestalten hat all der platt naturalistischen Alltäglichkeit, jenem kriechend niedrigen Stil der Gottsched-Zeit ein Ende bereitet. Plastik, gar Jndividualität ist freilich einer Messiasdichtung nicht voll erreichbar. Aussprache von Empfindungen steht im Vordergrund. Die ruhige Erzählung ist immer wieder durchbrochen, indem den Wirkungen auf die Bewohner von Himmel und Hölle, auf die gegenwärtige, vergangene und zukünftige Menschheit nachgegangen wird. Lyrische Darstellungsmittel haben sonach die epische Form weithin überwuchert. § 58. Ausläufer des Epos.   Noch war dem Epos in der Neuzeit eine Nachblüte beschieden. Wir verweisen nur für Deutschland auf Wieland und Goethe, für England auf Byron.   Sehen wir indes selbst von dem idyllischen Grundzug der Goetheschen Dichtung „Hermann und Dorothea“ ab, so bedingt der bewußte Anschluß an den Stil Homers die Feststellung, daß es sich hier nicht mehr um ein neues Stadium in der organischen Entwicklung des epischen Stils handelt; vielmehr ermöglicht in der Neuzeit das Eingreifen litteraturgeschichtlicher Studien den bewußten Anschluß an jede beliebige Stilart fremder Zeiten und Zonen. Wenn von allen solchen Versuchen dieser den harmonischsten Eindruck erweckt, so liegt die Erklärung außer in der Kunst Goethes vor allem darin, daß Homer, wie wir sahen, eine gewisse Harmonie des epischen Stils, einen gewissen Ausgleich liedartiger und schriftgemäßer Elemente darstellt.    Wielands epische Gedichte andererseits nehmen den Stil der romanischen Ritterdichtung auf, um auch ihn in seiner Art zu meisterhafter Harmonie zu führen.   Jn Byrons Poesie sehen wir vollends die Erzählung nur zum Faden eingeschrumpft, dem die leidenschaftlich lyrischen Gefühle aufgereiht sind.   Auch in der Gegenwart herrscht der subjektive Stil durchaus vor; ist es doch zu direkt lyrischen Einlagen gekommen. Daß er auf kleine Gegenstände gewandt ist, daß er Naturburschen, Spielleute u. dgl. zu Helden wählt, bezeichnet vollends das Herabsinken des Epos von jener Höhe, die seine Herkunft aus dem Heroenzeitalter bekundete. § 59. Roman und Novelle.   Jn die Verfallzeit des Versepos fällt die Ausbildung der Prosaerzählung. Bei den meisten alten wie neueren Völkern läßt sich übereinstimmend das Zusammentreffen gewisser Umstände beobachten, sobald die Erzählung prosaisches Gewand zuzulassen beginnt: Die Poesie ist verflacht, die Versform in Auflösung, andererseits die Prosasprache in gelenkiger Ausbildung begriffen. Aber auch die Träger der Poesie wie der Bildung überhaupt haben gewechselt: anstelle des fahrenden Ritters ist das Bürgertum der festen Städte wirtschaftlich zur Herrschaft gelangt und infolge dessen zur Pflege der Künste reif geworden; ein demokratisch=antiheroischer Zug drängt nun die versifizierte Ritterdichtung in den Hintergrund, um der Erzählung neue Stoffe aus den neuen Jnteressenkreisen zuzuführen.   Jn prinzipienloser Darstellung hat man sich zwar gewöhnt, auch von dem Uralter der Prosaerzählung zu sprechen und wenigstens für die kleinen Arten derselben, für Märchen und Fabel, auf Jndien als Ursprung zu verweisen. Gewiß sind die Quellen für zahllose, im Griechischen wie in den modernen Sprachen bearbeitete Geschichten dieser Art auf indischem, jedenfalls auf orientalischem Boden zu suchen: in welchem Entwicklungsstadium der indischen Litteratur sie jedoch anheben, ist damit auf keine Weise festgestellt und läßt sich auch von der Geschichte des indischen Geisteslebens, die noch immer genötigt ist, mit Perioden von einem Jahrtausend zu schalten, vorerst schwer fixieren. Unterliegt danach der Zeitpunkt für Entstehung dieser kleinen Prosaerzählungen schwankender Schätzung, so werden wir doch der mündlich fortgepflanzten kurzen Geschichte naiven Charakters eine Existenz vor der litterarisch aufgezeichneten, umfassenderen Erzählung zugestehen müssen. Die prosaische Buchdichtung läßt sich dagegen in ihrem jüngeren Ursprung bei zahlreichen Völkern gleichmäßig erkennen.   Die griechische Dichtung scheint bereits in ihrem mittleren Alter eine Fülle knapper Geschichten hervorgebracht zu haben, von denen man Spuren namentlich bei Herodot wiedererkennen will. Die ausgeführte Prosadichtung, auf die man neuerdings den modernen Namen Roman übertragen hat, erwuchs, während der Verfall in vollem Zuge war. Jhre Ausbildung scheint nicht allzu weit hinter Christi Geburt zurückzureichen, und nur aus den ersten Jahrhunderten nach dieser Wende der Weltgeschichte sind uns Reste solcher Art erhalten. Wie die Entwicklung des Versepos auf bunte Färbung und künstliche Lebhaftigkeit hingedrängt, so bricht in der Prosaerzählung der abenteuerliche Zug zum Fremden, Fernliegenden vollends durch. Entsprechend der inzwischen zur Herrschaft gelangten Sentimentalität bilden Liebesgeschichten den wesentlichsten Kern der Erzählung. Aus derselben Gemütsverfassung erklärt sich die Hirtengeschichte, in der weniger Naturdarstellung als Natursehnsucht hervortritt, auch sonst die Gefühlsreflexion überwuchert. Durch seine historische Stellung in der Entwicklung der epischen Form erscheint die Prosaerzählung zu psychologischem Eindringen, zur Seelenanalyse prädestiniert.   Die mittelalterliche Litteratur der modernen Völker läßt den Uebergang vom Versepos zur Prosaerzählung noch genauer erkennen. Die alten Ritterepen, deren abenteuerlicher Charakter immer mehr in phantastische Episoden zerflatterte, wurden aus den erbärmlichen, nur noch lose und wirr bindenden Versen, zu denen sie inzwischen verliedert waren, vollends in Prosa aufgelöst. Prosaische Rittergeschichten bezeichnen andererseits den Anfang des modernen Romans, so genannt, weil er in der Litteratur der romanischen Völker entsprungen, auch deren Volksgeist vor allem zum Ausdruck bringt. Spanien muß als Urquell dieser Ritter- und Abenteurerromane gelten. Aus dem Wege über Frankreich empfing auch unsere deutsche Dichtung die neue zunächst romanische, bald internationale Gattung.   Jn Spanien zuerst auch trat zu dem Ritterroman, halb als Gegen=, halb als Seitenstück, der Schelmenroman: dieser rückt zwar nicht mehr ideale, zu verherrlichende Helden, sondern die unerschöpflichen Listen und Abenteuer des durchtriebenen Galgenstricks in den Mittelpunkt und bietet damit eine Art Parodie des episch=heroischen Stils, gefällt sich doch aber prinzipiell in derselben Fülle von lose aneinandergereihten Abenteuern bezw. Episoden, welcher die Rittergeschichte anheimgefallen war. Bedeutsam erscheint vor allem der so vollzogene Anschluß an das Alltagsleben mit seinen kleinen Verwicklungen, aber auch seiner Fülle virtuos gezeichneter Wirklichkeitsmenschen. Schließlich giebt auf spanischem Boden Cervantes in seinem „Don Quixote“ eine direkte Travestie des Ritterromans, die Geschichte eines Ritters, der infolge Versenkung in die phantastische Welt jener Geschichten den Sinn für die wirkliche Welt verliert. Für den Roman ist mit dieser Wendung der Entwicklungsgang bereits prinzipiell bezeichnet, oder doch wenigstens auf das Ziel hingewiesen: von der Phantastik des Ritterromans durch abenteuerlich=phantastische Auffassung des bürgerlichen Lebens hindurch zu vollem Anschluß an die Wirklichkeit.   Auf deutschem Boden bekundet sich der übermächtige Einfluß der romanischen Erzählungsform zunächst durch Uebersetzungen, alsdann durch Ueberarbeitungen, schließlich durch Nachahmungen solcher abenteuerlichen Helden- und Liebesgeschichten. Aber die fremde Form wird doch schließlich auch von heimischem Leben durchdrungen: wir dürfen uns besonders an Grimmelshausens „Simplicissimus“ erinnern, welcher eine Art Harmonie zwischen Abenteuerlichkeit und Wirklichkeit erreicht, indem er eine an bunten Abenteuern reiche Periode des nationalen Lebens, den dreißigjährigen Krieg, darstellt. Mehr äußerlich auf einen Stoff der deutschen Vergangenheit wandte den Stil der Staats=, Liebes- und Heldengeschichte Lohensteins „Arminius“. Deutschland zeitigt auch eine Travestie des Abenteuer=, Schelmen= und Reiseromans in Christian Reuters „Schelmuffsky“.   Jndessen blieb die deutsche Dichtung nicht ausschließlich auf diese fremden Pfropfreiser angewiesen, setzte vielmehr eigene, organische Triebe der Prosaerzählung an. Noch einmal durfte ─ ein herrliches Zeugnis für den selbstwachsenden und jugendfrischen Geist unseres Volkes ─ die deutsche Dichtung aus dem Urquell echt epischer Kunst schöpfen: eine neue Sagenbildung setzt ein, und eine neue Volksdichtung entsteht. Wie der Roman das Kennzeichen seines fremden Ursprungs schon im Namen trägt, so bezeichnen die Volksbücher ihre Herkunft aus der Mitte unseres eigenes Volkes, desjenigen Volkes, dessen Name (deutsch aus diutisk ) selbst schon nichts anderes bedeutet als die Zusammenfassung des zum Volke Gehörigen. Von Till Eulenspiegel, von Faust, auf allgemeinerem Boden vom Ewigen Juden, von den Schildbürgern liefen thatsächlich zahlreiche einzelne Sagen um, die nach einer gewissen Zeit unter Ausführung, Ergänzung und Aufschwemmung durch schriftliche bezw. gedruckte Hilfsquellen zur litterarisch zusammenfassenden und einheitlich komponierenden Behandlung gelangten. Das Episodenhafte lose aneinandergereihter Einzelabenteuer tritt auch hier hervor. Der Stil bleibt aber schlicht und strebt nach Wirklichkeitsechtheit.   Dieser gesunde Wirklichkeitssinn, diese schlichte, behagliche Versenkung in das bürgerliche Leben offenbart sich auch hier als Eigenart der germanischen Völker ─ man gedenke auch der niederländischen Genremalerei ─, während der romanische Geist zunächst auf das Lebhafte, Phantastische, Fernliegende, Glänzende, Konventionell-Ritterliche geht. Das Eingreifen des germanischen Geistes in die Entwicklung des Romans bekundet sich demgemäß in Schöpfung des reali= stischen Romans. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bildet die englische Litteratur eine Prosadichtung des Bürgertums aus, die von der zusammenhangslosen Zeichnung einzelner bürgerlicher Charaktere, wie sie die moralischen Wochenschriften boten, zu eigenartigen Kunstschöpfungen in der zusammenfassenden Form des Romans vorschritt. Neben die Addison und Steele treten die Defoe und Swift, endlich die Richardson, Fielding, Lorenz Sterne und Oliver Goldsmith.   Alle Elemente des englischen Geistes prägen sich hier aus: sein Natürlichkeitssinn blickt den Dingen nüchtern ins Auge; praktische Auffassung des Lebens hält von träumerischer Phantasterei fern; und dabei dringt eine empfindungsvolle Reflexion durch die äußere Schale tief in den seelischen Kern der Menschen und Handlungen. Die bürgerliche Tüchtigkeit wie die peinliche Moral des dritten Standes stellen sich nun dar. Der germanische Familiensinn lädt die Muse des Romans, die so lange in ferne Gegenden auf Abenteuer zog, zur Einkehr in den stillen, friedlichen, behaglichen Bezirk des eigenen Heims. Mit echt epischer Kleinmalerei und mit einem Humor, wie er sich bei deren küustlerischer Handhabung unwillkürlich einstellt, dringt der englische Roman des 18. Jahrhunderts zunehmend tiefer in das wirkliche Leben und in die Seelen germanischer Menschen ein.   Auch den französischen Roman führt der Genfer Rousseau ins unmittelbare Leben der Wirklichkeit, wennschon seine großartige Natur= und Liebesschwärmerei in echt romanischer Weise bewirkt, daß lyrische Accente das erzählende Grundmotiv übertönen.   Noch in Anlehnung an den romanischen Stil, sucht vor Goethe Wieland dem deutschen Roman mit feinster Lebenskenntnis psychologische Tiefe zu verleihen. Aber schon seine griechischen und orientalischen Stoffe bilden nur ein Kostüm für Einkleidung des Seelenlebens aus des Dichters eigenem Lebenskreis.    Goethe stellt alsdann den deutschen Roman endgiltig auf den Boden des deutschen Lebens und Empfindens. Von Sterne und Goldsmith, Rousseau und Wieland hat er gelernt, aber seine Romane sind völlig organische Gewächse seiner eigenen und im weiteren Sinne der damaligen deutschen Empfindungswelt. Mit diesem Hinweis ist ihre Größe wie ihre Grenze charakterisiert: äußere Geschehnisse treten durchweg zurück, bilden nur nebensächliche Begleiterscheinungen oder Aeußerungsformen der Seelenkämpfe und geistigen Entwicklung. Diese aber prägen sich mit so unmittelbarer Wahrheit aus, daß ihr Herauswachsen aus dem Leben augenscheinlich wird und ihnen sogar eine Rückwirkung auf das Leben der Zeit zuzuschreiben ist.    Von dem ursprünglichen Begriff des Romanhaften, von seinem fremdartigen, unnatürlich phantastischen Charakter hat sich damit der Roman grundsätzlich entfernt. Die Entwicklung des deutschen Romans im 19. Jahrhundert giebt dieser litterarischen Gattung vollends einen realistischen Zug in Stoff und Stil. Der moderne Roman ist überwiegend Zeitdichtung geworden, auf Erzählung unmittelbar verflossener Ereignisse gerichtet. Seit Otto Ludwig, Gottfried Keller und gar Theodor Fontane treten freilich die äußeren Ereignisse hinter der Charakterzeichnung mehr und mehr zurück; aber die Ausmalung geschieht in einem Stil der Thatsachen mit aller behaglichen Breite und plastischen Anschaulichkeit. Jst somit auch der erzählende Kern in den Hintergrund gedrängt, nimmt doch die wirkliche Dichtung auf dem Gebiete des Romans an der Verflüchtigung des Versepos durchaus nicht teil, findet vielmehr einen neuen festen Gehalt in organischer Verbindung charakteristischer Episoden, in bildkräftig anschaulicher Zeichnung von Jndividuen eines ganzen Lebenskreises. Die Entwicklung des epischen Stils verschwimmt hier nicht mehr in lyrische Reflexion: sie nähert sich dramatischer Charakteristik. Und dieser ursprünglich germanische Zug griff auf die romanischen Litteraturen über. ─   Wir sahen bereits anfangs dem umfassenden Buchwerk, wie es uns im Roman entgegentritt, kleinere Erzählungen vorangehen, die sich mündlich knapp wiedergeben lassen. Auch sie gelangten zu künstlerischer Ausbildung. Zwar geht ein reicher Schatz von ihnen bis in die alte Welt zurück und ward in meist lateinischen Aufzeichnungen dem Mittelalter bereits überliefert. Aber man spricht von einer eigenen Kunstform solcher kurzen Geschichten unter dem Namen Novelle erst seit der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts, nachdem diese Bezeichnung in Jtalien für kleine neue Geschichten ─ wie schon der Name sagt ─ aufgekommen war. Bald erstand dieser Gattung in Boccaccio ihr Klassiker. Der geringe Umfang bedingt im Gegensatz zum Roman, daß die Novelle auf ein ausgeführteres Weltbild verzichtet, um sich auf ein enger begrenztes Einzelbild, zunächst sogar auf Erzählung einer einzelnen Begebenheit oder auf virtuose Entfaltung einzelner Charaktere zu beschränken.   Jn Deutschland knüpft diese Gattung zunächst teils an Boccaccio an, teils geht sie auf die alten, unter dem Namen des Aesop laufenden Quellen direkt zurück. Jm 16. Jahrhundert finden solche Geschichtchen, die bei uns meist als Schwänke bezeichnet werden und öfter als in Prosa versifizierte Behandlung finden, bereits einen goldenen Boden.   Die Ausbildung auch der Prosanovelle zu modern psychologischer Feinheit knüpft sich für unsere Litteratur ebenfalls an Goethes Namen, besonders im Hinblick auf die Einlagen zu Wilhelm Meisters Wanderjahren. Neben ihm hat vor allem Heinrich von Kleist diese Dichtungsart dem Leben der Wirklichkeit nahe gehalten, und Dichter wie Gottfried Keller und Theodor Storm haben weiterhin solche Bilder eines kleinen Lebenskreises mit eindringender Seelenkenntnis ausgestaltet. Auch von dieser Erzählungsform wie von dem ihr eng verschwisterten Roman darf man feststellen, daß sie ihre Blüte noch nicht überschritten hat.   Aeußerlich hat sich der Roman konzentriert, während die Novelle ihr Feld erweitert hat. Wennschon überhaupt die Linie zwischen diesen beiden Arten der Prosaerzählung fließend bleibt, geht die Novelle noch immer wesentlich auf individuelle Bilder, in der neuern Zeit auf individuelle Seelenbilder, aus, während der Roman, sowohl der Zeitroman wie der historische, das ganze Leben einer Periode, einen größeren bedeutsamen Lebenskreis oder doch die Entwicklung bedeutsamerer Persönlichkeiten zu umspannen sucht. § 60. Die kleineren epischen Arten.   Die Zertrümmerung des großen epischen Stils begünstigte die Ausbildung kleinerer Verserzählungen. Der alte Heldensang, der nie ganz ausgestorben, obschon von den zusammenfassenden Schriftepen arg eingeengt war, lebt in der Form des historischen Volksliedes weiter fort. Kleinere poetische Erzählungen weltlichen und geistlichen Jnhalts tauchen daneben als Schriftwerke in Deutschland während des 13. Jahrhunderts auf. Die Dichtungen der Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg, Meier Helmbrecht von Werner dem Gärtner bewahren indes immer noch verhältnismäßig größere Ausdehnung als die kleinen Abenteuer, welche die verwandte Produktion des Auslands sammelt.   Denn auch auf diesem Gebiete blieb die deutsche Dichtung nicht unbeeinflußt von außen her. Kurze Schwänke aller Art meist aus internationalen Stoffquellen gelangen in poetischer Form seit dem Mittelalter zur Behandlung und während des 16. Jahrhunderts zu einer vollen, anmutenden Blüte. Die beiden vornehmsten modernen Arten kurzer Verserzählung verdanken wir auch in der Form ausländischem Vorbild. Wiederum bekundet sich der Wetteifer germanischer und romanischer Einwirkungen in der Parallelität der Ballade und Romanze. Beide, in ihrer Heimat organische Bildungen des epischen Geistes, gelangten erst in der klassischen Periode des 18. Jahrhunderts bei uns zur Einführung.   Die Ballade kam uns vom stammverwandten Volk aus England. Zwar findet sich die entsprechende Benennung schon in den romanischen Litteraturen für Tanzlied (ital. ballata von ballare tanzen), in England dehnte sie sich allmählich auf epische Volkslieder überhaupt aus, die ganz in dem uns bekannten germanischen Stil des epischen Liedes, mit drastischer Knappheit und scenischer Anschaulichkeit, nicht nur geschichtliche sondern auch frei erfundene Begebenheiten, vorherrschend noch düsterer, tragischer Richtung, besangen. An diesen Stil schließt sich vor allem G. A. Bürger mit Meisterschaft an.   Die uns nicht minder vertraut gewordenen Kennzeichen des romanischen Geistes prägt die Romanze aus, die ähnlich in Spanien zunächst nichts anderes ist als der allgemeine, nächstliegende Name für alle kleineren Verserzählungen in der Volkssprache. Als solche Romanzen geben sich auch die historischen Volkslieder, die dort von dem Cid und andern Nationalhelden gesungen wurden.   Rein menschliche Konflikte und schlichte Naturgewalt überkam somit unsere Ballade als Wesen, wohingegen die Romanze von Rittertum, Glanz und dem ganzen Geist des romanisch=katholischen Mittelalters erfüllt ist. Wie Goethe und Schiller beide Gattungen handhaben, wurde vollends zum Leitstern für die weitere Entwicklung dieser Dichtungen: der naive, rein darstellende Stil Goethes blieb in der Ballade ebenso maßgebend wie der sentimentalische, ethisch zugespitzte Schillers für die Romanze.   Kleine poetische Erzählungen finden wir in Deutschland wie namentlich in Frankreich auch als Fabeln bezeichnet. Durchgedrungen ist dieser Name vorherrschend für solche Erzählungen, die, gleichviel ob in Vers oder Prosa, das Tierreich, nächstdem auch andere Regionen unter menschlichem Bilde betrachten. Schließlich spitzte sich diese ursprünglich durchaus naive Gattung völlig didaktisch zu und betrachtet, mit durch Lessings Eingreifen, die fremde Welt ausschließlich als moralische Folie für menschliches Thun und Treiben. ─ Als weiteres Mittel zum Vergleich tritt die Parabel auf, deren Parallelen nicht mehr in einer niedern, sondern innerhalb der menschlichen oder einer höheren Sphäre liegen; unter zunehmender Abstraktion wird auch das rein geistige Gebiet als Vergleichsobjekt mit menschlichen Handlungen zugelassen.   Verhältnismäßig jung in Deutschland und ebenfalls erst nach fremdem Vorbild eingeführt ist von epischen Arten, die nicht an die Ausdehnung der Epopöe heranreichen, schließlich das Jdyll. Jn der griechischen Litteratur galt das εἰδύλλιον , wörtlich Bildchen, Kleinbild, als Bezeichnung für Dichtungen, die bald nach Beginn des Alexandrinischen Zeitalters kurze, oft mit Dialog durchflochtene Erzählungen aus dem Kleinleben, besonders dem Landleben der Hirten, einführten. Dem deutschen Jdyll verblieb, auch wo es nicht direkt einen Theokrit in Stoff und Stil nachahmt, meist diese ländliche Welt. Das Behagen am Kleinleben, insbesondere das des Städters am ländlichen Leben, herrscht zunächst vor, bis ein Peter Hebel, alsdann vor allem Klaus Groth das Volk selbst mündig machen und frei von Reflexion wie von Sentimentalität naive Dorfgeschichten aus dem unmittelbaren Empfinden ihres Stammes heraus schaffen. Wie sie verwenden schon der Schöpfer der Gattung, Theokrit, und seine hervorragendsten griechischen Nachfolger die Mundart mit ihrem unmittelbaren Naturhauch.   Was Schiller in seiner Terminologie von naiver und sentimentalischer Dichtung als Jdyll in Anspruch nimmt, giebt bewußt eine allgemeinere Klassifikation, die sich mit der geschichtlichen Ausbildung desselben nicht im engern Sinne deckt und dennoch prinzipiell sich in treffender Richtung bewegt: er verwendet Jdyll als Gesamtbezeichnung für diejenige sentimentalische Dichtung, welche die Natur, zu der sie hinstrebte, als erreicht vorstellt. § 61. Wesen und Wandlungen der epischen Dichtung.   Erst jetzt werden wir in der Lage sein, den Grundzug und die Variationen der epischen Entwicklung zusammenfassend zu überschauen.   Der nicht ursprüngliche, sondern erst von der griechischen Litteraturentwicklung eingeführte Name Epos ─ Wort, Rede ─ bezeichnet allgemein die zunächst allein ausgebildete dichterische Gattung. Was wir als Grundzug solcher ältesten Poesie fast allerorten klar erkennen, was jedenfalls das Wesen der in Griechenland als episch bezeichneten wie der anderwärts entsprechenden Poesie ausmacht, ist Erzählung. Nicht nur die nationale Geschichte, wie in der Blüte der epischen Gattung, wird erzählt: gleich anfangs setzt der Mythos die unmittelbare, dauernde Anschauung der Natur singularisierend in entwickelnde Erzählung einmal geschehener Begebenheiten um, und noch das allegorische Epos kleidet seine Jdeen in den Schein von Geschehnissen, über die es zu berichten gelte.   Die erzählten Begebenheiten bestehen zunächst in den Thaten der Götter, die wie Stammesheroen angesehen werden, dann in den Thaten der Helden; noch das Jdyll entfaltet das Thun und Treiben seiner kleinen Welt, deren Gestalten ihm als Muster naturgemäßen, glückseligen Lebens erscheinen; auch das reflektierende Epos, weiterhin der Roman und selbst die Novelle bewahren noch mindestens als Grundlage oder Kanevas die Handlungen besonderer, einer vorzüglichen Teilnahme würdiger Personen.   Die Zeit, in welche die epische Dichtung uns versetzt, ist die Vergangenheit. Das bekundet sich nicht nur durch den geschichtlichen Kern des Epos in seiner Blütezeit, wird wiederum gerade auch an den beiden Extremen der epischen Entwicklung augenscheinlich: die Thaten der Götter, die sich dem Dichter immer gegenwärtig offenbaren, werden ausdrücklich in die Vergangenheit, wie bereits betont, als einmal geschehen, zurückverlegt; entsprechend verfährt der Zeitroman, welcher aus der Gegenwart schöpft, aber das, was noch geschieht oder geschehen kann, als bereits vollendet hinstellt.   Die epische Dichtung giebt also zunächst Erzählung der Thaten von Helden (oder doch bedeutsamen Persönlichkeiten) der Vergangenheit.   Daß der Dichter selbst der Erzähler, tritt gerade historisch überall hervor: der Priester überliefert den Mythos, der Sänger die Sage in poetischer Form. Der Verfasser der schriftlichen Epopöe sammelt, ordnet, verarbeitet, um wie ein eigenes Erlebnis, wie selbstgeschaut, die Ueberlieferung wiederzugeben. „Er hat alles geseh'n, was auf Erden geschieht.“ Ohne vorerst selbst hervorzutreten, steht der Dichter hinter den Figuren; läßt er sie auch gern selbst sprechen: er ist es, der ihnen das Wort erteilt und im weiteren über sie berichtet.   Aus welcher Veranlassung und zu welchem Zwecke erzählt der Dichter? Bewunderung für die Wunder der Gottheit verleiht dem Priester-Sänger Worte; er singt sie und läßt sie singen, um die Gemeinde mit gleicher Bewunderung und Verehrung zu erfüllen. Bewunderung für die Großthaten der Helden spricht sich aus, um das Volk, den Stamm zu nacheifernder Bewunderung anzuspornen oder doch ihm das Herz zu erheben. Jn gleicher Weise noch treibt den Dichter der Epopöe, an seiner Bewunderung weitere Kreise teilnehmen zu lassen, das ihm herrlich Erscheinende zu verherrlichen, seine Lust an den Thaten des Helden, seine helle Thatenlust überhaupt seinem Publikum mitzuteilen. Jm späteren reflektierenden Epos gar spricht sich die Bewunderung des Dichters, noch später besonders im Prosaroman abgeschwächt wenigstens die lebhafte, vorzügliche Teilnahme und Verehrung für die Hauptgestalt direkt aus. Genug, der epische Dichter giebt Erzählung der Thaten von Helden (oder doch bedeutsamen Wesen) der Vergangenheit als Ausdruck seiner dichterischen Bewunderung und mit der Wirkung, unser Empfindungsleben zu der gleichen Bewunderung, überhaupt zu der Höhe und Größe des verherrlichten Gegenstandes, zu erheben.   Die allgemeine Aufgabe der Poesie: Ausdruck gehobener Gefühle, vollbringt die Epik durch Erzählung von Begebenheiten aus einem höheren Gefühlsbereich.   Jnnerhalb dieser Aufgabe variiert die epische Dichtung besonders aus drei Gesichtspunkten: Nach der Vortragsart klaffen das Heldenlied und die Heldenschrift auseinander. Nach dem Kulturstand und der geistigen Entwicklungsstufe entfernt sich die Erzählung schrittweise von nackter Thatsächlichkeit zu reichgeschmückter, zunehmend subjektiv vergeistigter, abstrakterer Darstellung. Mit dem Wechsel der geschichtlichen Anschauung, dem Heraustreten aus dem einseitigen Heroenkult und der zunehmenden Teilnahme an bürgerlichen Charakteren schwächt sich der heroische Zug der epischen Dichtung allmählich ab, und die Bewunderung verflacht sich zu ungewöhnlichem Wohlgefallen und gespanntem Jnteresse.   Nach diesen Entwicklungselementen sind verschiedenartige Gipfel oder Blüteperioden möglich und thatsächlich anzuerkennen: jedenfalls die Blüte des Heldensangs und die Blüte der objektiven Nationalepopöe, doch auch die Blüte durchgeistigter, gefühlvoller Heldendichtung und schließlich sogar Ueberwindung der Reflexion durch einen scharf charakterisierenden Stil der Thatsachen d. i. eine neue Blüte durch plastische Objektivierung des in voller Mannigfaltigkeit erschlossenen Gefühlslebens.   Ebenso unverkennbar treten die Untiefen hervor, in denen die epische Strömung zu versanden droht: litterarische, papierne Erstarrung, Verflüchtigung ins Gestaltenlose, Verflachung ins Kleinliche. Lebendig, gestaltenkräftig, großen Zuges giebt sich die echte epische Dichtung. B . Die lyrische Dichtung. § 62. Voraussetzung der lyrischen Form.   Die epische Objektivität sahen wir sich zunehmend in lyrische Gefühle auflösen, indem der Dichter nicht sowohl die für ihn beglaubigten Thatsachen aus der Vergangenheit als vielmehr seine gegenwärtige Empfindung über dieselben kundgiebt. Die Empfindung, die sich ursprünglich in die Thatsachen völlig ergossen hatte, tritt ihnen nun mit erwachtem Bewußtsein ihrer selbst gegenüber, und damit wird klar, daß beide Faktoren: die außerhalb des Dichters ruhenden Gegenstände und das in ihm ruhende Gefühl, zu einander in ein verschiedenes Verhältnis treten können.   Der allmähliche Aufstieg der subjektiven Empfindung über die objektive Darstellung von Thatsachen bezeichnet den Entstehungsprozeß der lyrischen Form. § 63. Die orientalische Lyrik.   Von der ältesten Lyrik ein Bild zu entwerfen, wird uns nur durch indirekte Zeugnisse ermöglicht. Denn auch für die Lyrik müssen wir eine vorlitterarische Epoche annehmen, ein impulsives Aufleben der unmittelbaren Gefühlsaussprache, durch Sang bekundet und fortgepflanzt.   Unsere Kenntnis der orientalischen Poesieen reicht nicht so weit zurück, daß wir dort den Ursprung der Lyrik klar erkennen könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst religiös, ihre Form äußerst primitiv. Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi Geburt fallen einige auf uns gekommene babylonische Bußpsalmen, die sich in Anrufung der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen aber Ansätze erzählenden Charakters bieten: „Daß meines Herrn Zorn sich besänftige! Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige! Die mir unbekannte Göttin sich besänftige! Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige! Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!“ etc. Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen litaneiartig wiederkehrt, heißt es: „Reine Speise habe ich nicht gegessen, Klares Wasser habe ich nicht getrunken, Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise, Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder.“ Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen Wiederholungen zu neuen Aussagen fort: „Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht; Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht. Das Leid, das meine Speise ward, ─ nicht weiß ich's, wie? Das Ungemach, das mich niedertrat, ─ nicht weiß ich's, wie? Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt, Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht“ etc. ─   Der episch=lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen Vedenpoesie Jndiens trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen.   Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache, besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen, wollen wir der Lyrik „in des Ursprungs Tiefe dringen“. Der epische Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird:   „Ach, noch immer vor den Augen Schwebt mir seine Wohlgestalt, Fühl' auf meine Lippen hauchen Seiner Liebe Vollgehalt.   Ach, noch immer hör' ich leise Seiner Stimme Zauberklang Und in altgewohnter Weise Lausch' ich seinem stolzen Gang.   Horch! schon eilt er mir entgegen! Fort nun alle Trennungspein! Schicksal, wolle doch erwägen, Ach, es kann und kaun nicht sein!“ Die Erzählung seines Auftretens in der Vergangenheit ist in den letzten beiden Zeilen lyrisch accentuiert durch eine aus dem gegenwärtigen Zustand entspringende Jnterjektion. Doch schon der erzählende Teil ist oft auf die Gegenwart gewandt und verliert dadurch die Grundlage einmaligen Geschehens, um allgemeingiltig zu werden. ─ Der Ausruf, der einer solchen Art von Bericht lyrische Wendung giebt, geht ihm nicht selten auch voran: „Glückselig, die auf Bergen wohnen,“ ─ und nun folgt der begründende oder doch ausführende Bericht, sei es Erzählung oder Beschreibung: „Wo noch in waldverwachs'nem Nest Der ungestörten Lust sich fronen, Hingebung sich noch üben läßt.   Da sprießen dichtverschlung'ne Hecken Und schmiegt sich blattreich Ast an Ast Und wilde Rohrdickichte decken, Vom Wind geschaukelt, süße Rast.“ Nicht mehr das Nacheinander des Epos liegt zugrunde, ein Nebeneinander wird entfaltet, wennschon noch so plastisch und handlungsreich. Auf eine Einzelscene geht das Gedicht aus: auch dadurch ist wie dem äußeren Umfang so der Aufeinanderfolge verschiedener Bilder eine Grenze gesetzt. Auf einen, nur dauernd gedachten Moment spitzt sich das lyrische Lied schließlich zu.   Jn der Spätzeit der indischen Lyrik überwuchert völlig die Neigung zu breiter, üppiger Ausmalung von Einzelscenen und Einzelempfindungen. Anstelle der alten, primitiven Umrißskizzierung zur Anregung der Phantasie tritt denn auch eine überreiche Nährung und Sättigung derselben mit buntester Farbenpracht. ─   Jn der hebräischen Poesie bekunden die ersten lyrischen Ausbrüche nicht minder klar den Zusammenhang mit dem epischen Stil wie den Abstand von ihm. Unter den ersten größeren Durchbrechungen des rein erzählenden Tones steht die Jakob in den Mund gelegte Weissagung obenan. Wie setzt sie ein? „Kommt zuhauf, und höret zu, ihr Kinder Jakobs, und höret euren Vater Jsrael.“ Nach diesem Anruf wägt Jakob die Thaten seiner Söhne aus der Vergangenheit aufzählend ab, um daraus ihren gegenwärtigen Wert und ihr zukünftiges Los zu erschließen; die äußere Reihenfolge der Gedankenglieder kehrt sich auch wohl um.   „Die Brüder Simeon und Levi; ihre Schwerter sind mörderische Waffen.   Meine Seele komme nicht in ihren Rat, und meine Ehre sei nicht in ihrer Kirche; denn in ihrem Zorn haben sie den Mann erwürget, und in ihrem Mutwillen haben sie den Ochsen verderbet.   Verflucht sei ihr Zorn, daß er so heftig ist, und ihr Grimm, daß er so störrig ist. Jch will sie zerteilen in Jakob, und zerstreuen in Jsrael.“ Von neuem also Herleitung eines Ausrufs aus einer Thatsache, zugleich Wendung aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft.   Eine Blütezeit der Lyrik werden wir für die Epoche der Psalmendichtung ansetzen dürfen, über einen wie weiten Zeitraum diese sich auch erstreckt. Trotz der schon dadurch bedingten Stilverschiedenheit tritt Erzählung und Anschaulichkeit noch wohlthuend, bald mehr, bald minder, hervor. Fast episch klingt es, wenn der Psalmist nach kurzem lyrischen Präludium einsetzt:   „Es umfingen mich des Todes Bande, und die Bäche Belials erschreckten mich.   Der Höllen Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich.“ Und dann:   „Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war.   Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzte.“ Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren Geschehnissen zu thun, sondern mit dauernden, inneren Zuständen. „Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret meine Hand streiten“ u. s. f. Folgerecht ist aus dem Präteritum in das Präsens übergelenkt, und schließlich greift das Futurum ein: „Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse.“   Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter Erzählung bestimmter Begebenheiten durchsetzt:   „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.   Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.   Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ...“ Durch das ganze Lied hin zieht sich Zwiegespräch in direkter Rede:   „Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal.   Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.   Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Söhnen.“ Plastisch tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor:   „Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...   Deine Backen stehen lieblich in den Spangen, und dein Hals in den Ketten ...   Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen ...“ Auch die Scenerie ist fort und fort ausgemalt:   „Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin.   Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande ...“   Der Umfang ist noch ausgedehnt genug, um zwar ein entschiedenes Zurückbleiben hinter der Epopöe, aber keineswegs hinter dem epischen Sang erkennen zu lassen.   Suchen wir neben solchen Berührungen mit dem epischen Lied die charakteristischen Merkmale eines neuen Stils, so bekundet sich die Abweichung ersichtlich in erster Linie durch den Stoff: statt geschichtlicher Ereignisse oder solcher, die geschichtlichen Schein annehmen, bildet ein individuelles Erlebnis den Kern des Gedichtes. Was den Stil betrifft, so sind die altüberlieferten epischen Darstellungsmittel nicht mehr Selbstzweck zur Erzählung eines vergangenen, einmaligen Ereignisses, sondern in den Dienst einer gegenwärtigen und andauernden Empfindung getreten: statt der Thatsachen herrscht die Empfindung vor, statt vergangener Thatsachen gegenwärtige Empfindung, statt einmaliger Thatsachen fortdauernde Empfindung. Gleich in der Wunschform setzt das Hohelied ein: „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes.“ Jn Ausrufen bricht fortgesetzt die Empfindung durch das darstellende Gerippe; ja die Darstellung selbst, sowohl die Erzählung als die Beschreibung, ist mit Vorliebe in die äußere Form des Ausrufs einbezogen:   „Wie schön und lieblich bist du“,   „Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter!“ u. dgl. Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion bereits die Klage: „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.“ Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf: „Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!“ Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen: „Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“ Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt und klingt wieder. So:   „Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.“ Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß: „Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir.“ Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als Α und Ω der Partie hervor.   Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter platz.   Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:   „Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.   Thut die Thore auf, daß herein gehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahret.   Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man verlässet sich auf dich.   Darum verlasset euch auf den Herrn ewiglich; denn Gott, der Herr, ist ein Fels ewiglich.   Und er beuget die, so in der Höhe wohnen ...“ &c. Zwischen solchen vorherrschenden Tönen fehlt es nicht an erzählenden Einlagen, die aber auf zukünftige Geschehnisse zugespitzt sind.   „Er war der allerverachtetste und unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit ...   Fürwahr, er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere Schmerzen ... Aus solchen konkreten Anfängen mündet das Lied in die Verheißung:   „Darum daß seine Seele gearbeitet hat, wird er seine Lust sehen, und die Fülle haben“ &c. Die Zunahme moralisch=didaktischer Tendenzen wird bereits seit Salomos Tagen ersichtlich. Nicht nur die ihm zugeschobenen Sprüche und der sogenannte „Prediger Salomo“ legen davon direkt Zeugnis ab, sondern auch in der Lyrik die Zornreden der Propheten und vor allem das Buch Hiob. Wie aber die Fähigkeit für echte Lyrik noch nicht geschwunden, beweisen die Klaglieder Jeremias. ─   Aus der neueren orientalischen Poesie hat namentlich die persische Lyrik, mehr noch als die vorangehende Epik, Epoche gemacht und zeitlich wie räumlich weithin gewirkt. Hafis vor allem ist auch uns Deutschen zum Mittler östlicher Empfindungswelt geworden. Ueppig, doch immer ästhetisch schwärmender Genuß von Liebe und Wein vereint sich mit Lebensklugheit. „Wenn jene Schöne von Schiras mein Herz festhielt in ihrer Hand, Fürs Wangenfleckchen gäb' ich gern Bukhara hin und Samarkand. Komm, Schenke, tränke mich mit Wein, du findest nicht im Paradies Den Wasserspiegel Ruknabads noch auch Mussellas Rosenstand. Ein Jammer, daß dies Völkchen hier verliebt, gefährlich aller Welt, Die Ruhe aus dem Herzen stiehlt, wie Türken Beute aus dem Land. Des Liebchens Schönheit misset leicht der Liebe Unvollkommenheit, Es braucht das liebliche Gesicht nicht Schminke, Farb' und solchen Tand. Erzähl' von Sängern uns und Wein und laß das Weltgeheimnis ruhn! Enthüllt hat es, enthüllen wird's doch keines weisen Manns Verstand.“ Zu solchen gnomischen Zügen treten direkt symbolische, wie denn die orientalische Lyrik sich am tiefsten in Didaktik und Gleichnisrede versenkt hat. So entrollt der Dichter für seines Sohnes Tod eine Kette von Parallelgliedern: „Eine Ros' hat Nachtigall zum Ziele ihrer Glut gemacht, Neides Sturm mit hundert Dornen hat ihr trüben Mut gemacht. Frohen Herzens hofft' ein Papagei an Zucker sich zu laben, Eitel hat die Hoffnung plötzlich Unglücksstromes Wut gemacht“ etc. Wir kennen aus Nachbildungen Goethes, Rückerts und anderer Dichter des 19. Jahrhunderts diesen gnomischen und symbolischen Charakter der neuorientalischen Lyrik zur Genüge. § 64. Die griechische Lyrik.   So viele Kriterien zur Erkenntnis der Lyrik die orientalische Poesie im einzelnen darbietet, ihre Entwicklung ist von unserm Blick zu wenig durchdrungen, das uns vorliegende poetische Material zu wenig geordnet und historisch nicht sicher genug klassifiziert, um den Keim der lyrischen Dichtung in seiner Aus- und Fortbildung mit prinzipieller Sicherheit überschauen zu lassen. Von der so organischen und uns so vertrauten griechischen Poesie möchten wir eher Aufschluß auch über die Entwicklungsgesetze der Lyrik erhoffen.   Nun ist freilich diese Gattung der griechischen Dichtung durchaus nicht in gleichem Maße wie das Epos oder auch nur wie die Tragödie mustergültig für die moderne Welt geworden. Ferner sind nur spärliche Reste erhalten. Wenigstens läßt sich der Charakter auch mancher verlorengegangenen bedeutsamen Repräsentanten der Lyrik erschließen.   Zunächst dürfen wir hier schon mit einiger Sicherheit einen vorlitterarischen lyrischen Sang ansetzen. Nicht nur im religiösen Lied drängte allgemach eine unmittelbare Aussprache der Gefühle die thatsächliche Verherrlichung der göttlichen Großthaten in den Hintergrund. Zu den kurzen Sprüchen, die noch immer religiös geweiht waren: Orakelsprüchen, Zauberliedern, Brautgesängen, Totenklagen, gesellten sich erst später weltliche, private, individuelle Lieder, die immer noch unter Begleitung von Jnstrumentalmusik gesungen wurden. Der ursprünglich erzählende Kern war am Anfang und Schluß auf das Gefühl zugespitzt, wofür sich eine Reihe von festen Formeln ausgebildet hatten. So begegnen wir oft einer Eingangspartikel zur Herausforderung der Aufmerksamkeit. Der Schluß einzelner Abschnitte bestand zum teil in Anrufungen der Götter oder in andern Jnterjektionen, zum teil ließ er alsdann bereits ein Leitmotiv refränartig wiederklingen. Genug, ein erzählender Kern ist auf eine Grundempfindung gestimmt. Auch die Hochzeitslust und Totenklage, überhaupt Empfindungen, die bei feierlichen Aufzügen zunächst im Chor vorgetragen wurden, haben so ihre Aussprache gefunden.   Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung der Elegie, welcher bald die jambische Poesie und schließlich das Melos folgten. Da bleibt es unter allen Umständen ein bedeutsames Zeugnis, wenn ein Aristoteles die beiden erstgenannten lyrischen Arten noch an die epische Poesie heranrückt (Poetik, Kapitel 1): das Herausringen der lyrischen Empfindung aus der epischen Form wird um so augenscheinlicher.   Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die Ausbildung dieser neuen Dichtweise verfolgen wollen. Die Elegie verwendet von Anfang an das Versmaß, welches noch heute mit ihrem Namen verbunden ist. Zu dem epischen Hexameter gesellt sich ein Pentameter, und die derart wechselnde Empfindungsskala des Distichon giebt immer wieder dem mit epischer Ruhe einsetzenden Gedicht eine springende Bewegung.   Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos als der erste Dichter der Gattung (um 700 v. Chr.). Den Zusammenhang mit der epischen Dichtung wahrt sie auch noch durch den Stoff, der auf die kriegerischen nationalen Ereignisse hingewandt ist. Die einzige einigermaßen vollständige Elegie, die uns von ihm überkommen ist, gewährt uns jedenfalls Einblick in das Wesen der sich nun anspinnenden Entwicklung. Gleich anfangs bemerken wir, daß es sich nicht mehr um Feier vergangener Thaten handelt, daß die immer mitbezweckte Aufmunterung zu künftig gleichen Großthaten in den Vordergrund getreten ist. „Bis wann zaudert ihr noch? Wann faßt ihr entschlossen ein Herz euch, Jünglinge? Schämt ihr euch nicht vor den Bewohnern des Gau's, Daß ihr, die Händ' im Schoß, als säßet ihr mitten im Frieden, Träg hindämmert, und rings wütet im Lande der Krieg? Auf! in den Kampf und werft vor die Brust die gebuckelte Tartsche! Noch mit sterbender Hand schleudert das letzte Geschoß! Denn das ehrt und verherrlicht den Mann, für den Boden der Heimat Fechtend, für Weib und Kind mutig den Feind zu bestehn.“ Es folgen dann wohl Erfahrungen aus der Vergangenheit, aber nicht als greifbare Einzelfälle, sondern in Zusammenfassung zu allgemeinen Wahrheiten: „Denn dem Todesgeschick zu entgehn ward keinem beschieden ... Mancher freilich entflieht der Gefahr ... Aber um ihn nicht trauert die Stadt ...“ Archilochos, der bedeutendste Nachfolger des Kallinos, führt individuellere Töne ein. Seine Elegien sind zum guten teil Selbstgeständnisse: „Dienstbar bin ich dem Herrscher, dem Enyalischen Kriegsgott, Aber des Musengeschenks walt' ich, des holden, zugleich.“ Oft behandelt er bestimmte, deutlich erkennbare Geschehnisse. Noch schroffer als in der Elegie bringt er in jambischen Gedichten seine persönlichen Angelegenheiten zum Ausdruck, oft mit herausfordernder Satyre. Die jambische Poesie bezieht trochäische Verse mit ein und eignet sich schon äußerlich zum Ausdruck lebhafterer Bewegung: „Viel versteht der Fuchs, der Jgel eines nur, doch frommt es ihm: Daß er, sich zusammenrollend, auf den Feind die Stacheln kehrt; Also lernt' ich selbst im Leben eine Kunst, die mir genügt: Jedem, der mir Uebles anthat, zahl' ich schweres Uebel heim.“ Wie diese Poesie noch immer plastische Gestalten zu verkörpern vermag, bekundet gerade Archilochos. So veranschaulicht ein Bruchstück das Bild der Geliebten: „Mit frohem Lächeln in der Hand ein Myrtenreis Und frische Rosen trug sie, und beschattend fiel Um Brust und Nacken wallend ihr das Haar herab.“ Es ist klar, daß einer solchen Vollendung eine lange Entwicklung vorausgegangen sein muß; und diese haben wir eben in der vorlitterarischen Lyrik zu suchen. Für die jambische Poesie sind solche Vorläufer in skoptischen Liedern zu sehen.   Auch die melische Poesie, die zunächst unter den Doriern erwuchs, fand in den choralartigen delphischen Kultusliedern ein wirksames Vorbild. Nur hat sie Terpander, der Begründer des Melos, umfangreicher gestaltet und kunstreicher gegliedert. Während Terpander noch in religiösem Gehalt verharrt, wendet Alkman die schon formell abwechslungsreiche Gattung auf weltliche Stoffe. Jn welchem Maße die lyrischen Chorlieder epische Elemente bewahren, tritt noch an Pindars Dichtung unverkennbar hervor, deren Schwergewicht auf mythologischen Einlagen ruht. Aber auch der für den Einzelvortrag bestimmte Nomos erzählte in seinem Hauptteil ursprünglich einen Mythos, um das Lob des Gottes zu begründen. Jn den übrigen Teilen gestattete das abwechslungsreiche Versmaß ein um so kunstvolleres Spielen lyrischer Gefühle. Ebenso behalten die Chorlieder des Alkman einen mythischen oder sagenhaften Teil bei, wie er denn in einem Jungfrauenlied die Begegnung des Odysseus mit Nausikaa erzählt. Mit diesem objektiven Abschnitt verknüpft sich ein subjektiver von einem gewissen individuellen Charakter, ja mit direkten Selbstgeständnissen. Genug, der Zusammenhang epischer und lyrischer Momente bezeichnet allerorten den Uebergang.   Jn der weitern Entwicklung der griechischen Lyrik tritt als Elegiker unter den Doriern Tyrtäos auf. Seine Elegien verherrlichen, woran sich ja der Ruhm seines Namens knüpft, den Tod fürs Vaterland. Anschaulich weiß seine Phantasie die Schlachtscenen zu zeichnen, und ihr wesentlicher Unterschied von epischer Erzählung besteht eigentlich nur in der optativen Wendung auf die Zukunft: „Schreite denn jeder beherzt vorwärts, in den Boden die Füße Fest eindrückend, die Zähn' über die Lippen geklemmt, Brust und Schulter zumal und hinabwärts Hüften und Schenkel Hinter des mächtigen Schilds eherner Wölbung gedeckt. Hochher schwing' er zum Wurf in der Rechten die wuchtige Lanze Und Furcht weckend vom Haupt flattre der Busch ihm herab ... Also die starrenden Reih'n andringender Feindesgeschwader Wirft er zurück und dämmt mächtig die Woge der Schlacht.“ Mit einer Jnterjektion hebt auch er gern an, um ihr alsbald durch geschichtliche Erinnerungen Rückhalt zu geben: „Auf in den Kampf, ihr Enkel des unbezwungnen Herakles! Streitet getrost! Noch nie wandt' euch den Rücken der Gott.“ Jn seiner Eunomia umfaßte Tyrtäos vollends ─ wie selbst die spärlichen Bruchstücke erkennen lassen ─ neben dem gegenwärtigen Zustand Spartas auch dessen Vergangenheit; aber diese objektive Darstellung ist auf die Mahnung zugespitzt, an den alten Jnstitutionen festzuhalten und vom Kampf gegen die Messenier nicht abzulassen.   Die Blüte des Melos knüpft sich vor allem an die Namen Alkäos und Sappho. Wie das Lied noch immer um so eindrucksvoller wirkt, je umfassender es sich plastische Scenerie bewahrt, veranschaulichen sowohl die geselligen als die politischen Gedichte des Alkäos. Nach Zeit und Ort für Auge und Ohr versinnlicht ein Trinklied die zum Trinken einladende Situation: „Zeus kommt im Regen, mächtig vom Himmel braust Der Wintersturm, schon stockt der Gewässer Lauf Jm scharfen Frost und kaum im Wetter Hält der bewipfelte Forst sich aufrecht.“ Daran schließt sich die Ausmalung der häuslichen Situation: „Beut Trotz dem Eiswind! Schür' auf dem Herd empor Die Lohe, schenk' süßpurpurnen Traubensaft, Schenk' reichlich und zum Trunk gelagert Lehne das Haupt in die weichen Kissen.“ Die politischen Lieder des Alkäos kleiden sich schon gern in allegorisches Gewand. So stellt er die Verwirrungen, denen die öffentlichen Zustände durch die Umtriebe des Myrsilos verfallen waren, unter dem Bilde des Sturmes auf See dar.   Charakteristisch für das Vordringen der lyrischen Form sind schließlich seine Hymnen, die in ihrem melischen Versmaß das leisten, was vordem die hexametrischen, rein episch gehaltenen Proömien bezweckten: Verherrlichung der Götter als Einleitung für Vorträge der Rhapsoden an Festtagen. Dabei erzählen diese melischen Mythendichtungen gestalten- und farbenreich, mit Glanz und Fülle: auch die epischen Elemente sind durchgeistigt und verklärt. So wird Apoll bei seiner Rückkehr nach Delphi von dem Gesang der Nachtigallen und Cikaden begrüßt, und heller rauscht die kastalische Quelle.   An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft Sappho womöglich noch den männlichen Genossen. Beweiskräftiger können sich kaum nach Stoff und innerer Form die Elemente der lyrischen Entwicklung bekunden als in manchen ihrer Lieder: das Ausgehen vom Religiösen und Erzählenden, die Wendung beider in den Dienst des Weltlichen und Empfindungsvollen. „Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen, Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin,   Laß mich erliegen. Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen, Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters   Halle verlassen.“ Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung ihres früheren ─ als wiederholt vorausgesetzten ─ huldvollen Herabneigens zur Dichterin: „Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich Durch die Luft dein Taubengespann ... So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest, Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd: ‚Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch   Riefst du mich, Sappho? ...'“ Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines ─ nur verallgemeinerten ─ verflossenen Vorgangs mündet das Lied wieder in eine Schlußstrophe, die gleich der Eingangsstrophe aus einer Anrufung besteht: „Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ...“ Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis, wird erzählt: vielmehr was immer gewesen ist, darum ferner sein und dauern soll. ─   Einen ausgeprägt lehrhaften Zug gewinnt die griechische Lyrik mit Theognis. Nicht nur daß der Megarenser in ausgedehntem Maße direkter Spruchdichtung huldigte, auch seine größeren elegischen Gefühlsäußerungen sind sehr stark mit ethisch=didaktischen Zügen durchsetzt. Was bei ihm vorherrscht, sind nicht mehr Empfindungen, die aus einer einzelnen, obschon verallgemeinerten oder dauern gedacht Begebenheit entspringen ─ wie es im Keim ursprünglicher Lyrik lag ─: vielmehr allgemeine Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Meinungen, die sich völlig von objektiven Geschehnissen emanzipiert haben. „Keiner bereitet sich selbst von den Sterblichen Segen und Unheil, Sondern die Götter, o Freund, sind es, die beides verleihn. Was auch immer der Mensch anstrebt: nie weiß er im Herzen, Ob es zu freudigem Ziel, ob es zu trübem gerät“ &c. So erfolgt der Uebergang zur Allegorie immer entschiedener: „Einzig die Hoffnung blieb von den Himmlischen unter den Menschen, Zu den olympischen Höh'n kehrten die übrigen heim. Treue, die mächtige Göttin, entwich, es entwich die gestrenge Zucht und die Grazien, Freund, suchst du auf Erden umsonst.“ Aber solche Betrachtungen bleiben selten ausschließlich rückblickend, sondern zielen gern direkt auf ethischen Antrieb für die Zukunft. Derart schließt diese Elegie: „Aber so lange du lebst und das Licht noch schauest der Sonne, Klammre mit treuem Gemüt fest an die Hoffnung dich an, Und wenn unter Gebet süßduftendes Opfer du zündest, Sei es zuerst und zuletzt immer der Hoffnung geweiht.“ Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß mit ethisch=didaktischen Antrieben ein Ziel erreicht ist, auf welches von vorn herein die Tendenz der lyrischen Entwicklung hinweist. Die Jnterjektion, der Anruf, also das Mittel, welches dem erzählenden Kern ursprünglich lyrischen Accent verleiht, nimmt gerade im alten Griechenland, das sehr zu gnomischer Beschaulichkeit neigt, bald den Charakter einer ethischen Weisung an.   Jnzwischen entfernt sich das Melos weiterhin von seinen Grundlagen. Für Sänger wie Jbykos und Anakreon, die am Hofe des Polykrates von Samos lebten, ist das Streben nach Schlichtheit und einfacher Natürlichkeit kein Jdeal mehr; wonach sie jagen, ist Glanz, zierliche Anmut, künstlerische Eleganz, spielend leichter Fluß der Verse. Höfischer Lebensgenuß, Liebe und Wein herrschen als Stoffe vor, und nicht die Herzensneigung zu der einen Erwählten, sondern Genußsucht, die von einem Gegenstand ─ nicht nur Frauen, auch Knaben ─ zum andern spielt. Während Jbykos in seiner Leidenschaft noch eine gewisse Schwermut bewahrt, auch mythische Themata gern festhält, ist Anakreon zum Klassiker des heiteren, freien, dabei immer geistvollen Tones geworden. „Mir zuwerfend den Purpurball, Fordert Eros im Goldgelock Mich zum Spiel mit dem zierlichen Buntsandaligen Kind auf.   Doch sie stammt von der prangenden Lesbosinsel und rügt mein Haar; Grau ja sei's, und in Sehnsucht, ach, An ein blondes gedenkt sie.“ Wenigstens die Rudimente einer plastischen Scene sind hier wie oft noch erkennbar; bisweilen entwindet sich der Dichter aber auch dieser Anschaulichkeit, um sich ganz auf das innere Gefühl zurückzuziehen.   Die weitere Entwicklung des Melos wird durch den Abstand der anakreontischen Schule von ihrem Meister bezeichnet. Für Anakreon ist Eros der Repräsentant wild begehrender männlicher Liebe; den Anakreontikern gilt er als loser Knabe, sie führen die seitdem herrschende Amorettenspielerei ein. Die Leidenschaft eines Jbykos stürmt: „Doch nicht achtet der lieblichen Jahrszeit Eros und läßt mich ruhn; Nein, wie thrakischer Wintersturm Widerleuchtend von Blitzesschein Fällt er, Kyprias wilder Sohn, Mit blindsengender Wut mich an Und erschüttert gewaltsam mir Die Grundfesten des Herzens.“ Als wuchtiger Schmied offenbart sich Eros einem Anakreon: „Mit schwerwuchtendem Hammerschlag, Wie die glühende Stang' ein Schmied, Trifft mich Eros und taucht mich dann Jn eiskaltes Gewässer.“ Dagegen nur als   „ein Knäbchen, Kleingeflügelt, ausgerüstet Mit dem Bogen und dem Köcher,“ erscheint er den Epigonen. Tändelei, die sehr bald konventionell erstarrt, wird ihnen die Liebe: nicht mehr aus Herzensnötigung, aus spielerischer Kunstfertigkeit gehen die Lieder hervor; die Motive erschöpfen und wiederholen sich. ─ Die zweite, jüngere Sammlung anakreontischer Epigonen verfällt noch auf weiteren Strecken stofflich ins Leere, formell ins Verkünstelte; Rhetorik tritt vorherrschend an die Stelle von Gestaltung, obschon vereinzelt noch immer die Entfaltung einer anmutigen Scene gelingt.   Der Zug zum Ethischen und Rhetorischen prägt sich vor allem der chorischen Lyrik auf, der noch eine späte Blüte beschieden ist. Pindar bewahrt in der alten Mythenwelt seinen Dichtungen zwar einen meist ausgedehnten erzählenden Gehalt, aber von subjektivem Gefühl durchdrungen und erweicht, auf allgemeine Gedanken, Reflexion, didaktische Antriebe zugespitzt. Freilich erstarrt er nicht in trockener Gnomik; in üppiger Pracht rauschen die Strophen dahin: „Bei der Fest' anringenden Kämpfen erwirbt Sich den ersehnten Ruhm, wen vieler Kränze Gewind Ob des Siegs durch Hände die Locken geschmückt hat, Oder um Schnelle des Laufs. Kundig wird durch Götter die Stärke der Männer. Doch nur allein zween Güter weiden Unsres Lebens süßesten Glanz bei dem schönentblühten Segen,   Wenn im Glück jemand das erhebende Wort hört. Strebe dann nicht Zeus zu sein, weil alles dein, Wenn zu dir dies Los des Erfreulichen kam. Menschen ziemt menschliches Teil.“ Es kann nicht Wunder nehmen, daß dieser ethisch feierliche Stil unter den Händen unfähiger Nachahmer in überladenen Schwulst und in Dunkelheit verfällt.   Ausläufer oder Nachwirkungen der lyrischen Entwicklung bei den Griechen haben wir in der rhetorischen Lyrik der Römer zu sehen. ─ Auf griechischem Boden reißt der im Dionysoskult erwachsene, mit der chorischen Lyrik verwandte, im Kern stark episch gefärbte Dithyrambos die Herrschaft an sich, dessen lyrische Partieen in bacchantische Ueberschwänglichkeit entarteten, ebenso wie das Uebergreifen der musikalischen Begleitung eine Auflösung der alten dichterischen Form begünstigt. Jndem er aber dem Chor den Einzelmenschen scenisch und mimisch gegenüberstellte, ward der Dithyrambos zum Vater des Dramas. ─   So beengt nach alledem unsere Kenntnis der griechischen Lyrik durch die fragmentarische Ueberlieferung ist, läßt sich doch der Weg vom Epischen und Schlicht-Naiven zum Dramatischen einerseits, zum Ethisch-Didaktischen andererseits nicht verkennen. § 65. Die provenzalische Lyrik.   Unter der modernen Lyrik genießt den Ruhm der Ursprünglichkeit vor allem die Poesie der provenzalischen Troubadours. Obgleich auch sie uns gerade nur in den Leistungen einer Blütezeit der Kunst vorliegt, lassen sich doch gewisse Voraussetzungen mit Sicherheit erschließen.   Für eine Bekanntschaft mit epischer Ueberlieferung spricht nicht nur, daß uns noch einige Versromane aus der Frühzeit der Troubadourdichtung vorliegen, und nicht nur der Zusammenhang mit der nordfranzösischen Litteratur läßt die Beschäftigung mit Sagenstoffen voraussetzen. Vor allem beweisen zahlreiche Vergleiche und sonstige Anspielungen inmitten der lyrischen Gedichte, daß der Schatz epischer Ueberlieferung von großer Ausdehnung gewesen. Man vergleiche Hindeutungen solcher Art: „Verraten seh' ich mich, wie Ferragut, Als er dem Roland seine Furcht bekannt, Weshalb er fiel; so weiß auch sie, die Arge, Aus meinem Mund, wie ich zu töten bin.“ Ferner: „Selbst Persaval, da er an Artus Hof Dem weißen Rittersmann die Wehr genommen, War nicht von solcher Lust, wie ich, entglommen.“ Ein andrer Troubadour singt: „Jetzt merk' ich wohl, daß ich den Becher trank, Der einst den Tristan macht' unheilbar krank.“ Neben den modernen Rittersagen blicken antike Stoffe durch, deren Beliebtheit in der romanischen Poesie des Mittelalters uns auch durch noch erhaltene nordfranzösische Dichtungen belegt ist: „Gleich jenen Frau'n, die, wie sie sagen, Jm Wald einst Alexander fand, So fest in den Bezirk gebannt, Daß sie dem Tode gleich erlagen, Verließen sie den schatt'gen Wald, Müßt' ich auch sterben alsobald, Könnt' ich der treu'sten Lieb' entfliehn.“ Ein Kuß vom Munde seiner Schönen entlockt Bernart von Ventadour die geistreiche Wendung: „Nie dacht' ich, daß mich der Genuß Des schönen Mundes brächt' in Not, Doch küssend gab er mir den Tod, Wo nicht mich heilt ein zweiter Kuß: So ist er, da dies ihm eigen, Peleus Lanze zu vergleichen, Von der ein Stich nur dann genesen ließ, Wenn man sie nochmals in die Wunde stieß.“ Ob all die so in der provenzalischen Lyrik auftauchenden Gestalten in der langue d'oc selbst Behandlung gefunden oder die Berufungen sich zum teil auf nordfranzösische Quellen stützen, mag dahingestellt bleiben. Jmmerhin legt auch der Hinweis unseres Wolfram von Eschenbach auf den Provenzalen Guiot als ─ sei es selbst unmittelbare ─ Quelle für seinen Parzival die Erwägung nahe, die epische Thätigkeit der Provenzalen nicht gering zu achten.   Wie durch solche Zeugnisse ein Zusammenhang mit der epischen Dichtung zunächst äußerlich belegt wird, läßt sich auch die Priorität vorlitterarischer Weisen aus der Troubadourdichtung erschließen. An dem Unterschied zwischen Vers und Kanzone tritt hervor, daß der Vers sich an die einfache Form einer früheren primitiveren Lyrik anschließt. Der Vers bestand aus Kurzzeilen von meist nur vier Hebungen und in der Regel männlichem Reim sowie gedehnter Melodie. Jn den Gesängen der ältesten Troubadours herrscht diese einfache Form noch vor; auch wird es ausdrücklich als Kennzeichen des Alters hervorgehoben, daß einem Troubadour die Kanzone noch unbekannt gewesen. Schließlich hat sich jener viermal gehobene jambische Vers in dem volkstümlichen Fabliau erhalten.   Jnnerlich bekundet sich der Zusammenhang mit ursprünglicher Lyrik, namentlich mit dem religiösen Lied, durch Uebernahme des Refräns. Daß gerade Balladen und andere Tanzlieder ihn begünstigen, deutet noch besonders auf seinen populär=religiösen Ursprung. Der Refrän giebt dem Gedicht den lyrischen Hauptaccent, läßt immer von neuem das Leitmotiv der Empfindung wiederklingen. Durchaus der springende Punkt ist es, welchen der Refrän z. B. in König Richards Klagelied heraushebt; zugleich wird das Verhältnis der epischen und lyrischen Elemente durch die Gruppierung um den Refrän wirksam beleuchtet: „Zwar redet ein Gefangner insgemein Nicht mit Geschick in seiner herben Pein, Doch dichtet er, von Gram sich zu befrein.“ Nachdem so der kathartische Charakter aller Poesie als Antrieb vorklingt, setzt eine Art Erzählung ein: „Freund' hab' ich viel, doch sind die Gaben klein, Schmach ihnen, daß um Lös'geld ich allein   Zwei Winter lieg' in Haft.“ Damit ist der Grundakkord angeschlagen; „in Haft“ könnte auch die Ueberschrift des Gedichtes lauten; aus der Grundlage „in Haft“ entwickelt sich die ganze Skala der angeschlagenen Töne. Doch wird recht augenscheinlich, wie dies eine bleibende oder doch wiederkehrende Element den Fortschritt der Erzählung und Empfindung von Strophe zu Strophe kennzeichnet. „Nun ist es meinen Mannen doch bekannt Jn Normandie, Poitou und Engelland, So armen Kriegsmann hab' ich nicht im Land, Den ich im Kerker ließ um solchen Tand. Nicht hab' ich dies zu ihrem Schimpf bekannt,   Doch bin ich noch in Haft.“   Die variierenden Elemente des Schlußverses reden für sich allein deutlich genug: zunächst Vergangenheit: „ Zwei Winter lieg' in Haft“, alsdann Gegenwart: „ Doch bin ich noch in Haft“; mit der dritten Strophe nimmt das Lied eine Wendung auf die Zukunft, vorerst hypothetisch: „ Wenn ich hier bleib' in Haft “; schließlich mit zuversichtlicher Bestimmtheit: „Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr Hier schmachten muß in Haft.“ Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein: „Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: Tot und gefangen thut man niemand leid.“ Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache seiner Gefühle durchschlungen sind: „Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc. Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das Lied ein: „Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt.   Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“ Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt: „Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“   Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel aufdrückt und seitdem ─ auch bei uns in Deutschland ─ zum Hauptgegenstand lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines hochgestellten Gönners, in dessen Schloß der Sänger verweilt hat, meist überhaupt um eine Anverwandte desselben.   So stellt sich fast von selbst die Vorstellung dieser Liebe als Lehnsverhältnis ein. „Jch, Herrin, bin eu'r Unterthan, Für immer eurem Dienst geweiht, Eu'r Unterthan durch Wort und Eid.“ Wie in heroischen Bildern schwelgt der Dichter auch in Vergleichen mit der göttlichen Sphäre zur Verherrlichung der Auserkorenen. Aehnlich ergeben sich aus den Voraussetzungen dieser poetischen Liebe eine Reihe weiterer konventionellen Eigenschaften, wie Verschweigen des Namens der Geliebten. Um aber ─ durch den Boten, dem man das Lied auftrug ─ ihr, der Besungenen, unter Umständen auch einem beschränkten Kreise, in dem sie ihr Lob gern ertönen hörte, verständlich zu werden, bediente sich der Sänger oft allegorischer Andeutung.   Durchgehend kommt auch die Liebe selbst als Allegorie zur Verwendung. „Die Liebe trifft uns leicht mit ihrer Lanze, Sie ist ein Geist und treibt ein feines Spiel ... Sie überwältigt und besiegt sie alle, Die sie erkoren, ihrem Zweck zu dienen, Doch um so größre Leiden schafft sie ihnen, Da sie verlangt, daß uns ihr Schmerz gefalle ...“ Wie solcher Art Liebe fast immer unerhört blieb, herrscht klagende Sehnsucht vor. Ja, direkt als Krankheit wird die Liebe empfunden: „Krank bin ich, fühle Todeswehn, Kann kaum noch, was man spricht, verstehn, Such' einen Arzt und weiß nicht wen“ etc.   Am meisten frische, natürliche Leidenschaft atmet noch das Tagelied, oder genauer alba d. i. (Lied vom) Morgenrot, Tagesanbruch: Die Liebenden beklagen die hereinbrechende Scheidestunde; schon giebt der Wächter, der im Einverständnis mit den Liebenden steht, ein Warnungszeichen; oder die bösen Neider und Hüter sind zu täuschen. Soweit bleibt die äußere Situation durchaus konventionell, aber in dieser Form hat doch südliche Leidenschaft eine ─ gleichfalls elegische ─ Einkleidung gefunden. Meist aber sind die Ansprüche der Liebessänger bescheidener, kurzweg phantastischer: „Mich macht ein Faden ihres Handschuhs reich, Ein Haar auch, das ihr auf den Mantel fällt“ ─ lautet ein bezeichnender Wunsch dieser Art.   Gern geht die Liebesdichtung der Troubadours von der Naturanschauung aus: „Jm Mond April, wann grün sich schmückt Der Anger und die Gärten blühn, Und frisch und klar die Wasser ziehn, Und alle Vöglein sind beglückt; Düfte, die aus Blüten dringen, Und des Vögleins süßes Singen, Das ist's, was dann mich neu entzückt.   Dann such' ich mich mit Vorbedacht Zu freu'n der Liebe Süßigkeit ...“   Es ist hier allerorten klar, daß eine Empfindung zum Ausdruck gebracht werden, ja zur direkten Aussprache, zum Geständnis gelangen soll. Vergegenwärtigen wir uns die charakteristischen Mittel dieser Art poetischer Gefühlsäußerung, so finden wir die lyrische Entwicklung unter den Händen der Troubadours bereits in einem vorgeschrittenen Stadium. Der älteste bekannte Troubadour, Graf Wilhelm von Poitiers, hebt an: „Jhr muß sich jede Wonne neigen, Die Macht ihr dienen weit und breit Ob ihrer holden Freundlichkeit, Dem milden Blick auch, der ihr eigen. Ein Mann muß hundert Jahr' erreichen Und mehr noch, wenn er ihr sich weiht ...“ Eine gegenständliche Feststellung ist schon von Anbeginn mit abstrakten Begriffen durchsetzt: die Wirkung der verkörperten Geliebten ist zunächst rein seelisch durch Herrschaft ihrer Wonne und Macht angedeutet, dann zwar anschaulicher durch den Eindruck auf einen Mann selbst, doch unter Einkleidung in eine Art allgemeiner Wahrheit. Nun fehlt es nicht an Troubadourliedern, die gegenständlicher und individueller zeichnen; aber das weite Vorschreiten der Abstraktion und Gnomik läßt sich selten verkennen. Selbst Bernart von Ventadour ergeht sich seine meisten Lieder hindurch mehr in Erörterungen über seine Liebe als in Gestaltung von Liebesscenen oder plastischer Verkörperung der Geliebten: „Gar sanft mit lauter Süßigkeit Wirkt diese Liebe auf mein Herz: Tags sterb' ich hundertmal vor Schmerz Und lebe auf vor Fröhlichkeit. Mein Weh ist eine süße Pein, Mit der kein fremdes Glück sich mißt; Und wenn mein Weh so süß schon ist, Wie süß muß dann mein Glück erst sein!“ Das ist nicht mehr Veranschaulichung der Gefühle: das ist offenbare Reflexion über die Gefühle. ─   Der reflektierende und didaktische Charakter der Troubadourlyrik äußert sich noch unmittelbarer in den Sirventes, politischen und moralischen Richtersprüchen in lyrischem Gewande. Bald Lob=, öfter Rügelied, bald Kampflied, bald Aufruf zum Kampf, greift das Sirventes meist in die politischen und sozialen Verhältnisse der Zeit ein. Bei Meistern der Gattung, wie Bertran von Born, finden sich noch recht konkrete Darstellungen: „Manch farb'ger Helm und Schwert und Speer Und Schilde schadhaft und zerhaun Und fechtend der Vasallen Heer Jst im Beginn der Schlacht zu schaun; Es schweifen irre Rosse Gefallner Reiter durch das Feld, Und im Getümmel denkt der Held, Wenn er ein edler Sprosse, Nur wie er Arm und Köpfe spellt, Er, der nicht nachgiebt, lieber fällt.   Nicht solche Wonne flößt mir ein Schlaf, Speis und Trank, als wenn es schallt Von beiden Seiten: drauf hinein!“ Von epischer Darstellung scheidet sich eine solche Schlachtscene durch die verallgemeinernde und hypothetische Form: nicht eine besondere Schlacht, sondern der typische Verlauf der Schlachten schwebt der Phantasie vor.   Rüge und Lob stützt sich naturgemäß auf bestimmte, bis zum gewissen Grade in der Vergangenheit liegende, aber doch in der Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte Lohn in die Zukunft: „Und wagt der Schlemmer sich heraus, Soll mein Schwert es ihm verbittern“ etc. Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht: „Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken, Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken.“ Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten Begriffen namentlich die Ehre, welche als Allegorie auftritt: „Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn, Von jedermann verstoßen und verkannt ... Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen, Da Ehre wich aus ihrem Vaterland.“   Auch zur Symbolisierung neigen die Troubadours. So müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen herhalten: „Und wer gern diese Blumen bricht, Der kennt noch nicht Der Gärtner Macht, Die manchen Herrn, der sie verficht, Nach Hüters Pflicht Jn Wehr gebracht“ u. s. f.   Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes; viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand.   Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton nahekommen. ─   Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher Lieder in Nordfrankreich folgt, die im 15. Jahrhundert durch Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire, sich der Name Vaudeville herleitet, und wie Fran ç ois Villon bezeichnet ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach Jtalien hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt. § 66. Die Anfänge der deutschen Lyrik.   Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem 14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes. Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft.   Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich, verdienen aber sorgsame Beachtung.   Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen vom Jahre 789 den Nonnen, „ winileodos scribere vel mittere “. Die Stelle lautet (bei Boretius): „ De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint. Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere permittat; et earum claustra sint bene firmata, et nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere praesumant: et de pallore earum propter sanguinis minuationem .“ Winileodos schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde wohl schärfer als durch ein schriftliches Verbot bestraft worden wäre. Scribere braucht auch keineswegs dichten zu bedeuten, ja kann am wenigsten für volksliedartiges Dichten Verwendung finden. Nicht ausgeschlossen wäre selbst, daß es sich bei den lateinkundigen Nonnen sogar um Abschrift antiker Dichtungen und Versendung derselben von Kloster zu Kloster handelte, wie wir dergleichen von Mönchen zur genüge kennen: solch ein Eifer für weltliche und zugleich heidnische Dichtungen hätte gerade so, nicht mehr und nicht weniger, gefährlich erscheinen können, um ihm als Mißbrauch in einem Kapitular entgegenzutreten. Als Winileod verdeutschen spätere Glossarien oft psalmi plebeji oder vulgares oder seculares cantilenae oder auch cantica rustica et inepta . Es handelt sich um weltliche Lieder, wie solche später zum Leidwesen der geistlichen Behörden sogar in der Kirche gesungen werden. Ein Verbot von derart geselligen Liedern lautet: „ Non licet in ecclesia choros secularium vel puellarum cantica exercere nec convivia in ecclesia praeparare .“   Sollte es sich nun um selbständige deutsche Dichtungen dieser Richtung handeln, wüßten wir noch immer nicht, wie weit der epische Charakter, der erzählende Ton, bewahrt oder wie weit bereits direkte Gefühlsaussprache erreicht ist.   Vor dem 12. Jahrhundert begegnet nur noch im Ruodlieb, einem lateinisch geschriebenen Rittergedicht des 11. Jahrhunderts, eine Anspielung auf einen deutschen Liebesgruß. Die Frau trägt dem Boten Ruodliebs auf:   ... „Dic illi de me de corde fideli Tantundem liebes, quantum veniat modo loubes, Et volucrum wunna quot sunt, sibi dic mea minna, Graminis et florum quantum sit, dic et honorum.“ Jn lateinischer Sprache ist ein Liebesgruß dieser Art auf deutschem Boden bereits aus dem 10. Jahrhundert überliefert. Weiterhin finden sich solche Grüße in der volkstümlichen Lyrik des 15. und 16. Jahrhunderts; schon im 10. und 11. Jahrhundert müssen für dergleichen mündliche Grußsendung Wunschformeln ausgebildet gewesen sein, die zwei Vergleichsglieder durch Stabreim oder Endreim zu binden pflegten.   An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere Gründe, um das Vorhandensein und die allgemeine Ausbreitung einer volkstümlichen Lyrik annehmbar erscheinen zu lassen. Zwar die Analogie der heutigen sogenannten Naturvölker wäre aus uns schon bekannten Gründen nicht von beweisender Kraft. Auch die Unterstellung bleibt grundlos, daß die Leugnung einer solchen ursprünglichen Lyrik das deutsche Volk vor dem 12. Jahrhundert auf eine unter den Wilden stehende Kulturstufe herabdrücken hieße: man sollte die Jahrtausende lange Vergangenheit, die auch hinter diesen Stämmen liegt, nicht vergessen; andererseits in Anschlag bringen, wie gerade die Kulturvölker, welche alle geistigen Keime zur Reife bringen, eine langsame, aber um so gediegenere Entwicklung durchlaufen. Die Entwicklung niedrigerer Menschenracen reift wie bekanntlich die der Tiere schneller, um indes alsbald zu verkrüppeln (man vergleiche z. B. Hund und Menschenkind von ½ Jahr, dann aber nach 3 Jahren).   Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick: aber wir werden überall zu der Auffassung hingedrängt, daß die Poesie erst ein Geschenk der Kultur sei; erst wenn die Ehrfurcht vor dem, was über, und vor dem, was vor uns ist, zum Durchbruch gekommen, erst dann ist der Mensch so weitgehender Seelenvertiefung fähig, wie sie alle Poesie voraussetzt. Daß die Poesie als Liebeslyrik erwacht und daß „die Fähigkeit, seine Liebe mitzuteilen im Gesange, in diesem Zustande so verbreitet wie die Fähigkeit zu lieben “ gewesen (wie Konrad Burdach im 27. Band der Zeitschrift für deutsches Altertum meint), charakterisiert sich als ein Ausfluß rein materialistischer Auffassung, für welche jede Erfahrungsgrundlage fehlt, ja der alle Erfahrung widerspricht. Abgesehen von der Absurdität dieser (in Wilhelm Scherers Poetik übernommenen) Hypothese, äußert sich darin noch eine Nachwirkung von dem schönen, aber historisch unhaltbaren Traum des 18. Jahrhunderts, wonach das Paradies der Menschheit erst mit dem Beginn der Kultur verloren gegangen sei. Ursprünglich wären danach alle Menschen Dichter gewesen, und erst fortschreitende Kultur hätte diese Fähigkeit auf Auserwählte aus dem führenden, die Bildung tragenden Stand beschränkt! Jm ganzen Verlauf der geschichtlichen Betrachtung trat uns das diametrale Gegenteil als Thatsache entgegen.   Auch wird selbst von den Anhängern dieser Hypothese ─ und damit nähern sie sich wiederum der Anerkennung geschichtlicher Erscheinungen ─ ein weitgehend objektiver Charakter der ältesten Lyrik vorausgesetzt: sie sei gewiß mehr thatsächlich als grübelnd, mehr synthetisch als analytisch gewesen. Es scheint danach weniger über die Form als über den Zeitpunkt der ursprünglichen Lyrik Zwiespalt zu bestehen.   Nötigte uns die Geschichte und Entwicklung auch gerade unserer heimischen Dichtung zur Annahme epischer Priorität, so ist damit keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, daß schon gewisse Zeit vor dem Auftreten der Lyrik in der Litteratur zunächst in mündlicher Verkündung und Fortpflanzung eine poetische Form auflebte, die aus der Erzählung vergangener Geschehnisse in die Aussprache unmittelbarer Empfindungen überleitet.   Jnwieweit sich für eine solche Ansetzung thatsächliche wissenschaftliche Begründung bietet, kann bei dem Mangel früheren Erfahrungsmaterials nur aus Betrachtung der ältesten überlieferten Lyrik nach ihrem geistigen Gehalt wie nach ihrer innern und äußern Form erhellen.   Wirklich ragt in die älteste bekannte deutsche Lyrik eine grundlegende Auffassung hinein, die in einen gewissen Gegensatz zu der späteren Etappe der Ritterdichtung tritt. Es handelt sich um das für Liebeslyrik ausschlaggebende Verhältnis der Geschlechter. Jn den Liedern des Kürenbergers, und zwar sowohl in den Strophen, welche Frauen in den Mund gelegt werden, wie nach den Aeußerungen des Mannes, erscheint das Weib als der werbende, hingebungsvolle Teil, während der Mann sich herrisch und zurückhaltend giebt. Aus dem Munde der Frau tönt es: „Bit in daz er mir holt sî, als er hie vor was“; sie klagt: „ Eines hubeschen ritters gewan ich kunde: daz mir den benomen hân die merker und ir nît, des mohte mir mîn herze nie frô werden sît “; sie droht dem Sänger in stürmischer Werbung: „Er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn“; stolz giebt der Ritter zurück: „Nu brinc mir her vil balde mîn ros, mîn îsengwant, wan ich muoz einer frouwen rûmen diu lant: diu wil mich des betwingen daz ich ir holt sî. si mnoz der mîner minne iemer darbende sîn.“ Zurückhaltend wagt der Mann nicht die Schlafende zu wecken, während ihre Leidenschaft ausbricht: „ Des gehazze got den dînen lîp! jo enwas ich niht ein wilde bêr .“ Sie ist es, die nächtens seiner denkt: „ sô erbluojet sich mîn varwe als der rôse am dorne tuot und gewinnet mir daz herze vil manigen trûrigen muot .“ Wie einen Falken hat sie ihn gehegt und geschmückt, mehr als ein Jahr auf ihn all ihre Sorgfalt gewandt; er aber, „er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.“ Selbst den Blitz ihrer Augen will er vor Zeugen ablenken: auf einen andern Mann soll die Schöne ihre Augen gehen lassen, damit niemand weiß, wie es zwischen ihnen bestellt. ─ Des Ritters Auserkorene ist eine züchtige Jungfrau, ─ ebenfalls in Gegensatz zu der überhandnehmenden Unsitte, verheirateten Frauen zu huldigen; nur durch Boten kann er mit ihr verkehren: so gern er selbst seine Werbung vorbrächte, gilt es doch ihren Ruf zu schonen. Jm übrigen ist sein Mannesstolz gar hochgemut: „ Wîp unde vederspil die werdent lîhte zam: swer si ze rehte lucket, sô suochent si den man .“   Aehnlich erscheint auch in mehreren Liedern Dietmars von Aist das Weib bald der Liebe harrend, bald um Liebe flehend. Sie warnt den Geliebten vor Treulosigkeit und mahnt ihn an das Wohlgefallen, das sie einst bei ihm gefunden. Sie quält sich mit der Frage: „Waz ist fur daz trûren guot daz wîp nâch lieben manne hât?“   Dieses eigentlich doch natürliche Verhältnis der Geschlechter, das Emporblicken des Weibes zu dem Mann, auf dessen Tüchtigkeit sie im besten Sinne stolz ist, kommt in einer Frauenstrophe des Burggrafen von Regensburg zu besonders klarer Aussprache: „ Ich bin mit rehter stæte eim guoten rîter undertân. wie sanfte ez mînem herzen tuot swenn ich in umbevangen hân ! der sich mit manegen tugenden guot gemachet al der werlte liep, der mac wol hôhe tragen den muot.   Sine mugen alle mir benemen den ich mir lange hân erwelt ...“ Fehlt es auch nicht an vereinzelten Nachklängen dieser Auffassung der ältesten Minnesänger, so ist doch mit Beginn der eigentlich höfischen Blütezeit im Minnesang die entgegengesetzte Darstellung der Beziehungen zwischen Mann und Weib zur entschiedenen Herrschaft gelangt. Der Ritter ist der um Liebe girrende Teil geworden, die Frau spielt die Spröde; wie der Name sagt, ist sie die Herrin, der Liebhaber erniedrigt sich zu ihrem Vasallen, und er krankt an ungestillter Liebessehnsucht, ist überhaupt von Liebesweh gebrochen.   Nun begegnen wir der auffallenden Erscheinung, daß diese, das natürliche Verhältnis der Geschlechter umkehrende Auffassung in der von volkstümlichen Einflüssen unberührten Kunstlyrik dauernd die Herrschaft behauptet, während das in späteren Jahrhunderten aufgezeichnete Volkslied die gesund=natürliche und thatsächlich im unverdorbenen Volke herrschende Anschauung bewahrt, wonach ein Weibernarr, ein Sklave weiblicher Launen dem Spott verfällt, und die Frau es ist, die zum Manne aufblickt, an ihn sich anlehnt. Der immer wieder anklingenden Sehnsucht des Mädchens nach einem Manne steht im Volkslied verhältnismäßig selten die schwärmerische Werbung des Mannes gegenüber. Vielmehr sind Treulosigkeit des Mannes einerseits, Verspottung des Weibes andererseits wohl die beliebtesten Gegenstände des deutschen Volksliedes um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit. Selbst über Verrat tröstet sich der kecke Gesell: „Laß fahren, laß fahren, was nit bleiben will. Man findt der schön Jungfräulein noch viel.“ Was der Bursch sucht, ist meist nur flüchtiger Genuß; das Mädchen bleibt trauernd und sehnend verlassen zurück. Namentlich kommen hier auch die Liebeslieder in betracht, die Nonnen in den Mund gelegt sind: „Viel lieber möcht' ich einen Knaben Als eine graue Kappen haben.“ Typisch kehrt überhaupt der Wunsch des Mädchens wieder, trotz Warnung der Mutter zu heiraten, zunächst die Liebe eines muntern Gesellen zu erwerben; und doch gewinnt sie meist nur Schande und Not. „Das Maidlein stund an der Zinnen Und sah zum Fenster aus, Jn rechter Lieb' und Treuen Warf sie ein Kränzlein raus“ ─ auch diese Situation berührt sich mit typischen Scenen der älteren Minnedichtung. Gemeinsam ist dieser gesamten Ritterlyrik mit der Volkslyrik ─ das soll zunächst nur heißen: mit der Lyrik des dritten und vierten Standes ─ ferner das beliebte Ausgehen des Liebesliedes von einem Naturbilde. Ersichtlich erst aus dem Minnelied ins Volkslied übergegangen ist die Situation der Tagelieder.   Mit dem Volkslied hat die ältere Minnedichtung im Stil die stark epische Färbung gemein. Auch die geradezu die Darstellung beherrschende direkte Rede, oft volle Gespräche lehnen sich in diesen beiden lyrischen Arten an den Stil des epischen Volksgesanges an. „ Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne, dô hôrt ich einen ritter vil wol singen in Kurenberges wîse al ûz der menigîn .“ Soweit volle Erzählung, der erst durch den direkten Gefühlsausbruch der letzten Strophenzeile lyrische Wendung gegeben wird: „Er muoz mir diu lant rûmen ald ich geniete mich sîn.“ Aehnlich scenische Zeichnung herrscht auch sonst beim Kürenberger vor: „ Jô stuont ich nehtint spâte vor dînem bette,“ ─ „Swenne ich stân alleine in mînem hemede .“ Jn Bild und Erzählung schreitet auch die Darstellung des bedeutsamen Strophenpaars vor: „Ich zôch mir einen valken“ &c. Nicht anders bei Dietmar von Aist: „Ez stuont ein frowe alleine und warte uber heide und warte ire liebe. so gesach si valken fliegen. ‚sô wol dir valke daz du bist ...'“ Oder: „ Sô wol dir, sumerwunne! daz vogelsanc ist geswunden: als ist der linden ir loup .“ Scenisch=dramatisch schließlich: „Diu frowe begunde weinen. ‚du rîtst und lâst mich eine.'“ Gewiß fehlt es den hervorragenderen unter den späteren ritterlichen Dichtern nicht an mancherlei eindrucksvollen plastischen Elementen; aber das Herausschälen der Empfindung aus einem erzählenden Kern bleibt nicht mehr Grundsatz.   Nach gleicher Richtung, auf den Anschluß an epische Formen, weisen uns schließlich die Versmaße einiger älteren Minnesänger. Zur genüge bekannt ist die Jdentität der Kürenberg-Strophe mit der Nibelungen-Strophe. Auch der Burggraf von Regensburg bedient sich in seinen Liedern einer nahe verwandten Form. Von epischen Dichtungen andererseits bewahren die Nibelungen-Kürenberg=Strophe das Alphartlied, der Rosengarten, Ortnit sowie Wolfdietrich; dazu gesellen sich offenbare Ableitungen in der Gudrun, in dem Gedicht von Walther und Hildegund sowie in der Rabenschlacht. Man darf also feststellen, daß die vorherrschende Form der nationalen Epen in den ältesten Minneliedern anklingt.   Gleichviel nun, ob die Nibelungen-Strophe aus dem Volksgesang übernommen sein könnte oder nicht, immer bliebe sie ein episches Maß, und wir ständen demgemäß vor der Thatsache, daß auch in der äußeren Form die älteste bekannte Lyrik mit der Epik noch zusammenhängt.   Die Entstehung dieser Strophenform weist überdies jedenfalls auf den alten Langvers zurück. Auf dem Wege, der vom allitterierenden Langvers über Otfrieds Reimvers zur Ueberwindung der eingerissenen Willkür und zu gesetzmäßiger Ordnung im Gebrauch voller (vierhebiger) und stumpfer (dreihebiger) Verse bezw. Vershälften führt, bezeichnet die Nibelungen-Kürenberg=Strophe einen weiteren, prinzipiell letzten Schritt: der ersten Vershälfte sind im Prinzip vier Hebungen, der zweiten drei zugeteilt, nur daß den Strophenschluß die Verwendung von vier Hebungen auch in der zweiten Vershälfte andeutet. Dieser Zusammenhang mit der Entwicklung der epischen Form giebt zum mindesten einen weiteren Fingerzeig, daß die Ausbildung der Lyrik vor den uns überlieferten Denkmälern jedenfalls nicht unabhängig von der epischen Entwicklung anzusetzen ist.   Auf den gleichen Ausgangspunkt der Lyrik wie diese Versform wies der Stil ihrer ältesten Denkmäler hin. Wenn also die geistige Richtung der frühesten Minnedichtung den Zusammenhang mit volkstümlich=natürlichen Anschauungen noch nicht gelöst hat, werden wir jedenfalls nicht berechtigt sein, den nicht erhaltenen oder garnicht aufgezeichneten älteren lyrischen Liedern einen von der uns bekannt gewordenen, zunächst epischen Entwicklung losgelösten Ursprung zuzuerkennen. Begründete ferner schon die Spärlichkeit und Ansechtbarkeit der äußeren Zeugnisse weitgehende Zweifel an dem Uralter und der allgemeinen Verbreitung einer ursprünglich volkstümlichen Lyrik, so zeigen uns nun Stil und Vers der ältesten bekannten Lyrik, daß diese noch die Eierschalen ihrer Herausschälung aus der epischen Form nicht abgestreift hat. Dadurch wird aber nahegelegt, ihre nicht zur Ueberlieferung gelangten Vorgänger weder an Alter noch an Zahl als ungemessen ausgedehnt vorauszusetzen.   Dieser durch die thatsächlichen Unterlagen gebotene Schluß wird bestärkt durch einen Hinblick auf den Kulturstand des Volkes. Es ist nicht außer acht zu lassen, daß die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts mit dem Aufblühen des städtischen Bürgertums zusammenfällt; jetzt erst, wo das Handwerk seinen goldenen Boden entdeckt, hat es Bildung und Selbstbewußtsein genug erworben, um zur Ausübung der Poesie und gar zur reflektierenden Aussprache seiner Gefühlswelt ausreichend reif und kühn zu sein. Wie verschwindend sind auch seither die Ausnahmen geblieben, daß jemand, der unter der Durchschnittsbildung seiner Zeit steht, dichterisch ernst zu nehmende Leistungen vollbrachte oder gar in die Entwicklung der Poesie umgestaltend, geschweige denn neugestaltend eingriff?   Als Träger der Bildung aber begegnet uns in Deutschland vor dem Rittertum die Geistlichkeit. Lateinische und provenzalische Einflüsse erscheinen so als Paten der jungen deutschen Lyrik; schon vor der Minnedichtung und dem Kreuzlied wird die erwachende Subjektivität zunächst in geistlichen Kreisen durch lateinisches Medium gefördert worden sein. Für eine von je oder doch seit Jahrhunderten organisches Leben führende, ausgebildete deutsche Volkslyrik findet sich wissenschaftlich keine ausreichende Bezeugung. Zaubersprüche und andere sakrale Formeln, kurze Gruß- und andere Wunschformeln, teils Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache, überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen.   Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse auch für die älteste Lyrik begnügen. § 67. Die deutsche Ritterlyrik.   Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch= oder sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges, blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher Aneinanderreihung mehrerer Strophen.   Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist der Leich zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich, der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen, herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet, spielten die Leiche offenbar in der Begehung religiöser Feste eine beliebte Rolle. Die überlieferten Leiche aus der Zeit der Ritterdichtung bewahren neben ihrer Bestimmung zum Tanz vorerst teilweise noch den religiösen Charakter. So der Leich Walthers von der Vogelweide: „Got, dîner trînitate, die ie beslozzen hâte dîn fürgedanc mit râte, der jehen wir mit drîunge: diu drîe ist ein einunge.“ An dies Ausgehen von der Dreieinigkeit schließt sich mit der zweiten Strophe eine Anrufung Gottes gegen die Macht der Sünde: „Ein got der hôhe hêre (sîn ie selbwesende êre verendet niemer mêre), der sende uns sîne lêre. uns hât verleitet sêre die sinne ûf menege sünde der fürste ûz helle abgründe.“ Aehnlich verknüpft sich auch weiterhin Erzählung oder Aussage mit Wunsch oder sonstigem Anruf: „Sîn rât und bœses fleisches gir, die hânt geverret, hêrre. uns dir. sint disiu zwei dir niht ze balt und dû der beider hâst gewalt, sô tuo daz dînem namen ze lobe und hilf uns daz wir mit dir obe geligen und daz dîn kraft uns gebe sô starke stæte widerstrebe,   Da von dîn name sî gêret und auch dîn lop gemêret ...“ Mit der sechsten Strophe geht der Leich in eine Verherrlichung der Jungfrau Maria über. Zweimal reiht die Anrufung Attribut an Attribut, um des weiteren ausgeführte Wiedergabe evangelistischer Berichte zu bieten: „ Magt unde muoter, schouwe der kristenheite nôt! dû blüende gerte Arônes. uf gênder morgenrôt, Ezechiêles porte, diu nie wart ûf getân, dur die der künec hêrliche wart ûz und in gelân! alsô diu sunne schînet durh ganz geworhtez glas, alsô gebar diu reine Krist, diu maget und muoter was.   Ein bosch der bran, dâ nie niht an besenget noch verbrennet wart“ &c. „Daz ûz dem worte erwahsen sî, daz ist von kindes sinnen vrî: ez wuohs ze worte und wart ein man. dâ merkent alle ein wunder an ...“ Wie mit epischer ist der Leich stark mit lyrischer Bibelparaphrase durchsetzt: „Daz lamp daz ist der wâre Crist, dâ von dû bist nû alle frist gehoehet und gehêret“ &c. So regen denn biblische Vorstellungen weitere lyrische Wendungen des Dichters an: „Wie kund des iemer werden rât, der umbe sîne missetât niht herzelîcher riuwe hât, sît got enheine sünde lât   Die niht geriuwent zaller stunt hin abe unz ûf des herzen grunt?“ Die hypothetische Frageform, in der hier die Aussage auftritt, giebt ihr lyrischen Anstrich. ─ Wer wollte das Zurückgehen auf die internationale lateinische Kirchenpoesie in den schmuckreichen Anrufungen verkennen: „Nû senfte uns, frouwe, sînen zorn, barmherzic muoter ûzerkorn, dû frîer rôse sunder dorn, dû sunnevarwiu clâre!   Dich lobet der hôhen engel schar“ &c. Jn Walthers Leich klingen schließlich selbst kirchenpolitische Zeitanspielungen hinein: „ Swaz im leides ie gewar, daz kam von simonîe gar, und ist er nû so friunde bar, daz ern getar nicht sînen schaden gerüegen ...“   Der religiöse Leich wie der einstrophige Spruch und das aus gleichförmigen Strophen zusammengesetzte Lied, soweit es religiösen Jnhalts, pflegten in der Blütezeit der Ritterdichtung außer dem der Minnedichtung angenäherten poetischen Marienkultus, der aus epischen Elementen und lateinischen Mustern herauswuchs, besonders Aufforderungen zum Kreuzzug. Neben des Heinrich von Rugge Leich von dem heiligen Grabe bieten die Kreuzlieder Herrn Friedrichs von Husen verhältnismäßig frühe Proben der religiösen Ritterdichtung. Wie nur im 19. Jahrhundert ein Theodor Körner sein „Pfui über dich Buben hinter dem Ofen“ ruft: „Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht!“ so singt der wackere Kreuzfahrer: „Ich gunde es gûten vrowen niet daz iemer mêre kome der tach daz sie deheinen hâten liep: wan ez ir êren wâre ein slach. Wie kunde in der gedienen iet der gotes verte alsô erschrach?“ Jn anderer Weise als in der geistlichen Minne der Mariendichtung berührt sich hier der religiöse Stoff bereits mit dem Hauptthema der Ritterlyrik, der Liebe.   Auch zwischen der Minnepoesie, überhaupt der weltlichen Lyrik, und gewissen lateinischen Zeitgedichten hat eine Beziehung statt. Die uns vorliegenden Vagantenlieder fahrender Kleriker mögen an Alter die überlieferten deutschen Ritterdichtungen nicht überragen, weisen aber auf eine schon längere Zeit andauernde Tradition. Solche verbummelten Zöglinge von Klosterschulen schlugen in der Liebes= wie in der Zechlyrik, in der politischen wie in der kirchlich=sozialen Satire verwegene Töne an. Nachwirkungen der griechisch=römischen Lyrik werden hier fruchtbar und leiten Motive in die erwachende deutsche Lyrik über. ─ Nach solcher geistlichen wie weltlichen Vorbereitung durch die mittelalterlich=lateinische Dichtung greift die provenzalische Troubadourlyrik ein, um die deutsche Lyrik flügge zu machen.   Die Luft, in der sie sich danach bewegt, ist wie in Südfrankreich halb und halb eine Traumwelt: zugrunde liegt die konventionelle Dienstbarkeit unter dem Willen einer verehrten, meist verheiratheten Frau. Jm Gegensatz zu der beim Kürenberger, Dietmar von Aist, dem Burggrafen von Regensburg noch vorherrschenden natürlicheren, organisch deutschen Auffassung der Liebe sehen wir die romanische Galanterie bereits auf einer zweiten Entwicklungsstufe zum Siege gelangt. Als eine neue Etappe auf dem in seiner prinzipiellen Richtung uns bekannten Wege charakterisiert sie sich auch formell durch größere Strenge im Versbau und der Strophengliederung sowie durch zunehmenden Reichtum an neuen Versgebänden. Außer Friedrich von Husen und Heinrich von Rugge gehört namentlich Heinrich von Veldeke auch als Lyriker hierher. Der aesthetische Stil läßt nun die Reflexion bereits weithin Raum gewinnen. So sinniert der von Veldeke abstrakt: „Swer tô der minne es sô frôt dat er der minne dienen kan und er dorch minne pîne dôt, der es ein minnesâlich man. Van minne kumet ons allet gôt, die minne machet reinen môt: wat solde ich sonder minne dan?“ Auf allgemeine Wahrheiten sind auch die Dichtungen Heinrichs von Rugge angelegt: „Nâch frowen schœne nieman sol ze vil gevrâgen: sint si guot, er lâzes ime gevallen wol und wizze daz er rehte tuot. Waz obe ein varwe wandel hât der doch der muot vil hôhe stât? er ist ein ungevüege man der des an wîbe niht erkennen kan.“   Trotz Abnahme der unreinen Reime sind sie noch immer nicht ausdrücklich verpönt. Hierin sowohl als in der Abstufung der Strophe geschieht noch vor Walthers Auftreten eine weitere metrische Vervollkommnung. Wie ja die Lieder noch durchaus zum Gesang bestimmt sind, gliedert sich die Strophe in zwei Stollen und einen Abgesang.   Diesem metrischen Fortschritt entspricht aber zunächst nicht unbedingt ein innerer Aufstieg. Wohl darf man eine Vervollkommnung an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen Talent.   Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat. Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor. „Ez tuot ein leit nâch liebe wê: sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. swer welle daz er frô bestê, daz eine er dur daz ander lîden sol mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site. zer werlte ist niht sô guot deich ie gesach sô guot gebite. swer die gedulteclîchen hât, der kam des ie mit fröiden hin.   alsô ding ich daz mîn noch werde rât.“ Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn. Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab: „Owê, sol aber mir iemer mê geliuhten dur die naht noch wîzer danne ein snê ir lîp vil wol geslaht? der trouc diu ougen mîn. ich wânde, ez solde sîn des liehten mânen schîn.   dô tagete ez.“ Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe: „ Owê, daz er sô dicke sich bî mir ersehen hât! als er endahte mich, sô wolte er sunder wât mîn arme schowen blôz. ez was ein wunder grôz daz in des nie verdrôz.   dô tagete ez.“ Und doch handelt es sich nicht um eine unmittelbare Darstellung in zeitlich vorschreitender Scenenfolge: nur aus der Erinnerung sind ein paar sprechende, aber neben einander hergehende Züge zusammengestellt; so ist die geistige Verarbeitung des Erlebten nicht folgerecht dramatisch gefärbt, sondern beschreibend. Jmmerhin läßt sich eine volle, wirkliche Handlung aus der Darlegung seiner Empfindungen gewinnen, um so einheitlicher als er seine Liebe konsequent unter ritterlichen Bildern betrachtet.   Alle Elemente, die in der Blütezeit mittelhochdeutscher Lyrik entfesselt waren, faßt Walther von der Vogelweide zusammen. Nicht nur als vollendetster, auch als reichster, mannigfaltigster Dichter nimmt er in der Entwicklung der Lyrik einen hervorragenden Platz ein. Daß Walthers Dichtung sich nicht in Schemen verflüchtigt, daß mit der von uns beobachteten Zunahme der Selbstversenkung und Vergeistigung nicht notgedrungen gestaltenlose Abstraktion geboten ist, zeigt schon der Eingang zahlreicher Lieder Walthers. „Ich saz ûf eime steine“, „Ich hôrte ein wazzer diezen“, „Ich sach mit mînen ougen“ u. dgl. Dieser größte Lyriker des deutschen Mittelalters reflektiert allerdings in ausgedehntem Maße, aber er geht von einer anschaulichen Situation aus und kleidet sein Sinnen möglichst weit in plastische Bilder. Bisweilen bleibt die Anknüpfung äußerlich: so verkörpert in dem bekannten Gedicht sein Sitzen auf dem Steine nur die Situation, in welcher er nachgedacht. Bedeutsamer sind die Betrachtungen, die unmittelbar aus der Situation selbst herauswachsen, von ihr angeregt sind: „Ich hôrte ein wazzer diezen und sach die vische vliezen: ich sach swaz in der werlte was, velt unde walt, loup, rôr und gras.“ Da sah er denn, daß von den Geschöpfen keines ohne Haß lebt, aber ─ sie haben ihre Ordnung, sie wählen sich ihre Führer, denen sie sich unterordnen. Und damit ist die Ueberleitung gegeben. „Sô wê dir, tiuschiu zunge, wie stêt dîn ordenunge, daz nû diu mugge ir künec hât und daz dîn êre alsô zergât!“ Jn der Entfaltung der Gedanken gewinnt die Allegorie weiteste Ausdehnung; ein einheitliches Bild gelangt zu künstlerischer Durchführung: „Jâ leider desn mac niht gesîn, daz guot und werltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen. stîg unde wege sint in benomen: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze, frid unde reht sint sêre wunt: diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.“ Wie eine aufjubelnde Empfindung von einer plastischen Phantasie alsbald in gegenständliche Darlegungen, zum teil in direkte Erzählung hinübergeleitet wird, zeigt fast jede Strophe. „Ich hân mîn lêhen, al die werlt! ich hân mîn lêhen!“ Mit diesem Ausruf kennzeichnet der Beginn des Spruches den Keim dieses Gedichtes. Jndem Walther nun die Folgen des ausgerufenen Ereignisses abmißt, tritt in Kontrastwirkung sein bisheriges armseliges Leben mit rührender Deutlichkeit hervor: „Nû enfürhte ich niht den hornunc an die zêhen und wil alle bœse hêrren deste minne vlêhen. der edel künic, der milte künic hât mich berâten, daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân. mîn nâhgebûren dunke ich verre baz getân: sie sehent mich niht mêr an in butzen wîs alsô sie tâten ...“ Aeußere Erlebnisse, die zum Keim eines Liedes werden, ziehen oft in voller Anschaulichkeit an uns vorüber, so daß durch die Erreger der Stimmung diese auch in uns unmittelbar erzeugt wird. Hier ragt als einer der Gipfel von Walthers Poesie empor: „Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr?“ Der Dichter kehrt auf den Schauplatz seines Jugendlebens wieder, findet aber nicht mehr, was er einst zurückgelassen: „Liut unde lant, dâ ich von kinde bin erzogen, die sint mir frömde worden, reht als ez sî gelogen. die mîne gespilen wâren, die sint traege unt alt: bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt ...“ Ohne daß eine wortreiche Analyse der Gefühle erfolgt, teilt sich uns die Wehmut mit, die solche Wahrnehmungen hervorrufen. Wir erkennen abermals, daß ein Gefühl mitgeteilt werden kann, ohne zu reflektierender Aussprache zu gelangen, ja daß die gegenständlichste Wiedergabe der erregenden Momente die unmittelbarste und wirksamste Form poetischer Darstellung auch in der Lyrik bleibt. Der lyrische Accent wird am Schluß der Strophe wie an ihrem Beginn durch einen kurzen Ausruf: „ owê !“ beigebracht, der als Refrän wiederkehrt.   Nicht anders verfährt die Krone der vorgoetheschen Lyrik, Walthers Liebeslied: „ Under der linden “. Die Darstellung erzählt den vollen Verlauf einer anmutigen Natur- und Liebesscene. Zunächst werden wir, die Hörer, durch direkte Ansprache in die Situation eingeführt: „Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ muget ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras.“ Schon der Schluß der ersten Strophe geht in Belebung der Scene über: „ Vor dem walde in einem tal schône sanc diu nahtegal “; nur daß zwischen die beiden letzten Verse als Refrän eine Jnterjektion: „ tandaradei “ geschoben ist, die einstweilen der einzige Gefühlsausbruch bleibt. Jn Erzählung der Begegnung, immer aus dem Munde der Geliebten, schreiten die beiden folgenden Strophen vor: „ Ich kam gegangen zuo der ouwe: dô was mîn vriedel komen ê. dâ wart ich enpfangen, hêre vrouwe! daz ich bin sælic iemer mê.“ Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die Gemütswirkung zugespitzt.   Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen. Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte Lehren aus: „Niemen kan mit gerten kindes zuht beherten ...   Hüetet iuwer zungen: daz zimt wol den jungen“ u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben, um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln. „ Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne, die volgen mîme râte: in râte in niht nâch wâne .“ Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden Namen Spruch angenommen haben, sind die beliebte Form für die lyrische Tendenzdichtung.   Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung. „ Ich sage iu, lieben süne mîn, iun wahset korn noch der wîn, ichn kan iu niht gezeigen diu lêhen noch diu eigen .“ Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt: „ Nû gnâde iu got der guote, und gebe iu sælde unde heil .“ So beklagt der Dichter ferner die Mühsal seines Alter und seine Armut in gegenständlicher, allein durch Ausrufungsform lebhafter auf Gefühlseindruck hingewandter Erzählung: „Wie sich der rîche betraget! sô dem nôthaften waget dur daz lant der stegereif. daz ich ze bûwe niht engreif, dô mir begonde entspringen von alrêrste mîn bart!   des muoz ich nû mit arbeiten ringen.“ Damit bekundet sich deutlich die ursprünglich durchaus nicht spezifisch didaktische Bestimmung der Einzelstrophe. Für die Ursprünge der neuen Dichtungsform sind weiterhin eine Reihe religiöser Strophen charakteristisch. Auch die Form der Tierfabel benutzt der alte Spervogel zu unaufdringlich sinnreicher Erzählung. Schon die jüngeren Sprüche der Spervogel-Gruppe gehen indes ausschließlicher auf allgemeine Lehren aus: „Swer in fremeden landen vil der tugende hât, der solte niemer komen hein, daz wær mîn rât.“ „Man sol den mantel kêren als daz weter gât. ein frumer man der habe sîn dinc als ez dâ stât. sîns leides sî er niht ze dol, sîn liep er schône haben sol“ &c. Es leuchtet nun ein, daß ein solcher Gang der Entwicklung eine letzte Folge aus den Keimen der Lyrik darstellt. Neben die Thatsachen sehen wir zunächst einen Gefühlsausbruch treten; der einzelne Accent weitet sich zu längerer Reflexion: nicht die Blüte, aber die Ueberreife bezeichnet es, wenn unter Zurückdrängung der gefühlserregenden Thatsachen die Mitteilung der Gefühle den ausgesprochenen didaktischen oder doch tendenziösen Zweck annimmt, die Hörer mit denselben Gefühlen zu erfüllen. Die Blütezeit haben wir in der Harmonie zwischen den beiden Elementen der Darstellung zu sehen, in der vollen geistigen Durchdringung der Thatsachen, in der vollen thatsächlichen Veranschaulichung der geistigen Empfindungen. § 68. Die deutsche Volkslyrik.   Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der Ritterlyrik zur Volkslyrik. Die Teilnahme nichtritterlicher Sänger an der modischen Minnedichtung galt als verpönt. Ja, in ihrer Spätzeit verspottet diese ausdrücklich die einreißende Nachäffung ihrer Motive in Volkskreisen. Beide Umstände verstärken die Zweifel an der Priorität einer ausgebildeten und ausgedehnten Volkslyrik zur Verherrlichung der Liebe oder ähnlicher Empfindungen.   Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß der mit Zersetzung der ritterlichen Jdeale vor sich gehenden Erstarkung des Bürgertums. Jst die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts doch zum guten teil Standeslyrik: das Handwerk, ja die einzelnen Gewerke, überhaupt die bürgerlichen Berufszweige kommen zu Wort, die typischen Hauptereignisse des bürgerlichen Lebens suchen Ausdruck in der Poesie: noch weithin erzählend, aber zum teil von Gefühlsergüssen durchbrochen, zum teil ausdrücklich auf Gefühlseindruck gestellt.   Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist auf die vorhergehende Ritterlyrik zurück: gewiß hat die tiefer empfindende Minnedichtung nicht nur aus provenzalischen Quellen, sondern auch aus dem allgemeinen, natürlichen deutschen Volksempfinden geschöpft; gewiß hat andererseits die spätere Volkslyrik einzelne in der Ritterdichtung ausgebildete Elemente übernommen ─ wie selbst die Tagelieder. Was beide Aeußerungsformen früher deutscher Lyrik indes vor allem zusammenrückt, ist die Vortragsweise, die Bestimmung für den Gesang. So geschieht es, daß liedartige Anschaulichkeit und melodischer Bau sich noch immer vereinen. Während aber die fremden Muster wie die Ausflüsse kunstmäßiger Bildung die Minnelyrik schnell mit Reflexion und Abstraktion durchsetzen, hält die Lyrik der untern Stände, deren Bildung organischer und langsamer heranreift, mit größerer Zähigkeit die quellfrische Schlichtheit und dramatische Anschaulichkeit des Liedes fest.   So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche formelhafte Elemente. Namentlich sind eine ganze Reihe wiederkehrender Eingangs= und Ausgangsformeln ausgebildet. Mit einer Naturdarstellung oder einem Naturbild einzusetzen, liebte auch die Ritterdichtung ─ bei uns wie in der Provence. Aber auch sonst begegnen oft bestimmte Lieblingswendungen. Sehr verbreitet ist eine Begrüßung: „Nun grüß dich Gott“, „nun gesegen euch Gott“ u. dgl. Oder die sofortige Nennung des Themas wird durch eine typische Frage herausgefordert: „Was woll'n wir aber heben an? Ein neues Lied zu singen; Wir singen von einem schwarzen Mönch Und seiner Nähterinnen.“ Daran schließt sich unmittelbar die Erzählung. ─ Ueberhaupt sind Fragen als lebhaftes Mittel der Einführung beliebt. „Schwarzbraunes Aeugelein, Wo wendest du dich hin?“ ─ „Mädel, warum betrübst du dich, Dieweil ich muß verlassen dich?“ ─ „Wo find' ich deines Vaters Haus?“ Sofort ist die Antwort herausgefordert und damit der dramatischdialogische Charakter gegeben. ─ Unter den Ausklangsformeln gewinnt weiteste Verbreitung die Frage nach dem Dichter:   „Ach Gott, wer hat dies Lied erdacht? Es haben's gesungen Drei Jägersjungen Zu guter Nacht.“ ─   „Wer ist's, der uns dies Liedlein sang? So frei ist es gesungen. Das haben drei Jungfräulein gethan Zu Wien im Oesterreiche.“ Auch wohl ohne direkte Frage erfolgt eine allgemeine, oft fingierte Angabe der Autorschaft: „Dies Liedlein, ach, ach! Hat wohl ein Müller erdacht; Den hat des Ritters Töchterlein Vom Lieben zum Scheiden gebracht.“ Nicht selten zieht der Schluß die allgemeinen Folgen oder selbst Lehren der lyrisch zugestutzten Erzählung: „So geht's, wenn ein Mädel zwei Knaben lieb hat, Thut wunderselten gut; Das haben wir beid erfahren, Was falsche Liebe thut.“ Didaktisch in eine Moral von der Geschicht mündet die Schlußbetrachtung: „Also ein böses Weib wohl kann Bös machen einen frommen Mann.“ Nachdem so zunächst die allgemeine Wahrheit aus dem konkreten Fall gezogen, geht der Dichter zur subjektiven Erörterung der Folgen über: „Hat diese Frau durch Schläge sich Bekehrt, das soll fast wundern mich.“ Allgemeine Begründung: „Denn man schlägt wohl 'raus einen Teufel, Sechs aber drein ohn' allen Zweifel.“ Und nun ein ausdrücklich didaktischer Antrieb: „Doch die dem Mann nicht folget bald, Die soll er schlagen warm und kalt.“   Jnmitten der Darstellung ist die Frageform kaum minder beliebt als am Eingang und Schluß. „Es wollt ein Mädchen Rosen brechen gehn, Wohl in die grüne Haide. Was fand sie da am Wege stehn? Eine Hasel, die war grüne.“ Jm folgenden setzt eine Unterhaltung des Mädchens mit der Hasel ein; aber schon in dieser Einführungsstrophe färbt der Dichter seine Erzählung dialogisch: die Frage ist gleichsam den Hörern vom Munde gelesen, Ausdruck ihrer lebhaften, gefühlvollen Teilnahme.   Wie im alten Heldensang nimmt die Antwort gern die Wendungen der Frage auf, wie überhaupt Wiederholungen und paralleler Satzbau ein beliebtes Darstellungsmittel bilden:   „‚Guten Tag, guten Tag, liebe Hasel mein; Warum bist du so grüne?' ─ ‚Hab Dank, hab Dank, wackres Mägdelein; Warum bist du so schöne?' ─   ‚Warum daß ich so schöne bin, Das will ich dir wohl sagen: Jch eß weiß Brot, trink kühlen Wein, Davon bin ich so schöne.' ─   ‚Jßt du weiß Brot, trinkst kühlen Wein, Und bist davon so schöne: So fällt alle Morgen kühler Tau auf mich, Davon bin ich so grüne.'“ Der formelhafte Zug greift nicht minder auf die Motive über. Zahllose Themata und in ihrer Behandlung ganz bestimmte Situationen kehren konventionell wieder. So ist eine Art typisch, in welcher der Buhle vom Mädchen scheidet: er läßt der Weinenden einen Ring zurück. „Da zog er ab der Hande von Gold ein Fingerlein! ‚Seh hie du mein feins Magetlein! darbei gedenkst du mein!'“ Aehnlich: „Was zog er von den Handen sein? Von rotem Gold ein Fingerlein. ‚Nimm hin, mein Lieb, wohl zu der Letz, Damit dich deines Leids ergötz ...'“ Das Verlieren des Kranzes, die unstete Art der wandernden Burschen und vieles mehr sucht gern typische Wendungen.   Was der erzählenden Grundlage vor allem einen lyrisch=musikalischen Anstrich giebt, ist der Refrän. Er bedeutet keineswegs nur einen äußeren Schmuck, läßt vielmehr ein Leitmotiv wiederklingen. „Es hatt' ein Schwab ein Töchterlein, Es wollt' nit länger dienen. Sie wollte nur Rock und Mantel han, Zween Schuh mit schmalen Riemen.   O du mein feins Elselein!“ Daß Elses Streben nach feinem Auftreten sie zugrunde richtet, klingt denn fortgesetzt in dem Schlußrefrän, schließlich ironisch, durch. ─ Auch gleich am Beginn der Strophe kann der Refrän stehen:   „Nächten, da ich bei ihr was, Schwatzten wir dann dies, dann das ...   Nächten, da ich von ihr scheid, Freundlich wir uns herzten beid“ etc. Hier ─ wie auch sonst bisweilen ─ löst sich der Wiederklang auf, um in der Schlußstrophe seinem Gegensatz das Feld zu räumen: desto zugespitzter tritt hervor, daß der Refrän den Grundton heraushob. „Heute, da ich zu ihr kam, Da war alles wieder zahm, Bösen Bescheid ich da bekam, Mußt abziehn mit Spott und Scham.“ ─ Auch wo nicht eine bestimmte Geschichte den Ausgangspunkt der Gefühlserregung bildet, kleidet sich der Gefühlsausbruch meist in erzählenden Schein.   „Jch ritt mit Lust durch einen Wald, Da sangen die Vöglein jung und alt.   Sie sangen so lang, bis mich's verdroß, Da fielen drei Röslein mir in den Schoß.   Nun sag, nun sag, gut Röslein rot! Lebt noch mein Buhl, oder ist er tot?“ Ersichtlich dienen hier die äußeren Erscheinungen aus der Tier= und Pflanzenwelt zum teil nur als Symbole für die widerstreitenden Empfindungen des Dichters:   „Und sterb' ich dann, so bin ich tot, So begräbt man mich unter die Röslein rot.   So begräbt man mich unter dieselbe Stätt', Da mir mein Buhl die Treu uffgeben hätt'.“ Die Wehmut über den Treubruch teilt sich uns eindringlicher mit, weil sie in anschaubaren Vorstellungen, nicht in bloßen Klagen entwickelt ist. ─ Freilich nimmt allmählich ─ so weit eine zeitliche Abgrenzung dieser Volkslieder überhaupt möglich ─ der Zug ins Allgemeine zu, so daß anstelle bestimmter Vorgänge der Grundzug dauernder Zustände tritt. Doch noch immer bleibt ein erzählender oder sonst plastischer Kern bewahrt. Die Weber singen: „Früh morgens, wenn der Tag bricht an, Hört man uns schon mit Freuden Ein schönes Liedlein stimmen an Und wacker drauf arbeiten. Die Spule, die ist unser Pflug, Das Schifflein ist das Pferde“ etc. Studentenart wird gekennzeichnet: „Schlimm Leut sind Studenten, man sagt's überall; Obwohl sie schon kommen im Jahr nur einmal, So machen 's ins Dorf so viel Unruh und Mist, Daß uns die erste Woche schon weh dabei ist.“ Ebenso weicht der musikalisch bewegte Strophenbau stellenweise einförmiger Regelmäßigkeit. Jnzwischen bahnt der Meistersang der Gewerke, der sich in verkünstelten Tönen und Weisen gefällt, den Uebergang zu abstrakter Rhetorik an. § 69. Liedartige Lyrik in neudeutscher Zeit.   Schon durch seinen vorherrschend didaktischen Charakter fällt der Meistersang aus dem Wesen des Liedes heraus. Seine Stoffe entnimmt er meist religiösem Gebiet. Jn den schlichten Ton des Liedes lenkt erst Luther die geistliche Lyrik zurück. Der Meistersang war dem Prinzip nach Einzelgesang in schärfster Ausprägung des originalitätslüsternen Einzelgeistes. Das Kirchenlied wird schon wegen seiner Bestimmung zum Gemeindegesang dem Herzen des Volkes genähert, ja aus dem Herzen des Volkes geschöpft.   Ueberraschend weit berührt sich denn auch das Luthersche Kirchenlied mit dem Stil des weltlichen Volksliedes. Aus diesem sind unmittelbar eine Reihe typischer Wendungen übernommen: „So hört und merket alle wohl“; „Jch bring euch gute neue Mär, Der guten Mär bring ich so viel. Davon ich singen und sagen will“; „Merk auf, mein Herz, und sieh dorthin“; im Lied von den zween Märtyrern gar: „Ein neues Lied wir heben an“ und zahlreiche weitere Elemente des Volksliedes. Auch Fragen und sonst dialogische Form sucht das Kirchenlied, vor allem aber gern den Refrän. Luther und seine unmittelbaren Nachfolger sind reich an plastischen Bildern und selbst scenischen Einkleidungen. So führt das Trutzlied des Protestantismus „Ein feste Burg“ die bildlichen Vorstellungen des 46. Psalms folgerecht durch und giebt dadurch dem Gedicht den vollen Charakter eines dröhnenden, teils direkt waffenklirrenden Kampfliedes.   Großartige Gestaltungsgabe offenbart auch das katholische geistliche Lied des 17. Jahrhunderts, die Lyrik der Spee und Scheffler. Aber es ist nicht mehr unbedingt religiöser Volksgesang, Empfindungen des Einzelnen brechen durch. Das gilt auch bis zu einem gewissen Grade von dem protestantischen Sänger Paul Gerhardt. ─ Sehr lehrreich ist, die weitere Entwicklung bis Gellert zu verfolgen: der Verstand greift oft reflektierend in das Reich des Gefühls ein, statt auf Anschaulichkeit ist weithin auf abstrakte Moral hingearbeitet, die melodiöse Gewalt ist meist durch äußerlich rhetorische Lebhaftigkeit ersetzt. „Wie groß ist des Allmächt'gen Güte! Jst der ein Mensch, den sie nicht rührt? Der mit verhärtetem Gemüte Den Dank erstickt, der ihm gebührt?“ Das wäre nachgedacht, reflektiert. „Nein, seine Liebe zu ermessen, Sei ewig meine größte Pflicht. Der Herr hat mein noch nie vergessen; Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht.“ Verstand und Moral kommen hier zu Worte, kein Gefühl, am wenigsten ein konkret sich bethätigendes Gefühl. ─   Das weltliche Lied zeigt anfangs den Kampf volkstümlicher und fremder Elemente einerseits, volkstümlicher und individueller Elemente andererseits. Die fremden, modernen wie antiken Einflüsse siegen nur vorübergehend, auf die Dauer gründet sich aber die Herrschaft der Jndividualität. Formelle Dramatik ─ durch dialogische und scenische Elemente ─ lebt von je im Wesen des sangbaren Liedes: erst die neuere Epoche zeitigt aber die dramatische Psychologie, die Zerlegung der Volksseele in verschieden empfindende Jndividuen. So gewinnt auch die Lyrik eine ausgeprägt individuelle Färbung.   Meisterhaft bildet diesen Stil Goethe aus. Er wagt es mit Bewußtsein, seine eigensten Leiden und Freuden zu künden. Auch wo bei den besten Minnesängern eigene Erlebnisse die konventionellen Motive durchdringen, bleibt es im wesentlichen bei typischen Vorgängen, bei allgemeingültigen Situationen. Goethe prägt grundsätzlich Eigenart der Seele, volle Persönlichkeit aus. Vom Liebenden gedichtet, von der Geliebten selbst gesungen, knüpfen seine Lieder oft an außergewöhnliche, ganz besondere, bisweilen geradezu einzig dastehende Verhältnisse an.   „Warum ziehst du mich unwiderstehlich, Ach, in jene Pracht? War ich guter Junge nicht so selig Jn der öden Nacht? ...   Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern An dem Spieltisch hältst? Oft so unerträglichen Gesichtern Gegenüber stellst? ...“ Nur die sonderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse von Lillis Familie erklären das Gedicht.   „Jm Felde schleich ich still und wild, Lausch mit dem Feuerrohr, Da schwebt so licht dein liebes Bild, Dein süßes Bild mir vor!   Du wandelst jetzt wohl still und mild Durch Feld und liebes Thal, Und ach, mein schnell verrauschend Bild, Stellt sich dir's nicht einmal?“ Werden schon durch diese Eingangsstrophen die beiden einst sich Liebenden leise kontrastiert, so giebt die Folge eine individuelle Ausmalung dieses Gegensatzes: „Des Menschen, der die Welt durchstreift Voll Unmut und Verdruß, Nach Osten und nach Westen schweift, Weil er dich lassen muß. Dagegen Lillis Bild: „Mir ist es, denk' ich nur an dich, Als in den Mond zu sehn, Ein stiller Friede kommt auf mich, Weiß nicht, wie mir geschehn.“ Eines solchen „Jägers Abendlied“ ─ wie das Gedicht sich betitelt ─ klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder der volkstümlichen Standeslyrik.   Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen auf den melodischen und dramatischen Charakter des Volksliedes zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen: es ist die beseelte Gestalt. Wie wenig erfahren wir von der geistigen Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther von der Vogelweide! Das Lied „ Under der linden “ läßt sie als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle Bild, das uns „Jägers Abendlied“ vermittelte, wie andere Gedichte an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen. Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike. „Erwache, Friederike, Vertreib die Nacht, Die einer deiner Blicke Zum Tage macht!“ Oder: „Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich ...“ Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst. „Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz, Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Ueber mein Geschick.“ Tritt schon damit der Mond in ─ sofort vergeistigte ─ Beziehung zu der Gestalt des Dichters, so wird in der Folge die Scenerie noch breiter ausgemalt. Ein weiterer Stimmungserreger tritt hinzu: „Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd' ich froh, So verrauschte Scherz und Kuß, Und die Treue so.“ Entsprechend ist auch ferner die scenische Anregung aufs Geistige gewandt.   Oft entfaltet Goethe seine Stimmungen direkt in handlungsvoller Erzählung, welche die gesamte Natur beseelt und in Beziehung zum Menschengeist setzt. „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war gethan, fast eh gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah.“ Jn vollem Leben sehen wir die Naturmächte vor uns: die Vergeistigung hat nicht bei der Darstellung des Menschen Halt gemacht, Seele durchweht das All. So verschmilzt Goethes Lyrik zu einer höheren Einheit die reifen Früchte der Bildung mit dem elementar melodischen und schlicht bildkräftigen Zuge des Volksliedes. §. 70. Litterarische Lyrik.   Neben Goethe wirkten andere Stürmer und Dränger, besonders Lenz, und der Göttinger Dichterkreis, vor allem Bürger, in gleichem Sinne, alsdann die jüngeren Anhänger der Romantik und die aus ihr hervorgegangenen Dichtergruppen.   Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen Lyrik gelangt. Noch viel einschneidender als in der Epik beeinflußt der Wechsel der Vortragsart den Stil der Lyrik. Seit Beginn der Neuzeit dehnt sich neben dem gesungenen Lied eine Lyrik aus, die nicht mehr zum Singen, sondern zum Lesen bestimmt ist. Damit schwindet die Nötigung zu abgerissener Kürze, zu melodiöser Bewegung, zu plastischer Anschaulichkeit. Das zunehmende Abstraktionsvermögen kann sich schrankenlos ausleben, die Gleichförmigkeit und Eintönigkeit des Metrums ohne Rücksicht auf musikalische Verwendbarkeit durchgeführt werden. Dafür bietet sich als Schmuck die lebhafte und schwungvolle Färbung des rednerischen Stils, Wohllaut und Wirksamkeit der bloßen Worte.   Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat Schiller diesen Stil ausgebildet. Er neigt zur poetischen Reflexion über abstrakte Begriffe: „Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer, Sie gehen von Munde zu Munde; Doch stammen sie nicht von außen her, Das Herz nur giebt davon Kunde. Dem Menschen ist aller Wert geraubt, Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.   Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ...   Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall“ etc. Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende Aussprache allgemeiner Wahrheiten; anderen Orts ist ein gegenständlicher Kern ganz von ethischen Antrieben umflossen: „Denn wo das Strenge mit dem Zarten, Wo Starkes sich und Mildes paarten, Da giebt es einen guten Klang. Drum prüfe, wer sich ewig bindet, Ob sich das Herz zum Herzen findet! Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“ An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art gegenständlicher Versinnbildlichung: „Lieblich in der Bräute Locken“ ─ die Mehrheit Bräute verrät schon den allgemeinen Charakter ─ „Spielt der jungfräuliche Kranz, Wenn die hellen Kirchenglocken Laden zu des Festes Glanz.“ Alsbald wird in eine, wennschon sehr wirksam plastische Ausdeutung des Thatbestandes übergelenkt: „Ach! des Lebens schönste Feier Endigt auch den Lebensmai, Mit dem Gürtel, mit dem Schleier Reißt der schöne Wahn entzwei.“ Auch weiterhin findet eines Schiller plastische Phantasie Bildlichkeit des Ausdrucks: „Die Leidenschaft flieht, Die Liebe muß bleiben; Die Blume verblüht, Die Frucht muß treiben.“ Aber es wird begreiflich, wie dieser Stil unter minder schöpferischen Händen zu abstrakter Verflüchtigung entartete, selbst wo es die Aussprache individueller Empfindungen gilt. So reflektiert August Wilhelm Schlegel: „Und wär' in Nacht und Nebeldampf Auch alles rings erstorben, Dies Herz hat längst für jeden Kampf Sich einen Schild erworben. Mit hohem Trotz im Ungemach Trägt es, was ihm beschieden. So schlummr' ich ein, so werd' ich wach, Jn Lust nicht, doch in Frieden.“ Wenigstens vermag Erzählung innerer Erlebnisse die Reflexion anschaulicher zu gestalten; so wenn Freiligrath schreibt ─ es ist ein Anachronismus, zu sagen: singt: „Allein allein! ─ und so will ich genesen? Allein, allein! ─ und das der Wildnis Segen? Allein, allein! ─ o Gott, ein einzig Wesen, Um dieses Haupt an seine Brust zu legen!   Jn meinem Dünkel hab ich mich vermessen: Jch will sie meiden, die mein Treiben schelten ...   Ein einzig Jahr hat meinen Stolz gebrochen ...“ Mit Vorliebe aber benutzt man die litterarische Lyrik zu einfacher Aussprache, Erzählung oder Entwicklung von Gefühlen und inneren Erlebnissen. Jn Geibels „Abschied von Lindau“ heißt es: „Du bist mir hold gewesen; So nimm des Gastes Dank, Der hoffnungsvoll Genesen Aus deinen Lüften trank“ u. s. f. Natürlich sind die Grenzlinien zum Lied fließend, wie denn gerade Geibel auch Material für den lebendigen Gesang geliefert hat.   Auch wo die Rhetorik nicht einmal mehr Stimmungen, sondern gewisse Ansichten vermitteln will, bewahrt sie die lyrische Grundform des Wunsches und Anrufes. „Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden!“ lautet ein revolutionärer Refrän Herweghs. Eine ähnliche Form liegt seinem Ruf zugrunde: „Sie sollen alle singen Nach ihres Herzens Lust; Doch mir soll fürder klingen Ein Lied nur aus der Brust: Ein Lied, um dich zu preisen, Du Nibelungenhort, Du Brot und Stein der Weisen, Du freies Wort! ...   O jagt einmal die Raben Aus unsern Landen fort, Und sprecht: Jhr sollt es haben, Das freie Wort!“   Wie die jungdeutsche hat die jüngstdeutsche Lyrik uns im allgemeinen noch tiefer in tendenziöse Rhetorik hineingeführt.   Jn der französischen Lyrik hat vollends rednerische Deklamation gesiegt, obschon es auch in der Neuzeit nicht an einzelnen Liederdichtern wie B é ranger gefehlt hat. § 71. Wesen und Wandlungen der Lyrik.   Die Lyrik ist nicht mehr, wie die Epik, ihrem Wesen nach auf Erzählung vergangener Thatsachen gestellt, geht vielmehr auf Aus= sprache gegenwärtiger Empfindungen aus, obschon sie die Erzählung von Erlebnissen als gefühlserregenden Momenten noch weithin beibehält. Die Lyrik ist Kundgabe und Vermittlung lebhafter Empfindungen über einen dargestellten, allgemeiner Teilnahme würdigen Gegenstand.   Aus epischem Charakter tritt die Erzählung schon durch Zuthat von Jnterjektionen, Aus- und Anrufen zum Ausdruck und Vermitteln von bestimmten Empfindungen über den dargestellten Gegenstand heraus. Mit zunehmendem Reflexionsvermögen wächst der Gefühlsausbruch an Ausdehnung und Differenzierung. Ziel wird: die Vermitlung von Gefühlen durch vollendet objektive Darstellung der gefühlserregen den Momente.   Ueber diese Harmonie zwischen Außen- und Jnnenwelt wächst die lyrische Form ihrer Verflüchtigung entgegen durch immer ausschließlichere Aussprache der Empfindungen selbst, unter Beiseiteschiebung der sie anregenden oder begleitenden Thatsachen und Vorgänge. Diese Entwicklung kann durch fremde Einflüsse beschleunigt werden.   Zu der religiösen gesellt sich die weltliche Lyrik. Mit zunehmender Ausbreitung der Kultur geht die Ausübung der lyrischen Dichtkunst von den oberen Ständen in weitere Volkskreise, die vordem über sporadische Ansätze zu Gefühlsinterjektion nicht wesentlich hinausgelangt scheinen. Ursprünglich durchaus für den Gesang, zunächst sogar unter Jnstrumentalbegleitung, bestimmt ─ Lyrik von Lyra ─, erfährt sie eine epochemachende, wennschon nicht heilsame Bereicherung durch Hinzutritt litterarischer Lyrik, deren Stil sich entsprechend der veränderten Vortragsart gestaltet.   Zunächst zielt die Lyrik auf Aussprache allgemeiner, typischer Empfindungen. Mit anwachsender Ausbildung der Jndividualität differenzieren sich die Gefühle je nach der Persönlichkeit. Durch Gegenüberstellung verschiedener Jndividualitäten geht die Lyrik in dramatischen Charakter über. C . Die dramatische Poesie. I . Das Trauerspiel. § 72. Begründung der dramatischen Form.   Als Voraussetzung der Lyrik erkannten wir, daß den dargestellten Objekten das Subjekt des Dichters gegenübertritt. Eine dritte poetische Form bereitet sich vor, indem er die verschiedene Jndividualität der im Bericht hervortretenden Subjekte erkennt und zu sondern sucht. Diese Sonderung geschieht zunächst äußerlich durch Herausheben von Einzelgestalten aus dem Bericht und entsprechende Verteilung des Vortrags auf mehrere Personen.   Rein psychologisch besteht der weitere Schritt der poetischen Entwicklung über die Lyrik hinaus darin, daß der Dichter von der eigenen Seele in die Seelen der anderen ergründend einzudringen strebt. Wiederum wendet er sich der Außenwelt zu: aber nicht mehr wie im epischen Bericht kündet er die bloßen Thaten der andern, verkörpert vielmehr die handelnden Personen selbst, so daß ihre Thaten nunmehr als ein Ausfluß ihrer Persönlichkeit erscheinen. § 73. Ausbildung der dramatischen Form in Griechenland.   Nicht in der Völkerwiege des Orients, insbesondere auch nicht in der indischen Urheimat der arischen Völkerfamilie treten uns die frühesten geschichtlich erschließbaren Anfänge des Dramas entgegen: der Geist der indischen Religionen in Gemeinschaft mit der Vorherrschaft des Masseninstinktes und der Beschaulichkeit hielt die Fortbildung des lyrischen Ueberschwangs zur Energie und geistigen Freiheit der dramatischen Form lange hintenan, ja verhinderte ausdrücklich die Durchführung einer konsequenten Tragödie.   So kam die Entwicklung der griechischen Poesie den älteren Litteraturen zuvor. Hier sehen wir uns sofort vor eine Reihe bedeutsamer Thatsachen gestellt:   1. Das griechische Drama ist religiösen Ursprungs.   2. Das griechische Drama läßt sich in seiner Herauswickelung aus episch=lyrischer Voraussetzung klar verfolgen.   Der Dithyrambos des Dionysos-Kultus ist die Form, aus welcher das griechische Drama erwachsen ist. Er verherrlichte den Gott durch Wiedergabe von Mythen, die auf ihn bezugnehmen. Der Vortrag geschah durch einen Chor, welcher als Schar von Satyrn, wie sie den Gott begleiteten, in dem Festaufzug einherschritt. Damit waren gewisse Voraussetzungen des Dramas gegeben: es brauchte nur ein einzelner aus dem Chor mit diesem im Gesang zu wechseln, so war eine neue Form angebahnt.   Jn dem erzählenden Kern des Dithyrambos nahm direkte Rede einen weiten Raum ein; schon hierdurch war der Bethätigung des Einzeldarstellers weiter Spielraum eröffnet. Jndes litt die Unmittelbarkeit der Darstellung, so lange die Thaten des Gottes wie die Geschehnisse überhaupt auf epische Weise als in der Vergangenheit liegend erzählt wurden. Die äußerlich angesponnene Vergegenwärtigung wurde innerlich erst vollkommen, sobald die Handlung als gegenwärtig geschehend durch das tempus praesens versinnbildlicht wurde. Diesen Schritt that Thespis. Die Unterbrechung des Dithyrambos durch Einzelvortrag scheint er schon als Jmprovisation vorgefunden zu haben, er aber erst bildet sie zur Kunstform fort. Noch nehmen zunächst die lyrischen Chorgesänge den breitesten Raum ein; die Einzelpartieen, die vom Chormeister rezitiert werden, bleiben namentlich im Prolog und den Botenberichten noch stark episch gefärbt. Zu eigentlichem Dialog finden sich nur spärliche Ansätze. Doch mußte der Chormeister nach einander die entscheidenden Personen der Handlung darstellen; und schon von Thespis werden zu den lebhaften Gesten typische Masken eingeführt. Das Stoffgebiet hatte bereits vom Dionysos=Kultus eine Erweiterung zuerst auch auf andere Mythen, später auf profane Heroensagen erfahren; selbst geschichtliche Ereignisse aus der Gegenwart folgen. Die Bezeichnung der neuen poetischen Gattung bewahrt aber für die Dauer die Erinnerung an den Ursprung aus der Feier des Dionysos: nicht nur wird dem Gott ein Bock geopfert; vor allem ausschlaggebend war, daß der Chor im Kostüm von Satyrn, mit Ziegenfellen bekleidet erschien. So wird Tragödie ( τραγῳδία ) d. ist Bocksgesang der natürliche Name für den Vortrag dieses Chors und für alles, was sich daraus entwickelt. Als schon zu Thespis Lebzeiten in Athen der Wettkampf für tragische Chöre zur Einführung gelangt, wird überdies ein Bock als Preis für den siegreichen Chormeister ausgesetzt.   Auch der Geist überkommt dem Drama aus dem Dionysos-Kult, der Feier der üppig erblühenden wie der ersterbenden Natur. Leidenschaftlich überschäumend in Ausartung bis zu wilder Ekstase, wie er sich bald in wehmütiger Klage, bald in bacchantischer Lust giebt, verleiht er dem Drama eine Spannung auf die höchste Gefühlsskala. Jn den höchsten und erhabensten, wildesten Tönen des Pathos d. i. ja ursprünglich der Leidenschaft tritt uns zunächst die griechische Tragödie entgegen. Die personifizierte und vergötterte Naturmacht ist es, die dahinstirbt; ihr Tod ist es, der die trauernde Anteilnahme der Menschen weckt. § 74. Entwicklung und Blüte der griechischen Tragödie.   Den Einzelnen gegenüber der Gesamtheit erblicken wir in der Tragödie unter Thespis' Händen. Ein eigentlicher Dialog gelangt erst mit Einführung eines zweiten Schauspielers zur Durchführung. Aeschylos, dem diese Maßnahme zu verdanken, war damit in die Lage versetzt, das unvermittelte Nebeneinander lyrischer und epischer Partieen wenigstens im Grundzug zu überwinden und eine wirkliche Handlung aneinanderzuknüpfen. Auch die von ihm eingeführte cyklische Zusammenstellung einer Tetralogie erweitert die Möglichkeit, von episodischer Heraushebung eines Hauptmomentes, meist des Ausgangs, zur Entfaltung eines vollen, in sich verknüpften Schicksalslaufes vorzuschreiten.   Wortgewaltig und erhaben tritt uns die nun vollendete tragische Form entgegen: „Mit dem bluttrunkenen Mordblick des zum Fang fliegenden Felsdrachen, so vielarmig, so vielschiffig hinab schießt er den Giftpfeil Von dem Schlachtwagen Assyriens in die lanzenkund'gen Städte. Und es tritt keiner hervor gegen die lautbrandende Heerflut wie ein Bollwerk vor der unzwingbaren Meerwoge zu schirmen; Denn unnahbar in der Schlacht kenn' ich und kühn das Volk der Perser.“ Nicht schönes Maß, sondern maßloses, wildes Weh ringt nach Ausdruck: „Gräßliches, gräßliches Weh! Entsetzliches, unsel'ges Weh uns! O weinet, weinet, Perser, da ihr solches Leid hört!“ „ Trostlos laut weinen“ läßt der Tragiker seine Gestalten: „Aufschrei, aufschrei Jch von Thränen übermannt.“   Tiefer noch als diese Betrachtung des leidenschaftlichen Ausdrucks tragischer Empfindung greift die Frage, woher das so wild beklagte Leid fließt, auf welche Weise die tragische Katastrophe motiviert ist. Der Untergang ist Schicksal: „Doch der trugsinnenden Gottheit, wer entkommt ihr von den Menschen? Wer entrinnt ihr mit dem raschfliehenden Fuß glückenden Sprunges? Denn so süß lächelnd im Anfange sie liebkost, sie verlockt Jn das Garn, draus nimmermehr Noch hinausschleichend, noch ausweichend der Mensch wieder entkommt. Denn ein Gott ordnet die Lose des Schicksals ...“   Was hier in den „Persern“ von vorn herein zu theoretischer Betrachtung durch den Chor gelangt und sich immer bethätigt, kommt namentlich inmitten des „Agamemnon“ geradezu als Motiv der Handlung zur Geltung. Kassandra kennt das Todeslos, das ihrer im Palast der Klytämnestra harrt. Der Chor legt ihr denn auch ausdrücklich die Frage vor:   „... Aber wenn wahrhaftig du Dein eigen Schicksal kennest, warum gehst du gleich Dem gottgetriebnen Stier zum Altar festen Muts?“ Aber weder von Flucht, noch von Zögern will die Seherin wissen, da das Verhängnis unaufhaltbar, unaufschiebbar ist. Es wird klar, daß damit die Motivierung aus den individuellen Charakteren unterbunden ist: der Mensch geht seinem Verhängnis entgegen in der That wie der Opferstier zum Altar geführt wird. Ausdrücklich ruft der versinkende Prometheus: „Seht, welch Unrecht ich erdulde!“ Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben wurzelnden blinden Fatalismus seiner Stoffe durch eine gewisse psychologische Ergründung zu überwinden; nur ist seine Motivierung nicht individuell, sondern faßt in großen Zügen ganze Geschlechter, ja wohl ganze Völker oder gar die Menschheit zusammen: deren Sündigkeit, deren dämonische Wildheit fordert das Walten des Schicksals heraus. Bleibt auch die Handlung der Einzeltragödie im allgemeinen auf die Heraushebung einer Einzelkatastrophe beschränkt, so deuten doch Betrachtungen namentlich des Chors auf den Zusammenhang mit eben verhängnisvollen früheren Geschehnissen. Diesen unmittelbar durch Handlung zu versinnbildlichen und so eine Beziehung zwischen den Thaten oder Charakteren und dem Verhängnis herzustellen, wurde nun vor allem durch die Aneinandergliederung dreier Tragödien desselben Mythen=, Sagen- oder Geschichtskreises ermöglicht. Ein unentrinnbares Schicksal waltet ─ wohl, aber nicht ein blindes, unvernünftiges. Verkündet doch gerade Kassandra diese zermalmende und doch erhebende Botschaft: „Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut; Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr, Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß, Des allverübten Frevels Fährte wittere. Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang, Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt. Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm; Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart, Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!“ So betont verweisend Hermes im „Gefesselten Prometheus“: „Wohl denn; was ich jetzt euch sage, bedenkt! Wenn der lärmenden Jagd ihr des Jammers erliegt, Klagt euer Geschick nicht an; sagt nie, Euch habe so Zeus unerwartet hinab Jns Verderben gestürzt; denn wissentlich seid, Nicht eilig verlockt, nicht heimlich umgarnt, Jns unendliche Netz des Verhängnisses jetzt Jhr verstrickt durch eure Verblendung!“ Scheint auch dem Menschen sein Schicksal blind und unverdient, die Götter und die Seher des göttlichen Willens erkennen einen Zusammenhang zwischen der menschlichen Natur und ihrem Verhängnis.   Auch für die äußere Ausgestaltung der Tragödie war Aeschylos thätig. Es wird von ihm berichtet, daß er die Bühne schmückte und durch ihren Glanz, durch Gemälde und Maschinen, Altäre und Gräber, Trompetensignale, Totenerscheinungen, Erinnyen die Augen der Zuschauer in Erstaunen setzte; auch soll er die Schauspieler in lange Aermel und das Schleppgewand gehüllt, sie durch Polsterung stärker gemacht und durch die Stelzenschuhe, den Kothurn, emporgehoben haben.   Dieser Kothurn ist zugleich charakteristisch für den Stil der griechischen Tragödie: der Zug ins Erhabene, die Heraushebung und höchstmögliche Erhebung über das gewöhnlich menschliche Maß liegt je ursprünglicher desto klarer in der Tendenz der tragischen Dichtung. Gigantisch in den Gestalten, im Ausdruck feierlich, kühn, überschäumend an Kraft, selbst phantastisch tritt denn auch Aeschylos hervor.   Schon Sophokles bahnt den Weg vom Wild-Erhabenen zum Maßvoll-Schönen an. Durch Hinzufügung eines dritten Aktors verstärkte er die dramatische Bewegung. Jndem er ferner von den übermenschlichen Kolossalgemälden zu menschlicheren Normen übergeht, vertieft er sowohl die psychologische Zeichnung wie den humanistischen Gehalt. Freilich entfesselt Sophokles nicht mehr den titanischen Kampf um das Recht oder Unrecht des Geschickes; Ergebung in das Unabänderliche, schöne Entsagung bringt er zum Ausdruck: „Freundlos, verlassen, muß ich Unglückselige Lebendig niedersteigen in der Toten Gruft. Und welch Gebot der Götter übertrat ich denn? Wie darf ich Arme noch den Blick nach ihren Höhn Erheben, wen um Hülfe flehn, da Götterfurcht Den Lohn der Gottverächter mir erworben hat? Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war, Erkenn' ich, wenn ich büßte, daß ich schuldig bin: Sind diese schuldig, möge dann kein größres Leid Sie treffen, als sie wider Recht an mir gethan!“ Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die Ahnung an, das Leben sei der Güter höchstes nicht. Auch sonst fehlt es in den reichlichen Sinnsprüchen nicht an sittigendem Gehalt. Bezeichnend genug wird immer wieder als „der Uebel allergrößtes für die Menschen“ die Unbesonnenheit und Vermessenheit hingestellt. Obgleich die Charakteristik vorgeschritten, bleibt sie oft noch ohne Bezug zur Katastrophe, und der deus ex machina muß bemüht werden, oft direkt um in die Handlung der Menschen einzugreifen. So erscheint Herakles im „Philoktet“ als Bote des Zeus: „Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ Jch das himmlische Reich, Zu verkündigen dir die Beschlüsse von Zeus Und zu hemmen die Bahn, so du jetzo betrittst.“ Entsprechend schließt Philoktet: „Auf glücklicher Bahn sende mich fahrlos, Wohin mich beruft des Verhängnisses Macht Und von Freunden das Wort, und, der alles bezwingt, Der Gott, der solches vollendet!“ ─   Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine ethischen Zwecke gemodelt. Euripides sucht die Menschen zu zeigen, wie sie sind. Dieser dritte unter den großen Tragikern Griechenlands ist Realist sowohl in der Charakterzeichnung wie in der Sprache. Anstelle der ethischen Größe tritt Dialektik der Leidenschaft. Fortgesetzt beherrscht „der Götter wie der Menschen Los Notwendigkeit ohn' Unterschied“; und   „... Was die Götter Verhängen, bleibt uns ja verhüllt, und keiner Vermag des Unglücks Nahn vorauszusehn. Das Schicksal führt in unerforschte Fernen.“ Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß wir es nicht zu erkennen vermögen; aber wir sind auch zu schwach, es zu lenken. Bei aller psychologischen Wahrheit im einzelnen fehlt es somit auch den Euripideischen Charakteren an unmittelbarem Einfluß auf die entscheidende Gestaltung der Handlung, insbesondre der Katastrophe. Thoas will nach der Seeseite abgehen, um die in seine Hand zurückgegebenen Geschwister Jphigenie und Orest zu ereilen, als Athene oberhalb des Tempels schwebend erscheint, um im Gegensatz zum innern Organismus der Handlung dieser Verfolgung Halt zu gebieten.   Die griechische Tragödie hat somit die epische Hinnahme der Ereignisse trotz ihrer Ansätze zur Charakteristik nicht zu überwinden vermocht. Auch bewahrt sich das Drama der Griechen im Chor ein undramatisches, wesentlich episches Element. Während die ältere Tragödie ihn mit lebhaftem Jnteresse an jedem Moment der Handlung teilnehmen läßt, schließt ihn Sophokles sogar von solchem Eingreifen aus: der Chor bleibt passiv und beschränkt sich auf seine überdies gemessener gestalteten Lieder. § 75. Verfall der griechischen Tragödie.   Nach dieser schnellen Blüte verfällt die griechische Tragödie jäh. Manche Keime zu solcher Entartung trug sie schon während ihrer klassischen Zeit in sich.   Schon war ein glücklicher Ausgang zugelassen, ─ die Folgezeit hat ihn bevorzugt. Der Wirkung ernster Verwicklungen ist aber viel von ihrer Wucht genommen, wenn ─ noch dazu von außen her ─ der geschürzte Knoten durchhauen wird. Das bedeutet sowohl eine Abschwächung als zugleich einen Rückfall ins Epische.   Die Verflachung nach dem mittleren Geschmack des Publikums hin veranlaßt bald ein Herabschrauben des Ausdrucks ins Nüchterne der prosaischen Alltagssprache, bald eine Verflüchtigung in leere Rhetorik: im einen Falle glaubt man Euripides, dessen Schule vorherrscht, im andern Sophokles gefolgt zu sein, während man doch nur mit unzulänglicher Kraft den Stil der Klassiker veräußerlichte. Auch metrische Sorglosigkeit stellte sich ein.   Die Zeitzustände waren der Entwicklung der Tragödie nicht mehr gleich günstig. Eine Abstumpfung, die bald nach den Perserkriegen eintrat, veranlaßte die Dichter, durch Häufung von Gräuelthaten die Nerven anzureizen. Vor allem gelangt das Jntriguenstück mit seiner künstlichen Verwicklung zur Aufnahme; der große Zug des nationalen Kampfes gegen den Erbfeind ist dahingeschwunden, List und Raffinement knüpfen den Faden der Handlung. Um so tiefer verharrt die Tragödie in epischen Elementen. Wie die Blüte der griechischen Tragödie in die Zeit von Athens Vorherrschaft fällt, so schwindet sie mit ihr dahin. § 76. Die Technik der griechischen Tragödie.   Schon dieser Ueberblick zeigt uns, wie scharf sich hier das Grundgesetz aller ästhetischen Anschauung ausprägt: daß die poetischen Erscheinungen nicht starren, einheitlichen Regeln gehorchen, sondern organisch fließender Entwicklung unterworfen sind. Fließend sind denn vor allem die Linien des äußeren Baus der griechischen Tragödie selbst in dem engen und entscheidenden Zeitraum von Thespis bis zur klassischen Periode und innerhalb dieser zwischen ihren drei Hauptträgern.   Eine Erkenntnis der dramatischen Technik bei den Griechen bleibt unhistorisch, sofern sie sich nicht auf die wechselnde Rolle stützt, welche der Chor im dramatischen Gefüge spielt. Zunächst giebt er von seiner ursprünglichen Alleinherrschaft dem Einzelaktor nur geringen Raum zur Bethätigung ab. Wir konnten verfolgen, wie sich dies räumliche Verhältnis allmählich umkehrt. Auch bahnte sich eine vielversprechende Entwicklung an, indem Aeschylos den Chor als organisches Glied in die Handlung hineinzog, ihm eine bestimmte Rolle, einen ausgeprägten Charakter verlieh. Bilden doch in den „Eumeniden“ die Rachegöttinnen selbst den Chor, in den „Schutzflehenden“ die Danaiden, im „Gefesselten Prometheus“ die Okeaniden u. s. f. Sophokles bricht dieser an sich heilsamen Entwicklung die Spitze ab, indem er dem Chor eine ruhig abwartende und nur betrachtende Teilnahme zuweist. Die weitere Folge einer solchen Maßregel konnte nun freilich die Abschaffung des Chors ohne wesentliche Störung des dramatischen Organismus sein. Euripides übernimmt ihn indes als gegebenen Faktor, um seine Rolle noch freier zu gestalten, seine Betrachtungen noch weiter von der Handlung zu entfremden.   Durch den ursprünglich bestimmenden und noch immer vorherrschend organischen Charakter des Chors wird nun der Aufbau der Tragödie in primitiven Grenzen festgehalten. Wenn derselbe Chor andauernd auf der Bühne verharrt, ist an einen Ortswechsel eigentlich nicht zu denken. Ebenso bleibt schon aus demselben Hinblick die Zeit der Handlung auf wenige Stunden eingeschränkt und damit die Entfaltung eines vollen Handlungsverlaufs unmöglich. Keineswegs gilt aber die Einheit des Ortes und auch der Zeit dermaßen als organische Bedingung der Tragödie, daß nicht Abweichungen ohne Zerstörung des dramatischen Organismus möglich wären. Der Chor brauchte nur vorübergehend abzutreten, und ein Wechsel der Scene, auch ein längerer zeitlicher Zwischenraum war ermöglicht. Beider Freiheiten bedienen sich z. B. „Die Eumeniden“ des Aeschylos; selbst Sophokles scheute im „Ajas“ Ortswechsel nicht.   Mit Einführung der Tetralogie war überdies ein tief eingreifendes Mittel gegeben, die Einförmigkeit der Handlung zu überwinden. Solange die drei Tragödien ─ und womöglich auch das Satyrspiel, eine Wiederauferstehung des derben Elements im alten Satyrchor ─ demselben Stoffkreise entnommen waren ─ wie es wenigstens durch Aeschylos grundsätzlich geschah ─, bot sich zugleich die natürlichste Verknüpfung der Einzeltragödien mit ihrem episodischen Zug zu einem in Ursache und Wirkung zusammenhängenden Gesamtdrama. Auch auf diesem Wege dürfte das Kunstwerk des Aeschylos einen Gipfel bezeichnen, von dem man mit Unrecht herabgestiegen, um auf einem bequemeren Paß ans Ziel tragischer Wirkung zu gelangen.   Auch die einzelne Tragödie gewann naturgemäß eine Gliederung, nicht in dem Sinne schulgemäßer, bewußt kunstvoller Abstufung, vorerst nur als organisches Ansetzen von Gliedern, die den erweiterten Aufgaben des zur Tragödie fortgebildeten Dithyrambos entsprachen. Als Klagesang über die ersterbende Natur bietet er schon die Katastrophe. Wie sich der eigentlich dramatische Teil indes zuerst als Zwischenspiel in die Chorgesänge drängte, wird das Mittelglied in der ausgebildeten tragischen Form das wesentlichste und zunehmend ausgedehnt. Keineswegs braucht der tragische Held sogleich im Eingang auf die Bühne zu treten; die Erwartung ist überhaupt zunächst nur anzuregen, zumal der Stoff als bekannt vorausgesetzt werden darf. Nach solchem kurzen Vordersatz ( πρότασις ), der Einführung oder Exposition, folgt als Steigerung ( ἐπίτασις ) die Verwicklung der Handlung im primitivsten Sinn des Wortes, d. h. die Gegenüberstellung des Helden und des Gegenspielers mit ihren sich durchkreuzenden Absichten und Handlungen. Durch retardierende Momente darf sich dieses Mittelglied dehnen. Scharf spitzt sich alsdann die Handlung auf den Wendepunkt ( καταστροφή ) als den Beginn der Auflösung zu, meist um jäh abzubrechen.   Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja entgegengesetzten Elementen. Entsprechend dem ursprünglich vorherrschenden Chorgesang finden sich immer wieder sehr ausgedehnte Ausführungen von stark epischem Charakter. An den erregten, eigentlich dramatischsten Stellen gewinnt die kurze Wechselrede das Feld, die in Hast und Ueberstürzung Zug um Zug, Rede und Gegenrede bietet und sich oft sentenziös zuspitzt.   Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung. Da diese nur an die beiden Hauptfeste geknüpft war und auf Staatskosten erfolgte, auch die Beschaffung des Chors anderweit nicht möglich war, gelangte naturgemäß nicht jede Tragödie zu diesem eigentlichen Ziel. Der Dichter hatte möglichst selbst die Einschulung des Chors wie der Einzelspieler zu besorgen. Schon zu Thespis' Zeit führte zuerst Athen Wettkämpfe ein und verteilte Preise. Die Zulassung zur Aufführung entschied der Archon, der ursprünglich auch die Preisrichter ernannte; später übernahm der Rat der Fünfhundert die Auswahl derselben. Sie folgten in ihrem Urteil meist der öffentlichen Meinung. Zutritt hatten alle Männer; an den städtischen Dionysien, an denen lebhafter Fremdenzustrom erfolgte, wird die Zahl der Zuschauer im Durchschnitt auf mehr als dreißigtausend berechnet; enger war der Kreis der Teilnehmer an den Lenäen. Jedenfalls bewahrte die Aufführung den Charakter eines nationalen Festes mit religiöser Weihe. § 77. Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie.   Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen warnt schon die verschiedene Erscheinungsform, in der sich diese Gattung selbst unter den Händen der griechischen Klassiker darbietet.   Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon im Verhältnis von Handlung und Charakteren. Den Weg bis zum Charakterstück vermochte die antike Weltanschauung nicht zu finden: sie hat die sittliche Freiheit und Verantwortung erst in dem Maße begriffen und errungen, als sie sich christlichen Anschauungen näherte. Die Tragödie gelangte auch in ihrer Blütezeit nicht über die Ahnung des Zusammenhangs zwischen den Handlungen und dem Charakter des Menschen hinaus. Wieweit seine Geschicke von ihm selbst bestimmt werden, darüber hatten die Götter einen Schleier gebreitet; doch schon dämmert wenigstens die Erkenntnis auf, daß die sündige, leidenschaftliche, vermessene Menschennatur im allgemeinen das Verhängnis herausfordere.   Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der in der poetischen Entwicklung durch die griechische Tragödie geschieht. Jndem die Geschehnisse nicht mehr rein episch als solche äußerlich hingenommen, vielmehr als Handlungen handelnder Personen aufgefaßt und zu diesen in eine innere Beziehung gesetzt werden, gelangt thatsächlich eine neue innere Form der Poesie zur Ausbildung, die nicht mehr bloße Thaten und nicht mehr bloße Empfindungen zur Aussprache bringt, sondern die auf die Empfindungswelt zurückgeführten Thaten, d. i. Handlung ( δρᾶμα ), darstellt. Die Bezeichnung Drama ist aber in dem arg beschränkenden Sinne zu nehmen, daß die Handlungen nicht notgedrungen das Geschick bestimmen. Die Harmonie zwischen dem tragischen und dramatischen Zuge des Kunstwerkes ist noch nicht gefunden.   Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame Wirkung in Anspruch nehmen? Nicht einmal die traurige Katastrophe geht durch; aber allerdings erscheint, zumal wenn wir auf den Ursprung der griechischen Tragödie zurückblicken, ein ernstes Leiden des Helden, die drohende, nach menschlichem Ermessen unabwendbare Vernichtung der eigenartige Gehalt der Tragödie. Und wer ist der Leidende? Der Dithyrambos beklagt den Gott der Naturkraft, wie er im Winter dahinschwindet. Die aus dem Dithyrambos erwachsende Tragödie verkörpert zunächst diese dem Untergang geweihte Gottheit, mit Aufnahme weiterer Mythen auch Halbgötter und Heroen in ihrem Leiden, schließlich ebenso den heroischen, überragenden Menschen, dessen Weg durch ernste Leiden ging, der von einem furchtbaren Verhängnis bedroht war. Und zwar tritt bezeichnend hervor, daß es nicht eine unmittelbare Schuld ist, die durch den drohenden Untergang notwendiger, gerechter Sühne entgegengeht. Vielmehr kann in den für das Wesen der Gattung immer besonders bedeutsamen Anfängen, gegenüber den göttlichen Duldern, überhaupt nicht von einer Schuld die Rede sein. Auch wo ein Prometheus die Götter in die Schranken ruft, unterliegt er im Kampfe, nicht in der Sünde: ohnmächtig gegen die Götter, nicht unwürdig. Charakteristisch ist die Wendung, die sich mit Eintritt des Menschen in die tragische Handlung vollzieht: soweit eine Verschuldung überhaupt ersichtlich, sind es auch jetzt nicht sowohl besondere todeswürdige Verbrechen, die zu entsprechender Bestrafung kommen, als vielmehr allgemein menschliche Leidenschaften, Erbteile und grauenvolle Verhängnisse eines ganzen Geschlechtes, kurzum kaum abwendbare Anlagen, welche den Vernichtungseifer der Götter herausfordern.   Die Wirkung der Katastrophe auf die Mitmenschen besteht deshalb auch nicht in Genugthuung über den gerechten Weltlauf, umgekehrt in Teilnahme für den Leidenden und in Weh über den unbegreiflichen Weltlauf. Ausdrücklich weist der Chor im „Gefesselten Prometheus“ von Aeschylos mit Entrüstung den Rat des Hermes zurück, den dem Untergang geweihten Helden zu verlassen: „Find' besseren Rat und ermahne mich so, Wie ich folgen dir kann; denn es ist in der That Unerträglich der Rat, der verführen mich soll! Wie gebietest du mir, mich der Schande zu weih'n? Nein, dulden mit ihm will ich sein Los.“ Aber nicht bei der Teilnahme an dem einzelnen Leidenden bleibt die Wirkung der griechischen Tragödie stehen; wie seine Natur, auch wo sie das Wüten des Schicksals herausfordert, allgemein menschlich oder doch nicht vereinzelt ist, so bringt sein Fall die Macht des Verhängnisses überhaupt zur Erkenntnis: „Wo endet es je? wo findet noch Ruh Die besänftigte Macht des Verderbens?“ Was die griechische Tragödie heraushebt und vermittelt, ist der leidende Grundzug des Menschenlebens: „O dieses Menschenleben! ─ wenn es glücklich ist, Ein Schatten stört es; ist es kummervoll, so tilgt Ein feuchter Schwamm dies Bild, und alle Welt vergißt's; Und mehr denn jenes schmerzt mich dies: vergessen ist's! ─“ § 78. Die Anfänge des modernen Dramas.   Auch das Drama der modernen Völker läßt sich allerorten auf religiösen und epischen Ursprung zurückverfolgen. Aus dem christlichen Kultus ist es herausgewachsen: mit der christlichen Weltanschauung schon dadurch aufs engste verknüpft. Der Bericht der Bibel wurde durch scenische Veranschaulichung vergegenwärtigt: so wird der Gang der modernen Tragödie eine Loslösung vom Epischen, ein Begreifen der Ueberlieferung, weiterhin des Weltlaufs, im Geiste des Christentums.   Die geistlichen Spiele der germanischen und romanischen Völker sind aus der Passionsgeschichte hervorgegangen. Die Evangelien vom Leiden Christi, wie sie zur Passionszeit in der Kirche vorgetragen wurden, bildeten den ersten und wesentlichsten Ansatzpunkt für die neue Gattung. Die katholische Kirche legte auf ästhetische Ausgestaltung des Kultus besonderes Gewicht. Namentlich gehörte es zur bewährten Kirchenpolitik, heidnische Dichtungen und Lustbarkeiten durch christlich gefärbte zu ersetzen. Es scheint, daß man primitive heidnische Aufzüge verdrängen wollte, als man sich entschloß, scenische Bewegung in die Kirche einzuführen. Zunächst schritt der (lateinische) Gottesdienst zu kunstvollem Wechselgesang zwecks Belebung der Evangelien vor ─ von deren äußerer Einrichtung noch moderne Passionskompositionen wie die von Bach eine Vorstellung geben. Die Rollen des Heilands und der übrigen Hauptpersonen wurden verteilt gesungen, die verbindende Erzählung gelangte durch einen Darsteller des Evangelisten zum Vortrag, Dazu gesellte sich bald Bewegung: ein Kommen und Gehen, sowie scenische Ausgestaltung: Räuchern sowie Uebergabe der Grabtücher an die Apostel Petrus und Johannes ─ und das geistliche Spiel war vollendet.   Wie die Passionsgeschichte vergegenwärtigte man später auch andere bedeutsame Abschnitte des Neuen, schließlich selbst des Alten Testamentes. Zunächst im engen Anschluß an die Worte der Bibel, alsdann mit Ausgestaltung einzelner, zur Kleinmalerei herausfordernder Scenen. Zunächst durchweg lateinisch, alsdann mit Einmischung der Volkssprache, schließlich auch ganz in ihr, d. h. also nun deutsch bezw. englisch oder romanisch.   Ein weiterer Schritt zur Bereicherung geschah durch Emanzipation von dem biblischen Bericht. Die so verselbständigten geistlichen Spiele ( ludi ) beschränken sich nun nicht mehr auf Mysterien aus der biblischen Geschichte, sie bieten auch Mirakel aus der Heiligenlegende. Dazu gesellen sich später, unter selbständiger Heraushebung der stark anschwellenden allegorischen Einschaltungen, Moralitäten. Zur klaren Scheidung dieser drei Arten kommt es besonders in Frankreich.   Jn Deutschland finden wir jedenfalls während des 11. Jahrhunderts zwei lateinische Dreikönigsspiele. Der Zeit Barbarossas gehört das Osterspiel eines bayrischen Mönches von Tegernsee an. Dieser Ludus paschalis de adventu et interitu Antichristi arbeitet bereits stark mit allegorischen Elementen. Vorangeht eine Debatte zwischen dem Heidentum, der Synagoge (dem Judentum) und der Kirche (dem Christentum). Der Kaiser unterwirft alle Völker; aber der Antichrist macht sich zum Gott der Erdenvölker: die Deutschen haben mit der Waffe gesiegt, erliegen jedoch durch Betrug. Nun verfolgt der Antichrist die Kirche, bis ihn ein Blitzstrahl tötet. So kehrt die Menschheit zur wahren Kirche zurück.   Eine Handschrift des 13. Jahrhunderts bietet dramatisiert die Leiden Christi mit einzelnen deutschen Strophen. Vereinzelt steht im Anfang desselben Jahrhunderts schon ein völlig deutsches Passionsspiel da. Sonst bleiben die geistlichen Spiele bis gegen Mitte des 14. Jahrhunderts meist gemischtsprachig. Neutestamentliche Darstellungen herrschen immer vor; häufig allerdings kommen Scenen des Alten Testaments zu „vorbildlicher“ Verwendung, so in einem Heidelberger Passionsspiel, so in dem noch heute durch Aufführungen fortlebenden Oberammergauer Passionsspiel: der Baum im Paradiese erscheint als Sinnbild der Schuld, wonach der Baum des Kreuzes die Erlösung repräsentiert; ähnlich erscheint der Verkauf Josefs durch seine Brüder als „Vorbild“ für den Verrat des Heilandes durch Judas u. s. f.   Legenden gelangen zur Dramatisierung von der heiligen Katharina, von Dorothea, auch ein niederdeutscher Theophilus ist überliefert; ein Spiel von Frau Jutten besitzen wir sogar mit Verfassernamen (von dem Geistlichen Theodorich Schernberg 1480).   Mit der Zunahme weltlicher und ernstloser Episoden sowie mit der anwachsenden Erweiterung nach rein ästhetischen Grundsätzen werden die geistlichen Spiele aus der Kirche herausgedrängt. Noch während des 16. Jahrhunderts finden wir Aufführungen in der Kirche. Doch schon im 14. Jahrhundert werden neben den Priestern, denen zuerst die Dichtung wie die Darstellung allein obliegt, besonders Schüler als Darsteller herangezogen. Alsdann nehmen Lehrer, Studenten, Gewerke und auch andere Bürger an der Aufführung thätigen Anteil. Jn diesen geistlichen Spielen traten oft mehrere hundert Personen auf. Da alle Mitspieler zugleich erschienen ─ oft in Umzügen ─ und in Gruppen warteten, bis sie die Reihe zum Sprechen traf, waren große Räume erforderlich, um so mehr als Himmel, Erde und Hölle in verschiedenen Stockwerken ─ wennschon in primitivster Andeutung durch Gerüste oder Fässer ─ gespielt wurden. Zwar mußte unter diesen Umständen ohne äußeren Scenenwechsel neben bezw. über einander gespielt werden; doch bringen es die zugrunde liegenden biblischen Berichte mit sich, daß sowohl im Ort wie in der Zeit von einem Punkt zum andern übergesprungen wird, von einer innerlichen Einheit des Ortes und der Zeit demnach nicht die Rede sein kann. Zettel bezeichnen die wechselnde Oertlichkeit.   Daß ein dramatischer Kern den geistlichen Spielen innewohnt, ist schon durch ihre Anfänge nahegelegt, nur daß er natürlich erst allmählich anwächst. Der epische Bericht der Bibel wird durch Rollenverteilung, Bewegung und scenische Ausgestaltung zunächst verkörpert; die Vergegenwärtigung ist indes nicht vollendet, solange nicht der verbindende Text des Evangelisten zwischen den direkten Reden fällt und die eigentliche Darstellung ausschließlich in Dialog vorschreitet, wobei noch immer Zugeständnisse durch Pro- und Epiloge, Ausdeutungen u. dgl. möglich sind. Dies Vorwort des Praecursor bewahrte episches Wesen, schon mit didaktischen Beimengungen; im Nachwort finden sich dieselben beiden Elemente gemischt, nur daß hier der didaktische Zug vorherrscht.   Die Verkörperung hat zur Folge, daß die Reden und Thaten jedes Einzelnen, die der epische Bericht als bloßes Nacheinander bot, als einheitliches Jneinander aufgefaßt werden. So gewinnen thatsächlich eine große Reihe von Figuren, indem man sich ein einheitliches Bild von ihnen vorzustellen sucht, allmählich einen festen Charakter, nicht nur die Hauptgestalten, auch einige beliebte weltliche Nebenfiguren, zuerst in der Krämerscene beim Verkauf der Salben.   Mit der Leidensgeschichte Jesu setzen die geistlichen Spiele ein: wiederum ist, wie im alten Griechenland, das Drama zunächst auf Darstellung von Leiden hingewandt. Daß die Theorie von „poetischer Gerechtigkeit“ ebenso unhistorisch wie unkünstlerisch ist, tritt auch im modernen Drama sofort hervor. Jm Gegenteil: der Reine, Sündenlose, der Gottessohn ist es, der da leidet; ─ freilich hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen. Auch die Heiligen der Legenden und Mirakel, die Märtyrer büßen und sühnen durch ihren Untergang nicht eine eigene Schuld, sondern gehen freiwillig und freudig in den Tod. Aber auch wo der gewöhnliche Sterbliche leidet und untergeht, sind es nicht Jndividuen, welche handeln und sündigen, sondern Symbole des Menschentums im allgemeinen, Allegorien des Lebens, des Alters und der Jugend u. dgl. Das Gute und das Böse kämpfen um die Menschenseele; der Tod rafft alles dahin ohne Unterschied des Alters oder Standes. Genug, das allgemeine Weltleid klingt dauernd an und reißt zur Teilnahme, zur Mitempfindung fort. Nun wird freilich bisweilen der Antichrist oder sonst ein Vertreter des bösen Prinzips in den Mittelpunkt einer Handlung gerückt: aber höchst charakteristisch gewinnt der Teufel in zunehmendem Maße komische Beleuchtung, er wird der lustige Teufel oder doch der arme Teufel, über den man sich belustigt. Die Grundempfindung, das Leitmotiv des geistlichen Trauerspiels bleibt das Leiden des Edlen, Würdigen. ─   Auch das persische Theater, das erst am Anfang des 19. Jahrhunderts als Mysterienbühne anhebt, geht von ähnlichen Voraussetzungen aus. Stoffgebiet ist die Ali-Legende, der Untergang Alis, des Schwiegersohns und edelsten Anhängers von Mohammed. § 79. Das humanistische Trauerspiel.   Die organische Entwicklung des modernen Dramas wurde von antiken Einflüssen durchbrochen. Entsprechend dem Zuge der Renaissancebewegung knüpften die modernen Völker, sobald einmal die alte Dichtung in Wiederaufnahme kam, nicht an die klassische Kunst der Griechen an, sondern ahmten die römischen Nachahmungen nach. Daß unter diesen Umständen nicht sowohl für den Geist als nur für die Form etwas zu gewinnen war, liegt auf der Hand. Die Form ist es nun allerdings, welche kunstvoller und dabei geschlossener wird: besonders begünstigt das antike Vorbild die Akt- und Scenen-Teilung. Außer dem Pro- und Epilog tritt häufig eine Vorankündigung (Argumentum) vor jeden Akt.   Erstreckte sich dieser Einfluß auch vorherrschend auf das Lustspiel, so tauchten doch auch neulateinische Trauerspiele nach dem Muster des Seneca auf. Als die humanistischen Dichter zum Gebrauch der modernen Sprache übergingen, übernahmen sie doch den Stil des römischen Tragikers.   Jm geistlichen Spiel nahm sich die antike Kunstform und Weltanschauung doppelt unorganisch aus. Zur selbständigen Ausgestaltung des weltlichen Dramas hat sie aber wesentlich beigetragen. § 80. Das französische Trauerspiel.   Am natürlichsten noch erscheint diese Berührung der modernen Welt mit dem römischen Geist innerhalb der romanischen Völker. Wie ihre Sprache auf das Latein zurückgeht, läßt sich ihre Verwandtschaft im Grundzug der litterarischen Entwicklung nicht verkennen.   Namentlich der formalistische Trieb ist es, den das französische Drama mit dem römischen gemein hat, soweit die Technik sich auch im einzelnen vervollkommnet. Entscheidend fällt ins Gewicht, daß hier formale Gesichtspunkte für den gesamten dramatischen Organismus den Ausschlag geben und daß im ganzen die Entwicklung in die Grenzen gezwängt wird, welche man durch das antike Drama gesteckt glaubte. Nun ist dieses ─ wie wir sahen ─ aus völlig andern Voraussetzungen erwachsen: sowohl sein Zusammenhang mit heidnischen Festen wie seine Kettung an den Chor bedingte den Aufbau nicht unwesentlich.   So bedeutet es zugleich eine formale Veräußerlichung und eine unorganische Uebertragung, wenn die französische Dramaturgie die sogenannten drei Einheiten als Grundgesetz der dramatischen Dichtkunst ausgiebt. Neben der innerlich bedeutsamen Einheit der Handlung werden da die Forderungen gestellt, daß sich die Handlung von Anfang bis zu Ende an ein und demselben Orte und innerhalb eines einzigen Tages abspiele. Außer durch Hinblick auf den (nicht einmal durchgängigen) Gebrauch des antiken Dramas suchte man diese Beschränkungen durch den rein äußerlichen Hinweis zu begründen, daß die Zuschauer auf demselben Platze sitzen blieben, also auch die vor ihnen aufgeschlagene Scene nicht bald den einen, bald den andern Ort darstellen könne; ja, mit demselben Argument führten französische Theoretiker ins Feld, man könne den Zuschauern nicht zumuten zu glauben, daß sie in einem Niedersitzen mehrere Tage oder Jahre vorüberrauschen sähen!   Schon Johann Elias Schlegel, auf den sich Lessing in seinem Kampf gegen die drei Einheiten (Hamburgische Dramaturgie, 44. Stück) beruft, findet den richtigen Gesichtspunkt, daß „der Geist (denn mit ihm hat man zu thun, und nicht mit dem Körper, der auf den Bänken sitzt) so starke Flügel hat, daß er dem Poeten auch noch weiter von einer Zeit zur andern und von einem Orte zum andern folgen könnte“. Nachdem er so das Recht der Phantasie gegenüber der Engherzigkeit des französischen Dramas geltend gemacht, weist schon Schlegel und nach ihm mit wuchtigeren Schlägen Lessing die Gewaltsamkeit und Aeußerlichkeit des Verfahrens nach, zu welchem die Franzosen durch Uebernahme der drei Einheiten sich gezwungen sahen: „Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der Scenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden, und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am besten gethan haben, anstatt der Worte: ‚der Schauplatz ist ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: ‚der Schauplatz ist auf dem Theater'.“ ─ Thatsächlich mußte mit großem Zwang ein neutraler Ort, wie ein Platz vor dem Hause, ein Vorsaal oder sonst ein Raum gewählt werden, in welchem alle Parteien gleichmäßig verkehren könnten.   Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne Zwang durchgeführt worden, hätte sie jede Charakterentwicklung, ja jede umfassendere Entwicklung der Handlung unmöglich gemacht. Wieder kamen allerhand Kniffe zur Verwendung, um trotzdem den Schein einer Entwicklung durchzuführen. Lessing wirft die berechtigte Frage auf: „Was hilft es dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Aktes zu ihrer wirklichen Ereignung ungefähr nicht viel mehr Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfordert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage thun läßt, kann zwar an einem Tage gethan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es an einem Tage thun.“   Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe. Wir wurden Zeugen, wie diese noch halb im Epischen stecken bleibt, wie die äußere Handlung dominiert und den Charakter bezwingt. Die französische Tragödie ist nun ähnlich noch im wesentlichen Jntriguenstück, d. h. sie sieht in möglichst kunstvoller Verknüpfung der Handlung ihre Hauptaufgabe und läßt den Charakter nicht an sich selbst, sondern an dem Zusammentreffen unglückseliger Ereignisse zugrunde gehen. Das Verkünstelte dieser Jntriguen hat Lessing ─ namentlich in der Corneille-Kritik der Hamburgischen Dramaturgie ─ zuerst erkannt, nur wäre weniger dem einzelnen Dichter zur Last zu legen, was uns als Ausdruck eines historischen Stadiums in der Entwicklung der dramatischen Form gilt.   Eine noch weiter gehende Einschränkung wäre dem Kampf Lessings gegen den heroischen Zug der französischen Tragödie zu geben. Der deutsche Dramaturg geht so weit, auf diese Tendenz hin Corneille den Beinamen des Großen abzusprechen: „Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte, und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist“ (30. Stück). Aus einem solchen heroischen Element ist jedoch die Tragödie erwachsen, und überdies ist die erhabene Würde, die alle Handlungen, auch die lasterhaften, in der französischen Tragödie atmen, ein unverkennbarer Zug des romanischen Geistes, wie er sich in den romanischen Litteraturen durchgehends ausprägt. Lessings rein kritisches Verfahren ließ demnach sowohl den historischen wie den völkerpsychologischen Gesichtspunkt außer acht, die beide erst nach ihm von Herder entdeckt werden.   Der einseitig zugespitzte Heroismus unterdrückt nun allerdings die unmittelbare Ausprägung anderer Leidenschaften, läßt namentlich die Aenßerung der durchgehenden Liebesempfindung leicht als bloße Galanterie erscheinen. Bei alledem wird gerade die historische Aktion dadurch znr kunstvollen Jntrigue verarbeitet, daß die Liebe als Haupttriebfeder der Handlung eingeführt ist. Sowohl in diesem erotischen Trieb wie in seiner veräußerlicht galanten Ausprägung haben wir wieder durchgehende Züge des romanischen Geistes zu sehen.   Jm Zusammenhang mit dem heroischen Zug steht die rhetorisch=pathetische Aeußerungsform der französischen Tragödie. Auch diese Vorherrschaft der Rhetorik und Reflexion hält sie in epischem und lyrischem Wesen zurück und läßt sie nicht zur vollen Durchführung des dramatischen Charakters gelangen. Die Leidenschaft bethätigt sich weniger als sie über sich brütet und sich ausspricht. Der Monolog läßt naturgemäß der Rhetorik den weitesten Spielraum. So schwelgt Corneilles Cid in seinem Schmerze:   „Percé jusques au fond du cœur D'une atteinte imprévue aussi bien que mortelle, Misérable vengeur d'une juste querelle, Et malheureux objet d'une injuste rigueur, Je demeure immobile et mon âme abattue     Cède au coup qui me tue.   Si près de voir mon feu récompensé,     O Dieu! l'étrange peine!   En cet affront mon père est l'offensé,   Et l'offenseur le père de Chimène.“ Doch auch der Dialog bleibt weithin lyrisch=episch gefärbt. Nicht minder reflektierend legt Chimene der Jnfantin dar: „Mon cœur, outré d'ennuis, n'ose rien espérer. Un orage si prompt qui trouble une bonace D'un naufrage certain nous porte la menace; Je n'en saurais douter, je péris dans le port. J'aimais, j'étais aimée, et nos pères d'accord“ u. s. f. im epischen Rückblick mit angefügtem lyrischen Gefühlsausdruck: „Maudite ambition, détestable manie, Dont les plus généreux souffrent la tyrannie; Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs, Que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!“ Allein es wäre ungerecht, den Wert dieser schönen Diktion an sich zu verkennen und gegen die Harmonie dieser Töne taub zu sein. Keine Uebersetzung vermöchte den vollen Wohlklang solcher Vereinigung von Anmut und Würde zu bewahren. Neben der Handlung ist es denn auch der Dialog, dessen ästhetische Ausgestaltung dem französischen Trauerspiel seinen Stempel aufdrückt. § 81. Das spanische Trauerspiel.   Unter den romanischen Völkern haben neben den Franzosen namentlich die Spanier eine eigenartige tragische Form ausgebildet. Die durchgehenden Zeichen romanischer Kunst begegnen wiederum: im Dialog Herrschaft des Pathos, in der Handlung Herrschaft der Jntrigue.   Ein Lope de Vega, der ja schon auf tragischem Gebiet zu nennen ist, fesselt durch das Jnteresse der Situationen und ihrer kunstvollen Verknüpfung. Seine „Mantel- und Degenstücke“ schwelgen in tragischen Mitteln des Stoffes, der Mensch bleibt Sklave der Ereignisse. Dabei versteht es die Virtuosität des Dichters nicht minder kunstvoll den Knoten glücklich zu entwirren als er kunstvoll zu ernster Verwicklung gebracht war.   Zu voller Entfaltung gelangt die tragische Kunst der Spanier mit Calderon. Womöglich noch in höherem Maße als die französischen Tragiker zeichnet ihn das klangvolle Pathos aus, wie dort herrscht die Neigung zur Reflexion und Rhetorik vor. Schönes, glattes Ebenmaß, nicht charakteristische Abstufung des Dialogs gilt ihm wie seinen Nachfolgern als Jdeal: die Jdeen des Dichters, nicht eigentlich die Charaktere der handelnden Personen kommen zur Aussprache.   Nicht der Mensch herrscht über sein Schicksal ─ dem Schicksal, einer unbegreifbaren göttlichen Gewalt, unterliegt der Mensch als Sklave. Erbsünde lastet auf der Menschheit von je; der Einzelne erliegt seiner Natur, der ungezähmten, ungöttlichen, sofern er sie nicht zur Ueberwindung des Eigenwillens emporläutert. Nicht zum Genuß, zu Leiden und Entsagung ist der Mensch geboren. Das Leben ein Traum ─ nur in der jenseitigen Welt der Jdeen liegt die Wirklichkeit. So ist es die reinste Ausprägung der romanisch=katholischen Weltanschauung, die das spanische Trauerspiel durchwebt.   Der Mensch ist Sklave nicht nur des göttlichen Verhängnisses: noch schroffer als in der französischen Schwesterlitteratur unterliegt er zugleich völlig der konventionellen Moral, besonders einem auf schärfste zugespitzten äußeren Ehrbegriff. Konflikte zwischen Ehre und Liebe bilden neben ausschließlichen Liebesverwicklungen den beliebtesten Gegenstand des spanischen Dramas. Ueber den Ehrenpunkt geht von weltlichen Mächten nur die knechtische Unterwürfigkeit gegen das Königtum ─ auch dieser politische Autoritätsglaube findet nur im französischen Drama annähernd seinesgleichen.   So hat sich der romanische und katholische Geist eine eigenartige Tragödienform geschaffen, in welcher der Mensch unterwürfig und ohnmächtig gegen die überirdischen und irdischen Mächte des Lebens bleibt. Die Tragik dieser Unfreiheit und Unwürdigkeit des Menschentums gelangt zu wirksamstem pathetischen Ausdruck.   Eine gewisse Herrschaft über sein Schicksal räumte dem individuellen Charakter erst die germanisch=protestantische Tragödie ein. Sie überwindet die Weltanschauung des Mittelalters und empfindet die Leiden der Menschheit mit modernem Feingefühl. § 82. Das englische Trauerspiel.   Die germanischen Litteraturen, die englische und noch weit länger die deutsche, waren durch die Schule des altrömischen und neuromanischen Stils gegangen, bevor sie sich auf sich selbst besannen, den Abstand ihres Nationalgeistes vom Romanismus erkannten und nach Ausdruck des eigenen Volkscharakters rangen d. h. eine reflexionslose naive Wiedergabe des Bildes wagten, unter dem sich die Welt im germanischen Geiste malte.   Mehr noch als sonst neuen künstlerischen Ansätzen fehlte den ersten Ausprägungen germanischen Geistes in der englischen Tragödie Maß und Form, schöne Anmut und Harmonie. Wild und ungebändigt, maßlos sowohl in der Sprache wie in der Leidenschaft treten uns Männer wie Thomas Kyd und Christoph Marlowe entgegen. Selbst Shakespeare giebt sich oft überschäumend und zügellos, selbst er schrickt vor Häufung unschöner Züge nicht zurück. Sogleich tritt bezeichnend hervor, daß glattes Ebenmaß, Schönheit der Sprache wie der Leidenschaft nicht mehr als Selbstzweck und letztes Ziel gilt. Hier treffen wir nicht das friedliche Ebenmaß der Antike, nicht den immer gleich strahlenden Glanz des romanischen Stils: charakteristische Abstufung gilt für die Leidenschaften wie für ihre Aeußerungsformen. Wie das Reich der Schönheit auf die Alleinherrschaft der Erhabenheit in der Entwicklung der Poesie folgte, so muß sich nun die Schönheit mit einer sekundären Rolle begnügen, um sich dem Charakteristischen einzuordnen.   Jn der antiken und romanischen Tragödie herrschen die Ereignisse, und typische Menschen werden von ihnen gelenkt. Unhistorisch wäre es, dem gegenüber im germanischen Trauerspiel, besonders im englischen, die schroff ausgeprägte Herrschaft des Jndividuums über das Schicksal sehen zu wollen. Gewiß wirken germanischer und protestantischer Geist zusammen, um die Entwicklung auf dieses Ziel hinzulenken. Der Masseninstinkt ist bei den romanischen, die Jndividualität, das Jchgefühl bei den germanischen Völkern stärker ausgebildet. Die Reformation erkennt die Freiheit eines Christenmenschen an. Da sucht denn das englische Trauerspiel ein neues Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schicksal zu gewinnen. Die Strenge der germanisch=protestantischen Weltanschauung läßt das Gefühl der Verantwortung aufdämmern, und man beginnt angesichts der tragischen Geschehnisse, angesichts des Leidens und des Untergangs zu fragen, inwieweit ein Zusammenhang mit der individuellen Anlage des Charakters ersichtlich ist.   Eine induktive Betrachtung darf nicht verkennen, daß so und nicht umgekehrt der Weg selbst eines Shakespeare geht. Wie eine ewige Krankheit der Shakespeare-Forschung erbt sich der Versuch fort, die Handlung in all ihren Teilen mit Notwendigkeit aus dem Charakter zu folgern. Erfand aber der englische Dichterkönig die Handlung zur Jllustrierung eines bestimmten, ihm feststehenden Charakters? Vielmehr hat er die Fabel übernommen, überdies zumeist direkt oder doch indirekt aus novellistischen, epischen Quellen, und sein geniales Eingreifen bestrebt sich wesentlich dahin, den überlieferten Charakter so auszubauen, daß die Handlung nicht länger zufällig, sondern, wennschon nicht notwendig, doch glaubhaft erscheint.   Man denke an „Romeo und Julia“: wer wollte behaupten oder doch beweisen, das junge, feurige Liebespaar gehe ausschließlich an seinem Charakter zugrunde, ja der Tod sei die notwendige Folge der schuldbeladenen oder wenigstens verhängnisvollen Charaktere? Nennt Capulet die Unglücklichen doch ausdrücklich „die armen Opfer unserer Zwistigkeiten“, und der Prinz schließt: „... Niemals gab es ein so herbes Los, Als Juliens und ihres Romeos.“ Jst die Feindschaft der Eltern ihre Schuld? sind Romeo und Julia für das Zusammentreffen zahreicher weiteren unglücklichen Umstände verantwortlich? Nur die präzise Beantwortung einer solchen Frage führt uns dem eigentlichen Sinn und den notwendigen Schranken des nun anhebenden Jndividualitätslebens nahe. Die Liebenden sind nicht volle Herren ihres Schicksals, aber auch nicht mehr blinde Sklaven desselben: das feurige Blut des Jtalieners pulsiert in ihnen, ganz hingegeben der einen Liebesleidenschaft, sind sie jeder ruhigen Erwägung unfähig, wild stürmen sie in die drohende Gefahr, und so erliegen sie. Mit andern Worten: Shakespeare nimmt den Untergang nicht mehr als unabänderliches Verhängnis; er zeichnet Charaktere, deren individuelle Eigenschaften den tragischen, d. h. zum Untergang führenden Verlauf der Ereignisse besonders begreiflich erscheinen lassen.   Nicht anders erklärt sich Hamlets Los. Daß sein Charakter den Untergang verdient, davon kann schon gar keine Rede sein. Hamlets Tod erfolgt nicht als Sühne irgend einer zu ertüftelnden Schuld, erfolgt überhaupt nicht als notwendige Folge einer unglücklichen, verderbenbringenden Charakteranlage. Vielmehr ist sein Untergang durch die Quellen, sowohl die Hamlet-Sage wie die Shakespeare vorliegende ältere dramatische Bearbeitung, gegeben: ob der Dichter seinen Helden untergehen lassen soll, steht danach für ihn bereits außer Frage. Nicht: weshalb läßt er Hamlet untergehen? dürfen danach auch wir fragen; ausschließlich kann der Prüfung unterliegen: hat er Hamlet solche Jndividualität gegeben, daß sein äußerlich überlieferter Untergang nun innerlich verständlich erscheint?   So dürfen wir vor dem Bekenntnis nicht zurückschrecken, daß auch in der englischen Charaktertragödie noch immer dem Schicksal ein weiter Spielraum gelassen ist, daß der Charakter des Helden an dem Fallen seines Loses wohl mitwirkt, aber auch die Charaktere der Gegenspieler und selbst die Verkettung der Umstände beteiligt sind. Jedenfalls fehlt es Shakespeares Dramen fast nie an diesen epischen Resten, und man gelangt notgedrungen zu schiefen Konstruktionen, wenn man mit Zwang die Katastrophe als allein mögliche und notwendige Folge des Hauptcharakters nachweisen will.   Was bedeutet aber die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, wenn gerade der Edle, Sympathische untergeht? Jmmer vernehmlicher, immer präziser klingt es aus der Tragödie: „das Leben ist der Güter höchstes nicht“, der Tod ist keine Strafe, ist unter Umständen eine Erlösung von dem Uebel bezw. aus der Welt des Uebels. Danach steht die Frage nicht mehr so, ob der Held des Todes schuldig ist, sondern ob sein Untergang unter obwaltenden Umständen bei seiner Jndividualität begreiflich ist. Das Leiden des Jndividuums ist es danach, welches uns das englische Trauerspiel realistisch vermittelt.   Dies reale Charakterdrama faßt den Untergang des Menschen rein als physische Thatsache: der Held wird dadurch weder schlechter noch besser; wie die Sonne über Gerechten und Ungerechten scheint, geht sie auch über Gerechten und Ungerechten unter. Hamlet wie der König, Desdemona wie Othello, Cordelia und Lear wie Macbeth und Frau, Romeo wie Richard III . ─ sie alle sinken hin ins große Reich des Schweigens. Bald „bricht ein edles Herz“, bald stirbt der „Bluthund und seine höll'sche Königin“. Wir spüren das Wehen des ehernen Naturgesetzes ─ aber der unvergleichlichen Kunst des Naturgenius bedurfte es, um uns das Walten dieses Gesetzes eben natürlich erscheinen zu lassen.   Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines Todes nicht schlechter hingestellt ─ gilt doch der Untergang nicht als Strafe oder auch nur als schmerzlichster Verlust; freilich ebenso wenig übt das hereinbrechende letzte Los eine sittlich läuternde Wirkung, eine Vergeistigung aus. Den Tod des tragischen Helden nicht bloß als natürlich, sondern als innerlich notwendig, selbst sittlich geboten und dennoch als höchste Verklärung seines Lebens hinzustellen, blieb erst der idealen Charaktertragödie der Deutschen vorbehalten. ─   Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit zur Ergründung der mannigfaltigsten Charaktere blieb bei alledem unerreicht und ist gerade von den deutschen Klassikern begeistert gepriesen worden. Wieland nennt in seinem „Agathon“ ─ und Lessing nimmt dies Urteil auf ─ Shakespeare „denjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff am besten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Jntuition durch und durch gesehen hat“. Noch bezeichnender sind die Wendungen, in denen Goethes „Wilhelm Meister“ Shakespeares Dramen huldigt: „Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust, und sie mit Gewalt rasch hin und wieder blättert.“   Entscheidend fällt ins Gewicht, daß Shakespeare sowohl im König wie im Bettler nicht den bloßen Repräsentanten seines Standes sieht, sondern den individuellen Menschen sucht. Die steife Würde des romanischen Heldentums ist durchbrochen; nicht gleichförmig äußerlich heroisch, sondern vielgestaltig innerlich menschlich zeigt er die Fürsten und die Liebhaber.   Auch der von Shakespeare begründete Tragödienstil läßt der Reflexion Raum: nur dient sie nicht den gleichförmigen Jdeen des Dichters, sondern entspricht in mannigfacher Abstufung den jeweiligen Charakteren, die sie ausüben. Allgemein dienen die dramatischen Personen hier nicht als Sprachrohr des Dichters, sondern stehen auf eigenen Füßen, sprechen aus ihrem eigenartigen Charakter heraus. Aber überhaupt reden sie nicht nur, am wenigsten über ihren Charakter, sie handeln charakteristisch. Otto Ludwigs Shakespeare= Studien beleuchten diese Stilart durch scharfen Kontrast zu einer anderweitigen Verfahrungsweise: „Jene stellt durch Aussprechen, diese durch Darstellung dar; in jener spricht der Autor in seinen leicht maskierten Personen, in dieser der Autor durch die innere Selbständigkeit seiner Personen mit dem Publikum, was den Schein gewinnt, als sprächen die Personen selber und hätten keinen andern Autor, als ihr Autor selbst ─ die schaffende Natur.“ Diese dämonische Kongenialität zur schaffenden Natur darf uns aber nicht wie den eben genannten realistischen Dramaturgen blind gegen den Fortschritt machen, den unser deutsches Trauerspiel im 18. und 19. Jahrhundert errungen, indem es den Menschen innerlich über sein Schicksal emporhob. § 83. Das deutsche Trauerspiel.   Das deutsche Trauerspiel wie jeder Kulturfaktor unseres Volkes zeigt in seiner Entwicklung ein jahrhundertelanges Ringen des nationalen Geistes mit fremden Einflüssen, denen er sich weit hingiebt, bis er, endlich zur vollen Selbständigkeit erzogen, sich auf die eigene Kraft stellt, um damit alsbald zu einer Säule für den Weiterbau der gesamten Weltlitteratur anzuwachsen.   Das geistliche Schauspiel erfährt zwar im Reformationszeitalter eine eigenartige Belebung, bewahrt auch noch volkstümliche Züge, unterliegt aber in der formellen Vervollkommnung gelehrten Einflüssen. Paul Rebhuhns „Spiel von der keuschen Susanna“ führt einen Chor nach antikem Muster ein, wie denn besonders in seiner Heimat Sachsen das geistliche Spiel unter den Händen von Geistlichen und Schulmännern gelehrteren Anstrich gewinnt und gern dogmatischen oder pädagogischen Zwecken dient. Mehr mit dem Volke bleibt es namentlich in der Schweiz verwachsen, nimmt dort indes ebenfalls tendenziös protestantischen Charakter an.   Das weltliche Trauerspiel findet im 16. Jahrhundert zunächst an Hans Sachs und seiner Schule Bearbeiter. Er behandelt auch manche geistliche Stoffe in rein weltlich=künstlerischer Absicht, zieht vor allem die deutsche Heldensage, die griechische Mythologie, sowie die Geschichte als Stoffgebiet heran. Aber der Horizont dieser bürgerlichen Dichter bleibt nur bürgerlich; der heroische Zug der Quellen wird unfreiwillig ins Banale nüchterner Handwerksmoral travestiert. So macht Hans Sachs 1557 aus der Siegfriedsage eine Tragödie mit der Moral: bleibe im Lande und nähre dich redlich! Siegfried kommt um, weil der Fürwitz das junge Blut stach, auf Abenteuer auszureiten, statt daheim bei seinen Eltern zu bleiben, wo er so sicher vor jedem Feinde war! Für tragische Größe fehlt also noch das rechte Verständnis; immerhin ist es nicht bedeutungslos, daß Hans Sachs diejenigen seiner Dramen, welche, selbst nach Unheil und Totschlag, den Zuschauer schließlich in tröstlicher Stimmung entlassen, noch Komödien nennt: erst bei absolut traurigem, entsetzlichem Endeindruck tritt die Bezeichnung Tragödie ein.   Mit dem Auftauchen der englischen Komödianten wird die deutsche Schauspielaufführung aus dem bisherigen Dilettantismus zu wirklicher Kunst erhoben: anstelle der Festspieler treten Berufsspieler. Auch die Jnscenierung, Dekoration und Maschinerie erfahren eine verhältnismäßig glänzende Vervollkommnung. Vor allem gewinnt die Handlung mehr Bewegung, und zum ersten male wird der menschlichen Leidenschaft die Zunge gelöst. Trotz der Roheit dieser Anfänge ─ die Darstellung vergröberte ihre Texte noch ─ hebt damit eine neue lebensfähige Entwicklung an, deren Keime indes schon der dreißigjährige Krieg erstickt. Jakob Ayrer und der außerordentlich begabte Herzog Heinrich Julius von Braunschweig schwelgen einstweilen unter englischem Einfluß in blutiger Gräßlichkeit, und wie sie durchgehends auf starken Effekt hinarbeiten, suchen sie eine besonders furchtbare Endwirkung.   Während die eben erst begründete Volksbühne der Wandertruppen in niederem Ungeschmack stecken blieb ─ irrig ist, von einer Entartung zu reden ─, züchtet die Gelehrtendichtung des 17. Jahrhunderts abermals eine neue Entwicklung durch Anschluß an das Altertum und die fremden Renaissance-Völker. Opitzens Buch von der deutschen Poeterei läßt die Tragödie „von Göttern, Helden, Königen, Fürsten, Städten u. dgl.“ handeln, und verlangt deshalb von ihr ansehnliche Reden, prächtige hohe Umschreibungen. Ein heroischer Zug kommt damit nun fortdauernd im deutschen Trauerspiel zur Geltung; der hohe Ton bleibt wesentlich. Das tritt aufs schroffste bei dem bedeutendsten Dramatiker des Jahrhunderts, bei Andreas Gryph, hervor. Die holländische Renaissance, die ihrerseits auf die italienische zurückgeht, hat ihn vor allem befruchtet. Doch greift er auch unmittelbar auf das Altertum, d. h. hier immer in erster Linie auf Seneca, zurück und kennt das zeitgenössische französische Drama, ebenso jedoch englische Stücke. Die Hauptsache bleibt noch immer der Dialog, der von Längen und Schwulst starrt. Zu dieser hochtrabend erhabenen Rhetorik tritt doch aber auch Kühnheit der Leidenschaft in marinistischer Ausartung. Die Tragik wird in Häufung des Scheußlichen und Schaurigen gesucht, leidet mithin vorerst immer nicht sowohl an Schwäche als an Ueberladung. Gryph will aber ausdrücklich die Vergänglichkeit des Jrdischen illustrieren und predigt ganz aus christlichem Geist heraus: „Denk' jede Stund' ans Sterben!“   Die Zeit Gottscheds gehört dem französischen Stil in seiner regelrechten Korrektheit und steifen rhetorischen Würde. Der bedeutendste Dramatiker der Gottschedschen Schule, Johann Elias Schlegel, strebt mit höherem Erfolg als sein Meister dem Großen, Ueberragenden zu, findet aber an der Einförmigkeit der Franzosen nicht mehr volle Befriedigung und wagt deshalb schon schüchtern, von Shakespeare zu lernen.    Lessing ist es, der die Herrschaft Shakespeares in Deutschland begründet. Englischen Stil übernimmt er schon in „Miß Sara Sampson“. Auf den stammverwandten großen Dramatiker verweisen alsdann die Litteraturbriefe und die Hamburgische Dramaturgie als denjenigen, in dessen Zeichen die Befreiung vom romanischen Einfluß zu erfolgen habe. Lessings meisterliche „Emilia Galotti“ trug ihm selbst von Ebert den begeisterten Zuruf ein: „O Shakespeare-Lessing!“ Das Stück ist in der That nicht nur bedeutsam, weil es ein tragisches Zeitbild und trotz des fremden Kostüms ein Bild aus dem deutschen Leben entrollt. Jn der Geschichte des tragischen Stils tritt hervor, daß Lessing zwar aufs vorteilhafteste von der straffen Komposition des französischen Dramas gelernt hat, im übrigen aber Epoche macht, indem er der individuellen Charakterzeichnung Shakespeares nachstrebt. Der Prinz von Guastalla, der gewissenlose Verführer, ist kein steifer Repräsentant seiner Würde, doch auch kein Wüterich, kein Tyrann, auch kein bloßer verächtlicher Lüstling, sondern ein naturgetreuer, voller Mensch, ohne Uebertreibung oder Verzerrung gezeichnet: wohl verbrecherisch, aber aus Leichtsinn, wohl leichtsinnig, aber aus irregeleitetem Machtgefühl, dabei von künstlerischen Jnteressen, eine glänzende Erscheinung, bestrickend liebenswürdig ─ und so doppelt gefährlich. Aehnlich ist Marinelli nicht mehr der Theaterbösewicht mit teuflischer Lust an der Bosheit, vielmehr eine jener menschlichen Kreaturen, die gewissenlos eine Machtstellung am Hofe zu behaupten suchen, indem sie allen Lüsten und Launen des Fürsten schmeicheln. Auch Emilia, der Heldin, diesem liebsten und rührendsten Kind seiner Muse, giebt Lessing eine durchaus individuelle, lebensvolle Gestaltung: fromm und gehorsam, „die Furchtsamste und Entschlossenste ihres Geschlechts“, hat sie „so jugendliches, so warmes Blut als eine“: eben erblüht, kindlich fröhlich und beweglich, ihre ganze Gestalt das einzige Studium der weiblichen Schönheit für einen Künstler, mit Vorliebe in fliegenden Gewanden, dem überernsten Liebhaber unvermutet entgegenspringend und ihn heiter wünschend, auch wo er sie nicht vermutet ─ was fehlt diesem berückenden Bilde an Lebensfülle und Bestimmtheit charakteristischer Linien?   Und dieses jugendfrische Haupt wird von den düstern Fittichen des Todes umrauscht, diese Rose gebrochen ─ „ehe der Sturm sie entblätterte“! Dies Scheidewort läßt uns erraten, mit welcher Seelenstimmung Emilia in den Tod geht. „ Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben “; wenn der Vater aber ihr den Tod giebt, um sie „von der Schande zu retten“, giebt er ihr „zum zweiten mal das Leben“. Ruhig geht die „Furchtsamste und Entschlossenste ihres Geschlechts“ in den Tod. „Aber was nennen Sie ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man nicht sollte? Dulden, was man nicht dürfte? ... Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!“ Hier beginnt in Aufnahme des Shakespeareschen Charakterdramas eine Wendung über den Stil des großen Britten hinaus: hier geht die tragische Heldin mit vollem Willen, mit Dankbarkeit und Freude in den Tod; hier bedeutet er nicht nur das natürliche Ende oder selbst das Ende der Qual, ─ hier bedeutet der physische Untergang die sittliche Größe. Das ist jedenfalls ein anderer tragischer Accent, eine andere Auffassung des letzten Leidens als Lear an der Leiche seiner Tochter Cordelia ausdrückt: „Ein Hund, ein Pferd, 'ne Maus soll Leben haben, Und du nicht einen Hauch?“ oder wodurch Desdemona in ihrer Art uns zu rühren weiß: „Verstoße mich! O, töte mich nur nicht!“ „Töte mich morgen, laß mich heut noch leben!“ „Nur ein Stündchen!“ „Nur, bis ich noch gebetet!“ Physisch=realistischer ist zweifellos die tragische Auffassung Shakespeares: was wir soeben in Deutschland sich anheben sehen, ist zwar ebenfalls ein Charakterdrama, das aber über die rein physische Realität hinaus die Jdee durchführt, wie der individuelle Mensch zur Herrschaft über sein Schicksal gelangt, nicht indem er sein letztes Los abschüttelt ─ denn wer vermöchte die Pforten des Todes zu sprengen! ─ vielmehr indem er sich ihm mit freiem Willen unterzieht, ja es sich selbst wirft, sobald der Untergang sittlich höher führt als weiteres Leben. ─   Auf verschiedene Weise haben Goethe und Schiller diesen Höhenweg des deutschen Trauerspiels weiter ausgebaut.   Wie tief aus Goethes Seele geflossen ist Faustens Sehnsucht: „Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein, Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“ So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern. „Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft: Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.“ So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln, nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen, sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige, praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als Zuflucht. „So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen. „Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe. Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.“ Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.   Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden, daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie hoch dieses klassisch=deutsche Drama sich über das klassisch=griechische erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes „Jphigenie“. Euripides muß die dea ex machina bemühen, um das auf der Flucht ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen: nicht mehr Betrug, ─ die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der Schwester bleibt nicht bei der äußeren Berührung mit dem Bild von Apolls Schwester stehen: die seelische Berührung mit der milden, reinen Seele seiner eigenen Schwester bannt die dämonischen Qualen seines Gewissens: „Laß mich zum ersten mal mit freiem Herzen Jn deinen Armen reine Freude haben! ... Es löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz. Die Eumeniden ziehn, ich höre sie, Zum Tartarus und schlagen hinter sich Die ehrnen Thore fernabdonnernd zu.“   Von den Goetheschen Dramen, die ausdrücklich mit dem Tode des Helden schließen, bleibt das erste, „Götz von Berlichingen“, ─ wie Lessing sofort rügte ─ noch weit in episch=biographischer Dichtweise stecken. Gewiß gewinnt die Zeichnung der Charaktere nach Shakespeares Vorbild individuelle Fülle und Frische. Der physische Untergang des Helden bleibt in seiner rein äußerlichen Art noch erheblich hinter Shakespeare zurück: er ist indes für unsern Dichter nicht irgend entscheidend: tragisch wird für Goethe das Geschick Götzens mit dem Fehlschlagen seiner Pläne, noch früher, mit dem Verrennen in eine falsche Bahn.   Lehrreich für den Goetheschen Tragödienstil wird insbesondere die Umarbeitung des geschichtlich überlieferten Charakters von Egmont. Um Egmont im Sinne des konsequenten Charaktertrauerspiels in gewissem Sinne als Urheber seines Schicksals und nicht als dessen bloßes Opfer erscheinen zu lassen, bedurfte es eines Helden, der in all seinem sympathischen Wesen, ja zum guten teil eben durch dasselbe, der furchtbaren, schleichenden Macht nicht gewachsen ist, die ihm gegenübertritt. Und sein Tod ist ein Triumph: „Jch schreite einem ehrenvollen Tode aus diesem Kerker entgegen; ich sterbe für die Freiheit, für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre ... Schließt eure Reihen, ihr schreckt mich nicht. “ Das ist die idealistische Charaktertragödie, deren Held den Tod nicht blos als unabänderlich hinnimmt, sondern sich in ihm über sein Leben zu erheben sucht.   Was schließlich Goethes Lebens- und Meisterwerk, den „Faust“, betrifft, so bedarf hier zunächst die vollendet großartige Charakterzeichnung keiner Jllustrierung. Wie Faust gerade von dem dämonischen Trieb erfüllt ist, all „der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen“, vermißt er sich, nimmer in Genuß zu ersticken, immer unbefriedigt vorwärtszustürmen. Ausschlaggebend für die Konsequenz, mit welcher der Dichter Fausts Schicksal aus der Charakterentwicklung seines Helden herleiten will, ist nun bereits der scharf auf die Bedingung der Katastrophe zugespitzte Wortlaut der Wette: „Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich gethan! Kannst du mich schmeichelnd je belügen, Daß ich mir selbst gefallen mag, Kannst du mich mit Genuß betrügen: Das sei für mich der letzte Tag! ... Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“ Dem entsprechend endet Fausts Lebenslauf mit dem ersten Geständnis seiner Selbstzufriedenheit, mit dem ersten Wunsche, in einem schönen Moment zu verharren. Aber zu welcher sittlichen Höhe erhebt sich gerade diese Katastrophe! Gewiß, der Mensch, der kein weiteres Ziel vor Augen sieht, der im Genuß aufgehen will, lebt für die Menschheit umsonst: so ist auch Fausts Wirken und damit seinem Leben eine Grenze gesetzt, über die er nicht hinausstrebt, an der er sich zum Verweilen eingeladen fühlt. Jndes, nicht Versumpfung in unthätiger Genußsucht ─ wie sie bei der Wette d. h. der hypothetischen Hingabe an die höllischen Mächte vorschwebte ─ wird das Los dieses Helden männlicher Thatkraft. Worin er verharren will, ist die Entfesselung aller wirtschaftlichen Thatkraft, ist der tägliche Kampf um die Bedingungen des Lebens, ist das immer strebende Bemühen, das zur Erlösung führt. So schafft sich Faust im Sinne des konsequenten, des idealen Charakterdramas ─ sogar weiter als es der Realität entsprechen dürfte ─ sein Schicksal, auch sein letztes, selbst: aber das physische Ende zeigt den rechten Mann auf der Höhe der Vollendung:   „Völlig vollendet Liegt der ruhende Greis, der Sterblichen herrliches Muster.“ Jn diesem Wort der „Achille ï s“ haben wir ein Bild des scheidenden Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht „der Rest Schweigen“ ─ wie er es für Hamlet ist: „Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue, Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.“ Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie, wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben: „Erbarme dich und laß mich leben! Jst's morgen früh nicht Zeit genung? Bin ich doch noch so jung, so jung! Und soll schon sterben!“ Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie dem Tode entgegengeführt: „Schön war ich auch, und das war mein Verderben.“ Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben: „Doch ─ alles was dazu mich trieb, Gott, war so gut! ach, war so lieb!“ ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch: „Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!“ So bleibt denn auch Mephistos Triumph: „Sie ist gerichtet!“ nicht ─ wie im ersten naturalistischeren Entwurf ─ unwidersprochen; die Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das tröstende Wort: „Jst gerettet!“ Wiederum hat das reif gewordene deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter entwickelt, sondern auch den Charakter, den Geist, sich ausdrücklich über diese physische Katastrophe erheben läßt. ─   Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von Schiller sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des sittlichen über den physischen Menschen, des Geistes über die Natur zu verkörpern habe. Freilich wird ihm diese idealistische Tendenz dermaßen zum alleinigen Selbstzweck, daß auch die individuelle Charakterschöpfung dahinter zurücktritt. Die Charakteristik dient nun nicht sowohl der Begründung der Handlung und der Katastrophe selbst als vielmehr dem ursprünglich sekundären Moment der sittlichen Erhebung in ihr.   Hören wir Schillers eigene Worte, so gewinnt sein Stil sofort historische Beleuchtung: „So lange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit, und als ein harmonierendes Ganze ... Jst der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, sich äußern. Die Uebereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert jetzt blos idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Thatsache seines Lebens.“   Diese Forderung ist aufgestellt, als Schiller in allen Teilen der Darstellung seinen Uebergang zum idealistischen Stil vollzog. Doch schon in seiner Jugendzeit mit ihrer naturalistischeren Menschenauffassung hat Schiller wenigstens das letzte Los sub specie aeterni gesehen, freilich noch in roheren, äußerlicheren Formen. Räuber Moor erfährt „am Rand eines entsetzlichen Lebens ... mit Zähnklappern und Heulen“, daß zwei Menschen wie er „den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden“. ─ Und nun erlebt die staunende Welt das einzigartige Schauspiel, wie ein aufwärts gerichteter Geist auf Schwingen der Begeisterung mehr und mehr das Jrdische überwindet. „Jndessen schritt sein Geist gewaltig fort Jns Ewige des Wahren, Guten, Schönen, Und hinter ihm in wesenlosem Scheine Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.“ So hat Schiller durch die hehre Macht seiner tragischen Kunst die Schauer des Todes besiegt und die christliche Jdee der Weltüberwindung zu reinster künstlerischen Ausgestaltung geführt. „Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet Jhr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel Nun endlich naht, daß meine Bande fallen, Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich Auf Engelsflügeln schwingt zur ew'gen Freiheit ... Wohlthätig, heilend nahet mir der Tod, Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln Bedeckt er meine Schmach ─ Den Menschen adelt, Den tiefstgesunkenen, das letzte Schicksal.“ Damit spricht die sterbende Maria Stuart für ihren Fall aus, was sich uns als Leitmotiv in der Entwicklung des reindeutschen Trauerspiels offenbarte. Das Schicksal fällt aus Gottes Hand, aber nicht blind verteilt er es, sondern heller sehend als die Sterblichen, nach höchster Gerechtigkeit und aus dem Geiste göttlicher Wahrheit. Nicht das physische Unterliegen bedeutet das letzte Entscheidungslos: das fällt vor dem Forum einer höheren Sittlichkeit. An sie verweist die tragische Muse über den Tod hinaus ─ wie es am unmittelbarsten die Jungfrau von Orleans ausspricht: „Der die Verwirrung sandte, wird sie lösen! Nur, wenn sie reif ist, fällt des Schicksals Frucht! Ein Tag wird kommen, der mich reiniget. Und die mich jetzt verworfen und verdammt, Sie werden ihres Wahnes inne werden, Und Thränen werden meinem Schicksal fließen ... Du siehst nur das Natürliche der Dinge, Denn deinen Blick umhüllt das ird'sche Band. Jch habe das Unsterbliche mit Augen Gesehen ─ Ohne Götter fällt kein Haar Vom Haupt des Menschen ─ Siehst du dort die Sonne Am Himmel niedergehen ─ So gewiß Sie morgen wiederkehrt in ihrer Klarheit, So unausbleiblich kommt der Tag der Wahrheit!“ Jnfolge solcher konsequenten Durchführung der idealen Einheit zwischen Charakter und Schicksal bezeichnet den tragischen Stil Schillers ein weites Zurückweichen in der realen und individuellen Darstellung des Charakters. So ist es denn das Ziel aller weiteren dramatischen Entwicklung geworden, die Linie zu finden, wo sich die uneingeschränkte Entfesselung aller physischen Mächte mit der höchsten sittlichen Freiheit berührt und versöhnt, d. i. eine höhere Einheit für die realistische und idealistische Charaktertragödie zu erringen. § 84. Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.   Gemeinsam bleibt den verschiedenen Entwicklungsformen des Trauerspiels nach alledem nichts anderes als daß es den handelnden und unterliegenden Helden in voller Verkörperung zeigt, den dem Untergang geweihten handelnden Helden verkörpert. Nach dem Verhältnis des Handelns und Leidens ist die Entwicklung des Trauerspiels abgestuft.   Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, sollen vor Augen gestellt werden ─ wie im Epos, aber durch das Mittel lebendiger Gegenwart. Die Form der Gegenwart für vergangene Ereignisse nennt die Grammatik Praesens historicum : das ist die Zeit der Tragödie.   Eine volle Verkörperung der Ereignisse geschieht, weil nicht mehr allein die Thaten, oder allein die Empfindungen, die seelischen Neigungen vorgeführt werden, sondern zugleich Seele und Seelenäußerung durch Thaten ─ also der ganze Mensch.   Der Tragiker verkörpert andre. Aber welche andren? Nicht jeden beliebigen Hinz und Kunz: zunächst die Gottheit, dann Helden oder Personen von sonst allgemeiner Bedeutung, so individuell sie schließlich gezeichnet sein mögen. Das bürgerliche Trauerspiel ersetzt, was den Personen an öffentlicher Bedeutung abgeht, wenigstens durch allgemein menschliche Bedeutung ihrer Charaktere oder Schicksale. Die Tragödie vergegenwärtigt und verkörpert demnach Wesen von allgemein menschlicher Bedeutung.   Von dem Augenblick, wo ein Aktor dem Chor bezw. dem Evangelisten gegenübergestellt wird, wo eine Rollenverteilung eingreift, läßt der Dichter in zunehmendem Maße nach, als solcher zu sprechen: die Personen sprechen selbst, stellen sich selbst dar ─ der äußeren Erscheinung nach wenigstens. Dem innern Ursprung nach aber spricht der Dichter in ihrer Rolle.   Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive Beteiligung des Dichters und Publikums besteht. Teilnahme an dem Leiden des Göttlichen führt zum ersten Trauerspiel; Teilnahme an dem Leiden des Ueberragenden, Gewaltigen bleibt der Jnbegriff tragischer Wirkung. So wird beiderseits die Teilnahme an dem Helden Voraussetzung: der Dichter muß zunächst sein Jnteresse für den Helden in möglichst hohem Maße mitzuteilen, dem Publikum zu vermitteln wissen. Teilnahme für den leidenden Helden ist Mitleiden im starken verbalen Sinne, Nachfühlen seiner Leiden, Sympathie im eigentlichen Wortverstande. Das bloße „Mitleid“ im heutigen abgeschliffenen Sinne des Begriffs deckt nicht völlig die Tiefe der Wirkung. Die Tragödie erregt durch lebhafte Verkörperung des leidenden bedeutsamen Wesens unser lebhaftes Mitgefühl, unser erschüttertes Mitleiden: wiederum bewährt sich die Poesie als starker Gefühlsausdruck.   Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der Leiden eines andern gewiß nicht. Jmmerhin scheuen wir den Gefühlsausbruch nicht, suchen ihn vielmehr auf, selbst wo er das Leidensgefühl betrifft. Woher diese Lust am Leid?   Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung vom Schmerz. Jst es aber eigenes Leid, so erzielen wir nichts andres, als eine Milderung desselben, nur teilweise eine Entlastung von ihm. Selbst das Nachfühlen fremden Wehs bringt uns im Leben Unlust; der Tod eines Freundes, eines Bekannten läßt eine schmerzliche Empfindung, einen Stachel in uns zurück, selbst nachdem wir uns durch Auslassung unseres ersten Schmerzes erleichtert haben. Anders, wenn diese Leiden der andern nur in der Fiktion, in der Phantasievorstellung, unser Mitgefühl herausfordern: nun erzielen wir eine Entladung ohne eine mit dauernder Unlust verbundene Beladung, eine Entladung von den uns immanenten Leidensempfindungen, von der in uns ruhenden Wehmut über das Leid der Welt. Daher unsere Erleichterung als tragische Wirkung, eine Erleichterung, welche der Wucht der Erschütterung entspricht. Sie aber wächst um so kräftiger an, je gewaltiger, je edler, je würdiger der Leidende vor uns tritt.   Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert, faßt er sie „ δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν “. Wenn wir die „Katharsis“ nach dem Vorgang von Jakob Bernays mit „Entladung“ übersetzen und mit demselben Ausleger die παθήματα nicht als vorübergehenden Affekt, sondern als dauernde Affektion nehmen, ergiebt sich manche Berührung unseres Ergebnisses mit der Auffassung des Stagiriten. Freilich dürften wir zur Annahme weitergehenden Uebereinstimmens diese nicht mehr wie Lessing dahin auslegen, daß „die Tragödie unser Mitleid und unsere Furcht erregen soll, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen“. Dahingestellt bleibe immerhin, ob wir berechtigt wären, unser Ergebnis schon so weit aus Aristoteles herauszulesen, daß wir übersetzten: „durch Mit-Leiden und Furcht bewirkend die Entladung von solchen (nicht auf Mitleid und Furcht, sondern auf die dargestellten, mitgefühlten Leiden im allgemeinen bezüglichen) Leidensempfindungen “. Jedenfalls nötigt unsere Gesamtbetrachtung zum Festhalten an der Entladung von Leid, nicht von Mitleid. Wäre doch auch die Befreiung von Mitleid keineswegs eine wohlthuende oder gar edle Empfindung.   Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen: Das Trauerspiel bewirkt Entladung von der in uns ruhenden Wehmut über das Leid der Welt, vermittelst Vorstellung eines starken, zur Katastrophe führenden Leidens eines andern, für uns bedeutsamen Wesens, durch den bloßen Schein der Vorstellung losgelöst von aller im Leben damit verbundenen Unlust. II . Das Lustspiel. § 85. Begründung der Lustspielform.   Mit dem Trauerspiel, obschon es sich stufenweise dramatischer entwickelt, ist noch nicht der Gipfel realer dramatischer Gestaltung erstiegen. Noch immer bleibt der Mensch nur bedingter Herr seines Schicksals: er bringt einen Stein ins Rollen, der ihn vermöge von Umständen, die nicht von ihm abhängen, schließlich zerschmettert. So ist der Held an der Ursache seines physischen Untergangs mitbeteiligt ─ nicht mehr. Darüber hinaus sucht das Jdeal des Charakterdramas, wie es den deutschen Klassikern vorschwebt, im sittlichen Sinne den Menschen zum vollen Herrn seines Schicksals zu machen, das ihm zufallende Los in Beziehung zu seinem Charakter hinzustellen.   Jnnerhalb des rein menschlichen Bereichs ist eine solche Bestimmung und Beherrschung der Handlung durch die Charaktere unmittelbarer möglich, wo es sich um Charakterzüge handelt, durch welche nicht auch die eben außerhalb des Menschen mächtige und waltende göttliche Weltordnung herausgefordert wird; wo die kleinen menschlichen Neigungen und Schwächen, die Bethätigung des rein irdischen Lebensdranges, die Ordnung menschlicher Verhältnisse, das Leben der Menschen neben einander zur Geltung kommen. Nicht das Verhältnis des Menschen zur göttlichen Weltordnung, allein das zu den Mitmenschen dürfte in Frage kommen, wenn die Ereignisse sich in der rein menschlichen Machtsphäre halten sollen. Eine solche weitere dramatische Gattung bildet sich in der Komödie aus.   Die Voraussetzung dieses zweiten dramatischen Ansatzes ist in der Stimmung gegeben, mit welcher wir das Leben zu betrachten pflegen, solange es gesichert, namentlich nicht durch Tod oder sonst schwereres Verhängnis gefährdet erscheint. Das Behagen am Leben, die Lust am immer neuen Aufkeimen der Natur, der Genuß der Lebensfreuden, der Lebensmut und Uebermut, mit dem wir auf unsere Mitmenschen blicken: das alles hat in der Tragödie keinen Raum und drängt doch nicht minder stark nach unmittelbarer Vergegenwärtigung und Verkörperung als das Weltleid mit seinem jenseits und aufwärts gerichteten Zug. So zielt auch die Lebenslust mit ihren ausschließlich auf das Diesseits und das „volle Menschenleben“ gerichteten Augen auf dramatisch lebendigen Ausdruck hin. § 86. Die Anfänge der Komödie in Griechenland.   Die Entstehung der Komödie bestätigt Erfahrungen, die sich uns schon in Ausbildung früherer Formen der Poesie aufdrängten: wiederum geschieht die Fortentwicklung durch Verzweigung. Der Dionysos= Kultus hatte nicht nur eine ernste, weihevolle, sondern auch eine übermütig heitere, überschwänglich orgiastische Seite. Galt es doch, in Dionysos die üppige Naturmacht, den Gott der Fruchtbarkeit und des Rausches zu feiern.   Das Fest der Weinlese wurde durch ein Dankopfer für Dionysos begangen. Des Gottes der zeugenden Naturkraft voll, trug man dem Festzug als deren Symbol einen Phallos voran und sang übermütige Dithyramben voll derber Lebens- und Liebeslust. Mit den Vorbeiziehenden neckte man sich in dieser Festzeit überdies in ausgelassenen Spottreden. So lag die Einführung dialogischer Elemente in den ursprünglich alleinigen Chorgesang nahe. Die neue dramatische Form, beim Herumschwärmen ausgebildet, blieb zunächst recht eigentlich ein Schwarmgesang und führt daher die Bezeichnung Komödie ( κωμῳδία von κῶμος ).   Man muß der ausschweifenden, wild überschwänglichen eleusinischen Mysterien gedenken, um den Geist zu ahnen, aus dem die Komödie geboren ward. Noch Aristophanes bewahrt in dem Chor der Mysten, den die „Frösche“ auf die Scene führen, einen Nachklang dieses Geistes wie der Formen, in die er sich kleidete. „Aufflammen laß den Glutschein, schwing die Fackel in den Händen.   Jakchos, o Jakchos! Heller Stern der nächt'gen Feier, Sieh, im Glanze strahlt die Aue; Selbst der Greis hebt seinen Fuß leicht Und abwirft er seine Sorgen, Und die Drangsal seiner Jahre Schwindet ihm in heil'ger Festlust ...“ Nachdem der Chorführer Unberufene aus dem Weg der Geweihten fortgewiesen, stimmt der Chor an: „Laßt ziehn uns mit einander Zur blumenreichen Aue; Dort tanzt und jubilieret Mit ausgelaßner Freude;   Dem Ernst sei nun ein End' gemacht.“ Nun geht er in überschwängliche Hymnen zu Ehren der Demeter über, „Die unsern Gefilden Gedeihen verleiht“. Aus solcher wilden, religiös geweihten Weltlust ist die Komödie erwachsen.   Da die sizilische Komödie schnell abblüht, kommt wiederum wesentlich die Ausbildung dieser Form auf attischem Boden in betracht. Die vorschreitende Entwicklung aus dem Chorgesang zum Dialog läßt sich nicht bei geschichtlich gleich klarer Beleuchtung wie auf tragischem Boden verfolgen. Ebenfalls kamen Masken zur Anwendung, nur naturgemäß geflissentlich groteskere, wie denn auch das Kostüm des Chors so wunderlich wie möglich war. Anstelle des tragischen Kothurns, welcher die Erhebung über die gewöhnlich=irdische Sphäre und Stilart schon äußerlich markierte, trat der niedrige Sokkos.   Zunächst blieb die Komödie sich selbst überlassen. Solange sie den improvisatorischen Charakter nicht abgestreift, konnte sie kaum als Kunstform gelten. Selbst dann noch verstrich geraume Zeit, bis man sie der Tragödie äußerlich gleichstellte. Aristoteles beklagt (Poetik, 5. Kapitel), daß man sich um die Komödie anfangs nicht ernstlich bekümmerte: „So bewilligte auch der Archon erst spät einen Chor für die Komödie, vorher behalf man sich mit Freiwilligen ... Besondere Fabeln dichteten zuerst Epicharm und Phormis. Diese Neuerung kam somit aus Sizilien; von den attischen Dichtern begann zuerst Krates die Form der persönlichen Verspottung zu lassen und Stoffe und Fabeln allgemeiner Natur einzuführen.“   Die Komödie als Kunstform erinnert in den Anfängen ihrer Geschichte lebhaft an die Geschicke der Tragödie. Namentlich hat Kratinos, der uns als ältester unter den hervorragenden Komödiendichtern begegnet, viel Verwandtes mit Aeschylos. Er hat des Gottes, aus dessen Verherrlichung die Komödie entsprang, ersichtlich einen Hauch verspürt. Heißt doch schon der Chor der Geweihten in den „Fröschen“ des Aristophanes ausdrücklich jeden vom heiligen Festreihen zurücktreten, „Der nicht vom stiergewalt'gen Kratin die bakchischen Weihen empfangen“. Jndem hier ein markantes Epitheton des Dionysos wie stiergewaltig ( τοῦ ταυροφάγου ) auf Kratinos übertragen wird, erscheint er als würdigster Jünger des Dionysos-Dienstes anerkannt. Jn den „Rittern“ vergleicht Aristophanes ihn einem Waldstrom, der alles mit sich fortreißt. Diese erhabene Wucht eint sich mit hohem sittlichen Ernst. Nicht nur im Stil, schon im Stoff erhebt Kratinos die Komödie aus dem niedern Bereich. Von possenhafter Behandlung der Alltäglichkeit lenkt er die Komödie auf die öffentlichen Angelegenheiten hin und giebt ihr so einen bedeutsamen Gehalt. Während der Aufbau seiner Komödien noch viel zu wünschen übrig ließ, wird Eupolis gerade wegen der echt dramatischen Einkleidung seiner Absichten gerühmt. Vor allem sollen die Dramen dieses Dichters von echt poetischer Phantasie durchweht gewesen sein. Trotzdem er als iratus gilt und die Geißel seiner Satire schonungslos schwang, hat er heitere Anmut zu erreichen verstanden. So hatte die Komik bereits eine gewisse ästhetische Schönheit gewonnen, als Aristophanes auftrat.   Er wird zum Klassiker der Komödie, indem er durch gemütvollen, überlegenen Humor die Roheit der Posse wie die Niedrigkeit der Lieblingsmotive endgültig überwindet. Den Zustand, dem er ein Ziel setzte, schildert er mit vollem Selbstbewußtsein so wegwerfend wie möglich: „Denn alle, die einst wettkämpften mit ihm, hat er ja, der eine, bewältigt, Die Lumpen und Not aushöhnten und stets sich herum nur balgten mit Läusen. Die Herakles dann, die ewig den Mund vollkneteten, hungernd und lungernd, Und die Flüchtlinge dort und das Gaunergezücht und was zum Vergnügen sich durchpeitscht, Die trieb er zuerst mit Schande hinweg; auch schuf er der Sklaven Erlösung, Die stets auftraten mit lautem Geheul, nur aus dem ergötzlichen Grunde, Daß mit höhnischem Spott ihr Mitknecht dann sie wegen der Schläge befragte: Armseliger, ach, was traf dir das Fell? Brach etwa der borstige Zagel Mit Heeresgewalt in die Flanken dir ein und zerbläute dir tüchtig den Rücken? Solch faules Geschwätz, solch häßlichen Schund, solch widrige Fratzen vertrieb er Und erschuf uns groß die gesunkene Kunst und türmte den Bau in die Lüfte Mit Gedanken und Wort von erhabnem Gehalt und nicht marktähnlichen Witzen, Das Gewöhnliche nicht durchziehend mit Spott, alltägliche Männlein und Weiblein: Nein, Herakleswut in der zornigen Brust, legt er an die Mächtigsten Hand an.“ Da erscheint also neben Alltäglichkeit der Stoffe und Seichtheit der Sprache bereits die konventionelle Wiederkehr gewisser niedrigkomischer Typen als bezeichnend für die frühe Komödie. Die Zeichnung originaler Charaktere mit direkter Anlehnung an individuelle Gestalten bildet auch den bedeutsamsten Ruhmestitel des Aristophanes. Jndem er mit Vorliebe Gestalten aus seiner eigenen Zeit, bald einen Kleon, bald Sokrates, bald Euripides, aufgreift und teils unmittelbar, teils in leicht durchsichtiger Hülle auf die Scene bringt, selbst ihr äußeres Auftreten und ihre Gewohnheiten aufnimmt, giebt er seinen Figuren einen gewissen Anstrich von Jndividualität, obschon er sie im Kern als Typen faßt und seine Modelle ausdrücklich nach dieser Richtung verallgemeinert. Namentlich in den „Wolken“ hat man denn auch die Zeichnung des Sokrates nach dem Typus der Sophisten von je her übel empfunden. Jmmerhin bricht hier fast überall bereits das Wesen des Charakterdramas durch. Von den Menschen und ihrem Wesen, nicht von Ereignissen und Schicksalen, geht ja der Dichter bereits aus. So wird denn die Komik des Aristophanes zunehmend Charakterkomik. Allerdings verschmäht selbst er noch nicht die Hauptmittel früher Komik: Unanständigkeiten und Prügel. Aber es handelt sich doch im allgemeinen nicht mehr um Zoten, also bloße Worte; die naturalia sind vielmehr in die Handlung eingewoben. Aehnlich werden die reichlichen Prügel nicht mehr als typischer Tribut der Sklaven oder dergl. äußerlich verwandt: wenn uns Aristophanes über sie lachen macht, spekuliert er nicht mehr auf die rohe Lust an der Züchtigung eines Niedrigstehenden; vielmehr vermag er sie als eine wirklich dramatische Aeußerungsform des Komischen aus der Handlung herzuleiten. Man erinnere sich, wie in den „Fröschen“ Dionysos und Xanthias sich abwechselnd als Herkules ausgeben, um stets, sobald einer vom andern die herkulische Drapierung mit Keule und Löwenfell empfangen hat, nur für Gewaltthaten des echten Herkules gezüchtigt zu werden. Jn den „Vögeln“ ist die Peitsche, die Ratefreund führt, geradezu die dramatische Verkörperung der Peitsche, welche die Satire des Dichters über die Schmarotzer des Staatswesens schwingt.   Die charakteristische Aeußerungsform dieser Komödien ist also, daß sie ihre Gestalten der Heiterkeit preisgeben, während zuerst durch bloße Worte, alsdann auch durch drollige Situationen Heiterkeit erregt wurde.   Durch welche Mittel bewirkt der Dichter diese Heiterkeit? Giebt er in wohlfeilem Spott verächtliche Personen dem Lachen preis? Jm Gegenteil bleibt selbst Dionysos von der frohen Laune des Dichters nicht verschont. Der Gott ist in heitere Beleuchtung gerückt, indem ihm alle kleinen Menschlichkeiten beigelegt sind, und dieser Gegensatz zu dem, was man im Ernst als das Wesen des Gottes anzusehen hat, zumal er in Gestalt des Herkules erscheint und dennoch besonders gerade durch Furchtsamkeit ausgezeichnet ist, ruft heitere Betrachtung des Hehren hervor. Wie hier die göttliche Sphäre, wird in den „Vögeln“ die staatliche in ernstlose, heitere Beleuchtung gerückt. Fortdauernd ist das ernste Menschentreiben in einem ernstlosen Gegenstück gespiegelt. Kaum ist der neue Staat, das Reich der Vögel, begründet ─ höchst bezeichnend ist das Menschliche durch Uebertragung in die Tiersphäre parodiert ─, als der Poet sich meldet, um zur Aufbesserung seiner zerrissenen Kleidung Schmeichelgesänge auf die Stadt anzustimmen. Ebenso erscheint der Wahrsager, auch er des Lohnes wegen zudringend, um durch seine Ueberdreistigkeit schließlich nichts anderes als Prügel zu ernten. Nicht lange, so wird natürlich auch ein staatlicher Kommissar in die neue Bundesstadt gesandt. Ratefreund glaubt ihm den freundlichsten Empfang durch die Frage vorzuspiegeln:   „Sag, willst du deine Diäten nicht Gleich nehmen und dann wieder gehn?“ „Gewiß, sehr gern!“ ist seine von Ratefreund erwartete, den Mann genugsam charakterisierende Gegenäußerung. So zahlt ihm Ratefreund mit Prügeln heim: „Da nimm! das sind die Diäten, die man bei uns zahlt.“ Ersichtliche Elemente des Lebens, die uns im Leben Aerger bereiten würden, sind in einer andern Sphäre gespiegelt und konsequent bis zur äußersten Zuspitzung durchgeführt.   Ein heiteres Gegenbild des Lebens, eine Art Parodie bewirkt namentlich auch die Uebertragung des Chors in diese andere, kleinlichere Sphäre. Das anapästische Versmaß, die geflissentliche Feierlichkeit, die dem ernst tragischen Ton nacheifert, ruft hier, wo man ihn garnicht erwartet, eine ausgeprägt heitere Stimmung hervor. Die gleiche Wirkung erzielt die pedantisch gewissenhafte Nachahmung der menschlichen Opfergebräuche wie aller Elemente des Kultus. Gerade der Wiedehopf ist es, der die feierliche Aufforderung an die Nachtigall anstimmt: „Jetzt hurtig, Gespielin, verscheuche den Schlaf, Laß ertönen die Weisen geweihten Gesangs, Die aus göttlichem Munde dir quellen hervor“ u. s. f. Jmmer erzielt die Aristophanische Komödie ihre eigenartige Wirkung durch Verkehrung der ernsten oder selbst ärgerlichen Seiten des Lebens in ihr Gegenstück; oft auch geschieht diese Verkehrung in die entgegengesetzte Wirkung durch Uebertreibung des ernsten Objektes.   So wirkt die griechische Komödie auf dieser Höhe ihres Könnens nicht anders wie in ihren Anfängen helles Lachen ausschließlich durch Auffassung des Lebens von der heitern Seite. Sie ist deshalb durchaus nicht auf eine ausgleichend und befriedigend zugespitzte Schlußwirkung gestellt, die in unkünstlerischer Absichtlichkeit Lob und Tadel, Lohn und Strafe unmittelbar austeilt. Auch wo ausdrücklich der Bessere triumphiert oder der Verächtlichere beschämt von dannen zieht, bleibt diese Wendung sekundär, der rein heiteren Endwirkung unter= oder doch eingeordnet. Nicht in tendenziöser Herausarbeitung einer solchen Abfertigung enden denn auch die Aristophanischen Stücke, sondern mit Vorliebe in Uebermut und hellem Siegesjubel. Die befreiende Macht des Humors, jener gemütvoll heitern Betrachtung der Menschen, schwingt sich selbst nach manchem Peitschenhieb schließlich über alles Aergnis des Rohstoffes hinaus und überwindet den Schlechten wie den Tugendbold vorherrschend nicht sowohl durch Sittenrichterei als vielmehr durch liebenswürdige Aufdeckung des Kleinmenschlichen in allem irdischen Treiben. Die Macht des Bösen ist nicht ernst genommen, ist viel zu lächerlich, um zu beunruhigen. ─   Jm Aufbau bewahren die Aristophanischen Komödien die Einheit des Ortes und der Zeit äußerlich insofern, als ein wirklicher Scenenwechsel und gar eine wirkliche Zwischenpause wohl kaum vorauszusetzen ist. Aber innerlich fesselt sich die dramatische Form keineswegs in diese engen Bande. Weder in den „Acharnern“ noch in den „Fröschen“ erscheint ein Scenenwechsel möglich, obgleich die Handlung sich auf verschiedene Orte erstreckt. Namentlich die Scene der „Frösche“ ist ausdrücklich vorschreitend zu denken, wie der alte Dithyrambos schreitend gesungen ward. Herakles weist die Reisenden an den Acheron, Dionys wird übergesetzt, er pocht an die Pforten der Unterwelt, gelangt vor Plutos Palast, ohne daß der Dialog wirkliche Unterbrechung erleidet. Aehnlich wird in den „Vögeln“ die Herbeischaffung der Basileia aus dem Himmel kaum zugesagt, als man sich auch schon zu ihrem Empfang rüstet und sie thatsächlich sogleich erscheint. Was somit äußerer Notbehelf der primitiven, überdies an den Chor gebundenen griechischen Bühne war, erscheint durchaus nicht als ein organisches Gesetz derselben. Wechseln doch sogar in den „Fröschen“ mit der wechselnden Gegend die Chöre: vor dem Chor der Geweihten stimmt bereits ein Froschchor Gesänge an, allerdings hinter der Scene. § 87. Die nachklassische antike Komödie.   Die versöhnliche Weltanschauung der klassischen Komödie, welche allen Gebrechen der Zeit eine heitere Seite abgewinnt, gedeiht am glücklichsten in einer Epoche des politischen Kraftgefühls und sozialen Behagens. Jn Zeiten des Unbehagens, des unruhigen Gärens findet der Dichter nicht mehr die Unbefangenheit frohen Humors, die Oeffentlichkeit nicht mehr die Furchtlosigkeit ruhigen Duldens. Wir sehen die griechische Komödie deshalb von Behandlung öffentlicher, bedeutsamer Angelegenheiten und Charaktere abstehen, innerhalb des Hauses und der Familie, überhaupt des privaten Lebens ein neues Stoffgebiet suchen: die Liebe vor allem ist es, die nun in den Mittelpunkt der komischen Handlung tritt.   Nur spärliche Reste der spätern griechischen Komödie sind auf uns gekommen. Selbst von ihrem hervorragendsten Vertreter Menander können wir nur aus indirekten Zeugnissen, aus winzigen Bruchstücken, am meisten aus den römischen Ueberarbeitungen einiger seiner Werke ein Bild gewinnen. So nehmen wir wahr, daß die Komödie inzwischen an Reichhaltigkeit des Details und doch an Geschlossenheit des Baus wesentliche Vervollkommnung erfahren hat. Jnteressante Jntriguen, kunstvolle Schürzung und Lösung des Knotens findet man fast überall. Auch die Charaktere haben an Fülle von feinen Einzelzügen gewonnen; es fehlt auch nicht an einzelnen individuellen Momenten: dennoch fehlt nicht nur die intuitive Kraft eines Aristophanes, es pflanzt sich vor allem nun dauernd ein konventioneller Bestand typischer Figuren fort, die, wennschon mit leichten Variationen, immer wiederkehren. Der listige Sklave, der Parasit, der Renommist, die geldgierige Hetäre u. a. m. sind zu stehenden Figuren mit einem in den Grundzügen festliegenden Charakter erstarrt. Einen Fortschritt der charakterisierenden Kleinkunst soll Menander durch charakteristische Abstufung des Tones je nach dem Wesen seiner Personen und je nach ihrer Lage herbeigeführt haben. Aus den Resten wie den Ueberarbeitungen erkennt man besser einen gewandt rhetorischen Zug und einen Ausfluß milder, epikuräischer, keineswegs großer Lebensanschauung. ─   Die neuere griechische Komödie hat durch römisches Medium bis in die Neuzeit hinein befruchtend gewirkt. Zwar hatte die italische Komödie aus Spielen und Aufzügen eigene Triebe angesetzt: aus den fescenninischen Spielen bildeten sich in Rom die Satiren ( saturae ), deren Spottverse unter Tanz und Flötenbegleitung vorgetragen wurden. Zu wirklich dramatischer Form entwickelten sich die Atellanen, die mit stehenden komischen Charakterfiguren arbeiteten. Aber erst dem Einfluß der neueren griechischen Komödie, besonders der Menander und Philemon, verdankt die Gattung auf italischem Boden kunstmäßige Ausbildung. Plautus und Terenz treten durchaus als Ueberarbeiter griechischer Originale auf, wennschon sie auch Figuren aus dem einen Stück ins andere mitübernehmen. Den typischen Zug der stehenden Figuren haben diese Nachahmernaturen mit besonderer Begier aufgegriffen, so daß die Personen des römischen Lustspiels fast wie Angehörige einer großen Familie erscheinen. Zu einer festen Charge war vor allem der listige Sklave ausgebildet, der Vertraute seines Herrn, der die Fäden der Jntrigue in Händen hält und durch seine Verschlagenheit die Pläne seines Herrn zum glücklichen Ende führt. Neben den Hetären, Kupplerinnen, Parasiten, Wucherern und ähnlichen Standestypen sind auch gewisse Grundzüge in den Charakteren je nach dem Alter durchgehend: der leichtlebigen, liebenswürdigen Jugend tritt mit Vorliebe das nüchterne, trockene Alter gegenüber; ein zweiter Alten-Typus hat sich aber noch ein jugendfrisches, weiches Herz bewahrt und steht mit Rat und That zur Jugend. Edlen Frauen ist noch keine selbständige Stellung in dieser griechischrömischen Komödie verliehen. Sonst war eine Fülle von Motiven und Verwicklungen gegeben und so dies Familien- und Hetärenstück in einen ziemlich engen Horizont gebannt.   Verteidigt sich doch Terenz im Prolog des „Eunuchen“ gegen den Vorwurf des litterarischen Diebstahls mit den vielsagenden Wendungen:   „Doch wenn Dieselben Charaktere andre nicht Behandeln dürfen, wem ist's dann noch jetzt Erlaubt, eilfert'ge Sklaven aufzuführen, Gutmütige Matronen uns zu geben Und böse Buhlerinnen, gefräßige Schmarotzer und ruhmredige Soldaten, Ein eingeschobnes Kind und einen Alten, Vom Sklaven überlistet, Liebe, Haß Und Argwohn? Kurz, nichts läßt sich schreiben, das Nicht früher schon geschrieben wurde ...“ ─ Bei alledem hat die komische Wirkung gegenüber der ursprünglich überschwenglichen Gewalt eine Milderung erfahren. Sie beruht auf geschickter Verflechtung der Charaktere in eine kunstvolle Jntrigue, die mit Vorliebe dem Witz des treuen Sklaven oder sonst einer planvollen Lenkung aus dem Kreise der Lustspielfiguren selbst zu verdanken ist, bisweilen freilich auch glückliche Zufälle walten läßt. Bezeichnend sprach man von Plautinischem Witz. Daneben drängen sich aber empfindsame und rührende Züge ein, und die Befriedigung über glückliche Lösung des Knotens spielt neben der Anteilnahme an den Charakteren meist eine wesentliche Rolle in dem heitern Endeindruck. § 88. Die Anfänge des modernen Lustspiels.   Noch klarer als in der Geschichte der griechischen Komödie läßt sich für das moderne Lustspiel die Herausbildung aus derselben Form erkennen, der das Trauerspiel seine Entstehung verdankt. Das moderne Lustspiel greift sogar nicht mehr auf die gemeinsame Urform zurück, sondern lebt recht ersichtlich erst inmitten der tragischen Form auf, um sich innerhalb derselben auszuwachsen und schließlich zu einer Trennung des ernsten Dramas und der neuen Form zu führen, in welcher der Ernst vom heitern Element überwuchert war. Für die selbständige Existenz dieser heiteren Dramen bot sich eine Anlehnungsform in den Fastnachtsaufzügen, die sich wohl unter Einfluß des geistlichen Spieles immer dramatischer ausgestalteten.   Auf der einen Seite sehen wir also komische Episoden im geistlichen Spiel auftauchen, wo es realistische Ausmalung von Scenen aus dem Kleinleben galt. Der Krämer, welcher Salben an die beiden Marien verkauft, alsdann auch sein Knecht und sein Weib, bilden die beliebtesten Ansätze zu lustigen Elementen im Passionsspiel. Später werden daneben die Juden als Christi Feinde zur Zielscheibe von Spott und Satire. Unter anderm werden auch Petrus und Johannes zu Zeiten in ernstlose Beleuchtung gerückt, indem sie nach Christi Grab buchstäblich um die Wette laufen. Andererseits nahmen die Fastnachtsaufzüge statt bloßer Pantomime auch Worterklärungen der typischen Masken auf. Die Emanzipation des Dramas von der Kirche wird durch die Derbheit und Ueberhandnahme der lustigen Elemente zur Notwendigkeit; und nun entfaltet sich die heitere Gattung in üppigster Selbständigkeit.   Außer den vorherrschenden sozialen Stoffen unmittelbar aus der Gegenwart behandelten die so zur Ausbildung gelangten Fastnachtspiele und sonstigen heitern Dramen auch politische und historische Themata. Die Komik bestand in Schimpfwörtern und Flüchen, leiblichen Gebrechen, Schlägereien, Fressen und besonders Saufen, vor allem aber in Unanständigkeiten. Daneben erscheinen komische Typen: Krämer, Aerzte, Juden, alte Weiber, plumpe und schmutzige Bauern, ─ vor allem auch der Teufel selbst als komische Person. Das macht: das Laster wird als Narrheit gefaßt, und so erscheinen doch alle niedrigkomischen Worte, Situationen und Typen dem befreienden und immerhin schon erhebenden Prinzip untergeordnet, daß heitere Betrachtung des Lebens über den Ekel und Aerger am Rohstoff hinausführt.   Die Aufführung geschah zunächst nicht öffentlich, sondern in Privathäusern bei Privatgesellschaften zum Fastnachtsschmaus. Jn Paris thaten sich vornehme junge Leute als „ Enfans sans soucy “ zusammen, um dergleichen dramatische Karnevalsscherze als Nachspiele zu den Mysterien darzustellen. Eine andre Gesellschaft aus juristischen Kreisen, die „ Clercs de la Bazoche “, welche zuerst Moralitäten aufgeführt und in diesen bereits der Satire weiten Spielraum gewährt hatten, zogen später die Farce in ihren Wirkungskreis.   Diese jungen Advokaten waren es, welche den noch heute lebendigen und wirksamen „Meister Pathelin“ zur Aufführung brachten. Das berühmte Stück bietet einen recht lehrreichen Beitrag zur Erkenntnis sieghafter Komik. Weit entfernt von bitteren Ausfällen etwa gegen Feinde ihres Standes, stellen die Advokaten einen Angehöriger ihres Standes ganz nach der karikierenden populären Meinung als zungenfertigen, geriebenen Rechtsverdreher dar, welcher überdies von einem beschränkten Schäfer selbst geprellt, mit seinen eigenen Waffen geschlagen wird. Der Betrüger wird zum Betrogenen: wiederum erwächst die Heiterkeit aus dem Gegensatz zu dem, was der ernste Verlauf der Dinge zu bringen schien; wiederum hält sich ein Kreis ein heiteres, harmloses Gegenbild des Lebens, noch dazu des eigenen, vor, ─ nicht um sich oder andre ernstlich zu entlarven, nur um sich zu erfreuen, um das ernste Treiben durch Ueberbietung seiner Verfahrungsweise in eine heitere Beleuchtung zu rücken. § 89. Die Hauptmomente des romanischen Lustspiels.   Jm romanischen Lustspiel begegnen wir naturgemäß dem Einfluß beider Seiten der altitalischen Komödie. Den Atellanen und ähnlichen volkstümlichen Spielen entspricht die commedia dell' arte , die aber auch nebenher aus der griechisch=römischen Komödie der Terenz und Plautus schöpft; auf diese allein greift in der Renaissance das litteraturfähige Lustspiel zurück.   Die commedia dell' arte des italienischen Theaters arbeitet in den Grundzügen der Handlung mit konventionellen Leitmotiven; noch bedeutsameren Einfluß auf die Entwicklung der Lustspielform gewann diese Gattung durch Vermittlung einer Fülle stehender Typen, einer Art von volkstümlichen Charaktermasken, die ihr allbekanntes Wesen durch immer neue Einzelzüge, zum guten teil improvisierend, von Stück zu Stück entfalteten. Da war der täppische, bauernschlaue Pulcinello, der gutmütige Vater Pantalone, der typische Rechtsverdreher Doktor Gratiano, da war vor allem Arlecchino mit seiner Colombine. Arlecchino, gallisiert Harlequin, wuchs sich zur Hauptfigur des internationalen Lustspiels aus. Aehnlich dem gewitzten Sklaven der antiken Komödie hält auch dieser Diener zunächst die Fäden der Jntrigue in der Hand, bleibt jedenfalls die Hauptperson; sein Charakter gestaltet sich aber weiter typisch aus: er scherzt über alles und alle, er wirkt bald durch Unflätigkeit, bald durch gute Laune, bald durch dreiste Verschmitztheit ─ kurzum, er ist eine Art Zusammenfassung aller komischen Wirkungsfähigkeiten. Man kann gewiß nicht sagen, daß solche stehende Figuren das Leben und die Menschen getreu wiedergeben: gewissermaßen im Gegenteil entwerfen sie eine Karikatur des menschlichen Wesens und Treibens; aber der Hohlspiegel, in welchem diese commedia dell' arte und ihre zahlreiche Gefolgschaft die Menschen auffängt, bietet, wennschon kein ernstlich treues Bild, doch ein heiteres Gegenbild des Lebens; und gerade in der vergrößernden Hervorzerrung charakteristischer Einzellinien erkennen wir, welche heitere Seite unserm ernsten Gesicht, welcher komische Beigeschmack unserm ernsten Thun und Treiben abzugewinnen ist. ─   Das spanische Lustspiel gelangt noch weniger zu individueller Charakteristik. Es bleibt Jntriguenstück im verwegensten Sinn. Gerade Lope de Vega, der unerschöpfliche Klassiker der spanischen Bühne, geht nicht sowohl auf Menschenschöpfung aus, als auf Entfaltung von interessanten, an- oder aufregenden Einzelscenen, vor allem auf kunstvolle, überraschende Verknüpfung und Entwirrung der Ereignisse. Wie er die Charaktere nebenher behandelt, hat sich kein künstlerisches Menschenbild mit seinem Namen und Ruhm vereint und verewigt: wenn wir Aristophanes nennen, denken wir an seinen Sokrates, seinen Euripides, Kleon, Dionys, Ratefreund und eine Fülle von Gestalten mehr; wenn wir Shakespeare als Komiker nennen, denken wir vor allem an Falstaff; ─ wer Lope de Vega nennt, denkt an das Schlagwort von den Mantel- und Degenstücken. Seine Menschen bleiben Schachfiguren, die nach kunstvoll erdachten Plänen gegen einander bewegt werden; auch bekleiden sie im allgemeinen thatsächlich nur feststehend wiederkehrende Chargen. Das Leben und den Geist seines Volkes hat das spanische Lustspiel indes gerade in den Mantel= und Degenstücken heiter gespiegelt. ─   Jhren künstlerischen Gipfel erreicht die romanische Komödie in der französischen Litteratur. Zwar lange wird hier die Entwicklung durch fremde romanische Einflüsse bestimmt. Die commedia dell' arte beherrscht die französische Volksbühne, während sich das Renaissancedrama der Gelehrten in Nachahmung der Terenz und Plautus erschöpfte; auch die spanische Komödie wirkte herüber. Man kann nicht sagen, daß Moli è re diese Abhängigkeit durch völlig selbständige Leistungen überwunden hat. Jm Gegenteil schöpft er aus allen Quellen, die auf seinem Wege flossen. Aber bedeutsam gelangt er zur Selbständigkeit, indem er gallischen Geist natürlicher Fröhlichkeit ausbreitet und Charaktertypen des französischen Lebens seiner Zeit aufgreift, denen es an einer gewissen menschlichen Allgemeingültigkeit nicht fehlt. Durch diese beiden lebendigen Mächte gelangt er über den Schulstaub des Renaissancedramas hinaus, so viel er im strengen, geschlossenen Aufbau von den antiken Mustern lernt.   Es fehlt den Moli è reschen Gestalten gewiß nicht an mancherlei individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet. Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe. So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel Moli è rescher Komik.   Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter mehr Gelegenheit, sich zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende Wendung erfolgt.   So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen, die Moli è re dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten, die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger= Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals ─ ihnen allen wird ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen, als sich daran erheitern. Nur im „Tartuffe“ und im „Misanthropen“ klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten des „Misanthropen“ gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses argen Menschentreibens seine helle Freude hat.   Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit, von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter des „ drame “, des „Schauspiels“, einzumünden. § 90. Das englische Lustspiel.   Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung von Einzelzügen aus.   Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt, macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht sie ─ abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts und Beatrices in „Viel Lärm um nichts“: in Sprödigkeit und Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden, bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen läßt: „Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr? Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen? Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar! Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen; Und, Benedikt, lieb' immer, so gewöhn' ich Mein wildes Herz an deine teure Hand! Sei treu, und, Liebster, deine Treue krön' ich Und unsre Herzen bind' ein heilig Band! Man sagt, du bist es wert, und ich kann schwören: Jch wußt' es schon, und besser als vom Hören!“ Wiederum beruht die heitere Wirkung auf dem Gefühl des Gegensatzes. Oft führt der Verlauf der Handlung die komischen Hauptfiguren wenigstens zur Beschämung. Das ist selbst der Ausklang eines Falstaff: „Habe ich denn mein Gehirn in der Sonne gehabt und es getrocknet, daß es nicht vermochte, einer so groben Uebertölpelung zu begegnen? ... Nun ja, ich bin euer Text, und ihr seid im Vorsprung, ich bin in der Hinterhand ... Macht mit mir, was ihr wollt.“ Aber „demungeachtet“ läßt ihn der Dichter ermuntern, „guter Dinge“ zu sein: die ihn gefoppt, sind in anderer Weise ebenfalls beschämt, und alles klingt versöhnlich aus.   Shakespeare giebt uns nach alledem nicht nur die Freude an einzelnen Narrheiten, den Genuß der heitern Seite an einzelnen Leidenschaften: er giebt uns die Freude am ganzen Menschen, die heitere Betrachtung einer vollen Persönlichkeit. Dabei stellt er Handlung und Charakter in Wechselwirkung; doch üben die Ereignisse, ja ausdrücklich angesponnene Jntriguen, mehr Einfluß auf den Charakter, als dieser auf den Gang der Handlung.   Nicht außer Acht darf bleiben, daß Shakespeare auch im ernsten Drama komische Figuren verwendet. Vor allem erschien Falstaff früher als in den „Lustigen Weibern“ bereits in „Heinrich IV .“ Daneben geht die Figur des Narren durch, die man im edleren Sinne als den Arlecchino die Verkörperung des komischen Wesens nennen muß: wie er, auch wo ihm eine bitter ernste Absicht vorschwebt, allen Dingen dieser Welt die heitere Gegenseite abzugewinnen weiß, stellt er unmittelbar vor, was die Seele des Lustspiels ausmacht, und repräsentiert somit andauernd im Trauerspiel die Funktion des Lustspiels. Damit benimmt er dem Weltbild die Einseitigkeit, indem er neben den Ernst des Weltlaufs die heitere Gegenseite stellt, die Tragik durch Spiegelung in versöhnendem Humor überwindet. § 91. Das deutsche Lustspiel.   Dem deutschen Fastnachtspiel erwuchs eine Art Klassiker in Hans Sachs. Schon durch seine Stoffe verleiht er der Gattung Gehalt und führt sie über das kleinliche Alltagsleben hinaus. So entfaltet er einen ergötzlichen Spiegel der Zeit, ein heiteres Bild aller Stände, eine Fülle von Charaktertypen.   Zu eigentlichen Komödien schreitet er unter Einfluß des humanistischen Kunstdramas vor. Doch bleibt die Handlung in rein epischer Folge stecken. Fragt man, durch welche Mittel Hans Sachs dramatische Wirkung, vor allem Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit erreicht, so finden wir uns in erster Linie auf den Dialog und die Scenerie, aber doch ebenfalls auf intuitive Ansätze zu typischer Charakteristik hingewiesen. Bezeichnend tritt, am Schluß ausdrücklich, Lehre und Sittenpredigt zu der Handlung. Ein ethischer Zug ist in der Entwicklung des deutschen Dramas unverkennbar mächtig.   Die weitere Entwicklung des deutschen Lustspiels wird zunächst durch das Erscheinen der englischen Komödianten beeinflußt. Das komische Volksschauspiel zieht mit den Wandertruppen unstät umher. Unter den uns überlieferten Lustspielen aus der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts zeichnen sich die Stücke des Herzog Heinrich Julius von Braunschweig mehr noch als auf tragischem Gebiete aus. Lebendiger Wirklichkeitssinn und volkstümliche Frische vereint sich in ihm mit den reifsten Ueberlieferungen des humanistischen und englischen Dramas.   Auch Andreas Gryph bewahrt im Lustspiel einen frischeren, volkstümlicheren Zug als im Trauerspiel, bleibt überdies ebenso wenig von mittelbarem englischen Einfluß frei. Gryphs Scherzspiel „Die geliebte Dornrose“ ist in das „Verliebte Gespenste“ verflochten: dergestalt daß jenes Scherzspiel ein bäurisches Gegenstück zu dem Gesangspiel der Gebildeten darstellt. Mit der Episode in Shakespeares „Sommernachtstraum“ hängt „Peter Squenz“ zusammen, auch wieder ein parodisches Gegenbild zur ernsten Dramatik. Reminiscenzen aus dem römischen, neu=italienischen, französischen und englischen Lustspiel verarbeitet mit selbständigen Beobachtungen aus dem Leben der „Horribilicribrifax“. Der Großsprecher und andre Typen sind anschaulich vergegenwärtigt, so daß die Komik hier zum guten teil aus dem Charakter fließt.   Eine selbständige singularisierende Narrenfigur hat die deutsche Bühne nicht eigentlich ausgebildet, wennschon es nicht an Narrentypen im Volksleben fehlt. Wohl aber wurde unter Einfluß des englischen, holländischen und italienisch=französischen Theaters der Typus des Clown, Pickelhäring und des Harlequin übernommen. Die Formen des Namens variieren, immer aber scheint es der Geist des Lustspiels selbst gewesen, der sich da verkörpert. Daß es auf ein heiteres Gegenstück zum ernsten Leben abgesehen, läßt sich auch aus der polemischen Erläuterung erkennen, die Heinrich Julius von Braunschweig dieser Figur im Epilog seiner „Susanna“ zuteil werden läßt: „Durch den Narren Johann Clant ist abgemalet die Art aller Spötter und derjenigen, so alles, was gut ist, in argst verkehren, auch aus Gottes Wort ein lauter Gespötte machen, es übel ausdeuten und anders, als es gemeint ist, verstehen wollen.“   Ein deutscher Narrentypus schien sich nun allerdings in Hanswurst auszubilden. Jndessen ist sein Wirkungskreis zeitlich und räumlich ziemlich eng begrenzt. Als beliebter komischer Name für einen der typischen Volksnarren begegnet Hanswurst wohl einige male im 16. und 17. Jahrhundert. Jndes erst Stranitzky in Wien legte diesen Namen dem typischen Spaßvogel der Komödie bei; er kleidet ihn in deutsch=volkstümliches Narrenkostüm und lokalisiert ihn, läßt ihm aber im wesentlichen den Charakter des Arlequin. Das war nicht vor 1708, und schon in den dreißiger Jahren beginnt unter Gottscheds Einfluß seine Zurückdrängung.   Jn Gottscheds Kreisen wird die Einwirkung des klassischen französischen Lustspiels bald durch den Einfluß Holbergs und sodann der neuern Engländer ergänzt. Johann Elias Schlegel vereint bereits alle drei Elemente.   Lessing, der für das tragische Gebiet die Herrschaft des französischen Klassizismus auf der deutschen Bühne stürzt, um Shakespeares Einfluß zu begründen, verhält sich in der Hamburgischen Dramaturgie gegen das französische Lustspiel tolerant. Seine Jugendstücke gehen von der römischen Komödie aus. Noch die Technik seiner „Minna von Barnhelm“ schließt sich an das klassische französische Lustspiel an. Ersichtlich herrscht die Jntrigue. Und doch entfaltet Lessings komisches Meisterwerk eine Fülle von lebensechten Charakteren aus dem eigenen Volke und der eigenen Zeit, keine bloß typischen Verkörperungen von Einzeleigenschaften, sondern mit individuellen Zügen ausgestattete Menschen. Tritt er somit dem Stil Shakespeares in dem, was das Wesentliche ist, dennoch bis zum gewissen Grade nahe, so schreitet er durch unmittelbaren Anschluß an das wirkliche Leben, da wo es nationale Bedeutung hat, sogar über den novellistischen Grundzug des Shakespeareschen Lustspiels hinaus und berührt sich insofern mit Aristophanes.   Ein Zurückgreifen auf den antiken Klassiker auch im Stil führte Goethe nur zu Kleinwerken. Bedeutsamer für die Entwicklung des deutschen Lustspiels wird Goethes Jugendgenosse Lenz, der, von Shakespeare ausgehend, selbständige Ansätze zum Sittenlustspiel aus dem deutschen Leben nimmt.   Mit voller Entschiedenheit hat erst Heinrich von Kleist den Stil germanischer Charakterkomik durchgeführt. Sein „Zerbrochener Krug“ steht dem Stil der niederländischen Genremalerei mit ihrer eindringenden komischen Charakteristik am nächsten. Lauter komische Jndividualitäten treten sich gegenüber. Das Prinzip des Gegensatzes als Grundlage der heitern Wirkung bewährt sich hier durchgehends. Auf ihm beruht auch der Hauptkonflikt, daß der Richter selbst zum Angeklagten wird. Wie dieser Hauptcharakter die Situation beherrscht, so wird die Handlung durchaus von dem Jneinanderwirken der Charaktere bestimmt. Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.   Schön ist der komische Held und seine Sphäre weder im ästhetischen noch im ethischen Sinne: im Gegenteil fordern gerade seine verstümmelte Erscheinung und seine alles eher als sauberen Absichten unsere Heiterkeit heraus. Wodurch? Durch die komische Beleuchtung, in die sie gerückt sind, durch Herauskehren des Gegensatzes, in welchem sie zu allem stehen, was wir gerade von der richterlichen Respektsperson erwarten müßten. Allerdings hat somit die Kunst einen Wandel unserer Stimmung bewirkt: was uns als Rohstoff im Leben ärgern und abstoßen würde, entlockt uns nun Heiterkeit, weil die komische Kunst uns zeigt, eine wie närrische Seite sich dem ganzen Charakter abgewinnen läßt. Und reine Heiterkeit stimmt das Gemüt lauterer als jeder Affekt des Aergers oder Ekels. § 92. Wesen und Wirkung des Lustspiels.   Das Lustspiel nimmt also von seinen Anfängen bis zu seinem Gipfel das Leben von der heitern Seite, geht auf ein Gegenstück zur ernsten Hinnahme des Menschen und seines Treibens aus. Wie das Weltleid in uns Wehmut ansammelt, die im Trauerspiel zu einer von Unlust freien Entladung gebracht wird, so kommt das Lustspiel dem Bedürfnis entgegen, uns den Ernst des Lebens durch Flucht in seine heiteren Begleiterscheinungen zu erleichtern. Eine von aller Unlust, von allem im Leben damit verbundenen Aergernis befreite Entladung dieses uns innewohnenden Lachreizes, ein Ausleben unseres Frohsinns bewirkt das Lustspiel.   Noch hinter vollendet epischem Wesen bleibt die Komik zurück, solange sie im bloßen Wortwitz und in Lächerlichkeit der äußern Erscheinung besteht. Mit dem Situationswitz und der komischen Jntrigue hält sich das Lustspiel noch immer in epischen Banden. Komische Masken und selbst typische Charaktere bilden nur primitivere Ansätze zur Charakterkomik. Die individuelle Ausgestaltung der Charaktere, die Einführung ganzer Menschen mit ihrem komplizierten Seelenleben giebt dem Lustspiel das vollendete Wesen heiterer Lebensauffassung. Jhren Gipfel erreicht diese vollständige Auffassung des Lebens von der heitern Seite, dieser Blick auf die Kehrseite der Medaille, mit der Herrschaft des Charakters über sein Schicksal, mit der Zurückführung der heiteren Geschehnisse auf die heiteren Seiten des Menschentums. Das Seelenleben des Dichters. § 93. Die Erfahrung über die Dichterseele.   Die Werke der Dichtkunst ließen wir für sich selbst sprechen, um durch Jnduktion das Wesen der poetischen Gattungen zu bestimmen. Es liegt nahe, ähnlich die Funktion des Dichters, die Beschaffenheit der Dichterseele zu bestimmen, indem man die Dichter selbst befragt. Hier, scheint es, fließt das Material für eine Betrachtungsweise, die sich wie die unsere auf Zeugnisse stützt, in reicher Fülle. Selbstgeständnisse, Tagebücher, Briefe, Gespräche sammelt man seit mehr als einem Jahrhundert mit übermäßigem Eifer.   Zunächst hebt nun aber solch Verfahren mannigfache Züge hervor, die bestenfalls subjektive Begleiterscheinungen der Dichtergabe, nicht das Wesen, die ausschlaggebende Voraussetzung des dichterischen Prozesses darstellen. Ueberdies bleiben diese Zeugnisse fast ausschließlich auf die neuere und neueste Zeit beschränkt und führen in ihrer zusammenhangslosen Nebeneinanderstellung zu keinerlei allgemeingültigem Ergebnis. Jst vor allem der Dichter selbst wirklich der objektive Gegenstand, sein Selbstgeständnis das objektive Material induktiver Erfahrung über die Dichterseele, über den Jnbegriff der Dichtergabe? Vielmehr gelangt auch er nicht über den Charakter des subjektiven Zeugen hinaus, sein Zeugnis stellt immer bis zum gewissen Grade eine Reflexion über sein Wesen, nicht dieses selbst dar; und so gewiß seine unbewußten Offenbarungen der Prüfung wert erscheinen, bleibt der Mensch doch immer der verdächtigste Zeuge über sich selbst.   Welche objektiven Maßstäbe bieten sich nun zur Erkenntnis der Dichterseele dar? Keine andern, als wiederum die dichterischen Werke. Jhre Eigenschaften postulieren bestimmte Anlagen und Fähigkeiten ihres Schöpfers; ihr Abstand von den andern Formen menschlicher Rede läßt die charakteristischen Elemente der Dichterseele im Unterschied von dem gewöhnlichen Menschengeist als Voraussetzung erkennen. Auch gestatten diese dichterischen Werke in ihrer umfangreichen Entwicklung ein zusammenhängendes geschichtliches Jneinandergreifen des Erfahrungsmaterials. Nicht länger sind wir auf Erfahrungen aus den vorgeschrittenen letzten Jahrhunderten eingeschränkt: an der Hand ihrer Aeußerungen können wir die allmähliche Ausbildung und Vervollkommnung der dichterischen Funktion belauschen. Jst diese Untersuchung in mancher Hinsicht rekapitulierend, so gilt es nunmehr die Anwendung unserer Erkenntnis der Schöpfungen auf die Beschaffenheit des Schöpfers. § 94. Die Voraussetzungen des dichterischen Schaffens.   Treten wir an die älteste Stätte heran, die uns einen Dichter darbietet, so treffen wir den Menschen gegenüber der Gottheit, genauer gegenüber der vergöttlichten Natur, durch deren überragende Größe sein Gemüt getroffen, zu Furcht, Ehrfurcht, Bewunderung, Anbetung hingerissen wird.   Tausende um den Dichter herum gehen in dumpfem Sinnentrieb stumpf vorüber: der Dichter fühlt sich von dem gewaltigen Schauspiel der Natur zum Schauen herausgefordert, von dem Geschauten gefesselt. Stark ausgeprägtes Anschauungsvermögen lernen wir damit als erste Grundlage dichterischer Thätigkeit kennen.   Aber nicht nur das Auge und die andern äußern Sinne erfahren starke Eindrücke: des Dichters Seele fühlt sich ergriffen, in ihren Grundfesten aufgewühlt, aufs tiefste erschüttert. Mag sich schon die niedrigste Stufe des Gefühlseindrucks, die Furcht, auch in dem Durchschnittsmenschen leise regen ─ sie wird ihn zu scheuem Beiseiteschleichen veranlassen, zu geflissentlichem Abwenden von der Anschauung: nur der Dichter, der immer weiter, immer tiefer schaut, wird von immer weiteren, immer tieferen Empfindungen bestürmt. Mit dem stark ausgeprägten Anschauungsvermögen verbindet sich von vorn herein im Dichter ein leicht erregbares Gefühlsleben.   Auch potenziertes Anschauungsvermögen und Gefühlsleben würden nicht hinreichen, um ein dichterisches Werk zu vollbringen. Seien Anschauung und Empfindung des Einzelnen noch so lebhaft, sie blieben der Menschheit verloren, vermöchte der Dichter nicht, sie auszusprechen. Jhm, dem einen, der da singt von seinem Hingerissensein, ihm „gab ein Gott, zu sagen “, was er empfindet. Das Anschauungsvermögen ward lebhaft herausgefordert, die Anschauung wirkte energisch auf das Gefühl, das lebhafte Gefühl drängt nach energischem Ausdruck. Das seelische Verarbeiten der Anschauung mündet in eine möglichst gleich lebhafte Wiedergabe: zu den Vorbedingungen des dichterischen Prozesses tritt schließlich Fähigkeit zur Reproduktion des Geschauten und Empfundenen durch die artikulierte Sprache.   Potenzierte Energie der Anschauung, der Empfindung und des Ausdrucks, wie sie sich schon auf primitiver Stufe der Poesie als Grundlagen des dichterischen Schaffens erweisen, bleiben fortgesetzt die wesentlichsten Charakteristika der Dichterseele, wennschon sie sich nicht immer mit gleicher Klarheit und Ausschließlichkeit in den Vordergrund drängen. Jn welchen Umkleidungen und Mischungen sie uns aber auch weiterhin entgegentreten werden, eine entscheidende Rolle spielen dauernd die lebhafte Anschauung bestimmter Gegenstände, ihr lebhafter Eindruck auf das Gemüt und ihre entsprechend temperamentvolle Wiedergabe. § 95. Das Eingreifen der dichterischen Phantasie.   Um die ganze Fülle der im dichterischen Prozeß zusammenwirkenden Funktionen zu umspannen, müssen wir alsbald mit der Thatsache rechnen, daß schon die mythische Dichtung die Naturerscheinungen nicht als Mechanismus hinnimmt, sondern als lebendigen Organismus ausgestaltet. Die Sonne, die Nacht, den Wind, das Meer faßt der Dichter als beseelte höhere Wesen auf: die ganze Mythenschöpfung ist ein zwar unbewußtes, doch erfinderisches Spiel der Phantasie.   Die Anschauung vermittelt nur die äußere Gestalt und Bewegung der Naturkörper und Naturerscheinungen. Von dieser Gestalt und Bewegung wird auch noch der Eindruck auf das Gemüt bestimmt. Jndem aber der Dichtergeist diesen zu ergründen sucht, wird sein Vorstellungsvermögen, eben die Phantasie, herausgefordert. Sie nun überträgt aus der zunächst vertrauten organischen Welt, aus dem menschlichen und tierischen Bereich, die vertrauten Vorstellungen auf die unbekannte Welt. Aus der Wirkung wird auf die Kraft geschlossen, entsprechende menschliche und tierische Eigenschaften werden allen Naturerscheinungen je nach verwandter Wirkung beigelegt. So bekundet sich die Phantasie in ihrer vollen Lebhaftigkeit durch ununterbrochene Jdeenassoziation.   Schon hier wird klar, daß die dichterische Erfindung keine Schöpfung aus dem Nichts bedeutet, sondern eine freie, zunächst sich aber ihrer Freiheit nicht einmal bewußte Kombination vorhandener Thatsachen.   Scheinbar tritt uns mit der heroischen Epoche der Sänger in einer neuen Funktion entgegen. Er berichtet über die Thaten von Helden der Vorzeit nach der ihm gewordenen Ueberlieferung, wie sie sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt. Stark ausgebildetes Erinnerungsvermögen gesellt sich danach den dichterischen Funktionen hinzu. Jndes darf in einer durch die Oberfläche zum Kern vordringenden Kunstlehre dies Erinnerungsvermögen keineswegs nur in dem äußerlichen Sinne eines guten Gedächtnisses Raum beanspruchen. Weit hinaus über die Bewahrung des bloßen Stoffes hat der Dichter Vorstellungen, Gestalten, Erinnerungsbilder zu bewahren, demnach die Anschauung, die seine Phantasie mit dem überlieferten Stoff verbunden hat. Wo die unmittelbar wirkliche Anschauung fehlt, erwirbt die Phantasie eine mittelbare Anschauung durch Uebertragung und Ausgestaltung von Erinnerungsbildern aus den verwandten Bereichen der unmittelbaren Erfahrung.   Auch im einzelnen bleibt der Jnhalt der Ueberlieferung keineswegs starr und unverändert. Durch unbewußte Kombination greift eine andauernde Umbildung ein. Vor allem fühlt sich die Phantasie zur Ausfüllung von Lücken herausgefordert. Eine Kampfepisode sei noch so vollkommen ausgeführt: vielleicht ist die Rüstung eines Kämpfers nicht eingehend beschrieben, und unbewußt übernimmt der Dichter solche Schilderung aus anderweitiger unmittelbaren oder durch eine anderweitige Darstellung vermittelten Anschauung; oder er verwechselt ähnliche. Weitere Kombination geschieht durch mißverstehende, weil zunächst unbeabsichtigte Verschiebung und Vermischung von verwandten Ereignissen und Personen oder selbst von Personen mit verwandtem Namen.   Bei alledem bleibt die Anschauung eine wesentliche Stütze der Erinnerung bei ihrer Reproduktions- und Assoziationsthätigkeit: die selbst geschauten Kämpfe, die selbst geschauten Helden bilden den Nährboden für das freie Spiel der Phantasie.   Man hat diese Freiheit dichterischer Jdeenassoziation mit dem Traum verglichen und sogar auf Berührung mit dem Wahnsinn hingewiesen. Treffend begrenzt aber bereits Wilhelm Dilthey: „Diese Verwandtschaft entsteht aus der Abwesenheit der Bedingungen, die sonst Vorstellungen regulieren; jedoch wird sie in dem Träumenden, dem Jrren oder Hypnotischen durch Ursachen ganz andrer Art hervorgebracht, als in dem Künstler oder Dichter; dort ist der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens gemindert, hier wird seine ganze Energie in der Richtung freien Schaffens verwandt.“ ─ Ja, es leuchtet ein, daß die scheinbare Berührung in Wirklichkeit vielmehr auf einen Gegensatz hinausläuft: der träumende Geist kombiniert willenlos Erinnerungsbilder unter vorübergehender Einschläferung des regulierenden Verstandes; der irre Geist kombiniert Erinnerungsbilder mit teilweise beschränkter Willenskraft unter krankhafter Störung des regulierenden Verstandes; wohingegen der geniale Geist, die dichterische Phantasie, die real nicht zusammenhängenden Erinnerungsbilder mit einer aufs äußerste gesteigerten, nur zunächst unbewußten Energie der Willenskraft und voller, nur unbewußter Wirksamkeit des regulierenden Verstandes kombiniert.   Eine anderweitige „Berührung“ zwischen Genie und Wahnsinn hat man aus dem häufigen Auftreten geistiger Störungen in genialen Familien entnehmen wollen. Teilweise verhalten sich aber auch nach dieser Richtung Genie und Wahnsinn wie äußerste Energie des Geistes und seine äußerste Erschöpfung, die sich ja gewiß „berühren“, aber in jenem eigentlichen Sinne, in welchem sich die Extreme berühren, wie Licht und Schatten. Zum andern teil ─ und in solcher Tendenz kann allein von innerer Berührung oder gar Verwandtschaft die Rede sein ─ wird die Energie der dichterischen Phantasie in manchen Genies derart potenziert, daß sie den an sich schon unbewußt wirkenden Verstand und jede Rücksicht auf reale Möglichkeit zurückdrängt, unterdrückt: das wäre der Punkt, auf welchem die dichterische Phantasie an die irre streift, oder gar in sie übergeht. § 96. Die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes.   Trotzdem somit von früher Zeit verschiedene bedeutsame Kräfte in äußerster Anspannung zum dichterischen Prozeß zusammenwirken, verharrt er vorerst in einer unverkennbaren Einförmigkeit. Wir brauchen uns nur den Stil der ältesten erreichbaren Poesie zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, mit wie wenigen und einfachen Mitteln der Dichtergeist zunächst operiert.   Der unmittelbaren, dauernden Anschauung am nächsten halten sich die stehenden Beiwörter, jene attributiven Bestimmungen, welche die fortgesetzte Handlung mit Vorliebe in partizipialer Form festhalten. Schon die Auflösung dieser Attribute in aussagende Sätze schreitet zur Singularisierung, zur Umsetzung der dauernden Anschauung in einmalige Handlung, vor. Die Einförmigkeit geht so weit, daß die Beiwörter zunächst typisch, für alle Götter, für alle Helden, für alle Gegenstände derselben Vorstellungsgruppe gleichmäßig verwendet werden. Erst später greift eine Differenzierung platz, nicht einmal vorherrschend nach dem Charakter, oft nur nach einem äußeren Kennzeichen oder doch einer hervorstechenden Einzelleistung. Auch diese singulären Beiwörter bleiben in der ganzen Jugendepoche der Poesie an ihren Trägern in jeder Lage, selbst in der ausgeprägt heterogenen, haften.   Nicht minder bezeugen die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes all die zahllosen formelhaften Elemente, die wir in der frühen Poesie jedes Volkes fanden. Jn dieselbe Kategorie gehören offenbar noch die typischen Bilder und Vergleiche für die wiederkehrenden Lieblingsgegenstände der mythischen und heroischen Poesie, wie für Kampf, Rüstung u. dgl. Noch fehlt es dem reproduzierenden Geiste an Mannigfaltigkeit und feinerer Differenzierung der Vorstellungen, noch wirken sie ersichtlich roh, in Bausch und Bogen auf ihn ein.   Schließlich äußert sich auch in der lakonischen, sprunghaften Art der Darstellung ein ursprünglicher Mangel an Reichtum und Fülle der Dichterseele. Die Phantasie fühlt sich angeregt, ohne Fähigkeit zu vollendeter Reproduktion. So werden die Umrisse der Anschauung rein thatsächlich vom Dichtergeist aufgefangen und wiedergegeben.   Zu einem Angelpunkt kehrt die Darstellung immer wieder zurück. Das Vorschreiten des dichterischen Bildens geschieht denn auch zunächst durch Aneinanderreihung kräftiger Einzelstriche in immer neuen Ansätzen. Aus der Einförmigkeit erwachsen vorerst nur immer weitere Spiegelungen. Die primitivste Form der Variation bekundet sich in paariger Zusammenordnung verwandter Begriffe. Jndem diese durch Allitteration oder Assonanz gebunden sind, lassen sie noch erkennen, wie der Dichtergeist beidemal von demselben Motiv und Grundklang ausgegangen, aber zu einer leisen, zunächst nur dualen Zerlegung in variierende Elemente vorgeschritten ist.   Wesentlich dieselbe Figur, dieselbe aus ihrem primitiven Andeutungsverfahren herausstrebende Form des Dichtergeistes liegt dem alten Parallelismus des Satzbaus zugrunde. Wiederum vermag die jugendliche, unausgebildete Dichterkraft nur stoßweise zu reproduzieren, die Mannigfaltigkeit der angeschauten Objekte noch nicht sowohl in ihrer einheitlichen Struktur, als nur in Neben- und Aneinanderreihung von Einzelstrichen wiederzugeben. So weist der Dichtergeist zuerst nur auf den Gegenstand hin, um das Bild allmählich gliedweise zu erweitern.   Geschieht doch nicht anders als in solcher reduplizierenden Art das primitive Vorschreiten der Sprachbildung. Neben der Wiederholung spielt auch hierbei das onomatopöetische Verfahren eine Rolle. Evident wird die Berührung, wo die mehrfach gesetzten Elemente durch Ablaut differenziert werden. Schon Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte“ weisen auf die Verwandtschaft von Bildungen wie schnickschnack, ticktack mit Verbindungen mehrerer nur durch den Vokalismus verschiedener Schallwörter hin, wie flimmen und flammen, klippen und klappen, knistern und knastern. § 97. Die unbewußte Freiheit des Dichtergeistes.   Der Eindruck der Anschauung ist, wie wir schon am Beginn unserer Untersuchungen erfuhren, zunächst durchaus düster und erhaben. Das Erhabene ist das Gefühl, einem Ueberragenden gegenüberzustehen. Als ursprüngliche Aeußerungsform dieser Anschauung des Ueberragenden lernten wir soeben die Furcht kennen. Thatsächlich lebt noch ein Bodensatz von Unlust in jeder Empfindung des Erhabenen, solange wir nur des Abstandes unserer Winzigkeit von dem überragenden Gegenstand der Anschauung gedenken, solange wir nicht beflissen sind, diese Winzigkeit zu überwinden. Erst der Künstler ist es, der sich zu der Höhe des erhabenen Objektes geistig zu erheben sucht und so anstelle des dumpfen Empfindens unserer Niedrigkeit den beflügelnden Trieb zum Aufschwung setzt.   Nicht anders steht es um jedes Unlustgefühl, das der Rohstoff erweckt. Die Dichterseele findet eine höhere, objektivere Anschauungsform, die sich auch über das neben uns Stehende erhebt. Nicht länger sieht sie den widrigen Gegenstand sich feindlich oder schädlich oder auch nur unangenehm gegenüber: sie überwindet Angst und Aerger des Jrdischen, indem sie nicht sowohl an diesem Rohstoff haften bleibt als vielmehr ihn mit kühnem Flug der Phantasie überfliegt und von dieser Sonnenhöhe aus die Dinge der Alltagswelt beleuchtet. § 98. Die bewußte Freiheit des Dichtergeistes.   Diese Freiheit des dichterischen Geistes von den Fesseln des Objektes bekundet nächst der Erhebung zum Ueberragenden die Erhebung über das gleichgestellte Objekt. Solange der Dichter bei alledem rein objektiv gestaltet, zeigt er den Stoff unbewußt aus der höheren Perspektive, in dem strahlenden Licht seines Geistes.   Erst das bewußte Hineintragen der eigenen Jndividualität veranlaßt den Dichter, neben die Wiedergabe der Gegenstände seine Empfindungen für dieselben zu stellen. So hat er sich über sein eigenes Gefühl klar zu werden, sein eigenes Urteil zu erfragen; mit andern Worten: die Dichterseele beginnt nun zu reflektieren. Je reicher des Dichters Seelenleben, desto voller seine Poesie.   Mit solcher Reflexion über die Erscheinungen der Außenwelt, alsdann über die eigene Jnnenwelt, setzt er aber zunächst wie selbstverständlich voraus, daß er Allgemeingiltiges fühlt und ausspricht. Eines Gegensatzes zu möglichen andern Auffassungen ist er sich noch keineswegs bewußt. Er fühlt sich als objektiver Geist.   Aber es greift nun die bewußte Arbeit der souveränen Phantasie ein. Schon äußerlich im Stoff. Bislang glaubte ihn jeder Sänger, bei allen unbewußten Umbildungen, getreu nach den Thatsachen vorzutragen. Wir wissen, daß in Deutschland noch um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts die „Erfinder wilder Märe“, d. h. Dichter, die sich dem Verdacht willkürlicher, selbständiger Erfindung aussetzten, geächtet oder doch gescholten wurden.   Bewußte Arbeit wird weiterhin sogar die Darstellung der Thatsachen. Nicht genug an der Thatsächlichkeit der Erscheinungen, greift psychologische Motivierung platz: der Dichtergeist versenkt sich in den ─ freilich noch nicht in voller Jndividualität erfaßten ─ Geist seiner Gestalten, um ihre Handlungen zu begreifen, zu erläutern. Nicht genug an der äußern Anschauung, sucht die Dichterseele nun eine innere Anschauung zu gewinnen. Zunächst gelingt dem Dichter dies nur in allgemeiner Form, indem er aus seinem eigenen Kopfe das Maß der Dinge nimmt, ohne zu ahnen, daß sie „nur sich selber richten“. Wenn wir dieses Erwachen der Reflexion in Gnomik und andre didaktische Tendenzen münden sehen, so hat der allgemeingültige Zug der vorläufigen Seelenbeobachtungen sein natürliches Ziel gefunden.   Eine unvergleichlich bedeutsame Bereicherung der Dichterseele hat sich gleichwohl mit dieser Vergeistigung angebahnt. Die Entdeckung und schrankenlose Entfaltung der Jnnenwelt durchbrach die Starrheit und Aeußerlichkeit in der Auffassung menschlicher Handlungen, gab zunächst und vor allem der dichterischen Anschauung neben der Außenwelt auch die Jnnenwelt zu eigen. Eine immer weiter greifende Vergeistigung der Außenwelt einerseits, eine merkliche Erweichung und Vertiefung des eigenen dichterischen Empfindungslebens andererseits ist die Folge. Wiederum ist der Dichter derjenige, der diese geistigen Errungenschaften zwar der ganzen Menschheit vermittelt, selbst aber allein der schöpferische Geist bleibt, der immer neue Regionen des menschlichen Herzens entdeckt, ja vorerst mit der stärkeren Energie seines Gefühlslebens immer neue, feinere Nüanzen der Empfindung in sich ausbildet. § 99. Der individuelle Geist.   Noch heute gelangen manche, nur lyrisch begabte Dichter nicht über die Versenkung in den eigenen Busen und Uebertragung ihrer eigenen Empfindungswelt auf die ganze Außenwelt hinaus. Einen weiteren Schritt in der Entwicklung der Dichterseele bedeutet es offenbar, wenn sie sich ihres Gegensatzes zu andern Subjekten bewußt wird, wenn sie die Vielgestaltigkeit der menschlichen Charaktere erkennt. Erst jetzt geht ihr das Gesetz der Jndividualitäten auf, die Ahnung völlig verschiedenartiger Bestimmungsgründe für die Handlungen der Einzelwesen. Wie sich des Dichters Geist eine energische Anschauung der Außenwelt, alsdann seiner eigenen Jnnenwelt errungen, strebt er nun in die Geheimnisse einzudringen, welche die Brust der ganzen Menschheit birgt.   Auch diese bereichernde Erkenntnis erwirbt der Dichter natürlich nicht durch schematische Berechnung ohne Erfahrungsunterlage, sondern wiederum durch Anschauung, durch einen tiefer wühlenden Blick, dessen Ergebnisse alsdann eine Kette von Jdeenassoziationen anspinnen.   Weiß man von jemand, er sei geizig, weiß man es nur aus einer Situation, in der man ihn beobachtete, so vermag der einigermaßen rege Geist zu erraten oder vielmehr zu übertragen, wie dieselbe Person sich in andern Situationen benimmt, wo dieselbe Schwäche herausgefordert wird. Hat die potenziert lebhafte Anschauungs= und Assoziationsgabe des Dichters also sämtliche hervorstechenden Eigenschaften eines Menschen beobachtet, so vermag sie ein volles Menschenleben in dieser Gestalt zu verkörpern. Goethe bemerkt denn auch: „Wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was diese Heilige nicht aussprechen möchte.“   Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.   Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuition bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt. § 100. Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.   Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte bedacht.   Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände seiner dichterischen Anschauung hinein.   Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten, um sie in die volle Beleuchtung ihres mannigfach geschliffenen Seelenspiegels zu rücken.   Bedenklicher ist, daß der Grundtrieb der Poesie, die Erhebung der Gefühle, nachdem sich die Dichterkraft ihrer selbst bewußt geworden, zu Zeiten geflissentlich potenziert wird. Anstelle des heiligen Ernstes tritt alsdann auch sonst leicht virtuoses Spiel: der Dichter wirbt um Bewunderung nicht mehr für seinen Helden, sondern für sich selbst. ─   Der Erfindung des Dichters, der Erdichtung im engern Sinne, ist schließlich das weiteste Feld geöffnet. Er „saugt nichts aus den Fingern“: durch Energie von Anschauung und Empfindung, durch phantasievolle Ausgestaltung unter unbewußter und nun auch bewußter Assoziation, durch Reflexion, Jntuition und Divination rückt er die Stoffelemente seiner Dichtung in einen neuen Zusammenhang, in ein neues Licht. Das ganze Reich der Erfahrung, das äußere und innere Leben, ist seine Schatzkammer.   Die Lebenswahrheit ist darum keineswegs in dem Sinne sein Α und Ω , daß er über den Mechanismus der Erscheinungen nicht hinausgehen wolle, oder daß er das Leben von der rein alltäglichen Seite aufzufassen strebe: vielmehr nur in dem ungleich weitherzigeren Sinne, daß er keine Gefühle erheucheln oder erkünsteln mag, nur so singt, darstellt, wie sich wirklich Welt und Seele in seinem Geiste spiegeln. ─   Leicht wird es nach alledem sein, die historisch erwachsenen dichterischen Fähigkeiten in der voll auf der Höhe stehenden heutigen Dichterseele beisammen zu finden. Der Dichter tritt uns heute als souveräner Herrscher im Reiche der Erscheinungen und der Geister entgegen. „Jhm gaben die Götter das reine Gemüt, Wo die Welt sich, die ewige, spiegelt; Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht Und was uns die Zukunft versiegelt; Er saß in der Götter urältestem Rat Und behorchte der Dinge geheimste Saat.“ § 101. Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes.   Objektive Zeugnisse über die Beschaffenheit der Dichterseele treten schließlich in der spezifisch poetischen Ausdrucksform hervor. Auch diese ist von unmittelbarerer Beweiskraft als beliebige Gelegenheitsanmerkungen von Dichtern über sich selbst. Als äußere Einführung in die Erscheinung, um die es sich hier handelt, sind einzelne solcher Geständnisse und Charakterisierungen gewiß von Wert.   So überliefert Johann Christian Kestner über den jungen Goethe von 1772: „Er ... besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.“ Es kommt im Grunde auf dasselbe hinaus, wenn Heinrich von Kleist mit Bewußtsein sich für das schriftstellerische Fach ausbildet, indem er sich ein Magazin von Jdeen und Bildern anlegt, auch seiner Braut Anleitung zur Bildersprache giebt: „Bei jedem ... interessanten Gedanken müßtest du immer fragen, entweder: wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht? oder: was hat das für eine Aehnlichkeit, wenn man es mit dem Menschen vergleicht?“ Ferner: „Sehen und hören &c. können alle Menschen, aber wahrnehmen, d. h. mit der Seele den Eindruck der Sinne auffassen und denken, das können bei weitem nicht alle.“ Mit ähnlichem Bewußtsein gedenkt Herder seines Jugendlandes, wo er   „unter dichten Bäumen Jn der Muse sel'gem Träumen Wahrheit suchte, Bilder fand.“ Weit verbreitet und herrschend ist nun freilich die Auffassung der Bilder und sonstigen poetischen Figuren als eines äußeren Schmuckes der Rede. Jn unserm Zusammenhang erscheinen sie dagegen von vorn herein als natürliche Ausdrucksformen des dichterischen Denkens. Auch der vorgeschrittenste Poetiker, Wilhelm Dilthey, erfaßt diese äußern Bilder bereits in ihrem Zusammenhang mit den innern Zuständen des Dichtergeistes. Für uns wird es gelten, die Erscheinung im einzelnen thatsächlich zu erkennen und so weit möglich geschichtlich zu beleuchten. § 102. Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen.   Schon in der Sprachschöpfung zeigt sich der sinnfällige Trieb des Menschengeistes mächtig. Müssen wir doch auch in ihr immer unbewußte Schöpfungen von Einzelmenschen annehmen, zu dem Zwecke, Eindrücke wiederzugeben. Unbewußt zunächst sucht ebenso der Dichter seine Eindrücke zu veranschaulichen, nur daß in ihm der plastische Blick und Trieb, die Gestaltungsgabe in potenziertem Grade mächtig ist.   Schon die Epitheta heben ein besonders eindrucksvolles Merkmal des Nomen ausschließlich hervor.   Das was die Antiken Metonymie nannten, die Heraushebung eines augenfälligen Kennzeichens, begegnet schon in der altindischen Poesie. Vor allem schwelgt in derartigen Vorstellungen die altnordische und angelsächsische Poesie; geht doch die auffällige Erscheinung der Kenningar auf diese Vorstellung zurück.   Spärlicher wächst die Verwendung in deutscher Sprache an. Jmmerhin begegnen solche ausdrückliche Umnennungen des Nomen sofort im Hildebrandslied gegen Schluß des Fragmentes mehrfach: „dô lættun sê ærist asckim scrîtan “ ─ die Eschen statt der daraus gefertigten Lanzen. Aehnlich: „unti im iro lintûn luttilo wurtun “ ─ die Linden statt der daraus gefertigten Schilde.   Jm Muspilli steht wiederholt das Pech, das in der Hölle brennt, für die Hölle selbst. Aus dem Nibelungenlied ist an Wendungen zu denken wie des Schildes Rand für den Schild: „Si hiez ir ze strîte bringen ir gewant, ein brünne von golde und einen guoten schildes rant “ ... „dô kom ir gesinde und truogen dar zehant von alrôtem golde einen schildes rant mit stâlherten spangen, michel unde breit, dar under spilen wolde diu vil minneclîche meit.“ Wie fast die gesamte Terminologie antiker Rhetoriker, haftet auch die übliche Benennung dieser Erscheinung am Aeußerlichen: Metonymie d. i. Umnennung. Jn Wirklichkeit handelt es sich immer um das Auffangen des sinnlich ergiebigsten Momentes im Begriff: daher das Wesentliche, das Markante oder doch ein besonders augenfälliger Teil des zu bezeichnenden Gegenstandes herausgehoben wird. Es ist im Prinzip keine andere Wendung als die uns immer in der alten liedartigen Dichtung entgegentrat, indem statt des handelnden Menschen das besondere Organ der Thätigkeit bezeichnet wird: „ der dâhte im eine werben des künic Gunthers muot “, „daz sol helfen prüeven iwer edeliu hant “ u. dgl., nur daß sich die Anschaulichkeit des Dichtergeistes nicht mit diesem unmittelbar gegebenen, von selbst hervortretenden Hauptmoment begnügt, vielmehr eigenmächtig mit eindringendem Blick einen möglichst plastischen Einzelzug herausschält. Der unbewußte Trieb des Dichtergeistes, allem die anschaulichste Seite abzugewinnen, läßt namentlich Ursache und Wirkung einander ersetzen, um die lebendigste Vorstellung zu gewinnen oder doch eindringlicher zu schauen als es unter den gewöhnlichen, abgeschliffenen Begriffen geschieht. Vor allem tritt gern ein sinnfälliges Merkmal für einen Zustand: „Wie sich der rîche betraget! sô dem nôthaften waget dur daz lant der stegereif!“ ─ wo wiederum nicht sowohl der Stegreif selbst als vielmehr die ungewisse, unstete Lebensweise des im Stegreif Sitzenden bezeichnet wird. Jmmer erfaßt das Dichterauge die Objekte an einem besonders anschaulichen Kennzeichen. § 103. Bild und Gleichnis.   Der poetische Ausdruck bleibt nicht an den unmittelbaren Beziehungen des Gegenstandes haften: mehr und mehr überträgt er ihn später sogar in eine andere Sphäre, welche den wesentlichen Begriff reiner und unmittelbarer hervortreten läßt. Wiederum ist diese Erscheinung als Metapher d. i. Uebertragung nur äußerlich gekennzeichnet.   Ein besonders wirksames Mittel bot diese Erscheinung durch Personifikation des Geistigen. So zählt Walther von der Vogelweide drei Schätze auf: „diu zwei sint êre und varnde guot, daz dicke einander schaden tuot; daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde .“ Wie erst Gottes Huld den weltlichen Gütern höheren Wert verleiht, wird durch Vergoldung versinnbildlicht. Nicht minder liegt eine Uebertragung des Geistigen in sinnfälligen Bereich zugrunde, wenn derselbe Sänger die Wendung gebraucht: „ dîn êre zergât “: das Verbum ist es hier, welches die Versinnbildlichung bewirkt. Es wird aber auch Konkretes in ein anderes konkretes Gebiet übertragen, das den maßgebenden Begriff rein herausstellt: „Daz wilt und daz gewürme, die strîtent starke stürme .“ Die stürmische Vorstellung der Kämpfe ist offenbar so eindringlich, daß des Dichters Phantasie wirkliche Stürme zu sehen glaubt. Daß diese Anschauung aus anderem Felde hergeholt, kommt ihm noch garnicht zum Bewußtsein. ─ Mit zunehmender Vergeistigung tritt übrigens auch umgekehrt Abstraktes für Konkretes ein, doch immer so, daß der Hauptbegriff damit schärfer, intensiver gekennzeichnet ist. ─   Diese Bildlichkeit des Ausdrucks bleibt nicht bei einzelnen Worten stehen, gelangt vielmehr in ganzen Sätzen zu umfassender Durchführung. Die volle Uebertragung in die andere, sinnfälligere Vorstellungswelt liegt sogar immer zugrunde und gewinnt denn auch früh vollkommene Ausführung. Wir brauchen uns nur des berühmten Liedes vom Kürenberger zu entsinnen: „Ich zôch mir einen valken“ &c. Der Dichter führt das Bild umfassend durch, berichtet die Zähmung und Ausschmückung, den Vondannenflug und das Wiedersehen des Falken, der in anderm Land mit noch vollerem Schmuck gefesselt ist. Zu dieser vollen bildlichen Anschauung tritt nur in bekannter lyrischen Accentuierung: „got sende si ze samene, die gelieb wellen gerne sîn.“ Es ist wohl beachtenswert, wie dies selbe hier zunächst naiv entfaltete Bild im Nibelungenlied bereits zur Ausdeutung gelangt: „Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man.“ Auch Dietmar von Aist geht von seiner bildlichen Verwendung des Falken schon ausdrücklich zur Kennzeichnung des verglichenen Objektes über: „ Alsô hân auch ich getân.“ Aehnlich begegnet schon beim Kürenberger selbst: „Der tunkele sterne, der birget sich. als tuo du, frouwe schône, sô du sehest mich.“ Reich an bildlichen Vorstellungen ist Walther von der Vogelweide: „Owê, owê, zem dritten wê! ez stuont diu kristenheit mit zühten schône:   Der ist nû ein gift gevallen; ir honec ist worden zeiner gallen. daz wirt der welt her nâch vil leit.“ Mitten unter vorherrschenden Bildern fehlt es ihm nicht an Vergleichen. Diese letzteren bevorzugt das Nibelungenlied.   Sowohl einzelne Begriffe wie ganze Handlungen und Vorstellungsketten werden verglichen, wonach man Vergleiche und Gleichnisse unterscheidet. Da ist ein Saal „von edelem marmelsteine, grüene alsam ein gras “; andere Vergleiche: „ sam vliegende vogele“, „als eines lewen stimme “. Durchgeführt sind Gleichnisse wie: „ alsô der morgenrôt tuot ûz trüeben wolken“, „alsam der süeze meie daz gras mit bluomen tuot “ u. dergl. Doch auch im Nibelungenlied fehlt es nicht an Metaphern: „ êre was dâ gelegen tôt“; „ein tier daz si dâ sluogen “ heißt der auf der Jagd ermordete Siegfried.   Schon in den Veden und der Edda begegnen üppige Gleichnisse. Reich an durchgeführten Gleichnissen erweist sich vor allem auch Homer: „Und sie fanden Odysseus, umringt von erschlagenen Leichen, Ganz mit Blut und Staube besudelt, ähnlich dem Löwen, Der, vom ermordeten Stiere gesättiget, stolz einhergeht; Seine zottichte Brust, und beide Backen des Würgers Triefen von schwarzem Blut, und fürchterlich glühn ihm die Augen: Also war auch Odysseus an Händen und Füßen besudelt.“ Jn gleicher Weise läßt sich aus allen Litteraturen erschließen, auch psychologisch voll begreifen, daß bildliche Auffassung, wahrhaftes bildliches Schauen die natürliche Denkform des Dichters darstellt. Was äußert sich in dieser Form anderes, als jene Anschaulichkeit des Dichtergeistes, die uns schon immer als erste Vorbedingung des künstlerischen Schaffens entgegentrat?   So beschränkt das Erfahrungsmaterial gerade für die ältesten Stadien der Poesie ist, offenbart sich doch gegenüber dem metaphorischen und allegorischen Bild im Vergleich und Gleichnis ersichtlich eine spätere, minder unmittelbare Form dichterischen Ausdrucks: im Vergleich und Gleichnis ist die Uebertragung in eine andere Sphäre bereits zum Bewußtsein gekommen, während der metaphorische Ausdruck von unmittelbarem und naivem bildnerischen Schauen zeugt. § 104. Hyperbeln.   Wie die Bilder aus dem energischen Anschauungsvermögen des Dichtergeistes hervorgehen, äußert sich die Potenzierung seiner Gefühlswelt in der übertreibenden Darstellungsweise.    Superlativen Ausdruck finden wir schon im Hildebrandslied reichlich: „ degano dechisto “, dicht daneben auch sonstige Maßlosigkeit: „ ummett irri “, sowie Verallgemeinerung: „he was eo folches at ente; imo was eo fehta ti leop.“ Zu den ältesten Hyperbeln gehört die Beschreibung eines Ebers in der St. Galler Rhetorik: „imo sint fuoze fuodermâze, imo sint burste ebenhô forste unde zene sîne zwelifelnîge.“   Nichts anderes als eine Uebertreibung in Bezeichnung kleiner Maße ist das, was als Litotes (Geringfügigkeit) besonders bezeichnet wird: „ ich fröuden kranke“, „an werdekeit verzagt “ u. dgl. Wenn es von dem Knaben Parzival heißt: „daz erstracte im sîniu brüstelîn“, so kommt seine zarte Jugend um so schärfer zum Ausdruck.   Das Streben der Dichterseele nach Gefühlssteigerung kommt auch in der Klimax des Ausdrucks zur Geltung, indem vom Nächstliegenden zu immer Ungewöhnlicherem aufgestiegen wird.   Zusammenhängt damit selbst der tautologische Parallelismus des altpoetischen Satzbaus, der sich an Heraushebung der wesentlichen Personen und Gegenstände nimmer genugthun kann, immer signifikantere Begriffserweiterungen heranschleppt.   Aus dem Drang, seine starke Empfindung von einer Handlung entsprechend eindringlich zu vermitteln, entspringt schließlich die Ergänzung des positiven Ausspruchs durch den verneinten Gegensatz: „ Swem sint kunt diu mære, der sol mich niht verdagen, wâ ich den künic vinde, daz sol man mir sagen .“ Auch hier ergiebt sich aus der doppelten Negation, noch dazu neben der positiven Aussage, eine Verstärkung der Forderung. § 105. Der Dichter und das Publikum.   Ein letztes Mittel, das Seelenleben des Dichters zu erkennen, bietet sich in dem Reflex dar, den sein Schaffen in der Seele des Publikums hervorruft.   Auch hier leuchtet ein, wie wenig aus dem Eindruck, den eine heutige Dichtung in uns Heutigen erweckt, allgemeingültige oder überhaupt zulängliche und klare Vorstellungen von der Wirkung erreichbar sind, welche die Dichter zu allen Zeiten auf alle Völker ausgeübt haben. Können wir annehmen, daß in der Seele eines germanischen Urahnen, als er den Sagen und Sängen der „Edda“ lauschte, dasselbe vorging, was wir heute bei „Romeo und Julia“ oder bei „Hermann und Dorothea“ oder auch nur bei derselben „Edda“ empfinden?   Jst die Frage einmal so gestellt, dann ergiebt sich ohne weiteres, daß unsere Untersuchung damit zu beginnen hat, das älteste Publikum, welches nach unserer Kenntnis einem Dichterwerke lauschte, vor unsern Blick zu zaubern: und das ist durchaus nicht so schwierig, wie man zunächst voraussetzen mag.   Auf der ersten Entwicklungsstufe, die geschichtlichem Blick erreichbar ist, finden wir die Poesie mit dem religiösen Opfer verbunden. Der Priester ist der Sänger, die Gemeinde das Publikum. Die Empfindungen beider Teile sind religiös wie der Jnhalt der Gesänge. Der Priester-Sänger will die Herzen der Gemeinde zur Gottheit erheben; und verfehlt er seine Wirkung nicht, so fühlen sich die Herzen der Gemeinde zur Gottheit erhoben.   Die erste Erweiterung gewinnt die Poesie durch Ausbildung des Heroenkultus: nun will sie erzählen „der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung“ (wie es am Anfang der Edda heißt). Damit gesellt der Dichter zu dem religiösen das nationale Element. Die Stammväter des Stammes verherrlicht er, und der Stamm bildet sein Publikum. Der Sänger prätendiert thatsächlich schon seit der ersten Singularisierung der göttlichen Wunder, in vollem, ausschließlichen Umfang nun mit Einkleidung der Sage in den nationalen Vers, Geschichte zu bieten. So empfängt der Geist des Volkes aus der Seele des Dichters zu der Religion auch die ersten geschichtlichen Vorstellungen, d. h. der Mensch fühlt sich nun nicht allein als Wesen im Raum mit der über ihm waltenden Macht, vielmehr auch als Wesen in der Zeit mit den vor ihm dahingeschwundenen Wesen.   Alsdann entfaltet sich das Subjekt des Dichters zu vollem Ausleben und ruft so die Subjektivität, in immer höherem Maße das individuelle Gefühl des Publikums wach. Wenn er durch ein Liebes= oder Naturlied seinem Gefühl für die Geliebte oder die Natur Ausdruck giebt, so weckt er die gleiche Empfindung im Hörer bezw. Leser: auch dieser wird sich jetzt seines Gefühls für die Lieblichkeit des Weibes, für die Wonne des Lenzes bewußt, wird sich desselben bewußt in den Worten des Dichters. Damit hört die Menschheit auf, blos instinktiv und bewußtlos ein Traumleben der Gefühle zu leben; ihrer selbst wird sie sich bewußt, ihr Selbstbewußtsein dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu, „Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit .“ Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen Seele tritt weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der andern. Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.   Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch „daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in andern“ vereint sich zu dem Gefühl, das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung ─ indem sie ihr Pietät und Humanität vermittelte. § 106. Rückblick und Ausblick.   Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie ist vollendet: wir stehen am Ziel.   Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die Menschheit zu streben.   Mag auch unser Volk der Heroenzeit, der eigentlichen Wiege des Epos, entwachsen sein: nicht nur nehmen dauernd jüngere Völker mit ihrem Eintritt in die Geschichte diese sagenbildende Funktion des Menschengeistes auf, wenigstens im poetischen Sinne hat der Heroenkultus auch für uns nicht aufgehört ein unwiderstehlicher Trieb, ein Mittel zu eigenem Aufschwung der Empfindung und Thatkraft zu sein. Auch wächst der Roman, so unerträglich sich gerade in ihm die Mittelmäßigkeit ausbreitet, unter den Händen fähiger Gestaltenschöpfer immer präziser zu einer künstlerisch geschliffenen Form und einem dramatisch lebendigen Charakter an. Jn der Lyrik ist zwar die Vorherrschaft des Liedes eingeschränkt, aber die Vorbedingungen des Volksgesangs bestehen fort, und die Verbreitung neuer sangbarer Produktion ragt relativ in noch höherem Maße als früher weit über die der Buchlyrik hinaus. Auf dramatischem Gebiete schließlich hat gewiß die „Schauspiel“=Fabrikation in bedrohlichem Umfang die reine Tragik wie die reine Komik verwaschen. Verheißungsvoll erscheinen dagegen die Fortbildung der sozialen Tragödie und die immer neuen Ansätze zu künstlerischem Realismus in der historischen Tragödie. Wenn sich das Lustspiel als jüngste und qualitativ ausgebildetste, quantitativ aber vorerst geringste Gattung offenbart, so dürfen wir erwarten, daß gerade seine Blütezeit ─ die, wie wir beobachtet haben, auf den Wegen der individuellen Charakterkomödie zu suchen ist ─ noch bevorsteht. ─   Aber rückwärtsgewandt wie im Laufe unserer ganzen Betrachtung bleibe auch am Schluß unser Blick. Welcher Art war die Entwicklung, die wir in der Geschichte der Poesie walten sahen? Dürfen wir von einer steten Vervollkommnung, von einem Aufstieg in gerader Linie sprechen? Von einem solchen Fortschritt schlechthin, der von unreifen, unzulänglichen Versuchen zu immer reiferen und vollendeteren führt, kann nach den gewonnenen Ergebnissen nicht die Rede sein. Die Fortentwicklung der Poesie geschieht vielmehr durch eine sich verzweigende Sprossenbildung, dergestalt daß der Stamm des menschlichen Geistes immer knospenreicher wird, freilich damit zugleich immer weniger wurzelhaft. Nicht in bloßer Verbesserung, vielmehr in Bereicherung, im Hinzutritt immer neuer Funktionen, besteht diese Vervollkommnung der menschlichen Poesie.   Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf geistiges Gebiet aus dem Wege gingen, um so mehr gereicht es dem Ergebnis unseres Verfahrens zur Bestätigung, daß es in wesentlichen Punkten mit der heutigen naturwissenschaftlichen Kenntnis von der Entwicklung der Arten übereinstimmt. Wie dort physisch die Völkerfamilien sich ausbilden und in neue Bildungen dahinschwinden, so zeigt die Poesie geistiges Blühen und Welken; und jedes jugendfrische Glied in der Kette der Völker durchläuft in seiner geistigen Embryonenzeit mit Sturmschritt die Stufen der Poesie, welche die Menschheit als ganzes im Laufe von Jahrtausenden erstiegen hat: so spiegelt sich dem Wesen nach in jeder nicht anormal beeinflußten Nationalpoesie der große Entwicklungsprozeß der Weltpoesie.   Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten Anfängen erwirbt die Poesie immer durchgeistigtere Ergänzungen. Der Dichtergeist begnügt sich nicht an der Außenwelt der Thatsachen und Erscheinungen, schweift vielmehr siegreich erobernd in die Jnnenwelt: dadurch giebt er sich und der Menschheit zunächst den eigenen Geist, alsdann auch jeden fremden Geist zu eigen und läßt uns in einen Spiegel der ganzen Außen= wie Jnnenwelt schauen.   So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an die Sinnenwelt zu immer vollerer Hingabe an die Geisteswelt und führt damit offenkundig die Menschheit in unendlicher Progression immer näher zu dem, was wir Gottähnlichkeit nennen. Von der Poesie gilt in Wahrheit Rückerts Wort: „Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht. Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht.“   Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser Vergeistigung birgt: verlieren wir den physischen Boden unter den Füßen, so verflüchtigt sich unser Geist in krankhafte Gespenstigkeit. Himmelwärts gewandt doch fest im Boden zu wurzeln, bleibt Bestimmung des Menschen und ewige Aufgabe der Poesie. Grundzüge in der Entwicklung der Verskunst. § 107. Ausgangspunkt für Ergründung der Metrik.   Jn einem historisch gegründeten System der Poesie darf die Metrik ebenso wenig von der heutigen Form der ausgebildeten Strophe wie von dem einzelnen Versfuß oder gar der Verssilbe als Grundlage ausgehen: denn weder die vorgeschrittene Mannigfaltigkeit der modernen Strophen noch das Sonderdasein der Versteile bietet die ursprüngliche Gestalt des Versmaßes dar. Auch kann von einer bloßen Nebeneinanderstellung der Vers=, Strophen- und Reimarten wissenschaftlich nicht die Rede sein. Die Verszeile ist Ausgangspunkt der metrischen Entwicklung. Aus der primitiven Gestalt der Verszeile haben sich die späteren Variationen entwickelt.   Vielfache Uebereinstimmungen in der Verskunst verschiedener Völker bedingen sorgfältige Scheidung, inwieweit selbständige Aeußerungen eines durchgehenden Prinzips, inwieweit direkte Beeinflussungen und Abhängigkeit vorliegen.   Grundsätzliche Wendepunkte in der Entwicklung des Versmaßes werden vor allem durch die Vervollkommnung und Verinnerlichung bedingt, welche die Messung und Bindung des Verses erfährt: wie sie die bloße Zählung und auch die feststehende Silbenwertung überwindet, um den Accent in Wort und Satz als Träger des Tonfalles zu suchen. Jnnerhalb der einzelnen Völker ergeben sich tiefgreifende Abstufungen nach der Vortragsart: ob rezitativ, gesungen oder gelesen. Auch die Ausbildung der einzelnen dichterischen Gattungen wirkt, zum teil in Zusammenhang mit der Vortragsart, auf die Entwicklung der Verskunst umgestaltend. § 108. Die Versmessung.   Wir sind demnach genötigt, von der Verszeile auszugehen: nicht von ihrer Definition, in der unsere Untersuchung erst gipfeln soll, sondern von ihrer Gestaltung und Entwicklung.   Die Versform der altorientalischen Poesieen unterlag lange fast völliger Verkennung; erst die letzten Jahrzehnte führten zu einer gewissen Aufklärung.   R. Westphal hat nun im Zend-Avesta der alten Jranier einen regelmäßigen Abstand der Wort- und Satzschlüsse erkannt und demzufolge zu zweien zusammengehörige Langverse von je 16 Silben erschlossen, die durch Cäsur in zwei gleiche Halbverse zerfallen. Außer dieser bestimmten Anzahl von Silben ist kein metrisches Prinzip erkennbar.   Weiter trat die Verwandtschaft dieses Versmaßes mit dem Anushtubh des indischen Rigveda hervor. Nur ist die bloße Silbenzählung bereits insoweit überwunden, daß der Schluß jedes Halbverses quantitativ bestimmt ist. Es läßt sich folgendes Schema gewinnen:   ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏓ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏓ Nicht anders steht es prinzipiell um die übrigen Vedenverse, die sämtlich zählend einsetzen, um erst am Schluß für die Quantität eine feste Form geltend zu machen. Auch ist aus der Anushtubh -Strophe der epische Çloka hervorgegangen; dieses Distichon von Langzeilen zu 16 Silben mit Cäsur nach der 8. Silbe bewahrt in aller Mannigfaltigkeit die Norm des Anushtubh , nur daß die erste Vershälfte meist antispastisch ausgeht:   ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ─ ⏒ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ⏒ ─ ⏑ ⏒ Daß die Quantität der Silben zunächst gerade am Versschluß nach fester Geltung strebt, begreift sich wohl: tritt er doch am schärfsten hervor, prägt sich am stärksten ein, zumal in gesungener Poesie. Schon beginnt sich dasselbe Prinzip, dasselbe Gefühl für harmonisch gebundene Abrundung zu bethätigen, dem später der Endreim entsprießt.   Bereits die Entwicklung der lyrischen Metren in der indischen Poesie bringt die quantitierende Messung zur vollen Durchführung im Vers.   Durchaus entscheidend ist die Quantität alsdann in den ältesten bekannten griechischen Dichtungen. Wiederum begegnet uns zunächst ein durch Cäsur zerlegter Langvers, der Hexameter; und wiederum entwickelt erst die lyrische Poesie eine mannigfaltige Fülle rhythmischer Formen. Der Wortaccent bleibt aber noch immer außer Anschlag, der rhythmische Accent wird durchaus von der festen Silbenquantität bestimmt. Gerade die enge Verbindung mit der Musik begünstigte diese Gleichgültigkeit gegen den natürlichen Tonfall, da ja auch die musikalischen Töne sich an den Wortaccent nicht gebunden halten.   Erst in der byzantinischen Zeit beginnt der Wortaccent seine Rechte geltend zu machen, und der Uebergang von der Quantitätsmessung zur accentuierenden Metrik vollzieht sich in der Folge.   Die Römer wie die übrigen Jtaliker hatten, bevor sie den Anschluß an die griechischen Quantitätsgesetze unternahmen, in ihrem versus saturnius bereits eine accentuierende Form ausgebildet. Diese Langzeile läßt die Senkungen unbestimmt, um in sechs Hebungen der rhythmischen Betonung Ausdruck zu geben. Am Schluß des Verses, meist auch der ersten Vershälfte steht eine Senkung, in der man wohl das Ueberbleibsel der zum Nebenton herabgesunkenen, ursprünglichen vierten Hebung sehen darf. Auch die spätere römische Poesie läßt aus der nach griechischem Muster nun quantitierenden Messung die Neigung zum Verlegen des Jktus auf die accentuierte Silbe erkennen, besonders wo am Ende des Verses und vor der Cäsur ein Trochäus oder Spondeus, vorwiegend auch wo dort ein Daktylus steht.   So kommt denn im Romanischen die Accentuierung wieder zum Durchbruch. Nicht nur in der spätlateinischen Poesie der christlichen Kirche, auch in den modernen romanischen Sprachen. Freilich legt die italienische und freier noch die französische Metrik entscheidendes Gewicht nur darauf, daß die letzte Hebung vor dem Versende und eventuell vor der Cäsur den rhythmischen Hochton trägt. Abermals wird die besondere Bedeutung des Versabschlusses für die Bindung der poetischen Rede augenscheinlich. Doch lassen längere Verse noch weiterhin ein oder mehrmals den Hochton in Uebereinstimmung des Wortaccents mit dem Versiktus hervortreten.   Ganz auf das accentuierende Prinzip der Versmessung stellen sich die germanischen Poesieen. Der accentuierte Vokal trägt den Hochton. Von Kompositionen abgesehen, ist es hier zunächst die Wurzelsilbe, welche diesen Hochton in Anspruch nimmt; und damit gelangt die innere Bedeutung zu wünschenswerter Hervorhebung im Vers. Der Rhythmus stuft Haupthebungen, Nebenhebungen und Senkungen je nach der Stärke der grammatischen Betonung ab.   Die älteste Form der germanischen Poesie, sowohl der deutschen wie der nordischen und englischen, ist ein durch Cäsur geteilter Langvers, dessen Hälften je zwei Haupthebungen hervortreten lassen. Zu ihrer noch stärkeren Accentuierung suchen beide Haupthebungen des ersten Halbverses oder wenigstens eine von beiden gleiches konsonantisches Anklingen wie die erste Haupthebung des zweiten Halbverses. Damit erweist sich die Allitteration als letzte und höchste Vollendung der auf immer schärfere Accentuierung hindrängenden Versmessung. § 109. Die Fortentwicklung der Versform.   Obgleich es nicht an Versuchen gefehlt hat, primitivere Versformen zu erschließen, sieht sich die geschichtliche Betrachtung überall auf die Langzeile als Ausgangspunkt hingewiesen.   Bereits im Zend-Avesta schließen sich je zwei Langzeilen zu einem Abschnitt enger an einander. Ebenso sucht die älteste indische Versform distichische Strophenbildung. Doch schreiten schon jüngere Teile der Veden zu umfassenderen Versgruppen vor. Wie der griechische Hexameter und die deutsche Stabreimzeile noch erkennen lassen, bildet die Einzelzeile den Beginn der Versentwicklung. Die Strophenbildung der skandinavischen Allitterationspoesie bietet nur eine neue Vermehrung der uns zahlreich entgegengetretenen Beweise für das relativ späte Entwicklungsstadium der nordischen Poesie, in welches die Edden zu weisen sind.   Die Fortbildung dieser Einzel-Langzeile zu kunstvolleren Variationen der Versform läßt sich in der organisch entwickelten und durchforschten griechischen Poesie klar überschauen und begreifen. So finden sich eine Reihe von Zeugnissen für den Uebergang des Hexameters auf die frühe Lyrik. Sapphos Hochzeitslieder, so wenig uns davon überliefert, sind nach dieser Richtung von weittragender Bedeutung, weil sie für Geltung dieser Langzeile in volksmäßigen Gesängen Zeugnis ablegen. Auch wird das entscheidende Element der Ueberleitung zu lyrischer Bewegung unzweideutig bezeichnet, wenn nach der Ueberlieferung in einem jener Hochzeitslieder dem Schluß jeder Halbzeile der Ausruf Γ̔μήναον angefügt war. Wie wir bereits an der innern Form erkannten, sehen wir nun auch der Versform durch den Refrän, und zwar wiederum zunächst in einzelnen Ausrufen, die Wendung ins Lyrische gegeben. Ein anderes charakteristisches Kennzeichen der Versentwicklung ist der Zusammenschluß des Hexameters mit einem Pentameter zum Distichon der Elegie. Nicht minder muß auffallen, wie der Nomos unter Terpanders Händen noch der strophischen Gliederung entbehrt. Die daktylischen Hexameter herrschen in seinem Nomos unterschiedslos durch alle Teile einschließlich Proömion und Epilog.   Erst mit Archilochos erfolgt ein wesentlicher Umschwung, doch immer in Anknüpfung und Umbildung. Er führt den jambischen Trimeter und den trochäischen Tetrameter ein; er schreitet durch regelmäßigen Wechsel von Lang- und Kurzzeilen zu epodischer Strophenbildung vor. Aber schon das Epyllion Margites hatte jambische Trimeter zwischen seine Hexameter gemischt, freilich noch nicht in regelrechter Wiederkehr, sondern nur nach freiem Ermessen einer wechselnden Anzahl Hexameter als Abschluß angefügt. Einen Zusammenschluß ungleichartiger Verse hatte überdies bereits das elegische Distichon unternommen. Das Ausgehen der Entwicklung von der hexametrischen Langzeile, ein zunächst ungeregeltes Durchbrechen ihrer Alleinherrschaft, schließlich ein zu gesetzmäßiger Anerkennung und Durchführung gelangender Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeile bezeichnet den Gang der Entwicklung von der epischen zur lyrischen Kunstform. Jm übrigen mußten die Reformen des Archilochos durch musikalische Rücksichten wesentlich beeinflußt sein. Jn Konsequenz der Auffassung einer Senkung als Maß von einfachster Zeitdauer, einer Hebung als Maß von doppelter Zeitdauer durften zwei kurze Silben durch eine Länge ersetzt werden. Weiterhin faßt er zwei Versfüße zu einer Maßeinheit zusammen; durch Beschwerung des einen von beiden treten sie in ein ähnlich geartetes, freilich im Takt umgekehrtes Verhältnis zu einander wie die Silben jedes einzelnen Versfußes. Das jambische Metron ⏑ ─́ ⏑ ─́ nimmt durch Uebergang in ─ ─̋ ⏑ ─́ trochäischen Tonfall, das trochäische ─́ ⏑ ─́ ⏑ durch Uebergang in ─́ ⏑ ─̋ ─ jambischen Tonfall an. So hatte der Vers energische Bewegung, in aller strengen Gesetzmäßigkeit volle Modulationsfreiheit gewonnen.   Ohne die reiche Weiterbildung der Versformen in der vielgestaltigen griechischen Lyrik eingehend zu verfolgen, müssen wir die Entstehung der dramatischen Metra ins Auge fassen. Schon ihr Zusammenhang mit dem Dithyrambos bewirkt eine gewisse metrische Kontinuität. Für die Chorlieder und die monodischen Partieen der dionysischen Festgesänge waren jambische Trimeter, trochäische, jambische und anapästische Tetrameter nebst den sich anschließenden Hypermetren gebräuchlich. Die attische Komödie gelangt metrisch nicht wesentlich über diese Grundlagen hinaus; mindestens lassen sich ihre Verse fast sämtlich auf die genannten Maße zurückführen. Die Tragödie bewahrt zwar nur jambische Trimeter, trochäische Tetrameter und anapästische Hypermeter. Aber auch die logaödischen Chormetren sind aus dem Dithyrambos geschöpft, die daktylischen wie die daktylo=epitritischen Bildungen stellen Entlehnungen aus der Lyrik dar. So werden wir auch für den in seiner Grundlage noch unaufgeklärten Teil der tragischen Maße verschüttete Quellen in der Volkslyrik vorauszusetzen haben. § 110. Fortsetzung: Hauptstufen in der Weiterbildung der deutschen Versform.   Nicht minder reich und ─ trotz mehrfach versuchter Durchbrechungen ─ nicht minder organisch erweist sich die Fortbildung unserer heimischen Verskunst. Auch sie hat bereits eine geschichtlich bedeutsame Entwicklung hinter sich, ehe sie zu strophischen Gebänden vorschreitet.   Der allitterierende Langvers stellte die schärfste Ausprägung der accentuierenden Versmessung dar. Wenn der Reimvers, wie ihn um 870 Otfried zuerst in einer größeren Dichtung durchführt, auf jene Verstärkung des Hochtones durch gleiches Anklingen mehrerer Haupthebungen verzichtet, um die Langzeile an eine zweite durch gleichen Ausklang zu binden, so offenbart sich wiederum die natürliche Tendenz des Versbaus, eine Bindung gerade am Schluß einzelner Versabschnitte zu suchen, zugleich aber der vorschreitende Zug der Entwicklung, einen Zusammenschluß mehrerer Verse zu einem gebundenen Komplex zu suchen. Obschon in der christlich=spätlateinischen gesungenen Dichtung vorgebildet, stellt somit der deutsche Reimvers eine organische, innerlich notwendige Entwicklungsstufe der Verskunst dar. Anstelle der rezitativen Allitteration ist er in erster Linie für Gesang bestimmt. Mußte doch auch die Abnahme der Sprache an tonmalender Kraft dem Stabreim ein gut Teil seiner inneren Bedeutung entziehen und auf eine neue Bindungsart der beiden Halbzeilen hindrängen. Diese tragen nun den Gleichklang im Abschlußlaut. Gleichzeitig und in weiterer Ausübung des metrischen Bindungstriebes rücken aber je zwei Langzeilen zu einer neuen Einheit zusammen.   Noch immer verharrt dabei die Versmessung in dem ausgeprägt accentuierenden Charakter, der, gleichgültig gegen die Silbenzahl, weil gegen die Senkungen, allein die Hebungen ─ in Uebereinstimmung der lautlichen und rhythmischen Betonung ─ als ausschlaggebend für den Tonwert des Verses berücksichtigt. Jede Halbzeile bietet zwei Haupthebungen und eine oder zwei Nebenhebungen, stellt also entweder voll zwei Dipodieen, oder stumpf eine vollständige und eine unvollständige Dipodie dar. Der Reim ist zunächst im Prinzip und überwiegend einsilbig (männlich); auch in den selten auftretenden zweisilbigen (weiblichen) Reimen ist für diese Frühzeit der Gleichklang der Endvokale entscheidend.   Die Strophenbildung, die bei Otfried mit der primitiven äußeren Zusammenordnung zweier Langzeilen einsetzt, beginnt alsbald eine organische Fortentwicklung. Schon Otfried selbst faßt in einer Reihe von Stellen mehrere seiner Gebände von je zwei Langzeilen zu einer weiteren Einheit zusammen ─ durch ein Mittel, das er nicht nur gerade in der lateinischen Poesie bemerkte, das uns abermals zugleich als durchgehendes Ferment in der Entwicklung des epischen Langverses zur lyrischen Strophe bekannt geworden. Eine Art von Refrän ist es, wodurch sich in Otfrieds Evangelienbuch größere Versgruppen zusammenschließen. Die einfachste Form ist die, daß auf je zwei Langzeilen wiederholt hintereinander zwei identische Langzeilen folgen; doch sind auch umfassendere Gruppen und in größerer Mannigfaltigkeit durch Refrän zusammengeschlossen, aufs neue gebunden.   Ein Durchgangsstadium der Strophenbildung erkennen wir alsdann bald im Ludwigslied, das zweizeilige Strophen mit dreizeiligen durchmischt. Diese Form ungleichzeiliger Versgebände findet inzwischen in dem der kirchenlateinischen Sequenz nachgebildeten Leich eine eigene poetische Gattung. Die Sequenz trägt ihren Namen, weil sie ursprünglich aus einer Reihe musikalischer Töne herausgewachsen ist, die auf den Hallelujah-Refrän des zwischen Epistel und Evangelium fallenden Graduale folgten. Zu diesen für die lyrische Accentuierung epischer Ueberlieferungen wieder höchst charakteristischen Tönen dichtete man später Texte, und da die Melodie mit jeder Strophe wechselte, ergaben sich eben ungleichstrophige Gesänge.   Eine neue entscheidende Wendung in der deutschen Versentwicklung erfolgt mit der Reimbrechung, d. h. mit dem Auseinanderbrechen der beiden reimenden Halbzeilen durch Einfall einer Satzpause auf das Ende der ersten Halbzeile. Mit dieser im 12. Jahrhundert durchdringenden Notwendigkeit ist die Einheit der Langzeile gesprengt, und es beginnt die selbständige Entwicklung der Kurzzeile. Die beiden reimenden Halbzeilen treten nun als kurze Reimpaare auf.   Die Langzeile schwindet naturgemäß nicht mit einem Schlage, erscheint vielmehr zunächst noch in denselben Dichtungen, welche bereits die Kurzzeilen überwiegend durchführen; und zwar bald mit, bald ohne Cäsurreim.   Jm Laufe der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts geschieht die Fortbildung der aus diesen ungeordneten Elementen angebahnten Strophen zu neuen festen Kunstformen. Auch die sprachliche Uebergangszeit ist nun überwunden. Da erfolgt zunächst eine neue gesetzmäßige Regelung der Langzeile. Die Nibelungenstrophe führt dieses Streben zu einer gewissen Vollendung. Jm Prinzip sind die ersten Halbverse der Langzeile vierhebig, die zweiten dreihebig, nur daß der Schluß der aus vier Langzeilen zusammengetretenen Strophe durch einen vollen, vierhebigen Vers bezeichnet ist. Einen Uebergang von der epischen zur lyrischen Verskunst stellt die Verwendung dieser Strophe durch den Ritter von Kürenberg dar. Bei ihm läßt sich zugleich beobachten, wie die lyrische Strophe zunächst einfach ─ ungegliedert ─ und vereinzelt ─ spruchartig ─ auftritt. Das Aneinanderreihen mehrerer lyrischer Strophen und noch späterhin die Dreiteiligkeit der lyrischen Strophe sind erst Ergebnisse weiterer Entwicklung.   An einen andern Punkt der epischen Entwicklung setzt Dietmar von Aist an, indem er bald aus paarweise gereimten Langzeilen eine Strophe baut, bald kurze Reimpaare oder auch gekreuzt reimende Kurzzeilen der Strophenbildung zugrunde legt. Die Langzeile wird schließlich von der Kurzzeile aus dem Felde geschlagen. Die Reime verharren noch tief in Unreinheit; an ihrer statt herrscht weithin bloße Assonanz. Man lese charakteristische Belege beim Kürenberger wie bei Dietmar nach.   Während schon die ersten Minnesänger gelegentlich zu mehrstrophigen lyrischen Gesängen vorschreiten, ist die Dreigliederung der lyrischen Strophe erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zu voller Ausbildung gelangt. Läßt sich doch schon an den jüngeren Sequenzen ein Uebergang von der Zweiteilung der Stollen zur Dreigliederung verfolgen. Wie in der Gestaltung der deutschen lyrischen Verskunst kein zusammenhangsloses, willkürliches Hin- und Herspringen, sondern organische Entwicklung statthat, wie sich geradezu nach diesen metrischen Entwicklungsstufen die Generationen und Gruppen der Minnesänger scheiden, trat schon in unserer ästhetischen Betrachtung der mittelhochdeutschen Lyrik hervor. Zunächst ist ein Nachlassen, schließlich Verpönung der unreinen Reime bemerkbar, und ebenso sind die einfachen und die dreiteiligen Strophen nicht als neben einander hergehende Ergänzungen, sondern als verschiedene Stufen in der vorschreitend musikalischen Gestaltung der Verskunst aufzufassen. Nichts als musikalische Perioden treten uns in den beiden gleichartigen Stollen und dem mit eigenartigem Tonsatz schließenden Abgesang entgegen. Auch sonst weicht die ursprüngliche Einfachheit und Einförmigkeit im 12. Jahrhundert zusehends gewollter Mannigfaltigkeit, Abwechselung, individueller Sonderung. Anstelle der Gemeinsamkeit des einen nationalen Verses wird jede neue metrische Form Eigentum ihres Erfinders, und als Tönedieb geächtet, wer sonst sie zu übernehmen wagt. Der Einfluß provenzalischer Kunstfertigkeit vermehrte noch diesen erzwungenen Reichtum an Tönen.   Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer neuen, eigenartigen, unerhörten Strophenbildungen im Meistersang aus. Was in üppigem Reichtum lebendiger Entwicklung eingesetzt, erstarrt schließlich zu scholastischer Pedanterie. Auch die Gliederung der Strophe schreitet fort: schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird dem Abgesang gern ein dritter Stollen angehängt. Aber das accentuierende Prinzip alleiniger Geltung der lautlich betonten Silben bleibt erhalten. Die Verachtung, welcher die „Knüttelverse“ des Hans Sachs im 17. Jahrhundert anheimfielen, geht auf die regelgläubige Gewaltsamkeit zurück, mit der man diese frei beweglichen deutschen Maße in das Prokrustesbett der antiken Metra zu zwängen suchte.   Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines Opitz, seiner Vorgänger und seiner Nachfolger lenkten das aus neuem sprachlichen Umschwung erwachsene Bedürfnis nach metrischen Umbildungen in die Bahnen der fremden Renaissancevölker. Schon seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts war der französische Alexandriner mit seiner festen Silbenzahl eingeführt, zunächst ohne daß der deutschen Betonungsfreiheit im einzelnen Gewalt angethan werden sollte. Erst Opitz führt im Gegensatz zum deutschen Sprachgeist regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung, damit also den antiken monopodischen Versbau durch, allerdings unter Erkenntnis und grundsätzlicher Anerkennung gerade des Gegensatzes der accentuierenden deutschen Betonung zur antiken Quantitierung. Mit der bald folgenden Zulassung von Daktylen geschah keine prinzipielle Aenderung in Handhabung der Verskunst.   Erst Klopstock, dessen sprachschöpferische Kraft unserer neuen klassischen Litteratur die Bahn bricht, sprengt die Fessel, mit welcher die gleich regelrechte Geltung von Hebung und Senkung die Freiheit des deutschen Sprachgeistes beengte. Erleichterte doch auch die Loslösung von der Musik die vollere Geltung des Wortaccentes. Schon der Züricher Kunstrichter Breitinger hatte theoretisch Bedenken gegen die beständige Abwechselung von hohen und tiefen Accenten geäußert. Schon Gottsched andererseits hatte Hexameter nach deutschem, nicht mehr der phonetischen Wortbetonung widerstreitendem Accent empfohlen und gebaut. Aber erst Klopstocks souveräne Handhabung der freien Rhythmen wie speziell des Hexameters stellt die deutsche Verskunst von neuem auf den beweglichen germanischen Tonfall. Jm Gegensatz zu der schematischen Regelmäßigkeit des Jambus und Trochäus durchherrschte nun die Nachbildung der beweglicheren Maße gerade aus der Antike der deutsche, nach der Lautbetonung abstufende Sprachgenius. Noch heute haben wir nicht die letzten Konsequenzen dieser Wiederbesinnung auf den Grundzug der deutschen Versentwicklung gezogen; aber die vorherrschende Verwendung der gleichmäßig wechselnden Metren läßt überall den Durchbruch deutscher Wortbetonung: Abstufung nach Haupt- und Nebenhebungen, Gleichgültigkeit gegen die Senkungen erkennen. Der fünffüßige Jambus, der sich nach englischem Muster als dramatischer Vers eingebürgert hatte, weicht sogar meist rhythmisch bewegter Prosa oder stellenweise, wie bei Wildenbruch, direkt dem Knüttelvers in rechter Wertung desselben als „deutscher Vers“. Und Richard Wagner überträgt die germanische Accentuierungskunst auf die Musik. § 111. Die künstlerische Prosaform.   Wenn nach alledem über die treibenden Kräfte der Versentwicklung noch Zweifel obwalten könnten, würde selbst von der dichterischen Verwendungsart der Prosasprache ein Streiflicht auf das Wesen der ursprünglich dichterischen Form fallen. Durchgängig bekundet sich das Streben nach gesetzmäßiger Bindung, wie sie schon die antike Bezeichnung Nomos andeutet.   Stehen doch die glühenden Ergüsse eines Werther freien Rhythmen prinzipiell nicht fern, und auch im weiteren Umfang spricht man angesichts der Goetheschen Prosa von rhythmischer Bewegung, wie sie eben künstlerisch beflügelt ist.   Mit unverkennbarer inneren Gesetzmäßigkeit bildet aber Lessing sogar die Sprache des lebendigen, dramatischen Dialogs künstlerisch aus. Seine wesentlichsten Stilmittel sind geflissentliche Wiederholungen, Korrekturen, Antithesen, Jronie. Was ist die Wiederholung, die Um- und Umwendung jedes wesentlichen Begriffes anders als ein Streben nach Harmonie, wie sie der Wiederkehr desselben Versmaßes, gleichsam der Abstimmung auf einen Ton, wie sie auch dem Gleichklang des Reims zugrunde liegt? Kehren doch in Lessings Meisterdramen einzelne Wendungen ganze Scenen hindurch refränartig wieder. Und wie Satz und Gegensatz, Aufgesang und Abgesang sich entgegentreten, wie die Harmonie sich in Disharmonie auflöst, um wieder in sich zum Ausgleich zurückzukehren, so prägt Lessings Prosa bald ihre scharfen Antithesen, bald ihre leiser umwendenden Korrekturen des jedesmaligen Leitmotivs, bald wieder den doppelt wuchtigen Gegensinn der Jronie, um je nach Umständen ausgleichend oder auflösend zum Eingangsglied zurückzukehren. Man denke an Justs Abwägen des guten Danzigers und der schlechten Mores, die der Wirt besitzt: an den dreimaligen Refrän, nach jedem Trunk: „Herr Wirt, Er ist doch ein Grobian!“ ─ bis er Trinken wie Reden zum Abschluß bringt durch die auch im Sinne der künstlerischen Form abschließende Wendung: „Nein, zu viel ist zu viel! Und was hilft's Jhm, Herr Wirt? Bis auf den letzten Tropfen in der Flasche würde ich bei meiner Rede bleiben. Pfui, Herr Wirt; so guten Danziger zu haben, und so schlechte Mores!“ Es ist nicht anders, als folgte auf mehrere Stollen der Abgesang. Sachregister. A benteuerlichkeit 110. Abstraktion 24. 25. 125. 174. 175. Aesthetik 5. 6. Allegorie 51. 52. 94. 99. 100. 101. 102. 131. 133. Allitteration 61. 266. 269. Anakreontik 134. Anschaulichkeit 76. 77. 103. 123. 124. 241. 243. 257. Assonanz 61. 266. 271. Ausruf 122. 124. 128. 176. 177. 267. Avesta 30. B abylonier 120. Ballade 114. 115. Beiwort 65. 73. 81. 245. 253. Beowulf 83. Bewußtsein 82. 90. 101. 247 bis 249. 259. 260. Bildende Künste 16. 57. Bilder 45 bis 53. 252 bis 257. C harakter 182. 184. 197. 201 bis 205. 208 bis 216. 219. 223. 224. 227. 229. 232. 233. 234 bis 239. 261. Charakteristisches 18. 112. 201. Christentum 85 bis 88. 105. 106. 191 bis 195. 200. 201. D eus ex machina 184. 210. Dialog 180. 199. 207. Dichter 53. 58. 59. 240 bis 262. Didaktik 91. 92. 93. 105. 126. 132. 133. Dithyrambos 135. 179. 268. Divination 250. Dramatik 25. 26. 135. 170. 178 bis 239. 261. 268. E dda 27. 31. 41. 74. 75. 76. 256. 258. 259. 266. 267. Einförmigkeit 245 bis 247. 272. Einheiten 187. 193. 196. 197. 226. Elegie 128. 129. 130. 267. Empirie 7. 8. Engländer 20. 38. 42. 43. 51. 105. 106. 107. 111. 114. 201 bis 205. 206. 207. 208. 209. 234 bis 236. 266. 273. Entwicklung 9. 10. 11. 22 bis 26. 33. 53. 54. 63. 118. 257. 258 bis 260. 261. 262. 263. 266. 269. 271. Epik 15. 25. 63 bis 118. 136. 137. 150. 179. 188. 191. 202. 261. 271. Erhaben 32. 33. 42. 183. 201. 247. Erinnerungsbilder 243. Erotik 108. 132. 139. 140. 146. 147. 198. F abel 115. Fastnachtspiele 230. Form 2. 12. 13. 21. 56. 58. 59 bis 62. 107. 261. 263 bis 274. Formeln 73. 74. 164. 165. 245. 246. Franzosen 3. 4. 5. 6. 20. 36. 42. 43. 51. 88. 94. 95. 143. 144. 176. 192. 195 bis 199. 207. 208. 230. 232 bis 234. 265. 266. 272. Freiheit 208 bis 216. 247 bis 250. G edanken 2. 58. Gefühl 21. 53. 56. 57. 58. 59 bis 62. 87. 89. 91. 94. 95. 99. 100. 117. 124. 177. 242. 247 bis 251. 259. Germanen 31. 88. 98. 201. 202. 266. Gesang 75 bis 78. 164 bis 169. 177. 179. 191. 261. Geschichtliche Auffassung 1. 6. 7. 9. 10. 33. Gestaltungskraft 53. 242. Gleichnis 252 bis 257. Griechen 20. 35. 36. 40. 45. 46. 50. 65. 66. 69. 70. 72. 81. 91. 92. 108. 115. 127 bis 136. 178 bis 191. 220 bis 227. 256. 257. 265. 267. 268. 273. Gudrun 95. 96. H äßliches 18. 201. 238. 239. Hebräer 30. 77. 122 bis 126. Heliand 86. Heroisches 39 bis 44. 95. 198. 259. 261. Hildebrandslied 24. 41. 72. 73. 75. 77. 253. 257. Hohelied 123 bis 126. Humanismus 21. 22. 195. 260. Humor 224. 226. 233. 235. 236. 238. 239. Hyperbel 257. 258. J ambische Poesie 129. Jdealistik 20. 204. 208 bis 216. Jdeenassoziation 243. 244. Jdyll 50. 115. Jnder 29. 30. 34. 35. 39. 40. 46. 69. 80. 81. 91. 108. 120. 121. 256. 264. 265. 266. Jndividualität 91. 170 bis 172. 177. 201 bis 216. 233. 248 bis 251. 272. Jnduktion 7. 8. 9. 10. 11. Jnterjektion 128. 177. Jntrigue 186. 197. 198. 229. 233. 238. Jntuition 250. Jranier 264. 266. Jtaliener 94. 105. 114. 144. 231. 232. 265. K anzone 137. Katharsis 4. 217. 218. Katholizismus 201. Kleinmalerei 81. 83. 86. 87. 90. 97. Klimax 258. Komödie 36. 45. 219 bis 239. 261. 268. Konkret 24. 262. Kunstdichtung 20. 149. 236. Kykliker 91. 92. L angvers 60. 61. 266. 267. Leich 153 bis 156. Lied 75 bis 78. 127. 128. 137. 144 bis 173. 261. Litotes 258. Ludwigslied 87. 270. Lustspiel 36. 45. 219 bis 239. 261. 268. Lyrik 25. 119 bis 177. 179. 261. 267. 268. 271. M ahabharata 34. 39. 40. 80. 81. Malerei 3. 16. Mannigfaltigkeit 250. 251. 272. Materialismus 8. Meistersang 169. 272. Melos 130 bis 134. Metapher 255. 256. Metonymie 253. 254. Mirakel 192. Moral 6. 13. 21. 22. 99. 104. 126. 135. 214. Moralitäten 192. Musik 57. 177. 265. 268. 270. 273. Muspilli 85. 253. Mysterien 192. 220. Mythos 45. 64. 65. 66. 67. N achahmung 2. 3. 4. 15. 16. 56. Naiv 20. Narr 235. 236. 237. National 67 bis 71. 98. 259. Natur und Naturalismus 5. 8. 15. 16. 17. 38. 44 bis 51. 58. 64. 65. 141. Naturbeseelung 45 bis 51. 173. Naturvölker 27. 28. Nibelungen 69. 88 bis 91. 253. 254. 271. Novelle 107 bis 113. Nutzen 2. 13. O bjektivität 23. Orientalen 25. 88. 108. 119 bis 127. P arabel 115. Parallelismus 75. 166. 167. 246. Parodie 36. 225. Perser 36. 40. 41. 83 bis 85. 93. 94. 126. 127. 195. Phantasie 67. 94. 242 bis 251. Prosa 57. 58. 107 bis 113. 273. 274. Protestantismus 201. 202. Provenzalen 136 bis 143. 152. 272. Psychologie 8. 9. 10. Publikum 258 bis 260. R amajana 91. Realistik 20. 110. 111. 112. 184. 185. 204. 209. Reflexion 25. 86. 87. 101. 111. 142. 174. 175. Refrän 125. 137. 138. 139. 167. 168. 176. 267. 270. 274. Reim 61. 62. 265. 269 bis 273. Religiös 29 bis 39. 152 bis 156. 169. 170. 177. 179. 191. 206. 229. 259. 262. Renaissance 2. 195. 207. 236. 272. Rhapsoden 78. 79. Rhetorik 169. 174. 176. 198. 207. 227. Ritterepos 98 bis 101. Ritterlyrik 147 bis 151. 153 bis 163. 164. 271. Römer 2. 3. 88. 135. 152. 228. 229. 265. Roman 107 bis 113. 261. Romantik 20. 21. Romanze 114. 115. Ruodlieb 87. 88. 145. S age 66 bis 71. 110. Satire 227. Scenerie 183. 187. 192. Schauspieler 59. 230. Schicksal 181 bis 185. 200. 203. 205. 209 bis 216. 239. Schönheit 16. 17. 18. 32. 33. 42. 59. 183. 201. 238. 239. Schuld 190. 203. Schwankhaft 96. 97. 113. 114. Seelenschilderung 82. 86. 90. 98. 99. 100. 123. 174. 175. Selbstgeständnisse 9. 18. 19. 240. Sentenzen 97. Sentimentalisch 20. Sinnentrieb 6. Sirventes 142. Slaven 72. Spanier 114. 199 bis 201. 232. 233. Sprache 26. 246. 247. Spruch 127. 128. 152. 153. Stoff 21. 22. 56. 58. 124. 223. Strophe 266 bis 273. Subjektivität 24. 25. 27. 82 bis 88. 100. 107. 166. 259. Superlativ 54. 55. 257. Symbol 52. 53. 94. 143. T echnik 186 bis 188. Tetralogie 180. 182. Tierdichtung 45. 102 bis 105. Tragödie Trauerspiel 4. 14. 15. 178 bis 218. 219. 222. 235. 261. 268. Traum 244. 245. Typen 227. 228. 231. 235. 236. 237. U nbewußt 67. 247. Urpoesie 8. 11. 31. 32. 146. 147. V ariationen 20. 21. 22. 263. Veda 27. 29. 30. 256. 264. 266. Vergeistigung 83. 93. 125. 248. 262. Vergnügen 14. 15. 21. 56. 216 bis 218. Vers 3. 59 bis 62. 107. 151. 152. 225. 263 bis 274. Verstand 5. 21. 58. Volksbücher 110. Volksdichtung 20. 21. 64 bis 79. Volkslied 24. 75 bis 79. 113. 144 bis 153. 164 bis 169. 172. W ahnsinn 244. 245. Waltharilied 87. Wessobrunner Gebet 85. Wirklichkeit 109. 110. Wirkung 56. Wunschmotiv 153. 176. Z aubersprüche 85. 152. Personenregister. A chill 70. Addison 111. Aeschylos 180. 181. 182. 183. 186. 187. 190. 191. Alfieri 19. Alkäos 131. Alkman 130. Anakreon 133. 134. 135. Anzengruber 21. Archilochos 129. 267. 268. Arent 38. Ariost 94. Aristophanes 36. 45. 220. 221. 222. 223. 224. 225. 226. 232. Aristoteles 3. 4. 15. 16. 128. 221. 222. Attila 67. 68. 70. Auerbach 22. Ayrer 207. B ach 191. Basselin 143. 144. Battikavja 91. Baumgarten 5. 6. 16. Beaumarchais 234. Beck 52. 53. Bernart von Ventadour 137. 141. 142. Bertran von Born 142. Bleibtreu 38. 44. Boccaccio 112. 113. Bodmer 5. Boileau 4. 5. 42. Bojardo 94. Breitinger 5. 273. Bürger 114. 173. Burdach 146. 147. Byron 37. 38. 43. 51. 106. 107. C alderon 200. 201. Cervantes 109. Ch é nier 51. Chlothilde 68. Chrestien von Troyes 95. Corneille 198. 199. D ante 105. Defoe 111. Descartes 4. Dietmar von Aist 47. 148. 150. 151. 157. 271. Dilthey 8. 9. 19. 244. 252. E rmanrich 67. 68. Euripides 184. 185. 186. 187. 223. F ielding 111. Firdusi 36. 40. 41. 83. 84. 85. 93. Fontane 112. Freiligrath 175. Friedrich von Husen 156. 157. G eibel 176. Gellert 170. Gerhardt 170. Goethe 13. 14. 17. 19. 21. 22. 32. 37. 43. 50. 55. 62. 106. 107. 111. 112. 113. 114. 115. 170. 171. 172. 173. 209. 210. 211. 212. 213. 238. 249. 250. 252. 258. 274. Goldsmith 111. Gottfried von Straßburg 52. 100. 101. Gottsched 3. 4. 5. 16. 21. 207. 237. 273. Grillparzer 21. Grimm, Jakob 26. Grimmelshausen 110. Groth 115. Grün 19. Gryph 207. 236. 237. Guiot 135. Gundahari 68. 69. H adamar von Laber 102. Hafis 126. 127. Hartmann von Aue 47. 99. 100. Hebel 115. Hedelin 5. Hegel 6. 7. Heinrich der Gleißner 102. Heinrich Julius von Braunschweig 207. 236. 237. Heinrich von Morungen 48. 158. 159. Heinrich von Rugge 156. 157. Heinrich von Veldeke 99. 157. Herder 20. 172. 198. 252. Herwegh 176. Hesiod 92. Hildiko 68. Hinrek van Alckmer 103. Holberg 237. Homer 25. 35. 36. 40. 45. 46. 54. 69. 81. 82. 91. 256. 257. Horaz 2. 3. 13. 14. 15. J bykos 133. K alidasa 34. 35. 46. Kallinos 128. 129. Kant 6. Karl der Große 144. 145. Keller 112. 113. Kerner 18. 19. Kleist 19. 113. 238. 252. Klopstock 21. 32. 106. 273. Körner 156. Konrad von Würzburg 101. 102. 114. Kratinos 222. Kürenberg 24. 47. 147. 148. 150. 151. 153. 157. 255. 256. 271. Kyd 201. L agarde 27. 28. Lamartine 43. Leibniz 4. Lenz 173. 238. Lessing 4. 5. 16. 20. 196. 197. 198. 208. 209. 237. 238. 274. Lohenstein 110. Ludwig 19. 112. Luther 169. 170. M arlowe 201. Maximilian 102. Menander 227. 228. Milton 105. 106. Moli è re 232. 233. N estor 70. Nizami 93. O dovakar 67. 68. Opitz 3. 207. 272. Otfried 86. 87. 151. 269. 270. P aul 246. 247. Petrarka 144. Philemon 228. Pindar 135. Plautus 228. 229. 231. 232. R acine 36. 198. Rebhuhn 206. Regensburg, Burggraf von 148. 149. 151. 157. Reinmar der Alte 158. Reinmar von Zweter 52. Reuter, Christian 110. Richard Löwenherz 138. 139. Richardson 111. Rousseau 43. 50. 111. Rudolf von Ems 114. Rückert 62. 262. S aadi 93. 94. Sachs 206. 236. 272. Sappho 131. 132. 267. Scheffler 170. Scherer 7. 8. 9. 12. 13. 58. 59. 60. 146. Schernberg 193. Schiller 6. 14. 17. 19. 20. 21. 22. 32. 37. 43. 46. 58. 114. 115. 116. 174. 175. 209. 213. 214. 215. 251. Schlegel, August Wilhelm 175. Schlegel, Johann Elias 5. 16. 196. 197. 207. 237. Seneca 195. 207. Shakespeare 13. 17. 42. 202. 203. 204. 205. 207. 208. 209. 232. 234. 235. 236. 237. 238. 258. Sophokles 183. 184. 185. 186. 187. Spee 170. Spervogel 162. 163. 254. Steele 111. Sterne, Lorenz 111. Storm 113. Swift 111. T acitus 21. 23. 31. Talvj 24. 74. Tasso 105. Terenz 228. 231. 232. Terpander 130. 267. Theodomer 67. 68. Theodorich 68. 96. Theognis 132. 133. Theokrit 115. Thespis 179. 188. Tyrtäos 130. 131. U lrich von Gutenburg 48 V ega 200. 232. W ackernagel 16. 17. 32. 33. 59. Wagner, Richard 273. Walther von der Vogelweide 48. 49. 50. 52. 154. 155. 156. 158. 159. 160. 161. 162. 172. 255. 256. Werner der Gärtner 114. Wieland 106. 107. 111. Wildenbruch 273. Wilhelm von Poitiers 141. Willem 102. 103. 104. Wolf, Christian 5. Wolfram von Eschenbach 98. 99. 137. 258. X enophanes 69. Jnhalt . Einleitung. Begriff und Methoden der Poetik. Seite § 1. Begriff der Poetik 1 § 2. Ursprüngliche Auffassung der Poetik 1 § 3. Autoritativ=dogmatische Poetik: Horaz 2 § 4. Fortsetzung: Aristoteles 3 § 5. Fortsetzung: Die Franzosen 4 § 6. Spekulativ=dogmatische Poetik 5 § 7. Empirische Poetik 7 § 8. Psychologisch=induktive Poetik 8 § 9. Entwicklungsgeschichtliche Poetik 9 § 10. Fortsetzung: Einschränkungen 10 Definitionen der Poesie. § 11. Die formale Definition der Poesie 12 § 12. Der Nutzen als Zweck der Poesie 13 § 13. Das Vergnügen als Zweck der Poesie 14 § 14. Die Nachahmungstheorie in der Poetik 15 § 15. Die Schönheitstheorie in der Poetik 16 § 16. Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie 18 Variationen der Poesie. § 17. Variationen der Poesie: a ) in der Theorie 20 § 18. Fortsetzung: b ) in der Produktion 21 § 19. Fortsetzung: c ) in der Wirkung 21 § 20. Verhältnis der poetischen Gattungen 22 Seite § 21. Fortsetzung: Entwicklung 24 § 22. Analogie der Sprachentwicklung 26 § 23. Scheinbare Ausnahmen 27 § 24. Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker 27 Das Wesen der Poesie. § 25. Religiöser Charakter der ältesten Poesie 29 § 26. Die Erhabenheit der ältesten Poesie 32 § 27. Vergöttlichung als poetisches Stilmittel 33 § 28. Heroische Epoche der Poesie 39 § 29. Heldenhafte Vorstellungen in der Poesie 42 § 30. Die Natur als Anschauung und Sinnbild 44 § 31. Allegorie und Symbol 51 § 32. Das Wesen der Poesie 53 § 33. Superlative Darstellung 54 § 34. Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie 56 § 35. Einheit der Dichtungsarten 56 § 36. Einheit der Künste 57 § 37. Unterschied von der Prosa 57 § 38. Die Gefühlsstärke des Dichters 58 § 39. Begründung der poetischen Form 59 Die Dichtungsarten. A . Die epische Poesie. § 40. Ausgangspunkt 63 § 41. Der Mythos 64 § 42. Poetische Gestaltung der mythologischen Anschauungen 65 § 43. Die Sage 66 § 44. Fortsetzung 69 § 45. Abschluß und dichterische Behandlung der Sage 71 § 46. Stil der Volksdichtung 71 § 47. Fortsetzung: Liedartiger Charakter 75 § 48. Einfluß der Rhapsoden 78 § 49. Die litterarische Epopöe 80 § 50. Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung 85 § 51. Fortsetzung: Die nationale Epopöe in Deutschland 88 § 52. Entartung des nationalen Erzählungsstils 91 § 53. Fortsetzung: Entartung des deutschen Epos 95 § 54. Das internationale Ritterepos 98 § 55. Das allegorische Epos 101 Seite § 56. Das Tierepos 102 § 57. Das christliche Epos 105 § 58. Ausläufer des Epos 106 § 59. Roman und Novelle 107 § 60. Die kleineren epischen Arten 113 § 61. Wesen und Wandlungen der epischen Dichtung 116 B . Die lyrische Dichtung. § 62. Voraussetzung der lyrischen Form 119 § 63. Die orientalische Lyrik 119 § 64. Die griechische Lyrik 127 § 65. Die provenzalische Lyrik 136 § 66. Die Anfänge der deutschen Lyrik 144 § 67. Die deutsche Ritterlyrik 153 § 68. Die deutsche Volkslyrik 164 § 69. Liedartige Lyrik in neudeutscher Zeit 169 § 70. Litterarische Lyrik 173 § 71. Wesen und Wandlungen der Lyrik 176 C . Die dramatische Poesie. I . Das Trauerspiel. § 72. Begründung der dramatischen Form 178 § 73. Ausbildung der dramatischen Form in Griechenland 178 § 74. Entwicklung und Blüte der griechischen Tragödie 180 § 75. Verfall der griechischen Tragödie 185 § 76. Die Technik der griechischen Tragödie 186 § 77. Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie 189 § 78. Die Anfänge des modernen Dramas 191 § 79. Das humanistische Trauerspiel 195 § 80. Das französische Trauerspiel 195 § 81. Das spanische Trauerspiel 199 § 82. Das englische Trauerspiel 201 § 83. Das deutsche Trauerspiel 205 § 84. Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 216 II . Das Lustspiel. § 85. Begründung der Lustspielform 219 § 86. Die Anfänge der Komödie in Griechenland 220 § 87. Die nachklassische antike Komödie 226 Seite § 88. Die Anfänge des modernen Lustspiels 229 § 89. Die Hauptmomente des romanischen Lustspiels 231 § 90. Das englische Lustspiel 234 § 91. Das deutsche Lustspiel 236 § 92. Wesen und Wirkung des Lustspiels 239 Das Seelenleben des Dichters. § 93. Die Erfahrung über die Dichterseele 240 § 94. Die Voraussetzungen des dichterischen Schaffens 241 § 95. Das Eingreifen der dichterischen Phantasie 242 § 96. Die ursprüngliche Einförmigkeit des Dichtergeistes 245 § 97. Die unbewußte Freiheit des Dichtergeistes 247 § 98. Die bewußte Freiheit des Dichtergeistes 247 § 99. Der individuelle Geist 249 § 100. Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit 250 § 101. Die Ausdrucksformen des Dichtergeistes 252 § 102. Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen 253 § 103. Bild und Gleichnis 254 § 104. Hyperbeln 257 § 105. Der Dichter und das Publikum 258 § 106. Rückblick und Ausblick 260 Grundzüge in der Entwicklung der Verskunst. § 107. Ausgangspunkt für Ergründung der Metrik 263 § 108. Die Versmessung 264 § 109. Die Fortentwicklung der Versform 266 § 110. Fortsetzung: Hauptstufen in der Weiterbildung der deutschen Versform 268 § 111. Die künstlerische Prosaform 273 Sachregister 275 Personenregister 279 Verlag der Schulzeschen Hof-Buchhandlung (A. Schwartz) in Oldenburg. Allmers, H., Sämtliche Werke. 6 Bände ℳ. 15,─. Jn 4 Original= Prachtbänden ℳ. 19,─. ─ ─ Dichtungen. 3. Aufl. Broch. ℳ. 3,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 4,─. ─ ─ Marschenbuch. Land- und Volksbilder aus den Marschen der Weser und Elbe. 3. durchgesehene und vermehrte Aufl. Broch. ℳ. 6,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 7,─. ─ ─ Römische Schlendertage. 9. illustrierte Aufl. mit 20 Vollbildern. Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,─. ─ ─ Aus längst und jüngst vergangener Zeit. Broch. ℳ. 3,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 4,─. Appell, J. W., Werther u. seine Zeit. 4. Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Einbd. ℳ. 5,─. Bulthaupt, H., Durch Frost und Gluthen. Gedichte. 2. Aufl. Broch. ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─. Eckart, Rud., Brauch und Sitte. Kulturgeschichtl. Skizzen. Broch. ℳ. 1,20, in Orig.=Einbd. ℳ. 2,─. Fitger, A., Fahrendes Volk. Gedichte. 4. Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Ebd. ℳ. 5,─. ─ ─ Winternächte. Gedichte. 4. Aufl. ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─. ─ ─ Roland und die Rose. 2. Aufl. Eleg. broch. ℳ. ─,50. Kulturgeschichtliche Bilder aus den Nordsee-Marschen. Gemalt von H. v. Dörnberg. Mit Dichtungen v. H. Allmers. 6 Kunstblätter in Lichtdruck. ℳ. 9,─. Jn Orig.=Pracht-Mappe ℳ. 15,─. Murad Efendi, Nassreddin Chodja. Ein osmanischer Eulenspiegel. 4. Aufl. Broch. ℳ. 2,─, in Pracht-Einbd. ℳ. 3,─. ─ ─ Balladen und Bilder. 3. Aufl. ℳ. 2,─, in Prachtband ℳ. 3,─. ─ ─ Ost und West. Gedichte. 3. Aufl. ℳ. 4,─, in Prachtband ℳ. 5,─. Pleitner, E., Hinrich Janßen, der butjadinger Bauernpoet. Eleg. broch. ℳ. 0,80. Poppe, Franz, Zwischen Ems u. Weser. Land u. Leute in Oldenburg und Ostfriesland. Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,─. ─ ─ Am Lebensborn. Gedichte. Broch. ℳ. 3,─ in Orig.=Einbd. ℳ. 4,─. Rittershaus, Emil, Buch d. Leidenschaft. 4. Aufl. ℳ. 2,─, Prachtbd. ℳ. 3,─. ─ ─ Aus den Sommertagen. 4. Aufl. Mit Portrait des Dichters von Prof. Ludw. Knaus. ℳ. 4,─, in Orig.=Prachtbd. ℳ. 5,─. Roland, E., Gedichte. Broch. ℳ. 2,─, in Orig.=Prachtbd. ℳ. 3,─. ─ ─ Jtalienische Landschaftsbilder. Broch. ℳ. 3,─, in Orig.=Ebd. ℳ. 4,─. Schinz Dr . Hans, Deutsch-Südwest=Afrika. Mit einer Karte u. vielen Abbildungen. ℳ. 18,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 20,─. Schwartz, A., Vaterländische Ehrentage. Reich illustrierte Festgabe zum Geburtstage des Fürsten Bismarck. 16. Aufl. Jn Orig.=Einbd. ℳ. ─,60. Staudinger, Paul, Jm Herzen der Haussaländer. 2. Aufl. m. Karte. ℳ. 10,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 12,─ Stahr, Ad., Ein Jahr in Jtalien. 4. Aufl. 5 Thle. Broch. ℳ. 15,─, in 2 eleg. Orig.=Einbänden ℳ. 18,─. ─ ─ Herbstmonate in Ober-Jtalien. Supplem. zu des Verf. „Ein Jahr in Jtalien“. 3. Aufl. 2 Thle. ℳ. 6,─, Orig.=Einbd. ℳ. 7,50, ─ ─ Goethes Frauengestalten. 8. Aufl. 2 Bände. Broch. ℳ. 6,─. in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 8,─. ─ ─ G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke. 9. vermehrte und verbesserte Aufl. 2 Bände. Broch. ℳ. 6,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 7,50. Wolff, Eugen, Poetik. Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtl. Entwicklung. Broch. ℳ. 4,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 5,─. Wolff, Dr . Willy, Von Banana zum Kiamwo. Forschungsreise in West-Afrika. Mit Karte. ℳ. 4,─, Original-Einbd. ℳ. 5,─. Zimmermann, Dr . Alfred, Geschichte der preußisch=deutschen Handelspolitik, aktenmäßig dargestellt. Broch. ℳ. 16,─, Or.=Ebd. ℳ. 18,─. ─ ─ Kolonialgeschichtl. Studien. Broch. ℳ. 6,─, Orig.=Ebd. ℳ. 7,─ Dramaturgische Litteratur aus dem Verlage der Schulzeschen Hof-Buchhandlung (A. Schwartz) in Oldenburg. Allmers, H., Elektra. Drama in einem Aufzuge. Musik von Albert Dietrich. 2. Aufl. Broch. ℳ. 0,60, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 1,50. ─ ─ Herz und Politik. Dramatisches Zeitidyll. Broch. ℳ. 0,60, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 1,50. Augier, E., Der Schierling. Lustspiel in 2 Aufz. Für die deutsche Bühne bearb. von A. Fitger. Broch. ℳ. 1,20, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 2,20. ─ ─ Philiberte. Lustspiel in 3 Aufzügen. Für die deutsche Bühne bearb. von A. Fitger. Broch. ℳ. 2,─, in eleg. Orig.=Einbd. ℳ. 3,─. Bulthaupt, H., Dramaturgie des Schauspiels. * Lessing, Goethe, Schiller, Kleist. 7. Aufl. Broch. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─. ─ ─ ─ ─ ** Shakespeare. 6. Aufl. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─. ─ ─ ─ ─ *** Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow, Laube. 4. Aufl. Broch. ℳ. 5,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 6,─. ─ ─ Gerold Wendel. Trauersp. 2. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─. ─ ─ Eine neue Welt. Drama. 2. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─. ─ ─ Der verlorene Sohn. Schauspiel. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─. ─ ─ Timon von Athen. Trauerspiel. ℳ. 1,60, Orig.=Ebd. ℳ. 2,60. ─ ─ Die Malteser. Tragödie. ℳ. 2,─, Orig.=Einbd. ℳ. 3,─. Lord Byron's Marino Faliero. Für das Meiningen'sche Hoftheater übersetzt und bearbeitet von A. Fitger. Broch. ℳ. 2,─. ─ ─ Manfred, dram. Dichtung, aus ihrem Grundgedanken erklärt. Nebst Anhang: Uebersicht über Byrons Poesien. Von einem Theologen. Broch. ℳ. 1,─. Engel, Karl, Zusammenstellung der Faustschriften vom 16. Jahrhundert bis Mitte 1884. Der Bibliotheca Faustiana 2. Aufl. ℳ. 18,─. ─ ─ Die Don Juan-Sage a. d. Bühne. 2. Afl. ℳ. 2,40. Or.=Ebd. ℳ. 3,40. Faust, Johann. Ein allegorisches Drama, gedruckt 1775, ohne Angabe des Verfassers, und ein nürnberger Textbuch desselben Dramas, gedruckt 1777. Herausgeg. v. K. Engel. 2. verm. Aufl. ℳ. 2,─. ─ ─ Das Volksschauspiel Doktor Johann Faust. Herausgegeben mit geschichtl. Nachrichten und Bühnengesch. des Faust von Karl Engel. 2. umgearb. u. vielfach ergänzte Aufl. ℳ. 4,─, Orig.=Einbd. ℳ. 5,─. Fitger, A., Die Hexe. Trauerspiel. 6. Aufl. ℳ. 2,─, in Or.=Einb. ℳ. 3,─. ─ ─ Von Gottes Gnaden. Trauersp. 3. Aufl. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─. ─ ─ Die Rosen von Tyburn. Trauersp. ℳ. 2,─, Orig.=Ebd. ℳ. 3,─. Mosen, J., Der Sohn d. Fürsten. Trauersp. in 5 Aufz. Orig.=Einbd. ℳ. 2,40. ─ ─ und Adolf Stahr, Ueber Goethe's Faust. Broch. ℳ. 2,50. Puppenkomödien, Deutsche. Mit geschichtl. Einleitung. u. Bibliotheca Faustiana herausgegeben von Karl Engel. 2 Bde. Broch. ℳ. 8,─, Einzelne Bändchen à ℳ. 1,20. Ruseler, G., Gudrun. Schauspiel. ℳ. 2,─, Orig.=Einbd. ℳ. 3,─. Schwartz, Rudolf, Esther im deutschen und neulateinischen Drama des Reformationszeitalters. Eine litterarhistor. Untersuchung. 2. durch einen Nachtrag vermehrte Auflage. ℳ. 4,─. Shakespeare, Jmogen. (Cymbelin.) Romant. Schausp. Bühnenbearb. v. H. Bulthaupt. ℳ. 1,60. Orig.=Einbd. ℳ. 2,60. ─ ─ Der Widerspenstigen Zähmung. Lustspiel in 5 Akten und 1 Vorspiel. Bearbeitet von Eugen Kilian. Broch. ℳ. 1,20, in Orig.=Einbd. ℳ. 2,─. Wehl, Leodor, Dramaturgische Bausteine. Gesammelte Aufsätze. Aus dem Nachlasse Wehls herausgegeben von Eugen Kilian. Broch. ℳ. 2,40, in Orig.=Einbd. ℳ. 3,40. Wolff, Dr . E., Zwei Jugendlustspiele von Heinr. v. Kleist. Broch. ℳ. 2,─, in Orig.=Einbd. ℳ. 3,─. Zabel, Eugen, Zur modernen Dramaturgie. Broch. ℳ. 5,─, in Orig.= Einbd. ℳ. 6,─.