D i e G r e n? b o t e n. Eine deutsche Revue. Redigirt vo» I. K n r a i» d a. Unter Mitwirkung der deutschen Schriftsteller: Karl Andree, Berthold Auerbach, Karl Beck, Baron A. von Vülow, Theodor Creizenach, Lorenz Diefenbach/F. Dingelstedr, I. Fester, Ludwig August Fränkl, Carl Gustow, Heinrich Heine, I. Kaufmann, Heinrich Koenig, Gustav Kühne, Heinrich Laube, Herrmann Marggraf, H. Merz, Julius Mosen, Theodor Mügge, R. E. Prutz, L. Schefer. H. Schiff, G. Schirges, Theodor Schliephake, Baron von Sternberg, I. Venedey, Van Hasselt, A. Weilt, Ernst Willkomm. Zweiter Jahrgang. 'Aweites Semester. Leipzig. Bei Fr. Ludw. Her dig. »8As. Inhalts - Werzeichniß. Seite. Die Männer der Zeit. I. Ludwig Feuerbach...... 2 Die deutschen Schriftsteller und die Gesellschaft, von I. Kuranda. 3V Tagebuch: l. Bekenntnisse der Grenzboten, von I. Kuranda. it. Briefe aus Paris von Philipp V"*. til. Plaudereien. 36 Ein Besuch bei Madame Pasta........... 51 Die Lehrfreiheit in Belgien, von Th. Schliephake. . . » 61 Beschauliche Briefe aus Oesterreich, von Z. v. Z. .... 75 Literaturblätter, von I. Kuranda........ . . 83 Tagebuch: I. Brief aus Frankfurt. II. Reisejournale. Hi. Notizen. 91 Wanderungen durch eine Bildergallerie, von V. 1..... 99 Brief aus Se. Petersburg, von . ........ 129 Philipp II. und Granvella, von Gcrlache....... 128 *" Tagebuch: l. Brief aus Paris, von Philipp P. II. Plaudereien. 147 Großstädtische Fragen von einem Lebemann....... 155 Aus dem Studienheftc eines Musikers......... 182 An Ludwig Philipp, von Theodor Creizenach...... 194 Tagebuch: l. Korrespondenz aus einem Seebade, von H. Koenig. II. Korrespondenz aus Wien. III. Notizen...... 197 Bilder aus dem deutschen Universitätsleben, von Ed. Müller. I. Deutsche Studentenwelt........... 203 Der Musikunterricht in Elementarschulen, in Deutschland und Frankreich................ 209 Tagebuch: I. Briefe aus Brüssel, it. Aus Leipzig. III. Neueste Literatur. IV. Notizen............ 235 Reiche Thränen — Armes Volk. Eine literarisch-sociale Epistel, von L. H. Gcibler............ 251 Soldatenbilder aus Oesterreich...........> . 267 Tagebuch: l. Korrespondenz aus Mailand, von G. I. II. Preußi¬ sche Vor- und Rückschritte, lit. Korrespondenz aus Berlin, von IV. Notizen............. 290 Seite. Die Industrie und das Jahrhundert. Skizzen, Andeutungen, Wünsche, von I. A. Jobard...... . . . 299 Skizzen aus dem Cölner Dombaufcst, von R. G..... 326 Briefe aus Se. Petersburg, von ......... 332 Bilder aus dem deutschen Universitätsleben, von Eben. Müller. it. Göttinger Persönlichkeiten.......... 34V ' Tagebuch: I. Gutzkows gesammelte Schriften, it. Die Preß- verhältnissc in Mecklenburg-Schwerin........ 348 Erinnerungen und Mittheilungen eines Landschaftsmalers, von B. C. Kockkock.............. 355 "" Wanderungen durch die Pariser Theater, von Philipp P. 374 Tagebuch: I. Brief ans Mainz. II. Notizen....... 388 Die belgischen Städte und ihre Kunstwerke....... 395 ' Ueber LenauS Albigenser, von Th. Schliephakc..... 417 Briefe aus Wien............... 429 *" Tagebuch: I. Thcaterplaudereicn: 1) aus Paris, von Philipp P. 2) aus Stuttgart von Aug. Z____er. it. Notizen. . . 433 Briefe aus Se. Petersburg, von . -...... 443 Die Maas und ihre Anwohner, von I. Fester..... 459 Ein Besuch in einer Irrenanstalt........... 473 Tagebuch: I. Ueber Sattel'S Laienevangclium, von Th. Seht. II. Notizen................ 484 Briefe aus der böhmischen Hauptstadt. ........ 491 Harmlose Briefe aus Mecklenburg-Schwerin, von A. Wachen- Hufen. . ............... 499 Erinnerungen an den Wiener Kongreß. ........ 511 Brief aus Wien................ 523 Tagebuch: I. Gutzkow und die deutschen Kleinstädter, von I. K u- randa. II. Notizen............. 528 Die Männer der Zeit. II. Ad. Mickiewiez....... 539 Pauperismus und Colonisation, von A. Baron v. Bülow. . 561 Hamburg nach dem Brande, von G. Schirges. ..... 582 Tagebuch: Notizen. .............. 586 Die Männer der Zeit.") l Ludwig Feuerbach. (Vom Verfasser der Briefe über Schwaben und Franken.) Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und ihre Copula Arnold Rüge, der sie auf den Schild hob und der Welt als die Heilande und Retter von aller Gottseligkeit verkündet — welch ein satanisches Kleeblatt auf dem Stcingel der deutschen Jahr¬ bücher, welch eine infernalische Dreifaltigkeit um jene 3 Autoren! Es wird ein ewig denkwürdiges — Andere würden sagen, fluch¬ würdiges — Phänomen sein, wie von diesen Männern in diesen unsern Tagen der Leidenskelch der Theologie bis zum Rande ge¬ füllt wurde. So mag der fromme Sinn sich entsetzen über die „Ruchlosigkeit," mit der jene theologischen Herostratcn in fortschrei¬ tender Schärfe der eine erst den Christus, der andre die Evangelien und „der ruchloseste von allen, Ludwig Feuerbach" selbst die Religion nicht blos in die Wüste deS Begriffes, sondern in den Tod zu *> Unterkiefer Rubrik werden die Grenzboten eine Reihe von Charakte¬ ristiken unserer bedeutendsten Zeitgenosse» dem Leser vorführen. D. R, l schicken suchen; so mag die Wissenschaft die Augen öffnen und auf die Warte der Zeit und der Ewigkeit zugleich steigen, um die Spreu in die Winde fliegen, den Waitzen in frischbebauter Erde keimen und reifen zu lassen. Ich lasse Ihnen das Glauben und Wissen dieser Männer als vor andre Richterstühle gehörig hier zur Seite und gedenke der eigenthümlichen Stellung dieser drei Männer im Verhältniß zu ihren Volksstämmen. Strauß, der Schwabe mit seiner Innerlichkeit, seiner Urkraft, die mit einem Hiebe durch Reiter und durch Sattel bis tief in Pferdes Rücken schlug; Ludwig Feuerbach, der Franke, der zornesschnaubend und gewandt auch das Pferd durchhieb z und Bruno Bauer, der eilig vollends über die Leiche sich hermachte. Der Ge¬ wichtigste und Gewaltigste ist ohne Widerrede Strauß, darum hat rr auch zuerst durchgeschlagen; der lebendigste, originellste und genialste ist Feuerbach, darum hat er auch am wenigsten Anhänger. Der abstrakteste, in seiner Leerheit und Eitelkeit tollste ist nach Allem Hengstenberg'ö Schüler und einstiger Liebling, der norddeutsche Bauer. Es lag im Plane der Briefe über Schwaben und Franken, in ihrem Verfolge Ludwig Feuerbach ebenso als Ausdruck des etwaigen wissein schriftlichen, des philosophischen Berufes und Triebes im fränkischen Stamme darzustellen, wie Strauß als Repräsentanten des wissenschaft¬ lichen schwäbischen Geistes. Seitdem ist Feuerbach'S Name erst recht bekannt, berühmt und berüchtigt geworden , ich folge um so lieber Ihrer Einladung, über ihn Einiges mitzutheilen, als namentlich durch den verstorbenen Gans verschiedentlich Unrichtiges, besonders in der berliner gelehrten Welt über ihn in Umlauf gekommen ist. Wenn Einer zwar von den bösen Dreien sich in feinen Schriften ganz wie er selber ist, ganz splitternackt, ganz bis in's Innerste durchsichtig darstellt, so ist es Feuerbach. Aber je mehr dies der Fall ist, desto näher legt sich endlich das Bedürfniß, das geistige Bild von dem Manne durch das leibliche und persönliche zu ergän¬ zen oder zu berichtigen. Gerade diese Art, wie sich das Persönliche und Sachliche so vollkommen deckt und das Eine nur Ausdruck und Wiverschem des Andern ist, rechne ich zur ganz besondern Eigen¬ thümlichkeit des fränkischen Wesens. Auch der Schwabe lebt ganz in der Sache, und so sehr, daß er sich kaum in leichten Augenblicken von dem Grunde seines Innern losbrechen kann. Aber je tiefer in ihm die Mächte seines geistigen Bestehens weben', je entschiedener der ganze, volle Mensch in diesem Gehalte steckt, desto mehr ver- steckt er sich dem Auge, desto befremdlicher ist seine äußere Erschei¬ nung. Wer fand in dem Heros des ehernen Gedankens, in dem Hegel der Logik den Mann wieder, der an so platten Späßchen, faden Klatschen, leeren Spielen deö Augenblicks sich so kindlich erfreuen konnte? Sicher, dem Schwaben sehen Sie es nie und nimmer am Gesichte ab, was hinter ihm steckt, und der Mensch und der Denker, der Gesellschafter und der Dichter, der Mann der Feder und der Zunge sind oft bis zum Räthsel verschieden. — Nicht so der Franke. Aeußeres, Inneres, oder wie man den Gegensatz des menschlichen Wesens sonst bestimmen mag, ist in lebendigeren Verkehr und Wechsel. Alle Mächte seines Daseins sind in bewegteren Flusse in und zu einander. Die funkelnden Edelsteine, welche in dem schwä¬ bischen Urgebirge vereinzelt, in sich und in ihren Ort gefestet, der Hebung, des Schliffes und der Fassung harren, sind hier vom Hause aus bereits zu leichtem, heiterem Farben- und Gestaltenspiel an den Faden eines sinnlich und geistig erfüllten, zwischen Aeußeren und Innerem harmonisch getheilten Lebens aufgereiht. So war Göthe, der Mann der Ewigkeit, immer ganz und voll der Mann des Au¬ genblicks, sein Wirken und Wesen ging stets in einander auf und jedes Werk war er selbst, ein Stück, eine Epoche seines immer in sich gerundeten und so in fertigen Gebilden verlaufenden Lebens. Sagte Hegel: was der Mensch thut, das ist er, so war bei ihm die Wahrheit eine philosophische Abstraktion; spricht Strauß es ihm nach, so ist es auch bei ihm und in Bezug auf ihn mehr Gedanke, alö eine Thatsache. Wer ahnte in dem Verfasser des Lebens Jesu den Verfasser der zwei friedlichen Blätter, den Freund Justtnus Kerner's, des gemüthvollsten Dichters, den Mann der Mystik, der Poesie, der Fantaste und — des Gemüthes? Es liegt der uner¬ bittlichen Härte, der kalten, eisernen Strenge des schwäbischen Genius eine unerschloßne Tiefe der Seele, des Gefühls und Gemüthes zu Grunde, daß, in ihr gegründet, ein solches Wesen furchtlos und treu gleich jenem Gottbegnadeten mit allen Himmelsmächten ringt und sie nicht läßt, sie segnen ihn denn. So gibt der Schwabe immer, was er kann, und wollte er nur immer, was er kann; der Franke, waS er ist, er ist aber in jedem I» Augenblicke Etwas und etwas Neues; der nördlichere Genius, was er hat i— er ist aber eilig und emsig genug, um in jedem Mo¬ mente neue Schätze einzusammeln und neue Mittel zu erwerben. Feuerbach's Bücher, Gedanken, Sätze und Ansichten sind dem¬ nach er selber. Nur an und aus sich selber hat er gefunden, was er schon früher in einer fast unbekannt gebliebenen Schrift aussprach. „DaS, was dem Menschen Tag und Nacht keine Ruhe läßt, was ihm nie aus dem Herzen kommt, worüber er seinen Abend- und Morgensegm zu beten vergißt . . . DaS, was ihn sein ganzes Leben an der Nase herumführt, was ihn mit unwiderstehlicher Macht an sich fesselt, was ihn so gewaltsam zusammenknebclt, daß er keinen freien Athemzug mehr thun kann ... das,— und wäre dieses DaS auch nur die Summe von hundert Dukaten oder eine neue Conjectur im EutroviuS, oder die Erfindung einer neuen Stiefelwichse, oder ein Ordensbändchen mit dem Wörtchen: Von---das nur und sonst auch nicht ein Haar breit mehr ist die Seele des Menschen." — „Die Seele des Menschen ist das, was er als das Wahre und Höchste in sich erkennt und erfährt, was seine Art, die Dinge zu deur theilen, zu sein, zu leben, und zu wirken, bestimmt." Dieß eine Stelle aus seiner Schrift: „der Schriftsteller und der Mensch, eine Reihe humoristisch-philosophischer Aphorismen"—worin er eben- sein Wesen: die Einheit seines Menschen — und Schriftstellerthums in seiner Weise auseinanderlegte. Und wie fassen wir nun den Menschen in dem Schriftsteller? Man hat Feuerbach verschiedentlich als Schüler Hegel's begrüßt und verdammt, man sieht in ihm den leiblichen Sohn des atheistischen Vaters. Allein wenn Jemand von Mutter Leib an nicht dazu ge¬ eignet war, in der Hegel'schen Schule zu sterben — in der Schule aber leben, ewig die dürre Weide des trocknen Begriffs abgrasen, heißt doch mindestens so viel als sterben, ja ein nur fremdes Leben ist weniger und daher schrecklicher als Sterben — so war Feuerbach es, der am Ersten den trocknen Staub der Schulbank von den Füßen schütteln mußte. Sagt er darum doch selber: „Ich unterscheide mich von Hegel, daß ich als Mensch, alö purer, blanker Mensch lebe, denke und schreibe." Nach Hegel gehört zum wahren Menschen die Philosophie und zu dieser das bloße Denken, aber für Feuerbach gehört zum Menschen und zum Philosophen nicht blos der natus >,uru« deö Denkens, sondern auch der »ctus imnnrns, aber mixtus der Leidenschaft, der sinnlichen Receptivität. Ihm ist die Philosophie „nicht Professoren- Angelegenheit, sondern Sache deS Menschen, des ganzen freien Men¬ schen"- der vor Allem nicht in daS Geschlecht der Wiederkäuer gehört. Feuerbach saß in Berlin zu Hegel'S Füßen, von ihm erfüllt ging er von der Theologie zur Philosophie über. Aber Berlin, die berliner Philosophie und das berliner Weißbier war nicht für ihn; er verdarb sich den Magen daran, ja er kehrte halb schwind, süchtig in sein heimisches Ansbach zurück, wo sein Vater, der berühmte Criminalist, der das Abbitten vor dem Bilde des Königs Ludwig von Baiern erfunden, in wichtiger Stellung fungirte. — Es galt nun, von dem Rausche der Spekulation dieser „betrunkenen Philosophie" sich zu ernüchtern und aus den metaphysischen Wolken wieder festen Fuß auf Gottes reicher Erde zu fassen, aus der Zirbeldrüse wieder herab in's lebendige Herz zu steigen. Erlangen, wo er als Privat docent auftrat, diese mit Recht berüchtigte „Geistessteppe," konnte ihm nicht daS geeignete Klima zum Gesunden geben. Er fand keine Zuhörer und ging. DaS nahe Nürnberg gab dem unruhig wühlen den und gährenden Geiste wenigstens ein heitergenüßliches Volks¬ leben, eine alterthümliche, in sich einheitsvolle, harmlose Stadt, eine alte Bibliothek und köstliche Bände in Schweinsleder auf dem präch¬ tigen Trödelmarkt. Das war seine Lust, darin zu suchen und zu naschen, was seinen Grillen, seinen Trieben und Gelüsten schmeckte. Er vergrub sich gleich dem gespenstigen Professor Danaer, seinem Freunde, in die aufgespeicherten Lieblinge und legte hier den Grund zu der seltsamen, fast abentheuerlichen, recht Jean- Paulischen Ge¬ lehrsamkeit, der mehr eine Curiositätensucht als eine wissenschaftliche Richtung zu Grunde lag. Wie es in ihm glühte, kochte und gcihrte, damals, zeigt auf höchst interessante Weise seine Erstlingsschrift, die, von einem Freunde und anonym herausgegeben, er selbst eine in jeder Beziehung namen- lose nennt und wenigstens in der vorliegenden Form nicht als die seinige anerkennt. 'Jugendlicher Uebermuth und ungezügelte Leiden¬ schaft deö Gedankens und Wortes überstürzt sich fast in diesen /-Gedanken über Tod und Unsterblichkeit." Der Fluch der gesammten Klerisei, wie er sich ausdrückt, lastete eine Zeitlang darauf, es wurde confiscire, später erst wieder freigegeben. Noch fehlte es ihm an einem festen Grund und Boden unter sich; die Stadtlust war ihm einmal zuwider. So suchte und fand er denn einen Ort») ländlicher Muße, von ganz vortrefflicher Qua- lität. „Reine, gesunde Luft weht hier, aber wie wichtig ist für das wichtigste Organ des Menschen, das Denkorgan, die reine, frische Luft! Die speculative Philosophie Deutschlands, wie sie sich bisher entwickelt hat, ist ein Beispiel von den schädlichen Ein¬ flüssen der verpesteten Stadtluft. Wer kann leugnen, daß ihr Denk¬ organ, namentlich in Hegel, vortrefflich organisirt war, aber wer auch übersehen, daß die Funktion des Central - Organs von den Sinnenfunktionen zu sehr abgesondert, daß namentlich der Kanal bei ihm verstopft war, durch welchen die Natur ihren heilbringenden Odem uns zuströmt? Ich selbst weiß es aus Erfahrung. Stets dachte ich frei und hell; aber ich hatte doch immer Anflug von Schnupfen, der den Zudrang der freien Naturluft hemmte. O, vortrefflich ist der stsws u-dem-aus für den Denker! Wie vielen Illusionen der Menschheit bin ich erst hier auf die Spur gekommen! Und wie viele Lücken meines Wissens habe ich in sileotio ausgefüllt! wie viele werde ich noch ausfüllen!—Gut, daß Du kein Hexenmeister bist — schrieb er»») seinem Freunde Riedel auf die Skizze in dem Gutz- kow'schen Jahrbuch der Literatur hin, worin Riedel einige Worte über Feuerbach und Danaer mittheilte, und für erstem bedauerte, daß er in abgelegenem Orte, wo er aller fremden Anregung entbehre, dem Kreise deö Lebens und der Bewegung entzogen werde, verkümmern müsse, so daß es gar sehr zu wünschen wäre, er träte recht bald in eine bestimmte Wirksamkeit ein.— „Deine Wünsche könnten mich sonst in dem, mir wenigstens noch mehrere Jahre unentbehrlichen Frieden meiner sehr verschiedenartigen Studien stören und auch einem Boden entziehen, wo ich mich geistig und leiblich wohler, als je, unendlich wohler befinde, als an irgend einer Universität, wo auFer dem Kartoffelbau der Brod- Wissenschaften nur noch die fromme Schafszucht im Flor ist." *) Auf dem Gute eines Freundes, dessen Schwägerin er heirathete, in Bruckbcrg bei Ansbach. ") Im Athenäum für Wissenschaft, Kunst und Leben. Nürnberg, März 1839. püx. 52. 1 Gewiß, Feuerbach'S Schriften rieche» viel nach der Literatur des Trödelmarkts, seine Gelehrsamkeit erinnert an die verlegenen. Winkel alter Bibliotheken, seine Studien gehen häusig mehr aus dein Zufall, der ihm ein interessantes Buch in die Hände brachte, und der Liebhaberei, welche an dieser oder jener Absonderlichkeit gerade ihre Freude hat, als aus bestimmtem Zweck im Interesse objectiver Ent¬ wicklungen hervor. Seine Gelehrsamkeit ist mit einem Wort eine ganz subjective. Wie ganz anders stellt sich Strauß in seinen Wer¬ ken dar: Alles gründlich in streng historischer Folge und nothwen¬ diger Entwicklung, die Gelehrsamkeit nicht um ihrer selbst, d. h. nicht um des Subjects willen, sondern streng im Dienste der Sache und deS vorgesetzten Zweckes. Gegen die ernste Objektivität des ' Straußischen, die charaktervolle Subjektivität des Feuerbach'schen Wissens ist B. Bauer's gelehrtes Material ein hastig und runter- bunt zusammengerafftes, heute im Dienste Hengstenberg's, morgen im Interesse Hegel's, übermorgen als Specimen für das Narrenhaus, Hätte Feuerbach den Willen und Beruf gehabt, innerhalb der bestehenden Entwicklung in herkömmlicher Weise zu studiren, zu leh¬ ren und zu schreiben, so würden freilich diese Sonderbarkeiten sich hübsch abgeschliffen, die Herbigkelten sich geglättet, diese Eigenthüm¬ lichkeiten sich bestens in den bestehenden Gang und Zug gefügt haben. Allein dann wäre es eben mich um ihn geschehen gewesen. Moses bereitete sich auf seinen Beruf in der Wüste vor, die Pro¬ pheten lebten in der Einsamkeit, Johannes predigte in der Wüste, Christus ging, ehe er auftrat, in die Wüste; Augustin, Luther, fast könnte man auch sagen Strauß, rüsteten sich in der Einöde und im Kloster zu dem Geschäfte ihres Lebens. — Und wer eS an sich selber erfahren hat! Wie will Einer aus dem in eiserne Bande gefug¬ ten Systeme der Hegel'schen Philosophie kommen, wie will er den Zauberbann lösen, womit sein Ich, sein Bewußtsein und Willen verschlungen Wird in fremde Gedankenmächte, wenn er nicht irgend wie fern von dem, alles Erfaßbare in seine Strudel ziehenden Räderwerk dieser Dialektik, in anderer Lust und Umgebung seine Quarantäne halten kann? Wollte Feuerbach nicht wie so Viele entweder an Hegel oder am Rückfall von Hegel zur Unfreiheit zu Grunde gehen, wollte er seine Eigenheit und Originalität erhalten und bewahren, so mußte er nach Bruckbcrg ziehen. Und er mag daS nicht ein widriges, sondern ein günstiges Lebensgeschick nennen lassen und seinem Genius eS danken, daß er ihn auf diesen Boden versetzt hat. Ich meinerseits glaube zwar, daß Feuerbach trotz seinem Bruck- berg nicht in die Reihe jener Reformatoren zu stellen sein wird. In seiner Einsamkeit ist er gar zu vielen „Illusionen der Menschheit auf die Spur gekommen" und so tief er durch den Wust der Ge¬ schichte und Alltäglichkeit in das lebendige Herz hinuntergegrabcn, so hat er doch nicht die Stelle gefunden, wo der Quell eines neuen Lebens selber hervorspringen muß; so sehr er gefunden und gezeigt, wie das gesunde und lebendige Her; im Busen schlägt, so hat er doch nicht gesehen und geoffenbart, was der Inhalt ist, der in die¬ sem Herzen weben soll, wenn eS nicht der pure, natürliche, ich sage nicht thierische, wie brutaler Mißverstand Feuerbach's Naturalismus deutet, aber doch blos physiologische Herzschlag sein und bleiben soll. Einsam, mit Weib und Kind, mit dem theilnehmenden Freunde, mit der Bibliothek und dem Klavier, mit gutem Bier und gesunder Luft, im freundlichen Garten von schöner Natur umgeben, braucht Einer freilich dieß und Jenes und manches Andre nicht, ohne das die Gesellschaft nicht bestehen kann, am allermeisten kann er Staat und Kirche entbehren, und Religion, Kunst, Wissenschaft mag in einem lediglich subjektiven Cultus des Geistes und des Herzens aufgehen. Allein die Menschheit, die Gesellschaft muß zu ihrer Einigung und Erhaltung einen objectiven Inhalt haben, an dem sie Norm und Halt des Bestehens finde. Wer keinen solchen Inhalt zu bieten weiß, mag auf ihn hinweisen, ihn bedeuten selbst, aber Reformator selber ist er nicht. Und solche Bedeutung möchte ich allerdings unserem Helden zu¬ erkennen. In der auf'S Häßlichste gesteigerten Unnatur und Ver¬ zwicktheit aller unserer öffentlichen und privaten Verhältnisse, in der Künstlichkeit aller Bildung, in dem allgemeinen Marasmus, der sich unserer Tage bemächtigt, in der Dürre der Theorie, die man durch Anschauen des Baumes des materiellen Lebens sich verquicken will, dessen goldne Aepfel doch in sich voll Würmer sind, in der Trostlosigkeit des Systemes, in der trostlosen Aussicht auf den in¬ dustriellen Materialismus, der Nachbarländer auf die sah windliche Höhe geschnellt, von der herab sie nur fallen können — in diesem verkommenen, verkümmerten Dasein, wie es trotz allem Selbstbetrug heute uns umfängt, — was will da Gutes kommen, wenn es nicht aus dem reinen Brunnen der ewig jungen Natur entgegenquillt, wenn man nicht wieder in die eigne Tiefe steigen und einen neuen Menschen anziehen will? Wollen! Können! Ach, vielleicht kann die altgcwordene Menschheit nicht mehr jung werden wollen. Nicht das Einfache, Ursprüngliche, Natürliche, nur daS Uebernatürliche, Uebermenschliche, der Finger Gottes, der wieder einmal den Besen am Firmament aufsteckt, womit er den Staub und Schmutz von seiner armen Menschheit abkehre, — nur das kann aus dem Zuge in die Unnatur, in die Entmenschlichung, in das Verderben retten. Feuerbach wird allein bleiben, sein Wort wird wie die Stimme eines Predigers in der Wüste verhallen. Er freilich blickt mit sei¬ nem am Grün der Bäume erfrischtem, am kühlen Bergquell ge¬ stärkten und erhellten Auge leichter, freier, hoffnungsreicher in die Zeit, als wir, denen Stadt- und Kathederlust frei aufzuathmen ver¬ wehrt. Könnte die Herbigkeit, der feurige Eifer, das rakctenmäßige Ungestüm ihn „auf die schwarze Tafel der Unzufriedenen und Zer- rißncn hinzeichnen," und in ihm eine geheime Lust am Schmerz, einen Trieb zur Selbstzerstörung und Selbstverbrennung sehen lassen, so müssen wir ihn wiederum nur selber hören. Ja, der allgemeine Schmerz der einer bessern Zukunft sich be¬ wußten Gegenwart, oder der Schmerz der Unzufriedenheit mit sich selbst, der alle strebenden Geister rastlos vorwärts treibt, oder der Schmerz der Erfahrung, daß Verstand nur vor den Jahren kommt, oder der ethische Schmerz des Bewußtseins, daß wir im Leben immer hinter unsrer Erkenntniß zurückbleiben — diesen Schmerz hat und fühlt auch er in seinem tiefsten Innern. Aber nicht auf Zerrissen¬ heit und Lust am Schmerz darf eS gedeutet werden, wenn wir in seine Gedanken über Unsterblichkeit folgende Verse eingelegt finden: Wenn Dir im Rücken dieser Zeit Auflauerte Unsterblichkeit, So wärst du schon als Kind ein Greis, Dein Herz schlich hin in mattem Gleis. Du wärest hier schon farbenbleich, Dein Herz ein abgeschmackter Teig; Der Ewigkeiten Ueberfluß Ohr' Todesgränz und Hindernuß Hätt' alle Kraft Dir ausgespült, Die Qualität hinweggewühlt. Der Himmel dann, die Erde hier, Das schönste Jenseits wär' sie Dir. Du würdest die Unsterblichkeit Gern geben hin für diese Zeit, Und aus dem leid'gen Engelöstand Dich sehnen in des Todes Land, Um wieder auf dieser Erden Ein liebender Mensch zu werden. Denn hier ist ja das schönste Land, Ein Mensch zu sein, der höchste Stand, Nur wo es Kampf und Leiden gibt, Und Schmerz der Seele Hellung trübt, Da ist mein wahres Vaterland, Schmerz ist des Geistes Unterpfand. ES mögen feige Pfaffen Jn'ö Jenseits sich vergaffen! Mir bleibe nur mein Schmerz, Mein liebend heißes Herz. Und wollten Alle himmlisch sein, Und gingen in die Himmel ein, — Was aber ich nicht glauben kann, Es gibt noch manchen tapfern Mann Ich bliebe draußen stehen, Ich möcht hinein nicht gehen, Und bäte mir zu meinem Haus Die alten Schmerzen wieder aus, Die sollen wieder in mir brennen. Von ihnen kann ich mich nicht trennen. Schmerz ist ja nicht ein einzelner Theil, Getrennt von ihm der Seele Heil, Ganz bin ich Drang, ganz bin ich Schmerz. Ich will nicht unter, noch oberwärts. Der Schmerz eint Himmel und Hölle In seines Grundes Sonnenhelle. O Niobe! O Niobe! Auf ewig Stein! O weh! O weh! Ein Stein fürwahr, der ewig weint, Hat Menschheit mehr in sich vereint, Als aller Engel durst'ge Schaar, In denen Sund' und Schmerz ist gar. Drum wär' ich lieber solcher Stein, Als bei den Engeln in Himmelsschein. Alles dies sagte Feuerbach in dem seltsamen Buche blos gegen die Vorstellung der ewigen Himmelsfreuden, wo er bei ewig Psaltern und Harfen nur Langweile absehen kann. Das Leben, das mensch¬ liche Leben als solches, wie es in Lust und Schmerz getheilt ist, die Freude, welche auf dem Boden der Trauer gründet und die Trauer, welche sich in Wonne verklärt, das ist sein wahres Leben, sein einziges. Zwei Leben hintereinander sind ihm unerträglich, noch mehr als unbegreiflich. Du kannst nur Einmal sein, Ergib Dich willig drein. Einmal ist alles Wahre nur, Einmal der Geist, Einmal Natur. Dem, was sich zählen, theilen läßt, Ist aller Geist schon ausgepreßt. Das Müde, Welle, schlappig Weiche, Der Schlaf, der Tod, Schwindsucht'ge Bleiche, Der aufgewärmte Kohl, der Brei, DaS abgeschmackte Einerlei, Die ungesalznen Judenmatzen, Mordsucht, sentimentale Fratzen, Kopfhängeret, ohnmcicht'ges Sehnen, Pietisterei, langweil'ges Gähnen, Die Wassersuppen, eselsgrau, Der Mysticismus bleich und flau, Geschwulst, Erbrechung, Ueberdruß, Krankheit und eiternder Ueberfluß, Dies Wesen ohne Trieb und Kraft, Ohr' Wesen, Farbe, Leben, Saft, Dies Wesen nur aus Dunst und Brei Kommt aus dem Zweimal Eins ist Zwei. Die Zahl ist nur des Todes Grund. Einmal ist Leben, ist gesund. Der Geist läßt sich nicht repetiren, Nicht zählen und nicht dupliciren. Das Leben selber ist schon Geist, Drum alle Zahl eS von sich weist. Im Einmal endet Zahl und Zeit, Drum ist das Einmal Ewigkeit. Dieses Einmal Eins, daS sein innerster Kern ist, schied Feuer-- bach auch von dem Systeme, daS den Geist nicht blos duplicirt, sondern in triplicirender Dialektik ewig um die Are der Logik kreisen läßt. Mit dem Gesetze der Triplicität kam daS System ihm nicht vom Flecke, diese blos um sich rotirende Bewegung erregte ihm Schwindel, drum nannte er es eine „betrunkene Philosophie" darum ließ er eS. Das Einfache, das Ganze, das Unge- theilte ist seine Liebe. „Ich schätze z. B.," so spricht er sich selber aus, „die entschiedenen Wassergeschöpfe, die Grathen und Knorpelfische höher als die Klasse der Reptilien, sowohl unter Thieren als Menschen, nur weil ihr Leben ein zerrisse¬ nes ist, obwohl höher organisirtes. Oft hat's mich wohl schon, wie den Fischer in der Götheschen Ballade, zu dem stummen Fischlein in sein klares Element hinabgezogen, aber nie, nie bin ich in Ver¬ suchung noch gekommen, die windbeutligen Blasbälgc der Batrachier (der Frösche, Kröten ze.) oder die zweizüngigen Klapperschlangen, Nattern und Eidechsen um die Vorzüge ihrer Organisation vor der Klasse der Gräthen und Knorpelfische zu beneiden. Nein! mir ist das Fischlein, daS in seinem Elemente bleibt, lieber als die Kröte, die denselben Boden mit den Menschen theilt, und doch ihrem Ur¬ sprung und Wesen nach dem Moraste angehört, lieber der Gimpel mit seinem eintönigen, aber eigenen, natürlichen Sang, als der Pa¬ pagei, der fremde Worte plappere, lieber der Esel, der nicht mehr als ein Esel sein will, denn der Affe, welcher über das Thier hin¬ aus will und doch zur Bestie verdammt ist. Und diesem innern Gefühl und Sinn für das Ungetheilte, mit sich Einige, stimmen alle meine Sinne, selbst bis in'S kleinste Detail hinein, bei. Meine Augen lieben mehr die Blumen und Pflanzen mit ganzen, als mit zerschlitzten und zerrissenen Blättern; ihre Lieblingsblumen gehören sogar nicht zu den Di- sondern zu den Monocotyle- donen. Meine Hände klatschen diesem Urtheil meiner Augen Bei¬ fall zu: lieber umfassen sie den geraden, einfachen Stamm einer orientalischen Palme, als den buckligen, getheilten, brüchigen Stamm eines zwielappigen, es r i se l i es - germanischen Gewächses. Selbst mein ZV(>i vus »Iluctol-ins ist Monotheist: er huldigt zwar auf dem Gebiete der fortschreitenden Cultur dem Pariser («eitle,!?. Schnupftabak) aber auf dem Gebiete der Natur geht ihm nichts über den lieblichen Geruch der Maiblume, die zu den Monocoty- ledonen gerechnet wird. Mein Geschmack ist zwar pikant, Freund des Sauren, Bittern, salzigen, aber eben deßwegen ein entschiedener Antipode aller widernatürlichen Composition: er verwirft sogar all¬ gemeine beliebte Vermischungen, wie die des Kaffees mit Zucker uno Kuhmilch, nur um den Kaffee in seiner vollen Originalität und Integrität zu lassen, den Tert der Natur nicht durch fremd' artige Ingredienzien zu interpoliren. Meine Ohren endlich beleidig) weit weniger ein Esel, der spricht wie ein Mensch, als ein Mensch Ver denkt wie ein Esel, um den Widerspruch des supranaturalisti¬ schen Esels Bileam'S durch unvernünftige Gründe mit der Ver¬ nunft in Harmonie zu setzen. Nun mache man die Rechnung, nur nicht ohne den Wirth. Zwei Zeugen gelten vor Gericht, und den alten indischen Weisen galt selbst ein einziger Sinn, der Geschmack deS Menschen, für ein hinreichendes lest'muiuium moniu,. Ich habe nicht weniger als 5,, sage fünf Zeugen für mich, nicht weniger als 5,, sage fünf Sinne auf meiner Seile. Was kann man mehr ver- langen?" Ja, was kann man mehr verlangen zu Einem ganzen, völligen Menschen, der gesund durch und durch, frisch und kräftig, nicht wie gewisse Leute in Frack und Cravatte von Naturwüchsigkeit sprechen, um damit der unter der feinen Wäsche nistenden Lüderlichkeit einen leidlichen Namen zu geben, sondern in seiner puren blanken Mensch¬ heit ein wahrhaft sittliches Pathos, eine ernste ethische Grund¬ stimmung und Bestrebung hat? Faßt man so seine Ungeberdigkeitcn gegen Religion und Christenthum, so werden sie in der Erklärung eine gewisse Entschuldigung finden. In dieser frischen Natürlichkeit ist ihm das Uebernatürliche so unnatürlich, als das Uebermenschliche unmenschlich ist. Er braucht, er begreift es nicht, will eS nicht und will eS nicht dulden. Aber all dieser Sturm und Hohn gegen religiöses und sittliches, trivial und matt gewordenes Bestehen beruht auf einer kernhaften Natürlichkeit, welche an der Begeisterung, Tiefe und Kräftigkeit des ersten christlichen Bewußtseins sich begeistert, während sie das heutige Maulchristenthum, die Schaale Pietisterei, das platte Dogmatisiren, die Saft- und Kraftlosigkeit deS modernen religiösen Geistes ihrer gesunden Natur zuwider, zum Ekel findet, wie alles Schlappe, Zwieschlächtige und Abgestandene. Wenn er darum lieber gar keine Religion als die der Stunden der Andachten, der Wirschel'schen Morgen- und Abendopfer, der Tractcitchen und Pietisten will, so muß man eS wenigstens einer solchen Natur ho¬ mogen und am Ende auch zu gut halten, wenn man anders den gesunden, tiefen, sittlichen Kern in dem seltsamen Manne anzuerken¬ nen fähig ist. Feuerbach'S Naturalismus geht eben so sehr gegen den pietistisch- christlichen Spiritualismus, als gegen den industriellen Materialis¬ mus, denen beiden man uns in den Rachen werfen will. Will er tüchtige Sinne und gesunden Sinnengenuß für den rechten Men¬ schen, so will er ebenso warmes, frisches Herz und einen hellen, energischen Kopf. Er will den ganzen Menschen, nicht den thieri¬ schen für sich, wie der Materialismus, nicht den geistigen für sich, wie der Spiritualismus, sondern Leib, Seele und Geist in Einem, harmonisch, lebendig, kräftig, ganz und gar, wie er sich selber kennt und hat. So haben ihn von dem gewöhnlichen, falsch verstandenen, glatt getretenen Christenthum unserer Zeit, wie von der Zeitphilosophie eben diese seine herrlichen 5 Sinne zugleich hinweggewiesen. Die „verzwickte, untergeordnete Stellung, welche die Hegelsche Philosophie der Natur gibt", trieb ihn aus der dumpfen Stubenluft des Systems, er mußte von Anfang dagegen, wenn auch sich selbst noch nicht genug bewußt, gegen die Lehre protestiren, welche in der Natur oder Sinnlichkeit nur das Anders- oder Außersichsein des Geistes er¬ blickt, werde sie aus dem Katheder oder auf der Kanzel verkündigt. Vermißte er aber in der speculativen Philosophie das Element der Empirie, so vermißte er nicht minder in der herkömmlichen Em' pirie die Speculation. Wollte er sich an der Natur von dem syste¬ matischen Rausche ernüchtern, so wollte er in ihrem frischen Wasser- bade sich auch innerliche Lebenskraft schöpfen; wollte er den Geist in die Natur versenken, so sollte es sein, nicht um sich darin zu entgei- sten, sondern umgekehrt, um darin die Wasser des Lebens zu trin¬ ken, um sich an ihr zu begeistern. Das Innere in Natur und Menschen zog ihn an sich, in der Vertiefung und Versenkung in das Wesen, den Kern, die ursprünglichen Elemente des natürlichen und menschlichen Daseins hatte er seinen Cultus; dieses innerste Wesen, in dem die Pulse alles Lebens schlagen, aus dem die Keime alles Gedeihens sprießen, ward sein Gott. „Das Wesen deS Men¬ schen ist sein Gott!" das liegt ja nahe genug dem Satze: Gott ist das Wesen des Menschen; Gott hat es geschaffen und erhält es: also ist er es. So soll nur Feuerbach das Wesen des Menschen sich und uns nur immer klarer und reiner darlegen, soll ganz in seine Tiefe graben; der Gott, dessen Werk dieses Wesen ist, wird dann um so klarer sich vor unser Geistesauge stellen. Tüchtige psy¬ chologische Betrachtung ist es in der That, welche dem in der Spe¬ kulation verflüchtigten Glauben und Gott wieder eine feste Basis in unserem Herzen zu geben im Stande wäre. Sofern Feuerbach in die Tiefen der Seele blickt, um das Wesen des Menschen zu er¬ forschen, arbeitet er im Dienste der Religion und Gottes, mag er es auch noch so wenig wollen. Nur daß man Feuerbach um seiner Cynismen, seiner Splitter¬ nacktheit und Natürlichkeit willen nicht mit einem blos sinnlichen, geistlosen Materialismus und Naturalismus zusammenkopple! Von dieser Flachheit und Leerheit ist er ewig weit entfernt. Als Ludwig F. das Gymnasium verließ, war er auf dem Wege, ein Pietist zu werden oder, wie man in Franken die Pietisten heißt, Mystiker. Augustin's Schriften zogen ihn besonders an und mit ganzem Her¬ zen ergab er sich anfangs in Heidelberg der Theologie. Noch heute ist er für die alten Mystiker begeistert, die er sogar in seinem blin¬ den Haß gegen alles theologisch-religiöse Gebiet der Bibel, dem Buche der Bücher, vor dessen Tiefe und Unergründlichkeit er sonst hinlänglich Ehrfurcht hegt, vorzuziehen sich die Miene gibt und wohl auch in den Kopf setzt. Dieser Zug in die geheimnißvollen Tiefen des Lebens. dieser Trieb in das schlagende Herz der Natur adelt seinen Naturalismus und gibt ihm diesen Schwung, diesen in seiner Art heiligen, reinen Feuereifer für das unmittelbare Körper- und Geistesleben. Ein energischer Trieb des Erkennens, eine scharfe Anschauungs- und Auffassungsgabe, unterstützt durch ausgebreitete philosophische und insbesondere naturwissenschaftliche Kenntnisse, be¬ fähigen ihn, in seiner Art den Geist in der Natur und die Natur im Geiste zu erkennen und erkennen zu lassen. Aber diese seine Art, den reinen Gedanken und die positive empirische Anschauung zu vermitteln, ist eine für klare wissenschaft¬ liche Entwicklungen und Resultate unzulängliche. Janusartig immer gegen zwei Feinde sich kehrend, gegen das nur spekulative und ge¬ gen das nur Empirische kann er keinen Augenblick in ruhiger Be¬ trachtung und Entfaltung verweilen: eine Seite, ein Begriff, eine Anspielung, ein Wort kommt zum Vorschein, das zu speculativ oder zu empirisch lauten könnte, gleich muß die andere Seite hervorge¬ kehrt werden. Daher ein ewiges Abspringen und Abbrechen von Einem auf das Andere, von dem Gedanken zum Bild, von dem Begriff zur Sache, vom Satz zum Gegensatz. Dieß nimmt die Ruhe und Stetigkeit zwingender Entwicklung. Der Leser findet so wenig als der Verfasser einen Ruhepunkt, es ist ein stetiges Gäh- ren und Sprudeln, und wenn wir dem auf die entgegenstehende Seite hineinbrausenden Glutbach der Gedanken und Witze folgen, saust und zischt es uns in den Ohren nicht anders, als „wie wenn Feuer und Wasser sich mischte." Diese Art zu denken und zu produciren ist bei Feuerbach weder eine künstlich-forcirte Genialitätssucht, wie etwa Br. Bauer sie an¬ strebt, noch ein bewußtloses, blindes Sichgehenlassen, wie es sonst erscheinen könnte. Er thut das mit klarsten Bewußtsein, so daß er diese Art, den Stoff zu behandeln, sich selber zur Ausgabe und zum schriftstellerischen Berufe macht. Er will damit auch einleuchtender, in die Augen springender, rascher und leichter auf den Leser wirken. Er nennt es seine Methode, das Hohe stets mit dem scheinbar Gemeinen, das Fernste mit dem Nächsten, das Abstrakte mit dem Concreten, das speculative mit dem Empirischen, diePhi- losophie mit dem Leben zu verbinden; sie soll das Allgemeine im Besondern darstellen, versenkt in das Element der Sinnlichkeit, aber so, daß der Gedanke auch mitten im Freudentaumel der Far« laste nicht die Besinnung, die Geistesgegenwart verliert, viel¬ mehr mitten im Außer Sinsheim der Sinnlichkeit unmit¬ telbar bei sich selbst ist und so, aber ganz incognito, ge¬ gen die Lehre polemisirt, welche in der Natur oder Sinnlichkeit nur das Anders - und Außersichsein deö Geistes erblickt. Das Mittel, glied, der l'vrminus modius zwischen dem Hohen und Niedrigen, dem Abstracten und Concreten, dem Allgemeinen und Besondern ist nach ihm praktisch die Liebe, theoretisch der Humor; die Liebe verknüpft den Geist mit dem Menschen, der Humor die Wissen¬ schaft mit dem Leben, die Liebe ist selbst Humor und der Humor Liebe. Den Humor eben, der übrigens keineswegs nur in gemüth¬ lichen Späßen oder in willkürlichen Verknüpfungen und Un¬ terbrechungen besteht, überhaupt aber auch dem Gebiete der Wis¬ senschaft nur nach seinen w esentlt es e n Eigenschaften geltend gemacht werden kann — diesen Humor in die Wissenschaft einzu¬ führen, war sein Bestreben, wie er sagt. „Das Bild hat bei mir nicht die Bedeutung des Auswuchses üppiger Phantasie, die sich gedankenlos zwischen den Verstand und die Sache einschickt, die den Gedanken nur verschönern oder gar ersetzen soll, sondern das Bild ist bei mir die Sache selbst, aber im concreten Fall, der Ge¬ danke selbst, aber zugleich als ein Gegenstand der Anschauung. Die humoristische Bilderthätigkeit ist bei mir Methode des seiner selbst vollkommen mächtigen und bewußten Gedankens. Sehr häufig sind freilich Witz und Fantasie da, wo sie nicht in ihrem eigenen Elemente, dem der Poesie, sivd, nur Viti-l snleii«litt.l, nur Lückenbüßer des Gedankens. Etwas anderes ist eS dagegen, 'wo sie die Früchte der Erkenntniß sind, denen nur die innere Reife den reizenden Farbenschmuck der Schönheit aufgedrückt hat, wo es nicht das Feuer der Sinnlichkeit und die Glut der Begierde ist, die den e r- sehnten Gedanken in täuschenden Bildern zu erfassen strebt, sondern die Glut des vollendeten Genusses, wo die Fantaste die Geliebte des Gedankens ist, die die selige Gewißheit, daß sie sein, daß Er ihr Wesen ist, dem Gedanken in freudetrunke¬ nen Blicken entgegenstrahlt, So sind Witz und Fantasie nichts weiter, als der sich selbst erkennende und klar durchschauerte Gedanke, der sich freiwillig zum Bilde entäußert, der sich anders ausdrücken könnte, wenn er wollte, der nur aus Ironie unter der 2 Maske des Scherzes und Bildes den Ernst der Wahrheit verbirgt. Ein wesentliches Attribut des Gedankens, der sich so ausdrückt, ist aber der Humor, der jedoch hier keine andere Bedeutung hat, als die. daß er der Privatdocent der Philosophie ist." Hat der Humor für Feuerbach die Bedeutung eines Privatdo¬ centen der Philosophie, so ist dies der Humor davon, daß er es auch selber nicht über den Privatdocenten hinaufgebracht hat. Man sonnte eben hier eS bedauern, daß Feuerbach nicht durch eine be¬ stimmte Lehrstelle an einer Universität genöthigt worden ist, sich zu zügeln und seinen unruhige» Privatdocenten förmlich zu Hause zu lassen. Allein es war eine nothwendige Fügung: Feuerbach angle nicht für das Katheder; Witz, der Zwerg unter dem würdig- sten Professorentalar — „wo sich nur ein Fältchen ruckte. Witz hei - vor mit Lachen guckte." Ist Methode in dieser scheinbaren „Tollheit" seiner Feder, und seine Methode die: Empirie und Spekulation, aber nicht den Stoff, sondern das Element, d. i. die empirische Thätigkeit mit der speculativen Thätigkeit zu verbinden, so ist das Verbindungsglied dieser beiden Gegensätze, die Skepsis oder Kritik, ebensowohl gegen das nur speculative, als das nur Empirische, so ist es nicht die Me¬ thode, welche Resultate schafft. Bei diesem ruhelosen Hin- und Wie¬ derstreben, diesem unaufhörlichen Frontemachen gegen das Verschie¬ denste, in dem stetigen Abwehren des irgendwie Ausschließlichen und Einseitigen wird die Munition verschossen, ehe es zur eigentlichen Hauptschlacht kommt. DaS Kleingewehrfeuer des Witzes schadet viel, und der hat immer etwas gewonnen, der die Lacher auf seiner Seite hat, aber für den Punkt und Augenblick, da es Ernst wird, muß schweres Geschütz und schwere Reiterei in gemessenem Schritte einher¬ donnern. Feuerbach'ö Methode ist also nicht die gute, nicht die rechte, um zu einem positiven Ziel zu kommen. Verbindung blos der em- pirischen und speculativen Thätigkeit durch die Kritik oder Skepsis ist schließlich nichts als blos negatives, kritisches Verhal¬ ten gegen Empirie und Speculation; in diesem blos negativen, blos abwehrenden, verzehrenden Thun geht Feuerbach's Wirken vollständig auf und eS kommt nichts dabei heraus. Nur wo Positives zu Tage kommt, ist ein Anschluß von An¬ hängern oder Schülern möglich. Die bloße Negation macht keine Proselyten. Affen gibt eS freilich allenthalben. Nie und nirgends aber erstanden reformatorische, die Menschheit wirklich weiter bildende Genien an der Hand der bloßen Negation, der bloßen Leidenschaft¬ lichkeit des Zerstörens. Nie zwar hat in ihnen das „Eiferartige", wie eS Plato nannte, gefehlt, selbst Christus wußte die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel zu werfen, aber bei allen bekundete die Ruhe, Sicherheit und Stetigkeit, welche ihre Erscheinung, ihre Tha¬ ten und Worte charakterisieren, daß ein wirklicher, in sich beschlosse¬ ner, ihnen gegenständlich gewordener Gehalt ihre Brust erfüllte, ver¬ möge dessen sie mehr gaben, als sie nahmen, und darum das Jahr¬ hundert und die Welt bezwangen. Ich wollte wünschen, Feuerbach könnte recht viele wirkliche An¬ hänger um sich sammeln, mir wäre nicht bange um Himmel und Erde, um Religion und Sitte, beide müßten am Ende nur gewin¬ nen. Aber „Gottlob", wo nicht „leider" gibt es wenige Feuerbachs heute, zu dieser unserer schlappen, naturlosen, verkrüppelten und ver- zwergten Zeit der Fräcke und Maschinen. Wer seine Ansichten thei¬ len wollte, müßte auch so gesund, lebenskräftig, sinnlichfrisch, geistes¬ freudig sein, wie er. Mit vollem Rechte mag er von sich sagen: se^Jo c't-se l'Kommv ahme; wie viel erst die Methode!" Ist er selbst seine Methode, so kann sie auch nur von ihm getrieben werden. Lesen ihn Viele, so verstehen ihn Wenige und stimmt mit ihm im Herzensgrunde Keiner überein. Weil aber sein Denken und Lehren so durchaus subjectiv und individuell ist, so wird er wohl schwerlich anders, denn als ein glänzendes Meteor vorüberziehen. Ich kann nicht denken, daß dieser Vulkan so leicht ausbrenne, von Zeit zu Zeit wird er die Glutbäche seines Innern unter Blitz und Wetterleuchten ausströmen, auf der Lava, wenn sie erkaltet, wird einst noch manches Korn und manche Rebe sich bauen lassen, aber unmittelbar zum Heile des Jahrhunderts wirken wird er nie, dazu fehlt es ihm an Objektivität, an einem Inhalt, der ihm Ruhe und Stetigkeit abgewänne. Wenn aber Feuerbach der Mann des objectiven, positiven In¬ haltes wäre, so würde sicherlich seine Arbeit eine andere als philo¬ sophische sein. Er ist philosophisch nur um das, was Philosophie ist und sein will, zu negiren. Und er negirt es nicht schrittweise mit der Widerlegung der Dialektik, sondern sprungweise mit der 2» Widerspiegelung deS Humors. Das aber, waS ihn immer aus dem Strome ruhiger Entwicklung auftauchen läßt, was ihn immer wieder aus der dunklen Tiefe des Gedankens in die lichte Er¬ scheinung deS farbenvollen Bildes aufschnellt, was ist eS an¬ ders, als — sein poetischer Genius. Und darin ist er Franke. Wohl liebt eS auch dieser deutsche Stamm, in die Tiefen von Natur und Gottheit sich zu versenken, den finstern Räthseln deS Bestehens nachzusinnen, nach dem Ausgang ins ewige Licht zu for¬ schen — aber weniger im Element des reinen Gedankens, als im Element der Anschauung, weniger auf dem Wege der Begriffs-, als auf dem der Welt- und Lebens-Dialektik. Die Natur, die Geschichte, das Herz geben ihm die lichten Bilder, in denen sich die Geheim-- nisse der Ewigkeiten auf die ihm vernehmliche Weise spiegeln. Ich habe eS in den frühern Briefen über Schwaben und Franken ausein¬ andergesetzt, wie das Organ des fränkischen Genius vorzugsweise die Fantasie ist, wie er darum minder für die Philosophie als für die Poesie genaturt ist. Sein offener Sinn für alle Weiten und Breiten der Natur ist der willige Diener für die huldreiche Herrin. So hat Franken dem nachbarlichen Schwabenstamme keinen Philosophen entgegenzustellen, aber es hat einen Göthe, einen I. Paul, einen Fr. Rückert zum Ersatz. Sie alle sind in ihrer Art Philo¬ sophen und Denker, meistens nur zu viel für die Realitäten, welche die Poesie verlangt. Aber Göthe wollte sich nie und nimmer ein System vor seine freie Aussicht in Natur und Welt und Menschheit „hinpfählen" lassen; Jean Paul und Rückert fliehen vor dem starren Gedanken immer in das weiche, faßlichere Bild zurück. Der Natur¬ sinn, die Fantasie, der poetische Genius ist eS denn, der auch un¬ serem Feuerbach die philosophische Palme entreißt. Darf ich den schwäbischen Philosophen Schelling, Hegel, Wag¬ ner die drei fränkischen Dichter Göthe, I. Paul und Rückert gegenüberstellen, so mag ich auch sür Feuerbach eine in meinen frü¬ hern Briefen charakterisirte schwäbische Erscheinung entsprechend fin¬ den. Auch einen noch jungen Mann, der zwischen Philosophie und Poesie in der Mitte steht, der, wenn er dichten will, denken muß und wenn er denken will, dichtet, der Poet genug ist, um sich sein Phi¬ losophiren zu verderben, und Philosoph genug, um sich sein Dichten zu zerstören. Ich meine den sonst freilich nicht so bedeutenden und originellen, nicht so naturfrischen und von leiblicher und geistiger Gesundheit strotzenden Gustav Pfitzer, der mit seiner philosophischen Natur ebenso in die Poesie übergreift, als Feuerbach mit selner poetischen Natur in die Philosophie. Zum Philosophen hat Feuerbach zu viel Lust am Unmittelbaren, zu viel Naturstnn und einfaches Lebens- gefühl, zu wenig Kathedergeduld, zu wenig Sitzfleisch. Zum Dich- ter hat er zu viel Lust am Zerlegen und Zerstören, er pflückt das doive Maienblümchen am Ende doch nur, um eS zu zerpflücken, und an ihm, dem Monocotyledonen, die Dicotyledonen zu negiren. Was der Brutwärme eines mild ihm entgegenschlagenden Herzens bedarf, um ein eigenes Leben zu erlangen, muß an der Glut deS Feuerbach- schen Herzens sich versengen. Wann so der Philosoph den Dichter und der Dichter den Philosophen in ihm aufzehrt, so bleibt am Ende freilich wenig übrig außer dem einzigen Manne, Ludwig Feuerbach genannt, der mit unverwüstlichem Appetite fort und fort sich jene beiden schmecken läßt. Und nun wir uns aus seinem geistigen Wirken das geistige Bild deS Mannes gewonnen, soll zur Vollendung des Gemäldes Feuerbach selbst in leibeigener Gestalt ein Stündchen sitzen. Der schönste Sommer-Sonntagsmorgen zieht über das alte freundliche Nürnberg herauf, wir verlassen die heimlich und traulich uns grü¬ ßenden engen, aber reinlichen und wohnlichen Straßen mit ihren malerischen Giebeln und lieblichen Erkern zu guter Stunde, um noch vor Mittag nach Bruckberg zu kommen. Zur rechten Seite der Hauptstraße von Nürnberg nach dem 8 Stunden südlich entfernten Geburtsort UzenS, der Ruhestätte Caspar Hanser's, dem alten Mark¬ grafensitze Ansbach folgen wir einem kleinen in die Rezat heranflie¬ ßenden Bache, der Biber, die sich durch ein schmales, sanftgemul- detes Wiesenthal anspruchslos und still wie der abgelegene und durch Wald umschlossene Thalgrund, herunterschlängelt, fleißig Müh¬ len treibend, manchem Dorf und Weiler, die Sohlen netzend und den Wanderer mit allem, was das Aug' ergötzt, erfreuend. Auf die großen Erinnerungen vergangener Tage der alten Kaiserstadt und den behenden Lärm ihrer regen, gewerbsfleißigen und kaufmännischen Gegenwart spricht es uns so traulich in diesem stillen Wiesenthale zum Gemüthe, und wenn es wie heute Sonntag Morgen ist, und die Glocken klingen, und die frischgeputzten Mädchen, die heitern Burschen und hinter ihnen Väter und Mütter in würdigem Sonn¬ tagsstaat, das Gesangbuch unterm Arm, durch ihre beblumten Felder zur Kirche wallen, wenn hinter uns noch weithin der Gesang der Gemeinde auf den Tönen der Orgel sich durch die reinen, ruhigen Lüfte schwingt, wenn weiterhin aus dem Giebel einer alten Kirchen¬ ruine durch die leeren spitzbogigen Fenster blauer Himmel und grüne Blätter schauen, so muß es in uns Sonntag sein, und alle Gedan¬ ken und alle Sinne drängen sich zu stillem, seligem Gottesdienst. Kann hier in solcher Wald- und Wieseneinsamkeit, so fragen wir, kann in solcher einfach den Gott im stillen Säuseln der Blät¬ ter, im Blühen und Duften der Blüthen, im Schmettern der Lerche, im Gesumse der Biene, im Gezirpe der Eleate predigenden Umge¬ bung ein Geist der Hölle, ein Geist des Gottlosen und Widergött¬ lichen Hausen? Unmöglich! Ein solcher geht heute nicht mehr in die Wüste der Einöde, er geht in die Wüste der rauschenden Städte, in die Wüste der um Geld und Gut, um Namen und Ehre in Neid und Haß, um die Götter des Bauches und um Mammon, und leider auch um Theologie und Religion in Erbärmlichkeiten sich verzehrenden, ihre hoffnungsvollsten Kinder dem Moloch der Zeit in die von Gierde und Leidenschaft brennenden Arme werfenden Gesell¬ schaft. Wer aber in die Einöde fliehet, das ist ein Geist der Wahr¬ heit und Freiheit, der die Lüge, die allherrschende, und die Knecht¬ schaft, die allduldende, flieht, das ist ein Geist, der frische Luft, hel¬ len Sinn, klares Auge ohne Brille und Opernglas verlangt, der den falschen Aufputz, die gleißnerische Schminke einer sich selbst um ihre theuersten Interessen belügenden Zeit haßt, der diesen Affengeist verachtet, der heute von dem Franzosen sein Leben und seinen Geist, morgen von dem Engländer sein Geld, seine Maschinen borgen will, mit einem Worte, es ist ein Geist, der von dem blos super- naturellen Oeus ox macliioa nichts betteln und dem materiellen plus in in-teliillll nichts opfern will. Mittag ist nahe herangekommen, indem wir so sinnen und wandern, die Hitze will drückend werden, wir sehnen uns nach dem Ziele der Wanderung, da erscheint durch Bäume und Holz hindurch links auf einer kleinen Anhöhe, durch den Bach von den Hütten und Häusern zu seinen Füßen geschieden, das alte Jagdschloß, der Markgrafen von Anspach, daS dem Weiler Bruckberg Namen und Geschichte gab. Markgräfliches Jagdschloß — was knüpft sich an solchen Namen nicht alte Romantik von Jägerlust aus Hirsch und Eber, und auf manches edlere Wild, das sich in süßem Garne fangen läßt, von Falken-, Beth- und Mtnnedienst. Aber gut, daß wir, ich meine wir, die wir Unterthanen der Markgrafen von Ans- bach waren oder von solchen geboren sind, nichts von Ansbach-Bat- reuthischer Romantik wissen, es sei denn von den Sauhetzen, von dem Pferde-zu-todt-Reiten, von den Gestüten, von der Hundezucht, und ganz absonders von dem Galgen, an dem der letzte kleine Tyrann den unbedeutendsten Dieb neben dem Vatermörder baumeln ließ, um seines Namensvetters, Aleranders des Großen würdig zu wer¬ den. Nach dessen Tode erbte bekanntlich Preußen, in dem damals noch der Korporalstock, der Zopf und die Kamasche im schönsten Flore standen, daS Ansbach »Bairenthische Fürstenthum, und für eS war die Erbschaft weder zu romantisch noch zu poetisch. Also gut, sagte ich, daß wir nicht mehr nach dem Hallo der Jäger und dem Echo der Hörner lauschen, so treten wir ungeirrt und ohne Leid näher und sehen das im ganz einfachen Stile gebaute drctflügelige Schloß sammt den Nebengebäuden, das in eine Porcellanfabrik um, gewandelt ist, welche ein tu Literatur und Philosophie gut bewar> derter, lebenskräftiger und völliger Mann, der Schwager Feuerbach's, besitzt und leitet. Köstliche Ironie, daß Feuerbach den Oertern entflieht, wo den Göttern der verblaßten Welt geopfert wird, um dahin zu ziehen, wo man die Opferschalen dazu fabrizirt, vor allem buntgeschmückk- Kaffeeschalen. Doch ein Trost ist nahe. Konnte der Mensch nie, mais seinem Geschick und seinem Gott entfliehen, verfolgt nun vol, tends heute der Gott der Zeit auf den Flügeln deS Dampfes den armen Flüchtling über Meer und Land bis in die geheimsten Schluch¬ ten und Klüfte, daß von ihm wenigstens die geschäftigen Menschen das Wort empfinden: „nahmest Du die Schwingen der Morgen¬ röthe und flögest an die Grenzen der Erde, siehe, ich bin Dir nahe;'' — kann also dagegen selbst sür den feurigsten Geist keine Rettung sein, seitdem die Erfindung des Satans daS Feuer mit dem Wasser zusammenschweißt, um die beiden herrlichen Elemente als fahle, todte Schwaden, gespenstig-blasse Nebel und Dünste dem leeren, nimmer¬ satten, ewig nach Wirklichkeit und Leben gähnenden Gott der un» tern Welt zu opfern — nun, Feuerbach läßt die großen, mit Ro¬ sen und Vergißmeinnicht bemalten Schalen dem nichtsnutzigen, schlaff gewordenen europäischen Leben, überläßt eS dem armen Volke,, das Wein und Brod nicht kaufen, jedenfalls mit seinen schlappen Mä¬ gen nicht vertragen kann, daraus sein Gemisch von Kaffee, Runkel¬ rübe, Ctchorie und — Kuhmilch zu trinken, er aber setzt sich auf den Dtvan und schenkt seinen reinen, schwarzen, klaren, natur- und gottvollen Mokka ohne Interpolation von Milch und Zucker in die kleinen, zollhohen Kaffeetassen, von denen eben aus dieser Fabrik jährlich so viele Tausende gegen Morgen in die Gemächer der seli¬ gen OSmanl.is wandern. Uebrigens ist der Betrieb dieser Fabrik geräuschlos genug, um, während unten für die Freuden der Gegenwart gemodelt, geformt, gebrannt und gemalt wird, oben den Demosthenes im Entwurf sei¬ ner Philippika gegen diese gott- und geistlose Gegenwart nicht zu stören. Die Stille des Thales bleibt auch am Werktage, Garten aber und Wald, Wiesen und Feld und hochgeschlungene, vicldol- dige Hopfen sind nahe genug auf jedem Schritt, den man zum Hause hinaus macht, schauen freundlich genug in jedes Fenster deS schön gelegenen Schlosses herein, daß der Eindruck von ländlicher Ruhe und Einfalt auch durch ein lauteres Handthieren nicht wohl gestört würde. Wir sind die kleine Anhöhe hinangegangen, durchschreiten den blühenden, sichtlich unter einem herzlichen, befreundeten Gärtner ste¬ henden Garten voll Blumen und Büschen, der von dem Hufeisen deS Schlosses umfangen, an die Stelle deS frühern Schloßhofes ge¬ treten zu sein scheint, und gehen durch die Gänge und Corridore des ersten und zweiten Stockwerkes, bis' ein paar muntere Kinder uns die Thüre, zu der wir wollen, bezeichnen. Wie sieht wohl Ludwig Feuerbach aus? Ziemlich beleibt, groß, frisch und roth, wie die Natur ihre Lieblinge und Liebhaber zu schaffen und zu erhalten Pflegt? Müßte doch Justinus Kerner, der Geisterseher, dürr und eingefallen, mit tiefen Augenhöhlen, blassen Wangen, vorgebeugter Haltung, ein Bild seiner gespenstigen Kame¬ radschaft sein! Kerner aber freilich ist rund, dick und bedeutet, was man nur sonst unter Saft und Blut, von Kraft und Leben, vor dem die Geister fliehen, verstehen mag. Feuerbach nun ist zwar nicht zerfetzt und abgethan wie Hieronymus in der Wüste, daS ver¬ haltene, nur stoßweise sich Lust und Bahn machende Feuer, daS in dem Vulkan seines Innern glüht, hat die Lebenskraft ihm nicht ver¬ zehrt, der Groll gegen eine in blasser Gottseligkeit und unnatürlicher Gottlosigkeit verdorbene Well hat seinen Blick nicht verwildert, seine heitre Stirne nicht zerwühlt; aber in dieser untersetzten, nichts we¬ niger als beleibten Figur, in diesem scharf gebildeten Kopfe, in der entschiedenen Stirn, in diesen tiefen blauen Augen, in diesem brau¬ nen, straffen Schnurrbart, der die Oberlippe deckt, und sammt dem leicht um den Hals geschlungenen Tuche, dem leichten, kurzen Röck¬ chen, was eher einen Kriegs- oder Jägersmann, als einen Philo¬ sophen in dem Inhaber vermuthen ließe, zumal aber in dem ent¬ schiedenen, lebendig, obgleich selten hervorgestoßenen Wort erkennen wir wohl den Feuerbach, den Mann des Gedankens, der Entschie¬ denheit, des Ungestüms, wenn es einmal daran geht, des innern Gäh- rens und Lebens, der gesunden, compacten, von einem überlegenen Geiste gefaßten und beseelten Natur, welche in sich gefestet jeden Augenblick zum Geben und Nehmen, zum zweischneidigen Worte und zum frischen, scharfen Genuß der Sinne sich entbinden kann. Und nun zum gastfreundlichen Willkomm ein Krug guten bairischen Vieres aus dem frischen Fasse im kühlen Keller — oder beliebt eine Flasche edlen Main- oder Tauber-Weins eher? — nun lassen wir die Sonne draußen brennen, lassen den Berlinern ihr Weißbier und ihren Fusel, und stoßen fröhlich an Ms das Leben aller Schurken dort draußen in der Welt. Was sonst in Feld und Garten Frisches, scharfes und Pikantes, Ganzes und Einlappiges grünt und blüht, ein holdes Maienblümchen erst, dann ein tüchtiger Rettig, ein saftiger Spargel, der mag in Salz und Essig und Pfef¬ fer sich guter Kundschaft freuen . . . dort aber liegen auf dem offe¬ nen Klaviere heitere und ernste Noten, wie der finstere Dämon oder der lichte Engel, der des Denkers Stirn umflattert, eS eben ver¬ langt: vielleicht das „Freut Euch des Lebens" neben dem „60 pro- lllllSis" . . . Und dann ein Gang in den nahen Wald unter die Lieblingsbuche oder auf das weiche Moosbette unter der hohen Fichte; nach der Rückkehr schlürfen wir in der Gartenlaube — wir wissen schon aus einem kleinen schmucken Täßchen, wenn'S uns Freude macht, den gewürzigen Trank . . . Zum Schluß, wenn'S gefällig ist, eine gute Prise Pariser; sodann theilt unser Wirth und Held uns vielleicht ein Stück von seinen Thesen zur Reformation der Hegel'schen Philosophie und Lutherischen Theologie mit — o, die Universität Wittenberg ist aufgehoben, der Professor, der an die dortige Schloßkirche die fünfundneunzig Sätze der Reformation annagelte, ist todt, L. Feuerbach ist nicht über den Privatdocenten hinausgekommen, und Bruckberg hat zwar ein Schloß, aber keine Kirche . . . was unsere Zeit so krank macht, Schlösser gibt eS wohl, aber keine solche Kirche, von der das Wort des Lebens in alle Weltlichkett wieder ausgehen könnte. Bauen wir eine Kirche, so baut jetzt eiliger als je der Teufel eine Kapelle daneben; laßt sehen, ob es besser komme. Jeder in seiner Art sehe, ob er helfen könne, es besser zu machen. Feuerbach sucht eS in seiner Weise mit frischem Quellwasser und verzehrenden Gedankenfeuer; kalt Wasser mag un¬ sere Zeit nicht leiden, eS muß lau, noch besser Dampf, also weder Wasser noch Geist sein. Vielleicht, daß ein anderer, nicht so ver¬ neinender Geist, der ruhiger zu Wege geht, den Stab an die rechte Stelle schlägt, wo die Wasser des neuen Lebens entspringen mögen. Feuerbach ist der Mann nicht, vielleicht aber ist es überhaupt nicht ein einzelner Mann, sicher aber wohl nicht eher die Zeit des Heiles, als bis die Sturmflut des Unglücks wieder das versumpfte Leben aufpeitscht, und die Menschheit, im Feuer der Trübsal von den Schlak- Zen der Afterbildung gereinigt und geläutert wieder frisches, lauteres Wasser aus Gott und seinem ewig festen Worte, das nur ergriffen und verstanden sein will, um Geist und Leben zu sein, zu suchen und zu finden weiß ... Solche Gedanken tauchen in uns auf und nieder unter den Anschauungen und Betrachtungen des heutigen Tages, der uns ei¬ nen so seltnen Mann vorgeführt hat. Ein Mann, ein Mensch im vollen Sinne deS Wortes zu sein, das bleibt unserem Feuerbach; fehlt ihm zu den fünf Sinnen nicht der Geist, zum Geist nicht die Seele, die sich an allem Lebendigen, an Natur und Schöpfung er¬ füllt, erglüht er im Forschensdrange, ist Wissenschaft, Kunst, Sittlich¬ keit ihm heilig — mag er die Religion nicht, weil er die Pfaffen haßt, will er Gott nicht draußen wissen, weil er ihn in der Natur und im Busen fühlt, schilt er die Bibel, um die Mystiker zu loben, ist er in seiner Weise unchrtstlich, aber fromm, unbiblisch, aber reli- giöS, so klage und Schelte, so hebe den Stein auf gegen ihn, wer sich ohne Sünde weiß. Zu fürchten ist sein Thun nicht, denn Nie¬ mand macht ihm den Feuerbach nach, aber liebenswürdig ist viel¬ leicht dieser straffe, gesunde und völlige Mensch? Wo nicht, so lassen Sie ihm das Seine, worin er selten und seltsam ist. Der Himmel, der ihn werden ließ und ihn erhält, meint ohne Zweifel — eS muß auch solche Käutze geben. Die deutschen Schriftsteller und die Gesellschaft I. — Sonst und Jetzt — Es gab eine Zeit, wo der Autor, wenn er keinen sonstigen Rang und Titel besaß, in der Gesellschaft kein Ansehen hatte. Die kühnsten und edelsten Geister dieser Art waren gewissermaßen vogel¬ frei. Der große Haufe hielt die Verschiedenheit der Stände nicht für eine historische, sondern naturhistorische Frucht, für eine vom lie¬ ben Herrgott selbst am sechsten Tage eingesetzte Ordnung; als Gott die großen und die kleinen Lichter am Himmel schuf, ließ er auch die Könige und Fürsten, die Bischöfe und Bürgermeister, dann die Schneidermeister, Schuster und die übrigen löblichen Zünfte und Ho¬ noratioren wachsen. In welches Fach sollte man den Schriftsteller stecken? ES blieb ihm nichts übrig, als auf Schiller's Rath mit Gott in seinem Himmel zu wohnen. Dem ordentlichen Bürger war er ein überzähliges Geschöpf, der lustige Hofnarr der Welt. Er stand aber nicht unter, sondern außer der Gesellschaft und über ihr; er war Bettler und König zugleich. Denn nicht nur die Spie߬ bürgerlichkeit der Stände, sondern auch sein Stolz machte ihn zum Fremdling in den Kreisen deö geselligen Lebens. Zu solcher Lauf¬ bahn gehörte ein heroischer Muth, ein starker Geist, deshalb gab eS unter den Schrifthelden des vorigen Jahrhunderts, wie einst unter den italienischen und spanischen Malern, so viel reckenhafte, eigen¬ willige, wildfrete Charaktere: Heinse, Lesstng, Lenz, Seume, OelSner, Schubart u. A. Wer fühlte nicht einen Ehrfurchtsschauer, wenn er den Ausdruck gebietender Freiheit im Antlitz dieser Literaten steht, dieser wahrhaften Helden, obgleich der Zopf ihnen hinten hing! Die Gesellschaft war ihnen gerade auch nicht verschlossen, aber sie erschie¬ nen nur als seltene Gäste darin. HöflingSnaturen mochten sie als Raritäten belächeln, im Allgemeinen nahm man sie, wo sie kamen, mit Ehrfurcht auf; denn sie waren den ,,GebiMe^1-..wirklich über¬ legen und hatten der Gesellschaft mehr zu bieten, als diese ihnen. ES war die Zeit, wo ein Rousseau in selner Dachkammer Prinzes¬ sinnen und Fürsten Audienz gab. Man glaube nicht, daß wir diese Vereinsamung zur Norm ma¬ chen, oder als alleingiltiges Merkmal schriftstellerischer Größe hin¬ stellen wollen; sie hatte eben so häufig, wie bei den Buchstabenge¬ lehrten, die noch immer außer der Gesellschaft stehen, ihren Grund in einem Hange zur Träumerei und Originalitätssucht. Die alten Genies setzten der Aristokratie des Goldes und der Titel die des Geistes entgegen, ließen sich aber von ihrem Uebermuth zu weit fortreißen, und das Leben, in dem sie doch am Ende wurzelten, rächte sich an ihnen. Heutzutage besteht die Gesellschaft nicht mehr aus Geburts¬ und Geldadel, sondern aus den sogenannten Gebildeten. Aber nickt blos die größere Toleranz dieser neuen Gesellschaft hat eine Annä¬ herung zwischen ihr und den Literctten bewirkt, sondern eine neue Richtung der Literatur selbst, die Journalistik. Denn man gestehe sich,' daß der Dichter, der höher strebende, ungewöhnliche Geist, sich nie und nimmer den Gesetzen der gebildeten Gesellschaft ganz unter¬ werfen, daß er in ihren ruhigen, harmonisch abgezirkelten Kreisen stets ein Fremdling, ein seltener, wenn auch willkommener Gast blei¬ ben wird. Von seinem Verhältnisse zu ihr, einem ausnahmsweisen, kann also hier nicht die Rede sein. Die Journalistik hat den Schriftsteller gezwungen, seine Ein¬ samkeit zu opfern und sich unter die Gesellschaft zu mischen. Der TageSschriststeller ist mit seinen Bedürfnissen auf sie verwiesen; denn die Gebildeten sind das verklärte Abbild des Volkes und geben von jeder Bewegung in den Tiefen desselben schnelle und feine Sym- ptome. Der regelmäßige Verkehr mit der Gesellschaft, eine Folge der Journalistik, ist und bleibt durch die erweckte lebendigere Theilnahme am Realen, am frischen Inhalt des Lebens, für unsere Literatur höchst wohlthätig. Andrerseits übersehe man nicht, daß eS die re- gelmäßige Beschäftigung des Journalisten ist, die ihm im bürger¬ lichen Leben ein gewisses Ansehen von einem „ordentlichen" Men¬ schen gibt, abgesehen von seinem Einfluß auf Politik und andere praktische Seiten deS Lebens. — So ist der deutsche Schriftsteller civilisirt und zum zahmen Hausthier geworden. So, um uns deutlicher auszudrücken, hat von da an die Lite¬ ratur eine regelmäßige und eigentliche Vertretung in der Gesellschaft gefunden. Aber eS ist eine Sache von Wichtigkeit, daß die Herolde und Dolmetscher unserer Poesie und Wissenschaft, die sogenannten Literaten oder Journalisten, überall die ihrem Berufe geziemende Ach¬ tung finden, und daß sie selbst der Würde und Freiheit ihres Stan¬ des nichts vergeben. In den Betrachtungen, die wir über dieses Ver¬ hältniß zur Gesellschaft anstellen, werden unsere ernsten Mahnungen nicht blos an die Gesellschaft, sondern vor Allein an die Literaten selbst gerichtet sein. Der Literat, von dem wir eine würdige Ver¬ tretung unserer Literatur erwarten, und für den wir Achtung im bürgerlichen Leben fordern können, muß allerdings der Gesellschaft mehr zu bieten haben, als sie ihm) er muß im Stande sein, in den Be¬ wegungen derselben mehr als das vergängliche Farbenspiel der Mode zu erfassen und zu deuten; sonst freilich ist er zu ihrem bloßen Sprach¬ rohr und Wetterhahn, zu ihrem Schüler oder gehorsamen Diener herabgesunken. _ II. Persönlichkeiten. Wir haben die Schriftsteller und die Gesellschaft einander gegen¬ über gestellt. Von diesem Gesichtspunkte aus möchten wir nun einige Fragen anregen. In der Gesellschaft gilt der Grundsatz, daß jeder Mann von Ehre daS von ihm gesprochene Wort, namentlich jedes über den persönlichen Werth oder Unwerth eines Andern ge¬ fällte Urtheil auch persönlich vertreten müsse. In der Presse, wo das Wort ein tausendfaches Echo weckt, kann man diese Verantwor¬ tung mit noch weit größerem Rechte fordern. Ja, in dem Grade, als die Beschränkungen unserer Presse geringer werden; — und wir hoffen, daß sie einst gänzlich fallen — in dem Grade fällt auch die volle Last der Verantwortlichkeit immer mehr auf den Schrift¬ steller selbst. In der deutschen Presse hat aber bis jetzt eine ganz sonderbare Abnormität stattgefunden. Gewisse Gebiete und Personen wurden durch siebenfache Mauern gegen jedes strenge Urtheil ver¬ wahrt, während Andere, wie Schauspieler, Schriftsteller, Franzosen, Juden der allgemeinen Polemik als öffentliches Gut preisgegeben waren. So stürzte sich die ganze Heftigkeit des Journalismus nach einer Seite hin und unsere Polemik artete nach einer Richtung bis zur rohesten Rücksichtslosigkeit aus, während sie nach der andern stumpf und unbeholfen blieb. In der Uebergangsepoche, in welcher unser Journalismus sich jetzt offenbar befindet, und in dem Maße, basi immer wichtigere Gegenstände und Personen in sein Gebiet ge¬ zogen werden, wird auch eine gleichmäßigere Entwicklung ihrer Aus» drucksweise, eine edlere Stimmung ihres Tones, eine höhere Reinigung ihrer Form wünschenswert!).^ In diesem Punkte kann die Tagespresse von der Gesellschaft nur empfangen. Wir verstehen natürlich nicht unter Gesellschaft die bornirten Gränzen der Salonwelt, sondern die ganze große Welt der Gebildeten. Man hat ein Recht, solche Ansprüche an die deutsche Presse zu machen, eben weil sie am spätesten zur Entwicklung kam, weil sie den längsten Weg gemacht hat und die meisten Ersahrun¬ gen gesammelt haben kann. Ohne das gleißnerische, spitzfindige Raffinement der Franzosen, ohne die ungeschlachte, egoistische Plump¬ heit der Engländer, spiegele sie den deutschen Charakter im Worte wieder, in humaner Geradheit und in züchtiger Gefälligkeit. Sie scheue keine Wahrheit, aber sie sei nicht grausam, und was keinem von unsern beiden Nachbarn gelang, daS gelinge ihr, die Sache von der Person zu trennen. Wo endet aber die Sache und wo beginnt die Person? DaS Wort Persönlichkeit ist in der letzten Zeit eine Vogelscheuche geworden, gerade so wie im vorigen Jahrzehend das Wort „Demagog" eS war. Jeder männliche Freimuth wurde mit dem Schreckwort Demagogie bezeichnet, so wie jetzt hinter dem Worte Persönlichkeit jede von einem strengen Urtheil gekränkte Eitelkeit hilferufend sich verkriecht. Der bessere Ton, den wir unserer Journalistik wünschen, soll den Freimuth ihres Urtheils nicht hemmen; diesen wollen wir vor Allem ihr gewahrt wissen und darum fragen wir nochmals, was ist per¬ sönlich und was nicht? Die Frage ist von Wichtigkeit. Für daS Persönliche hat der Schriftsteller mit seiner Person dem Beleidigten zu stehen; und je würdiger und geachteter wir die Stellung deS Schriftstellers in der Gesellschaft wünschen, desto nothwendiger ist es, daß kein Mackel an seiner Ehre haften bleibe. Andrerseits aber ist Niemand so oft ge¬ nöthigt, Urtheile zu fällen, Interessen und Eitelkeiten zu kränken, als eben der Schriftsteller; und es ist eben so nothwendig, ihm seine Freiheit zu wahren. Soll jeder Narr, der sich durch irgend ein Wort beleidigt glaubt, das Recht haben, ihn aus seiner Ruhe aufzustören? Soll er wie jene Tempelbauer stets mit einer Hand die Kelle führen und mit der andern das Schwert bereit halten? Wir müssen einen besondern Umstand hier in Erwägung brin¬ gen. Die deutsche Schriftstellerwelt hat in den letzten Jahren durch die aristokratische Literatur einen eigenthümlichen Zuwachs erhalten. Wir sagen eigenthümlich, weil die Wappenschilde jener Autoren bei ihrem Eintritt in die Gelehrtenrepublik nicht vor der Thüre draußen weggestellt, sondern mit hineingenommen wurden. Auch Frankreich und England haben Schriftsteller mit Grafen- und Fürstenkronen aufzuweisen, aber diese Herrn gehn nicht wie die Theaterkönige mit der Krone auf dem Kopf herum, die Pretentionen ihres Standes zählen nicht gegenüber der literarischen Gleichheit, und der vernünf¬ tige Grundsatz findet seine Geltung: In der Kirche und in der Literatur sind alle Menschen gleich. In Deutschland ist es anders. Der aristokratische Schriftsteller begreift nicht, daß er sich ehrt, indem er in den Kreis der besten und edelsten Geister seiner Nation tritt, sondern er glaubt sich zu ihr herabzulassen. Daß wir mit diesem Urtheile nicht zu weit gehen, beweist schon der Umstand, daß in Frankreich und England der aristo¬ kratische Autor stets seinen vollen Namen auf seinen Werken nennt, während der deutsche hinter allerlei Pseudonymen sich reserviren zu müssen glaubt; wie die orientalischen Frauen nur mit einem Schleier über dem Gesichte sich sehen lassen dürfen, um nicht von dem ge¬ meinen Blick berührt zu werden. Was das Schlimmste dabei ist, daß die Haut dieser Herrn wirklich feiner und empfindlicher zu sein scheint, als die gewöhnlicher Schriftsteller, daß mancher von ihnen den Anspruch macht, die Kritik solle aus Achtung vor seinem Range (den er doch nicht einmal blos' gegeben) auch Achtung vor seinen literarischen Mängeln haben; daß ein absprechendes Urtheil über ihre Productionen gerne auf das Feld der persönlichen Beleidigung hinübergezogen wird; wie jener russische Taschenspieler, der auf einer deutschen Bühne ausgepfiffen wurde, das Publikum zornig fragte: „Gilt das mir oder meiner Nation?" Wir wollen hier nicht mit Beispielen kommen, obgleich wir deren anzuführen wüßten; wir wollen nur im Allgemeinen darauf hinwei¬ sen, daß diesen Herrn gegenüber die Frage, was ist persönlich oder nicht? am nothwendigsten zu erörtern ist. Denn wenn der bürgerliche Schriftsteller von seinem bürgerlichen College,, Rechenschaft über einen Ausdruck, ein Urtheil verlangt, so ist es immer noch Zeit, zu ermitteln, ob die vermeintliche Beleidigung eine persönliche sei. Wenn der aristokratische Schriftsteller in einem ähnlichen Falle dem bürgerlichen gegenüber tritt, so dürfte leicht der Fall eintreten, daß der letztere aus Stolz auf jede Ermittlung ver¬ zichtete. T a g e b u rh. i. Bekenntnisse der Grenzboten. Mit dem Beginne der zweiten Hälfte dieses Iahrev haben diese Blatte« eine Veränderung erlebt. Sie haben ihrem Geburtsort außerhalb der deutschen Grenzen Balat gesagt, um ihr Zelt im Innern von Deutschland aufzuschlagen; sie haben die Werk'stätte ihres Druckes von Brüssel nach Leipzig verlegt. Eine neue Epoche bricht für sie herein. Bisher glichen diese Blätter jenen freien Tscherkessen, die ihrem Baterland aus eignem Triebe dienen, unberührt von Polizei- und Regimentszwang, nur ihrem eigenen Gewissen folgend; nun treten sie in die Reihe der — Civilisation! Fortan werden sie nicht mehr Bart und Haupthaare nach Lust sich wachsen lassen; sie werden ihre Nägel beschneiden, ihr Kinn glatt scheeren und ihre Glieder in dieselbe Uniform stet- ?en lassen, welche alle übrigen civilisirten Journale Deutschlands ziert. Da steht sie, die gute Mutter der Deutschen, die Gattin Hermann des Cheruskers, die gute treue Mutter Censur! Da steht sie und breitet zärtlich ihre Arme aus, um uns zu empfangen, und weinend stürzen wir an ihre Brust und Thränen der Rührung ersticken unsere Stimme. O zürne nicht, du liebevolle, erhabne Mutter, daß wir dich so lange ver¬ leugnete», daß wir so lange auf fremdem Boden deinen treuen Blicken uns entzogen. Wir haben es schwer gebüßt! Aus allen deutschen Gauen hat man uns zurückgewiesen, denn die Deutschen sind Männer von tiefer Empfindung und dem Sohne, der seine Mutter verleugnet, verschließen die Pförtner alle Thore. Nun denn, hier sind wir! Wir beugen unser Haupt! Reiße uns die strup¬ pigen Haare aus, begieße sie mit deinem Oel, damit sie schmiegsam werden und in seinen, gehorsamen Locken sich kräuseln. Zürne nicht, wenn wir noch einen Scheideblick auf den schönen Boden, den wir verlassen, zurückwerfen und eine Thräne uns aus dem Auge wischen; nur noch ein Mal gestatte uns die ver¬ lebten Stunden an uns vorübergehen zu lassen — es waren schöne Stunden! Zürne uns nichts wenn wir die Pietät für sie immer in unserem Herzen be¬ wahren. Wir dürfen vielleicht behaupten, daß wenige deutsche Journale in dem kurzen Zeitraume eines Jahres eine so eigenthümliche Geschichte hinter sich haben wie diese Blätter. Die Grenzboten traten aus einem Boden ins Leben, auf welchem die deutsche Sprache eine fremde ist. In einem Lande, wo die französische und holländische (flamändische) Zunge sich hartnäckig um jeden Fuß breit Erde streiten, wie sollte da das Interesse für eine dritte Sprache möglich sein? Der Redacteur dieser Blätter glaubte an diese Möglichkeit. Ein zwei¬ jähriger Aufenthalt in Brüssel, vielfache Reisen ins Innere des Landes haben ihn tausend Elemente kennen gelehrt, die alle nach Deutschland hin sich be¬ wegen. Dieß ist keine leere Phrase. Abgesehen von den dreißigtausend Deut¬ schen, welche in Belgien zerstreut leben (in Brüssel allein gegen 10,000) und zum Theil den Kern des Handelsstandes und des Untervichtswesens bilden, ab¬ gesehen von der Provinz Luxemburg, wo die deutsche Sprache zu der franzö¬ sischen in demselben Verhältnisse wie im Elsaß steht, gewinnt die Borliebe für deutsche Literatur und Redeweise unter den Flamändern mit jedem Tage eine größere Ausdehnung. Der Flamänder kann mit wenig Mühe das Deutsche vollkommen verstehen; seine Culturbedürfnisse treiben ihn, sich dies Verständniß anzueignen und seine Abneigung gegen die französische Sprache steigert das noch. Hierzu gesellen sich noch vielfache politische, religiöse und kommerzielle Rücksichten. Die Regierung, welche die geheimen Gedanken Frankreichs und das Gelüste, mit dem es aufWelgien blickt, wohl kennt, sucht eifrig an Deutsch¬ land einen Verbündeten und im Nothfalle eine schützende Gewalt zu finden. Jener Theil des HandelSstandcs, den wie in Antwerpen seine Interessen an Deutschland knüpfen, sucht fast ängstlich eine Vertretung gegen jene Faction, die den französischen Zollanschlufi herbeizuführen wünscht. Die gelehrte und die Kunstwelt, die Literatur, das Unterrichtswesen hat unzählige Vertreter, die eifrig die vielfach verbreiteten französischen Prinzipien durch deutsche Muster verdrängt zu sehen wünschen. Und doch, wie wenig wurden alle diese Inter¬ essen bisher von der Presse gefördert. Die belgische Journalistik befindet sich 3» fast ausschließlich in den Händen von Franzosen; von Deutschland werden nur die allernöthigsten Tagesneuigkeiten aufgenommen und selbst diese werden vie¬ len belgischen Journalen aus der zweiten Hand zugeführt, aus einer Art Corre« spondcnzfabrik, welche sich in Lüttich etablirt hat und die Anschaffung deutscher Journale ersparen will. Jene Redactionen verschweigen nun die meisten Ur« theile, welche Deutschland über Belgien fällt, wenn sie nicht in ihren Kram passen. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Man hat in Deutschland den Kopf darüber geschüttelt, daß der verlciumderischen Nachricht, König Leopold habe die belgische» Nachdrucker aufgemuntert, auch deutsche Bücher nachzu¬ drucken, von keinem officiellen belgischen Journal widersprochen wurde. Aber man wußte in Deutschland nicht, daß kein belgische« Journal ein Wort von der Empörung und dem Geschrei erfuhr, welches die deutsche Presse über jenes Gerücht erhob. Und welche Urtheile hat Belgien in Deutschland gesunden? In der ganzen deutschen Presse sind kaum vier Journale, welche Originalbe¬ richte aus Belgien enthalten; und das gründliche Deutschland kennt von Bel¬ gien nichts als den Skandal. Hier war nun ein doppelt edler Beruf zu verfolgen; einerseits dem deut¬ schen Batcrlandc, seinen geistigen und materiellen Interessen neuen Boden zu gewinnen, andererseits wieder das schöne Land, welches durch die Freiheit seincrJnstilutionen, so wie durch die Denkmäler seiner uns verwandten Geschichte und KunstJcdcm, der eine längere Zeit in seiner Mitte weilt, theuer wird — gegenüber von Deutschland zu vertreten, und die zahllosen Vorurtheile, welche schlecht unterrichtete Journale und mißwollende Rücksichten gegen Belgien auf- gethürmt haben, zu zerstreuen. Der Redacteur dieser Blätter hatte die Ueberzeugung, daß ein Organ, welches nach dieser Richtung hin wirkt, ein nicht überflüssiges und erfolgloses sein würde — mehrere Gleichgesinnte schlössen sich ihm an; die nöthigen Fonds wurde» zusammengelegt und diese Zeitschrift trat ins Leben. . Zu den großen Privilegien, welche ti« Presse in Belgien besitzt, gehört auch, daß die Herausgabe eines neuen Journals keiner zuvor nachgesuchten Erlaubniß bedarf. Das gedruckte Wort hat dasselbe Recht wie das geschriebene; der es aus¬ gesprochen, hat es zu verantworten — es auszusprechen, ist Niemand benommen. Diesem Grundsatze gemäß, und in dem Bewußtsein eines edlen lautern Zweckes unterließ es die Redaction, sowohl bei der belgischen, als bei irgend einer deutschen Regierung vor dem Erscheinen dieses Blattes irgend einen Schritt zu Gunsten desselben zu thun, fest überzeugt, daß die Tendenz desselben unmöglich zu verkennen sein werde. Wir hatten u»6 getauscht. Von beiden Seiten wurde» wir mir mißtraui¬ schen Blicken betrachtet. Zunächst von Belgien, wo das Seltsame unseres Unternehmens manche sonderbare Vermuthung Hervorries. Es fehlte nicht an Stimmen, die behauptete», die „Grenzboten" standen im Dienste eines be¬ nachbarten großen deutschen Staates; indessen in einem Lande, welches so ängstlich über seine Interessen wacht, konnte unser Streben nicht lang alß» deutet werden. Die belgischen Journale, welche fast aus jeder unserer Num¬ mern Auszüge übersetzten, einzelne Artikel, welche die englischen Blätter von uns entlehnten, trugen dazu bei, uns von jedem Verdacht zu reinigen und diesen Blättern Eingang ins Publikum zu verschaffe». Wenn die Ver¬ breitung eines Journals einen Beweis sür de» Erfolg seines Strebens liefern kann, so spricht für uns der günstige Umstand, daß diese Blätter trotz ihrer fremden Sprache, trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens in zahlreichen Exil», plaren in Belgien verbreitet sind und nicht nur in vielen deutschen und flaua»- disthen Familien der Hauptstadt und der Provinz, sondern auch an den meiste» öffentlichen Orten, Casinos -c. Zugang gefunden haben. Weniger glücklich waren wir da, wo wir den geringsten Widerstand erwarteten, in Preußen. Wir wollen hier keine Anklage erheben. Wir wollen uns nicht beklage», daß man einem Journal, welches in rein nationaler Gesinnung wirkte, el» Hemmnifi in den Weg legte. Preußen hatte das Recht dazu. Das Bundes, gcsctz verbietet piivii jede in, Auslande erscheinende deutsche Schrift. Di^ Grenzboten erschienen ohne Censur, zwar legten wir uns selbst eine so strenge auf, als wären wir bei einem ganzen Censurcollegiuin in die Schule gegange», zwar konnte eine rücksichtslose Opposition gar nicht in der Absicht einer Zeit¬ schrift liegen, deren Tendenz es ist, Deutschland von seiner glänzendsten Seite einem fremden Volke zu zeigen, zwar gingen unsere Artikel in die meiste» deutschen Journale über und die preußische Presse, selbst die Staatüzeitung zögerte , sirlori gegen sie sprach, findet fortan keine Anwendung auf sie. Im Be¬ wußtsein, während der ganzen Zeit ihres Bestehens stets würdig und national und mit sclbstvcrleugncnder Mäßigung gewirkt zu haben, könnte uns die Auf¬ sicht, der wir uns jetzt wie alle anderen deutschen Blätter unterziehen, glctch- giln'g sein; immerhin aber bleibt es schmerzlich, was man früher aus freiem Willen that, nun thun zu müssen. Wir haben unsern Standpunkt offen und loyal dem Publikum dargelegt; um so mehr dürfen wir hoffen, daß man uns Glauben schenken wird, wenn wir versichern, daß die Ortsveränderung auf die Gesinnung und Haltung die¬ ser Blätter von keinem Einfluß sein wird. I. Kuranda. 2. Briefe aus Paris. Münchhausen und die Schnepfenjagd. — Die Kämpfe der Presse. — Journale zu funfjchii Franken! — Frankreich und Deutschland als Vrügcttnabcn. — Hamburg. — Der Tischlermeister Kaiser. — Schumann. — Heine. Es findet sich im alten Münchhausen eim kostbare Episode; es ist die, wo er auf die Jagd geht und ein ganzes Schock Schnepfen ohne Flinte und ohne Netz als Beute nach Hause bringt. Er hatte nämlich pfiffiger Weise ein dürres Brodrindchc» an's Ende einer langen Schnur befestigt und warf es den Schnepfen vor. Die erste biß an, da die Speise aber etwas unverdaulich war, so gab sie es aus anderem Wege wieder von sich. Nun verschluckte die zweite den Fund; gleicher Erfolg. Ebenso die dritte, die vierte u. s. w. Als das ganze Schock sich auf diese Weise an der langen Schnur ausgefädelt hatte, zog der pfiffige Jäger sie an sich, wickelte sie um den Leib und eilte mit dem Fange nach Hause. Plötzlich aber singen die Vögel an unruhig zu werden, breiteten ihre Flügel aus und flatterten in die Höhe. Der erschrockene Münch- hausen wurde in die Lüfte gehoben und sah zu seinem Entsetzen sich plötzlich zwischen Himmel und Erde schweben. Aber der alte Münchhausen war nicht der Mann, der sich prellen ließ; bald hatte er seine Geistesgegenwart wieder gefunden und beschloß aus diesem Iwischcnfallc Nutzen zu ziehen und auf ei¬ nem um so schnellern Wege zu seinem Ziele nach Hause zu gelangen. Er sing an, die fliegenden Schnepfen so, wie man einen Wagen kutschirt, nach der Ge¬ gend zu lenken, wo seine Wohnung sich befand, und als er nun über den Kamin seines Hauses flog, da drehte er einer Schnepfe nach der andern den Kopf um und senkte sich auf diese Art langsam und allmälig durch den Schorn¬ stein herab und gelangte wohlbehalten und zum Erstaunen des ganzen Küchcn- personalö in der Mitte der Seinigen an. — Diese vortreffliche und höchst merkwürdige Geschichte erscheint Bieten als eine närrische Aufschneiderei und lächerliches Lügengewebe; aber der Weise sieht ihr auf den Grund und bemerkt leicht, daß es eine gar tiefsinnige Allegorie ist, welche den Kampf, den der Juli-Thron seit zwölf Jahren mit der Presse führt, sehr beißend und treffend pcrsisflirt. Als nämlich am Morgen nach der Julirevolution der kluge Waid- man», der sich so gern den Napoleon des Friedens nennen hört, das kleine Brodrindchen, die kleine Phrase Ili, alares ssra un? vvritö, an die lange Schnur der neuen Konstitution befestigte, da bissen die guten Schnepfen Frank¬ reichs an. Heißhungrig schnappten sie nach der leckeren Phrase und der kleine Köder ging von Schnabel zu Schnabel. Als alle an der Schnur festsaßen, da wickelte sie der kluge Jäger um sich herum und glaubte nun ganz ruhig genießen zu können. Aber die Bögel singen an zu flattern und zu zappeln, die Journale sammelten ihre Kräfte und rissen kreischend und alle Kräfte anspan¬ nend den Waidmann in die Höhe. Der Boden unter seinen Füßen schwand, mit Entsetzen sah er jede» Augenblick mit dem Sturze sich bedroht. Unten aber standen die Epiciers und alle die kleinen Leute über deren Haupt der gefährliche Flug hinwegzog, und zitterten, daß er auf sie herabstürzen und ih¬ nen die Köpfe zerschmettern könnte. Der Waidmann aber verlor die Geistes¬ gegenwart nicht; er lenkte und lenkte, und als er den günstigen Zeitpunkt ersah, da begann er allmälig einem Journale nach dem andern den Hals umzudrehen und Europas Küchcnpcrsonal sieht nun mit Erstaunen den Fliegenden durch den Schornstein herabkommen, etwas angeschwärzt zwar, immerhin aber wohlbe¬ halten und unversehrt. Die erwürgte Presse aber, die Journale mit ihre» umgedrehten Hälsen und die herumslattcrnde», zerrupften Federn geben einen jammervolle», rührenden Anblick. Gestern noch so flügge und lustig, alle An, gen nach ihrem Fluge gerichtet und heute die Beine von sich streckend und verröchelnd. Sie sind todt, mausetodt, und Sie brauchen nur die letzte Kam- mervcrhandlung in Bezug auf das Journal I.ol'eiiiiis zu lesen und die Sicherheit zu beobachten, mit welcher hier Hebert die ganze Procedur auseinandersetzt, um sich zu überzeugen, daß der Tag der Auferstehung nicht sobald sich nahen dürfte. Die Maßregel, daß die Regierung alle ihre Annoncen jenen Journalen zuwen¬ dete, welche ihr geneigt sind, und den Oppositionsjournalen dieselben entzieht, ist wohl einer der entscheidendsten Schläge, mit welchem man die Tagespreise in Frankreich bisher bekriegte. Nicht nur, daß man die Hälfte der Einkünfte den Oppositionsjournalcn dadurch entzieht, so zwingt man auch denjenigen Theil des Publikums, der namentlich in den Provinzen sich weniger um die Politik der ersten drei Journalsciten, als um die geschäftlichen Ankündi¬ gungen auf der vierten Seite kümmert, von nun an den regierenden Jour¬ nalen sich zuzuwenden. Es ist kein leeres Gerücht mehr, daß die Regierung sich mit der Etablirung dreier neuer Journale trägt, deren Preis ganzjährig nur Is Franken betragen wird. Dieser Maßregel gegenüber muß alle Eon- currenz der Opposition aufhören, und wir können leicht die Zeit erleben, daß die ceiisirtc» deutschen Journale ein Muster von Liberalismus für die franzö¬ sische» werden. Deutschland, das seit Jahrhunderten der Prügelknabe Frankreichs gewesen ist, und für alle Dummheiten und Schlechtigkeiten, die dieses beging, büßen mußte, Deutschland scheint nun die Rolle gewechselt zu haben. Sie können es in allen Revuen und Journalxn, die von der hiesigen Regierung unterstützt werden, lesen, daß Deutschland ein Musterland ist. Namentlich ist die Revue des deux Mondes voll des Lobes über Oesterreich und Preußen. Bei ihr spielt jetzt Frankreich den Prügelknaben und bei jedem Lobsprüche, den sie dem deut¬ schen BolkSgeiste ertheilt, kriegt Frankreich immer einen tüchtigen Puff auf den Rücken. Daß dieses nicht dazu beiträgt, die Deutschen hier populär zu ma¬ chen, können Sie leicht denken. Sie müssen sich auch davon nicht irre machen lassen, wen» die hiesige» Eorrcspondenten in den deutschen Journalen Lärm schlagen über de» gewaltigen Eindruck, den der Brand von Hamburg hier gemacht und ub^r die allgemeine Theilnahme, die Paris an diesem Er¬ eignisse genommen. Ich will die Gewissenhaftigkeit dieser Herren nicht i» Argwohn ziehen, ich will nicht behaupten, daß sie in's große Horn stoßen, da¬ mit die Kühe aus den deutschen Bergen die Köpfe voll Verwunderung zu¬ sammenstecken, nein ich will gerne glauben, daß diese Herren an alle die gro¬ ßen sympathetischen Wunderthaten, welche die Sympathien für Hamburg nach ihrer Behauptung hervorgebracht haben sollen, glauben. Der Deutsche geht hier größtentheils mit dem Deutschen um und die deutschen Korrespondenten haben das, was sie in ihren Kreisen hörten, für die Stimme von ganz Paris genommen. sZählen Sie mir die Subscribenten im Journal des DcbatS — wer sind die Veitvagenden ? Zwei Drittel sind Deutsche, und von dem andern sind drei Viertel elsäßische Juden — den kleinen übrigen Rest bilden die eigentli¬ chen Franzosen.Z Was kümmert den Pariser Hamburg? Ihm ist Saoma und New-York und Hamburg ganz gleich. Ich wollte, man könnte die Stim¬ men zählen, welchen in Deutschland ein Ah! des Entsetzens über das Unglück auf der Ncrsailler Eisenbahn entschlüpfte und die Stimmen, welche in Frank¬ reich irgend eine Theilnahme für Hamburg äußerten! Wir wollten dann sehen, in welchem Lande man sich mehr für das Unglück des Nachbars interessirte. Und doch wie gering ist das Versailler Unglück gegenüber dem Hamburger! Glauben Sie nicht, daß ich über den Vorfall auf der Versailler Eisenbahn so kalt spreche, weil ich nicht persönlich dabei betheiligt bin; das Unglück hat mich fast direct berührt, da mein Landsmann, der Tischlermeister Kaiser, ein mir sehr werther Mann, unter den Leichen war. Man hat ihn nicht herausfinde» kön¬ nen, den Unglücklichen, und zwei elternlose Waisen bleiben in dem weiten Pa¬ ris hilflos zurück. Kaiser war als Geselle im Jahre 1S28 hieher gekommen. Er ist aus einer achtbaren Familie (sein Bater war beim Magistrate ange¬ stellt) und hatte eine ziemlich gute Erziehung erhalten. In den Julitagen beging er, wie viele deutsche Handwerksburschen, die hier lebten, die Unvorsich¬ tigkeit, sich in Dinge zu mischen, die ihn nichts angingen; er wurde bei ei¬ nem Straßcngcmetzcl verwundet, kam ins Spital und blieb da sechs Woche» liegen. Dadurch erfuhr unsere Gesandtschaft die Geschichte und machte einen Bericht darüber. Sein Wanderbuch war gerade abgelaufen und man verwei¬ gerte ihm die Erneuerung. Man verlangte, er solle zurück in seine Heimath, aber er traute nicht. Ohnedieß hatte eine hübsche, schwarzäugige Französin, die in der Borstadt Se. Antoine mit weißen seinen Händen in einem Tabaks- ladcn geschäftig waltete, sein ehrliches deutsches Herz gegen schlechten franzö¬ sischen Regie-Tabak eingetauscht. Er verheirathete sich; sein Vater schickte ihm einiges Geld zur Einrichtung, er etablirte sich und das Glück, welches den »leisten deutschen Arbeitern hier sich so hold zeigt, lächelte auch ihm. Sei» Atelier machte ihn wohlhabend, und als seine Frau nach zwei Jahren starb, nahm er seine Schweflet zu sich. Es war ein hcrzzerschncidendcr Anblick, diese Schwester am BcgrSbnißtage, die beiden elternlosen Waisen an der Hand, sich auf das Grab stürzen zu sehen. Die Eisenbahnverwaltung hat sich er¬ boten, die Kinder erziehen zu lassen. Das Atelier wird von dem Werk- führer, gleichfalls einem Deutschen, fortgeführt werden. Wenn uns nur alle Deutschen so viel Ehre machten, wie unsere Handwerker! Diesem Schu¬ mann, der mit seiner Truppe uns so blamirt hat, möchte ich einen Denkzettel auf den Weg mitgeben, daß er sein Lebelang daran denken sollte. Es .ist unter mehreren jungen Deutschen hier ernstlich davon die Rede gewesen, ihn und seinen Pächter (denn Schumann ist nur wie ein Frachter mit seinem Wa¬ gen und seinen Gäulen, von einem Speculanten gepachtet gewesen) weidlich durchzuprügeln. Man hat diesen schönen Plan aufgegeben, weil man nicht noch größeren Scandal zum Besten geben wollte, als schon geschehen ist. Aber ich wünschte, daß, wie dieser Mensch den deutschen Boden betritt, hundert handfeste Choristen an der Grenze stünden, von denen ihm jeder eine tüchtige Maulschelle im Namen aller Uebrigen gäbe- Nicht nur, daß er die deutsche Kunst auf mehrere Jahre hinaus in Mißcredit brachtet, hat er auch den deut¬ schen Charakter in Schatten gestellt. Und wahrlich, die Franzosen haben nicht Unrecht, von diesen „t>vtos aUemanslss" zu sprechen, die plump, dumm und sogar frech genug sind, Paris mit Kräften erobern zu wollen, die für keine Borstadtbühne ausreichten. Wie wenig sonst Frechheit im Charakter des Deutschen liegt — hier giebt es keine andere Bezeichnung. Nun büßen sie es, die Abenteurer! Die deutsche Kunst bettelt von Thüre zu Thüre, von Esta- minet zu Estaminet. Keine Uebertreibung! Ich habe Leute aus dem Schu- mannschen Chöre mit der Guitarre an den öffentlichen Plätzen herumziehen sehen — um so von der Würde unseres Theaters auch dem Pöbel einen Be¬ griff zu geben. Pfui — pfui! Ich mag über die dumme Geschichte Ihnen gar nicht mehr schreiben. Ueber Heine 's Schildcrhcbung für Rossini's Stalle gegen die deutsche Musik und namentlich gegen Mendelssohn-Bartholdy (in der Augöb.Allg.) hat man wohl in Deutschland sich eben so angelegentlich unterhalten, wie hier- Es zeigt sich im¬ mer mehr, wie Recht Heine hatte, als er seine Muse eine „gute Dirne" nannte; man könnte sie noch besser eine Sirene nennen. Ach, wie sie zaubern und trügen kann! Durch die reizende Schilderung einer Kinderprocession in Cette, die ihn bald katholisch gemacht hätte, beweist Heine auf ein Haar, daß Rossini eigentlich christlicher sei, als Händel, Bach und Mendelssohn-Bartholdy. Und dabei weiß er eine kleine Teufelei von solcher Feinheit anzubringen, daß ein geübter Sinn dazu gehört, um sie recht zu genießen. Wie naiv kleidet Herrn Heine die Harmlosigkeit, mit der er beiläufig erwähnt, daß er Mendelssohn nicht etwa darum für unchristlich halte, „weil er erst im dreizehnten Jahre sein Christenthum anfing." Eine wahrhaft weibliche oder vielmehr weibische Medisance. Heine selbst bekommt beinahe Krämpfe, wenn man sich die lei¬ seste Anspielung auf seine jüdische Abstammung erlaubt. In Deutschland, so viel ich weiß, war es noch Niemand eingefallen, gerade Mendelssohn gegen¬ über dergleichen zu berühren. Dies mußte Heine, der hier in Paris den Kos- mopolitiomus studirt, vorbehalten bleiben. Philipp P**". Plaudereien. Radirungen von Wltthöft nach Originalgemälden deutscher Künstler. Ein Prachtwerk, wovon das erste Heft so eben bei Wigand und Mayer erschienen ist. Es enthält: Schloß am Rhein von Lessing, Abendandacht von S. Richter, der umgeworfene Heuwagen von Bürkel. — Drei Radirungen in groß Folio, von welchen namentlich das mittlere von einem wunderbaren Reiz durchweht ist. Unternehmungen dieser Art sind namentlich in Deutschland wichtig und von guten Folgen. In Deutschland, wo keine große Stadt wie Paris der Mittelpunkt aller Kunstschätze der Nation ist, wo die Schöpfungen unserer besten Meister größtenteils Privateigenthum, wenn es hoch kommt, Provinzialeigenthum, und nur in den seltensten Fällen Eigenthum der Nation werden. Kann man unsere Kunstausstellungen mit dem Pariser Salon ver¬ gleichen? Die Berliner Künstler schicken eben so wenig Bilder auf die Wiener Ausstellung, als die Wiener auf die Berliner. Und doch sind es die beiden Ccntralstädte der zwei größten Staaten Deutschlands. Die Vervielfältigung des einzelnen Bildes durch Aetzung und Stich ist daher nirgends so wünschens- werth und willkommen als bei uns, namentlich wenn sie, wie hier, durch eine geschmackvolle Wahl geleitet wird. Di« deutsche Monatsschrift. Man hat den deutschen Schriftstellern oft den Vorwurf gemocht, daß sie in'S Blaue hinein schwärmen, und die unpraktischsten Ideen von der Welt zu Tage fördern. Herr Karl Biedermann gehört nicht zu diesen Ideologen-, er be¬ faßt sich vielmehr mit den materiellen Interessen aus unmittelbar praktischer Nähe und hat, um doch den deutschen Gelehrten nicht zu verleugnen, seine utilitarischen Ansichten in ein System gebracht, das er mit vieler Konsequenz in seiner „Deutschen Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben" durchführt. Diese Monatsschrift ist von Wichtigkeit; sie entwickelt nicht nur eine vielseitig anregende und befruchtende Thätigkeit für Alles, was praktische Reform ist, sie zeigt auch offen und unverhüllt die Kehrseite des Materialis¬ mus. Wenn Biedermann den politischen Fortschritt, die Entwicklung freier Staatsverfassungen, vom unaufhaltsamen Gang des umpflügenden und associi- rcndcn Jndustrialismus erwartet und deshalb geduldiger in sei'n.n Forderungen ist, so werden ihm selbst die Liberalen, obgleich unmuthig, Recht geben müsse»; wenn er aber andrerseits Philosophie, Poesie und Wissenschaft nur vom Stand¬ punkt der materiellen Fortschrittsfragc mit haushälterischer Augen betrachtet, wenn er noch jetzt nach 300 Jahren der deutschen Reformation einen der eng¬ lischen ähnlichen Gang geben möchte und, weil dies nicht geht, aus einer Trennung von Staat und Kirche besteht, so wird ihm die entgegengesetzte Partei mit Recht vorwerfen, daß er keinen, oder nur einen äußerlichen Grund habe, sich als nationale Partei hinzustellen. Dieser Widerspruch hängt aber mit dem Umstand zusammen, daß Biedermann, bei aller konstitutionellen Mä¬ ßigung, im Wesentlichen revolutionairer und gewaltsamer ist, als die ent¬ schiedensten Liberalen, so wie in seiner Indifferenz gegen die speculativ - theolo¬ gische Lösung uralter Räthsel eine crasserc Negation des Christenthums liegt, wie in Strauß, Feuerbach und Bruno Bauer. In der That, was würden Sie zu einem Freimuth sagen, der sich also äußerte: Strauß und Feuerbach haben ganz Recht, jener geht mir sogar nicht weit genug, allein was haben wir für positiven Nutzen davon? Was soll uns die unfruchtbare Erkenntniß ? Gebe» wir die Kirche frei, betrachten wir die Religion bloß praktisch, als Cultus, und jenes beunruhigende Philosophiren wird von selbst aufhören.— Das hieße, noch etwas deutlicher gesprochen: Wir wollen thun, als wüßten wir nicht, was wir wissen. Die Wahrheit wollen wir als einen zufälligen Fund, nicht als eine nothwendige Frucht des Denkens betrachte» und wen» wir die Frucht vom Baum der Erkenntniß nur entschlossen wegwerfe», wird der Baum selbst schon dir Lust verlieren, neue Früchte zu tragen.—So ungefähr spricht Biedermann in einem Artikel über Strauß und Feuerbach. Biedermann setzt gleich im Eingang seiner Controverse als ausgemacht, daß eine Versöhnung zwischen dem Glauben und der modernen Wissen¬ schaft, zwischen der christlichen und speculativen Weltanschauung unmöglich sei, und zwar, indem er der letztern das Kompliment macht, daß man sie nicht mehr widerlegen könne. . Dennoch scheint Biedermann zu verlangen, daß man diese moderne Wissenschaft, obgleich oder vielmehr, weil sie gegen den posi¬ tiven Glauben im Rechte sei, mit Gewalt besiege, d. h. verwerfe. Denn in¬ dem er anerkennt, „daß die Strauß-Feuerbach'sche Richtung das unvermeid¬ liche Ergebniß des PhilosophirenS selbst und zwar des gründlichsten und konsequentesten PhilosophirenS ist," wessen kann er die Philosophie noch ankla- klagcn alö ihrer Existenz überhaupt'! Hier müßte er konsequenter Weise die Akten schließen; der Poet, Phantasie- und Gefühlsmensch wird, auf diesem Standpunkt angekommen, vielleicht seine Klage erheben über das Unglück des menschlichen Geistes, der so traurige Siege erkämpft, der im Triumph des Wissens zugleich den Untergang seiner glücklichen Kindheit, seiner naiven An¬ schauung feiert; und wer weiß, ob selbst diese Klage nicht blos von den Lippen poetischer Schwächlinge ertönen wird? Aber selbst der Gefühlsmensch wird jedenfalls einsehen, daß eine Wahrheit, einmal als Wahrheit erkannt, so wenig sich vergesse» und beseitigen, als etwas Geschehenes ungeschehen machen läßt. Hr. Biedermann aber gründet darauf eine radicale Polemik gegen das An» sehen der speculativen Wissenschaft, gegen die Einbildung, als habe man ihr irgend etwas zu verdanken. Und indem er dies beweisen will, beweist er wieder blos ihre Begründung im Leben; denn er bestreitet ihr nicht den Werth der freien Forschung, sondern das Verdienst der Initiative, wenn er fragt: (S.26. „Hat nicht vielmehr der unwiderstehlich hervorbrechende Trieb nach empirischem Wissen und nach praktischer Gewerbthätigkeit den ersten Anlaß zum freien Forschen gegeben"!" und wenn er sich auf Strauß' Worte beruft- „haß die mannichfachen Einwirkungen der Physik, Geographie, Astronomie u. s. w. es waren, welche die biblischen und kirchlichen Vorstellungen von Himmel und Erde, Gott und Schöpfung nach und nach in die Gestalt gebracht haben, in welcher sie im philosophisch gebildeten Bewußtsein unserer Zeit vorhanden sind." Ja, nachdem Hr. Biederm-», auch Hugo Grotius' vernunftmäßige Be¬ gründung des socialen Rechtes und zuletzt selbst die Reformation auf seine ma¬ teriellen Interessen zurückgeführt hat, schließt er- „Jene positiven Resultate, welche die Philosophie für die Resultate ihrer Dialektik, ihrer Opposition gegen die Autorität des Glauben« ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der allgemeinen Cultur." u. s. w. Ist das nicht die schlagendste Rechtfertigung der Philosophie? So klage doch Hr. Biedermann das Leben, die moderne Cultur und vor Allem die Naturwissenschaften an! — Allein ich glaube, trotz dieser scheinbaren Widersprüche, Hrn. Biedermann zu verstehen. Es ist nicht der poetische oder religiöse und überhaupt gemüthliche Schmerz über jene Re¬ sultate der Spekulation- es ist der terroristische Materialismus, der Alles bei Seite werfen möchte, was nicht unmittelbar praktisch nützt. Er möchte, das, jener erste Anstoß, den der Trieb nach empirischem Wissen zum freieren Forschen gab, zu weiter nichts geführt hätte, als zu Industrie, Gewerbthätig- keit und materiellen Interessen. Wie könnte er sonst so prosaisch fragen - (S- 27.) „Haben- sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen Kämpfen der theologischen Speculation ausgebildet? sind die bewundernswerthen Fortschritte unserer Industrie, — unter der Herrschaft und Leitung des philo¬ sophischen Bewußtseins zu Stande gekommen?" — Es läßt sich erwarten, daß Hr. or. Biedermann mit der Zeit dieselben Fragen auch an die Poesie stellen wird; die Poeten und Aesthetiker, welche jetzt mit den Borsechtern des Materialismus so gern gegen die Philosophie sich verbinden, mögen, sich daher vorsehen. Ich glaube sogar, daß mit der Zeit in einem Biedermann'sehen Staate auch dem Christenthum der Aufenthalt gekündigt wird; denn, ohne an die Positivität desselben zu glauben, es in positiver Gestalt erhalten wollen, heißt ein politisches Mittel daraus machen; und wenn ein Mittel nicht mehr verhängt, läßt man es fallen. Wir unsererseits müssen gestehen: Es ist wahr, die Philosophie hat von jeher Krieg geführt mit dem Glauben und diesen zuweilen gestürzt, z. B. im alten Griechenland und Rom, wo sie dadurch dem Christenthum die Bahn brach, ein Beweis von ihrer welthistorischen Bestimmung. Ein schwacher Christ, der da fürchtet, daß die Philosophie heute eben so das Christenthum stürzen könnte! Steht dieses nicht höher als das alte Heidenthum? So viel für den tlo/ensor ticlei. — Die Vertreter des Materialismus aber mögen bedenken, daß sie kein Volks« bcwußtsein, keine Nationalität !c. für ihre Gottheit aufrufen könnten, verhieße der Materialismus nicht die Erfüllung höherer Forderungen, die uns erst ein von Poesie und Philosophie angefachtes Culturleben stellen lehrte. Di« deutschen Bühnen und die Th-atcrd ichttr. Wenige Tage nach der Aufführung eines neuen Stückes in Paris erscheint das Buch im Druck; für wenige Sous steht es dem Publikum an allen Stra¬ ßenecken feil. In Deutschland kommt das Buch erst nach einem Jahre, oft¬ mals noch später zum Vorschein. Mittlerweile streiten darüber die Recensenten aus allen Winkeln, wie die Hähne um die Henne. Jeder meldet etwas An. teres; jeder erzählt den Inhalt auf eine andere Weise. Das Publikum kann nicht selbst urtheilen, denn das Stück liegt nicht vor. Der Dichter wird zcv setzt, zerbissen, und wenn nach einem Jahre der Druck des Drama's beginnt, hat er bereits tausend Wunden in der öffentlichen Meinung erhalten. Woher dieser Mißbcstand! fragt man die Dichter, so antworten sie: Wir können nicht anders; sobald wir das Drama drucken lassen, sind die Bühnen nicht mehr verpflichtet, uns zu zahlen. Dieses Argument scheint einer honnetten Theater- direction gegenüber unbegründet. Was für moralischen Grund kann eine an¬ ständige Bühncnleitung haben, dem Dichter sein ihm gebührendes Honorar vorzuenthalten, weil sein Stück gedruckt ist? Wird ihre Einnahme dadurch geschmälert? Im Gegentheile erhält sie bei grossen Stücken das Ersparniß und die Erleichterung, daß sie die Hauptrollen nicht kostspieliger Weise copiren zu lassen braucht, sondern das ganze Buch den Schauspielern in die Hände giebt. Da an manchen Bühnen das Honorar des Dichters kaum so viel beträgt, als der Lohn, den der Theatcrcopist für das Ausschreiben der Rollen und des Souf- flirvuches erhält (dieß ist keine Uebertreibung — nicht nur an fast allen Pro« vinzialtheatcrn, sondern auch an mehreren Hostheatern ist dies der Fall, der Copist gewinnt an dem Stücke mehr als der Dichter!) so ist eine Honorarent¬ ziehung in solchen Fällen doppelt ungerecht. Und doch lassen sich so mäkler¬ artige Ungerechtigkeiten selbst vielen Hofbühnen nachweisen. Ja, oft wenn Jemand aus dem Publikum bei einem Regisseur sich erkundigt, warum denn dieses oder jenes Drama nicht gegeben werde, hört man die Antwort: Wir warten, bis es gedruckt erscheint! — So wartet auch die Katze, bis das Mäus¬ chen aus dem Loche herausschlüpft — husch, ist es hinter ihm her, um es als gute Prise zu verspeisen. Wenn die Schriftsteller ernstlicher zusammenhielten und Knausereien dieser Art gehörig controllirten und züchtigten — so würde dieses und »och manches Andere — ganz anders werden! Russische Zustände. Rußland ist mächtig. Polen, der Kaukasus und die preußischen Grenzlande fühlen seine schwere Hand. Aber im Herzen Rußlands wuchert das Unkraut und gleißend stehen die Blüthe» exotischer Cultur, Luxus und Laster, über dem faulen Sumpfe der alten tatarischen Barbarei. Ein kaiserlicher Ukas, der die Freilassung der Leibeigenen erleichtern sollte, wirkte so bedenklich auf den ho¬ hen, europäisch gebildeten Adel, daß er nach wenigen Tagen durch einen an¬ deren Ukas widerrufen wurde. Also allmächtig, wo es gilt, fremde Nationa¬ lität zu untergraben, ohnmächtig, wo es im eigenen Hause zu schassen und zu bauen giebt! Diesen seltsamen Gegensatz und das Trügerische des ganzen Selbstherrscher-Nimbus hob die Times und nach ihr das Journal d. Debats etwas schneidend hervor. Unsere Augsburger Allgemeine konnte nicht umhin, dieses falsch zu verstehen und sich darüber zu entrüsten, daß die freien Franzosen und Engländer, die edle Absicht des Kaisers verkennend, die Leibei¬ genschaft gewissermaßen in Schutz nähmen (!) Die Augsburger selbst aber rühmt in einer anderen Nummer die materielle Lage der russischen Leibeigenen, ver¬ glichen mit dem Elend der englischen Arbeiter. Sie beruft sich dabei aus die Aussagen von G. Kohl, dessen Unzuverlässigkeit von mehreren Seiten schon (unter Andern auch von der Preßzeitung) erwiesen wurde. — Bortreffliche und, wie es scheint, sehr treue Schilderungen russischer Zustände bringt dage¬ gen seit einiger Zeit das Cotta'sche „Ausland" von Treumund Welp. Die Augsburger Allgemeine. Warum kann die „nationale" Augsburger Allgemeine Zeitung ihre Pri- vatantipathicn dem Auslande gegenüber nicht verwinden? Wenn die Times Rotteck's Verdienste um die politischen Fortschritte Deutschlands rühmend her¬ vorhebt, muß sie, das deutsche Blatt, mit boshaften Parenthesen den Bericht darüber begleiten? mit Bemerkungen, wie: (Ja wohl!) ete.? Solche kleinliche Ncrgelei ist unserer vcllettristischen Blättchen würdig, nicht der Augsburger Allgemeinen. .^^^ Besorgte Recensionen. In einem Leipziger „Aeitungskatalog" (von I. I. Weber herausgegeben) beißt eS von den Journalen, die el» sogenanntes Literaturblatt haben, wie Rosen, Komet, Abendzeitung ceo., jedesmal zur Nachricht: „Besorgt Recen¬ sionen." Die Buchhändler drücken sich oft sehr naiv aus. Ein Privatschreibcn ans Stuttgart. Die Prinzessin Sophie (Prinzessin von Oranien), welche bei ihren Eltern zum Besuche hier ist, hat den Wunsch geäußert, einige der dort einstudirtcn Stücke der jüngern Dramatiker kennen zu lernen. Es sollen daher in den letzten vierzehn Tagen vor den Ferien Werner, Patkul, die letzte weiße Rose, Monaldcschi und Rokoko ausgeführt werden. — David Strauß, der Verfasser des Lebens Jesu, wird sich mit der Sängerin Scherest vermählen. Druck von Friedrich Andrä in Leipzig. Gin Besuch bei Madame Pasta Die Natur des deutschen Künstlers unterscheidet sich von der des italienischen vorzüglich darin, daß sie gleichmäßiger ist. Das geistige Leben des Südländers steht im Einklange mit seinem physi¬ schen, und wie die heiße Lust seines Landes ihn zwingt, in Mitte des schönsten Tages Siesta zu halten, so zwingt ihn auch die hei¬ ßere Strömung seiner Seele, in Mitte seiner schönsten Thätigkeit eine Pause zu machen und auszuruhen. Aus dieser Ruhe treibt ihn aber oft seine Leidenschaft plötzlich auf und unerwartet, ohne daß man sich's versieht, übt er seine Kraft wieder aus, mit gespannten Sehnen und in glühender Aufregung, bis er abermals ermattet nie¬ dersinkt. So ging es mit Rossini. Jahre lang hielt er Siesta und seine Feinde spotteten über den todten Löwen; aber plötzlich raffte er sich empor und schuf den Tell, um gleich darauf wieder in ein Dolce farniente ;n versinken. So auch die Pasta; Jahre lang war sie von der Bühne verschwunden, neue Namen verdrängten ihren alten Ruhm. — Da treibt es sie aus der Zurückgezogenheit heraus und die Rudern ihrer Stimme reichen hin, Berlin in Bewunderung zu setzen. Bevor die Pasta ihre letzte Reise nach Petersburg und Berlin antrat, lebte sie mehrere Jahre an den Ufern des Como-See's. Am Rande dieses blauen Gewässers, am Fuße der grünen Berge hatte sich die Sängerin ein allerliebstes Landhaus erbauen lassen.' 4 Hier übte sie, namentlich des Sommers über, dis zuvorkommendste und liebenswürdigste Gastfreundschaft aus. Familienfreunde, Künst¬ ler und ausgezeichnete Fremde bildeten da eine ewige Caravane. Juditha Pasta ist als Weib eben so liebenswürdig, wie als Künst¬ lerin bewundernswerth; «ö ist eine einfache Frau, gutmüthig, nach¬ sichtsvoll und doch geistreich. Welcher Reisende, der nach Mailand kommt, wird nicht den Como-See besuchen? Ich konnte es um so weniger unterlassen, da ich unter meinen Empfehlungsbriefen auch einen an die berühmte Sängerin mit mir führte. Von Mailand nach der kleinen Stadt Como sind nur wenige Stunden. Der Co¬ mo-See bildet eine Reihe von Wasserbecken, welche durch kleine Borgebirge von einander abgetheilt sind, wodurch die Manig- falligkeit der Gegend ganz eigenthümlich erhöht wird. Die Villa der Pasta befindet sich am ersten Bassin. Wenn man vom Como- See aus hinkommt, so erblickt man zuerst die Nebengebäude; die Hauptwohnung ist weiter zurückgedrängt, hinter einer Terrasse, die mit großen Bäumen bepflanzt ist. Wenn man der Villa gegen¬ über steht, so hat man ein allerliebstes Panorama; fünf oder sechs Gebäude von verschiedener Form und Größe werden von Gärten, Alleen und Terrassen durchzogen und umschlungen. Das Hauptge¬ bäude mit seiner Säulenfa^abe ist im schönen architektonischen Style und gleicht der Außenseite eines kleinen Theaters. Hier empfängt die Dame des Hauses und zugleich befinden sich hier die Gastzim¬ mer für die Fremden, die für mehrere Tage von der liebenswürdigen Wirthin zurückgehalten werden. Am Ende des ersten Gartens be¬ findet sich ein anderes Gebäude, welches die Pasta und ihre Fami¬ lie selbst bewohnt; seitwärts befindet sich die Hauskapelle und noch weiter hinten ein allerliebstes Häuschen, welches zur Herbstwohnung dient. Badegewölbe, Treppen, kleine Basteien, Terrassen und Bo¬ gengänge zieren diese reizende Villa noch ganz besonders. Eine Barke führte mich über den See zu diesem zauberischen Wohnorte ; die Freundlichkeit des Empfangs überstieg meine Erwar¬ tung, Nicht blos, daß ich zum Diner, womit gewöhnlich jedes Em¬ pfehlungsschreiben abgefertigt wird, geladen wurde; kaum halte ich im Laufe des Gesprächs geäußert, daß ich gesonnen sei, an den Ufern dieses magischen Sees einige Tage zuzubringen, so wurde heimlich nach dem Gasthofe, wo ich abgestiegen, hingeschickt, um meinen kleinen Koffer abzuholen. Ein allerliebstes kleines Gemach aus dessen Fenstern man eine zauberische Aussicht genießt, wurde Mir angewiesen und ich mußte das entschiedene Versprechen geben> drei Tage zu verweilen. Ich war nicht der einzige Gast. Madame Pasta hatte einen Kreis um sich, der aus den verschiedensten Klassen der Gesellschaft zusammengesetzt war: or^ C., ein berühmter Arzt aus New-Uork und seine beiden Schwestern, Ferdinand Hiller, d^r bekannte Coa ponist aus Frankfurt, Graf Neuperg, dessen Bruder Schwiegersohn des Königs von Würtemberg geworden, und mehrere Mailänbische Damen. Die Familie der Madame Pasta bestand aus ihrem Gat¬ ten, ihrer alten Mutter, ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und einem allerliebsten Enkelchen. Diese Familie vereinte somit vier Ge¬ lterationen und doch hatte die Mutter der Madame Pasta noch tem einziges weißes Haar. Es wurde an demselben Abende ein Ausflug verabredet, M welchem die ganze Gesellschaft Theil nehmen sollte; es galt die neblige Spitze eines Berges zu besteigen, von welchem aus der Son¬ nenaufgang den wunderbarsten Anblick bietet. Um zur gehörigen Zeit an Ort und Stelle zu sein, mußte man um 1 Uhr nach Mitternacht ausstehen; da fünf bis sechs Damen von der verschiedensten Constitution keinen Anstand nahmen, sich die¬ ser bergstürmenden Caravane anzuschließen, wie hätten die .Herren sich da weigern sollen? Man ging demnach bei Zeiten schlafen, um bei Zeiten wieder zu erwachen. Allein wer könnte um neun Uhr Abends schnarchen, wenn man zum ersten Male am Ufer eines der schönsten Seen der Welt sich befindet? In Mitte einer italienischen Sommernacht, wenn der klarste Mondschein und tausend Sterne sich in den Wellen spiegeln? Ich stand noch lange an meinem Fen¬ ster, nachdem schon alle Domestiken, welche jedem der nächtlichen Ar¬ gonauten nach seinem Zimmer leuchteten, sich zur Ruhe begeben hat¬ ten. Ich konnte nicht schlafen — und die bestimmte Weckstunde fand an mir denjenigen, der am frühesten aus dein Bette sprang — Ich bin überzeugt, daß Mancher aus der Gesellschaft, er es über seine Eigenliebe hätte gewinnen können, sich auslachen zu las¬ sen, den Bedienten, der ihn aus seinem friedlichen Schlummer weckte gern als seinen Stellvertreter auf den Spaziergang geschalt und den 4-«- Sonnenaufgang ihm bereitwillig abgetreten Härte. Andere hätten wohl lieber dem Beispiel der Sonne selbst gefolgt, die um 5 Uhr früh aufsteht, nachdem sie um 7 Uhr Abends zu Bette gegangen. Allein das faule Sträuben half nichts und nach einer Viertelstunde war Alles auf den Beinen. Das Wetter war wunderbar schön, der Himmel blau und klar, der Mond hell und glänzend. Madame Pasta verlas die Namen; ein Herr fehlte. Drei oder vier Bediente wurden vor seine Thüre geschickt — umsonst ; er antwortete: er schliefe. Alsobald machte sich die ganze Bande auf und brachte ihm unter seinem Fenster ein Ständchen, wie die beste komische Oper kein schöneres aufzuweisen hat. Endlich öffnete sich das Fenster, ein Kopf kam zum Vorschein. — „Was giebt eS? was soll das heißen? — ich glaube, man ruft mich —" „Sie glauben? Die ganze Gesellschaft wartet nur auf Sie!--" — „Wozu denn?" — — „Um sich aus den Weg zu machen." — „El, Sie machen sich auf den Weg. — Ich meinerseits be¬ finde mich hier so wohl bei Madame Pasta, daß ich auch bis morgen da zu bleiben gedenke. Glückliche Reise!" Hierauf verschloß er das Fenster. Der Abtrünnige! Offenbar war ein solcher Mensch uilwüidig, ein Mitglied unserer muthigen Caravane zu sein. Wir überließen ihn daher seiner Faulheit und bestiegen die Barken, welche uns nach dem jenseitigen Ufer des Sees fuhren, von wo aus wir unsere eigentliche Wanderung antraten. Jeder Ritter bot seinen Arm einer Dame und so mgchten wir uns daran, das Zickzack des steilen Berges zu erklimmen. Diese Ritterdienste waren weder leicht, noch angenehm, der steile Weg war. mit tausend kleinen spitzen Steinchen bedeckt, die oftmals unter den Füßen weg¬ rutschten, wobei die Damen immer ein Zetergeschrei ausstießen; das Gesträuch verwickelte sich oft in den Kleidern wie ein frecher Zu- bringung. Die Aufmerksamkeit für das zarte Geschlecht raubte uns die Aufmerksamkeit auf uns selbst und mancher kollerte daher, nach¬ dem er 20 Schritte gethan, 30 Schritte wieder zurück. — Meine Dame war eine junge Engländerin, welche der Zufall in der Barke an meine Seite brachte; ich hatte ihr die Hand hehr Heraussteigen geboten und war somit ihr natürliche-r Partner auf der ganzen nächtlichen Expedition. So durchstrichen wir beinahe eine deutsche Meile, jeder seine Dame führend, stützend und aufmun. lernt; aber die Müdigkeit nahm bald überHand. Glücklicher Weise hatte man die Vorsicht gebraucht, auf einem gewissen Punkte Esel zu bestellen. Die Damen vertrauten sich dem Schritte dieser interes- santen Vierfüßler ,an und wir hatten nun die Aussicht, wie jener Münchhausen dreizehn Meilen in vierzehn Tagen zurückzulegen. Der Weg war für die vierfüßigen Thiere nicht minder schwierig, als für die zweifüßigen. Zwei oder drei Personen mußten jeden Esel um¬ ringen, ihm mit Stockschlägen zureden; bald jenen von vorn bei dem Zaume fassen, bald diesen von hinten stoßen, um nur die Bestien vorwärts zu bewegen. Endlich sah man ein, daß man auf diese Weise nicht weiter kommen konnte und mußte sich wieder entschlie¬ ßen, die eigenen Muskeln in Bewegung zu setzen, und gewiß hat manche Dame in diesem Augenblick gefunden, daß der Herr, der zu Hause in der Wohnung zurückgeblieben, weit leichter zu beneiden, als zu verspotten war. Madame Pasta klomm wie ein Eichhörnchen, sie lachte uns alle aus. Diejenigen von uns, welche keinen innern Beruf fühlten, ihrem Beispiele zu folgen, mußten sich doch dazu ent¬ schließen, um wenigstens die Ehre ihrer Nationalfarben zu retten, denn es waren Italiener, Deutsche, Engländer, Franzosen und Gott weiß, was noch für Menschen unter uns. Wir glichen auf dieser Wallfahrt so ziemlich jenen Pilgern von Mekka, die immer zwei Schritte vorwärts und einen Schritt rückwärts machen. Vier volle Stunden verstrichen; der Mond verschwand allmälig. Weiße Wolken zogen am Himmel auf und bald konnten wir bemerken, daß die Sonne nicht Lust hatte zu warten, bis wir auf der Spitze des Ber¬ ges sie mit unserer Bewunderung beehren würden. Gegen acht Uhr Morgens kamen wir endlich bei den Mauern eines alten Klosters an, welches jene Vergesspitze krönt. Die Sonne war weit näher ihrem Zenith als jenem Fleck am Horizont, auf welchem wir sie zu er¬ tappen die Prätension gehabt hatten. Um uns einigermaßen zu trösten, machte uns unsere liebenswürdige Führerin eine wahrhaft poetische Beschreibung von dem, was wir verloren. Mehr als zwölf Mal hatte Madame Pasta allein, bisweilen in Gesellschaft rüstigerer Ar¬ gonauten diese Alpenfahrt gemacht ; wir aber mußten uns den Mund abwischen, der ohnehin von dem vielen Steigen ausgetrocknet und erfrischungslustig geworden >var. Glücklicherweise wurde jetzt ein kaltes Frühstück bereitet und die Gesellschaft beeilte sich, die Poesie der kalten Küche mit mehr Eiser zu genießen, als die Poesie der schönen Natur. Die gebratenen Hühner, die Knackwürste, die Pasteten ver¬ schwanden mit der Schnelligkeit eines fliegenden Vogels. Vergebens versuchte Madame Pasta uns die malerische Schönheit der Land¬ schaft verständlich zu machen; die Augen der Gesellschaft streiften gletchgiltig umher, um mit weit größerem Behagen zu den hand¬ greiflichen Elementen unseres Frühstücks zurückzukehren. Bald wa¬ ren die Teller nur mit Knochen bedeckt, die Weinflaschen hatten den letzten Tropfen ihres Blutes hergegeben und nun erst begann die Landschaftsbegeisterung über uns zu kommen. Wir standen auf dem " Gipfel eines der höchsten Berge dieses Landstrichs, eine doppelte Al¬ penkette umzog ihn nördlich, während die herrlichen Ebenen der Lombardei sich vor uns ausdehnten und unser Blick über zehn Städte streifte, welche in der verschiedenartigsten Beleuchtung ihre Thürme emporstrcckten. Nqchdein wir Magen und Augen gehörig gesättigt, rasteten wir im Kloster ein wenig aus. Und nun übernahm unsere reizende Wirthin die Mühe, uns zu unterhalten. Die Pasta ist noch immer eine schöne und edle Gestalt; wenn nicht etwa die zwei Jahre, die seit jenem Besuche verstrichen sind, sie stark verändert haben. Ihre Haare, die sie in zusammcngewundenen Flechten ans dem Hinterhaupte ->, I-» Nil!M!t!5v befestigt trägt, sind glänzend schwarz und von einer be- neidenswerthen Fülle. Das Auge ist feurig und doch sanft, die ge¬ wölbten Brauen verrathen, welche Leidenschaft sie auszudrücken im Stande sind, und die Umrisse ihres Gesichtes haben ein echt römisches Gepräge. Die Arme dieser Künstlerin sind von einer so sprichwörtlichen Schönheit, daß ein berühmter Bildhauer einst sagte, die Arme, welche der medicäischen Venus fehlten, seien im Besitz der Madame Pasta. Im Ganzen haben die italienischen Frauen vor den deutschen den ungeheuern Vortheil voraus,, daß sie früher reifen und weit später altern. Madame Pasta steckte die ganze Gesellschaft mit ihrer Fröhlichkeit an; sie sang und spielte uns ko¬ mische Scenen vor, copirte berühmte Schauspieler mit komischen Ge¬ sten. Wenn man bedenkt, daß diese Frau nicht nur die eine von den zwei berühmtesten Sängerinnen ihrer Zeit war, sondern auch ein« der gewaltigsten tragischen Schauspielerinnen ist, ti« noch jetzt dnrch die Wahrheit ihres Ausdrucks die eingetretenen Mängel ihrer Stimme vergessen macht, so ist es fast unbegreiflich, wie diese froh-- liebe Natur sich durch alle diese Studien und Leidenschaften wach er¬ halten hat. Wer würde es glauben, daß diese rührende Norma, diese stolze Semiramide so liebenswürdige Tollheiten begehen, daß die Königin von Babylon in eine Colombine sich verwandeln kann? Mittlerweile war es Mittag geworden. Und die Sonne versendet glühenden Brand Und, von der unendlichen Mühe Ermattet, sinken die Kniee. ES war Zeit auf den Rückzug zu denken; aber dieser Gedanke hatte wenig Erfreuliches, wenn man die Mühseligkeit des Weges so erprobt hatte, wie wir. Madame Pasta sah uns alle nach der Reihe an und lächelte bedeutungsvoll: „Meine Freunde scheinen nicht zu wissen," sagte sie, „daß wir hier auf diesen Bergen Ma¬ schinen besitzen, wodurch wir die Reisenden auf die allerbequemste Art in's Thal hinab praktiziren?" — „Maschinen?" — riefen wir alle erstaunt. „Ja," sagte sie, „folgen Sie mir und Sie sollen be¬ wundern, wie tiefsinnig und erfindungsreich der menschliche Geist ist." Wir verließen den Klosterhof, um ihr zu folgen, und erblickten in der That eine eigenthümliche Maschinerie, die dazu dienen sollte, uns auf die komischste und behaglichste Weise die Berge hinabkollern zu lassen. Zwölf bis vierzehn riesige Baumzweige, deren kleinere Aeste, mit grünen Blättern reich bewachsen, zu einem bequemen Sitze zusammengeflochten waren, lagen vor uns. Der mittlere Ast dersel¬ ben bildete eine Art Deichsel, zu dessen Führung ein breitfüßiger lom- bardischer Bauer bereit stand. Jeder der Reisenden hatte somit seine eigene Equipage mit einem Menschen vorgespannt. Die ganze Ge¬ sellschaft brach bei diesem Anblick in ein lautes Gelächter aus und unter fröhlichem Jubel rutschten wir Tlicck abwärts, bis wir wohl gerüttelt am Ufer des Sees anlangten. Eine Stunde später stiegen wir die granitene Treppe der Villa-Pasta hinauf; einige Augenblicke Ruhe, ein Seebad, ein treffliches Diner gaben uns bald unsere Kräfte wieder; und eine Gondelfahrt beschloß den Abend dieses mühevollen Tages. Wenn sich Madame Pasta am ersten Tage, wo ich sie kennen lernte, mit allem Glanz« deö liebenswürdigen Weibes, mit jenem beste- ahmten Schönheitssinn zeigte, der das gewöhnliche Leben zum poetischen Genusse zu steigern weiß, so lernte ich sie in spätern, stillern Tagen in ihrer Künstlernatur erst recht begreifen, und ich glaube, daß trotz dem, was die Berliner Kritiker in neuester Zeit über diese wunder¬ bare Frau geschrieben, ein beleuchtendes Wort nicht zu viel sein dürste. Der Tod der Malibran und das Abtreten der Pasta haben die Bühnen Italiens ihrer größten Muster beraubt. Weder die Ungher noch die Persiani sind mit jenen Beiden in eine Linie zu stellen. Die reizende, höchst ausgebildete Stimme und Methode der Persiani ergreift im Concertsaal; auf der Bühne entbehrt sie allen tragischen Ausdruck, wozu diese Sängerin schon durch ihre schmächtige, unbe¬ deutende Gestalt sich nicht eignet. Mit größerer Leidenschaft begabt ist die Ungher, ihr aber fehlte selbst in ihrer besten Zeit jene plasti¬ sche Ruhe, welche der Kunst ihre höchste Schönheit verleiht. Die Grisi, die jetzt in Paris und London so gefeiert wird, ist bei allen ihren schönen Eigenthümlichkeiten doch nur ein Gemisch Malibrani- scher und Pasta'scher Copie, die Originalität fehlt ihr gänzlich. Ich habe Italien durchstreift und kenne die besten Kräfte seiner Büh¬ nen; aus eigener Erfahrung darf ich daher behaupten, daß das heutige Italien nur sehr wenig Talente besitzt, welche zu großen Hoffnungen veranlassen, hauptsächlich deshalb, weil ihnen die großen Vorbilder fehlen. Abgesehen von der wunderbaren Gesangsme- thode der Pasta ist sie als tragische Schauspielerin so großartig, daß ihr Spiel in dein Gemüthe einer jugendlichen Künstlerin eine entscheidende Umwälzung hervorbringen, ihr Talent reifen und ihr Verständniß lichter machen muß. Die Pasta ist aus jener seltenen und kostbaren Schule, welche weder in Italien, noch in Frankreich und noch viel weniger in Deutschland seitdem ersetzt wurde. Man hat mich versichert, daß Talma, dieser tragische Halbgott, keine Vor¬ stellung der Pasta in Paris versäumt hat, wenn er nämlich nicht selbst an demselben Abend spielte. Ich weiß nicht, welche Rolle es war, in welcher die Pasta zum ersten Mal in Paris auftrat; Talma ward von ihr so entzückt, daß er ausrief: „dieses Kind zeigt mir plötzlich und mit Einem Male, was ich seit zwanzig Jahren verge¬ bens suchte." Der Beifall Tellina's war nur der Ausdruck des ge¬ stimmten Publikums. Die Darstellungen der Pasta tragen ein un¬ nachahmliches Gepräge. Die Berliner Kritiker heben besonders den Umstand hervor, daß sie mit den wenigen Mitteln, vie ihr aus ihren schönen Tagen übrig geblieben sind, noch so zu wirken versteht, daß ihre Mängel dadurch versteckt werden, aber die Pasta hat nie eine besonders große Stimme gehabt; das war's, was sie groß machte, das, was sie bewundernswerth machte, das hatte sie durch unendli¬ chen Fleiß und durch ein besonderes Genie der Natur abgezwungen. Nicht das Einzelne, sondern die Ganzheit in jeder ihrer Leistungen war es, waS man anstaunte. Vor einem Publikum, welches seine Hauptaufmerksamkeit auf die materielle Qualität der Stimme richtet, hatte die Pasta immer einen schweren Stand; daher kam es auch, daß diese Sängerin in Mailand auf der großen Bühne der Scala niemals besondere Er¬ folge feierte, während sie bei nördlicheren Nationen den Kelch des Enthusiasmus bis an den Rand füllte. Das Mailänder Publikum, welches mit Recht als das competenteste in ganz Italien gilt, hat der Malibran bei weitem den Vorzug vor der Pasta gegeben. Und doch hatte die Pasta nie jene Ungleichheit in ihren Leistungen wie die Malibran. Die Malibran überließ sich ganz ihrer augenblick¬ lichen Eingebung, sie war immer die Künstlerin des Moments und in ein und derselben Rolle war sie an einem Tag« erhaben und an dem andern mittelmäßig. Das Talent der Pasta erhebt sich selten über seine Durchschnittsbildung , aber es sinkt auch nie unter die¬ selbe; bei ihr ist Alles Studium und Ueberlegung, und dieser Gleich¬ mäßigkeit ihrer Kraft ist es zuzuschreiben, warum sie in England, Frankreich und Deutschland, überhaupt im Norden, mehr Bewunde¬ rung fand, als in ihrem eigenen Vaterlande. Ich hatte oft Gelegenheit, mit der Pasta zu musiciren; es ist eigenthümlich, daß diese Künstlerin es nicht mehr liebt, allein und für sich selbst Musik zu machen; eS ist gewissermaßen, als hätten ihre mühevollen Studien sie abgestumpft gegen den Reiz musikali¬ scher Schwärmerei. Aber sür ihre Freunde ist sie immer bereit zu singen. Jeden Abend vor dem völligen Erlöschen des Tages, in der Stunde, wo die blaue Färbung der Luft allmälig in ein rärhsel- hastes Grau übergeht, bestiegen wir die Barken des friedlichen Sees. Unsere Donna del Lago hatte eine kleine Flotille; ein kleiner Nachen, mit chinesischem Lack bemalt, wurde von ihr selbst regiert, ein Ruder in jeder Hand fuhr sie uns übrigen immer voran. In solchen Augenblicken sang sie uns ihre Lieder. Indem sie plötzlich den Lauf ihrer Barke einhielt, saß sie mit gekreuzten Armen da, eine schöne Büste mit hoher Stirn, der der Nahmen des blauen Sees unter den dunklen Bergen einen magischen Eindruck verlieh, Canova hat diese Büste in Marmor ausgeführt, und man behaup¬ tet, sie sei eins seiner gelungensten Werke. Was mag wohl die Pasta veranlaßt haben, den köstlichen Auf¬ enthalt an dem Como-See, ihre Familie und so zahlreiche Freunde zu verlassen, um von Neuem dem ungewissen Meer der Bühne sich zuzuwenden? Man behauptet, eS seien materielle Verlegenheiten, zer¬ rüttete Vermögensumstände, die sie dazu gezwungen. Dieß beruht auf einem Irrthum. Die Donna del Lago besitzt ein so glänzendes Auskommen, daß sie in einer der schönsten Straßen Mailands ein prächtiges Hotel, ausgeschmückt mit den seltensten Kunstgegenständen und Allem, was Comfort und Lurus bieten, ihr eigen nennt; auch fehlt es ihr nicht an schönen Equipagen und Pferden, um sie nach ihrem Landhause am Como-See zu bringen. Allerdings bemerkt man, daß die italienischen Künstler der Habsucht mehr ergeben sind, als die deutschen, aber so gemeine Motive wollen wir nicht einer Frau unterlegen, deren Haus als ein Bild altrömischer Gastfreund, schaft gilt. Wohl aber mag die vulkanisch auflodernde Natur deö Südländers, auf die ich am Eingange dieses Aufsatzes hingewiesen, daran Schuld sein; dasselbe Emporraffen, welches Rossini zum Tell gestachelt und welches man bei den meisten großen Künstlern Ita¬ liens als einen eigenthümlichen Zug ihres Lebens findet. Th. Vanbeneden, Großhcrzogl. toskamscher AammmmlMr. Die Lehrfreiheit in Belgien! Ueber die erst« Gestalt und Entwicklung des belgischen Unter¬ richtswesens seit der Revolution von 1830 hat die ausführliche Schrift von Thiersch in Deutschland genauere Kenntniß gegeben. Auf die Debatten, welche dieses Buch hervorgerufen, wollen wir hier um so weniger zurückkommen, als während der letzten Jahre die Verhältnisse in Belgien sich wesentlich verändert haben und wir die Grundsätze, an welche sich Herr Thiersch damals hielt, nicht mehr als entscheidend ansehen können. Als eifriger Beförderer der classischen Studien, selbst in den weiteren Kreisen der Bürgerschulen, hatte der berühmte Münchener Hellenist sein Augenmerk mit Vor¬ liebe auf diesen Unterrichtszweig gerichtet; allein grade die altclassi> schen Wissenschaften dursten bei der praktischen und modernen Rich¬ tung, die im belgischen Leben durchaus vorherrschend ist, nicht in den Vordergrund gerückt werden. Die Erfahrung hat seitdem ge¬ lehrt, daß das Unterrichtswesen in Belgien, obgleich jener einzelne Theil nicht gefördert worden, dennoch im Ganzen und in den Zwei¬ gen, welche dem Charakter des Volks und der Zeit näher stehen, augenscheinlich im Aufschwung begriffen ist. Nach den sorgfältigen und unpartheiischen Mittheilungen, welche Herr Mohl in den Heidelberger Jahrbüchern über die belgischen Universitäten veröffentlicht hat, haben wir über den frühern Zustand derselben nichts Neues zu sagen; desto mehr müssen uns aber die neuern Einrichtungen und Veränderungen interessiren, von, denen wir in den letzten drei Jahren Zeuge gewesen sind. Der Gesichtspunkt, den wir bei den nachfolgenden BnnertmigM zu beobachten haben, muß vornehmlich ein politischer sein; namentlich müssen wir die Unterrichtsfreiheit, deren Belgien genießt, in ihre» Beziehungen zum Staate, sowie das Eingreifen und die Rückwirkung des letztem auf jene betrachten. Die Unabhängigkeit des Unterrichts ist eine der Institutionen, die bis jetzt kein Land in der Art und in dem Umfange wie Belgien besitzt, und, worauf noch mehr Gewicht zu legen, die keines in dem Maße, wie es hier geschehen ist, zur An¬ wendung gebracht hat. Frankreich gehorcht auch auf diesem wichtigen Gebiet geistigen und gesellschaftlichen Lebens seinem politischen Grund¬ satz, der Macht der Centralisation; seine Lehranstalten sind Vasallen der Pariser Universität. In Frankreich wählt die freie und offene Lehre nicht den zwar mühsamen, aber desto tiefer dringenden Weg durch Classen und Hörsäle; sie zielt auf schnellere und wcitergrei- sende Wirkung ab, durch die Zeitblätter. Die einflußreichste Schule des französischen Volkes wird von den Tagesfchriftstellern unterhal¬ ten; die Lehre hält sich durch die Presse für die Hemmnisse und Mängel schadlos, die sie auf ihrem eignen und nächsten Felde erlei¬ det. In England b:steht zwar das Lehrwesen im Allgemeinen vom Staate ganz unabhängig, mit der Ausnahme, daß die Stiftung von Universitäten, wie die der Londoner, einer Genehmigung des Parlaments bedarf. Doch wird in diesem Lande die freie Entwick¬ lung des höhern Schulwesens durch den positiven und stabilen Geist gehindert, der grade die Wissenschaften, welche auf den Unterricht am stärksten einwirken, die.Theologie und Philosophie, beherrscht. Unter der Aegide der Bischöfe, unter herkömmlichen Satzungen und vererbten Patronaten haben die großen englischen Lehranstalten einen durchaus traditionellen Charakter angenommen. Was den Volksunterricht in England betrifft, so ist er bekanntlich, verlasse» von der Staatsverwaltung, im elendesten Zustande. Nach Herr» von Raumer's Angaben bleibt dort noch über die Hälfte des niedern Volks von aller Unterweisung ausgeschlossen; bet dem Volke ist es ja ein dringenderes Bedürfniß, die Jugend so früh und so lange Zeit des Tantes als möglich und erlaubt ist, in die Fabriksäle zu schicken. Ganz anders verhält eS sich in Belgien. Hier hat die Unterrichtsfreiheit d«in öffentlichen Leben einen mächtigen Impuls gegeben; hier haben Provinzen, Gemeinden und Privatvereine an die Ausübung dieses Rechtes Hand gelegt, und die Regierung hat nicht unterlassen, ihnen von ihrer Seite entgegenzukommen; hier ist diese Freiheit mit dem politischen Dasein und mit den Bewegungen des öffentlichen Lebens aufs unzertrennlichste verbunden geblieben. Die Aufhebung dieses wahrhaft nationalen Rechtes müßte entweder den Staat in die Hände des Clerus, oder die Kirche unter die Ge¬ walt der Staatsregierung bringen; in dem einen wie in dem andern Falle würde aber die ganze Arbeit von 18Z0, die Constituirung eines in seinen Gliedern und Ständen unabhängigen Volkes und Staates vereitelt werden. Daß Belgien, welches durch seine /Revo¬ lution nicht bloß in dem rein politischen, sondern auch in dem sitt¬ lichen Dasein ergriffen und umgeschaffen ist, ein solches Loos nicht zu befürchten habe, dafür ist ihm der Geist der Freiheit in Glauben, Lehre und Wort, auf dem seine Unabhängigkeit errichtet ist, der beste Bürge, davor bewahrt es sich selbst durch den Sinn für Oeffent- lichkeit und gesetzliches Handeln, gegen den keine Parteibestrebungen mehr aufkommen können. Wo diese innern und allgemeinen Mächte einer Volksunabhängigkeit zum Hebel dienen, wo sie einmal zum thätigen Bewußtsein durchgedrungen sind, da dürfen wir mit Recht auf einen dauerhaften Bestand, auf eine immer vollere und reinere Ausbildung der erlangten Selbständigkeit und der Rechte, die sie begreift, rechnen. Um die Freiheit des Unterrichts zu würdigen, dürfen wir nicht übersehen, daß die Quelle und der Inhalt derselben die Freiheit der Lehre, des Gedankens ist, jenes ewige Recht der Menschen, das Fundament, worauf die Gesittung der europäischen Volker beruht. Wo dies ursprüngliche Recht erdrückt ist . da wird bald die Kaste ihr ertödtendes Regiment einführen, den blinden, alle Sittlichkeit er¬ stickenden Gehorsam. Die Forschung, die Lehre sei frei und bewege sich unbehindert und unangefeindet, dies ist das erste, nothwendigste Erfordernis), ohne welches die Freigebung des Unterrichts keinen Sinn hat, da sie selbst ihren Zweck in nichts Anderem finden kann, als dem Gedanken den äußeren Spielraum zu eröffnen und sicherzu- stelle». Nur der Gedanke, als Wissenschaft, ist im Stande, den Mißbräuche» und der Willkür im Lehrwesen zu steuern; sein eigenstes. Interesse ist es ja und sein Beruf, für jede Freiheit das Gesetz, die gesellschaftliche Form und Ordnung aufzuweisen. Diese Freiheit, die des Denkens und Lehrers, die wir in den politisch freiesten Ländern nicht immer ungefährdet sehen, ist ein Gut, in dessen Besitz und Gebrauch nicht leicht ein anderes Volk mit dem Deutschen wetteifern kann. Es sei erlaubt, hieran zu erinnern, da wir selbst Stimmen haben vernehmen müssen, die für uns Deutsche das Unterrichtsgesetz eines fremden Landes zum Muster aufstellen. Wie oft hören wir nicht Klagen und Besorgnisse laut werden, über die Rückschritte, über den vermeinten Verfall unserer Universitäten. Wir geben den unzufriednen Richtern und Tadlern im deutschen Vaterlande zu be¬ denken, daß bei uns die Lehrfreiheit in einem hohen Grade, wie bei keinem andern Volke, geübt wird. Aller ernsten Forschung, sofern sie nicht vorschnell über das Reich des Wissens hinausgreift, stehen in Deutschland Lehrwege offen; jedes System, jede Methode findet auf unseren Universitäten einen Spielraum. Hindernisse und Ein¬ schränkungen, die hier und da vorfallen, Ausnahmen in diesem oder jenem Staate, auf einzelnen Hochschulen, die im Nachtrabe stehe», beweisen nichts gegen einen Zustand, der allgemein zu fassen ist. Wenn die theologische Facultät in Bonn einem Docenten das Recht des akademischen Vertrags entzieht, so ist daS freilich keiner von den Fällen, nach denen wir uns eine allgemeine Ansicht über den Zustand des deutschen Universitätswesens bilden wollen. Die theo¬ logischen Facultäten befinden sich überdies in einer ganz verschiedenen Lage gegen die andern; sie können, streng genommen, einen Ge¬ lehrten, der die Fundamente ihrer Wissenschaft positiv verneint, in ihrem Schooße nur dulden, nicht aber eigentlich zu sich rechnen; denn ein solcher Gelehrter ist, in Folge seines Standpunktes bereits in die Sphäre der philosophischen Wissenschaften hinübergeschritten.- Wo fände sich nur das Land, wo wie in den Theilen von Deutsch¬ land, welche in der geistigen Welt den Ton angeben, gradezu ent¬ gegengesetzte Lehrsysteme öffentlich und im Dienste des Staates verkün¬ det werden, sowie z. B. in Berlin Savigny und Gans zusammen lehrten, oder in Halle, wo neben dem Pietismus und der heftigsten Orthodorie sowohl die ältern als die neuern radikalsten Nationalisten den Katheder inne hatten. Sogar das historisch-gesinnte Göttingen kann sich in diese Reihe stellen. Was würde dagegen Orford zu einer solchen Freiheit für eine Miene machen? Ja, wir zweifeln selbst, daß Paris und Brüssel ein solches Maß von Unabhängigkeit auf jeder Seite des Forschens ertragen könnten, und es ist dies kein Vorwurf für sie; eS wäre unter den jetzigen Verhältnissen ungereimt, ihnen dergleichen zuzumuthen. Ein gänzliches Freigeben des Unterrichts in die Hand der Privatpersonen und Vereine mag auf den ersten Blick denen, welche an die deutschen Zustände gewöhnt sind, unzuläßlich vorkommen. Wie sollte ein geordnetes Volksleben bestehen, wenn nicht das Volk durch eiir vollständig organisirtes und überwachtes Schulwesen dazu herangebildet wird? Giebt der Staat nicht mit der Sorge dafür eine seiner heiligsten Pflichten auf, um die sittliche und politische Erziehung wenigstens des größten Theiles der Landesbewohner dem Zufall, dem Eigennutz, dem guten oder bösen Willen der Klügern oder Glücklichern zu überlassen? Dem Lehrenden gar keine Garantie seiner Tüchtigkeit abfordern, den Schulen keine Bedingungen vor¬ schreiben hieße, wie es scheint, einerseits das Lehrfach in die Reihe solcher Gewerbe stellen, die mit den Stoffen der Natur, mit Erzeng¬ nissen der Mechanik zu thun haben, andrerseits aber hieße es, den Staat für intellektuell bankerott erklären. Würde man nicht der Anarchie Thür und Thor öffnen, oder doch jedenfalls an die gute Natur eines Volkes eine ungeheure Zumuthung machen, indem man ihm ein so bedenkliches Geschenk zum beliebigen Gebrauch gäbe? In der That sehen wir auch die Unterrichtsfreiheit höchst selten um ihrer selbst willen gefordert; man verfolgt mit ihr und unter dem Deckmantel derselben gemeiniglich ganz andere, mit dieser Freiheit selbst streitende Zwecke, wie wir es grade jetzt in Frankreich wahr¬ genommen haben. Es liegt unserer Absicht sern, der absoluten Los- gcbung des Unterrichts an und für sich das Wort zu reden. Es ist sicherlich kein normaler Zustand, wenn der Unterricht ohne Erweis der Fähigkeit und Gesinnung Derer, die sich demselben widmen, der Concurrenz der Menge überlassen wird; wohl aber kann dieser Zu¬ stand, wie dies in Belgien der Fall ist, der Ausgangspunkt einer gesunderen Gestaltung des Unterrichtswesens und die freie Concurrenz eine bleibende Grundlage natürlicher Entwicklung sein; jedenfalls ist diese in Belgien die erste und unabweisliche Bedingung einer volksgemäßen Organisirung desselben gewesen. , Um zu sehen, wie weit Belgien zur Erfüllung dieser letztern Aufgabe bis jetzt gekommen ist, wollen wir die hauptsächlichsten Momente herausheben, welche den Gang des öffentlichen Unterrichts bezeichnen. Wenige Wochen, nachdem die belgischen Provinzen sich als einen eignen Staatskörper constituirt hatten, erließ die provisorische Regierung am 12. October I83V ein Decrer, kraft dessen „dieVer¬ fügungen, welche die Freiheit des Unterrichts bisher behindert hatten, für ausgehoben" erklärt wurden. Sie entsprach dadurch einem dringenden Verlangen der Patrioten, welche in dem bestehenden Lehrzwange einen Hauptgrund zur Lossagung von dem niederländi¬ schen Staatsverbande gesucht hatten. Das Bestreben des frühern Regiments ging bekanntermaßen darauf aus, die südlichen Theile des Königreichs den nördlichen völlig zu assimiliren. Zu diesem Behuf bediente es sich auch der Schulen, als des geeignetsten Mit¬ tels, um holländische Sprache und Bildung unter die Bewohner der belgischen Lande zu verpflanzen. Während der niederländischen Zeit war das Schulwesen ganz in die Hand des Staates gelegt; die Errichtung der Schulen, die Beaufsichtigung aller Anstalten, die Autorisation zu Privatstiftungen hing einzig und allein von der Cen- tralgewalt ab. Ein großes Verdienst lag gewiß darin, daß die niederländische Regierung durch normal- und Musterschulen direct auf die Verbesserung des Lehrwesens zu wirken suchte; aber sie ver¬ fuhr dabei in einem Sinne, der die südlichen Landestheile, in denen der Eleruö sich immer mehr und mehr von den Lehrstühlen entfernt sah, gegen sie aufbringen mußte. Ihre Einrichtungen nahmen den Charakter eines gehässigen Zwanges an, wo sie, wie durch die Vor¬ schrift bestimmter Methoden in den Volksschulen, den bestehenden Gebräuchen und Lehrweisen schroff entgegentrat, und ihnen den Raum zur allmäligen Umbildung abschnitt. Indeß fallen dergleichen stren¬ gere Maßregeln erst in die letzten Jahre vor der Revolution und sie wurden in Belgien niemals zu vollständiger Ausführung gebracht. Indem die provisorische Regierung in Brüssel den Ausspruch that, daß jedem Belgier das Recht zustehe, Schulen M gründen und zu unterhalten, fügte sie zugleich; um ihre Betheiligung an dem Un< terrichte festzustellen, die Bestimmung hinzu, daß „die vom Staat unterhaltenen Universitäten und Kollegien, desgleichen die den Elemen- tarschulen ausgesetzten Subsidien vorläufig aufrecht schalten werden sollten, bis zur Zeit, wo der Nationalcongreß über die Sache einen Beschluß gefaßt haben würde." Zu gleicher Zeit gab sie das Recht der allgemeinen Inspektion über die Schulen und Erziehungsanstalten auf und behielt dasselbe nur für die von Staatswegen errichteten oder subventionirten Anstalten bei; ein Decret des Regenten vom 31. Mai 1831 löste die Provinzialcommijsionen auf, welche zur niederländischen Zeit mit der Inspection der Schulen beauftragt ge¬ wesen waren. / Die schlimmen Folgen dieser plötzlichen Freigebung des Unter¬ richts mußten sich natürlich zumeist in dem niederen Schulwesen zeigen. Es erhob sich sogleich eine Reaction gegen alle ausschlie߬ licherweise vom Staate verwalteten Volksschulen. Viele Gemeinden unterdrückten die Ausgaben, welche sie bisher gehalten gewesen waren, für den Unterricht zu bewilligen. Das Mißtrauen, womit man die vorige Verwaltung angesehen, erstreckte sich auch auf die Einrichtungen, welche von der neuen ausgingen. Ueberall thaten sich Privatschulen auf, welche gegen die der Gemeinden eine gefähr¬ liche Concurrenz unterhielten. Durch billige Preise und freigebige Ver¬ sprechen ließ man sich nach den Anstalten hinlocken, wie sie eben aus dem Stegreife geschaffen wurden, ohne nach ihrem Geist und der Wahrheit ihrer Programme zu fragen. So geschah es bald, daß die bessern Lehrer sich von dem Elementarunterricht abwandten. Auf den Dörfern sah man meist nur diejenigen sich diesem Ge¬ schäfte widmen, denen es in keinem anderen glücken wollte. Die Opposition gegen die Institute der Regierung dauerte während der ersten zwei Jahre fort; nach dieser Zeit trat an die Stelle derselben eine Gleichgültigkeit, die nicht minder verderblich werden mußte. Ge¬ gen alle diese Uebel hatte der Staat kein anderes Mittel, als das der Vorstellung und Ueberredung. Nur nach und nach gelang es ihm, auf diesem Wege den Unterricht in einer großen Anzahl von Gemeinden emporzubringen. Von ganz anderer Art waren die Folgen der neuerworbenen Freiheit für den mittlern und höheren Unterricht. Ohne der zahl¬ reichen Bildungsanstalten zu gedenken, hier von Privaten, dort von Städten und Vereinen gegründet oder unterstützt und erweitert, so brauchen wir, um den wohlthätigen Einfluß des neuen Gesetzes zu beweisen, nur an die beiden bereits im Jahr 5834 gestifteten freien Universitäten zu erinnern, welche nicht wenig dazu beigetragen haben, - inen regen Wetteifer in ven Universitätsstudien wach zu erhalten und sie zuerst, wie wir gleich näher zeigen werden, eine der gefährlich¬ sten Lücken im öffentlichen Lehrwesen auszufüllen gestrebt haben. Wenn das Decret der provisorischen Verwaltung sich daraus beschränkt hatte, die damals bestehenden Staatölehranstalten als solche anzuerkennen, so lag es nach Vollendung der Konstitution des Landes der Regierung ob, „im Einverständnis) mit den Kam¬ mern daS gesammte öffentliche Unterrichtswesen zu reorganisieren." Seit dem Jahre hat dieselbe dieses Gesetz durch eine Reihe "on Institutionen zur Ausführung gebracht, von denen wir jetzt lenz Rechenschaft zu geben haben. Indem die Regierung eine Anzahl Lehranstalten errichtet, tritt sie gewissermaßen neben die Privatpersonen und Gesellschaften, welche aus eignen Mitteln für denselben Zweck thätig sind. Man könnte meFrage auswerfen, inwiefern dies zu der höhern Stellung, zu der Parteilosigkeit paßt, welche dem Staate, selner Natur nach, zukommt. Ist indeß die Unterrichtsfreiheit einmal gegeben, so entsteht für den Staat von selbst die Aufgabe, überall ermunternd und ergänzend einzuwirken und seinerseits Lehrsäle zu eröffnen, da die vom Volke frei und noch ungeordnet ausgehende Thätigkeit keine hinlängliche Bürgschaft giebt, das; dieselbe den Bedürfnissen des ganzen Landes entspreche. Doch würde der Staat allerdings diese seine natürliche Stellung verläugnen, wenn er als Rival der freien Anstalten letztere in ihrem Wirken und in ihrer Ausbreitung hemmte; ihm muß viel¬ mehr daran liegen, daß so viele Anstalten als möglich vorhanden seien, die unmittelbar dem örtlichen Bedürfnisse entsprechend sind, mö¬ gen sie nun von Einzelnen odervon korporativen Unternehmen ausgehen. ' Unter der niederländischen Regierung hatten in denbelgischen Provinzen drei Universitäten, zu Löwen, Lüttich und Gent bestanden. Nach der Revolution waren diese Universitäten für den Augenblick durch den freiwilligen oder gezwungenen Austritt von siebenzehn Profes¬ soren, theils Holländern, theils Fremden, sowie bald nachher durch die Entlassung von sechs anderen Professoren in Zerrüttung gerathen. Ganze Facultäten waren eingegangen; so besaß Belgien eine Zeit !nig nur Eine philosophische Facultät und ebenfalls nur Eine für die cracker Wissenschaften. Diesem schmählichen Zustande hatten zuerst die freien Universitäten abzuhelfen unternommen, die katholische in Mecheln errichtete und bald nach! Löwen verlegte und die Brüsseler, deren Gründung ein Werk der Liberalen ist. Ueber ein Jahr spä¬ ter wurden von Seiten des Staates die beiden Hochschulen in Lüttich und Gertl) eingerichtet, die mit dem Anfange des Jahres 1836 ihre Arbeiten begannen; die alte Staatsuniversität in Löwen wurde aufgehoben, um der katholischen Platz zu machen. Geht man die Berichte durch, welche das Ministerium über die Universitäten in Lüttich und Gent den Kammern seit 1837 jährlich vorgelegt har, desgleichen die von der Administration der Brüsseler veröffentlichten und die zwar spärlichen Notizen in den Jahrbüchern der katholischen Universität, so ist es erfreulich, überall die Sorgfalt zu sehen, welche auf alle Zweige des Unterrichts verwandt wird. Kaum geht ein Jahr vorüber, ohne daß Verbesserungen, getroffen, die Lehrfächer erweitert und die wissenschaftlichen Mittel vervollständigt wärein Allein der Hauptgewinn der von vier Seiten her betriebenen Con- currenz ist ohne Widerrede die Forderung des wissenschaftlichen Be¬ strebens, die vielfache Anregung der Studien und Methoden, wo¬ durch, wie zu hoffen ist, die belgischen Hochschulen vor dem Schicksale der englischen, in denen der Unterricht im Ganzen und Großen sta¬ tionär wird, sich bewahren werden. Hinsichtlich des Volksunterrichts haben wir schon erwähnt, daß derselbe nach der Revolution in Verfall geriet!). Zufolge späterer Kammerberichte stellt sich heraus, daß, wie die ConscrivtionSlisten beweisen, in verschiedenen Provinzen bald ein Drittel, bald zwei Fünftel, ja selbst mehr als die Hälfte der Militärpflichtiger ohne alle Unterweisung geblieben waren. Seit der Neugestaltung der Gemeinde- und Provinzialverfassung von 1835 hat die Negierung planmäßig ihren Einfluß auf die Volks- und Gelehrtenschulen immer weiter ausgedehnt, indem sie bei einer großen Anzahl derselben durch Bewilligung eines Subsidiumö und in Folge einer darauf gegrün¬ deten Uebereinkunft sich daS Recht der Inspection, der Anordnung öffentlicher Prüfungen erwarb. Statistische Vergleiche zeigen, daß ' *) Die erstere ist mit einer Gcwrrbs- lind Bergschule, die andere mir einer Civilgemeschule verbunden. 5» im Volksunterrichte gegenwärtig eine merkliche Verbesserung gegen die letzten Jahr/ vor dem Umsturz des holländischen Regiments ein¬ getreten ist. Unter den allgemeinen Veranstaltungen, welche die Proclamation 5er Unterrichtsfreiheit herbeiführen mußte, und welche wir als die .-igentliche Vollendung dieses Gesetzes ansehen, haben wir vor Allem der öffentlichen Prüfungen vor den Jurys zu gedenken. Durch die Eraminationsjury empfängt der Staat die Zöglinge der verschiedenen Anstalten des Landes, der freien sowie der von der Negierung ab¬ hängigen, desgleichen die jungen Leute, welche durch Privatstudien sich auf einen gelehrten Beruf vorbereitet haben. Indem die Jury den Uebergang aus der Schule in die öffentliche Welt vermittelt, muß sie ihrer Natur gemäß von den obersten politischen Gewalten des Landes eingesetzt werden. Unter den Mitgliedern, deren sieben eine Jury bilden, werden drei von der Regierung, zwei vom Senate und zwei von der Repräsentantenkammer ernannt; jährlich finden zwei Sitzungen statt, von denen jede vier bis sechs Wochen zu dauern pflegt. Zwei Grade, die Candtdaiur und das Doctorat, oder, nach deutscher Art zu reden, das letzte Staatseramen, werden von besonderen Püfungsbehörden ertheilt; nur in den philosophischen und allgemeinen Vorbereitungswissenschaften sind beide Grade der nämlichen Jury anvertraut. Bloße Ehrendiplome, dergleichen die Universitäten nach abgehaltenem Eramen oder wegen wissenschaftli¬ cher Auszeichnung ertheilen können, geben wie in Deutschland weder Anspruch noch Vorrecht auf den Eintritt in eine öffentliche Carriere. Man hat über die Zulänglichkeit und den Nutzen der PrüfungS- jurys viel gestritten, und es ist nicht zu läugnen, daß allerlei Uebel¬ stände damit verbunden sind. Um das Eramen zu überwinden und zwar so schnell als möglich, wirst sich der Studirende häufig auf ein mechanisches Erlernen des Stoffs seiner Fächer. Die Era- mina selbst bieten im Durchschnitt das Schauspiel eines gemessenen, einförmigen Abfragens dar, ohne jenes Zutrauen, welches dem Era- minanden sein Wissen vor dem Geiste gegenwärtig erhält. Um mit Sicherheit angetreten zu werden, setzen diese Prüfungen voraus, daß der Studirende sein Material selbständig beherrsche und es verstehe, in verschiedenen Methoden und Ansichten sich schnell zu orientiren. Nur mit den Jahren kann der Studirende die Gewandtheit erlangen, Welche erfordert wirb, um vor Eraminatoren zu bestellen, die ans allen Theilen des Landes zusammenberufen und alljährlich erneut werden können. Daher greift er so gern nach dem Auskunftsmittel, sich eine Masse Kenntnisse gedächtnißmäßig einzuprägen, worüber freilich die wahre Frucht seiner Arbeit ohnfehlbar verscherzt wird. Es ist schon oft von einer Umwandlung des Instituts der Prüfungs- jurys die Rede gewesen, und es scheint, daß eine solche in Kurzem zu Stande kommen wird. Jedenfalls verdient der Vorschlag Billi¬ gung, nur die letzten, sogenannten Doctoreramina den JuryS zu übertragen, und alle frühern Prüfungen, die Kandidatur mit einge¬ schlossen, den vier Universitäten anheimzugeben. Dies würde ganz mit der Bedeutung in Einklang sein, die wir überhaupt den StaatS- jurys zuschreiben. Denn da der Unterricht freigegeben ist, so scheint das Eingreifen des Staates erst für den Moment nothwendig, wo der Studirende am Eingang in irgend einen gelehrten Beruf steht; erst dann tritt für den Staat die Verpflichtung ein, über die Arbeit und Fähigkeit Derer, die ins praktische Leben übertreten wollen, zu entscheiden. Wie nun der Staat durch die Prüfungsjurys die oberen Sphä¬ ren deS gestimmten Unterrichtswesens in eine directe Beziehung zu der praktischen Welt bringt, so steht ihm auch noch eine andere wichtige Funktion zu, die Lehranstalten nämlich in ihrem Wirken sowohl unter einander als mit der Nation selbst in Berührung zu setzen. Alle Anstalten, welcher Stufe sie auch angehören, weß Gei¬ stes und welcher Herkunft sie sein mögen, wirken innerhalb der Nation und arbeiten für dieselbe. Lehre und Erziehung sind nie bloße Privatsache. Daraus ergiebt sich die Forderung, daß sämmt¬ liche Anstalten sich zu einander versammeln und unter das Auge des Volkes treten. Ohne Oeffentlichkeit würde der freie Unterricht der sittlichen Haltung ermangeln. Als einen Anfang, dieses Ziel zu er¬ reichen, sehen wir die zuerst vor zwei Jahren eingerichteten öffent¬ lichen Preisbewerbungen an, durch welche die Jugend zu einem edlen Wetteifer bet den großen Nationalfesten im Herbst in der Hauptstadt zusammengerufen wird. Belgien ist das Land der Preis- vcrtheilungen, der Feste für jederlei Kunst und Wissen. Das rühm¬ liche Ehrenzeichen des öffentlichen Lobes ziert jede Art von Verdienst. die Erzeugnisse des gemeinsten Bedarfs, wie die herrlichsten Schöpf¬ ungen des Talents. Der erste große Schulact ward im Jahre 1840 unter den von der Regierung subvcntionirten Athenäen und Kollegien angeordnet, Durch Ausschluß der freien und blos städtischen Gymnasien entbehrte jedoch diese Festlichkeit noch des rechten nationalen Charakters. Der Staat stellte sich noch mit seinen Schulen, gleich einem Privatvcrein, den zahlreichen, von ihm unabhängig bestehenden Lehranstalten, ent¬ gegen. Die Erweiterung des Preiöconcurses, welche das darauf folgende Jahr brachte, muß deshalb als ein bedeutender Gewinn, als eine der wichtigsten Anordnungen seit der Reorganisation des Unterrichtswesens im Jahr IZM angesehen werden. Zu der Be¬ werbung im Herbst 184! waren sämmtliche Schulen eingeladen, die einen vollständigen Gymnasialcursuö, die alten Sprachen nebst den mathematischen Wissenschaften, ausweisen konnten, ohne Unterschied, ob sie ein subsidium vom Staate genossen oder nicht; nur waren die der ersten Art zur Theilnahme verpflichtet, den übrigen war dieselbe freigestellt. Das erste Mal schlössen sich freilich nur wenige freie Anstalten an; es liegt aber in der Natur der Sache, daß die Theilnahme mit der Zeit immer allgemeiner werden wird. In bei¬ den Jahren hatte man die Preisbewerbungen nur für die oberste Klasse, die Rhetorik, gelehrter Schulen ausgeschrieben; dieses Jahr hat man die niederen berufen; uns scheint der frühere Gebrauch den Vorzug zu verdienen, denn für -die mittleren und unteren Klassen reichen die gewöhnlichen häuslichen und städtischen Feste vollkommen hin, und es ist ein Sporn für den Schüler, wenn es ihm für das Ende seiner Schulzeit vorbehalten bleibt, bei der allgemeinen Natio¬ nalfeier in die Arena zu treten. Eine noch umfassendere und bedeutendere Preisvertheilung wird im gegenwärtigen Jahre zum ersten Male stattfinden. Denn es sind nun auch durch einen königlichen Beschluß vom Z3. Oktober >84I sämmtliche Universitäten des Landes aufgefordert, und für jede der vier Facultäten (an die Stelle der theologischen tritt als vierte eine Facultät der mathematischen und naturwissenschaftlichen) sind zwei Ehrenmedaillen ausgesetzt, über deren Ertheilung die von den einzelnen Facultäten der vier Universitäten erwählte Jury zu ent¬ scheiden hat. Zu diesem Concurse wird nicht blos, wie in Deutsch- land, eine schriftliche Dissertation, sondern auch, um die eigene Ar¬ beit des Bewerbers bestimmt zu ermitteln, eine unter den Augen ve» Preisrichter verfaßte Arbeit nebst öffentlicher Vertheidigung der Dis sertation erfordert. Es ist noch nicht an der Zeit, über die Ergebnisse der bisse. rigen Concurse näheren Bericht abzustatten; das Institut ist noch zu neu, die Wirkungen desselben werden sich erst mit den Jahren er kennen lassen. Zu den allgemeiner bemerkten Thatsachen im belgischen Unterrichtswesen kann man jedoch ohne Bedenken das Ueberwiegen der Realstudien über die classischen rechnen, ein Umstand, der in dem hiesigen Lande nicht überraschen kann. Eine der erfreulichsten Thatsachen ist unbestreitbar das wiederauflebende Studium der flä- mischen Sprache in den Schulanstalten, welches nach der Revolution durch die Uebermacht des französischen Wesens eine Zeitlang in Still¬ stand gerathen war. Nach den bis jetzt vorgenommenen Prüfungen zu urtheilen, stehen in diesem Lehrzweig die wallonischen Schüler den flamcindischen nicht nach, wie es andrerseits eine merkwürdige Thatsache ist, daß die Schüler flamändischer Gymnasien im Durch» schnitt in der französischen Sprache den wallonischen gewachsen sind. So scheint von beiden Seiten eine Durchdringung der fremdartigen Elemente der zwei Haupttheile des Landes von den Schulen aus sich zu bewerkstelligen. Durch die öffentlichen Prüfungen und Preisconcurse erhält das freie Unterrichtswesen seine natürliche Ergänzung. Der Staat gibt dadurch Allen, die dabei betheiligt sind, die Mittel an die Hand, ihr Wirken, wie es sein soll, vor der Nation auszuschließen. Es wäre gewiß ein großer Verlust für das Volk, wenn die Unterrichts, freiheit eine Zerstückelung und Jsolirung desselben in den Sälen der Privatunternehmer, zerstreuter Vereine und einzelner Stände oder Parteien zur Folge hätte. Das Volk hat Anspruch auf alle Kräfte, der Stand der Gebildeten jeden Geschäfts hat das Recht, über die Leistungen deö Lehrwesens Kenntniß zu fordern und ein Urtheil zu fällen. Nach Oeffentlichkeit strebt und ringt unsere ganze Zeit; in ihr liegt die größte Macht und Bildungskraft für alle Theile der gesellschaftlichen Thätigkeit. Das Recht des Urtheils, ein Zuge- ständniß, welches Einzelne und Einzelvereine der Gesellschaft einräu¬ men, lohnt diese durch die Sanction ihres Vertrauens, durch den Ausspruch ihres Antheils und ihrer Billigung. Die gegenwärtige Zeit, welche allen Gemeinsinn anregt und reift> wird es dahin brin¬ gen, daß das Erscheinen vor der Nation den Häuptern der Ver¬ waltung und den Leitern des Unterrichts, wie es jetzt den Lehran¬ stalten Belgiens geboten und freigestellt ist, zu einer unabweislichen moralischen Nöthigung, zu einer Bedingung ihres Gedeihens wird. Th, Schliephakc. Beschauliche Briefe aus Oesterreich von 3. von Z. Sie kennen gewiß das Haus, aus welchem ich Ihnen diese Zeilen schreibe. Vor mir liegt die Bruska mit ihren grünen An¬ höhen, die wie eine blühende Friedenshand über die alten Festungs¬ werke sich ausstreckt. Weithin blickt das Auge über die freundlichen Inseln der Moldau; die Daliborka, das alte Denkmal böhmischen Tongenies und die Sternwarte Tycho Brahe's sind meine Nachbarn; unter meinem Fenster zieht eine Procession singender Landleute zu dem Standbilde des heiligen Johannes von Nepomuk. Der Mor¬ genwind streicht über die Stadt und weckt sie zur Thätigkeit, zu neuem Tagewerke, zur frischen Zukunft. Seit acht Tagen bin ich hier. Ich habe von dem staubigen Wien auf zwei Monate Abschied ge¬ nommen, um Böhmen zu durchstreifen, das ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Fünfzehn Friedensjahre verändern ein Land nicht minder als eben so viel Kriegsjahre. Warum verlangten Sie blos Briefe aus Wien von mir? Hat die Nähe von Paris, in der Sie leben, Sie vielleicht vergessen lassen, daß Oestreich kein centralisir- tes Land wie Frankreich ist, wo derjenige, der ein Bild von der Hauptstadt gegeben hat, zugleich ein Bild deö ganzen Landes liefert? Diese Staaten-Mosaik, die man Oestreich nennt, muß in ihren ein¬ zelnen Farben und Steinen untersucht werden. Wien ist kein Ma߬ stab für Prag. Prag ist kein Maßstab für Pesth, Pesth nicht für Trieft, Trieft nicht für Mailand u. s. w. Auch muß ich Ihnen bekennen, ich habe nie geglaubt, daß die Centralisanon in Frankreich so sehr stark ist, als unsere deutschen Neiseschriftsteller uns glauben machen wollen. Es geht dem deutschen Reisenden in Frankreich nicht besser, als dem französischen Reisenden in Deutschland. Die fremde Nationalität, auf die er stößt, frappirt ihn, er sieht nur das Ganze; die einzelnen Nuancen zu begreifen, dazu gehört eine tiefere Vertrautheit mit der Nation. Unter fünfhundert Reisenden, die Paris besuchen, macht höchstens Einer einen Ausflug nach Lyon, nach Clermont, nach Mar¬ seille und dieser Eine, wenn er nicht in Geschäften reist, eilt durch das schöne Land, um nur die Städte zu sehen. Da trifft er denn freilich nur Pariser Moden, Pariser Journale und Pariser Affen. Der Volksgeist aber mit seinen localen Sitten, Traditionen und Aus- drucköverschiedenheitcn ist glücklicher Weise zäher, als daß der nivel- lirende Geist der Staatsprincipien und der vorüberrauschende Strom der Modeidcm ihn vernichten könnten, und es ist mir schwer zu glau¬ ben, daß in dieser Beziehung Frankreich centralisirter sein soll, als England und Deutschland. Der oberflächliche Tourist findet in Prag wie in Pesth Wiener Speisen, Wiener Theaterstücke und Wiener Tanzmusik, und doch sind beide Städte weit entfernt, die Affen der Residenz zu sein. Besonders Prag, wo noch die Erinnerungen an die Zeiten leben, da es selbst der Sitz der östreichischen und deutschen Kaiser gewesen ist. Prag, das in seinem historischen Stolz auf Wien wie ein alter Edelmann auf einen Parvenü herabsieht. Das gemeine Volk in Böhmen trägt sich noch im¬ mer mit der Sage, der Kaiser werde seinen Hof wieder nach Prag verlegen, und^ selbst in den Vürgerklassen hört man die Aeußerung, die alte ungestalte Hofburg in Wien werde nächstens umbaut werden und der Kaiser werde nächstens sein prächtiges Schloß in Prag beziehen und zwei, drei Jahre hier verweilen. In der That ist das Eintreten eines solchen Ereignisses nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. Ja, es kann sogar der Fall eintreten, daß die politsche Klugheit dazu räth. Nicht um die alte Hofburg in Wien umbauen zu lassen, sondern um dem Geist der böhmischen Anhäng¬ lichkeit neue Stützmauern und einen frischen Anbau zu geben. Die Verlegenheiten, in welche die östreichische Negierung durch den so lebhaft erwachenden CzechiömuS in Böhmen geräth, würden dadurch gehoben werden. Offenbar ist man in Wien noch unentschieden über die Art und Weise, wie man dem böhmischen Slavismus begegnen soll. Einerseits liegt es nicht in der Tendenz des Wiener Hofes, die sprachlichen und nationalen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen östreichischen Staatsvölker, so lange sie dem Geiste der Centralregie- rung nicht hemmend in den Weg treten, zu stören; vielmehr braucht sie dieselben oft als eine Stütze ihrer Macht; dieselbe slavische Sprache, welche ihm in Böhmen Besorgnisse einflößt, wird in Un¬ garn gegen die Uebergriffe der Magyaren von ihm beschützt. An¬ drerseits fehlt es nicht an warnenden Stimmen, welche in der Na¬ tionalbewegung der böhmischen Slaven eine gefährliche Umwälzung, deren Zweige bis nach Rußland hin sich erstrecken, erblicken wollen. Diese Gefahren würde eine zeitweilige Verlegung des kaiserlichen Hofes nach Prag allerdings aufheben. Wir Wiener würden hier¬ zu allerdings gar sauere Gesichter machen. Wohl lebt in Böh¬ men ein bei Weitem lebendigeres historisches Bewußtsein als in Oest¬ reich, dem Erzherzogtum. Und dieses historische Bewußtsein ist es, was der jungen böhmischen Literatur ihre ganze Anregung gibt. Die Zeiten, wo Böhmen glänzend und groß, wo Prag ein prächti¬ ger Kaisersitz war, sind die Lieblingserinnerungen der böhmischen Jugend. Alle diese Erinnerungen aber stehen zu Rußland in keiner Verbindung. Die Regierungsmarimen Rußlands sind wahrlich nicht so anziehend, um ihm die Sympathien solcher Völker zu erwerben deren Geschichte die glorreichsten Kämpfe für ihre Freiheit aufzuwei¬ sen hat. Man erhebe Prag wieder zum Kaisersitze, man umgebe Böhmen mit dem Glänze, den es vor den Zeiten Mathias' hatte, und der neuerwachte Sinn für seine Nationalität wird nur eine neue Stütze für den östreichischen Thron sein. Ich muß Sie in die¬ ser Beziehung auf die Schrift des Grafen Leo von Thun verweisen. „Man behauptet" — heißt es in dessen so eben erschienener Schrift, „über den gegenwärtigen Zustand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung" s> — „ das Ziel der slavischen Sympathien: eine die bestehenden Verhältnisse Europas zerstörende, slavische Univer¬ salmonarchie soll die nothwendige Folge der gemeinschaftlichen Be¬ strebungen der slavischen Volker sein. Diese Behauptung wird von *) Prag. Kronücvger und Riwnac. 1842. Vielen in allem Ernste aufgestellt; den Beweis sind sie unseres Wis¬ sens alle schuldig geblieben. — Uns scheint eben diese gefürchtet« Universalmonarchie nichts mehr als ein Gespenst. Wohl muß dem Gefühle nationaler Verwandtschaft und dem Bande einer gemeinsa¬ men Literatur politische Wichtigkeit zugeschrieben werden. Allein sie stellen doch gewiß nicht das einzige Moment dar, welches auf die Abgrenzung der Staaten einwirkt. Den materiellen Interessen, dann jenen Umständen, welche unabhängig von der subjektiven Be¬ schaffenheit einer Bevölkerung ihre geistigen sowohl als materiellen Interessen auf das Mannigfachste modificiren: der geographischen Lage, den Verhältnissen der Stellung zu Nachbarvölkern, endlich der Macht des geschichtlich Bestehenden müssen wir einen gleichen Ein¬ fluß zugestehen. Deutschland, ein zusammenhängendes, abgerundetes Gebiet, wird von einem Volke bewohnt, das alle Perioden der Entwicklung gemeinschaftlich bestanden, unter dem stets nur eine Sprache geherrscht hat, und doch sehen wir, daß es nicht einen Staat bildet, sondern sogar aus einem Staat in viele zerfallen ist. Besteht unter diesen einige politische Gemeinschaft oder ist man der Meinung, daß sich solche noch in Zukunft herstellen wird?(!) Nicht eher und nicht mehr werden die deutschen Staaten je ihre Selb¬ ständigkeit aufgeben, als es die Interessen ihrer Völker verlangen, und immer werden von der politischen Einheit Deutschlands jene Völker sich ganz lossagen, deren Interessen durch den Anschluß an einen andern Staat mehr gefördert werden. Nach denselben Gesetzen wird auch die politische Zukunft der Slaven sich gestalten. Ein Blick auf die Karte von Europa und in seine Geschichte lehrt uns aber, daß alle die Umstände, deren Gesammtwirkung nur eben hin¬ gereicht hat, um Deutschland einigermaßen zusammenzuhalten, hin¬ sichtlich der slavischen Völker nicht vorhanden sind. So weit wir dem Verlaufe der Zeiten nachzuforschen im Stande sind, finden wir keinen Vereinigungovunkt für alle slavischen Völker, nicht ein den östlichen Slavenstämmen mit den westlichen gemeinschaftliches Ereig- niß. Vielmehr sehen wir, daß jeder Stamm seine sociale Entwick¬ lung auf einem eigenen Wege, von den übrigen abgesondert, erlangt hat. Dem Raume nach sind nicht nur die Böhmen und Jllyrier weit auseinander gerückt, sondern sowohl die einen als die andern von den östlichen Stämmen durch eine große Entfernung getrennt, wenn auch Stammverwandte den Zwischenraum zum Theil bevöl¬ kern. Hierdurch sind die Slaven über Länder verbreitet, die durch ihre ungeheure Ausdehnung die verschiedensten, zum Theil wider¬ sprechendsten materiellen Interessen erzeugen. Zwischen sie hinein ha¬ ben sich andere Völker gelagert, und selbst die Gebiete, welche sie bewohnen, haben sie nicht im ausschließlichen Besitze. Der hier¬ aus hervorgehende, in das Geschäfts-, wie in das Familien¬ leben vielfach verwobene, innige Verkehr der Westslavcn mit den Angehörigen anderer Nationen, die seit Jahrhunderten ihre Le¬ bensgefährten sind, ist ein mächtiges Mittel, sie vor nationaler Eng¬ herzigkeit zu bewahren; so wie der Umstand, daß ein Staat, der alle Slaven umfassen sollte, zugleich die Magyaren und ausgedehnte deutsche Ansiedlungen verschlingen müßte, und daher nur auf den Trümmern des europäischen Staatensystems errichtet werden könnte, den Wunsch nach einer politischen Vereinigung aller Stämme seiner Nation, auch in der Brust jedes redlichen und einigermaßen gebil¬ deten Slaven niemals entstehen lassen kann." Graf Thun bringt noch einige andere Gründe vor, welche die gefürchteten Gefahren des Panslavismus als ein Hirngespinst dar¬ stellen, als: die Verschiedenheit in den Sprachen der Russen und Serbier, der Polen und Böhmen :c. Aber den Hauptgrund gegen die Möglichkeit einer slavischen Universalmonarchie, das sicherste Mit¬ tel, alles Mißtrauen gegen die Möglichkeit solcher Gedanken und Hoffnungen zu zerstreuen, hätte er in den vielfachen Entgegnungen und in der entschiedensten Zurückweisung suchen können, welche die Schrift über „die europäische Pentarchie" in Deutschland erfahren hat. Frankreich ist für Deutschland ein gefährlicher Feind, denn die Civilisation steht ihm zur Seite. Nicht seine Waffen allein sind es, was die Regierungen fürchten, sondern seine Theorien, seine verfüh¬ rerische Cultur. Nußland aber könnte sich auf Deutschland nur stür¬ zen, wie die Wandalen auf Rom, keine Intelligenz, keine humanen Sympathien, kein geschichtlicher Glanz macht ihm Bahn. Es war eine ungeschickte Vergleichung, wenn unlängst ein Schriftsteller die Stellung Böhmens zu Oestreich mit der Stellung der Rheinprovinzen zu Preußen verglich. Böhmen ist mit Oestreich durch Jahrhunderte zusammengewachsen. Es hat nie einen Theil von Nußland gebildet, wie jene einen Theil von Frankreich, es hat nie dessen Gesetzgebung zu der seinigen gemacht oder auch nur ein Gelüste verspürt, sie da¬ zu machen zu wollen; seine Geschichte, seine Institutionen, sein Na¬ tionalleben, überragen die russischen, wie die Altgriechenlands die des neuen Griechenlands überragen. Sein materielles Leben, seine Industrie, sein Handel hat keine Berührung mit den fernen Sprach-- verwandten, und mit Recht kann man den Ausspruch des Grasen Thun wiederholen: „die Nussensurcht ist ein Gespenst, nur eine über¬ reizte Einbildungskraft und leichtgläubige Kindernaturen können da¬ vor zurückschrecken." Es ist ein schlechter Dienst, welchen die Zuflüsterer der östrei¬ chischen Regierung erweisen, indem sie ihr Mißtrauen gegen die slavische Literaturbewegung in Böhmen stacheln; es kann nur dazu beitragen, Oestreich in eine Reihe von Verlegenheiten zu stürzen. Ich bin kein Slave, kenne den Werth der böhmischen Literatur nicht und habe keine innere Veranlassung, ihr das Wort zu reden; aber wo der Nationalgeist erwacht ist, da hat er ein Recht zu seiner Existenz. Eine weise Negierung muß ihn zu leiten wissen, ihn un¬ terdrücken ist ungerecht und unklug. Man lasse dem Strom seinen vollen breiten Lauf und er wird ruhig in seinem Bette bleiben. Legt man ihm Hindernisse in den Weg, sucht man ihn einzudämmen, so wird er sich entweder überstürzen oder sich aus Nebenwegen Bahn machen und dort hervorbrechen, wo sein Erscheinen am gefährlichsten ist. Es ist in letzter Zeit vielfach von einer Versetzung des Oberst¬ burggrafen von Cholet die Rede gewesen, und aus den widerspre¬ chenden Nachrichten einiger halbofficiellen Journale konnte auch der Uneingeweihte ersehen, daß man in Wien hinsichtlich dieses Staats¬ mannes schwankende Ansichten habe. Einige Mißverständnisse, die zwischen demselben und dem hiesigen Adel eingetreten sind, haben hieran weniger Schuld als der Vorwurf, daß er die neue Czechi- sche Bewegung eine so entschiede:» Entwicklung gewinnen ließ. Dieser Vorwurf findet aber, so viel ich in Wien mich darüb.er un- terrrichten ließ, dort viele Gegner, und gerade derjenige Staatsmann, auf dessen Urtheil das meiste Gewicht gelegt wird, soll der Ansicht des böhmischen Landesgouverneurs durchaus nicht entgegen sein. Ich habe bereits in den wenigen Tagen, die ich hier lebe, häufig Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Politik, welche der Graf von Cholet gegenüber der böhmischen Litcraturbewegung beobachtet, sowohl vom Standpunkte des Provinzialinteresses, als auch im In¬ teresse der Centralregierung eine durchaus weise und beifallswürdige sei. Die Czechvphilen (denn ich sehe nicht ein, warum man ihnen den Spitznamen Czechomanen geben sollte) sind nicht eine kleine Hand voll Menschen, die man durch eine strenge Maßregel hemmt und abschneidet. Zwei Drittheile des Landes sprechen nichts als böhmisch. Die Culturbedürfnisse dieser Volksmasse können nur durch böhmische Bücher und böhmischen Unterricht befriedigt werden. In dem Grade, als" die Bildung und der Volksunterricht fortschreitet, in demselben Grade muß auch die böhmische Literatur eine größere Ausdehnung und zahlreichere Anhänger im Lande gewinnen. Wollte man dieses hemmen, so müßte man entweder die Gesetze über den Volksunterricht aufheben oder dem langbewährten Staatöprincipe treulos werden, vermöge welchem dem Volke immer die Freiheit sei¬ ner Sprache unbenommen blieb. Da Oestreich keinen dieser beiden Grundsätze aufzugeben Lust haben kann, so würde ein kleiner Krieg gegen einzelne Literaten und Wortführer theils der Staatsregierung unwürdig sein, andrerseits aber nur dazu dienen, eine ewige Reiz¬ barkeit in den Gemüthern zu nähren und kleinen Umständen eine Wichtigkeit zu geben, die sie nicht verdienen. Hier gilt es einen entschiedenen und freien Entschluß zu fassen, die einmal angeregte Bewegung in ihrem Gange auch nicht im Mindesten zu stören; ja durch einzelne Beförderungen, durch Beweise von Zutrauen die Unbe¬ fangenheit deö Staates zu manifestiren. Der Haß gegen die Deut¬ schen, den man den Böhmen zur Last legt, wird dadurch von selbst entwaffnet. Oestreich kann die Böhmen moralisch zu der Anerken¬ nung zwingen, daß die Deutschen toleranter sind als sie. Zu den Zeiten der selbständigsten Macht Böhmens, in der Epoche Carls III. und Rudolf des 1l. klagten die Böhmen über das kleinste Amt das er einem Deutschen zuwies. Wenn nun jetzt die deutschen Staaten des Kaiserthums Repressalien gebrauchen wollten? Die be¬ deutendsten und höchsten Stellen des östreichischen Staates und seiner Residenz sind mit Böhmen besetzt. Die böhmische Nation kann hierin den Beweis sehen, daß sie von der Staatsregierung nicht hintangesetzt wird. Ihrerseits hin auch die Regierung bisher nicht Ursache gehabt, die Treue dieser Beamten und Staatsmänner zu bezweifeln. Warum sollte sie plötzlich ihre Unbefangenheit selbst zerstören und ein Gespenst zwischen sich und eine langbewähr¬ te Nation treten lassen? Hier, wo Freiheit in ihrem Principe liegt, wo sie gerecht aus Klugheit und klug aus Gerechtigkeit sein kannt Literaturblätter. l. Die bcUcttristischcn Journale Mit die politischen. Die letzte Leipziger Ostermesse hat ein merkwürdiges Resultat gegeben. Die Aussage aller Buchhändler lautet einstimmig dahin, daß die Theilnahme des deutschen Publikums an bellettristischen Er- zengnissen auf eine entschiedene Weise abgenommen hat, das In teresse aber an ernsten, besonders an politischen Schriften im gleiche» Grade sich steigert. Wenn es noch eines Beweises bedarf, daß Deutschland mit jedem Tage an Kraft und Nationalbewußtsein ge¬ winnt, so ist er hier zu finden. Unter den drei großen Nationen, welche jetzt an der Spitze der europäischen Bildung stehen, hat die gemeine Belletristik nirgends einen so breiten Boden für ihre Wu^ cherpflanzen gefunden, als bei den Deutschen. Ist es nicht merkwür- dig, daß in Deutschland, wo der Volksunterricht und die Durch schnittsbildung weit blühender sind, als bei jeder anderen Nation, eine so heillose Masse der rohesten Erzeugnisse in die Reihe der schöne» Literatur sich drängen darf? Daß die Poesie- und geschmacklosesten Producte von dem Straußmagen des Publikums gierig verschlungen werden? Daß eS noch zahlreiche Buchhandlungen giebt, die einen ellenlangen Verlagskatalog von Ritter-, Räuber- und Gespensterge¬ schichten besitzen? Auch in Frankreich und England fehlt es nicht 'an bellettristischcm Abschaum; aber in allen solchen Büchern findet man Spuren, die mit dem Nationalleben zusammenhängen. Die unsinnig- ^ v ste» Seeromane der Engländer, die fratzenhaftesten Revolutions- und NapoleonSgcschichten der Franzosen baben für ihren Mangel an ästhetischem Gehalt immer noch irgend ein volksthümliches Element, wodurch Mann aus dem Volke die Bedeutung der biblische» Gemälde auf den ersten Blick erkennt; so groß ist in den deutscheu Gemälden der „Mißbrauch des Gedanklichen" (irbuk «Zo l-i, >>«!»8<-<>), Der Kritiker beruft sich auf eine Ausnahme, um eine eingebil¬ dete Regel festzustellen; er weist auf einige nebelhafte Stücke von Overbeck hin von deren Bewunderung Deutschland längst zuiückge kommen ist. Wenn es Gemälde gibt, zu deren Verständniß selbst für den leidlich Gebildeten eine weitläufige Erklärung Noth thut, so sind co die Fresken in der nun«^ doll-r 8KA'im,tui-ir im Vatikan. Und dock,, hätte Raphael aus Furcht vor dem Mißbrauch des Gedauklichen seine „Schule von Athen" oder sein Freskobild der Theologie »ich! malen sollen, weil es die Unwissenden noch jetzt nach dein gelehr ten Vasari w schreibt Owerbek, Numorh, Karhens, Hemser, Woß. Zum Akadcmiedirektor in München hat er eigenmächtig Herrn Schlotthauez ernannt, worüber dieser Herr, .wenn er überhaupt enstirt, sehr verwundert sein dürfte. Hätte Herr Mercey nur zwei oder drei Kapitel in dem von ihm angeführten Werke des Grafen RaczynSki gelesen, so müßte er se¬ he», wie Alles, was er über die moderne deutsche Malerei vorbringt, nur in seiner Einbildung wirklich ist, und daß man in München eben so wenig an eine Wiederbelebung der byzantinischen Malerei denkt, als man ägyptische Pyramiden bauen oder Mumien ma¬ chen will. Rumohr bekämpfte zuerst die Manier, die jungen Maler nach der Antike zeichnen zu lassen und so jede Idee von Styl im Keime zu verfälschen; denn die Skulptur ist wesentlich von der Malerer verschieden und diesen Unterschied bezeichnet vorzüglich der Styl, der zugleich aus dem Stoff und dem Gedanken hervorgeht. Deutschland gebührt der Ruhm, die monumentale Malerei wie¬ der zu Ehren gebracht zu haben. Die christliche Kunst in ihrer ursprünglichen Reinheit wurde nur und zuerst in Deutschland und Italien studirt. Die Kritik kam dazu und die Geschichte der Kunst, eine ganz neue Wissenschaft, machte seitdem ungeheuere Fortschritte. T a g e b u ni). i. Aus Frankfurt. Die Stadt. Fleischmctzger und KülbSmetzger, ein Lustspiel, Der Ccrrcspondent Ebner. , Der Bundestag und die Journale. Litcrciten. Sie haben eine allzuvortheilhafte Meinung von unserer Stadt, mein Freund, wenn Sie glauben, baß sie „ein ewiger Anregungspunkt für Correspondenzen," wie Sie sich ausdrücken, sei. Frankfurt gleicht jenen von der Natur be¬ günstigten und vom Schicksal verfolgten Menschen, die, bei den besten Anlagen, bei dem besten Willen, es in ihrem Leben zu nichts bringen können. In der Mitte Deutschlands gelegen, historisch wie geographisch zu einem Mittelpunkt des Vaterlandes gestempelt, ist sie dennoch nichts als.ein Übergangspunkt, eine Brücke, eine Furt; Alles zieht an ihr vorüber, ohne sich heimatlich dort niederzulassen. Eine sreie Reichsstadt — ist sie doch weit gebundener und unfreier, als irgend eine andere, welche diesen stolzen Titel nicht führt. Nicht durch äußere Verhältnisse, weil sie sich als Sitz des Bundestages oder gewisser¬ maßen als österreichische Garnisonsstadt beengt fühlt, sondern durch innere Mißbestände, weil sie in ihrer Freiheit hundert kleine despotische Elemente des Mittelalters eingewebt hat. Die Despotie gegen die Beisassen, gegen die Ju¬ den, die Zunfteinrichtungen und zahlreiche ähnliche Dinge, welche mit dem Begriff der modernen Freiheit unvereinbar sind. Es wäre kein undankbares Geschäft, die Blätter unserer Stadtordnung mit heiterer Laune zu durchstrei¬ fen und die komischen Züge derselben auszubeuten. So z. B. könnte man ein allerliebstes Lustspiel aus den Einrichtungen unserer Metzgerzunft gewinnen. Sie wissen vielleicht nicht, daß diese ehrsame Corporation in Ochsen-Metzger und in Kalbs-Metzger streng abgetheilt ist. Wehe dem Ochsenmctzger, der das Fleisch eines zarten Kalbes seinem Käufer anbietet; wehe dem Kalbsmctzger, dessen Ehrgeiz sich bis zum Ochsen versteigt. Das Schwert des Gesetzes hängt drohend über dem Haupt des Frevlers, der solche Uebergriffe in die Rechte seines Nachbars zu thun wagt. Für einen französischen Baudcvillisten wäre dieß Stoff genug, um einen Abend zu füllen. MontagueÄ Sohn, Romeo der Ochsenmetzger, liebt Capulct's Tochter, die Kalbsmetzgerin, aber Capulet hat dem Sohne seines Feindes geflucht. Balconsccne. Romeo eilt im Mondschein unter das Fenster der Geliebten. Plötzlich tönen Schritte. Romeo schlüpft hinter einen Baum. Das Hausthor der Geliebten öffnet sich. Da erblicken seine Augen den gräßlichsten Frevel- Ein schreckliches Geheimniß wird ihn» kund. Aus dem Hause der Geliebten tragen vier starke Knechte, heimlich unter dem Deckmantel der Nacht, ein Ochsenviertcl heraus. Ein Ochsenviertcl aus dem'Hause des Kalbsmctzgcrs! Romeo stürzt gegen die Lampen vor: Nun ist er in meinen Händen Niemand kann sein Schicksal wenden. Abgang mit obligaten Reimen — Knalleffekt—Aplaus; der Borhang fällt.— Sie müssen mich bei Ihren Lesern entschuldigen, wenn ich sie mit solchen schlechten «Späßen unterhalte. Die Schuld trifft Sie ganz allein, warum ver¬ langten Sie so ernsthaft Briefe aus Frankfurt von mir? Nehmen Sie un¬ sere hiesigen Journale zur, Hand, durchfliegen Sie alle übrigen Journale Deutschlands und sehen Sie, was aus Frankfurt berichtet wird. ES gehört die ganze Geduld unseres guten Ebner dazu, um das noth¬ wendige Budget der kleinen Tagesneuigkeiten herauszufischen, mit welchen er die zehn bis fünfzehn politischen Journale, für welche er correspondirt, versehen muß. Ich habe oft Mitleid mit dem fleißigen Manne, wenn ich ihn von sei¬ ner Gartenwohnung vor dem Bockenheimcr Thore im tiefsten Schnee wie in der glühendsten Sommerhitze fünf bis sechsmal nach der Stadt trotten sehe. Bald nach der Post, bald nach der Börse, nach einer Buchhandlung u. s. w., um seinen täglichen Correspondenzbedarf wie eine Schwalbe aus allen Enden zu¬ sammenzutragen. Mit der Hälfte dieser Mühe und dieses Fleißes würde in einer andern Stadt von gleichem Range wie Frankfurt, ein jeder Correspon- dent bogenlange Materialien finden und doch ist Frankfurt der Sitz des Bun¬ destags. Depesche», Verhandlungen, Persönlichkeiten drängen einander, aber die Presse steht wie die Zuschauer hinter einem Gitter, weit entfernt von dem politischen Drama, dessen Sctauspielcr hinter dem herabgelassenen Borhcnige ihre Scenen abspielen. Ist es doch Grundsatz fast aller politischen Körper in Deutschland, in ihrer Nähe das tiefste Schweigen herrschen zu lassen. Was in Berlin und Wien verhandelt wird, das muß man überall eher suchen als in den Berliner und Wiener Journalen; sogar die Kammerverhandlungen des konstitutionellen und freisinnigen Würtembergs werden nicht in den einheimi¬ schen Journalen zum vollständigen Abdruck erlaubt. Will man etwas, zur öffentlichen Kenntniß bringen, so sendet man es in die Fremde. Die Augs¬ burger Allgemeine spricht, indeß der österreichische Beobachter schweigt; die Leipziger nimmt das Wort, wo die Staatszeitung die Lippen verschließt und die Oberdeutsche meldet, was der schwäbische Merkur verschweigt. Frankfurt aber, wo alle Mächte zusammen sitzen, ist der Ordnung nach das verschwiegenste unter Allen. Darum haben die Frankfurter Journale nicht nur weit weniger politische Originalmittheilungen als andere, welche weder durch die Lokalität noch durch die Abonnentenzahl so bedeutend sind wie sie, sondern sie haben auch mit einer weit zimperlicheren Censur zu kämpfen. Der Censor hat hier nicht wie in jeder andern Stadt nur einen Herrn zu fürchten, sondern er hat eben so viel Herren als Gesandte beim Bundestag accreditirt sind; hieraus nament¬ lich können Sie ersehen, wie wenig frei die freie Stadt Frankfurt ist. Dieser Sciroccohauch der Censur-Verhältnisse ist es auch, was den früher so blühen¬ den Frankfurter Buchhandel so herabgedrückt hat, was die Literatur trotz der manichfachen Kräfte, die hier sich finden, nach den versprechendsten Anfängen immer wieder entwurzelt hat. Glauben Sie nicht, daß es hier an Talenten und tüchtigen Köpfen fehlt, welche zusammen vereint, ein frisches und kräftiges Literaturleben hier hervorrufen könnten. Außer vielen Fachgelehrten und Schriftstellern leben hier noch viele eigentlich literarische Talente wie Theodor Creizenach, Ludwig Braunfels, Lorenz'Diefenbach :c. Dennoch kann mit Aus¬ nahme der mit den politischen Zeitungen erscheinenden bellettristischen Beiblätter und einiger Lokalblätter kein bedeutendes literarisches Journal emporkom¬ men- Wenn es wahr ist, daß Gutzkow seit einem Monate sich wieder hier niedergelassen hat und seinen Telegraph Hieher verlegt, so könnenISie überzeugt sein, daß Frankfurt selbst nicht der Druckort desselben werden wird. Wäre nicht besser, daß ich Ihnen Offenbachcr statt Frankfurter Briefe schriebe - Reise - Journale. ES wäre wünschenswert!), daß jedes Journal eine kleine Spalte wöchentlich als eine Art Reisezeitung brächte. Dahin gehörte Alles, was der Redakteur oder seine Freunde auf verschiedenen Ausflügen an Erfahrungen hinsichtlich der Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten der Beförderungs-Anstalten, Gast¬ höfe, Posten -c. gesammelt haben. In einer Zeit, wo Alles reist, sind solche Berichte viel nützlicher und interessanter, als die Theater- und Conccrtberichtc, welche unsere Journale als ewigen Ballast mit sich führen. Die Beschwerden¬ bücher, welche man auf den einzelnen Poststationen im Dunkel der Passagier¬ stube findet, bleiben oft genug wirkungslos. Unter zwanzig Reisenden scheue» sich neunzehn, ihre Beschwerden niederzuschreiben, und der zwanzigste ist oft gerade der Dümmste von Allen — ein Kleinigkeitskrämer, der über schlechten Caffee und einen schlaftrunkenen Kellner eine lange Epistel nicdcrkleckst. Wenn die Journale die Funktion der Beschwerdenbücher übernahmen, dann würde Manches sich ändern — z. B. die gräßlichen Torturmaschinen, welche unter dem Namen Beiwagen der Schrecken aller Reisenden sind. Giebt es etwas Grausameres, Ungerechteres, als daß ein Mensch für den kleinen Zufall, daß er um eine Viertelstunde später, als sein Bormann, auf dem Postamte sich einschreiben ließ, zu dem schrecklichen Loose verurtheilt ist, in einen engen, baufälligen, schmutzigen Armcnsünderkarrn eingepfercht zu werden, aus welchem er mitten in der Nacht unter Schneegestöber und Wind alle zwei Stunden aufsteigen muß, um in einen andern, oft noch halsbrecherischeren eingesperrt zu werden. Dieses Beiwagen-System ist ein wahrhaft unchristliches, gottesläster¬ liches. Der Gott, der alle Creaturen gleich geschaffen hat, will nicht, daß der Eine in einem bequem gepolsterten, großen Hauplwagen sitze und sich schaukle, während der Andere in dem höllischen Räderwerk einer Beichaise sich, seinem Schicksal und vor Allem dem Postmeister flucht. Dieses Postsystem ist, wie die ganze Thurn und Tausche Postmeistcrschast, ein Ueberbleibsel aus dem Mittelalter, wo der erstgeborne Sohn in Gold und Seide, in Ueberfluß und Herrlichkeit zu schwelgen berechtigt war, während der jüngere, bloß weil er etwas später gekommen, in den engen Mauern eines Klosters sein Leben zu¬ bringen mußte. Gleichheit vor dem Gesetze wollen wir, und haben nicht ein¬ mal Gleichheit vor dem Postamte. Gegen solche Mißbräuche nützen die ein¬ zelnen Klagen in den Beschwerdenbüchern nichts; wenn jedoch die ganze Presse ihr Geschrei dagegen erhübe, so würden wir bald die guteWirrkung erleben.— Ein andere« Beispiel. Von Frankfurt nach Leipzig, 44Z Meilen, kostet der Eilwagen eine Summe von 17 Thalern! Bon Wien nach Prag, 42z Meile, zahlt man (wenn man die Eisenbahn bis Stockerau oder bis Brünn nicht bs- nuhcn will) nur 10 Thaler! > Die preußischen Posten sind um etwas weniges theurer als die östreichischen; würde die preußische Post die ganze Strecke von Frankfurt bis Leipzig be¬ fahren, so würde der Preis auf 12—13 Thaler sich belaufen. So aber fährt von Frankfurt bis Erfurt die Thurn und Tarische Post, und von Erfurt bis Leipzig erst fährt die preußische Post. Für die Güte, welche Kaiser Mathias im Jahre 1615 gegen den neu ernannten Freiherrn Lamorel von Taxis hatte, muß im Jahre 1842 jeder Reisende für die Strecke von 28 Meilen eine Steuer von 4 bis 5 Thalern bezahlen. Umsonst haben Sachsen und Preußen bisher Schritte gethan, um eine verhältnifimäßige Herabsetzung der Thurn und Taxis» sehen Postpreise zu erlangen. Soll die deutsche Presse den gerechten Ansprüchen der deutschen Reisenden kein kräftiges Wort zu schenken wissen? keinen Vor¬ schlag ersinnen können, wodurch diesem Mißbräuche abgeholfen werden könnte t — Große Männer in allen Ecken! — Jetzt erst erfahren wir, welch ein Heer von großen Männern Deutschland besitzt. Der neugcstiftcte Orden i-oui- I« »>«rio hat sie wie die Dachse aus allen Löchern hervorgetrieben. Jeden Tag lesen wir neue Reclamationen aus Flachsenfingen, Kuhschnappel und Krähwinkel. Jede Stadt beschwert sich, dost man ihren großen Mitbürger, den berühmten X. V. X., übergehen konnte — während man doch den Herrn L. L., der bei weitem nicht so viel geschrieben hat, ernannte. In Paris ist eine Carricatur erschienen: gi-an-I ellemin a l». I>v!ni>rien! Victor Hugo reitet auf einem ungeheueren Hippogryph mit einer Fahne in Händen, wsrauf die Devise steht: l<- doa» e'oft Is Isnl! Ueber ihm schweben Chateaubriand und Lamartine, während der ganze Troß der Tages- schriftstellcr hinterdrein trottet. Wenn unsere Ecnsur nur ein bischen Spaß und unsere Zeichner nur ein bischen die Gelegenheit verstünden, so würde der <>i' von dem Dämon der Eitelkeit getrieben, am Tage vor der Verlobung die stille Geburtsstätte zu verlassen und sein Glück in der großen Welt zu suchen. Bei Grillparze'r ist es ein Jüngling: der französische Wallctmeistcr hat ein Mädchen daraus ge¬ macht. Carlotte tanzt Grillparzerschc Verse. Die Handlung jedoch spielt nicht in Persien, sondern in Gent und Venedig, wo freilich die Volksscenen und das Costüme für ein Ballet dankbarer sind. Wie der Grillparzer'sehe Held, sinkt auch hier die Heldin von Stufe zu Stufe: ihr Verführer hat sie ver¬ lassen.... ihre Noth ist aufs Höchste gestiegen... da erwacht sie. Alles war ein Traum: sie ist in ihrem stillen Stübchen im älterlichen Hause. Der Vater holt sie ab zur Trauung- Ihre Phantasie hatte ihr den Streich ge¬ spielt, und der Zuschauer hat all die Tänze ihrer Einbildungskraft mit ange¬ sehen. Die reichen und glücklichen Handlungen dieses Ballets, welches den Titel: „Das schöne Mädchen von Gent" führt, verschaffen derDirecrivn trotz deö herrlichen Wetters volle Häuser. Der allerliebsten Musik, die Adam dazu componirt hat, gehört aber eine große Hälfte des Erfolges- — Die Persönlichkeiten d-r l'adischcu Kammer. — Die neue badische Kammer wird folgendermaßen geschildert. Am Äimstcr- tischc sitzen: der Minister des Innern, Freih. v. Rüdt, ein milder und ver¬ söhnlicher Redner; der Finanzminister, v. Bökh, sein Gegensatz, leidenschaftlich und sich überstürzend; endlich der Liebling Oestreichs «ut Preußens, Herr v. Blittersdorf, ein feiner Kopf und lebhafter Redner, der gefährlichste Gegner, den die Opposition zu bekämpfen hat. Die Talente der ministeriellen Partei sind sparsam ausgesäet; Tresurt ist der bedeutendste unter ihnen. Das Centrum hat zu seine» Führern Bekk, Bader, Martin, Posselt, Mordes, die abwccl> seind bald mit der Linken, bald mit den Ministeriellen stimmen. Die Linke wird von v. Itzstein, Sander und Welcker geleitet. Itzstein ist ein Siebenziger, aber mit jugendlicher Frische begabt: er spricht gelassen, aber mit schneidender Ironie; es ist der einflußreichste Mann der Kammer. Welcker steht häufig isolirt, ein guter, aber maßloser Redner, der oft ermüdend wird. Sander ist ein vortrefflicher Jmprovisator, reich ein Einfällen, den Effect verstehend. Einige jüngere Talente gewann die Kammer an den Abgeordneten Bassermann und Gottschall, welche sich zur Opposition geschlagen haben. — Die Religion in Deutschland.-- Während die Berliner und Königsberger Blätter über den Verein der Freien berichten, die sich von allem Glauben lossagen, meldet die A. A. A-, daß der Jubiläums-Ablaß, den der Pabst angeordnet, die Kirchen mit An« dächtigen füllt, so daß in einer einzigen Stunde, und in ein und derselben Kirche über MO Personen zur Beichte gehen. Auf der andern Seite treten in Berlin 500 Protestanten zusammen, die das heilige Grab erobern wollen, während mehrere I'udenfamilien aus den Rheinprovinzen in Paris und Brüssel Erkundigungen einziehen und Unterhandlungen einleiten, um im Falle, daß das preußische Edict, das sie vom Militärdienste lossprechen soll, wirklich publi- cirt würde, in jene Städte übersiedeln zu können, — Pariser Theater. — Im Theater Se. Martin macht eine Schauspielerin, welche die Tochter eines Deutschen ist und das Deutsche auch sehr gut spricht, Furore., Ihr Name ist Demoiselle Klotz. Dieser Klotz scheint sehr bildsam gewesen zu sein.--Rubini wird wieder austreten: er hat jedoch die Decorirung init dem Kreuze der Ehrenlegion zur «on,Ali», sin« qua non gemacht. Ein neues Lustspiel in 5 Acten: „Paris in der Nacht" wird ein fetter Bissen für deutsche Uebersetzer sein. Die Anlage hat Ähnlichkeit mit dem bekannten: ,,Nach Sonnenuntergang." Die Rachel spielt in London vor leeren Häusern: ihre Feinde frohlocken. Sie wird jedoch erst im September wieder zurück¬ kehren, da sie in Brüssel gastiren soll. Ein Vaudeville ist eingereicht worden, das Talma zum Helden hat; ein andres führt den Titel-'Spinoza. — Spinoza im Vaudeville! Da haben die Deutschen doch wenigstens einen Ro¬ man aus ihm gemacht. Ob wohl der französische Theaterdichter B. Auer. bach's Buch gelesen hat? Druck von Friedrich Andrä in Leipzig. Wanderungen durch eine Bildergallerie von N.- I.- ^Rine Bildergallerie, eine Welt! Und welch' eine Welt. Hier spinnt sich das Leben nicht am dünnen Faden langsam ab. Hier rinnt der Quell nicht in einzelnen Tropfen zögernd in das Becken. Tausend Momente stürzen mit einem Male in die Seckel tausend verschiedene Zeiten, Leidenschaften und Naturen drängen auf einmal auf uns ein. Süd und Nord, West und Ost breiten ihre Gebiete wechselweise zum Genusse aus, der Alpen eisige Höhe und des Gan¬ ges stille Thäler, des Urwalds grüne Ruhe und der weiße Schaum des stürmenden Meeres; der Griechen fröhlicher Olymp und der Christen schauerliche Hölle, Madonna mit ihren himmlischen Blicken und Venus mit dem irdischen Leibe, tanzende Sirenen und betende Mönche, Napoleonische Schlachten und niederländische Hochzeiten, Jesus auf der Flucht nach Egypten und deS Papstes Zug nach der Peterskirche, Christus in Mitte der Jünger und Huß in Mitte der Flammen, Heinrich der Achte auf dem Throne, Ludwig der Sechs-- zehnte auf dem Schaffet, Jeremias auf den Trümmern des Tempels sitzend und der Einzug des Doctor Alexander in Jerusalem, Gott¬ fried von Bouillon und der Sultan von Egypten, Lord -Palmerston und Mehemed Ali, Agnes Sorel und Agnes Bernaucrm, Kam und Abel, Abelard und Heloise, Liebe und Haß, Lust und Trauer. — 7 Wohin willst Du Dich versetzen, Du, der diese Gallerien durchschreitet? Laß Deine Blicke schweifen, Deine Seele schwebt auf einem Zauber¬ mantel; vor Dir goldene Morgenröthe, grüne Saaten, blühende Menschengesichter, der Mensch in seiner Größe und Herrlichkeit, ein Ebenbild Gottes — wende Dich rasch um, hinter Dir ist Nacht, Zerstörung, Skelettentanz, der Mensch, ein entartetes Thier, zur Hölle reif und ihr auch verfallen. Wenn man diesen Zauber bedenkt, so begreift man leicht, wie eS Menschen geben kann, die ein halbes Leben in Mitte dieser todten leinwandenen Welt zubringen können, denen der Besuch einer Gallerie der höchste aller Genüsse und eine Gemäldeausstellung ein wichtiges Ereigniß ist. Denn man vergesse nicht, daß hinter dieser sichtbaren und gemalten Welt, deren Scenen vor dem Blicke sich ausbreiten, noch eine zweite unsichtbare in der Phantasie des Be¬ schauers sich erhebt. Es ist dies die Welt des Künstlers, der diese Werke geschaffen, das Leben dieses Raphael, Rubens, Coreggio, Murillo und wie sie alle heißen, jene wunderbaren Meister, deren eigene Geschichte die Einbildungskraft nicht minder reizt und spornt als die Werke, die sie hinterlassen; wie ihr Geist sich entwickelt, wie ihre Umgebung und ihre Zeit auf sie eingewirkt. Dies zu beobach¬ ten, ist eine süße Lust und eine nicht minder fruchtreiche Beschäfti¬ gung als die Beobachtung der physischen Natur mit ihren sichtbaren Erscheinungen. Ich meinerseits gestehe es unverholen, daß es meine liebste Be¬ schäftigung ist, die Säle einer reichen Gallerie zu durchwandern und die Meister in ihren Bildern zu belauschen und aus diesem oder jenem Zuge auf das Gesetz zu schließen, welches ihre Seele leitete, so wie der Schmetterlings- und Käfersammler an den verschiedenen Farben der Flügel die Gattung erkennt, zu welcher seine Lieblingsge¬ schöpfe gehören. Nicht ohne Absicht wähle ich diesen Vergleich. ES giebt Menschen, die das Kleine lieben und zu diesem sich mehr hinge¬ zogen fühlen, als zudem Gewaltigen, für das ihre Seele zu schüchtern ist. Der Käfersammler unterscheidet sich von dem Astronomen darin, daß er nicht wie jener die großen Himmelskörper zum Gegenstande seiner Beobachtung macht, sondern dem kleinsten, unscheinbarsten Theil der Schöpfung seine Neigung zuwendet. Sein Geist ist mehr mikroskopischer, als teleskopischer Natur. Ebenso giebt es in der Kunst Naturen, welche für jene mikroskopischen Schöpfungen eines Mieris, eines Teniers ze. mehr Verständniß haben, als für den ge¬ waltigen Geist eines Michael Angelo, eines Rubens ze. Ich weiß nicht, welch' eine Sympathie mich immer zu jenen kleinen Bil¬ dern führt, welche gewöhnlich in der Tiefe der Wand, wenige Fuß hoch von dem Boden hängen, zu den humoristischen Schöpfungen der niederländischen Meister. Aber ich kann, so oft ich eine Gallerte besuche, von diesen Vit' dem mich nicht trennen und, wenn ich auch stundenlang vor den Gemälden der großen historischen Maler gestanden und zu einem hö¬ hern Genusse mich erhoben habe, so kehre ich doch immer wieder zu meinen kleinen humoristischen Freunden zurück, wo ich den Künstler, fröhlichen Muthes, unter Bauern und Soldaten, unter alten Wei¬ bern und vollen Landdirnen finde. Willst Du, freundlicher Leser, Dich nicht scheuen, in diese lustigen Bauernhütten und etwas leichtsinnigen Wirthshäuser mir zu folgen, so will ich gern Dein Führer sein und Dich mit manchem Meister bekannt machen, dessen Name mehr unter den Kennern, als unter dem großen Publikum gefeiert wird. Die Lebensgeschichte jener viel¬ gepriesenen Maler, die zu ihren historisch-religiösen Schildereien eine 4 bis 8 Fuß hohe Leinwand brauchten, ist aller Welt bekannt; aber das Leben und Treiben jener stillen Beobachter, die mit durchrin¬ gendem Blick dem wirklichen gemeinen Leben ihre Schilderungen entnahmen und in einen Nahmen faßten, der bisweilen kaum eine Hand breit ist, ist viel unbekannter und unerforschter geblieben, als es sein sollte. Denn der schöpferische Geist ist göttlicher Natur, gleich¬ viel, ob er einen Floh oder einen Elephanten in die Welt gerufen. — Ich will die Reihe dieser Wanderungen mit einem Namen begin¬ nen, der an Deinem Ohre, freundlicher Leser, gewiß nur sehr flüch¬ tig vorübergeklungen ist, so wie seine Bilder im Gedränge der Gallerte Deinen Blicken vielleicht entschlüpft sind, während sie der Kenner gewiß für einen der größten Schätze erklärt. Es ist dies ein Mann, dem unter allen Käuzen, womit die Malerwelt so reich ge¬ segnet ist, ein Platz im Vordergrunde gebührt: Adrian de Brauer. Man hat bisher in der Würdigung sowohl des Charakters als des Talents Adrian Brauer's eine viel zu große Strenge ange¬ wandt. Alle seine Biographen haben schonungslos die scharfe Lauge 7 » chres bittern Tadels über das ergossen, was sie seine Ausschweifun¬ gen und seine Liederlichkeit nennen. Keiner von ihnen hat die Einflüsse, unter denen das Talent des Malers sich ausbildete und heranwuchs, er¬ kannt und ihm zu Gute halten mögen. Man hat den armen Wai¬ senknaben, der hungrig und nackt einem gierigen Ausbeuter in die Hände fiel, und dem es eigentlich an aller Erziehung gemangelt hat, beurtheilt, als stände er auf gleicher Stufe mit Rubens oder van Dyk, die, wie sie Fürsten durch ihr Talent, so auch Edelleute duch die Eleganz ihrer Sitten und den Aufschwung ihrer Geistesbildung waren. Wenn schon i,in Gebiete der Literatur der Styl den Schriftstel- ler verräth und die Individualität nothwendig in der literarischen Form sich abfärbt, um wie viel mehr muß dies im Gebiete der pla¬ stischen Künste stattfinden, welche der Persönlichkeit des Künstlers Tausende von Mitteln zur Kundgebung darbieten, die dem geschrie¬ benen Wort stets abgehen. Brauer'S Leben war unglücklicher Weise wie unauflöslich festgeknüpft an ausschweifende Orgien. Die Ein¬ flüsse, die in seiner Jugend ihn trafen, das harte Elend, das an seiner Wiege schon ihn mit gewaltigen. Griffen packte; eine glühende Sinnlichkeit, die, je länger ihr durch Arbeit und durch Entbehrun¬ gen aller Art Befriedigung versagt gewesen, mit um so größerer Gewalt alle Dämme durchbrach und sich unersättlich in den mate¬ riellen Genüssen berauschte, die sie bisher vergebens erstrebt; eine lebhafte Sympathie für die Volkssitten und endlich die Gewohnheit des Kneipenlebens; alle diese Ursachen erklären wenigstens, wenn sie dieselbe auch nicht entschuldigen, Brauer's tiefgesunkene Lebensweise, von dem die kräftige Hand einer wachsamen Freundschaft vielleicht das Schmachurtheil ferngehalten hätte, welches die Geschichte über seinem Grabe ausgesprochen. Kein Maler der Volkshelden ist wahrer gewesen, als Brauer. David Teniers nimmt vom Volke nur seine Freuden, seine Feste, seine Kermessen an und, was die Farben der Wirklichkeit bei diesen Gegenständen allzu Rohes oder zu Auffallendes haben können, da¬ mit versöhnt er durch den Geist und den gutmüthigen Spott, der Wer seine. Gemälde ausgegossen ist. Ueber alle seine Arbeiten webt sich ein Schleier ländlicher, fast idyllischer Poesie, der die rauhesten Züge unserem Auge verhüllt. Man meint die römischen Hirten aus Virgil's Georgiken zu sehen, zwar genau nach der Natur ge¬ zeichnet, aber doch noch jenen Anhauch deö Ideals an sich tragend, den ihnen des Dichters künstlerischer Griffel verliehen, Teniers' Bauern erscheinen uns immer nur von irgend einer Seite ihres moralischen Seins. In ihren Spielen, in ihren ländlichen Vereini¬ gungen, belebt von den Tönen der Schalmei, zeigt er sie uns: er hebt zwar eine Ecke von dem Schleier auf/ der ihre ungeschlachten Sitten verbirgt, aber nur, um uns davon die komische, groteske Seite zu zeigen. Wenn aber aus dem Feste eine Orgie geworden, wenn die Dämonen, die auf dem Grunde deö Bierkruges Hausen, alle die thierisch-wilden Instinkte deö Menschen entfesselt, all seine blutdürsti- gen Regungen geweckt haben, wenn die Messer aus der Scheide her¬ vorgeholt werden, wenn die Krüge an den Köpfen zerschellen, wenn die Schemel sich einen blutigen Weg in die dichtesten Haufen bah¬ nen, wenn die Frauen angstvoll nach den Thüren zustürzen: — da tritt Teniers erschreckt zurück vor diesen wilden Gelagen, die Adrian Brauer allein zu begreisen und darzustellen vermag. , Eine belgische und eine holländische Stadt, Audenaerde und Harlem, streiten mit einander um die Ehre, die Geburtsstätte dessen gewesen zu sein, der ohne Rubens' Bemühungen nicht einmal! eine Grabstätte gefunden hätte. Brauer theilt hierin das gemein¬ same Loos all jener stürmischen und poetischen Geschöpfe, welche die Nationen für die Zierden ihrer Geschichte halten, und denen sie später Bildsäulen errichten, damit ihnen das Verbrechen verziehen werbe, daß sie ihnen, da sie lebten, ein Stück Brod verweigert haben. Alle seine Biographen sind über den Punkt einstimmig, daß Adrian Brauer's Kindheit in Elend und Verlassenheit dahin geflos. sen sei. Im Jahre 1008 von armen Handwerkern geboren, erhielt er nicht jene befruchtende Erziehung, wodurch die Bahn eines Ge¬ nies vorbereitet wird, und konnte also auch nicht jene moralische Würde besitzen, welche ihre Frucht ist. Ein wahrer Zigeuner in der Kunst, verbrachte er eine sorglose, fröhliche und ungebundene Jugend. Wie bei allen vollständigen Na¬ turen, so verrieth sich auch bei ihm seine Künstlerbestimmung in sei¬ nen Spielen, seinen Streitigkeiten, seinen Träumereien. Die Blu¬ men und Vögel waren seine ersten Modelle, und ohne irgend einen Führer, ohne einen andern Rathgeber, ohne eine andere Inspiration als jenen verborgene», geheimnißvollen, inneren Trieb, der nichts anderes ist als das Genie, konnte Brauer sehr bald seinen Spielen eine ernsthaftere Bedeutung verleihen. Er verließ die weißen Wände, die bisher seine Skizzenbücher gewesen, auf denen er mit Kohle alle Launen seiner Phantasie verzeichnete, und begann Blu¬ men, Laubwerk und Vögel auf Leinwand zu zeichnen, welche seine Mutter alsdann stickte. Diese kleine Industrie, deren Erzeugnisse an den Bäuerinnen der Umgegend sichere Abnehmerinnen fanden, trug dazu bei, daß Brauer's Mutter wenigstens eine Erleichterung des Elends fand, das bisher stets mit erdrückender Schwere rauh auf ihr gelastet hatte. Brauer setzte eine Zeit lang diese angenehme und leichte Arbeit fort, in der sich seine eigenthümliche Geistesrichtung, deren wilde Lebhaftigkeit durch keinen akademischen Unterricht gemäßigt worden, täglich offener kundgab. Seine überströmende Einbildungskraft of¬ fenbarte sich schon in kleinen Gruppen voll jenes offenherzigen, gut¬ müthigen und heitern flamändischen Spottes. Seine glühende und kräftige Natur, welche, wenn eine moralische und einsichtsvolle Erziehung ihr Geschmeidigkeit verliehen und ihre Ecken abgeschliffen hätte, so herrliche Früchte getragen haben würde, ward durch die fortwährende Berührung der ungeschlachten Sitten, die ihn umgaben, rauh und wild. Er nahm üble Gewohnheiten an und verdarb sich dadurch seine Einbildungskraft, und, als später sein Genie so glänzend und vollständig sich offenbarte, sah der arme Brauer bald ein, daß er aus den schönen und rein poetischen Gebieten ausgeschlossen sei, und stürzte sich dann ganz und gar in den verschlingenden Strudel eines ausschweifenden Lebens, so daß er sein Dasein schon mit 32 Jahren endete und Rubens, dem Einzigen, der ihn verstanden und gewür¬ digt, Thränen über seinen Verlust entlockte. Doch eilen wir dem Laufe der Begebenheiten nicht zuvor. — Brauer zeichnete noch seine Blumen, sein Laubwerk für seine Mul- li-r, als eines Tages ein Fremder vor diesem zerlumpten, schmuzigen Knaben stehen blieb, der, im hellen Tageslicht sitzend und munter singend, reizende, phantastische Gruppen zeichnete. Als der Knabe den Fremden erblickte, erhob er sein schelmisches und trotziges Gesicht, aus dem ein Blick voll geistiger Kraft hervorleuchtete. Der Fremde war Niemand anders als Franz Hals aus Mecheln, ein geschickter Maler; er fragte den jungen Burschen, ob er nicht, an¬ statt weiter Vögel und Blumen zu zeichnen, den Pinsel in die Hand nehmen und ein großer Maler werden wolle? Der Knabe zögerte nicht, mit einem lustigen Ja zu antworten. Franz, welcher die reiche Goldader erkannte, die hier unter ge¬ meinem und grobem Aeußeren lag, suchte Brauer's Mutter auf, der er die glänzende Zukunft, die einem solchen Genie bevorstehe, mit hellen Farben ausmalte. Die arme Frau, der es täglich schwerer fiel, den Bedürfnissen ihres eigenwilligen und launischen Kindes zu genügen, dessen Schelmenstreiche sie obendrein mit ihren Nachbarn oft genug in Unannehmlichkeiten verwickelten, nahm HalsenS Anerbie- tungen freundlich an, um so mehr, als er ihr versprach, er werde für ihren Sohn Sorge tragen, werde ihn in seiner Kunst unterrich¬ ten und ihn nähren und kleiden. Leicht an Gepäck, aber reich an jenen frischen und freudigen Hoffnungen, welche zu 15 Jahren über unserem Dasein wie heitere, glänzende Vögel dcchinschweben, folgte, nachdem er seine Mutter umarmt, mit der ihm ein Wiedersehen das Schicksal nicht mehr ver¬ gönnte, Brauer seinem Meister, unter dem ihm die harte LehrlingS- zeit des Lebens zu bestehen und das bittere Noviziat des Elends und Hungers durchzumachen bestimmt war. Hals begab sich damals nach Harlem, wo er sich niederzulassen gedachte. Nach einigen Monaten schon machte Brauer reißende Fort¬ schritte. Er arbeitete mit einem unerhörten, fast fieberhaften Eifer. Hals sah bald, daß der Augenblick nahe war, wo er die schöne,« Früchte dieses jugendlichen, ungewöhnlich frühreifen Talents ernten konnte; er schloß daher unter dem Verwände, ihm mehr Ruhe zu lassen und ihn vor Zerstreuungen zu sichern, seinen Schüler in ei¬ nem Söller ein. Der Zweck dieses geizigen und herrschsüchtigen Menschen aber war, vor Aller Augen die Arbeiten deS jungen Brauer zu verheimlichen, die ein so eigenthümliches Gepräge und eine so originelle Färbung an sich trugen, daß er beschloß, dieselben unter dem Namen eines fremden und geheimnißvollen Meisters, dessen Gemälde nur er zu erlangen vermöge, dem Publikum darzubieten. Brauer's Verschwinden aus Franz Halsens Werkstätte, so wie das plötzliche Erscheinen reizender Gemälde, in denen sich eine bis jetzt unbekannte Kraft der Einbildung, Naivetät und Manier offenbarten, machte damals den Stoff der Unterhaltungen in allen Malerateliers aus. Adrian von Ostade, der den fröhlichen und schelmischen Zög¬ ling liebgewonnen hatte, schlich sich eines Tages während einer Ab¬ wesenheit von Hals bis zum Söller hinauf, in welchem die Hab¬ sucht des Meisters unsern Brauer eingeschlossen hatte. Ostade klet¬ terte bis zu einem kleinen Dachfenster, durch welches dieser erbärm¬ liche Aufenthalt beleuchtet wurde, und da sah er zu seinem größten Erstaunen, daß dieser unbekannte und geheimnißvolle Meister, dessen Arbeiten sich Franz Hals mit Gold aufwiegen ließ, kein anderer als sein Freund Brauer war. Dieser beklagte sich bei Ostade über die schlechte Behandlung, die er von Hals erfuhr, der ihn mit Ar¬ beit überhäufte und ihm nur dann zu essen gab, wenn er eine be¬ stimmte Ausgabe vollendet hatte. Er zeigte ihm seine zerlumpten Kleider und schilderte' ihm seine Leiden in so wahren und naiven Ausdrücken, daß ihm Ostade, um sein Elend einigermaßen zu er¬ leichtern, vorschlug, er solle ihm die fünf Sinne malen.zu vier Sols das Stück. Brauer nahm es an und mußte nun mit noch größerem Eifer arbeiten, um seinem gierigen Tyrannen zu verbergen, daß er einen Theil seiner Zeit sür sich verwende. Als die fünf Sinne zur allgemeinen Zufriedenheit der Werkstätte geendigt wa¬ ren, verlangte ein anderer Schüler die zwölf Monate von Brauer zu demselben Preis. Der arme Zögling nahm auch dieses an, um sich eine gesündere und hauptsächlich eine reichhaltigere Nahrung zu verschaffen, und endigte bald sein Dutzend Allegorien, das ihm hin¬ reichend Brod für einen Monat verschaffte. Aber der Dämon der Habgier und des Geizes wachte über Brauer. Bald glaubte Hals zu bemerken, sein Sklave pro- duzire nicht mehr so viel als früher. Halsens Frau besonders, eine Art aus der Hölle aufgestiegener Harpye, übernahm es, Brauer sorgfältig zu überwachen und seine Arbeit zu verdop¬ peln, während sie zu gleicher Zeit seine ohnedieß schon sehr beschränkte Nahrung noch mehr verringerte. Den anderen Zög¬ lingen ward es nun so schwer, zu dem Gefangenen sich Zutritt zu verschaffen, daß sie es nicht mehr wagten. Franz Hals äußerte sich von Tag zu Tag verächtlicher über Brauer's Talent und schil¬ derte ihn seinen Zöglingen, als würde er nicht im Stande sein, je etwas Gutes zu leisten. Ostade, erzürnt über diese feige Grausam¬ keit, welche das Opfer, das sie plünderte, noch obendrein verläumdete, täuschte noch einmal die strenge Wachsamkeit Halsens und seiner würdigen Gattin, drang bis zu Brauer und rieth ihm, aus diesem Zwangsaufenthalt zu fliehen, wo man dem Sclaven, dessen Pinsel Schatze erzeugte, sogar daS trockne Brod verweigerte. Ostade fügte hinzu, das ganze Atelier sei bereit, seine Flucht zu begünstigen, und die Ersparnisse seiner Gefährten, so wie die seinigen würden ihm die ersten Mittel verschaffen, für seine Eristenz zu sorgen; das Wei¬ tere würde schon sein Talent thun. Das aufs Höchste gestiegene Elend deS ausgehungerten und halb nackten Brauer ließ ihm nur die Wahl zwischen Flucht oder Verzweiflung. Er machte sich einen Tag, wo Hals abwesend war, zu Nutze und entfloh glücklich seinem abscheulichen Kerker. Aber wie er nun im Freien war, wußte unser arme Künstler nicht, was er mit seiner Freiheit beginnen sollte. Die Sclaverei schien seine Seele erstarrt zu haben. Er zweifelte an sich, an seinem Talent, an seiner Zukunft. Die Lobeserhebungen seiner Werkstättgenossen tauchten ihm einen Augenblick Spöttereien, von denen er sich habe zum Narren halten lassen. Da jedoch der Hunger eins seiner vorzüglichsten Leiden gewesen war, so war der erste Gebrauch, den er von seiner Freiheit und dem wenigen Geld, das er besaß, machte, der, daß er zu einem Pfefferkuchmhandler ging und einen reichlichen Vorrath an Lebens¬ mitteln sich einkaufte, die er verschlang, indem er dabei die Stadt durchlief. Da ihn der Tod seiner Mutter jeglicher Zuflucht und allen Schutzes beraubt hatte und er nicht wußte noch hatte, wo sein Haupt hinlegen, suchte er bei einbrechender Nacht einen Zu¬ fluchtsort in der Karhedralkirche. Daselbst versteckte er sich unter dem Positiv der Orgel und, in seinen Lumpen zusammengekauert, fing Brauer an über die Mittel nachzudenken, wie er einen Stand verlassen könnte, in dem er nicht einmal Brod gewann und wie er aus einer Lage sich herausrisse, in welcher er geistig und leiblich das Eigenthum eines gierig ihn ausbeutenden Herrn geworden. Seine Zukunft und seine Gegen¬ wart schienen ihm gleich düster, und er konnte sich nicht erwehren bitterlich zu weinen, als seine Gedanken unwillkürlich zu den glück- lichen Tagen zurückkehrten, die er bei seiner Mutter verbracht, Tagen der Muße und der freien Laune, der Schelmenstreiche und der ge¬ räuschvollen Spiele. Während er in diese Gedanken vertieft war, hörte er — und ein Schauer durchlief seine Glieder — eine Stimme, die seinen Namen murmelte, während gleichzeitig eine Hand sich auf seine Schulter legte. Das Elend und die bisherige rauhe Behandlung hatten Brauer'S Seele gebeugt; er zitterte anfangs vor Furcht, diese Stimme möchte die seines unbarmherzigen Quälgeistes sein. Da aber sein Name ein zweites Mal mit einem Ton der Güte ausgesprochen ward, an den er bisher nicht gewöhnt gewesen, wagte es der arme Sclave, sein von Thränen gebadetes Haupt in die Höhe zu heben. Der Mann, der vor ihm stand, war einer von Halsens Freunden und ein fleißiger Besucher seines Ateliers, der nun nicht wenig erstaunt war, Brauer unter dem Orgelpositiv versteckt zu finden, während einige Stücke Pfefferkuchen um ihn her lagen, die vollends zu ver¬ zehren sein überwältigender Schmerz ihn abgehalten. Gerührt von einem solchen Schauspiel, frug Halsens Freund den jungen Menschen um die Ursache des tiefen Kummers, der ihn zu bedrücken schien. Diese in einem Ton voll Herzlichkeit an ihn gerichtete Frage war der Tropfen, der, in ein volles Gefäß geschüttet, es zum Ueberströmen bringt. Brauer, in Thränen zerschmelzend, erzählte nun, welche schlechte Behandlung er bei seinem Meister er¬ dulden müssen, und wie dieser sich nicht damit begnüge, sich die Früchte von Brauer's Arbeit anzueignen, sondern ihn aus Geiz auch noch nackt und halb Hungers sterben lasse. Das abgezehrte und hungerbleiche Aussehen, so wie die scheußlichen Lumpen, mit denen der Künstler bekleidet war, bestätigten die vollkommne Wahrheit dieser Erzählung. Halsens Freund versprach dem jungen Manne seine fernere Theilnahme und seine Vermittlung, um diesem hassenswerther Benehmen ein Ende zu machen, wenn er mit ihm zu seinem Meister zurückkehren wolle. Der trostlose Flüchtling, der wie alle durch die Unterdrückung ihrer moralischen Kraft beraubten Sclaven von der Freiheit, die er sich eben erst erworben, keinen Gebrauch zu machen wußte, nahm das Anerbieten seines Beschützers an und kehrte mit gesenktem Haupte zurück, um von Neuem seine Ketten zu tragen. Franz Hals, der über den Verlust eines solchen Schülers ganz in Verzweiflung ge¬ rathen, war eben nach Haus gekommen, nachdem er unnütz alle Straßen Harlems durchlaufen. Als Hals den Deserteur erblickte, befahl er ihm, halb wüthend halb froh und mit rauhem Tone, in seine Werkstätte zurückzukehren, indem er ihm, wenn er sich je wieder einen solchen Streich erlaubte, die derbste Tracht Schlage versprach, die je auf die Schultern eines Taugenichts gefallen wäre. Um dem Geschrei und den Schimpfworten von Halsens Frau zu entgehen, die sich über die Undankbarkeit dieses Unglücklichen beklagte, der ihre Sorgfalt so schlecht belohne, eilte Brauer, der einen düstern Horizont von Kopfnüssen und Fußstößen vor sich sah, in seine Bodenkammer. Halsens Freund warf seinem Meister indeß sein unverantwortliches Benehmen gegen ein Kind vor, das zum Lohne für diese kostbare Arbeit schlechter als ein Dienstbote behandelt werde. Er gab ihm zu verstehen, daß eine Fortsetzung dieser schlech¬ ten Behandlung ihn nicht allein für immer seines Schülers be¬ rauben, sondern ihm auch noch eine strenge Bestrafung zuziehen könne. Diese Vorwürfe hatten einen außerordentlichen Erfolg. Am andern Morgen, da der arme Bursche glaubte, die Zeit sei gekom¬ men, wo sein Meister von gestern her mit ihm rechnen werde, wie erstaunt war er da nicht, als dieser in aller Sanftmuth mit ihm sprach. Halsens Frau schien ihre giftige Zunge verloren zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben frühstückte Brauer. Herz, was be¬ gehrst du? Man ließ ihm zu selner größten Verwunderung die Wahl zwischen Fleisch und Fisch. Diese gänzliche Revolution än¬ derte seinen ganzen Jdeenkreis. Wie wurde ihm aber erst, als gegen Mittag Hals ihm sagte, er habe neue Kleidungsstücke für ihn kommen lassen! Brauer glaubte toll vor Freude zu werden, selbst da er sah, daß diese neuen Kleider nur alte beim Trödler aufgekaufte Sachen waren, die ihm nach allen Dimensionen hin nicht paßten. Aber Hals und seine Frau sprachen Wunder wie viel darüber, wie gut er sich darin ausnehme, und so kehrte er mit fröhlichem Herzen zu seiner Arbeit zurück und arbeitete fleißig darauf los, um seinem Meister eine reichliche Thalerernte zu verschaffen. Unerhört! Brauer war der einzige, der sein Talent nicht kannte. Die Verachtung und schlechte Behandlung, die sein Meister ihm an- gedeihen ließ, und die Einsamkeit, in der er lebte, waren die Ur¬ sachen gewesen, die dazu beigetragen, daß er fortwährend Mißtrauen gegen sich selbst hegte. Man würde ihn-vor Erstaunen außer sich gebracht haben, wenn man ihm gesagt hätte, er sei zu 17 Jahren ein großer Künstler, dessen Arbeiten im Kaufpreise denen der be¬ rühmtesten Meister gleichstanden. Er überraschte sich oft selbst in dem Gedanken, ob wohl seine Arbeiten eine hinreichende Entschädigung für die Kosten wären, die er Hals verursachte, und dieser, wie man sich leicht denken kann, verfehlte nicht, ihn in diesem Gedanken zu bestärken, der für ihn so erfreuliche Früchte trug. So vergingen wieder drei Monate, während deren Brauer, besser behandelt, besser gespeist und zufriedenen Herzens, solche Fort¬ schritte machte, daß alle Welt von Hals ein, wenn auch noch so kleines Gemälde von der Hand seines unbekannten Malers ver¬ langte. Franz nahm die Bestellungen an und hatte den Preis eines kleinen Stasseletgemäldes auf 100 Dukaten festgesetzt. Aber der Geiz, der diesen Elenden verblendete, verursachte ihm auch bald Brauer's Verlust. Denn Ostade und einige andre Schüler, welche Kenntniß von dem geheimen Handel erhielten, den ihr Meister mit Brauer's Arbeiten trieb, benachrichtigten diesen davon und bewiesen ihm, daß sein Talent ihm überall Unabhängigkeit und Vermögen verschaffen könne; daß es der Gipfel der Feigheit wäre, sich noch länger so ausbeuten zu lassen, und daß er in Amsterdam, wo sein Talent bekannt und geschätzt wäre, Beschützer, Freunde und Ruhm finden würde. Diese Worte hörte Brauer keineswegs vergebens und, obgleich ihm immer noch einige Zweifel über seinen Künstler-Werth blieben, so benutzte er doch eine Abwesenheit seines Meisters, um sich für immer von dem Orte zu entfernen, wo er so viel gelitten. Dieses Mal aber cimusirte er sich nicht mehr damit, in Harlem umherzu- streifen, sondern er begab sich sofort nach Amsterdam, ohne Empfeh¬ lung, ohne alles Gepäck und fast ohne Geld, aber frei, frohen Herzens und reich an Hoffnungen. In Amsterdam angekommen, erkundigte er sich nach einem Lieb¬ haber der Malerei, dem er sich empfehlen könnte. Man verwies ihn an einen gewissen Gastwirth van Zomeren, der den Gasthof „Zum Wappen von Frankreich" inne hatte. Dieser Mann, der in seiner Jugend selbst die Malerkunst betrieben, und dessen Sohn, Heinrich van Zomeren für Landschaftsmalerei und Blumenstücke einen gewissen Ruf genoß, nahm Brauer freundschaftlich auf, indem er ihm versprach, er werde ihm seine Gemälde zu guten Preisen unter¬ bringen. Zum ersten Male in seinem Leben fand Brauer in seinen Um¬ gebungen Theilnahme und rücksichtsvolles Benehmen. Gut behan¬ delt, gut gespeist, konnte er nach Belieben arbeiten und sich ganz den Launen seiner Einbildungskraft hingeben. Van Zomeren, erstaunt schon über seine unglaubliche Leichtigkeit und über die Wärme seiner Composition bei kleinen Gegenständen, glaubte, daß so reiche Fähig¬ keiten sich in einem größeren Nahmen nur um so vortheilhafter ent¬ falten würden. Er gab daher Brauer eine Kupferplatte, auf die, er ihn einen Gegenstand seiner Phantasie zu malen bat. Brauer, seinen persönlichen Inspirationen überlassen, beendigte in einigen Tagen ein Gemälde, dessen Gegenstand ein Zank oder, richtiger gesagt, ein Kampf zwischen Bauern und Soldaten war. Karten, die auf dem Boden zerstreut umherliegen, zeigten die Ursache des Zankes an. Man sah einen zu Boden geworfenen Soldaten, dessen Schädel halb geöffnet worden durch einen Schlag mit einem zinnernen Bierkrug, den ein wüthender Bauer noch über seinem Kopfe schwingt. Weiterhin röchelt ein Andrer seinen Todeskampf. Ein von allen Seiten umringter Soldat wehrt sich, um den Degen aus der Scheide ziehen zu können, während ein'Bauer mit wilden Zügen, mit dem Messer in der Faust, sich anschickt, mitten inS Handgemenge sich zu stürzen. Im Hintergrunde steht man einen Mann eine Treppe hinabsteigen, mit einer Zange in der Hand, um dieser Schlächterei ein Ende zu machen. Tisch und Stühle sind um¬ geworfen, die Dienstmädchen fliehen den Tumult. Van Zomeren, erstaunt über dieses Werk eines jungen Men¬ schen von zwanzig Jahren, erkannte endlich an den Eigenschaften, die dieses Gemälde auszeichneten, daß Brauer jener unbekannte Maler war, nach dessen Gemälden alle Liebhaber eine wahre Hetz¬ jagd anstellten. Es war aber in einem noch höheren Grade der Vollkommenheit dieselbe ungestüme Kraft, derselbe Farbenreichthum, dieselbe Reinheit der Zeichnung, Vorzüglich aber war der moralische Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften, die hier in Thätigkeit ge¬ rathen waren, mit einer merkwürdigen Energie wiedergegeben. Da sich in Amsterdam das Gerücht verbreitet hatte, daß der unbekannte Maler, mit dessen Arbeiten Franz Hals bisher einen Monopolhandel getrieben, diese Stadt bewohne, gelang es einem Liebhaber, Namens Herr von Vermandois, Brauer zu ent¬ decken. Er ward betroffen von der Originalität der Gruppirung, von der Kraft des Colorits und vorzüglich von diesem männlich festen Pinselstrich, der die jugendliche Glut des Künstlers verrieth. Brauer, dem van Zomeren vorher seine Lection eingelernt hatte, in¬ dem er ihm sagte, es werde ein Liebhaber kommen und mit ihm um sein Gemälde handeln, wagte es nicht das Wort zu nehmen und den Preis zu bestimmen. Endlich frug Herr von Verman¬ dois, ob er wohl sein Gemälde für 100 Dukaten abzulassen ge¬ willt wäre. Der Künstler glaubte anfangs, die Ohren klängen ihm, oder der Käufer wolle sich über ihn lustig machen. Als aber dieser sein Gebot wiederholte, und Brauer sah, daß ihm van Zomeren durch Zeichen winkte, anzunehmen, antwortete er verwirrt und ver¬ legen und seinenSchnurrbart drehend: „Dieses Gemälde hätte ihn viel Arbeit gekostet und die Kupferplatte habe einen großen Werth" und ähnliche Gründe, die ihm geeignet schienen, der bedeutenden Summe, die man ihm bot, ein Gegenge¬ wicht zu halten. Endlich stand Herr von Vermandois auf, um wegzugehen und bat den Künstler, ihn mit seinem Gemälde in seine Wohnung zu begleiten, wo er ihm den Preis für seine Arbeit in schönen, neuen Dukaten zustellen würde. Erst als Brauer seine hundert Dukaten wirklich besaß, entfernte er die Idee, die er bis dahin gehegt, man wolle sich über ihn lustig machen. Der Anblick dieser schönen, glänzenden Goldstücke berauschte ihn völlig. Er glaubte, Potosi's Goldminen ständen ihm nun zu Gebote. Erst von diesem Augenblick an begriff er sein Talent und die Zaubergewalt seines Pinsels, der gleich einem Zauberstab alle irdischen Genüsse ihm verschaffen konnte. Sein Genie war der goldne Schlüssel, der ihm nun die Thore dieser Freudenwelt weit öffnen sollte, die er bisher nur im Traume erblickt, von der er bis jetzt ausgeschlossen gewesen und in der er fortan als Herr und Meister werde herrschen können. Ihm gehören fortan die Frauen, ihm die Aufregungen des Spiels, ihm die wundersamen Täuschungen der Trunkenheit! Sein Genie hatte ihn gleich einem jener Genien der arabischen Wundermärchen in einen Zauberpalast geführt, wo alle Wollüste der Erde in einem Neigen ihn umgaben, schmeichelnd, kosend sich ihm zu Füßen legten und mit wunderholden, zaubersüßen Stimmen ihm sagten: Herr und Meister, hier sind wir! Was be¬ gehrst Du? Der Uebergang aus der nackten, leidensvollen Bodenkammer bei Hals in das freudenberauschte, glänzende Amsterdam, der Ueber¬ gang aus der düstern Nacht in diese leuchtenden, duftenden Gegen¬ den — das war zu viel für Brauer'S ungeübte moralische Kraft. Als er von Herrn von Vermandois nach Hause kam, stand sein schwaches Gehirn ganz in Feuer; der Anblick seines Goldes bezau- berte ihn. Jedes dieser glänzenden Goldstücke schien ihm mit süßer, verführerisch lockender Stimme zuzurufen: Willst du Jungfrauen mit schamverschleiertem Blick, oder willst du die endlosen Räume des Idealen auf den schwindelnden Fittigen der Trunkenheit durchfliegen? Willst du die rohen Orgien des Volkes oder die entnervenden Lieb¬ kosungen der Courtisanen und die fieberhaften Umschlingungen des Spieldämons kennen lernen? Wähle; wir enthalten Alles. Und die verlockenden Stimmen hatten einen leichten Sieg; denn was in dem moralisch-vernachlässigten Brauer sollte mit ihnen käm¬ pfen? Nachdem er seine Dukaten aufs Bett geworfen und sich darin gewälzt mit der Wuth, mit der ein, nach langem Hungerleider zu herrlichem Male geladener Gast die Speisen verschlingt, raffte Brauer sein Geld wieder zusammen, that es all in sein Wamms und ging, stolz, ja übermüthig in Miene und Haltung aus, um den geheim¬ nißvollen Stimmen zu folgen, die ihn einluden, um ihn einzuweihen in die todbringenden Feste und die mörderischen Freuden der Aus¬ schweifung. Die hundert Dukaten dauerten acht Tage: sie zerstreuten sich in Amsterdams Tavernen und Liebeshöfen. Erst als er auch nicht einen Gulden mehr in seinem Vermögen hatte, kehrte er zu van Zo- meren zurück; dieser, ganz erstaunt, ihn wiederzusehen, frug ihn, was er mit seinem Gelde gemacht? — Gott sei Dank! entgegneteder Künstler; es hat mir Mühe genug gekostet, es los zu werden, und ich bin froh, daß ich nun wieder so weit bin! Brauer fand fortan diese Lebensweise so vernünftig, daß er beisie bis zu seinem Tode beihielt. Dieser erste Eindruck war zu stark gewesen, als daß er fortan em geordnetes, arbeitsames Leben zu führen vermocht hätte. Er verbrachte seine Tage in Kneipen und Bordellen, wo er seine Palette mit tausend komischen und tragischen Episoden bereicherte, während zugleich sein Geist und sein Herz stufenweise sanken. Wenn aber eine glückliche Inspiration mit ihren Fittigen ihn umschattete, dann erwachte in ihm das ganze Feuer seines Genies; seine Stirn, der die Orgie ihren scheußlichen Stempel aufgedrückt, strahlte alsdann; sein Auge belebte sich mit seltsamem Glänze und sein Pinsel streifte über die Leinewand mit unerhörtem Eifer und merkwürdiger Leich¬ tigkeit hin. Diese letzte Eigenschaft aber war eS gerade, die ihn auf die gleitenden Wege zum Abgrunde noch rascher dahintrieb. Ein Tag reichte für ihn hin, ein Gemälde zu beendigen, das die Liebha¬ ber mit Gold bedeckten, und dieses Gold ward bald von dem glü¬ henden Schlunde der Ausschweifung verschlungen. Die Tavernen wurden seine Malerwerkstätte; krummbeinigte Schemel oder oft auch die Schultern einer Courtisane waren seine Staffelei; und in den lichten Zwischenräumen eines trunkenen Lanzenknechtlebenö schuf er seine Meisterwerke. So führte Brauer in den wenigen Jahren, die er in Amster¬ dam verbrachte, ein wahrhaft verzehrendes Leben, das unmöglich lange Bestand haben konnte. „Viel gewinnend, aber noch mehr verschwendend und niemals seine Schulden bezahlend,, sagt Descamps (einer seiner Biographen), „sah er sich bald genöthigt in heimlicher Flucht den Schauplatz seiner fröhlichen Gelage zu verlassen." Er ging aus Amsterdam, wie er dort angekommen war, arm an Geld, aber reich an Talent; doch war seine Einbildungskraft durch die vielen mannigfachen Ausschweifungen der letzten Jahre schwächer und matter geworden. Unkundig aller weltlichen Angele¬ genheiten, wie ein Künstler, der sich nie um etwas Anderes als um den Preis der spanischen Weine bekümmert hatte, wußte Brauer nicht, daß die spanischen Niederlande mit den vereinigten Provinzen Hollands im Kriege begriffen waren. Er erfuhr es auf seine Un¬ kosten in Antwerpen. Denn als er an den Thoren dieser Stadt anlangte, ward er für einen Spion gehalten und da er weder einen Paß noch Empfehlungsschreiben an irgend Jemand bei sich hatte, so führte man ihn trotz seiner Protestationen ins Gefängniß der Citadelle. Zu Brauer's Glück war damals der Herzog von Aremberg ebenfalls ein Gefangener in der Antwerpener Citadelle, wo derselbe die Freiheit genoß, in Begleitung zweier spanischer Soldaten in den innern Höfen spazieren gehen zu dürfen. Auf einem dieser Spazier¬ gänge vernahm der Herzog eines Tages eine Stimme, die aus einem vergitterten Kerker drang und ihn um ein Gespräch von einigen Augenblicken bat. Der Herzog trat zu dem Gefangenen hin, der Niemand anders als Brauer war und, da er den Herzog für den Gouverneur der Citadelle hielt, dringend bat, man möchte ihn in Freiheit setzen, indem er bald zu beweisen sich erbot, daß er wirklich ein Maler sei, der von Amsterdam komme, um sich in Antwerpen niederzulassen, nicht aber ein erbärmlicher Spion. Dem Herzog schien Nichts leichter, als der Wahrheit in dieser Sache auf den Grund zu kommen. Er ließ Rubens, der ihn jeden Tag besuchte, sofort um eine Palette, Leinewand und Pinsel bitten und überließ Brauer die Sorge, sich durch sein Werk zu rechtfertigen. Während unser Maler sich den Kopf anstrengte, um einen passenden Stoss zu finden, bemerkte er im Hofe, durch das Gitter seines Gefängnisses hindurch, eine Gruppe spanischer Soldaten, die auf den Fersen niedergekauert, mit jener spanischen Gravität, die auch in die komischsten Körperstellungen eine gewisse Würde zu legen weiß, Karten spielten. Ein alter Reitersmann, dessen breiter, nar- bigter Mund nur noch zwei Zähne enthielt, lang und gelb wie die Hauer eines vierzigjährigen Ebers, schien die Rolle deö Kampfrichters in diesem unblutigen Streite zu spielen. Die Freude des Gewinnes, die Angst des Verlustes, das Interesse, die Neugier der Spieler und die umstehenden Zuschauer, das Alles stellte Brauer bald mit einer unvergleichlichen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft dar. In einer Ecke sah man einen selten- 8»I6»t1o, in einer Stellung niedergekauert, die über seine Beschäftigung keinen Zweifel zuließ, während sein Gesicht so schmerzhaft komische Empfindungen ausdrückte, daß man sich bei seinem Anblick unmöglich des Lachens enthalten konnte. Dieses ganze Gemälde trug unverkennbar den Stempel des Genies an sich und es lebte in demselben eine solche ungestüme Kraft, daß 8 der Herzog ganz entzückt davon war und in aller Eile Rubens ru¬ fen ließ, um seine Meinung über das zu hören, was ihm ein Mei¬ sterwerk dünkte. Kaum hatte Rubens die Augen auf das Gemälde geworfen, als er entzückt ausrief: Metner Seele! Das ist von Brauer; er allein vermag dieses Genre mit so viel Kraft und so viel Schönheit zu malen! Auf die Frage des Herzogs, wie viel dies Gemälde wohl werth sei, bot Rubens, ohne sich wei¬ ter zu besinnen, 600 Gulden dafür; dem Herzog aber war das Ganze ein zu seltsames Abenteuer gewesen, als daß er hätte darein¬ willigen mögen, sich eines Meisterwerkes zu entäußern, das ihn an Brauer und ihrer Beider Gefangenschaft in der Citadelle erinnerte. Durch Rubens' Einfluß hörte Brauer's Gefangenschaft bald auf. Rubens machte sich zu seinem Bürgen und führte den Befrei¬ ten aus dem Gefängniß in sein Haus, wo er ihm eine prachtvolle und reichliche Gastfreundschaft anbot. Aber das Adlige im äußern Benehmen und die Sittenstrenge, welche Rubens' Charakter aus¬ machten, konnten Brauer nicht zusagen. Gewöhnt an eine zügellose Freiheit, an ein zwischen fürstlicher Verschwendung und einem jam¬ mervollen Elend abwechselndes Leben, war die geordnete, sestgeregelte Lebensweise in Rubens' Haus ihm eine lastende Kette, von der er sich zu befreien eifrig sehnte, um sein freies und tolles Zigeunerleben wieder zu beginnen. Vergebens predigte ihm Rubens, vergebens bemühte er sich ihn seinen Kneipenliebschaften und seinen tief in die Nacht hineingehenden Gelagen zu entreißen: Alles blieb erfolglos. Müde endlich dieser fortwährenden Ermahnungen verließ Brauer, für den die edle und würdige Lebensweise Rubens' vielleicht ein na¬ gender Gewissensbiß, ein geheimer Vorwurf war, das Haus seines edelmüthigen Wirthes; er hatte endlich eine Seele gefunden, welche die seinige begriff, ein Herz, das zu dem seinigen paßte, wie ein Schwert zur Scheide. Dieses sein anderes Ich, dessen Mängel und Vorzüge ganz mit den seinigen übereinstimmten, — denn bei all seiner Liederlichkeit verläugnete und verlor Brauer nie seine angebo¬ rene Gutmüthigkeit; darin stimmen alle Zeugnisse seiner Zeitgenossen überein — war Craesbeck, ein einfacher, aus Brüssel gebürtiger Bäcker, der bald, in Folge von Adrian Brauer's Unterricht, einen ziemlichen Ruf als Maler sich erwarb. Unsere beiden Freunde hatten ihre gegenseitige Bekanntschaft im Wirthshaus gemacht, wo Brauer seine Amsterdamer Lebensweise wieder begonnen hatte und unter zerbrochenen Bierkrügen, zerschla¬ genen Köpfen, umgeworfenen Stühlen und unkeuschen Liebesabenteuern zugleich Stoff und Inspiration für sein Talent suchte und sand. Craesbeck war geschaffen, um Brauer zu begreifen: und bald wohnte letzterer bei ihm, indem er ihm versprach, ihm zum Lohn seiner Gast¬ freundschaft Unterricht in seiner Kunst zu ertheilen, für welche der Bäcker vorzügliche Anlagen hatte. CraeSbeck nahm diese Bedingungen dankbar an und jeden Mor¬ gen, nachdem er seine Bäckerarbeit vollendet, arbeitete er mit Eifer als Maler und zwar mir solchem Erfolg, daß er bald seinem Mei¬ ster, wenn auch nicht gleich, doch wenigstens nahe kam. Doch war sein Strich nie weder so fein, noch so kühn wie der Brauer's und in seinen Gemälden findet man stets etwas Gemeines, Plumpes, Anekelndes, das Brauer nie, selbst in den liederlichsten Arbeiten sei¬ nes Talentes nicht, eigen war. Craesbeck hatte eine sehr hübsche Frau, die anfangs Brauer lange Zeit Vorwürfe gemacht hatte, er sei Schuld daran, daß ihr Mann sein Geschäft vernachlässige und lieber schlechte Gemälde pinsle; endlich aber wurde sie gegen ihren Gast freundlicher gesinnt und ward ihm zuletzt so gewogen, daß sie alle Drei in voll¬ kommenster Eintracht lebten. Die bösen Zungen jener Zeit behaup¬ teten, Craesbeck theile mit Brauer Haus, Tisch und Frau: und so abgeneigt wir auch sind, den Todten Böses nachzusagen, eingedenk des alten Spruches: cle moi tuis nil nisi Iiene, so müssen Wir doch eingestehen, daß wir uns nicht gut als Kämpen für die Tugend der Bäckerfrau stellen können. Das Leben, welches diese beiden Freunde einige Zeit lang führten, ward endlich so scandalös, daß die Behörden sich darein mischten. Aus dieser Zeit erzählt man auch folgende Anekdote: Craesbeck, heißt es, durch das Gerede der Leute argwöhnisch geworden, wollte sich über die Liebe seiner Gattin zu ihm Gewißheit verschaffen und nahm zu einem originellen Mittel seine Zuflucht. Er malte sich eines Tages eine schreckliche Wunde auf die Brust und ließ sich mit aller Schwere auf den Fußboden des Zimmers fallen, indem er ein herzzerreißendes Geschrei ausstieß. Seine erschrockene Frau eilt herbei, 8* schreit hoch auf, da sie ihn ganz blutig erblickt, und drückt ihren Schmerz über seinen Verlust in so jammervollen Ausdrücken aus, daß Craesbeck, von seiner Eifersucht geheilt, aufstand und zu ihr sagte: „Still, Thörin! Ich habe dich nur prüfen und sehen wollen, ob deine Liebe aufrichtig ist." Die Chronik jener Zeiten besagt jedoch Nichts davon, ob die Bäckersfrau in Folge dieser Lehre minder liebherzig gegen ihren Gast wurde. Brauer, erdrückt von seiner Schulden Last, täglich eifriger von den Gerichtsdienern und Häschern verfolgt, verließ Antwerpen, wie er Amsterdam verlassen d. h. als es kein Wirthshaus mehr gab. in dem er nicht seinen Credit erschöpft hatte. Von seinem lieder¬ lichen, ausschweifenden Leben schon körperlich erschöpft, ging er zu seinem größten Unglück nach Paris, wo sein leichtes Talent ihn» zwar Goldminen öffnete, wo er aber in noch größere Ercesse verfiel. Das Leben war für ihn, seitdem er seines Talentes sich bewußt ge¬ worden, nur eine lange Wollust, eine fortwährende Trunkenheit gewesen; aber er hatte den Becher nun bis auf die Hefe geleert und da fand er das Gift. Als er nach einem Aufenthalt von eini¬ gen Monaten im Jahr 1640 nach Antwerpen zurückkehrte, trug er die grausame Strafe seiner leichten Liebesverhältnisse in seinem Leibe mit sich. Die Lebensquellen waren so erschöpft in ihm, daß er zwei Tage, nachdem er ins Hospital gekommen, an Entkräftung da¬ selbst starb, allein in einer Ecke, ohne eine Hand, welche die seine drückte, ohne einen Blick, der ihn tröstete, ohne ein Gebet und ohne einen Grabstein, um einen Namen der Vergessenheit zu entreißen, ver so schön und so strahlend hätte sein können! So begrub das Elend, daS an Brauer's Wiege gewacht, ihn auch mit seinen dürren und gierigen Fingern in dem Leichentuch, das er dem Mitleid verdankte. Seine glühend sinnliche Natur, der es in Folge seiner gänzlich vernachlässigten Erziehung an jenem Zügel fehlte, den Moral und Religion Anderer Begierden auflegen, hatte ihn in der Blüthe seiner Jahre als einen lebendigen Leichnam vor die Thüren dieses traurigen Pantheons des Genies geworfen, das man Hospital nennt. Rubens erfuhr Brauer's Tod nur, um ihn zu beweinen. Er ließ seinen Leichnam, der in die allgemeine Grube geworfen worden, ausgraben und in der Carmeliterkirche beerdigen. Er hatte sogar den Entwurf zu einem Grabmal gezeichnet, das er ihm errichten wollte; aber der Tod, der auch ihn kurz darauf hinraffte, hinderte ihn an der Ausführung dieses Vorhabens, das seines Ge¬ rdes und seines Herzens gleich würdig war. Brauer's Rathschläge und Lehren entwickelten und bildeten David Teniers' des jüngeren Talent, der auch etwas von seiner Manier annahm. — Die Eintönigkeit in Brauer's Gemälden ist sehr leicht erklärt durch die geringe Mannigfaltigkeit der Gegenstände und Personen, die er am Häufigsten vor Augen hatte. Es sind gewöhnlich trunkene Bauern, die einander schlagen; Wundärzte, welche andre Bauerlümmel verbinden; Trinker oder Spieler, die ein¬ ander Tische, Stühle und Bierkruge an den Kopf werfen; Libertins in Orten der Liederlichkeit; Wachtstuben und dergleichen mehr. Brauer's Pinselstrich war lebhast, glühend und geistreich; seine Farbengebung ausgezeichnet und wahr, ohne alle Manier. Seine Werke sind heutzutage sehr gesucht und werden sehr theuer bezahlt. Schließlich noch einige Worte über Craesbeck, den Schüler und Genossen Brauer's. Er ist sein bester Nachahmer, hat jedoch nie des Meisters Feinheit im Ausdruck und Schönheit im Colorit erreicht. Die gewöhnlichen Gegenstände der Gemälde Cracsbcck's sind ekeler¬ regend; eS sind Trinker, die sich übergeben; Zänkereien von Trun¬ kenbolden; und was vergleichen zurückstoßende Scenen mehr sind, mit deren Rohheit uns selbst das schönste Talent nicht versöhnen kann. Craesbeck hat oft sich selbst pvrtraitirt, hat sich aber immer unter einem grotesken oder abschreckenden Anblick dargestellt, bald mit einem Pflaster auf dem Auge, bald abscheuliche Gesichter Schrei, derb, bald unerhört gähnend. Craesbeck war Brauer's gemeine Copie.S) *) Vergleiche: I^of vt-ij>t-s illustres, viuxelles. 6, Briefe aus Se. Petersburg Der Kaiser und die Aristokratie. — Nikolaus und Alexander. — Der Senat und die Bauern. — Die Complote. — Eine kaiserliche Familie. — Der Großfürst und sein Oheim; die Großfürstin und ihre Tante. — Der Prinz von Leuchtenberg. — Ein Aktenstück. Fast alle europäischen Journale haben letzthin von Comploten und Verschwörungen gesprochen, die, bei Gelegenheit deS letzten Uka- ses zu Gunsten der russischen Leibeigenen, gegen das Leben des Kai¬ sers entstanden seien. Hier haben wir nichts davon erfahren, wenigstens hat Niemand davon gesprochen, weder in hohen, noch in niederen Gesellschaftskrei¬ sen. Freilich sind wir auch hier Leute der That, nicht der Rede; das Land schweigt und denkt nicht im Entferntesten an Preßfretheit und im Allgemeinen wird hier gehandelt, bevor man spricht. Eine Sache muß ins Reich der Thatsachen gehören, ehe man hier davon spricht, und selbst dann wird mit so viel Zurückhaltung davon ge¬ sprochen, daß oft vollkommenes Schweigen bedeutungsvoller wäre. Das Wort ist hier offiziell. Und es ist auch gut so; denn bei Gott! was würde-aus uns werden, wenn die Sachen anders stünden! Wir würden in einer Atmosphäre von Comploten und Verschwörun¬ gen ersticken; denn diese sind in Rußland das ewig sich erneuernde Haupt der Hydra. Unter der Frauenherrschaft verschwor man sich gegen die Günstlinge, um sie von der Höhe ihrer Macht herabzu-- schleudern in Sibiriens Eissteppen: man that ihnen, wie sie ihren Vorgängern gethan; und oft begegnete ein nach Sibirien geschickter Günstling auf halbem Wege dahin seinem, von ihm in die Knecht¬ schaft gesandten, in Folge seines Sturzes fröhlich zurückkehrenden Feinde. Sibirien war gewissermaßen eine Zeit lang eine Glacii;re, worin die gefallenen Minister frisch bewahrt wurden, bis der Au¬ genblick ihrer Brauchbarkeit wieder erschien: eine Art Pairskammer. So war es, da Weiber regierten. Jede unter der Kaiserherrschaft sind die Complote fürchterlicher; denn hier handelt es sich nicht mehr blos darum, sie vom Thron zu stürzen und nach Sibirien zu schicken: die Verschwörer zielen auf ihr Leben. So war eS unter Peter und unter Paul; so unter Alerander amb so ist es noch unter Nikolaus: und so wird es bleiben, so lange eS Aristokratie und Sklaverei in Rußland geben wird. Denn das Volk, der Mittelstand, hat keinen Theil an diesen Verbrechen: die russische Aristokratie wird dieses schmachvolle Brandmal tragen, das die strenge Richterin, Geschichte, ihrer Stirn ausbrennen wird: ein Brandmal, das um so unauslöschlicher ist, als diese Verbrechen nicht in politischen oder religiösen Leidenschaften ihren Beweggrund und mildernde Umstände gefunden. Der kälteste, grausamste Egoismus war es stets und wird es stets bei den russischen Aristokraten sein, der Verschwörungen gegen die Fürsten veranlaßt, wenn sie ihrem Volke Gutes gethan haben oder thun wollen. Pe¬ ter III. war sür Friedrich den Großen enthusiasmirt; er wollte in der russischen Regierungsweise und Politik die freisinnigen Grundsätze und Ideen dieses glorreichen deutschen Fürsten einführen, und zum Lohne dafür ward er ermordet. Paul hatte die französischen Ideen und Napoleon, ihren unsterblichen Repräsentanten, liebgewonnen und siehe da — Paul ward erstickt. Alerander, der den größeren Theil seiner Regierungszeit außerhalb seines Reichs in der Mitte der eu¬ ropäischen Civilisation lebte, empfand natürlich den wohlthätige» Einfluß europäischer Sitten und Gesetze. Er war während dergrv- ßen Kriegsjahre Zeuge gewesen der Opfer, welche die Nationen ge- bracht, um ihre nationale Unabhängigkeit und eine gesellschaftliche Umgestaltung zu erkämpfen, und so ward er, der von Charakter großmüthigen Herzens war, liberal gesinnt und beschloß seine Leib¬ eigenen zu emancipiren, seinem Volke Unterricht und Belehrung an- gedeihen zu lassen und sein weites Reich auf Institutionen zu begründen, die der christlichen Staatsidee und des 19ten Jahrhunderts, das, wenn auch unter den blutigen Auspicien der Napoleonischen, doch auch einer neuen fruchtbringenden Aera begonnen, würdig wären. Daher verschwor sich die Aristokratie unaufhörlich gegen das Leben Alerander's, weil er freisinnig war; und selbst, als er später alle die großherzi¬ gen Eingebungen seiner Seele als leere Täuschungen und bedauerns- werthe Irrthümer bei Seite warf und so allen Verschwörungen den Grund benahm, selbst da hörten die Complote nicht auf. Und der¬ selbe dürre Egoismus ist es, der heutzutage und zwar mit noch harr- näckigerem Eifer gegen Kaiser Nikolaus sich verschwört und zwar nicht ohne Grund. Denn mit Ausnahme Peter's des Großen hat noch kein russischer Ezar so lange auf dem Throne gesessen als Nikolaus: er herrscht schon seit 16 Jahren, d. h. seit doppelt so lange, als sein Bruder Alexander regiert hat, der von den 25 Jah¬ ren seiner Negierung nicht 8 in Rußland selbst zugebracht hat. Während Alerander's Abwesenheit regierte die Aristokratie den Staat, wie sie wollte; — nun aber wird Kaiser Nikolaus, persön¬ liche Macht täglich drohender für die Aristokratie. Er könnte zuletzt die monarchische Gewalt vom Einfluß der Aristokraten befreien, in¬ dem er W Millionen Leibeigenen ihre Freiheit schenkte. Und das kann die russische Aristokratie durchaus nicht wünschen; denn diese doppelte Emancipation wäre für sie ein Todesstreich. Sie weiß dies gar wohl, denn ihr schuldbewußtes Gewissen ruft ihr zu, daß sie weder um den Thron noch um das Volk sich verdient gemacht: sie hat den einen zu oft mit Blut befleckt und das andere zu lange unterdrückt. Sie hat zu dem jetzigen blühenden Zustande Rußlands auf keine Weise beigetragen: zu dem dreifachen Gebäude des Vaterlandes, der Gesellschaft, des Staates hat sie keinen der Grundsteine gelegt; diese sind ohne ihre Nothhilfe, ja, gegen ihren dawiderstrebenren Willen begründet worden. Die russische Aristokratie hat nicht allein keine geschichtliche Geltung, sondern sie ist auch in politischer und gesell¬ schaftlicher Beziehung eine Monstrosität, ein Unding, das durchaus nicht vernünftig begründet ist, eben so wenig als die Burgfleckenherr- schast in England. Das Princip ihrer Existenz hat weder in der noch in jener Theorie seine Quelle; sie ist weder patriarchalisch, wie bei de:r andern slavischen Völkern, noch lehnsherrlich, wie im Fen- dalsvstem, noch patricisch, wie im Alterthum; sie ist ein mir durch rohe Gewalt, fast nach Art des Sklavenhandels, begründetes Factum. Der Kaiserthron hat sie stets nur durch ihren Verrath kennen gelernt; obgleich man, streng genommen, ihrem Benehmen diesen Namen nicht gut geben kann; denn Verrath setzt vorheriges Treue- gelöbniß voraus; sie aber hat nie Treue angelobt; diese glänzende Eigenschaft ist der russischen Aristokratie gänzlich unbekannt. Das Volk hat von ihr nur Unterdrückung zu erfahren; eigentlich kennt sie daS russische Volk gar nicht; es kennt nur seine Herrn, denen es leibeigen ist, denen es wie ein todter Besitz angehört. Der Ge¬ schichte bleibt es als festbegründete Wahrheit erworben, daß man die Kaiser ermordet, nicht um den Despotismus zu mildern, wie man hier mit scheußlicher Ironie sich ausdrückt, sondern um die Be¬ freiung der Alleinherrschergewalt und des Volkes von der Aristokra¬ tie zu verhindern. Obgleich der jetzt regierende Kaiser nicht sehr unternehmend ist in Bezug auf große Staatsstreiche, obgleich es ihm an der nöthigen Kühnheit mangelt, um eine in ihren Resultaten unberechenbare Re¬ form zu unternehmen, so fehlt es ihm doch weder an Fähigkeit noch an Muth, weder an Willenskraft noch an Energie: die beiden letz¬ ten, von ihm erlassenen Ukase und die Umstände, von denen ihre Bekanntmachung begleitet war, betreffend die Verhältnisse der Leibeigenen zu ihren Herren, werden Ihnen darthun, daß diese Würdigung seines Charakters richtig ist. Nachdem er nämlich den ersten Mas schon an die Provtnzialgouverneure versandt hatte, be¬ gab er sich erst in den Senat, um dessen gewissermaßen nachträgliche Beistimmung zu dem von ihm gefaßten Entschlüsse zu verlangen; aber hier scheint sich eine so entschiedene Mißstimmung über das Vorgegangene kund gegeben zu haben, daß der Kaiser einen zwei¬ ten Ukas erließ, worin er den ersten dergestalt modificirte, daß der Zustand der russischen Bauern derselbe blieb, der er vor der Publi¬ kation beider Ukase gewesen! ! > Man darf sich jedoch auch die Bedeutung des ersten Ukases nicht übertreiben; derselbe schaffte nicht etwa die Leibeigenschaft von Grund aus ab, sondern gestaltete sie nur bedeutend um: er versetzte die Bauern, welche Privateigenthum sind, ihren Herrn gegenüber in dieselbe Lage, in welcher sich die Domänialbauern der Krone gegenüber befinden. Es ward ihnen weder persönliche Unabhängig¬ keit noch bürgerliche Freiheit noch Zulässigkeit zu öffentlichen Aem¬ tern, ja selbst nicht einmal die Erlaubniß gewährt, ihre Kinder in solche Staatsschulen zu schicken, die einen höhern Rang als die Ele¬ mentarschulen haben: der Ukas erhob nur die Bauern aus dem Stande arbeitender, an die Scholle gefesselter Leibeigenen, deren jeder für den Eigenthümer einen Handelsgegenstand von etwa tausend Papier¬ rubeln (eben so viel Francs) Werth und gewöhnlichen Verkaufspreis ausmacht, in den Stand von leibeigenen Pächtern, indem sie durch dieses Factum der entmenschenden Herabwürdigung entzogen wurde, daß man sie gleich den Negern verkaufen konnte. Diese so gemäßigte und in allen Beziehungen weise und poli¬ tische Maßregel der Humanität hat im Senat einen solchen Sturm erregt; und obgleich sie am Tage nach ihrer Erlassung zurückgenom¬ men wurde, hat sie dennoch unter den Adeligen eine ungeheure Auf¬ regung verursacht; denn diese nennen Alles, was nicht Leibeigenschaft ist, Revolution, Demokratie, ja sogar Jakobinismus. Aber auch im Bürgerstande hat dieser Ukas bedeutendes Aussehen erregt; denn dieser ist zwar nicht gleich den Bauern vom Adel unterdrückt, steht aber doch in einem sehr demüthigenden Verhältniß zu dem¬ selben. Die Emancipation der Bauern würde daher, indem sie eine gewisse Demüthigung des Adels herbeiführte, für den Bürger¬ stand ein sehr glückliches Ereigniß sein; es wäre für ihn ein Denk¬ mal socialer und politischer Erhöhung. Daher der tiefe Eindruck, den die Erscheinung des kaiserlichen Ukas auf ihn gemacht. Der jetzt regierende Kaiser hat der Bürgerschaft eine ziemlich starke Organisation gegeben: sie ist reich; denn alles bewegliche Vermögen Rußlands, d. h. die großen Capitale, sind fast allein in ihren Händen: sie ist eine Macht, auf die man im Falle der Noth sich stützen könnte; aber sie allein vermag noch nichts zu erfüllen; denn sie ist ohne allen Einfluß auf die Massen deö russischen Volks! der Bauer kennt sie ganz und gar nicht: und in ihrer Mitte ist noch zu wenig Gemeingeist, als daß sie die Initiative in irgend etwas ergreifen könnte. Seit einigen Jahren jedoch ist der Gemein- geist, der Sinn für das Allgemeine bedeutend im Bürgerstande wach geworden; d. h. er murrt nicht etwa gegen das Bestehende oder verlangt eine Aenderung; denn Murren oder Verlangen wird hier einer Rebellion gleichgeachtet: aber er hält fortwährend die Augen auf den Kaiser gerichtet und erharrt von ihm einen Emancipations- Ukas. Die so häufig in Europa verbreiteten Gerüchte von Comploten, welche durch die Journale eine so weite Oeffentlichkeit erhalten, läh- men hier die Verschwörungen; diese Oeffentlichkeit entschädigt hier den Kaiser reichlich für alles Böse, das sie ihm schon zugefügt, und sie ist vielleicht einer der einflußreichsten Umstände, denen er sein Leben und Rußland die Fortdauer und Negierung eines seiner ausgezeichnetsten Fürsten verdanken wird. Die Ermordung des Kai¬ sers ist, wenn nicht ganz unmöglich, doch wenigstens überaus schwie¬ rig. Der Kaiser hat sein Auge auf Alles; kein äußerer Einfluß hat irgend eine Wirkung auf ihn: er hat weder Hofleute noch Günstlinge, deren Verrath man erkaufen könnte, sondern nur treu¬ ergebene, enthusiastische Diener und Freunde. Er kennt die Einen, wie die Anderen gründlich. Die sehr geschickt organisirte Geheim¬ polizei, deren Hauptfaden Nikolaus selbst in Händen hat, überwacht alle Schritte seiner Feinde. Die kaiserliche Familie ist ihrerseits auch eine sehr wachsame Schildwache in der Nähe seiner Person; sie ist zahlreich und ihm sehr ergeben; er ist für sie mehr Vater als Kaiser und Staatsoberhaupt; keine Verschwörung könnte den Kai¬ ser und einen seiner vier Söhne einander verdächtig machen, wie dies kurz vor Paul's Tode stattfand, dem Pahlen eingeredet hatte, Alexander gehöre zu den Verschwörern, während er Alexander die Ueberzeugung beizubringen gesucht, sein Vater Paul traue ihm nicht und wolle ihm ein ähnliches Loos bereiten, wie Peter der Große seinem Sohne Alexis, unglückseligen Angedenkens. Der Kaiser ist der eigentliche Erzieher seiner Kinder; er spielte mit ihnen, da sie noch klein waren; und später auch hörten sie nie auf, der Gegen¬ stand seiner väterlichen Sorgfalt zu sein. Ihre Erzieher sind nur seine Gehilfen; nicht allein überwacht er die Erziehung des Gro߬ fürsten, sondern er leitet auch geistig bis in's Einzelne ihren Unter¬ richt. Als Vater und Gatte ist Nikolaus der glücklichste aller russi¬ schen Kaiser. Auffallend ist jedoch in neuester Zeit, hinsichtlich der Stellung des Kaisers zu seinem Schwiegersohn, dem Herzog von Leuchten- berg/ der Umstand, daß derselbe von der Hauptstadt fern bleibt, unter dem Norwande, daß er bei seiner Brigade bleiben solle, und andrerseits die Art, wie sich der Kaiser in einem Ukas ausdrückt, den er in Betreff der Eisenbahn zwischen Moskau und Petersburg an den Senat gerichtet. „Wir haben," heißt es darin, „ein Comitv unter unserer unmittelbaren Oberauf¬ sicht und unter dem Präsidium unseres lieben Sohnes, des Gro߬ fürsten Cesarewicz, ernannt. Zu Mitgliedern dieses Cvmitv ernen¬ nen wirbelt Generalvirector der Brücken, Chaussven und öffent¬ lichen Bauten, die Minister der Finanzen und Domainen, unsere Adjutanten, die Generallieutenants Benkendorf, Orlow, Lewachen; den Generallieutenant Detrvönes, den Herzog von Leuchtenberg, den Generalmajor Tschcwkin und den Stallmeister unserer vielgeliebten Tochter, Olga Nicolajewna, Grafen Bobrvnski." Wir haben dieses offizielle Aktenstück ganz mitgetheilt, weil die Verschiedenheit der Ausdrücke auffällt, mit denen der darin erwähn¬ ten Familienglieder gedacht wird. Der Großfürst Thronfolger ist nur «ins? Jul>le7.i,^ s^u, einfach unser lieber Sohn; die Großfürstin, die blos beiläufig bei Gelegenheit ihres Stallmeisters erwähnt und —was wohl bemerkenswerth ist—nicht Herzogin von Leuchtenberg genannt wird, die Großfürstin ist u.lsxit lulüexrnm«?.-!, unsere meistgeliebte Tochter; was den Herzog von Leuchtenberg betrifft, so ist er weder vielge- liebt noch geliebt, ja er wird nicht einmal „unser Eidam" genannt; der Kaiser stellt ihn den andern gewöhnlichen Mitgliedern des Co¬ mite's gleich. Seine Stellung in Petersburg gegenüber der kaiser¬ lichen Familie hat viele Aehnlichkeit mit der des Gemahls einer Kö¬ nigin, jedoch mit dem sehr bedeutenden Unterschiede, daß der Gemahl einer Königin der Erste nach seiner Gattin ist, während der Herzog der Letzte in der kaiserlichen Familie ist; ja fast weniger noch als der Letzte, denn er wird eigentlich gar nicht als zur Familie gehörig betrachtet. Nun berücksichtige man einerseits den Charak¬ ter der Großfürstin Olga, die ihrem Vater in allen Beziehun¬ gen gleicht, wie ein Tropfen Wasser dem andern; und denke sich ihn, dem Kaiser und allen Gliedern der kaiserlichen Familie ge¬ genüber, diesen jungen Mann, erzogen in München, in dem zwar auf seine Abstammung von den Wittelsbachern sehr stolzen, aber sonst guten, einfachen und in seinem Benehmen sehr eingezogenen und bescheidenen bairischen Fürstenhause; man stelle auf die eine Seite den Sohn Ellgen Beauharnais', deS NicekvnigS von Italien, der stolz und voll Empfindung für den Ruhm seines erlauchten Vaters ist, und auf der anderen Seite denke man sich das russische Kaiserhaus und dessen Gefühl für seine priesterliche und politische Größe Und man wird die Stellung jedenfalls sehr delicat finden. » » H Philipp II. und Granvella voll E. E. v. Gerlache. Mail kann gewisse historische Stoffe, gewisse Epochen und Pe¬ rioden der Völkerentwickelung nicht oft genug beleuchten und durch öffentliche Darstellung zum Gemeingut Aller machen. Es sind dieß jene Zeiten, wo Völker für große, belebende Ideen der Religion oder Politik sich erhoben und gewaltige Kämpfe durchstritten, Zeiten, deren Fußtritt durch die Geschichte weithin leuchtet, und in deren tief nach¬ haltigen Gleisen die Nachwelt einhertritt. Unter diesen sind uns Deutschen, — abgesehen von den letzten fünfzig Jahren — wenige so vertraut als jener Zeitraum, da die vereinigten niederländischen Provinzen gegen Spanien ihre religiöse und nationale Unabhängig¬ keit verfochten und sie nach fast achtzigjährigem Kampfe dem Coloß der beiden Welten abrangen. Egmont, Don Carlos, der Abfall der Niederlande, — sind gelesene und immer wieder gelesene Lieblings¬ bücher unsrer Nation und haben uns mit den Hauptfiguren jener Epoche bekannt und vertraut gemacht. In neuerer Zeit, seit Belgien durch eine Schilderhebung zur rechten Zeit Holland zur Entsagung und die Großmächte zur Duldung vermocht hat, und sich eine lang ersehnte Nationalität ertrotzte, ist man natürlich oft vergleichend auf jene Zeiten zurückgekommen, deren Resultat ein nah-verwmidteö war, die Trennung der katholischen und protestantischen Provinzen von einander. Wir theilen in den folgenden Blättern aus einem der bedeutendsten Geschichtswerke der allerneuesten Zeit^) eine Charakte¬ ristik Philipps II. und seines vorzüglichsten Ministers in den Nie¬ derlanden, Anton Perrcnot's von Granvella den Lesern mit, weil der Verfasser die schwierige Rolle eines Vertheidigers übernommen und den König, den die deutsche Poesie einstimmig mit der Geschichts¬ schreibung mit schwarzen Schatten gezeichnet hat, in ein besseres Licht zu bringen sich bemüht. Daß wir für die Gesinnung, welche sich in diesen Aeußerungen kundgiebt, jede Complicität ablehnen, brauchen wir wohl kaum zu sagen; nur wollen wir kurz den Stand¬ punkt andeuten, von dem aus wir diese Mittheilung gewürdigt zu sehen wünschen. Wir sind nämlich der Ansicht, daß historische Dar¬ stellungen, selbst wenn sie so offenbar von dem Standpunkte einer Partei aus geschrieben sind, wie es hier der Fall ist, doch von mehr¬ fachem Nutzen sind. Der unbefangene, unparteiische Geschichtsforscher wird sie mit andern, von entgegengesetzten Ansichten ausgehenden Darstellungen vergleichen und hierdurch fordernde Elemente zur Fest¬ stellung und zur Beurtheilung vieldeutiger Thatsachen gewinnen. Für die Gegenwart erwächst aus solchen Werken ein doppelter Vor¬ theil. Die Kämpfer auf politischem und religiösem Gebiete erhalten durch sie stets neue Waffen gegen ihre Gegner; denn alle Geschichts¬ epochen bieten ja Analogien und Aehnlichkeiten unter einander dar. Die Zuschauer endlich, die außerhalb der Parteien oder unter ihnen *) Ilistoirs lin I^o^anas . dagegen wollte Alles aus seinem Cabinete heraus lenken. Als er Belgien erst ein¬ mal verlassen hatte, sah mau ihn nie mehr in diesem Lande. Und da er so diese Provinzen nicht kannte, so täuschte er sich über die Mittel, sie zu regieren und in Ruhe zu halten. Aber man schildert Philipp gemeiniglich als einen rachsüchtigen, unerbittlichen, aus Charakter und Grundsatz unbeugsamen Despoten; und doch war der Beginn seiner Negierung von zu großer Strenge so weit ent¬ fernt, daß im Gegentheil mehrere seiner Handlungen den harten Tadel einer unzeitigen Nachgiebigkeit vollkommen verdienen. So war eS ein erster Fehler, daß er seine Armee zurückberief, ohne sie durch eine Macht zu ersetzen, welche hingereicht hätte, die Ruhe deö Landes zu verbürgen, während der Protestantismus anwuchs und von Tage zu Tage drohender ward. Es war ein zweiter, nicht minder arger Fehler, daß er in Granvella'S Rücktritt aus dem Staatsdienste willigte und den Schreiereien der Neider und Feinde dieses Mannes nachgab, denen er lästig war, weil ihnen seine Ge¬ genwart imponirte. Diese beiden Fehler zogen als nothwendige Folge einen dritten, noch gewichtigeren nach sich, der Alles verdarb, nämlich die Sendung deS Herzogs von Alba in die Niederlande." „Um die Politik Philipp's U. richtig zu würdigen, muß man einen Blick auf den Zustand Europas um diese Zeit werfen. Der Protestantismus hatte in einem großen Theile Deutschlands, Eng- » lands und Frankreichs das Uebergewicht; von allen Seiten her de¬ er wieder zur Besinnung gekommen war. Karl V. von diesem Borfall beun¬ ruhigt, eilte, obgleich selbst krank, an das Bett seines Sohnes. Nachdem er ihn mit milden Worte» ermuthigt hatte, sagte er lächelnd zu ihm. „Dachtest Du, mein lieber Philipp, das) die Lanzen dieses Landes hier den spanischen gleichen, welche zerbrechen, wenn man sie anrührt!" Man kann sich leicht denken, daß dieser Vorfall nicht wenig dazu beitrug, den jungen Fürsten von den militärischen Uebungen zu entfernen, gegen die er ohnedies) eine natür¬ liche Abneigung hatte. Sepulveda gesteht übrigens ein, daß während der 3 Jahre, die er in den Niederlanden verbrachte, er unaufhörlich von Spanien sprach und sich dahin zurücksehnte. Anm. d. Bars. drohte er Belgien. Philipp konnte unmöglich so rasch die lebendi¬ gen Lehren der Geschichte und die Ueberlieferungen seiner Familie vergessen. Und die Ehrfurcht, die er dem Andenken feines Vaters gewidmet, verdoppelte noch den Haß, den er von Natur gegen die Ketzerei hegte. Er konnte nicht vergessen, daß sich Karl's V. Leben elendiglich in Bürgerkriegen mit seinen des Protestantismus halber empörten Unterthanen verzehrt und daß er in diesen kleinen Strei¬ tigkeiten die Kräfte seines weiten Reiches und seines mächtigen Geistes abgenutzt hatte; er konnte nicht vergessen, daß selbst seines Vaters Ruhm fast daran zu Grunde gegangen wäre; daß um ein Geringes der Sieger von Pavia, Tunis, Mühlberg, freilich durch Krankheit auf ein Schmerzensbett gefesselt, in Folge eines infamen Hinterhaltes als Gefangener Moritz von Sachsen in die Hände ge¬ fallen wäre, den er mit Wohlthaten überhäuft und auf den er in Bezug der Ausführung seiner kriegerischen Pläne sich verlassen hatte. Philipp erinnerte sich an alle Bündnisse der Protestanten Frankreichs und Deutschlands und kam zu dem Schlüsse, daß kein Vertrag mit der heuchlerischen, rebellischen, eidbrüchigen Ketzerei möglich sei und daß man sie erdrücken müsse, wenn man nicht von ihr erdrückt wer¬ den wolle. Wenn Philipp tolerant gewesen wäre nach Art der Philosophen unseres Jahrhunderts, welche behaupten, man müsse einem Jeden dle Freiheit lassen, Gott aus seine Weise oder auch gar nicht anzubeten; wenn er so gehandelt hätte gegenüber der glü¬ henden BekehrungSfucht der Sectirer, welche ihre Lehren durch Wort und Schwert verbreiteten; — so wäre der Katholicismus aus seinen Staaten für immer verschwunden! Philipp war der geborene Ver¬ theidiger der Religion, eben so sehr aus Interesse als aus Ueber¬ zeugung. Indem die Reformation die Einheit der Kirche zerstörte und das Princip der Autorität in Glaubensangelegenheiten angriff, traf sie das Christenthum er'ö Herz und durch Anwendung derselben Regeln auf die bürgerliche Gesellschaft strebte sie nach einer vollstän¬ digen Umwälzung dieser letzteren." „AIS die Reformation in die Niederlande eindrang, erzeigte sie daselbst fast ganz dieselben Ercesse, die in einzelnen Theilen Deutschlands durch Carlstadt, Storck und Münzer erregt wurden. Man hat gewöhnlich behauptet/ Philipp habe von Anfang an die Privilegien der Belgier unterdrücken wollen und dieser Plan habe 9-i- seine ganze Politik beherrscht. Im Gegentheil aber mußte es seine größte Sorgen sein, seine eigenen Staaten zu beruhigen und alle Keime der Zwietracht mit der Wurzel zu vertilgen, nicht aber neue hinein¬ zuwerfen. Zu einer Zeit nun, wo Glaubenssachen auf das Volk einen so ungeheuren Einfluß hatten, war unstreitig eine Religions¬ verschiedenheit eine Hauptursache aller Unruhen. Ich glaube daher, daß die Idee, unsre Nationalfreihciten durch Gewalt zu vernichten, wenn Philipp überhaupt jemals hieran gedacht hat, ihm erst spater und in Folge des Widerstandes kam, den die Insurgenten der Aus¬ führung seiner Pläne gegen die Ketzer entgegensetzten. Karl V. hatte sehr strenge Edikte zur Unterdrückung des Protestantismus in den Niederlanden ergehen lassen; in Deutschland jedoch behandelte der Kaiser, besonders Anfangs, Luther und die Reichsfürsten, die dessen Meinung angenommen hatten, mit vieler Mäßigung, weil er ihres Beistandes bedürfte, um den Türken Widerstand zu leisten. Philipp's Charakter aber ließ eine solche Mäßigung nicht zu. Ohne Zaudern machte er sich zum Vertheidiger des von den meisten andern Fürsten verfolgten oder verlassenen Katholicismus. Er war so über¬ zeugt und begeistert von dieser Sendung, daß, wie fein Biograph Leti erzählt, da er sich einst in Todesgefahr befand und die Aerzte seiner außerordentlichen Schwäche halber nicht wagten, ihm zur Ader zu lassen, er ihnen sagte: „Laßt kühn zur Ader; fürchtet Nichts; die Lage der Kirche erlaubt mir nicht zu sterben, weder an dieser Krankheit noch an diesem Aderlaß." .... Wenn Philipp dem Beispiel Heinrichs VIII. in England gefolgt wäre, so war ganz Europa protestantisch. Und sicher, wenn er lediglich die Ver¬ größerung seiner Macht im Sinne gehabt hätte, so mußte er Dieses Beispiel annehmen; denn kein Fürst hat den Despotismus so weit getrieben, als Heinrich, der zugleich der Pabst und der Alleinherr¬ scher Englands war. . . . Philipp verfolgte die Ketzerei, so weit sein Arm sie nur zu erreichen vermochte. Es war nicht seine Schuld, wenn er sie nicht in Uebereinstimmung mit seiner Gemahlin, der Königin Maria, auch in England vernichtete. Er unterstützte der Ligue, welche den Katholicismus in Frankreich vertheidigte, und ließ Heinrich IV. kein andres Mittel, diese zu zerstören, als Abschwö¬ rung des Calvinismus. Bet solchen Grundsätzen kann man wohl glauben, daß er nicht sehr geneigt war, die Reformation in seinen eigenen Staaten zu ertragen; und doch wollte er zuerst mit den gelindesten Heilmitteln es versuchen." „Mehrere unserer belgischen Schriftsteller schildern Philipp Is. als einen Tyrannen, der sich mit Wollust in Menschenblut badete, als einen Fürsten, der nur Schaffst und Scheiterhaufen träumte. Wir wollen diesen einen Geschichtschreiber entgegenstellen, den man der Parteilichkeit für Philipp II. gewiß nicht beschuldigen wird. Es ist dieß H. Groen van Prinsterer, Staatsrath in solian-- dischen Diensten, ein sehr eifriger und gläubiger Protestant und der seinem Lande und dem Hause Nassau, dessen Lob er bet jeder Gelegenheit singt, sehr ergeben ist. Man wird diesem Manne ge¬ wiß nicht den Vorwurf machen, daß er Philipp II., dem größten Feinde seines Landes und des nassauischen Hauses schmeichelt. Hören wir nun seine Worte in seinem Werke, Correspondenz des Hauses Oranien-Nassau: „Philipp war nicht in allen Be¬ ziehungen unlenksam und hart; ja man findet sogar in seinem „Benehmen zuweilen Beweise von Mäßigung. Seine Antwort auf „einen Brief Wilhelm's von Oranien vom 14. März 1563, in „welcher er (bei Gelegenheit der Angebereien gegen Granvella) sagt: ,,„Es ist nicht meine Gewohnheit, einem meiner Diener „ohne Ursache nahe zu treten,"" trägt keine Spur von Bitter¬ keit an sich. Er entließ den Cardinal Granvella; er nahm den „Grafen Egmont gut auf; und obgleich manche seiner Protestatio- „nen ohne Zweifel nicht sehr aufrichtig waren, so ist man darum „noch nicht berechtigt, überall Falschheit anzunehmen. Viele Aus¬ drücke in den Briefen von HopperuS scheinen anzuzeigen, daß der „König zur Milde geneigt war, und Philipp selbst schreibt 1567 an „den Kaiser Maximilian: er beharre noch immer in den Ge¬ fühlen der Sanftmuth und des Wohlwollens, die der „Kaiser an ihm kenne. Er ist mit Tiber und Nero ver¬ glichen worden; er ist der Dämon des Südens beigenannt „worden; aber alle diese Epitheta bezeichnen Nichts und sind „ungerecht." „Hören wir nun andre zeitgenössische Stimmen. DaS Kapitel „des goldnen Vließes lobte ihn, „daß er sei barmherzig, leut¬ selig, großmüthig, demüthig, freigebig und sehr gerechtigkettslie- „heut." Der Fürst von Oranien selbst nannte ihn (vor selner Ein- „young): „einen sa n se e n und von Natur gutmüthigen Fürsten." „Lanoue, ein eifriger Calvinist, versichert, daß Se. katholische Maje¬ stät „begabt war mit einer großen Sanftmuth und täglich Ve¬ rweise davon ablegte." Man vergleiche nun alle diese Lobeserhe¬ bungen mit den fürchterlichen Anklagen, die der Fürst von Oranien in seiner Apologie gegen Philipp erhebt und dann frage man sich, wo die Wahrheit ist? Denn es ist durch Thatsachen erwiesen, daß er sehr häufig Beweise von Seelengröße, selbst von Menschlich¬ keit gab. Ich will hier einige ohne alle Auswahl anführen. Die junge Elisabeth von England, die sich später als seine Todfeindin zeigte, wäre als Opfer des Mißtrauens der Königin Maria gefallen, wäre nicht die gewichtige Dazwischenkunft Philipps II. gewesen, der bei seiner Gemahlin sich ihre Gnade ausbat. Bei der Einnahme von Se. Quentin that er Alles, was in seinen Kräften stand, um den Einwohnern die Gräuel einer Plünderung zu ersparen, eine Art von Mäßigung, die zu jener Zeit überaus selten war. Aus seiner Korrespondenz mit Margarethe von Parma, der Regentin der Nie¬ derlande, ersieht man, daß er Noircarmes, dem Gouverneur des Hennegau, nicht erlauben wollte, Valenciennes gewaltsam zu erobern, obgleich es voll protestantischer Rebellen war, weil er die Folgen eines Sturmes fürchtete, unter welchen die Unschuldigen und Schul¬ digen in gleichem Maße leiden könnten. Zwar wurde Valenciennes doch erstürmt, aber in Folge ausdrücklicher Befehle deö Königs fanden weder Niedermctzlungen noch Plünderungen, noch irgend Beleidigungen gegen die Besiegten Statt." „Leti, der das Leben dieses Fürsten im Allgemeinen mit sehr „vieler Strenge beschrieben hat, entwirft folgendes Gemälde von „seiner Regierung, das mit dem heutigen konstitutionellen Spanien „zu vergleichen wohl von nicht geringem Interesse wäre. „Mitten „unter den Kriegen, welche die Christenheit zerfleischten, waren es „Spanien und die Besitzungen des katholischen Königs allein, die „durch die Sorgfalt und den Muth dieses Monarchen eines tiefen „Friedens genossen. Es herrschte daselbst eine so große Sicherheit, „daß man nicht bloß am hellen Mittag, sondern auch um Mitter¬ nacht eine Börse in offener Hand tragen konnte, ohne die Räuber „zu fürchten. Die andern Nationen, weit entfernt, sich eines ähn¬ lichen Glückes rühmen zu können, befanden sich in einem unsäglich „trostlosen Zustande, in altem Elend und Gräuel des Krieges. „Griechenland, die Tartarei, Ungarn, Böhmen, Siebenbürgen, Polen, „Deutschland, Frankreich, Holland, Seeland, Schottland und mehrere „Theile Italiens befanden sich in diesem jammervollen Zustande. ... „Die von ihren Herrn mißhandelten Bedienten, die von ihren „Gutsherrn unterdrückten Vasallen, die unglücklichen Schlachtopfer „der Tyrannei der Mächtigen, die Gläubiger, denen man ihre „Schulden nicht bezahlen wollte, — alle fanden eine sichere Stütze „an Seiner Majestät in Person, in seinem Rath, in seiner Kanzlei „und in seinen Gerichtshöfen. Wußte er, daß ein Grand von „Spanien der Schuldner eines Handwerkers sei, so schickte er, — „und das ist ein Beweis seiner Gerechtigkeiöliebe—ohne des Gläu¬ bigers Rang und Würde in Betracht zu ziehen, ohne Murren zu „befürchten, einen seiner Officiere, um die in Rede stehende Summe „zu holen, mochte es sich auch nur um eine Schuld von 4—5 Thalern „handeln 5). Die Granden von Spanien und die Adligen von der „höchsten Abkunft waren dermaßen unterworfen, daß sie einander „die Ehre streitig machten, einen Häscher gut zu behandeln, der „von Seiten der Gerechtigkeit kam, um irgend einen Auftrag zu „vollziehen. ...... Ost ereignete es sich, daß ein armer Geist-- „licher, der gelehrt und fromm, aber unbekannt, tief versteckt im „Innern einer Provinz lebte, fern von der Welt und dem Hofe, „plötzlich die Nachricht seiner Ernennung zu einem Canonicat, einer „Prälatur, einem Bisthum erhielt, ohne daß er errathen konnte, „woher ihm dies Glück kam. Aber sein für jeden Andern verbor¬ genes Verdienst war den forschenden Blicken Philipp'S nicht ent¬ gangen und seine Erhöhung war nur ein Beweis mehr von der „strengen und umsichtigen Verwaltung deö Königs." . . . . „Eine tiefe Weisheit leitete alle seine Handlungen und sie war „der unermeßliche Schatz, in dein er fortwährend Hülfsmittel fand, „um während so langer Zeit, als er herrschte, Spanien, Indien, Wir heutzutage würden freilich vorziehen, daß der Fürst die gesetzmä¬ ßigen Obrigkeiten handeln lasse; aber gerade dieser Zug malt den Charakter Philipps, der durch Despotismus zur Gerechtigkeit kommen wollte und dessen Auge und Ha»d sich überall fühlbar machen sollte». Anm. d. Berf. „Italien und die Niederlande mit stets gleicher Gemüthsruhe zu re¬ agieren. Obgleich in seinem Palaste in Madrid eingeschlossen, ort- „rede er doch alle Angelegenheiten zu Lande und zur See, in Krieg „und Frieden, ja man kann sogar sagen, in der ganzen Welt, denn es gab keinen Herrscher, der nicht entweder sein Verbündeter oder „sein Feind war. Er widmete seine Sorgfalt der Leitung so „vieler verschiedenen Königreiche, ohne daß die ungeheure Entfernung „der Orte auch nur die geringste Unregelmäßigkeit, die mindeste „Störung in seinen Berathungen verursachte, ohne daß ihn die von „den Verhandlungen und dem ganzen Getriebe der Politik unzer¬ trennlichen Schwierigkeiten und Hemmnisse in irgend einer Art be¬ unruhigten. Die Menge der Unternehmungen, die er leitete, „schwachem sein Gedächtniß nie; niemals schien er von diesem Chaos „von Geschäften ermüdet oder angeekelt: er hatte von allen seinen „Angelegenheiten eine jede in's Besondre, aus eine so genaue, so „streng geschiedene Weise inne, daß er die Einzelheiten derselben ent- „wickelte, als hätte er nur diese eine im Kopfe gehabt." „So weit Leti, dem wir jedoch, wenn er auch im Ganzen vollkommen Recht hat, in so weit widersprechen müssen, als wir der Meinung sind, daß, so groß auch Philipp'S Genie gewesen sein mag, doch sein Widerwillen, sein Cabinet zu verlassen und die Art von Abscheu, die er gegen alle körperliche Bewegung hatte, so wie seine Abneigung gegen Reisen, viel dazu beigetragen haben, seine Geschäfte zu verwickeln, und daß der letztere Umstand besonders in den Niederlanden ihm verderblich war, indem durch diese Abwesenheit hauptsächlich der Verlust eines Theils derselben herbeigeführt wurde." „Philipp, der Sieger von Gravelines und Se. Quentin, der Beschützer der Ligue, ist von französischen, katholischen Geschicht¬ schreibern sehr schlecht behandelt worden; man sehe unter andern den Fortsetzer von Fleury'ö Kirchengeschichte und man wird erstau¬ nen, alle abgeschmackten Verleumdungen seiner Feinde da wiederholt zu finden." „Und doch steht es fest," sagt Ferreras in seiner allgemeinen „Geschichte Spaniens, „daß Philipp in die katholische Ligue nur „aus wahrem Eifer für die katholische Religion eintrat, um zu ver¬ hindern, daß die Krone Frankreichs einem Kehersürsten anheimfalle, „und aus Furcht, es möchte mit diesem Königreiche gehen wie mit „England, Dänemark und Schweden, in welchen Ländern nach dem „Beispiel der Herrscher auch die Völker die katholische Religion „abgeschworen hatten. Daher muß ihm das katholische Frankreich „für die Truppen und das Geld, welches er zur Unterstützung der „Ligue verwandt, großen Dank wissen, weil ohne ihn König „Heinrich IV. vielleicht nie in den Schooß der römischen Kirche „gekommen wäre..... Jedoch kann man nicht umhin, einzuge-- „stehen, daß er in der Folge den Eifer, mit dem er sich für die „Ligue erklärt, verdunkelt hat, indem er sich zu sehr bestrebte, seiner „Tochter Elisabeth Clara Eugenie die Krone Frankreichs auf's „Haupt zu setzen, entweder durch Geltendmachung des eingebildeten „Rechts der Mutter dieser Prinzessin oder durch ihre Vermählung „mit dem Prinzen, der bestimmt war, dereinst diese Krone zu „tragen." .... „Wer weiß nicht," sagt der Bischof von Namur, Jakob Bla- sens in seiner am letzten Tage des JahreS 1598 in der Se. Gudula- Kirche zu Brüssel gehaltenen Leichenpredigt auf Philipp II. — „Wer weiß eS nicht, daß die allerchristlichsten Könige von Frankreich schon lange den ruchlosen, vatermörderischen Waffen ihrer rebellischen hugenottischen Unterthanen erlegen wären, wenn nicht dieser Monarch ihnen zu Hilfe gekommen wäre, ohne hierin etwas zu sparen? Es bezeugen dies die Tage von Dreur, von Se. Denis, von Moncontour, die Belagerung von Castel-Hvrauld, um Poitiers zu entsetzen! Zeugen sind dessen die erlauchten Herren Grasen von *) Obgleich dieses Stück in dem schlechten, schwülstigen Geschmack jener Zeit geschrieben ist, so theilen wir doch mehrere Stellen desselben mit, weil es ein zeitgenössisches Zeugniß ablegt von dem Urtheil, das man damals in Belgien über Philipp II. fällte, und we.it es, trotz der überladenen Sprache und des schwerfälligen Styls und mancher rednerischen Uebertreibungen, doch viele sehr richtige Bemerkungen über den Charakter und das Leben dieses Fürsten ent¬ hä Anm. d. Verf. lt. Wir unserer Seits haben dies Stück unsern Lesern um so weniger vor¬ enthalten zu dürfen geglaubt, da es überaus selten ist und in Deutschland bis¬ her gewiß nur sehr Wenigen bekannt war. Anm. d. Red. Arenberg, von Mansfeld uno so viele andere Edelleute, Haupt- leute uno Soldaten, sowohl aus diesen Provinzen, als aus Spa¬ nien, welche alle von dem allerkalholischsten König dem allerchrist- lichsten, von den Waffen und Gewaltthaten der Ketzer fast erdrückten Königreich zu Hilfe gesandt wurden! Und weshalb hat er dies gethan? Wollte er etwa König von Frankreich werden und sich einen fremden Staat aneignen, wie dies eben so unverschämter als unsinniger Weise verleumderisch von denen behauptet wird, die nichts zu thun wissen, als zu lügen und zu verleumden? Wahrlich nicht deshalb, that er es; denn König Karl IX. lebte ja noch und die Königin Maria war hoffnungsreich an Kindern und Erben; es lebten noch zwei Brüder des Königs, jung und gesund, die Herzoge von Anjou und Alm«.wu. Weshalb denn also hat er eS gethan? Weil er als ein durchaus christlicher Fürst nie den Streit Jesu Christi verlassen wollte, wo eS auch immer war; weil er als der allerkathvlischste König der katholischen Kirche helfen und sie aufrecht erhalten und unterstützen wollte, wo sie auch immer von ihren Fein¬ den angegriffen und bedrängt wurde. Und weil er dem überaus religiösen Hause Oesterreich entsprossen war, wollte er von der Fröm¬ migkeit und dem glühenden Eifer seiner erlauchten Ahnen nicht nachlassen. Und weil er ein weiser Fürst war, sah er sehr wohl ein, daß es kein verderblicheres Gift, keine tätlichere Pest und nichts vor Gott Abscheulicheres und dem Staate Verderblicheres giebt, als die Ketzerei . . „Und wo sind die Satzungen und Constitutionen der Kirche, besonders des Heiligen-Concils von Trident, besser gehalten und beobachtet worden, als in den Königreichen, Ländern und Pro¬ vinzen dieses Monarchen? Und mit welcher Unterwürfigkeit, De¬ muth und Frömmigkeit, mit welchem Eifer und Fleiß hat er. die Wiederaussöhnung deS Königreichs England mit dem heiligen Stuhl bewerkstelligt, sobald er durch Heirath König daselbst geworden? — Und damit nicht zufrieden, hat er Bischöfe, Priester und Mönche verschiedener Orden nach Indien, Mexico, Florida, Peru und anders¬ wohin gesandt und hat daselbst viele Kirchen, Klöster, Collegien der Väter der Gesellschaft Jesu, so wie Schulen begründet und sie er¬ bauen lassen, damit in diesen Gegenden unsere heilige Religion um so besser und ausgebreiteter sich fortpflanze und die Kenntniß und Anbetung Gottes zum Heil ihrer Bewohner sich verbreite . . . Und er zuerst hat bei unserem heiligen Vater, dem Pabst, die Errichtung und Einsetzung 13 neuer Bisthümer und dreier Erzbisthümer in unseren Provinzen zu Wege gebracht, und er hat darum nachge¬ sucht, daß diese Bischofssitze an wachsame Hirten und an Personen verliehen würden, die in der Gelehrsamkeit sich auszeichneten und ein Muster religiösen Lebenswandels wären. . . . Und damit noch nicht zufrieden, hat er den Eifer unserer Ahnen nachgeahmt, die den Apo¬ stelzeiten näher standen, und hat gleich diesen Schulen errichtet und begründet, um die Schüler darin das Christenthum und auch an¬ dere Wissenschaften zu lehren, und ihnen so Waffen gegen die Feinde des Glaubens, sowohl Ungläubige, als Ketzer, in die Hände zu ge¬ ben. ... So hat König Philipp II. die Universität Donay gegrün¬ det: er hat ein großes und edles Collegium in seinem eigenen Hause in besagter Stadt eingerichtet; sodann hat er errichtet und begründet mehrere Seminarien sowohl an dieser Universität, als auch an der von Löwen, und in Spanien, in Valladolid, und in Se. Omer in Artois für die armen ausgewanderten katholischen Engländer.... Und wenn David mehrere Psalmen und Gesänge verfaßt und geschrieben, so hat ihn dieser Fürst nicht übel nachgeahmt, indem er uns nicht blos die Psalmen, sondern die ganze heilige Schrift verschafft hat, gereinigt von der Spreu der Irrthümer, welche der Teufel durch seine Diener hineiugesäct hatte. Gleichermaßen hat er die Buchdruckerei reinigen lassen, diese Säugamme der Wissenschaften und Künste, und darum schätzte er so hoch diesen Meister der Buchdrucker unseres Zeitalters, Plantin, dessen er sich bediente, um von Neuem erscheinen zu lassen diese herrliche Complutcnsische oder Alcala'sche Bibel, ursprünglich eine Erfindung des großen Cardinals Zunenes von Toledo, die aber in unserer Zeit durch den Fleiß des großen Gelehrten Urias Mon- tanus und anderer hochgelahrten Theologen, welche auf den Befehl des Königs zu dieser Arbeit verwendet und berufen wurden, bedeu¬ tend verbessert und vermehrt worden ist. . . ." „ES handelt sich heutzutage für die unparteiische Geschichts¬ forschung nicht darum, Philipp II. zu rechtfertigen, noch ihn anzukla¬ gen, sondern sein Benehmen nach den Thatsachen und Meinungen seines Zeitalters zu erklären. Philipp hatte, als er das Scepter aus den Händen seines Vaters übernahm, durch feierlichen Eid versprochen, die Religion gegen ihre Feinde zu vertheidigen. Als katholischer König glaubte er, Gott für das Heil seiner Unterthanen verantwort¬ lich zu sein: die Sectirer waren in seinen Augen schlimmere Ver¬ brecher als Giftmischer und Mörder, weil sie die Seelen tödteten: sein Mitleid ward nur zu Gunsten der Schlachtopfer, nicht der Schuldigen rege und seine Strenge ward durch seine Frömmigkeit selbst gereizt. Ich weiß wohl, daß diese Ideen mit den Grundsätzen religiöser Duldung oder Gleichgiltigkeit, die jetzt herrschen, nicht übereinstimmen; daß ein solcher König nach dem Urtheil derer, welche die Freiheit und Unverletzlichkeit der Glaubensansichten pro- clamiren, nur ein Verfolger und Tyrann sein kann; aber ich wie¬ derhole auch nochmals, daß in den Augen seiner Zeitgenossen, welche die protestantische Jnsurrection und die aus derselben für Religion und Staat erwachsenden Gefahren selbst mit ansahen, Philipp keineswegs in diesem Lichte erschien." „Jene Zeit konnte ihm den Vorwurf der Grausamkeit um so weniger machen, da die Grausamkeit leider eins der unläugbaren Charakterzeichen Mes unglücklichen Jahrhunderts war und alle Par¬ teien in Politik und Religion sich damit befleckten. Ich erinnere nur an Calvin's Traktat über die von ihm mit einem schrecklichen Raffinement von Grausamkeit veranstaltete Verbrennung des un¬ glücklichen Server, und an die abscheulichen Grausamkeiten, welche die calvinistischen Generale Sonnoy und Lumep gegen arme hollän¬ dische Bauern, friedliche und harmlose Katholiken begingen. Selbst die aufgeklärtesten Geister jener Zeit litten an diesem Uebel. So giebt Granvella, der seinen persönlichen Feinden sehr leicht verzieh, dein König Philipp den Rath, er solle auf Oranien's Kopf einen Preis setzen, weil, wie er sagt, „man demjenigen, der gegen leinen Fürsten das Schwert gezogen, weder Schonung noch Mitleid schuldig ist." „Nach dem Geiste dieser Zeit muß also auch Philipp II. und seine Regierung beurtheilt werden; denn Niemand steht außer sei¬ ner Zeit." II. Anton Perrenot von Granvella^). „Anton Perrenot von Granvella ist einer jener Männer, welche die Parteien so verschieden beurtheilt haben, daß man noch heute über die Rolle nicht einig ist, die er in den Uneinigkeiten spielte, welche unter seiner Verwaltung in Belgien ausbrachen und nachher in offenen Krieg ausarteten. Von Jugend auf in der trefflichen Schule Carl's V. gebildet, der hohe Fähigkeiten in ihm erkannte, ging er in den Dienst Philipp's über, der, nachdem er ihn seiner¬ seits ebenfalls geprüft, ihm zuletzt das vollkommenste Vertrauen schenkte. Er übertraf seinen Vater, einen der großen Staatsmänner jener Zeit, an Talenten und Berühmtheit. In seiner Jugend wohnte er den Reichstagen von Worms und Regensburg und dem Triden- tinischen Concil (1543) bei, wo er mit vieler Energie und Politik Franz I. schilderte, den unzertrennbaren Bundesgenossen der Prote¬ stanten und Türken, während die Christenheit ringsumher von Stür¬ men zerrüttet wurde; unter schwierigen Verhältnissen schloß er später den Vertrag von Passau ab; mit großer Geschicklichkeit leitete er von fern die Heirath Philipp's von Spanien mir der Erbin des englischen Thrones; und er war es, der im Rainen seines neuen Herrn Frankreich die Bedingungen des Vertrages von Chatecm- Cambrvsis dictirte. Er war ein Mann von unersättlicher Thätig¬ kett und von solcher Körper- und Geisteskraft, daß er im Nothfalle Tag und Nacht ununterbrochen arbeiten konnte, ohne Ruhe oder Speise zu genießen: dies kam ihm übrigens mit Karl V. mehrere Male zu, denn dieser brauchte Werkzeuge, die ihm selbst glichen. Er war stets in Nachdenken begriffen oder mit Schreiben beschäftigt, wie dies seine wunderbare Correspondenz beweist. Strada sagt, er habe eine Wir geben diese, demselben Werke entlehnten Stellen über diesen merkwürdigen Mann, der vierzig Jahre hindurch das Vertrauen des mi߬ trauischen Philipp II. besessen und der mit seinem Herrn das Schicksal einer Darstellung mit sehr dunklen Farben theilt, gewissermaßen als Komplement ' zu der von Gerlache versuchten Zllustrirung Philipp's: auch für den Minister spielt Gcrlache die Rolle des Advocaten. Anm. d. Red. so gefügige Natur besessen, daß er mit einem spanischen Fürsten sich ganz zum Spanier machte, und er sei von so durchdringendem Geist gewesen, daß er alle Gedanken Philipp'S in Voraus errieth: er habe sich aber um diesem auf seine Macht sehr eifersüchtigen Fürsten seine Kraft zu verheimlichen, damit begnügt, ihm die Angelegenhei¬ ten darzustellen und von allen Seiten zu beleuchten, ohne daß er daraus Schlüsse zu ziehen schien, so daß er sich scheinbar stets be¬ schränkte, die Entscheidungen des Herrn wie göttliche Inspirationen anzunehmen und blindlings zu ergreifen, während sie in Wahrheit von ihm herbeigeführt worden warm. Dasselbe Verfahren habe er mit der Regentin Margaretha von Parma befolgt und so sei es ihm gelungen, sich stets, selbst in den mehrfach schwierigen Lagen, in de¬ nen er sich befand, sich in der Gunst seiner Herrn zu erhalten. So viel ist sicher, Granvella war ein Mann von außerordentlicher Ge- schicklichkeit; sehr unterrichtet in allen Staatsangelegenheiten, beson¬ ders in den die Niederlande betreffenden: daher er auch nie in Verlegenheit geriet!), sondern für Alles Aushilfe fand. Er besaß, was man , damals Staatsgeheimnisse nannte. Was heut¬ zutage, unter der Herrschaft der Oeffentlichkeit, eine Art Unsinn scheinen würde, war unter einer unbeschränkten Herrschaft, die so viele verschiedene Nationen umfaßte und so complkirte Details ent¬ hielt, in der That ein großes Geheimniß. Seine Feinde sagten, er sei ehrgeizig und habsüchtig und liebe den Lurus und die Vergnü¬ gungen mehr, als einem Priester zukomme. Sie warfen ihm ferner vor, daß er sich zu anmaßend und zu stolz auf seine Macht zeige, er, der Sohn eines Emporkömmlings, gegenüber dem hohen Adel der Niederlande, der damals um so weniger geduldig war, je schlech¬ ter er behandelt wurde. Aber ohne behaupten zu wollen, daß Gran¬ vella ganz fehlerfrei war, kann man versichern, daß sein Hauptver¬ brechen darin bestand, daß er sich zu allen Zeilen und an allen Or¬ ten den Comploten der Feinde des Staats entgegenstemmte und dieselben durch seine Wachsamkeit, seine Einsicht und seine Festigkeit hinderte und schreckte." „Granvella in seiner Zurückgezogenheit, wie, da er noch die Macht in Händen hatte, machte von seinen ungeheuren Einkünften und seinem bedeutendem Einfluß nur den edelsten Gebrauch. Durch reichliche Unterstützungen ermuthigte er Künstler, Gelehrte und Schriftsteller. Der junge Justus Lipstus, dessen Talent er beim Beginn seiner Laufbahn errathen, war seinSecretair: Sifried Petri und Stephan Pighius waren seine Bibliothekare. Unter seiner Pro- tection wurden in der Magistratur die berühmten Rechtsgelehrten Pack und Damhoudere, und in den Nathsversammlungen des Kö¬ nigs zwei der ausgezeichnetsten Staatsmänner jener Zeit, Viglius und HopperuS, erzogen. Granvella beschäftigte sich nicht allein mit Politik und Literatur, sondern auch mit Astronomie, Physik, Arznei- kunde und Naturwissenschaften. Sein ausgedehnter und feuriger Geist umfaßte Alles. Er stand mir den berühmtesten Männern aller Länder in Verbindung und viele derselben erhielten von ihm oder durch seine Vermittlung Stellen, ehrenvolle Auszeichnungen und Pensionen: man kann die Zahl derselben darnach messen, daß ihm, wie man versichert, mehr als Jot) Werke dedicirt worden sind. Er beschützte die Altl in Italien und Plantin, der Belgien eben so viel Ehre machte, alö die Atti ihrem Lande. Gleich allen Männern von großen Absichten arbeitete er für die Zukunft; er stiftete an vielen Orten Museen, Gymnasien und öffentliche Bibliotheken." „Niemand ist unter uns mehr verleumdet worden als Gran- vella, und doch hat Niemand mehr als er sich bemüht, den Belgiern schreckliches Trübsal zu ersparen. Sein Jahrhundert begriff ihn nicht, weil er mitten unter den wüthendsten politischen Leidenschaften lebte und gezwungen war, gegen sie zu kämpfen. Granvella hat alle protestantischen und den größten Theil der ausländischen Schrift¬ steller gegen sich gehabt, weil er voll Eifer für die von allen Seiten angegriffenen Interessen der Religion und seines Fürsten war. Und doch war er weder fanatisch, noch grausam, eine seltene Erscheinung zu jener Zeit. Aus Charakter sowohl als aus Politik zeigte er sich als einen Gegner gewaltsamer Maßregeln und unter Andern: der spanischen Inquisition. In der Angelegenheit des BajaniömuS legte er einen Beweis seiner Sanft- und Langmuth ab, indem er sie ohne Geräusch ersticken wollte. Obgleich er alle Pläne des Schweigsa¬ men, seines Todfeindes, durchdrungen und entlarvt hatte, wollte er ihn doch nicht durchaus verderben; sondern er verlangte nur, wie dies seine Korrespondenz mit Philipp beweist, daß man ihn aus dem Lande entferne, wäre es auch um den Preis eines Vice-- Königthums. Nicht den Belgiern also kommt es zu, ihre Stimmen mit denen der Verkleinerer Grcmvella's zu verbinden. „Die Belgier dürfen nie vergessen/' sagt der Präsident Neuy, „was sie den bei¬ den Perrenots verdanken; ihr Ministerium war ein goldenes Zeitalter für diese Provinzen." T a g e b u eh. i. Brief aus Paris. Da» Testament de» Herzogs von Orleans. — Die Wahlen. — Zwölf Stimmen und zwölf Stamme. — Guizot'S goldcnstrahlcnde Sonne. — Jeremias auf den Trümmern von Paris. — Ein Supplement zu Aristophanes' Fröschen. — Ein moderner Achill, aber mit unvcrwnndendcr Zuna,e. — Ccrflieer und Meyerbeer.— Kerd iullixuato, sondern ub iuäiAu». Der Herzog von Orleans hat Frankreich ein reiches Testament zurückge¬ lassen. Zwar werden Sie in den französischen Journalen vergebens die einzel¬ nen Punkte desselben suchen; denn die Franzosen haben es nicht verstanden: wir Deutschen aber verstehen es. „Nur ein Mal raffte sich der Herzog aus seiner Agonie auf," — werden Sie in allen Berichten über seinen Tod fin¬ den — „er schien sprechen zu wollen, verfiel aber sogleich in ein Delirium und stammelte einige deutsche Worte- „macht die Thür zu, es ist draußen Feuer." *) Die letzten Worte des französischen Thronerben waren deutsch: der ahnende Geist der Geschichte gab hier einen wunderbaren Fingerzeig für die Zukunft. Welche Ereignisse, welche ungeheuere Weltveränderung der Tod des ältesten Sohnes Louis Philipp's herbeiführen kann, weiß Jedermann. Wird Frank¬ reich seine letzten Worte sich zu Herzen nehmen? Da draußen steht der junge Herzog von Bordeaux, umgeben von seinen Partisanen, die triumphirende und hoffende Blicke mit den Legitimisten wechseln; Rußland sucht einen neuen ') Siehe SiSclc vom ti. Juli. 10 Schwiegersohn — wird Frankreich an den schwachen Wurzeln der Julidynastie rütteln? Macht die Thüre zu, es ist draußen Feuer. Und Euch vor Allen, ihr Republikaner, mit den kriegerischen Gedanken, mit den rheinlustigen Ideen, Euch vor Allen sollte dieser Ruf zu Herzen gehen. Bewacht die Frei¬ heit Frankreichs im Innern Eures Vaterlandes, umringt seinen heiligen Heerd als eine kräftige Schaar und die Völker Europa's werden es Euch Dank wis¬ sen; aber reißt nicht mit übermüthigen Händen die Thüren Frankreichs auf; denn es ist draußen Feuer." Ich habe mir vorgenommen, so wenig als möglich die Politik in meinen Briefen an Sie zu berühren; allein „wessen das Herz voll ist, dessen geht der Mund über," sagt ein deutsches Sprichwort. Mögen Andere Ihnen über die neuen Stücke für die Boulevardtheater, über die langweilig-klassischen Reden in der Akademie, über Eugöne Sue's neueste Romane berichten; ich meiner¬ seits gehöre nicht zu den großen Geistern, welche ruhig die Mährchen der tau¬ send und einen Nacht lesen, während der Brand die Stadt verheert; ich besitze nicht den Geist des Archimedes, der, während der Feind in der Nähe mit Feuer und Schwert wüthet, sich ruhig seinen Cirkeln überläßt. Das Resultat der französischen Wahlen ist doch etwas wichtiger für die Ereignisse der Zu¬ kunft, als das Resultat der Badischen Kammerwahlen. Mit aller Hochachtung vor Itzstein: der silberne Ehrenbecher, den man ihm überreicht hat, wird kein so bitteres Getränke für die Regierung enthalten, als die Urne, aus welcher der Stimmzettel gezogen wurde, der die Herren Marie und Earnot, zwei ent¬ schiedene Republikaner, zu Repräsentanten von Frankreich macht. Man täusche sich nicht: die zwölf Oppositionsmitglieder, welche die Stadt Paris wählte, sind eine furchtbare Besatzung für die Festungemauern, welche Louis Philipp bauen läßt: und wenn einst die Mauern von Jericho vor dem Tone der Hörner, welche die zwölf Stämme von außen ertönen ließen, niederstürzten, so könnte hier leicht der Fall eintreten, daß zwölf Stimmen, die von innen ertönen, noch größere Risse hervorbringen. Das Geschäft eines politischen Propheten ist sehr undank¬ bar und ich überlasse es jedem Andern, das Gewitter zu prophezeihen, welches die Sonne Guizot's, trotz ihrer goldenen Strahlen, in deren Versendung sie nicht allzusparsam war, nicht zerstreuen konnte. Ich will dem getauften Jere- mias, dem Herrn Baron von Eckstein, nicht ins Handwerk greifen und, aus den Trümmern von Paris sitzend, Klagelieder in "die Allgemeine Zeitung wei¬ nen. Seitdem fast jede Stadt ihre eigene Börse besitzt, braucht man ja nur die Bewegung der Frösche daselbst zu beobachten und man erspart jeden an¬ dern politischen Barometer. Der Pariser Froschteich gegenüber dem Vaude- villetheatcr bst einen wunderbaren Anblick den Tag nach der Wahl: grüne Froschgesichter überall Sind doch fünf der Ihrigen auf's Trockene gekommen: fünf Bankiers mit konservativen Geldsäcken. Und darunter Fould, Benoit Fould, der große Eisenvahnseind, der conservative Freund der langsamen Fvrt- schrittswege. Zwar hat man seinen Bruder gewählt, den Achill „mit den un¬ nahbaren Händen;" aber Achilles Fould hat mit seinem großen griechischen Na¬ mensbruder das gemein, daß auch er an einer Stelle sterblich ist; leider ist es nicht die Ferse, sondern die Zunge. Der neue ministerielle Deputirte aus dem dem Stamm der Mos-nten (dieses Wort wurde in Dänemark erfunden; Mosaiken statt Juden ist eine großartige Erfindung, die eines Privilegiums auf30 Jahre werth ist) hat den kleinen Fehler, daß er stottert und bei jedem Worte mit der Zunge anstößt: das Ministerium scheint jedoch daran keinen Anstoß genom¬ men zu haben; denn ihm ist es weniger darum zu thun, daß man spreche, als daß man schweige. Herr Achilles Fould wird es ganz Frankreich beweisen, wie Unrecht man seinen Glaubensgenossen thut, wenn man sie anklagt, überall das große Wort führen zu wollen: er wird vielmehr als ein Muster der Schweig¬ samkeit mit dem heiligen Johannes von Nepomuk concurriren. Ob sein neu erwählter College und Glaubensgenosse, Herr Cerfbecr, auch in die Kammer als Papageno mit dem Schloß am Munde und dem ewigen dem, dem tre¬ ten wird, ist noch nicht vorauszusagen: das Programm, das Herr Cerfbeer den Wählern vorlegte, ist so unarticulirt gewesen, daß beide Parteien ihn zu den Ihrigen zählten: die Conservativen und die Opposition, beide nennen unter den, neuerwählten Deputirten ihrer Meinung Herrn Cerfbecr. Da der neue Deputirte einen zusammengesetzten Namen führt, so wird er denselben wahr¬ scheinlich so zu theilen wissen, daß er der einen Partei den Cerf, der andern den Bären anhängen wird. Die Cerfbeers bestehen, wie die Meyerbeers, aus drei Brüdern; der eine, jetzt zum Deputirten erwählt, ist Oberstlieutenant und Bureauchef im Kriegsministcrio; der zweite ist Sous-Intendant, gleichfalls beim Militair, und der dritte endlich ist Schriftsteller und der famose Ueber- setzer der Kinderschriften unseres Canonicus von Schmid. „Die Ostereier, wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntniß Gottes kam, und die Geschichte der heiligen Genoveva" werden durch eine israelitische Feder,'dem jungen Thronerben von Frankreich (die Uebersetzungen sind dem Grafen von Paris gewidmet) dio Principien des katholischen Glaubens einflößen; was eine sichere Garantie sei¬ nes Kosmopolitismus ist. Es ist dies eine Vorsichtsmaßregel, welche die französischen Juden anwenden, damit, wenn dieser junge Prinz zur Regierung kommt, er nicht aus Hochachtung für die alte Religion und die mannigfalli- eigen Schicksale der mosaischen Glaubensgenossen ihnen das Bürgerrecht nehme, wie dies in Preußen mit so cousequenter Motivirung der Fall sein soll. Die französischenJuden haben jetzt drei Deputirte in der Kammer, die beiden erwähnten und den Herrn Crvmieux; letzterer gehört der Opposition an ; und diese scheint von der Damasc c n erklin ge seiner Beredsamkeit große Thaten zu erwarten. Herr Crvmicur hatte sich bisher darauf beschränkt, in den Processen der Oppositions- Journalc dieselben vor den Tribunalen stets so zu vertheidigen, daß sie zu einem Jahr Gefängniß und zu einigen wenigen Hunderten oder Tausenden von Francs Strafe verurtheilt wurden. Dabei hatte dieser Advocat immer eine glückliche Bertheidigungsmcthodc. Wenn man den Charivari vor Gericht belangte, so kam der Anwalt Crvmieur und sagte: „Wie könnt Ihr doch so wahnsinnig sein, meinen Clienten so ernsthaft anzuklagen: es ist ja lauter dummes Zeug, was er schreibt, ohne allen Werth, nichts als Spaß und Pos¬ senreißer«, um das sich kein Mensch kümmert, das also auch nicht gefähr¬ lich sein kann." Welche Methode dieser Redner in seiner Kammerwirksamkeit entwickeln wird, ist noch unbekannt. Doch genug hiervon: will mir doch der scherzende Ton heute nicht recht gelingen: die Todtenglocken hallen von Neuilly herüber so dumpf ins Ohr und rufen mir immer wieder das blutige Bild des armen Herzogs von Orleans vor die Augen. Ich hätte es wahrlich nie gedacht, daß die Pariser Bevölke¬ rung so lange traurig sein könne, als sie es dies Mal zeigt: freilich gilt ein guter Theil dieser Trauer mehr den rein menschlichen, den Familicnbezichungen, dem greisen Bater, der thränenreichen Mutter, als dem Thronerben als sol¬ chen; aber auch in seiner Persönlichkeit wird der Herzog sehr viel betrauert; denn es ist nicht zu leugnen, er war beliebt beim Volke, das in seiner energi¬ schen Sprache von ihm sagte: bravo xareon, pss ilier. Und auch das Mili- tair, das ihn zum großen Theil vor Antwerpen und bei seinem mehrmaligen Aufenthalte in Afrika kennen zu lernen Gelegenheit hatte, — und man weiß wohl, des Soldaten Urtheil ist streng und ungetrübt; er verlangt, daß man mit seiner Person zahle, sei man Prinz oder Trainknecht, — auch die Truppen bedauern ihn! sie hatten ihn in ihrer pittoresken Redeweise einen el^us trou- xier genannt. Kurz er war in allen Klassen Iber Gesellschaft beliebt; denn für die Höherstehenden besaß er eine so anmuthige ILiebenswürdigkcit und Herz¬ lichkeit, daß man nicht lange in seiner Nähe sein konnte, ohne ihn wahrhaft lieb zu gewinnen. Ich will Sie zum Beweise dieses seines überaus feinen, gemessenen und doch die Gemüthlichkeit gewinnenden Benehmens nur daran erinnern, welche wohlwollende Aufnahme er sich am Berliner Hofe zu ver- schaffen wußte, dessen Gesinnungen ihn nur eine kalte höfliche Behandlung er¬ warten ließen, wie man sie ihm auch in der That Anfangs zugedacht hatte, die aber sehr durch das Wohlgefallen, das der verstorbene König an ihm fand und öffentlich bezeigte, umgewandelt ward*). Die erste Stufe zu dieser Popularität und Beliebtheit in Frankreich hatte übrigens sein Vater für ihn und seine Brüder durch ihre weise Erziehung in den öffentlichen Collegien gelegt, die sie mit vieler Auszeichnung besuchten. Es machte damals ein ungeheures Aufsehen, daß ein Prinz von Geblüt sich mitten unter den Söhnen einfacher Bür¬ ger auf den Bänken des Collvge Henri IV. hinsetzte: — er hatte nicht etwa, gleich den adligen Studenten in Göttingen, einen abgesonderten, erhöhten Platz: — heutzutage aber sind die Pariser schon daran gewöhnt, daß sie die Prinzen (jetzt nur noch den jüngsten) in ihrer Kutsche in Begleitung ihres Erziehers an den Thüren der Collegien ankommen sehen. So war es auch mit dem jetzigen Herzog von Orleans, damals noch Herzog von Chartres. Aber ein Mal außer der Kutsche hörte er völlig auf Prinz zu, sein und wurde nun der Kamerad seiner Mitschüler. Daß er übrigens die im College ihm gewordenen Auszeichnungen des Fleißes wirklich verdient hat, darauf kann man sich ver¬ lassen; denn im Gegentheile würden seine Mitschüler ein stärkeres Geschrei dar¬ über erhoben haben, als die Oppositionsjournale anstimmten, da er, nachdem er im Feuer von Antwerpen und Mascara unzweifelhafte Proben seines Muthes abgelegt hatte, zum Generallieutenant ernannt wurde. , Und doch hatte es dem Herzog weder an theoretischer noch an praktischer Bildung für den Militairstand gefehlt; denn neben der Erziehung, die er im Col¬ lege erhielt, ward ihm privatim von den bedeutendsten Lehrern ein anhalten¬ der Unterricht in Geschichte, Geographie, Mathematik, Naturwissenschaften und den anderen Grundlagen militärischer Bildung ertheilt. Und als er dann, noch ein Knabe, nach den Sitten und Bräuchen des alten Hofes zum Obersten des ersten Husaren-Regiments ernannt worden war, — sein Bater war Colonel-General aller Husaren-Regimenter des Königreichs — gab ihm *) Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin, einer Aeußerung des regierenden Königs von Preußen zu erwähnen, die derselbe gegen den König von Belgien bei seinem letzten Aufenthalte in Brüssel in-lebte. „Mag man ein Partisan der Legiti¬ mität oder der Julidynastie sein, da« ausi man zugestehen, Frankreich besitzt einen dieser hohen Mission gewachsenen Kronprinzen." Diese Aeußerung war uns schon seit «ier Monaten bekannt; jetzt glauben wir sie, ohne Verdacht der Schmeichelei, Anm. d. Red. mittheilen zu können. letzterer in dem damaligen Oberst, nachmaligen General Baudrand, einem höchst verdienstvollen, aber von der Restauration zur Unthätigkeit verdammten Offizier, einen trefflichen Lehrer der praktischen Kriegskunst, einen überwachenden Freund. Und daß er dessen Lehren und' Rathschläge wirklich benutzt, hat er glänzend dargethan, da ihm die Gelegenheit gegeben ward. Seine Kamera¬ den haben ihn in Antwerpen und bei Mascara, in den Engpässen der eisernen Pforten und auf den Höhen von Muzaja eben so sehr als tapfern Krieger und sachkundigen Befehlshaber kennen gelernt, wie sie ihn im Frieden als gefälli¬ gen, theilnehmenden, stets zur Hülfe bereiten Freund liebgewonnen hatten. Merkwürdig bleibt es zur Charakterisirung Louis Philippe's, wie er — eine Revolution sei es nun vorbereitend oder voraussehend — seinen Sohn zum Re¬ gieren erzog. Denn neben seinen militärischen Beschäftigungen verfolgte er während der letzten Rcstaurations - Jahre eifrig das Studium der Rechts¬ wissenschaft und der Berwaltungskunst; ja er ließ sich sogar von dem ältere» Dupin einige Rathschläge und Regeln über die Kunst der Improvisation erthei¬ len, gleichsam als ahne er, daß ihm die Zukunft vorbehalte, öfters öffentlich zu sprechen. Im Jahre 1829 unternahm er in Gesellschaft seines Vaters eine Reise nach England und Schottland: in seinem Erziehungssysteme sollten nämlich nach dem Plane seines Baders Reisen durch das ganze cultivirte Europa, ja sogar nach Nordamerika, behufs eines selbständigen Studiums der dortigen Bersassung, den Schlußstein und Uebergangspunkt zum reiferen, männlichen Alter bilden. Bon dieser Reise zurückgekehrt, erhielt er von dem Hofe, dem die Familie Orleans wegen der vom Volke ihr geschenkten Theilnahme und Auf¬ merksamkeit anfing lästig und verdächtig zu werden, den Befehl nach Lüneville zu gehen, um das Commando seines Regiments zu übernehmen. Diese Zeit war eine schwierige für ihn, weil es einer außerordentlichen Klugheit und Vor¬ sicht bedürfte, um dem argwöhnischen Hofe keinen Anstoß zu geben. Als die Juli-Revolution ausbrach, stand er mit seinem Regimente in Joignu. Natürlich beunruhigte ihn das Schicksal seiner Familie, die er in Paris wußte, sehr: er eilte daher nach Paris, ward aber an der Barriere angehalten und mußte erst durch einen Offizier der Nationalgarde vom Hotel de Wille sich Erlaubniß zum Eingang in Paris holen lassen, von der er jedoch, da ihm indeß Renseignements über die Wichtigkeit der Borgänge in der Residenz zugekommen waren, keinen Gebrauch machte. Er eilte vielmehr nach Joigny zurück, um mit seinem Regimente am 3. August in Paris einzuziehen. Von dieser Epoche an gehörte sein Leben der Oeffentlichkeit an; ich will also hier Nichts weiter erwähnen und nur noch schließlich bemerken, daß zu seiner Popularität seit 1830 besonders seine wirklich sehr ausgebreitete Wohl¬ thätigkeit und vorzüglich der Muth und die Theilnahme am öffentlichen Elend beitrugen, die er, als die Cholera in- Paris wüthete, durch seine Besuche in den Hospitälern bewies. 8it el terra, levis! Und möge seine Beliebtheit als ein schützender Genius um das Haupt seines unmündigen Sohnes schweben. Philipp P.55. 2. Plaudereien. Die Augsburger Allgemeine Zeitung ward vor Kurzem das Opfer einer seltsamen Mystifikation. Man erinnert sich vielleicht noch an die Romane des seligen Kotzebue, welche nach aufgegebenen Worten geschrieben sind. Nun ist eine Gesellschaft Spaßvogel, worunter ein Correspondent der Augsburger, auf den Einfall gekommen, das Lob Berlins nach aufgegebenen Worten zu com- poniren. Der erwähnte Correspondent, ein geschickter Kopf, übernahm es, eine Correspondenz dieser Art in die Spalten serner Augsburger Freundin einzuschmuggeln. Es wurden hierauf die Worte bestimmt: Belle-Alliance, Revolutionsplatz, Constitutionshügel, Constitutionsstein, Handschreiben, Selbst¬ herrscher, Harun-al-Raschid, Wulkinitz, Kceidestrich, Glimmstengel, Raben- stein, Turnstraße, Galgen und Rad, Köpeniker Kartoffelfeld, Walhalla, Zehner¬ klasse, cltvva! ass äsux morales, Tcllurisch-Coswisch, Frauenstrumpfband, Geistliche, Urthat der Offenbarung, Logos, Hegelianer, Iso rü^iens, Muster¬ reiter aus Barmer, Laternen, Fenster Chateaubriand, Scparatvotum, Selbstbe¬ wußtsein, Gottesbcwußtscin, gensr-uio avcznivoc!^ Schelling, Schuhe, Sohlen, Mäcenatin, Ole Bull, Lißt, Bettina, Carriere, Thorwaldsen, Betschwestern, Christus, Apostel, Nonne von Dülmen, Urevangelium, Helldunkel, Somnambule, Rahel, Messias, Heine, Evangelium, Tricolore, Se. Simonianer, tsmmv librs, Spiridion. Auf welche wahrhaft bewunderungswürdige Weise dieser Spaß in Scene gesetzt wurde, kann Jedermann in Ur. 190 der Allge. Zeit, nachlesen; wir wollen nur den kostbaren Eingang citiren: „Berlin am Bette-Alliancc- Tage. Während der am Rcvolutionsplatzc refidirende König und die am Constitutionshügel und am Constitutionösteine wohnenden Kö- niginncn sich von Zeit zu Zeit durch Handschreiben über Mordanfälle und nächtliche UcberMe gegenseitig trösten und nur mit Bedeckung und Leibwache ausfahren, reitet und wandelt unser Selbstherrscher, wie sei» hochseliger Vater, ost ohne alle Begleitung und unbemerkt durch Stadt und Land; ja er soll sogar durch nächtliche Runden wie Harun-al-Raschid :c. n. N. Weilt. Der piquante Korrespondent der „Zeitung für die elegante Welt" ist im Begriff, die theatralische Laufbahn zu betreten. Im Besitze einer klangvollen und angenehmen Tenorstimme und die Erfahrungen benutzend, welche er in Paris durch den Gesangunterricht bei einem guten Meister, so wie durch den steten Besuch der italienischen und der großen Oper sich erworben, will er auf einer deutschen Bühne debütiren. Die Juden in Preuße». Bei Gelegenheit der Zeitungsdiscussioncn über die preußischen Juden, denen man, „in ihrem Interesse," Korporationen geben will, erinnern wir uns einer alten Anekdote: König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, bekannt¬ lich ein strenger Fürst, bemerkte vom Garten seines Schlosses aus zwei Juden, die seiner kaum ansichtig wurden, als sie sich eilends im benachbarten Gebüsch verbargen. Der König schritt zornig aus sie zu und fragte, als er sie gerufen hatte: „Warum flüchtet Ihr Euch"!" — „Wir fürchten uns,. Eure Majestät."—„Ihr sollt Euch aber nicht vor mir fürchten," rief der König, indem er mit seinem spanischen Rohr höchst eigenhändig auf sie losschlug, „lieben sollt Ihr mich, lieben!" Druck von Friedrich Andrn in Leipzig. Großstädtische Fragen von einem Lebemann. I. Darf man den Diebstahl ermuthigen'! ÄRelche Zweifel mich so mancher Leser, wenn er die Ueberschrift dieses Aufsatzes erblickt, an der Moralität des Verfassers hegen wird, — diesem Uebelstande sehe ich mich im Bewußtsein meines ruhigen Gewissens und des Nutzens, den ich zu stiften beabsichtige, mit unerschütterlichem Muthe aus. Bin ich doch fest überzeugt, nicht der einzige ehrliche Mann zu sein, der durch die Fortschritte der Civilisation in den großen Städten gezwungen worden ist, sich diese Frage vorzulegen und das vielleicht mehr als einmal im Laufe eines einzigen Tages. Wohlverstanden übrigens, ich rede nur von großen Städten, denn die kleinstädtischen Sitten sind mir nicht so durch eigene Erfahrung vertraut geworden, als die der großen. Ich lebe nämlich theils von einer kleinen Leibrente, theils vom Ertrage schriftstellerischer Arbeiten seit einer Reihe von Jahren in Berlin, kenne aber durch früheren Aufenthalt und durch mehrfache Besuche auch Leipzig, Stuttgart, Wien und Paris. Wollen mir nun die geehrten Leser erlauben, ihnen einige meiner Erfahrungen von den Schattenseiten des großstädtischen Lebens zu erzählen, so kann ich II hoffen, daß einer oder der andere derselben vielleicht einen praktischen Nutzen ans meinem Geplauder ziehen wird. Ich komme also auf meine obige Frage zurück: Darf man den Diebstahl ermuthigen? Moral und Religion antworten rasch: Nein; Dame Praris aber thut uns dar, daß es freilich sehr leichr ist, dieses Nein zu sagen, aber sehr schwer, ja oft fast unmöglich ist, darnach zu handeln. Einige Beispiele werden dies leicht beweisen. Seit einigen Monaten habe ich einen Neffen bet mir, der hier seinen Gymnasial-Kursus durchmacht; das Essen aus den Speise- häusern will mir ohnedies nie recht behagen: ich habe mich also entschlossen, eigenes Haus zu fuhren und habe zu dem Behufe eine Haushälterin angenommen, welche zugleich auch Köchin ist. Nun wird man mir hier vielleicht von vorn herein einwerfen, eine Haus¬ hälterin sei ein personisicirtes Unglück; zugegeben, aber ich habe sicher¬ lich nicht wenig Unglücksgenossen, bin also in keinem ausnahms- weisen Zustand. Da ich nicht täglich und stündlich mit Geldforde-, ringen belästigt sein wollte, so hatte ich Bäcker, Fleischer, Specerei- waarenhändler:c. autorisüt, meiner Haushälterin, an deren Ehrlich¬ keit zu zweifeln ich keinen Grund hatte, sämmtlichen Bedarf aus monatlichen Credit zu liefern. Nun denke man sich mein Erstaunen, als mir am Ende des ersten Monats Rechnungen für nichts, als Eßwaaren eingeliefert wurden, deren Betrag sich auf nicht weniger, als einige sechzig Thaler belief! Ich erschrack. Acht und sechzig Thaler für drei Personen — die Haushälterin mit inbegriffen, — die täglich nur drei Mahlzeiten in anständig bürgerlicher Art zu sich nahmen! DaS ging über meine Begriffe. Ich glaubte an eine über¬ triebene Beutelschnciderei Seitens der Liefernden, aber einige Blicke auf die Rechnungen einer und aus die polizeilich veröffentlichten Brod- und Fleischtaren andrer Seits überzeugten mich, daß die Preise nicht höher, als billig, daß aber die Massen des Verzehrten enorm waren. Nun erschrack ich noch mehr; denn ich fing an zu befürchten, mein Neffe oder ich litten, uns selbst unbewußt, an der Auszehrung und äßen daher ungemein stark. Aber auch von dieser Angst ward ich bald befreit, indem ich durch einen Zufall der Quelle meiner enormen Rechnung auf die Spur kam; eS war diese Quelle oder vielmehr dieser für mich unausfüllbare Abgrund die Mitesser- fchaft der drei Kinder meiner Haushälterin, die sich für unverhei- rathet ausgegeben hatte. Natürlich erhielt sie sofort ihren Abschied ; meine Rechnung aber mußte ich bezahlen. Die neue Köchin, die ich annahm, und vom deren unehelichen Stande ich mich vorher durch polizeiliche Nachfrage überzeugt hatte, — ja, was hatte ich mit ihr gewonnen? Ihre Vorgängerin, so wie Bäcker, Fleischer ze. hatten ihr als Maßstab meines Bedarfes die Rechnungen des vorigen Monats angegeben; und da sie bald entdeckte, um wie viel diese meinen eigentlichen Bedarf übertrafen, so glaubte sie ihrem Bruder und ihrem Liebhaber, — sie war dazu noch jung genug — einen Platz an meiner Tafel einräumen zu können, so daß meine Rech¬ nung vom zweiten Monate sich von der des ersten nicht um zwei Thaler unterschied. Ich wechselte wiederum und glaubte nun, eine untadelhaste Wahl getroffen zu haben, indem ich eine, von einer achtbaren Familie mir empfohlene, kinderlose und ziemlich bejahrte, also lieb'haberlose Wittwe in meinen Dienst nahm: aber ' Inenut. in Ka)'I!lui, rin vult pleno Llmr^Iziliii. Meine neue Haushälterin glaubte um der Ehre des Hauses willen nicht viel weniger, als ihre Vorgängerinnen brauchen zu dürfen; mir wandte sie den Ueberschuß lediglich auf ihre eigene Per¬ son, da sie überaus genäschig und leckerhaft war und die Gelegen¬ heit sich ihr so reichlich darbot, sich und einigen von Zeit zu Zeit zu einer Caffeevisite eingeladenen Freundinnen ein kleines b«mo zu thun. So hatte ich denn durch dreimaligen Wechsel nichts gewonnen, als daß der Diebstahl in meinem Hause durch den Gebrauch gehei¬ ligt worden und fast Gesetzeskraft gewonnen hat; dergestalt, daß ich jetzt, da ich die fünfte Haushälterin habe, froh bin, meine Mo¬ nats-Rechnung für Eßwaaren auf acht bis neun und fünfzig Tha¬ ler reducirt zu sehen. Nun frage ich, heißt das nicht den Diebstahl ermuthigen? Denn wenn ich auch die Diebinnen nicht autorisire, so ertrage ich ihr Unwesen doch; und wer müßte nicht am Ende an meiner Stelle das Nämliche thun? Und für den Dieb, wie für die Bestohlenen kommt es am Ende aus Eins heraus, ob man den Diebstahl erlaubt oder blos erträgt. Wollen Sie ein zweites Beispiel haben, mein lieber Leser? Ich stehe Ihnen zu Diensten. Ich hatte jüngst bei anhaltend schlechtem Wetter einen dringenden Besuch bei einem am andern Ende von 11» Berlin wohnenden Freund zu machen, nahm also, um zurückfahren zu können, einen Fiaker auf eine Stunde. Gut, aber nicht für mich, sondern für meinen Kutscher; denn dieser richtet sich seine Fahrt darnach ein, d. h. er fährt wo möglich noch langsamer als ein Charlottenburger Landwagen. Seinen Weg nimmt er nicht gerade¬ aus oder in der kürzesten Linie, nein, er schlägt vielmehr eine Rich¬ tung ein, in welcher er sicher ist, entweder ein großes Gedränge zu finden, so daß er zu noch langsamerem Fahren genöthigt ist, oder auf Straßen zu stoßen, in denen man pflastert, so daß er umkeh¬ ren muß. Endlich kann er nicht mehr ausweichen, er muß gerade er die Straße einbiegen, an deren Ende ich zu thun habe; daß ich überaus prcssirr bin lind meinen Freund verfehlt zu haben befürchte, kann er mir vom Gesichte ablesen, folglich fährt er wo möglich noch langsamer als zuvor. Ich steige aus, und siehe da, mein Freund ist eben ausgegangen. Wüthend, ihn durch die Schuld des Kut¬ schers verfehl! zu haben, steige ich wieder in den Wagen, indem ich meinem Automcdon seine Langsamkeit heftig vorwerfe und ihm schnelle Rückkehr anempfehle. Er aber, der wohl voraussieht, daß er nun kein Trinkgeld bekommen wird, sucht sich zu entschävigen; d. h. er nimmt sich zum Rückweg wo möglich noch mehr Zeit, als zum Hinweg, so daß, als ich endlich nach Hause komme und ihm die Taxe für eine Stunde bezahlen will, er mir unwiderleglich darthut, daß ich ihm i .r zwei Stunden zu bezahlen habe, und dabei ist er noch gütig genug; denn er berechnet mir nicht, daß seine Uhr um mehr, als eine Viertelstunde zurückgeht. Was sollte ich nun thun? Ich konnte den Kutscher zwingen, mit mir zum Polizei-Commissair des Viertels zu gehen, werden Sie mir einwenden, geehrter Leser. Aber bedenken Sie nur ein wenig folgende Dinge: erstens fuhr der Kutscher hin, denn er darf nach Polizeireglement seinen Wagen nicht allein lassen, während ich im Regen zu Fuße gehen mußte, da ich ihm für diese Fahrt nicht bezahlte; sodann ist es, die Höflich¬ keit der Herrn Polizei-Commissaire in allen Ehren gehalten, immer noch kein Vergnügen, mit ihnen zu thun haben; noch weniger an¬ genehm ist eS, sich in lange Streitigkeiten mit einem groben Kut- cher selbst in Gegenwart der Polizei einzulassen und endlich vor- sauSgesetzt, ich hätte alle diese Rücksichten so wie meinen Zeitverlust unbeachtet gelassen, so war des ja noch gar nicht sicher, daß ich nicht aus dem Regen in die Traufe geriet!), d. h. vom Commissair Unrecht erhielt, und alsdann dem Kutscher obendrein noch eine Entschädigung für die ihm verursachte Versäumniß zu zahlen daS Vergnügen hatte. Was blieb mir also übrig, als dem Kutscher seinen Willen zu thun und den verlangte Thaler zu geben? Er konnte jetzt sein Trinkgeld entbehren; er hatte Ueberschuß genug, um sich einen Rausch zu trinken. Und ich — nun ich war eben wieder um einen halben Thaler mit sehenden Augen bestohlen und mußte es eben dulden. Zu diesen einzelnen Fällen, wo ich den Diebstahl ertragen mußte, kann ich noch hundert andre, Jedermann betreffende hinzufü¬ gen, die sich in allen großen Städten wiederholen. Wehe dem un¬ glücklichen jungen Manne, der sich seine Bedürfnisse allein einkaufen muß; er kann sicher sein, Alles nicht allein theurer zu bezahlen, als jeder Andre, sondern noch dazu die schlechteste Waare zu erhalten. Habe ich doch letzthin eines Morgens ein Halstuch eingekauft und sofort umgebunden, dessen Grund dunkelblau war; als ich es am Abend — der Tag war ziemlich heiß gewesen und ich hatte etwas stark geschwitzt — wieder ablegte, hatte es chamäleonartig seine Farbe geändert und war aus dunkelblau hellgelb geworden. Mein Hals mußte den Tag über, während diese Metamorphose stellenweise vor- ging, zebraartig ausgesehen haben. So wird man in allen Dingen bestohlen; man glaubt, ein seidenes Taschentuch zu kaufen, und hat ein halb baumwollenes; ein Hut, den man heute für neu bezahlt, zeigt sich nach acht Tagen als ein aller, dem nur Walze und Bügel-- eisen einen ephemeren Glanz verliehen hatten; statt auf Leversohlen geht man auf Holz und Pappendeckel. Ich bestellte jüngst bei einem Tischler ein festes, eichenes Büchergestell; nachdem ich es etwa vier Wochen hatte, fallt es meiner Haushälterin ein, es mit heißem Wasser zu reinigen: was stellte sich aber als Resultat heraus? Daß der Tischler ein finsteres Gestell geliefert hatte, dem er vermittelst Leim und Politur das Ansehen eines eichenen zu geben gewußt. So wird man überall betrogen; nur in Einem betrübt Sie kein Kaufmann, lieber Leser; alle fordern den richtigen Preis, den Preis für solide Waare von bester Qualität. Einer meiner Bekannten, voll Verdruß, stets betrogen zu sein, und der sich doch durchaus nicht entschließen konnte, zu handelt!« hatte sich wenigstens eine Lift ausgesonnen, wodurch er alle Kauf¬ leute ihrer Seits zur Verzweiflung brachte. Wenn man ihm für irgend einen Gegenstand einen hohen, unverschämten Preis abgefor¬ dert hatte, so bezahlte er erst, ohne ein Wort zu sagen; wenn er dann den Gegenstand an sich nahm; so stellte er sich, als betrachtete er ihn jetzt erst genauer und sagte dann regelmässig: Wahrhaftig, spottwohlfeil eingekauft; ich glaubte sicher, daS würde mich einen, zwei u. s w. Thaler mehr kosten. — Alle Kaufleute natürlich ge- riethen darüber außer sich; denn diese ein oder zwei Thaler hätten sie ja mehr fordern können. So herrscht der Diebstahl überall, wo man zwei Dinge gegen ein^ ander umtauscht; der Diebstahl, ein moderner Proteus, hüllt sich in hundert verkleidende Formen, nimmt tausend verführerische Außenseiten an und überall stoßen wir auf ihn, in unsern Kleidern, in unsern Nah¬ rungsmitteln, ja sogar in unsern geistigen Vergnügungen. Er hat, besonders für letztere Beziehung, in neuester Zeit sich eine eigene literarische Form angeeignet, die ganz besonders für ihn erfunden worden ist, denProspectus und die Annonce, deren Succursel die Reclame ist. Einige Beispiele werden auch hier genügen. Ein Buchhändler kündigt ein Werk unter dem Namen eines durch frühere Schriften vortheilhaft bekannten Schriftstellers an: man kauft eS also auf Treue und Glauben. Aber welche Täuschung! Beim Lesen entdeckt man gar bald, daß der Schriftsteller zu diesem Werke nichts als seinen Namen, höchstens eine Vorrede von einigen Seiten, hergegeben. Das elende Machwerk ist eigentlich von irgend einem erbärmlichen, unwissenden Pedanten geschrieben, der weder Geist noch Styl hat. Sei nun der erste Betrüger hier der Schriftsteller selbst oder sei er nur bloßer Mitschuldiger des buch- händlerischen Betrugs: der Käufer bleibt bestohlen und betrogen. In einem Dutzend der verschiedensten deutschen Blätter liest man das Lob dieses oder jenes Schauspielers, Sängers:e., den end¬ lich, nachdem er die Triumphbahn seiner Gastreisen glorreich ge¬ schlossen, die Theaterdirection Deines Aufenthaltsortes, lieber Leser, engagirt. Du in deiner Ehrlichkeit abonnirst von Neuem auf einen Winter, weil Du, wie unzufrieden Du auch sonst mit der Bühne Deiner Stadt bist, doch nun wenigstens hoffen darfst, einen guten Liebhaber zu sehen, oder einen guten Tenor zu hören; denn die vielen, von einander gänzlich unabhängigen Blätter, in denen Du sein Lob gelesen, können doch unmöglich alle gelogen haben. Aber geh! schon die erste Vorstellung enttäuscht Dich, und dem Räthsel des Lobes nachspürend, erkennst Du, daß das Engagement des in Rede stehenden Subjects schon vor seinem Triumphzuge von der Direction abgeschlossen war und daß alle diese so gut bezahlten Lob¬ reden nur ein Manoeuvre der Direction waren, um die so oft be¬ trogenen Abonnenten noch ein Mal anzulocken. Aber beschränkte sich der Diebstahl wenigstens noch darauf, uns nur unser Geld zu nehmen! Er wird leider, — so weit sührt die Gewinnsucht — zum Mord, zur Vergiftung. Wie wenige von den Dingen, die wir täglich brauchen, verkauft man uns in ihrem natürlichen Zustande! Die Weine z. B. werden, um ihnen ihre Herbe zu benehmen, mit Bleioxyd, einem Gift, versetzt; um sie rother und schmackhafter zumachen, wird etwas Alaun hinzugethan: gefärbt werden sie mit tausenderlei Dingen, die alle der Gesundheit mehr oder weniger nachtheilig sind. Der Weinessig ist mit verdünnter Vitriolsäure vermischt, deren Folgen wir an unsern Zähnen ver¬ spüren, so daß ein Mund voll Salat sonderbarerweise dieselbe Wir¬ kung haben kann, wie ein tüchtiger Faustschlag. Der Specerciwaa- renhändler, scheinbar der unschuldigste Mensch von der Welt, ist nicht nur Taschenspieler, — sage Betrüger — sondern auch Chemiker — sage Vergifter. Mit seinen krummen, groben Fingern führt er Kunststücke aus, die eines Bosco würdig sind; denn, ohne daß seine Wagschalen oder Gewichte falsch sind, weiß er doch am Gewicht zu gewinnen durch die Art, wie er die Wage hält oder die Waaren auf die Wagschale legt; seine Maße für Flüssigkeiten sind sorgfäl¬ tig gestempelt; er weiß aber so geschickt einzugicßen, daß er stets im Gewinne bleibt. Der Arme, der aus Noth oder der Junggeselle, der aus Bequemlichkeit seinen Caffee gemalen einkauft, kann sicher sein, die Hälfte Cichorie zu haben : der Zucker ist in eine Art blei- vder zinkhaltigen Papiers eingepackt, wodurch an jedem Hut, den er im Ganzen verkauft, ein halbes Pfund wenigstens gewonnen wird. Aber alle diese Betrügereien sind wenigstens nur unsrer Börse nachtheilig: was sollen wir aber gegen folgende Vergif¬ tungen thun? Dvcse lieben Specereiwaarenhändler mischen unter das Küchen- Salz gesiebter Gyps, wovon man den Stein bekommen kann, zu¬ weilen selbst Jod, ein offenbares Gift, beides sehr schwer in'S Ge- wicht fallende Dinge^). Statt Olivenöl verkaufen sie eine Mischung von Mohnöl; unter den Farinzucker mischen sie nicht bloß Runkel¬ rüben- — oder Kartoffelzucker, der doppelt so schwer ist, aber halb so wenig Zuckergehalt hat, sondern auch häufig Kreide und ähnliche Stoffe. Statt Soda und Potasche verkaufen diese Herrn ordinäres Küchensalz, bei welcher einfachen Operation sie mehr als das Dop¬ pelte gewinnen. Ihre Chocolade besteht aus einem Zehntel Cacao und neun Zehnteln rohem Fannzucker und geröstetem Gerstenmehl. Ihre Seife wiegt doppelt, weil sie mit Salzwasser angefeuchtet ist; ihr Branntewein ist erst durch Wasser seines Alcohvlgehaltes beraubt und dann durch Gewürzinfusionen zu einem brennenden, die Ein¬ geweide zerreißenden Höllentranke umfabricirt worden. Doch ge¬ nug von diesen Leuten: sie sind nicht die einzigen, die uns bestehlen und zugleich vergiften; ihre Genossen verdienen ebenfalls genannt zu werden, damit man zu der Erkenntniß komme, ein wie unheilbar tief zehrender Krebsschaden in unsrem socialen Leben dieser Mangel an Ehrlichkeit ist und wie sehr es Noth thut, auf radicale Besse¬ rungsmittel zu denken. Die Gemüsehändlerinnen sind wahre Giftmischerinnen; denn um ihren mehrere Tage alten Waaren den Anschein von frischen zu verleihen, wissen sie dieselben sehr schön grün zu färben; aber wie? Nun, in kupfernen Gefäßen erzeugt sich ja so leicht Grünspan: man lasse nur eine Nacht in freier Lust ein Gefäß mit Wasser stehen und werfe allenfalls, um seiner Sache ganz sicher zu sein, einige Kupfermünzen hinein; am andern Morgen lege man einige Stun¬ den den Kohl, Spinat oder andres Gemüse in dieses Gefäß mit Wasser, und es erhält aus der Außenseite das schönste Grün. Die Bäcker ihrerseits begnügen sich nicht, Bohnen- und Kar¬ toffelmehl unter das Weizenmehl zu mischen und ihrem Brod nicht das vorschriftsmäßige Gewicht zu geben: nein, sie haben auch so *) Es ist dies) und alles Folgende nicht etwa übertrieben, sondern buchstäb¬ lich w'ahr. Die Pariser Blätter berichten fast alltäglich Bestrafungen der Epiciers, Fleischer, Bäcker u. s. w. um solcher wissenschaftlichen Experimente Anm. d. Verf. halber. viel Genie gelernt, daß sie ihrem Weißbrod von schlechterem Mehl durch gewisse metallische Beimischungen (blauer Vitriol) die schönste weiße Farbe zu verleihen im Stande sind. Die Conditoren und die Liqueur-Fabrikanten — beide bedienen sich zur Färbung ihrer Bonbons und Liqueure so offenbar giftiger Stoffe, daß in mehreren europäischen Staaten schon wiederholte Verbote gegen diesen Unfug erlassen worden sind, weil sich die nach¬ theiligsten Folgen für die Gesundheit daraus ergeben haben. Aber was hilft's? Doch! hören wir endlich auf, unsre Leser durch diese Liste von Mißthaten zu erschrecken, die im täglichen Leben sich nur allzuhäufig erneuern; können wir ja doch nicht Alles sagen und wäre ja selbst Alles noch nicht genug. Denn jeder Tag bringt uns neue Spitz¬ bübereien, neue Verfälschungen, neue Betrügereien; und zum traurigen Gegentheil der Bienen, die selbst aus Gift Honig saugen, findet der Betrug in jeder neuen Entdeckung oder Erfahrung der Wissenschaften, die von arbeitsamen Geistern zum Vortheil der Menschheit gemacht wird, nur einen neuen Stoff für sein schmutziges Gewerbe. Fragt uns nun aber der Leser: „Wie? Giebt es denn gar kein Mittel, sich diesen Diebstählen und Vergiftungen zu entziehen oder entgegenzusetzen?" — so ist es unsre Pflicht, ihm die Mittel anzugeben, nämlich Wissenschaft und Gesetz, ihm aber auch deren Unwirksamkeit und Schattenseiten darzulegen. Die Wissenschaft! Ja, also muß zunächst Jedermann Chemiker und Physiker von Stande sein; denn nur alsdann kennt und besitzt man alle Reagentien und alle Apparate und Maschinen, mittelst deren mai? jene Verfälschungen ermitteln kann. Zum Nutzen und From¬ men meiner Leser, die nicht Chemiker sind, will ich ihnen einige dieser Mittel Hieher schreiben»).' Durch salpetersauren Baryt erkennt man die kleinsten Theilchen Schwefelsäure und Vitriol, die sich in Wein, Weinessig, Küchensalz und Brod vorfinden. Gleichermaßen braucht man nur, um den Alaun *) Da ich auch kein Chemiker von Profession bin, so will ich, falls sich solche unter meinen Lesern finden sollten, dieselben hiermit gebeten haben, kleine Verstöße gegen die wissenschaftliche Nomenclatur zu verzeihen. Anm. d. Verf. im Weine zu erkennen, ihn durch Ammoniak zu präcipitiren, jedoch muß er vorher durch Chlor entfärbt worden sein. Ganz einfache Sachen. Ein Alcalometer zeigt deutlich, wie viel wirkliches Alkali sich in der Soda oder Potasche befindet, deren eigentlichen Werth und Verkaufspreis man hiedurch auf'S Leichteste bestimmen kann. Wer besitzt nicht einen Alcalometer? Durch Salpetersäure oder salpetrige Säure, lieber Leser, entdeckst Du, wenn sich auch nur ein Hunderttheil Mohnöl in's speisest ein¬ geschlichen; ehe man also einen Salat zubereitet, versehe man sich wohl mit salpetersauren Baryt zur Prüfung des Weinessigs, und mit Salpetersäure zur Prüfung des Oels. Wer nicht Zeit zu die¬ sen chemischen Uebungen hat, oder die armen Leute, denen es an Geld fehlt, — ja, die müssen sich nun einmal entschließen, die Sa¬ chen so zu brauchen, wie sie sind. Die Bleisalze und Bleioryde, mit denen man Bonbons und Weine versetzt, offenbaren sich sofort, sobald man sie mit geschwefel¬ tem Wasserstoffgas, oder wie eS auch heißt, mit schwefelwässriger Säure in Berührung bringt. Euren lieben Kleinen, meine verehr¬ ten Leserinnen, hängt nur, sobald sie ein Jahr alt sind, ein Fläsch- chen mit besagter Säure um und lehrt sie den Gebrauch derselben; denn sobald Ihr sie in's Freie schickt, sind sie jeden Augenblick, und je niedlicher sie sind, desto häufiger der Gefahr ausgesetzt, daß man ihnen Bonbons und anderes Zuckerzeug giebt. Wollen sorgsame Hausfrauen dem Gemüse seine falsche, durch Grünspan bewirkte Farbe entreißen, so brauchen sie nur Salmiak anzuwenden, ein überaus wirksames Mittel, dessen Kraft sich jedoch auch sehr häufig dahin äußert, daß die Personen, welche eS anwen¬ den, ersticken. Vermöge eines guten Mikroskops kann man in seinem Brode das Weizenmehl ganz genau vom Kartoffel- und Bohnenmehl un¬ terscheiden; eben so auch erkennt man die Mischtheile des Zuckers; denn der Rohrzucker krystallisirt sich nadelförmig, Kartoffelzucker aber in der Form von Hirfekörnern. Man fühlt sich gewiß sehr getrö¬ stet, wenn man dies gesehen; nur ist Schade, daß durch das Mikro¬ skop das Bohnenmehl nicht nährend und der Kartoffelzucker nicht süßer wird. Mit seinem Galaktometer »der Milchmesser kann jeder gebildete Leser, dem der Gebrauch dieses Instruments sicherlich geläufig ist, seiner Milchfrau den ärgsten Schabernack spiele», indem er untrüg¬ lich erkennt, wie viel Wasser- und wie viel Rahmtheile seine Milch enthält. — Die Milchfrau wird freilich darum nicht weniger Was¬ ser hineinschütten und der Leser nicht weniger fortfahren, diese Milch zu trinken ; denn woher will er sich in einer großen Stadt andere oder bessere verschaffen? Einer oder der andere meiner bejahrteren Leser hat vielleicht das Unglück, von seinen Reisen oder Feldzügen her gleich mir an rheumatischen und gichtischen Anfällen zu leiden, und kauft daher Flanell ein, um durch ein gleichmäßig warmes Camisol sich vor Er¬ kältungen zu hüten. Nun ist aber die Kette des Flanells, den man meisthin bei den Kaufleuten antrifft, von Baumwolle und diese taugt gerade zu Rheumatismen nichts, weil sie eine zu starke Er¬ hitzung hervorruft. Will man sich nun überzeugen, ob der Flanell rein wollen ist, so braucht man ihn nur in einer Potaschauflösung von 12 Graden zu kochen: die Wolle wird sich dann auflösen, um Seife zu bilden, während die Baumwolle kaum angegriffen sein wird, — Den größten Vortheil von diesem Verfahren hat freilich der Kauf¬ mann, denn unser erstes Stück Flanell ist im Kessel geblieben und kann höchstens als Seife zum Rasiren benutzt werden, so daß wir nothwendig ein zweites Stück Flanell kaufen müssen. Es würde doch wirklich ein unerhörter Zufall sein und ist da¬ her kaum anzunehmen, daß Sie, meine werthen Leser, von all den Säuren und Apparaten, die ich Ihnen hier aufgezählt habe, wozu Sie noch genaue Wagen und Apolhekergewichte hinzufügen mögen, gar nichts vorräthig haben sollten. Denn ich habe wirklich nur die allereinfachsten Mittel angegeben, kein complicirtereS, wie z. B. die Erkennung der verschiedenen Oele durch die verschiedenen Grade, in welchen sie Electricitätsleiter sind, zu welchem Behufe man nothwendigerweise sein Oel erst zu einem Professor der Physik Schil- ler müßte, ehe man einen Salat bereiten kann. Sollten Sie also, trotz ihrer Einfachheit, von den angegebenen Mitteln der Wissenschaft keinen Gebrauch machen können oder wollen, so bleibt Ihnen nur noch die Zuflucht zum Gesetz übrig. Sie können sich, liebe Leser, an den Polizeicommissair wenden, wenn Sie in Berlin wohnen oder anderswo, wie in Paris und wo französische Gesetzgebung gilt, an den Friedensrichter. Nun wir wollen auch diese Mittel etwas ge¬ nauer betrachten. Meine persönliche Meinung über den Erfolg und die Annehm¬ lichkeit eines Besuchs beim Polizei-Commissair habe ich schon oben dargelegt, kann also hier darüber hinausgehen und will daher nur noch einige Worte über den Friedensrichter sprechen. Ich kenne auch diese Herren aus eigener Erfahrung. Es ist freilich etwas hart, daß man, um ohne Furcht vor Vergiftung einen Salat essen oder seinen Kindern eine Düte Zuckerwerk geben zu können, zur Gerechtigkeit seine Zuflucht nehmen, also Lauferei, einen Proceß haben muß: doch einmal entschließt man sich dazu: man will Alles kennen lernen. Wir befinden uns nun vor einem Friedensgericht irgend eines Pariser Arrondissements, waS gerade nicht der liebenswürdigste Aufenthalt ist: ehe die Reihe an unseren Proceß kommt, haben wir Zeit genug, die Richter und die Parteien kennen zu lernen. Der Friedensrichter ist gewöhnlich ein dicker Mann, der sich in seinem erhabenen Berufe, die Gerechtigkeit zu spenden, sehr gelang¬ weilt fühlt; ein Menschenfeind in seiner Art, insofern er stets mit zwei Spitzbuben zu thun zu haben glaubt, minder aufgelegt, Vernunft- gründe anzuhören, als man zu glauben berechtigt ist, ungestüm, ge¬ mein in seinen Ausdrücken und stets pressirt, stets eilig. Die Parteien, zwischen denen eS sich gewöhnlich um erbärmliche Kleinigkeiten handelt — was freilich nicht geeignet ist, den Richter gut gelaunt zu machen, — sind meistentheils von einer Atmosphäre umringt, die weder nach Patchvuli, noch nach Veilchen riecht, son- dern nach alten, halb faulen Trödellumpen. Der Gefammtanblick des Gerichtshofes ist also nicht sehr imponirend. Werfen wir nun einen Blick aus seinen Nutzen. Der Richter, der im Schweiße sei¬ nes Angesichts die allerdümmsten und allererbärmlichsten und gemein¬ sten Diskussionen mit anhören muß, löst diesen Gordischen Knoten in den meisten Fällen auf Alerandrische Weise: er giebt abwechselnd bald dem Kläger, bald dem Beklagten Recht, wie ihn seine Unge¬ duld gerade inspirirt. Wir sehen also, daß, wenn Gerechtigkeit und Wahrheit von dem übrigen Theil der Erde verbannt wären, . . . man sie nicht gerade vor einem FriedcnSgerichte wiederfinden würde. Doch die Reihe ist nun endlich an uns gekommen, lieber Leser. Als ein ehrlicher, gebildeter Mensch setzest Du Deine Sache mit aller Mäßigung auseinander: aber nun hat Dein Gegner das Wort und Du wirst in Folge seiner Catilinaria oder Philippika der ärgste Bösewicht dieser Erde, so daß der Richter erschüttert ist, Du aber, wie vom Anblick des MedusenhaupteS, erstarrt bist vom Anblick der Ströme von Beredsamkeit, die dem Munde eines Krämers, wenn auch nicht Honig gleich, entfließen. Nun fordert Dich der Richter auf, den streitigen Gegenstand darzubringen. Der aber ist entweder verbraucht und dann, magst Du vergiftet sein, Hort Dein Recht auf; oder Du hast ihn nicht mitgebracht, dein Proceß wird also auf 8 Tage verschoben; oder Du hast ihn mitgebracht, es fehlt aber dem Richter an den oben aufgezählten NerificationSmilteln und er erklärt sich für incompetent, oder, endlich der Gegenstand kann nicht transportirt werden, der Richter ordnet also eine Besichtigung durch Sachverstän¬ dige an und Dein Prozeß . . . wird am Se. Nimmermehrstage gerichtet werden. Welcher von diesen 4 Fällen auch der Deinige ist, Du hast Deinen Tag unnütz hingebracht und nicht einmal Dei¬ nen Prozeß gewonnen. Ich glaube, jeder gebildete Mensch, also alle meine Leser, wer¬ den an einer solchen gerichtlichen Erfahrung genug haben. Was ist aber das nothwendige Resultat hiervon? daß man alle diese Räubereien erduldet und dadurch ermuthigt.- So also sehen Sie wohl, meine geehrten Leser, wie schwer die Beantwortung der Frage ist, welche die Ueberschrift dieser Seiten gebildet hat. II- Was kostet jede Minute unseres Lebens? Wie meinen Sie das? — wird man nach Lesung dieser Ueber- schuft fragen. Ist von süßen Täuschungen und bitteren Enttäu¬ schungen die Rede, von Illusionen und Phantasiebildern, von Haa¬ ren und Zähnen, kurz von all dem die Rede, was im Laufe der Jahre und Monate, der Tage, Stunden und Minuten uns verlässt? Keineswegs, lieber Leser! — Ich will nicht von all diesen abgedro¬ schenen Gemeinplätzen hier sprechen? Was geht mich die moralische Welt an! Dazu bin ich viel zu prosaisch und positiv. Sollte ich in meinen Jahren etwa noch Klagelieder singen über diesen Kranz von eingebildeten Blumen, den die Dichter erfunden haben, um das Haupt der Menschen damit zu zieren, wenn er in'ö Leben eintritt! Soll ich Jeremiaden darüber anstimmen, wie theuer unsrem Herzen und unsrem Geist die Erfahrung zu stehen kommt, diese lange Rei¬ henfolge immer neuer Dummheiten! Soll ich Elegien weinen darüber, daß der Mensch vergeht, obgleich er in seinen Kindern und Enkeln von Neuem auflebt! (Beiläufig bemerkt, ist Letzteres für die Menschen doch nicht ganz dasselbe und mancher gar zu lebenslustige würde die Seelenwanderung vorziehen). Nein und abermals nein, mein lieber Leser! Von all diesen Dingen will ich in diesen aus¬ drücklich zu Deiner Unterhaltung lob Belehrung geschriebenen Zei¬ len nicht sprechen. Lassen wir ruhig die Begierden, Kräfte und Leidenschaften im Menschen ersterben, je nachdem er seine Jugend erlebt hat! Lassen wir ihn eine nach der andern seine Illusionen, seine Hoffnungen, all die leeren Spiegelbilder seines Herzens und Geistes verlieren! Sehen wir ruhig zu, wie die Liebe von ihm hin¬ wegfliegt, wie die Freundschaft wankend wird, und wie seine Zähne desgleichen thun, wie sein Bart erst grau und dann weiß wird, wie seine Haare bleichen und ausfallen! Kurz, lassen wir ihn in seinem ganzen physischen und moralischen Wesen nach und nach den Einfluß des großen Naturgesetzes aller Dinge empfinden, die gewesen sind und die alle mit Nicht mehr sein enden werden. . . . Sagt man doch, die Welt selbst werde kein anderes Ende nehmen. . . . Es wird dazu, so heißt es, nur eines Posaunenstvßeö bedürfen. Frage: was wird nach dem Weltenuntergang aus dieser Posaune? Also, wohl verstanden, es wird hier nicht die Rede sein von dem, was das Leben uns an Seele und Körper kostet, — sondern ganz einfach von dem, was es uns an baarem Gelde kostet. Ich will hier einmal den Versuch machen, aus Quittungen über Haus¬ miethe, aus Rechnungen von Schneider und Schuhmacher, von Waschfrau und Apotheker u. dergl. mehr ein — nun sei es auch nur, ein Feuilleton zu machen. In den zahlreichen gesellschaftlichen Abtheilungen aus den ver¬ schiedenen Klassen der Welt, will ich mir, eingedenk der Horazischen »ni-on, no(Il«erit»8, eine Person auswählen, die entweder durch vä¬ terliches Erbtheil oder als Ertrag ihrer täglichen Arbeit zu den mittelbegüterten gehört, welche eine Einnahme von 1800 Thalern, sage 15,0 Thaler monatlich, genießen. Wir wollen nun im Folgen¬ den sehen, wie dieser Einnahme von den Ausgaben das Gleich¬ gewicht gehalten wird. Vorauszusetzen ist dabei noch, daß von ei¬ nem Gar^on die Rede ist. Die Erfahrung hat unwiderleglich dargethan, daß die materiel¬ len Nothwendigkeiten des Lebens bestehen in: Wohnung, Nah¬ rung, Kleidung, Bedienung und Gesundheitspflege. Für moralische Nothwendigkeiten halten wir, bei dem Rentier: eine Ar¬ beit, die ihn hindert, an Spleen oder Langeweile zu sterben; bei dem vom Ertrag seiner Arbeit Lebenden: geistiges Amüsement. Für Beide gehört hieher noch fortschreitende Belehrung. Nehmen wir nun die materiellen Nothwendigkeiten, deren Zahl gewiß Niemand für übertrieben halten wird, eine nach der andern in Bezug auf den Kostenpunkt vor. Zunächst also kommt: Die Wohnung. Für einen Junggesellen, der auf 18it0 Thaler Einnahme rech¬ nen kann, ist es weise und passend zugleich, eine Wohnung für 180 Thaler zu miethen ; denn ein Grundsatz der häuslichen Oeko- nomie lautet dahin, der Miethzins solle sich auf ein Zehntel der Einnahme belaufen. Eine Wohnung also für 180 Thaler jährlich, das macht fünfzehn monatlich, also 15 Silbergroschen täglich, oder 7^ Pfennig stündlich. Die Unmöglichkeit, diese Zahl noch zu dividi- ren, verbietet uns die Theilung für den Augenblick bis auf die Minute fortzusetzen: wir wollen diese daher erst dann anwenden, wenn mehrere Posten addirt eine durch 60 theilbare Summe dar¬ stellen werden. Um aber auf unsere Wohnung zurückzukommen: man kann doch nicht innerhalb der 4 nackten Wände wohnen, und hat man eine Wohnung für 180 Thaler, so muß man auch daran denken, sie passend und mit einigem Comfort auszumeublircn, um dieses jammervolle Dasein besser ertragen zu können. Nun nehme ich an, daß, um eine Wohnung von 4 Zimmern — Wohnung, Sa¬ lon, Studirzimmer und Bibliothek, Schlafcabinet — einigermaßen anständig mit Meubles zu versehen, man zwischen KW Thaler beauchen würde. Da wir aber unser Grundcapital nicht verringern wollen, so begnügen wir uns in dieser Berechnung, nur die Zinsen zu 5sZ zu veranschlagen und sie der Ausgabe für die Wohnung hin¬ zuzufügen, so daß diese uns jetzt jährlich um 30 Thaler theurer zu stehen kommt. Dieser Zuschuß, gehörig vertheilt, giebt für den Mo- nat 2^ Thaler, also täglich 2^ Silbergroschen und stündlich ^ Pfen¬ nig. Rechnen wir dies zu den obigen 7^ Pfennig, so erhalten wir Pfennig, eine Summe, die wir hiermit als stündliche Ausgabe für Wohnung und Meubles notiren wollen, worin wir übrigens auch die Heizung für den Winter einbegriffen zu sehen wünschen, obgleich wir bisher nicht davon gesprochen. Geben wir also zu etwas Anderem über. Doch halt! Mein Mobiliar dauert nicht ewig; es muß von Zeit zu Zeit reparirt werden und durchschnittlich schafft man eigentlich alle zehn Jahre neue Meubles an: dies muß also mit veranschlagt werden. Nun wir wollen sehen, wie wir dies machen. Ein Capital zu Zin¬ sen verdoppelt sich in 20 Jahren, wachst also in 10 Jahren um die Hälfte seines Betrages. Wenden wir diesen Grundsatz im umge¬ kehrten Sinne an, so ist es klar, daß, wenn mich meine Meubles, als nur zu 5> F. Kleidungsstücke...... 180 -?2 - . 72 -s - . 72 -3 - . 48 -2 - 96 -4 - ' . 296 -9 . 241 - Summa1284 Thaler. ,5SZ Pfennige Rechnen wir für Wohlthätigkeitshandlungen aller Art und etwaige Ausgaben, die wir vergessen haben, wie z. B. Tabak und Cigarren ze. etwa so viel, daß die 1400 Thaler voll werden, also noch 116 Thaler jährlich, was monatlich etwa 9z Thaler, täglich also 9Z Silbergroschen oder stündlich fast 5 Pfennige giebt, — so erhalten wir folgendes Doppelresultat: Von unsrem Einkommen von 18W Thalern können wir etwa 4V0 auf unsre geistige Belehrung und Unterhaltung verwenden; alle übrigen Bedürfnisse unsres Lebens kommen uns stündlich auf 53z und nachträglich noch auf 5,, also zusammen auf 58z Pfennige zu stehen; oder wenn wir die Frage in der Ueberschrift dieses Auf¬ satzes beantworten wollen: die Minute unsres Lebens kostet uns nicht ganz einen Pfennig. Aus dem Studienhefte eines Musikers Neben den unendlich vielen Gegenständen, welche in unsrem alten Erdtheil das Interesse aller Civilisirten in Anspruch nehmen, ist seit" einigen Jahren ein neuer aufgetreten, der, wenn auch zu allen Zei¬ ten ein Gegenstand der Theilnahme, doch nie in einem so hohen Grade und so lebhast dieselbe sich zu erringen gewußt hat. China, das ungeheure Mittelreich, das in uralt-conservativer Staatsweisheit allen Eindruck fremder Sitten und Gebräuche sich fern zu halten und seine eignen in ungeänderter Einfachheit zu bewahren verstanden hat; China, das durch diesen allen Fortschritt hemmenden Geist von der rastlosen, unruhig vordringenden Europäischen Bildung wirk¬ samer geschieden wird, als durch seine Mauer von vergoldetem Por¬ cellan, — es ist uns nun plötzlich durch den hartnäckigen, jahrelan¬ gen Widerstand, den eS dem um sich greifenden commerciellen und politischen, mit Opium und Pulver bewaffneten Erobcrungsgcist Englands entgegensetzt, unendlich näher getreten- es ist eine Aktua¬ lität geworden. Durch die Wichtigkeit, welche der Ausgang deS anglo-chinesischen Krieges, es mögen die eisernen Würfel fallen, wie sie wollen, für das europäische Staatenleben haben kann; durch die Aussicht, der europäischen Civilisation in China neue Ausgangs¬ punkte zu eröffnen und ihrer Thätigkeit ein zwar nicht jungfräuliches, aber doch lange brach gelegenes Feld anzuweisen — durch dieß und unendlich viele andre Dinge, deren Erörterung uns hier zu weit seitab führen würde, hat China in unserem Vorstellungskreise einen bedeutend vorteilhafterer Platz gewonnen. Wir hören auf, oder sollten eS wenigstens thun, die Chinesen für die überaus lächerlichen Personen zu halten, zu denen sie bisher ein unbegründetes Volksvor¬ urtheil gestempelt. Alles, was zur Gewinnung einer richtigen Idee von der Verstandes- und Geistes-Bildung dieses so bedeutenden Volkes beitragen kann, hat daher den Werth einer culturhistorischen Studie, von welchem Standpunkte aus auch die folgenden Seiten über die chinesische Musik angesehen und beurtheilt sein wollen. Da sie obendrein auch noch das Interesse einer Tageöneuigkeit ha¬ ben, so glauben wir den Lesern dieser Blätter keine unpassende noch unwillkommne Gabe damit zu bieten. Die Chinesen schreiben der Musik einen sehr alten Ursprung zu. Sie nennen als deren Erfinder Fo-Hi, ihren ersten Fürsten; nach Einigen ein Zeitgenosse Noah'S, nach andern Noah selbst. Fo-Hi hatte eine schone Lyra und eine Guitarre gebaut, welche eine erhabene Harmonie hervorbrachten, die Leidenschaften bändigten, den Menschen tugendhaft machten und ihn bis zu den himmlischen Klar¬ heiten emporhoben. Nicht minder geschickt als Orpheus und Amphion, entlockten die chinesischen Musiker-Philosophen ihren In¬ strumenten Töne, wodurch sie die wilden Thiere zu zähmen und die Sitten der Menschen, welche oft noch wilder, als die Bestien waren, zu mildern vermochten. „Wenn ich die klangvollen Steine meines King ertönen lasse, reihen sich die Thiere um mich her und hüpfen vor Freude." So sprach der berühmte Könnet mehr als tausend Jahre vor der Geburt des thrakischen Sängers. Nach der Meinung der gelehrten Chinesen aller Zeiten, hatte die alte Musik die Macht, die höheren Geister des Himmels zum Niedersteigen auf die Erde zu bewegen; sie konnte die Schatten der verblichenen Menschen aus der Gruft'emporbannensie flößte den Menschen die Liebe zur Tu¬ gend ein und kräftigte sie in der Ausübung ihrer Pflichten. „Will man wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der Bewohner gut oder schlecht sind, so prüfe man die bei ihnen herrschende Musik." So sprach Confucius, der hei.lige Lehrer, der Weise, wie ihn die Chinesen per «-xceüencv nennen, lange vor Plato, der unwissentlich nur seine Worte wiederholte. Man erzählt übrigens von demselben chinesischen Philosophen, daß, nachdem er eines Tages auf einer seiner Reisen ein von dem großen Könnet componirteS Musikstück gehört, dieses einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, daß er länger als drei Monate an nichts Andres zu denken ver¬ mochte, und daß während dieser Zeit selbst die ausgesuchtesten Ge¬ richte nicht im Stande waren, seinem Geschmacke Beifall abzuge¬ winnen. .... Nachdem Hoangti das Reich erobert hatte, wollte er auf die langen Kriege, welche seine Unterthanen ertragen hatten, die Wohlthaten des Friedens folgen lassen und denselben sichern, in¬ dem er die schönen Künste und deren Cultur in seinem Reiche be¬ förderte. Er ließ daher Ling-Lun, einen der Großen seines Hofes, rufen und bat ihn, eine Theorie der Musik auszuarbeiten, indem er ihm bemerkte, daß falls jener diesem Wunsche nachzukommen unter¬ ließe, er sich in die harte Nothwendigkeit verseht sehen würde, ihm Zunge und Ohren abschneiven zu lassen. Ling-Lun wurden durch dieses letzte Argument seines huldvoller Kaisers alle Einwendungen erspart, die er gegen diesen Auftrag machen wollte, so wie alle Be¬ merkungen über die Schwierigkeit, eine Wissenschaft zu begründen, deren Theorie so verwickelt sei. Er beschloß also die Elemente der Kunst zu studiren und trat zu diesem Behufe eine lange Reise an. Er hatte sich vom Hofe zunächst in die Gegend von Si-jung im Nordwesten von China begeben. Hier wachsen aus einem hohen Gebirg die schönsten Bambusrohre. Nun ist der Bambus bekannt» lich in seiner Länge durch mehrere Knoten zertheilt, wodurch jedes Rohr in eben so viele, mit einander nicht in Zusammenhang stehende Röhre getheilt wird. Ling-Lun erging sich im Gebirge, beschäftigt mit den Gedanken, wie er seine Zunge und Ohren behalten könne; denn er hatte die Schwachheit, auf diese Theile seines Kopfes viel zu hal¬ ten. Vergebens aber strengte er sein Gehirn an; er sand auch nicht eine einzige Idee. Die Nothwendigkeit, Genie zu haben, machte ihn natürlich zum Dummkopf. Während er so betrübt ging, brach er ein Bambusrohr ab, schnitt zwischen zwei Knoten eine der Rohren ab, aus denen der Stab bestand, reinigte diese Röhre von ihrem Marke und blies sodann hinein; — Alles aus Zerstreuung. Man denke sich sein Erstaunen, als er dem Rohre einen Ton entlockte, der ihm den Ton seiner Stimme vollkommen zu gleichen schien. Ling- Lun wandte sein Gesicht nach Norden, und warf sich zur Erde, um die Gottheit dankbar anzubeten. Kaum hatte er nach der ersten Ent¬ deckung sich zwanzig Schritte weiter bewegt, als er sich in der Nähe des Ortes befand, wo die Quelle deö Flusses Hoang-Ho entspringt. Das Wasser quoll mit Kraft aus dem Gebirge hervor und das Geräusch, welches sein Brausen hervorbrachte, war wunderbarer Weise im Einklang mit dem Tone, den er dem Bambusrohre ent¬ lockt hatte. „Dieses also," rief er entzückt, „ist der Grundton der Natur; von diesem müssen alle anderen Tone entspringenI Aber"— uno hier begann eine neue Sorgcnreihe für ihn — „auf welche Weise kann dieß geschehen?" Um hierüber behaglicher sich einem reiflicher Nachdenken zu überlassen, legte sich Ling-Lun im Schatten eines Baumes nieder, und von der Anstrengung seiner körperlichen und geistigen Thätig¬ keit gleich sehr ermüdet, schlief er ein. Aber sein Schlaf war un¬ ruhig und dauerte nur kurz; denn ihn quälte ein Traum, in wel¬ chem er lange Reihen von Ohren und Zungen an sich vorbeiziehen sah. Von diesem peinlichen Eindruck ward er durch einen andern überaus angenehmen erlöst. Der wunderbare Vogel Toung-Hoang nämlich hatte sich mit seinem Weibchen auf die Zweige des Bau¬ mes, unter welchem er ruhte, niedergelassen. Nach einem Aberglau¬ ben der Chinesen zeigt sich dieser Vogel den Menschen nur, um ihnen eine Wohlthat des Himmels zu verkünden. Sobald er be¬ merkte, Ling-Lun sei bereit ihn anzuhören, schlug er drei Mal mit seinen Flügeln und ließ dann zugleich mit seinem Weibchen die ent¬ zückendsten Töne selner Stimme laut werden. Alle andern Vögel verstummten, die Jnsecten hörten auf zu Sumsen und die ganze Na¬ tur schien schweigend zu lauschen. Ling-Lun war außer sich vor Vergnügen, wußte aber bald seinen Enthusiasmus so weit zu be¬ herrschen, daß er, sich gänzlich seiner Rolle als Beobachter über¬ lassen konnte. Bei aufmerksamem Zuhören unterschied er sehr bald in dem Gezwitscher der beiden Vögel zwölf Tone, von denen das Männchen und das Weibchen, jedes sechs, hören ließen. Das Selt¬ samste bei der Sache war, daß der erste Ton, den das Männchen von sich gab, mit der Stimme Ling-Lun'S, dem Tone des Bambus und dem Geräusch der Quelle des Flusses H o arg-h o übereinstimmte. Ling-Lun schloß hieraus ein zweites Mal, daß dies der Grundron sei und daß man von diesem ausgehen müsse, um die übrigen und das ganze musikalische System zu finden. Er kehrte nun zu dem Gebirge zurück, wo die Bambus wuchsen und schnitt sich zwölf Röhren von verschiedener Größe, indem er sinnig und richtig annahm, daß er durch diese Röhren die zwölf Töne erhalten würde, die er aus dem Munde des Vogels Toung-Hoang gehört. Da er in der That so glücklich war, dieses Resultat zu erhalten, so kehrte er zu dem liebenswürdigsten Hoang-ki zurück, um ihm seine Entdeckung mit¬ zutheilen. Nicht allein bewahrte somit Ling-Lun seine Zunge und Ohren, sondern er erhielt auch zur Belohnung ein Geschenk, be¬ stehend in den jährlichen Einkünften dreier Städte. Die Tonleiter der Chinesen besteht aus zwölf Tönen, die durch das Intervall eines halben Tones von einander getrennt sind. Man begreift leicht, daß eine aus solchen Elementen gebildete Musik mit unserer europäischen Kunst wenig Analogien haben kann. Wir würden daher auch wohl nur sehr wenig Vergnügen ha¬ ben, wenn wir die Lieblingsarien der Chinesen hörten, während diese ihrerseits in den Melodien, welchen wir unsern Beifall schen¬ ken, nichts Anziehendes finden können. Pater Amyot, einer der Missionaire, welche um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sich in China aufhielten, war ein ziemlicher Musiker; er spielte die Flöte, ja sogar das Clavier. Er hatte nun den Versuch gemacht, mehre¬ ren sehr gebildeten Chinesen, die er zu sich geladen, die Ueberzeu¬ gung beizubringen, daß die europäische Musik der von Ling-Lun er¬ fundenen bei weitem überlegen sei. Zu diesem Behufe spielte er ihnen einige Stücke von Couperin und Vlaret, zwei berühmten Com- ponisten jener Zeit, vor, ohne jedoch bei seinen Zuhörern den ge¬ wünschten Zweck zu erreichen. Nachdem sie ihm nämlich mit vieler Aufmerksamkeit zugehört hatten, drückten sie ihm höflich ihr Bedauern darüber aus, daß sie unmöglich seiner Meinung sein könnten. „Da Eure Melodien nicht für unsere Ohren, noch unsere Ohren für Eure Melodien geschaffen sind, so kann man sich durchaus nicht wundern, daß wir die Schönheiten derselben nicht empfinden. Die Töne unserer Musik dringen uns zu Herzen, sprechen uns zur Seele. Wir fühlen, wir begreifen sie; was Ihr uns aber vorspielt, macht durchaus keinen Eindruck auf uns." Pater Amyot konnte sie in seinem Gewissen über diese Sprache nicht tadeln; denn, sagte er zu sich selbst, die Musik ist die Sprache des Gefühls, alle unsere Lei¬ denschaften haben ihre eigene Sprache; Musik also muß, um gut zu sein, mit den Empfindungen, die sie ausdrücken will, im Einklang stehen. Auch in neuerer Zeit haben die Chinesen, im Betreff der Vor¬ züge ihrer Musik vor der europäischen, dieselbe Meinung an den Tag gelegt, wie diese Chinesen des siebzehnten Jahrhunderts. Lord Macartney, einer der letzten Diplomaten, die England nach China gesandt — unseren deutschen Lesern aus Van der Velde hinlänglich bekannt — hatte zur Vermehrung des Glanzes seiner Gesandtschaft ein Gefolge von europäischer Militairmusik mitgenommen und ließ dasselbe häufig vor den höheren Beamten, mit Venen er in Berüh¬ rung kam, Stücke erecutircn. Er erhielt jedoch eben keinen bessern Erfolg als Pater Amyot. Die englischen Offiziere ihrerseits, welche zur Ambassade gehört hatten, bezeugten bei ihrer Rückkehr nach England einen großen Abscheu gegen die chinesischen Melodien und Instrumente. Sie hatten das Theater besucht, um einer zu ihren Ehren gegebenen Vorstellung beizuwohnen; aber kaum hatte das Orchester die ersten Accorde gespielt, so suchte einer nach dem andern einen Vorwand, um sich möglichst bald zu empfehlen. Als sie wieder in Europa waren, sagten sie, tausend Petarden und schlecht geblasene Trompe¬ ten, die man zugleich hörte, das wäre am Besten im Stande, eine richtige Idee von chinesischer Musik zu geben. Die militairischen, wie die Theaterorchester dieses Volkes waren nach ihrer Schilderung abscheulich. In diesem Urtheil aber haben die Herren Engländer, obgleich sie sich einbilden, die äußersten Grenzen der Bildung erreicht zu haben, doch »veniger gesunden Menschenverstand an den Tag ge¬ legt, als die Chinesen, diese Halb-Barbaren, nach englischer Benen¬ nung. Wie eS diese hundert Jahre früher zum Pater Amyot ge¬ sagt hatten, in der Musik hängt Alles von den verschiedenen Ge¬ wohnheiten des Ohres ab. So stabil auch China im Ganzen ist und besonders nach au¬ ßen hin erscheint, so hat doch hier, wie anderwärts, die Musik ihre Revolutionen durchgemacht. Da jedes Kaiserhaus die Leistungen der vorigen Dynastie überbieten wollte, so wurden dadurch sowohl in der Feststellung der Tonleiter, als in der Form der Instrumente mehrere Veränderungen eingeführt; aber diese UmgestaltltNgen fanden vor dem Richterstuhl des Volksgeschmacks, dem die älteren Gebräuche 13 unendlich theuer und werth sind, keinen Beifall. Endlich unternahm es der Kaiser Thal An, den hierin alle bedeutenden Gelehrten des Kaiserreichs unterstützten, der Musik ihren alten Glanz wiederzuge¬ ben, indem er sie so wieder herstellte, wie sie anfangs gewesen war. Um die mathematischen Verhältnisse der zwölf Töne der Ton¬ leiter auf eine unabänderliche Weise festzustellen und zu bewahren, machte ein sehr achtungswerther Chinese, dessen Namen aber nicht bis zu uns gedrungen ist, den Vorschlag, zwölf Glocken zu gießen, deren Vereinigung eine Muster-Tonleiter bilden sollte. Die Idee fand höhern Orts Beifall und ward also in's Werk gesetzt. Ist es nicht dasselbe, was man heutzutage verlangt, indem man alle Völker Europas zur Annahme eines einzigen, allgemein gelten¬ den Stimmumfanges zu bewegen sucht? So wurden denn Samm¬ lungen von Glocken von einem genau berechneten Klang gegossen und in gewissen öffentlichen Anstalten hingestellt, damit Jedermann hingehen könne, sein Instrument nach den Tönen zu reguliren, welche diese Glocken von sich gaben. Gegen das Ende der Dynastie Tang war bei Gelegenheit der Empörung des Ryan-in-ehalt und deö Che-fe-mung der Kaiser aus seiner Hauptstadt entflohen, sein Palast geplündert, die Instrumente zerstört und die Musterglocken von den Orten, wo man sie aufbewahrte, weggeführt worden, um sie in Kriegswaffen zu verwandeln. DaS war der empfindlichste Verlust für die Chinesen. Man denke sich einmal, welche Verwirrung plötzlich in unserem modernen gesellschaftlichen Leben eintreten würde, wenn durch irgend ein unvorhergesehenes Ereigniß man sich der Mittel beraubt sähe, die Zeiteintheilung dermaßen zu bestimmen, daß die Stunde für Alle eine und dieselbe sei! Man stelle sich das ent¬ setzliche Chaos vor, in das wir verfallen würden, wenn Taschen- und Pendeluhren jede ihren eigenen Gang zu gehen beliebten, ohne daß wir im Stande wären, sie unter einander in Einklang zu brin¬ gen! Fast eben so bedauernswert!) war die Lage des chinesischen Volks, als es sich der Mittel beraubt sah, sein Gong, King und Ehe gleichmäßig nach einem feststehenden Stimmumfang zu reguli- ren. Denn dieses achtungswerthe Volk betrachtete die Musik nicht, wie dies bei uns noch so häufig der Fall ist, als eine frivole, nutz¬ lose Kunst, sondern es sah sie an als die Universalwissenschaft, als die Wissenschaft aller Wissenschaften, als diejenige, welche allen andern zum Ausgangspunkt und zum VergleichungSmittel diente. Er wurden daher in die Tartarei, wohin die ersehnten Glocken transportirt worden waren, Deputationen gesandt und der Tag, an welchem eine der dem Heiligthume entrissenen Sammlungen wieder in die Hauptstadt zurückkehrte, nachdem man sie mit Gold im wört¬ lichen Sinne aufgewogen, ward als ein Tag öffentlicher Freude angesetzt. Die Chinesen kennen acht Arten tönender Körper: das Metall, den Stein, die Seide, das Bambusrohr, den Kürbis, gebrannte Ton- erde, die Haut der Thiere und das Holz. Vermittelst dieser Bestandtheile bauen sie ihre musikalischen Instrumente, deren sie drei Arten haben, Blase-, Saiten- und Schlag-Instrumente. Der ge¬ lehrte Gerelli Careri, welcher im Jahre l6W China bereiste, theilt uns das Resultat seiner Beobachtungen über den Gegenstand dieses Aufsatzes in folgenden Worten mit: „Die Instrumente der chine¬ sischen Musik sind von den unsrigen sowohl in Betreff der Form, als in Betreff der Art, darauf zu spielen, gänzlich verschieben. Sie sind aus Bronce, Steinen und Thierhäuten verfertigt, welche letztere auf mannigfache Art ausgespannt sind. Man findet Arte» von Lauten und Violinen mit einer, drei und sieben Saiten. Ein andres, weit älteres Instrument hat einige Analogie mit unserer Harfe; aber die Saiten sind weder aus Thierdärmen, noch aus Metall, sondern aus gesponnener Seide verfertigt. Aber waS ist das für eine Musik, welche nicht die. geringste Verschiedenheit in der Tonalilät besitzt, welche zwischen den verschiedenen Stimmen keinen Unterschied macht und der es an den Nuancen fehlt, in denen der vorzüglichste Reiz der Kunst liegt. Man findet nie auch nur die geringste Spur von Harmonie; man Hort zuweilen hundert Musiker dieselbe Note ganze Minuten lang spielen oder singen, ohne daß sie das Bedürfniß zu verspüren scheinen, einen andern Ton anzustimmen." Die Chinesen besitzen ein Instrument, das einige Aehnlichkeit mit der Orgel hat. So unbeholfen und roh es auch ist, so ist es doch nach denselben Principien, wie die Orgel, gebaut. Es besteht aus dreizehn, neunzehn oder vierundzwanzig Bambusröhren, die an einander gebunden sind; wer darauf spielt, bläst in ein Mundstück uno die Lust wird in einen Behälter getrieben, von wo aus sie Is-i- sich den Röhren mittheilt, nach Maßstab, daß die Finger, welche die Mündungen zuhalten, sich in die Höhe heben, um der Luft freien Durchzug zu gestatten. Diese kleine Orgel heißt Cheny. Diejenigen, welche darauf spielen, lassen gewöhnlich nur Melodien hören; in wenigen, sehr seltenen Fällen jedoch spielen sie eine Be¬ gleitung zum Gesang, die aber, für europäische Ohren wenigstens, mit dem GesangeSton durchaus keine Verwandtschaft hat. Nie aber hört man sie Harmonieverbindungcn, d. h. Accorde oder Intervalle spielen. Die Chinesen haben übrigens über die Pflichten eines Musikers in der Ausübung seiner Functionen ganz eigenthümliche, ihnen allein angehörende Ideen. Ein Schriftsteller, der von der Kunst, das Kilt zu spielen, handelt, drückt sich folgendermaßen aus: „Diejeni¬ gen, welche ihm Töne entlocken wollen, die fähig sind, das Ohr zu rühren, müssen ein ernstes Aeußere und ein wohl geregeltes Benehmen sich alieignen." Der Kaiser Thal-An stellt in einem eigenhändig von ihm niedergesehriebenen Musiktraktat eine dieser Aeußerung ähnliche Meinung auf, inoem er sagt: „Diejenigen, welche Ehe spielen wollen, müssen ihre Leidenschaften in sich er- tödtet haben und im Grunve ihres Herzens die Liebe zur Tugend unterhalten; sonst werden sie dem Instrumente nur unfruchtbare Töne entlocken, welche uns nicht zu rühren vermögen." Wer in diesen Grundsätzen auch nicht das Zeichen einer sehr weit vorgeschrittenen musikalischen Ausbildung erblicken will, wird doch wenigstens ihren hohen moralischen Werth anerkennen müssen. Die Instrumente, von denen wir bisher gesprochen, sind nicht die einzigen, welche die Chinesen besitzen. Sie haben auch noch eine Art Viola, die mit seidnen Saiten versehen ist, und auf der man mit einem Bogen spielt. Pater Scncvo. Verfasser einer Reise durch Asien, spricht sehr lobend von dem Effect, welchen diese In¬ strumente hervorbringen, wenn sie von einem geschickten Musiker gespielt werden. Burney giebt uns die Betreibung eines chinesi¬ schen Instruments, daS er in Paris beim Abb« Arnaud gesehen, welchem es gehörte; es bestand aus einer gewissen Anzahl Holz¬ platten, die aber so klangvoll waren, als wären sie von Metall gewesen, und die quer über ein hohles Gefäß gelegt waren, das seiner Form nach einem Schiffskiel ähnlich war. Es hatte einen Tonumfang von zwei Octaven. Die chinesischen Damen spielen gewöhnlich auf Blaseinstrumenten, wie z. B. Flöte und Flageolet. Das Lieblingsinstrument der Männer hat am Meisten Aehnlichkeit mit einer Guitarre. Wir wollen der Vollständigkeit halber noch hinzufügen, daß das älteste Instrument der Chinesen, Namens Bisem, die Form eines von 5 Löchern durchbohrten Eies hat, wobei das Mundloch nicht mitgezählt ist. Pater Amyot behauptet, Spuren seiner Eristenz MM Jahre vor Christus entdeckt zu haben. Die religiöse Musik der Chinesen besteht hauptsächlich aus Pauken und Glocken von allen Dimensionen. Durch ein sonderbares Zusammentreffen ist die Tonleiter der Chinesen fast dieselbe, deren man sich bedient, um die schottischen Nationalmelodicn zu schreiben. Man hat sich davon überzeugt, indem man die Gelegenheit hatte, einige Melodien zu prüfen, welche von Reisenden, die das Mittelreich besucht haben, in euro¬ päischer Notenschrift mitgetheilt worden sind. Burney, der als Engländer die schottischen Melodien gekannt hat, also eine Au¬ torität in diesem Punkte ist, hat zuerst auf diese Aehnlichkeit auf¬ merksam gemacht. Seiner Meinung nach ist die chinesische Ton¬ leiter durchaus dieselbe wie die schottische. Jedoch will er damit nicht sagen, daß eine dieser Nationen ihr System der andern entlehnt habe, was gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, da die beiden Völker unmöglich in Beziehungen zu einander gerathen sein können. Dem englischen Schriftsteller jcheint nur diese Uebereinstimmung das hohe Alter beider Systeme anzuzeigen. Er glaubt auch, daß diese Gesänge weit natürlicher sind, als sie beim ersten Anblick scheinen; und da sie ferner viel Aehnlichkeit mit den alten griechischen Melodien haben, so kann man, seiner Ansicht nach, hieraus schließen, daß diese Musik der Natur der Völker angemessen ist, so lange sie die Einfachheit ihrer Sitten bewahren und die Kunst noch in ihrer Kindheit ist. Im chinesischen Drama spielt die Musik eine ziemlich bedeutende Rolle: der Dichter ruft diese Kunst zu Hülse, wenn er den Paro- rysmus der Leidenschaft erreichen will, und sucht durch sie den Sinn der Worte zu verstärken. Auch bildet die Musik allein eine beson¬ dere Art von Schauspiel Sir. George Stauntsn erzählt, daß die Gesandtschaft, zu der er gehörte, zu Taru in Cochinchina der Vor- Stellung einer historischen Oper beiwohnte, in welcher die Recitative, Arien und Chöre eben so regelmäßig sich einfanden, wie in einer italienischen Oper. Er fügt hinzu, daß es unter den Darstellerin¬ nen einige recht erträgliche Sängerinnen gab. Ueberhaupt fällt dieser Reisende ein sehr günstiges Urtheil über die chinesische Musik. Wenn man ihm vollkommen Glauben beimessen darf, so besitzt dieses Boll eine große Anzahl verschiedener Instrumente, die nach denselben Principien gebaut und dieselben Wirkungen hervorzubringen bestimmt und im Stande sind, wie unsere europäischen. „Zu Zhe-Hol," sagte er, „habe ich Sänger gehört, die ihre Stimmen so zu beherr¬ schen verstanden, daß sie von fern Harmonikatönen glichen und daß mehrere unter den Gentlemen der Gesandtschaft, welche im Punkte der Musik competente Richter abgeben konnten, von ihrem Gesang ganz entzückt waren." Man darf, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten, annehmen, daß diese Meinung etwas zu nachsichtig und guil- feig ist, aber man ist zugleich berechtigt, zwischen diesem vortheilhaf- ten Urtheil, das offenbar übertrieben ist, und dem andrerseits allzu¬ verächtlichen Ausspruch von gar zu gestrengen Richtern über die chine¬ sische Musik, einen mittlern Standpunkt anzunehmen. Bei allen ihren Festen verwenden die Chinesen Musiker, sie haben herumziehende Musikanten, ziemlich nach Art der alten Troubadours, welche, von Provinz zu Provinz ziehen, überall an¬ gehalten und überall spielend. Ebenso hat die Musik an allen öf¬ fentlichen Ceremonien ihren Antheil und es würde in den Augen der Chinesen kein Fest vollständig sein, an dem nicht Musiker sich auf Chen» und King vernehmen ließen. Eine kurze Zeit lang waren die Chinesen nahe daran, ihrer Nativnalmusik zu entsagen, um sich die europäische anzueignen. Zur Zeit nämlich, als Lord Macartney als Abgeordneter des Kö¬ nigs von England seine große Reise durch China und die Tartarei machte, wurden die einheimischen Musiker von der Wirkung der Stücke ergriffen, welche die im Gefolge der Gesandtschaft befindliche Musiktruppe spielte. Der Musikdirektor der kaiserlichen Kapelle kam zu Sr. Excellenz, dem Gesandten, und bezeugte ihm von Seiten Sr. Maj. den Wunsch, Zeichnungen der Instrumente von englischer Fa¬ brik zu erhalten.. Nachdem ihm die Erlaubniß hierzu ohne Mühe geworden, schickte er Maler zum Gesandten, welche große Blätter auf dem Fußboden ausbreiteten, die Klarinetten, Flöten, Fagotte und Hörner darauf legten und dann mit ihren Pinseln die Figuren dieser Instrumente nachmalten, indem sie alle Oeffnungen maßen und die geringsten Kleinigkeiten bemerkten. Der Kapellmeister er« klärte, eS sei seine Absicht, Ähnliche Instrumente durch chinesische Arbeiter anfertigen zu lassen, um sie dann ihrem Musiksystem anzu¬ bequemen; mag es nun aber den Arbeitern nicht gelungen sein, sie zu fabriziren, oder mögen die Musiker sie nach kurzer LehrlingSzeit bald überdrüßig geworden sein, die alte chinesische Musik gewann rasch wieder die Oberhand. Sollten wir durch die neueste Expedition der Engländer einige Aenderungen oder sonstiges Interessante über diesen oder andere Punkte der chinesischen Musik erfahren, so werden wir, wenn wir den Dank der Leser damit zu verdienen hoffen können, es mitzutheilen nicht unterlassen. x. X. An Ludwig Philipp") Wenn jahrelang die kühne Heldenhand Dem dunklen Schicksal kämpfend widerstand, Wenn schon vom Ziele träumt der Menschcnwitz, Da aus der heitern Höhe schlägt ein Blitz! Die dunkle Truhe schaust Du gramerfüllt, Die Deines Erstgebornen Staub umhüllt, Und mancher Funke, der sich kaum verbarg, Kann bald entlodern über diesem Sarg. Mit Staunen sah man Dich, der oft genug, Wie Keiner sonst, die schwersten Loose trug. Die Todespfeile schwirrten jederzeit An Deiner Schläfe hin — Du warst gefeit! Den Neid der Fürsten und des Volkes Wuth, Der Zwietracht grimmig angeschürte Glut, Des Hasses Flüche wie deö Kampfes Joch, Sie alle trugst Du, und Du standest doch! Vom höchsten Stamme wärest Du gezeugt, Doch diese Zeit hat manchen Stamm gebeugt. Halbjüngling warst Du noch, da zaubervoll Der jungen Freiheit Stegcsruf erscholl; Die Jubelkunde von der neuen Zeit Und von gesunkner Fürstenherrlichkeit, Die hohe Lehre, der Ihr dienen müßt, — Dir kam sie an des Vaters Blutgerüst! *) Beim Tode des französischen Thronerben. Noch standest Du in Frankreichs Heldenchor, Als siegreich flatterte das Tricvlor; Doch bald hast Du in ruheloser Flucht, Dein Haupt zu betten, einen Stein gesucht. Am Fürstenhöfe wie im Bürgerhaus, Scheu rüstest Du von Deinen Fahrten aus; Im Alpenhorst wie in der neuen Welt, O Vielgeprüfter, schlugst Du auf Dein Zelt. Da schautest Du in ihrer Nichtigkeit Die Scheintrophäen alt- und neuer Zeit; Du sahest tiefer in das Weltgeschick, Und jede Täuschung schwand vor Deinen Blick. Im Städtchen, wo Du hieltest kurze Ruh, Im alten Klosterraum, erklärtest Du Die Weltenkugel Deinem Schüler!)auf; Du thatest wohl! Du kennest ihren Laus. Als nun erschienen war Dein großer Tag, Da zeigtest Du, was Menschenkunst vermag. Du schafftest ruhelos in That und Wort, Und rechnetest und harrest immerfort; Du glaubtest, wenn Dein Werk Du angeschaut, Es sür ein Menschenalter doch gebaut, ^— Und da Du ruhen wolltest, trifft der Schlag Vernichtend auf Dein Haus am hellen Tag! Da wurden Viele wohl vom Schmerz erfaßt, Die Dich als Mann gefürchtet und gehaßt; Und Manchem eine Thräne still entfloß, Der nie um einen König sie vergoß. Wohl magst Du, jeder Erdenlust beraubt, Zur Grube tragen Dein gebeugtes Haupt, Da von der Pferde Huf zu dieser Frist Die schönste Hoffnung Dir zertreten ist. Wir aber sehn des großen Geistes Hauch, ^ Wie überall, in der Zerstörung auch; Dein ganz Gebäude sank vor diesem Stoß, Und wenn Du selbst auch bliebest thränenlos! Zum höchsten Ziele geht das Volk empor; Kein Mächtiger zieht ihm Systeme vor. Der Menschengeist, der jede Fessel bricht, — Erkern' eS nur! — er trägt auch Deine nicht. Tlieod. Creizenach. T a g e b u es. i. Was sagen Sie dazu, lieber Kurcmda, daß ich nach so langem Stillschwei¬ gen jetzt auf einmal aus Ostende an Sie schreibe, mithin an Ihnen vorübergc- reist bin? Allein, wissen Sie, ich wollte gern als ganz genehmer Mensch nach Brüssel und zu Ihnen kommen. Ist es nicht höchst unanständig, daß man ei¬ nen Unterleib haben muß? Vom Oberleibe will ich nichts sagen, der ist schon nobler. Wie fatal aber, daß ein menschlicher Königswille ein eine solche Na- deas-corpus-^ete gebunden ist, an ein solches Unter- und Oberhaus! Mein Oberhaus hat es immer rechtschaffen mit mir gehalten, wie es Oberhäusern und ersten Kammern so wohl ansteht. Die Luft der deutschen Berge und die Freiheit des deutschen Bundes athmet meine Brust breit und ohne Hüsteln. Aber das fatale Unterhaus! Stolz auf sein eigenes Nervengeflecht, dem die Aerzte vollends den hochmüthigen Namen des Sonncngcflechts beilegen, hat es sich mehr und mehr unabhängig machen wollen. Ich habe das Meer zu Hülfe rufen müssen, denn ich bin einer der Könige, die sich nicht selbst zu helfen wissen. Und siehe, das deutsche Meer hat sich nicht für incompetent er¬ klärt, sondern mit den hundert Schauergeißeln seiner Flutwellen hat es den eigenwilligen Unterleib gepeitscht und die Pulse schlagen wieder geregelter. Aber was soll ich Ihnen nun von Ostende sagen? Sie kennen es ja besser, als ich. In 4 Stunden ist man von Brüssel hier und wie oft mögen Sie schon hier gewesen sein! — Ich wandle gern am feuchten Strande zwischen den anstürmenden Fluten und den Menschen, die hoch oben auf dem schöne« Steindämme hin und her rennen. Ich gestehe Ihnen, die Wogen sind mir eigentlich neuer und näher als die Menschen. Dies Rauschen der Wasser, dies Donnern der zusammenstürzenden Fluten ist mir eine Sprache, die ich, wie ein Kind, — mit dem Gefühle zu verstehen suche. Oben auf dem Damme aber höre ich nur Englisch, Französisch und—Gottlob, auch viel Deutsch. Ja doch, ihr lieben Deutschen, thut euch nur überall recht hervor, auch mit kran¬ ker Milz, damit ihr lernt so mißvergnügt auszusehen wie die Engländer. Und unter den lieben Landsleuten sehe ich auch einen hoch und hübsch gewachsenen, einen deutsch gewachsenen Mann wandeln, der nach etwas aussieht. Er trägt den Stock gewöhnlich in der Linken, an der Schulter ausgestreckt. Wer er ist? El, hinter ihm bleiben die einheimischen Frauen in ihren langen, dunkle» Kapuzinermänteln und die Männer in den langen Kamisölen stehen und flü¬ stern einander in ihrem ehrerbietigsten Flämisch zu: „Hat is den Broeder van ouzcn Koning! Ja, es ist der Herzog von Coburg! Das Heer der deutschen Badegäste hat seinen Herzog hier und er theilt seine Leiden mit ih¬ nen. Auch er appellirt an das competente deutsche Meer, an die Austrägal- Jnstanz der Flutwellen. Da träumt man denn augenblicklich, dies Nieder¬ land gehöre wieder zum deutschen Reich und Ostende sei das eigentliche West¬ ende unseres großen Vaterlandes! In diesen Flamändern regt sich ja so gar sehr der Stolz, ihre alte Sprache wieder geltend zu machen, ihr — Platt¬ deutsch. Und könnte es denn diesem einst so gesunden und mit uns einigen Unterleib? Deutschlands nicht gehen, wie manchem, der hier die Cur braucht, daß er, von den Wellen des deutschen Meeres richtig getroffen, zur Einigkeit mit dem Oberleibe genese und das Herz zwischen Niederland und Hochland regelmäßig schlage? — Vielleicht, wenn die Cölner Domthürmc fertig sind, geht mit den 3 riesigen Rosen, mit denen sie endigen, die richtige Erkenntniß darüber auf, wie aus Thürmchen sich die Thürme c-rheben. Sind nicht be¬ reits die Stimmen unseres Vaterlandes Strebepfeiler zu einem Dome? O, und eS fehlt uns nur die rechte Erkenntniß zu unserem nationalen Willen. Sie sehen, lieber Kuranda, man kann sich dermalen auch nicht einmal am Meere vor dem Nationalschnupfcn des Deutschthums oder Deutschthums be¬ wahren. Man kriegt ihn von Königsberg herab bis sicher, wo Ihr König badet, bis zu diesen in den Strand gerammten Baumpfählen, die mit tausend schwarzen Muscheln und tausendmaltausend weißgrauen Muschelchen überwach¬ sen sind. Der Sommer ist dem Baden ziemlich günstig. Nach Gewittern, kalten, stürmischen Winden und raschen Regengüssen sich bisher der heitere Him¬ mel stets wieder schnell eingefunden. Die Badegäste vermehren sich auch tag» lich. Immer neue Gesichter gehen an Einem vorüber und erkennte man sie nicht an ihren, vor dem Meere staunenden Blicken als Ankömmlinge, so ließe uns der Troß des Wassergcsindcls keinen Zweifel, das sich um die Wandelnden schaart, um einander als Badcwcirtcr oder Badewcibcr mit Empfehlungen zu überbieten, bis sie mit einander uneinig werden und in Zanken und Schim¬ pfen ausbrechen. In den heitern und heißen Stunden findet die Gesellschaft keinen Platz mehr in dem alten Gebäude mit den 2 Pavillons oder mit der Halle und auf dem Zcltaltane über derselben, die der neue Anbau bietet, der kurz vor meiner Ankunft eröffnet und festlich eingeweiht worden ist. Mor, gens aber und Abends entfaltet sich der ganze Reichthum der Gesellschaft in knospenden, frischen und welken Blättern. Man wandelt auf dem Wall und Hafcndamm, oder setzt sich hinab auf den feuchten Sand der Ebbe. Diese Feuchtigkeit wird nicht gescheut, sondern gesucht. Ebenso wird es auch von den zartesten Damen dem Seewinde, weil er so gesund ist, nachgesehen, daß er manchmal gar verwegen wird und nicht blos das verborgene Schöne entfaltet, sondern auch die versteckte Schiefe verräth. Damit er es aber nicht zu toll mache, drohen ihm die Damen unter der Robe hervor mit der männlichen Rüstung langer Beinkleider. Doch Viele achten auf diesen Verkehr zwischen dem Winde und den Wandelnden wenig. UndMvcnn das ewig-geheimnisivoll- unruhige Meer den träumerischen Menschen unwiderstehlich anzieht, so wird es für heiter umherschweifende Blicke oft auch zur Schaubühne, wo man Män¬ ner und Frauen, Badeweibcr und Kinder, oder einzelne Mädchenchöre in den Wogen hüpfen und kämpfen, untersinken und auftauchen sieht. Man genießt lachend die Lust mit, die man für sich selbst schon abgethan hat oder zu der man noch das Stichwort seiner Wadestunde erwartet. Der sanfte und weit absinkende Strand begünstigt das Baden zu jeder Stunde des Tages. Man richtet sich nur nach seinen Mahlzeiten und nur diejenigen, die gern mit der Flut baden, richten die Mahlzeit nach den wechselnden Stunden der ankom¬ menden Gewässer. Das Meer übt eine größere Souverainetät über die Badenden aus, als die Heilquellen im Gebirge zu thun pflegen. Um diese bekümmert man sich in der Regel nur beim Lever des Trinkens und bei den Privataudienzen in der Badewanne- Die See ist eine strengere Gebieterin: sie will keine Huldigungen, keine Zerstreuungen und Vergnügungen neben sich dulden. Man soll seine meiste Zeit am Gestade zubringen, im säuselnden und stürmenden Anhauche des Meeres athmen, um destaAicfcr zu genesen. — Die Mahlzeiten rufen freilich in die Hotels zurück, und da die französische Küche sehr eitel und eifersüchtig ist, so hält sie ihre Gäste mit den vorgenommenen Servietten über Gebühr lange fest- offenbar nur, um das Meer zu ärgern und ihm einen Possen zu spie¬ len. Die anderen gewöhnlichen Vergnügungen ziehen sich aber respectvoll in die späte Nacht zurück, — die einzelnen Bälle, die im Stadthause gehalten werden, und das französische Theater des Herrn Piccolo, das sich in einer großen Bretterbude an den Festungswall andrückt. Bon Glücksspiel ist keine Rede, wahrscheinlich weil das Meer zu nahe ist, in welches sich der verzwei¬ felnde Spieler stürzen könnten. H. Koenig. *) 2. « Aus Wien. (Bruchstück ans einem Privatschrcibrn.) — „--So ist Alles auseinandergesprengt. Ischl hat die meisten angezogen-, es ist aber auch der reizendste Ort, dem jede Hypochondrie unter¬ liegen must. Deinhnrdstein ist nach London gereist, Zcdliz schweift am Rheine umher, Fränkl lebt in Baden. Die Sonnenhitze hat Alles ausgetrockner; die Luft, die Stadt, die Theater, die Gesellschaften — nur die Literatur kam, nicht auf's Trockne kommen. Einer Lügennachricht, die sich in den deutschen Zeitungen verbreitet hat, sollten Sie in Ihrem Blatte widersprechen. Ich weiß nicht, welches Journal zuerst die Meldung aus Miinchen sich machen ließ, die baiersche Regierung habe auf Veranlassung des ösWchischen Cabinets den Freiherr» von Hormayr ') Ostende nimmt mit jedem Jahre immer mehr >mi> mehr den Charakter einer deutschen Badcstadr an. Ueber fünfhundert Deutsche fanden sich in diesem Sommer hier versammelt. In dreißig Stunden bringt die Eisenbahn und die rauchende Kraft der Dampfschiffe die Reisenden beancm und uncrniüdct von Frankfurt nach Ostrnde, von der Mitte Deutschlands nach der Küste der Nordsee. Auch die deutsche Literatur fand da ihre Vertreter. Aus dem Hafcndamm, der hier lang« dem Meeresufer sich hinzieht, sah man in diesem Jahre einen Kreis v,n deutschen Männern, die eifrig-r als die übri¬ gen Badegäste von ihrem schönen Heimath»lande sich untcrlücltcn, von de» Schmerzen »ut Freude» ihres Volkes, von dessen Fürsten, von dessen Dichtern, von seiner Zukunft und seiner Vergangenheit. Der Zufall, der die Mcereswelle» znsammenbUst, hat hier ans dem fremde» Boden ein Häuflein Menschen zusaumiengcwehr, die daheim zwar in verschiedene» Kreisen sich bewegen, die aber dennoch einer gemeinschaftlichen Mutter an¬ gehören- der Literatur- Dr. Kolb, der Redakteur der Augsburger Allgemeinen, Pro¬ fessor Fucltcl aus Bern, Heinrich König, Franz Dingclstädt, Wild-im von Lüdemann, Advokat Qeltkcr (Redakteur des Salons), Ein spekulativer, deutscher Buchhändler hätte hier nur sein Netz in die Nordsee zu werfen brauchen nud er hätte manchen Fisch herausgezogen, dessen Schuppe» und Floßfedern im Mcßkatalogc wohl bekannt sind. Manch- der erwähnten Herren machten ihre gegenseitige Bekanntschaft hier zum ersten Mal _ milde» i» der See. Die Verbeugungen gescliabcn mit triefenden Haaren und sprudelndem Munde. Man konnte einander um so leichter entgegenkomme», als man einander cntgcgcnschwamm. Lridcr sind solche Kälte selten. Unsere Literatur trifft D. Red. sich viel häufiger im Süsiwasscr als im Salzwasser. aus dem Staatsdienste entlassen. Ich kann Ihnen die vollständige Versicherung geben, daß jedes Wort dieser Nachricht eine W?e ist. Die Lebensbilder aus dem Befreiungskriege und die Bemerkungen über den Fürsten Metternich und den seligen Kaiser Franz, die sich darin befinden, haben hier allerdings großen Spektakel gemacht — nichts desto weniger ist von Seiten unseres Cabiners auch nicht mit einer Note Erwähnung hierüber ge¬ schehen. Wenn Ihnen der Name *** eine hinreichende Bürgschaft ist, so kann ich Ihnen sagen, daß ich aus seinem eignen Munde diese Versicherung erhielt. Da Fürst Metternich persönlich in dein Buche beleidigt ist, so ist es bei dem bekannten Stolze unseres Eabinets schon von vorn herein unwahr¬ scheinlich, daß man einen solchen Schritt thun werde. Der Hergang der Sache ist dieser. Die baiersche Gesandtschaft in Wien hat in einer Depesche über den peinlichen Eindruck berichtet, den das Hormayrsche Buch hier bei Hofe gemacht. Ein vielgenannter venerischer Staatsmann hat hierauf zu dem Könige geäußert, daß eS unstatthaft sei, Herrn von Hormayr seinen diplomatischen Charakter zu lassen, da er einen der Führer der Diplomatie beleidigt habe. Der König billigte diese Ansicht. Herr von Hormayer wurde somit keineswegs aus dem Staatsdienste entfernt, sondern er hörte nur aus, eine diplomarische Stellung zu behalten. Die ganze Maßregel geschah aus jener Etiquette, welche der «s>>r!c r>>K vorschrieb. — Die östreichische Regierung hat sich nicht darein gemischt. In einer Ihrer letzten Nummern, die mir zu Gesicht- kamen, hatten Sie einen komischen Druckfehler. Sie meldeten, daß Anastasius Grün ein komi¬ sches Gedicht: die Nibelungen im Frack herausgeben werde. Es soll heißen die Hegelingen im Frack*). Dieß erinnert mich an eine wiener Correspondenz in einer leipziger Zeitung, wo ein Verehrer Saphir's die Meldung machte, Saphir könnte in Wien nicht so sprechen, wie er wollte, weil er einen Kappaun im Munde habe. Der Korrespondent schrieb wahrscheinlich einen Kappzaum D. Red. und der Setzer machte einen Kappauner daraus.--- Die Bücher um Gotteswillen. Der Cölner Dombau und die Hamburger Überschwemmung haben uns mit einer neuen Literaturclasse heimgesucht- Die um Gotteswillen-Literatur I Ohne die wohlmeinenden Absichten der Herausgeber von dergleichen Albums, Gcdcnk- büchern, Dombaustcinen in., welche das Publikum zum Besten der Uebcr- schwemmtcn in Hamburg und der dachlosen, steinernen Waisen in Eoln kaufen soll, im Mindesten zu verkennen, müssen wir doch aus den Nachtheil aufmerk¬ sam machen, welchen sie denjenigen bringen, denen sie zum Vortheile gereichen sollen. Wie Mancher, der im Stande ist, einen bedeutenden direkten Geld¬ beitrag zu liefern, glaubt der Wohlthätigkeitspflicht genügt zu haben, wenn er einen oder zwei Thaler für ein solches Buch ausgiebt. Die Unbemittel¬ ten sind es nicht, welche solche Bücher kaufen. Den Bemittelten aber giebt man dadurch eine Gelegenheit, ihr Gewissen allzuwohlfcil zu beschwichtigen.'Zu¬ dem darf man nicht vergessen, wie viel die Druck-, Satz- und andern Kosten der Ausstattung von dem eingehenden Capital absorbiren. Lasse man lieber den guten Willen seinen eignen Weg gehen— das -Ziel wird eher erreicht werden. B- Heinrich Scheerer. „Die Ultras in Kirche und Staat und die katholische Opposition in Deutsch¬ land" von H. Scheerer — eine Brochüre, die zwar nicht befriedigend, aber a,v- ') Wir glauben »och immer, c» war kein Druckfehler. regend wirkt, hat eine zweite.Auflage erlebt. Bon demselben Verfasser werden zwei Bände „Bunte Bilder aus dem Wanderleben" angekündigt, eine Samm¬ lung interessanter Charakteristiken und Reiseskizzen, deren Bekanntschaft das Lesepublikum theilweise bereits im Morgenblatte, in der Zeitung für die elegante Welt, in Ost und West, in Telegraph ?c. gemacht hat. Ein Epigramm von Zedliz, Der Dichter der Todtenkränze, der während der letzten Wochen in Cöln sich aufhielt, hat in einem dortigen Blatte folgendes boshafte Epigramm gegen Herwegh drucken lassen: Herwegh und Gott. „Denn wer wie ich mit Nott gegrollt, „Darf auch mit einem König grollen," Daß Dir Herwegh also grollet, Gott wie bist Du zu beklagen. Wie wirst Du in Deinen Höhen solche» Zorn wohl ertragen! Wenn er mit den'Königen fertig, sie erlegen sind dem Recken' Wehe dann Gott dem Allmächtigen, möcht'in seiner Haut nicht stecken. Deutsche Kunstschulen. Der Akademie in Berlin stehen mannigfache Reformationen bevor. Unter andern sollen die Schüler wieder, wie bei den alten Malern in nähere Ver¬ bindung zu ihrem Meister treten, wie dieses in Holland und Belgien noch immer der Fall ist. — Aus Prag wird den Werken des dortigen Akademie? Direktors Rüben große Anerkennung gezollt. Die Münchener Jahrbücher sprechen weitläufig über ihn. Der Graf von Nassau. Man schreibt aus Berlin: Eine Biographie des ehemaligen Königs von Holland, welche eine hiesige Buchhandlung dem Drucke übergeben hat, wird i» Kurzem erscheinen. Sie soll reich an vielfachen, höchst interessanten Anekdoten sein, die, wenn sie der Censur nicht unterliegen, Aufsehen erregen werden, um so mehr, da sie authentisch sind und das Buch einen Mann zum Verfasser hat, der hierin eine Autorität ist. In der That giebt es wenige Männer, die ein bewegteres Leben hinter sich haben, als der Graf von Nassau und wenige solche Charaktere, die ihrem eisernen Willen gegenüber keine Hindernisse, keine Opfer zu schwer finden. Ein König, der die eine Hälfte seines Reichs durch eine Revolution verliert, und der anderen Hälfte i» seinem siebenzigsten Jahre entsagt, aus Liebe zu einer Dame, der er die Hand am Altare reicht, obschon sie ein Rang tief unter ihm steht, obschon ihr Glaubcnöbckcnittnifi nicht das seinige ist, obschon er seinem ehemaligen Volke dadurch den Rücken zu¬ wendet. Was übrigens die Zeitungen von der Ansiedelung des früheren Königs von Holland in Schlesien sprachen, ist unwahr. Der königliche Graf geht sicher nach dem Haag zurück. Einige Mißverständnisse, welche in der Familie herrschten, sind durch die reiche Mitgift, welche der Prinzessin Sophie von ihrem Großvater zugesagt wurde — applcmict worden. Der Graf von Nassau gilt für den reichsten Privatmann auf dem ganzen Continent.— Druck von Fri abrich Andrä in Leipzig. Bilder aus dem deutschen Universitätsleben. Bon Ed. Müller, l. Deutsche Studentenwelt. 3Rom Frau von Stael an bis auf den Akademiker Victor Hugo ist Vielerlei über Deutschland geschrieben worden. Wir ha¬ ben viele Schmeicheleien ertragen müssen, wir konnten dieselben mit dem besten Willen nicht von uns abwehren; man hat uns manchen bittern Kelch eingeschüttet, und wir haben auch da der Nagelprobe uns nicht entzogen. Am schwierigsten mag es wohl dem Reisenden über'in Rhein und Kanal her werden, sich in ein Element unserer bunt zusammengesetzten gesellschaftlichen Welt zu finden, wofür er in seinem Lande nichts Analoges hat, ich meine den deutschen Stu¬ denten oder Burschen. So ist es französischen Beobachtern begegnet, - den Studenten mit dem wandernden Handwerker zu verwechseln, ein ungeheurer Irrthum,' der in das Bild des Ersteren Züge ge¬ bracht hat, die vollkommen das ausdrücken, was er nicht ist. Man stellt den Studenten viel zu niedrig, man verkennt das Gefühl, das er in sich trägt, die Bedeutung, die er in selner Sphäre sich giebt, wenn man ihn für nichts weiter als einen abenteuerlichen Sonder¬ ling nimmt. Er ist nicht ein bloßes Residuum der Vorzeit, eine 14 überlebende Cunosität, ein Rebell, dem die neue, glatte, alles Her¬ vorstechende übertünchende Bildung den Garaus machen müßte. Nein, trotz Allem, was man über den Verfall des Studentenstaates sagt, und über die nothwendige, schon begonnene Einschmiegung diese? Armtniussohnes in unsere polirten Salons: ich glaube, daß der Student mehr als eine flüchtige Gegenwart vor sich hat ; und wenn ich es unbedenklich zugebe, daß ihm eine Metamorphose bevorsteht, so hüte ich mich doch zu glauben, daß Er, der die reine, lebens¬ lustige, im Hochgefühl ihrer Unabhä! ugkeit aufstrebende Jugend'vor¬ stellt, zum Verschwinde» in einer Alles ehrenden Gesellschaftsform verdammt sei. Denn das ist die eigenste Natur des Burschen, sich nicht „unterdrücken" zu lassen; sein Muth ist so elastisch, das senden^ lische Princip hat eine solche Reproductionskraft, daß immerhin der Pflug einer amberartigen Kultur darüber hinwegfurchen kann, ohne ihn zu zermalmen; nach ein Paar Triennien wird er lachend, gerüstet, unsterblichkeitsfroh wieder aus dein Schutt jener Kultur auftauchen. Ich habe einen Studiengefährten gehabt, der lange mein Haus- bursche war, welchen Uebelwollende fälschlich für ein crcmplarisches „Kameel" ausgaben. Der Mann machte durchaus kein Aufsehen, aber er gehörte nichts desto weniger unter die fidelsten Studiosen, und wirkte für sein Seelenheil eben so gut wie die Helden des Fecht¬ bodens und der Commerße. In der Stille genoß er d.e geselligen und Herzensfreuden des akademischen Nomantismus. Er war kein Schwärmer, kein Eiferer und junghegelscher Revolutionär, son¬ dern ein loyaler, gewissenhafter Charakter, ein festgläubiger, conser- »ativer Bruder Studio, ein deutsches stilles Wasser, wie nur je eins den Meerschaum angeraucht und den Wechsel, über den letzten Heller hinaus, an den Mann gebracht hat. Er studirte die Gottesgelehrt¬ heit, und man mußte zugeben, daß er seinem Gott treuergeben war. Er haßte alles Excentrische, nie hat man ihn in die Todtenkammer geschleppt; er war ein Weiser, und alle Welt weiß und kann es alltäglich Probiren, daß der rechte Weise nicht der schlechteste Zecher ist. Er war ein höchst honoriges Haus, ein tiefes, besonnenes, verträgliches Gemüth, das sich nur einmal in seinem Leben geschla¬ gen , aber dann auch seinem Widerpart das Steuerruder schrägweg aus dem Angesicht gehauen. Er bewahrheitete den Satz, zu dem wir vielleicht Alle als Beleg dienen müssen, daß des Menschen Leben nur eine Spanne mißt. „Braucht es denn mehr?" pflegte er ohne Lächeln zu sagen. „Ich für mein Theil habe kein Gelüsten über diese faßbare, ebene Linie hinauszuschweifen, in welche die Götter mich gebannt haben. Von Lüneburg bis nach Göttingen, und von Göttingen wieder zurück über Seesen nach Lüneburg, das ist meine Lebenslinie, die fürmich ausreicht, und für die ich auch ausreichen werde." Ich könnte ihn um diesen engen Gesichtskreis beneiden. Liegt nicht ein gan¬ zer Menschenlebenslauf in diesen Paar Ortsnamen ? Geburt, Jünglings¬ freiheit und Dienst, das ist Alles und ist genug. Weiter bringt eS kein Mensch, singt Göthe, der den' ganzen menschlichen Beruf auf fünf natürliche Dinge beschränkt. „In dieser Gegend, in diesem Haus, Zimmer und Sessel," argumentirte mein Theolog, „bin ich bei mir selbst, ein vernünftiges, bewußtes Wesen, überall sonst bin ich ein fahrender, zweckloser Tourist, ein Ungeheuer wie Faust, ohne Herz und Wurzeln, een Hausirer, der um elenden Kram und Tand sich in den Tod rennt. Glück ist Nuhe! Zwischen dem Lüneburger Bl.insfeld und dem Hanstein an der Werra, zwischen den Heidschnucken, meinen Landsleuten, und den Eichsfeldern liegen alle Höhen und Tiefen, die mein Auge jemals geschaut, alle Fluren, die mein brau¬ ner Ziegcnhainer geschlagen, alle Wasser, die mein Nuder gepeitscht hat. Die Essigweinberge bet Witzenhausen sind für mich Nhcin- und Moselberge, Tokayer- und Champagnerland. Soll ich noch einmal in's Weite, so lasse ich die Schweiz und Italien, ja selbst Belgien, wohin jetzt eine rasende Mode alle Welt treibt, zur Seite liegen und pflanze meinen Pilgerstab in den deutschen Musensitzen auf, um mich mit Hand und Blick zu versichern, ob der alte Eichen- stamm akademischer Hoheit und Lust noch florirt." Mein Freund war zu seiner Zeit, obschon ohne Parteifarben, ohne Abzeichen, als ein simpler Mann deS Volks, im höchsten Grade für die Bräuche der Studentenrepublik begeistert, wie nur ein Ma^on an Hammer und Schurz hängen kann. Glaubte er, was man uns jetzt in die Ohren schreit, daß das goldne Zeitalter deutschen Burschenreichs ver¬ lebt sei, so würde er an dem Heil der Menschheit grade so irre werden, wie ein französischer Premier, der die Majorität sich durch die Finger gleiten fühlt. Gegenwärtig ist er der treuste, schwitzendste, hannoverischste Staatsdiener von der Welt; alle Göttinger Schwin- 14-i- delperioden haben seinen germanischen Knochenbau nicht verrenkt; alle seine Ideale hat er beibehalten, sie sind jetzt so solid und häm¬ merbar geworden, wie lcgirtes Gold. Gleich einem gekrönten Haupte sieht er sein Amt, das ihm ein Königliches Konsistorium verlieh, als eine Gabe Gottes an; alle Freiheitsbegriffe, alles, was Posa zu seiner Zeit denken, sagen und schreiben durfte, trägt er noch unverbraucht in seinem Busen; wie bei Tausenden seiner Ge¬ nossen, ist das Alles in ihm so kernig geworden, so zu Stammholz erwachsen, daß fürderhin sich daran nichts biegen und brechen, ge¬ schweige denn vom Platze rücken läßt. Es ist eine hundertjährige Erfahrung, daß Jeder, der sich recht mit „Muth und Kraft" in das Studentenleben eingetaucht hat, Hintennach der regulärste Mensch wird, den der Staatsmechanismus sich wünschen kann/ Doch wird er in keiner der Maskirungen, welche uns die Gesellschaft aufzwingt, als Beamter, Arzt, Advocctt, Schriftsteller, Schauspieler oder Soldat, seine studentische Abkunft und Taufe völlig verwischen. Meine Leser können es mir glauben, daß ich es einem Buche, einem Gedicht, Drama u. tgi. auf ein Haar anmerke, ob der Verfasser innerlich den Fuchs überwunden hat. Die Blüthezeit unserer Literatur war, als sie jn ihren Burschen¬ jahren stand, damals, als Schiller im Carcer meditirte, als Göthe um Straßburg Lieder dichtete, wie später, als Körner, ein anderer Alexander, den Homer im Tornister, sich mit dem Degen gürtete. Die studentische Republik duldet keine Vorurtheile des Standes und der Geburt; für den Studiosen giebt es kein Blendwerk des Titels, der Hofgunst; er kennt nichts Jmponirendcs. Die Welt theilt er in zwei Hälften; das Gemeine, das er verachtet, die Philister¬ welt, Pudel und Polizei, diesen schlammigen Theil und Bodensatz des Menschenseins, gegen den er im ewigen Kriege in einem be¬ festigten Lager liegt; dem gegenüber die anlächelnde, glänzende Zan' derweil, die er als die seinige sich aufbaut, diese erwählte Göttin seines Herzens, Ehre, Liebe, Kameradschaft, Wein und Laune. Mit der Erlangung des akademischen Bürgerrechts, woran er noch eine Masse anderer Rechte knüpft, durchdringt den Jüngling ein Hochgefühl der Unabhängigkeit, eine weltherrschastliche Festagslust, die selbst einen alternden Busen noch in der Rückerinnerung aufflackern macht. Er nimmt mit jenem Freibrief die GewtWet'r, oder doch de Glauben hin, daß er mündig, ein selbstbcratheuver und beschließen- der Bürger ist, daß die Kerkerwände der Schulzucht, des Preßzwan¬ ges gebrochen, daß er aus einem „Pennal," aus einer Fedcrbüchse, ein ganzer Kerl geworden. Die Stelle, auf die ein Student von reinem Schrot und Korn sich hinderte, hat nirgends als auf dem Throne ihres Gleichen. Ein Schriftsteller, der Student war, wird daher mit Schiller, selbst im Galakleid der Censur, mit „Männerstolz vor Königsthronen" auftreten. In ihm glüht ein prometheischer Funken, der, wenn auch vermittelst eines langen Rohrs, doch ursprünglich von Jupiters Herde abstammt. Um es kurz zu sagen, das Haupt- requisit eines Burschen comme-it-faut ist die Todesverachtung. Mit Todesverachtung geht er ins Colleg, mit Todesverachtung schwärzt er die Collegia, mit Todesverachtung tritt er auf die Mensur, stellt er sich vor die weißen Protvkollbogen des Senates. Todes¬ verachtung erhellt ihm die schwarzen Tage des Carzcrs und macht sie zu poesievollen, denkwürdigen Jntermezzos seines handelnden öffent¬ lichen Daseins. Mit Todesverachtung hört er das Pochen der Manichäer an der Thür, ohne daraus zu antworten; mit Todesver¬ achtung spornt er den Frohndiener des Hochschülers, den Micthgaul, und wirft vom Stadtthor aus den letzten Handkuß in die dunkelnden Straßen nach. Mit Todesverachtung endlich geht, steht oder fällt der Musensohn im Eramen und so ist er noch mehr als hinlänglich vorbereitet, um ohne Angst und Grauen dem Tode selbst in die Sense zu fallen. Dieses Götterbewußtsein soll ein Autor haben, der sich auf das Schlachtfeld der Öffentlichkeit wagt. Wie oft begegnet mir ein Ver¬ sasser, der Professor geworden ist, ohne als Student, — nicht gedient, sondern commandirt zu haben. Einem solchen mangelt es an einem schlagenden und eigenwilligen Urtheil; über Politik, Nationalliebe und Haß, über Kunst, Poesie und Gesellschaft, worüber in un¬ serm Jahrhundert jeder Theatersousfleur eine Stimme hat, wird er nimmer frische Luft schöpfen. Sein Professorenverstand haftet an den Bänken, seine Phantasie ist auf das Katheder genagelt, er hat nicht gelernt, als „flotter" Bursch über alle Eitelkeit des Wissens und Erlernens Hinwegzusegeln. Ein Historiker zumal, der jedes andre als das Lampenlicht scheut, dem vor allen neuen Dingen und Thaten schaudert, der ist auf jeden Fall und in aller Weise ein „Kameel," ein Pflastertreter geblieben; nie bat er, eS sei denn aus heisrer Kehle, das luthersche Kern- und Stammlied: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang" mit angestimmt. Ein Poet, oder Novellist, der uns mit grasser Anatomie die Falten eines Panser Dirnenherzens, die Philosophie eines italienischen Taugenichtses auseinanderlegt, ein Damenscribent, der mit Gist, Dolch und Treuebruch durch die polirten Salons spaziert, wie kann ein solcher nihilominus eine honorige Studenten¬ haut, wenn es nicht eine geborgte war, getragen haben? Gott weiß, unter welchem Ladentisch er seine ersten Musterrollen einmemo-- rire; ich weiß nur dies, daß er nie einen zweischneidigen Schläger in der Faust gewiegt, daß nie ein Landesvaterstoß seine Kappe ge¬ lüftet hat. Eine leichte Sache ist es auch, einen Dramatiker zu erkennen, der auf der Schaubühne eines Musensitzes, wo Jedermann Held ist, mit agirt hat, und denjenigen, welcher von Kindesbeinen an unter Komödianten und Komödiantinnen, Lobhudlern und feilen Witzbolden sich umhergetrieben. Dem ersten wird immer eine Ader von Götz, von Karl Moor, Posa, Hamlet, Faust mit einfließen, zum allermtndesten eine Dosis Fiesko oder Verrina, Zrini, Tell und Jungfrau von Orleans. Bei dem letzten hingegen haben wir galante und teufelhafte Machinationen, Blutschuld, Bankerotte, Spie¬ ler, Satane oder verdüsterte Engel. Der ehemalige Musensohn schreibt, auch wenn er den Musen ex nlkiciu und um Profit dient, kühn und markig, aus dem Drang der Seele, der bloß studirte und gebildete Mann arbeitet sein, gleißend, scharf; jener wird ein Denker und, was fast das nämliche ist, ein Behaupter, dieser wird ein Raisonneur; der erste wird bald ein Demokrat, bald ein Anhänger der reinen Monarchie, nie aber ein Aristokrat, am wenigsten einer des Geldes^ er wird, während der andere alle Vortheile mit einan¬ der und mit dem seinigen zu vereinen suchen wird, immer nur Einem Herrn dienen, dem Fürsten, seiner Idee, seinem Gott. Nirgends finden sich so viele Originale, wie in den Universitäts¬ städten. Die pure, ja die plumpste Eigenartigkeit ist das Element der Burschenvegetation. Nur Ein Gesetz gilt unter diesem freien Volke: erlaubt ist Alles, was sich macht, — ein ungleich tiefsin¬ nigeres, männlicheres Wort als das Göthesche: erlaubt ist Alles was sich schickt! Nur der gelenke Hofmann und Geheimerath konnte so reden. O wie vieles kann im Fall sein, zu den Dingen, die sich nicht schicken, zu gehören, z. B, die Wahrheit! Allein, was taugt, das macht sich auch, im schlimmsten Fall macht sich Alles, was Einer herzhaft will. Um aber zu wissen, was, burschikos zu reden, sich macht, dazu gehört Takt, Erfahrung, Studium, Genie. Im öffentlichen Verkehr unterliegt das Wassichmacht eben so viel Observanz und Ceremonie! als die Hofsitte, und zugleich ist darin ebensoviel Ungebundenheit, ein so göttliches In,l»lAvrv ^mia, und so unendlich vielerlei Abarten, wie bei einem Faschingstrupp. Der Neuling läßt sich in diesen Dingen lange vom Strome der Zeit und Volkssitte leiten; der mehr gewiegte geht seiner eigenen Inspiration »ach; er ergiebt sich seinem markanten Naturell, wodurch er Alles adelt und in Mode bringt, was die Stimme in seinem Innern ihm einflößt. Ich war mit einem Mathematiker bekannt, der seinen Hund per Sie anredete und sämmtliches dienende Personal deS Städtchens bis auf die Pedelle mit Schul) und Stock per Du. Der Hund ließ sich die Höflichkeit mit naiver Undankbarkeit gefallen, die menschliche Bedienung — that es eben auch. Derselbe Menschen-, freund überließ seinen Mittagstisch wochenlang der Hausmagd und ihren Mitessern und nährte sich selbst, gleich den Bewohnern der Wolken und des Olymp, von nichts Anderem, als Wein und Tabak. Das Alles machte sich, so lange es eben vorhielt; es war das eine eigene Art, die ihm unbemäkelt blieb. Der Musikunterricht in Elementarschulen in Deutschland und Frankreich. Die Franzosen und Engländer, welche Deutschland durchreisen, sind immer vor Erstaunen außer sich über die musikalische Fähig¬ kett der deutschen Nation, in's Besondre aber das Gefühl für Har« .^r, .v»..,, ... ven deutschen Gauen so heimisch scheint, daß vom Rhein bis zur Donau, von der Mündung der Elbe bis zu den Quellen der Spree es selten ein Dorf giebt, wo die Einwohner nicht nach dem bloßen Gehör chorartig zu singen pflegen. Die Or¬ ganisation des deutschen Gehörs unterscheidet sich sogar zu seinem Vortheile von dem italienischen. Auch in Italien singt das Volk, aber dieser Volksgesang ist ziemlich roh und immer unis>amo. Die Natur scheint zu Gunsten der Deutschen eine großmüthige Anstrengung gemacht zu haben, indem sie dieselben von Jugend auf mit einer glücklichen Fähigkeit für eine Kunst begabte, deren Erlernung anderen Nationen so viele Schwierigkeiten kostet. Andrer Seits aber ist es wett wichtiger, die Institute zu unter¬ suchen, welche diese Entwickelung der musikalischen Kraft in Deutsch¬ land begünstigen, und das Geheimniß zu belauschen, welches auch in andern Ländern dieselbe Wirkung hervorbringen möchte, wenn man es kennen würde. So wie es in Deutschland kaum einen Flecken, ja kaum ein kleines Dorf giebt, das nicht seine öffentliche Schule besitzt, so giebt es auch unter diesen Schulen nur wenige, in welchen die Musik nicht einen Bestandtheil des Elementarunterrichtes ausmacht. Der Schulmeister fuhrt oftmals keinen andern Namen, als den eines Cantors d h. eines Kirchensängers, eines Lehrers und Leiters des Gesanges. In dem protestantischen Theile von Deutschland ist dieser Gesang, den man den Kindern schon in ihren ersten Jah¬ ren lehrt, kein andrer, als der Eh oral d. h. die Kirchenlieder und Psalmen, weil nach lutherischem Ritus die ganze Kirchengemeinde ihre Stimme mit der des Cantors vereinigen soll, um das Lob Gottes zu singen. In Baiern, Oesterreich, Böhmen, wo die katholische Religion die herrschende ist, war die Organisation des Unterrichts früher eine andere; denn alle Schulen befanden sich in den zahlreichen Klöstern, von welchen der Boden des Landes bedeckt war. Auch hier ward Musik-Unterricht ertheilt, und alle Kinder, die eine schöne Stimme besaßen, wurden zum Kirchenchor zugelassen, wo sie eine mehr in's Einzelne gehende, weiter vordringende musikalische Erziehung erhielten. Fast in allen Abteien war jeden Tag Messe, Vesper und Salus mit Musik. Die meisten Einwohner und Kinder wohnten diesem dreimaligen Gottesdienste bei; die Gewohnheit, eine harmonische Musik zu hören, bildete ihr Gehör und ihren Geschmack aus. Als nun die mannigfachen Klosteraufhebungen, die seit der Negierung Joseph's II. in diesen Gegenden eintraten, die Bevölkerungen einer großen Anzahl von Gemeinden des' Elementarunterrichts beraubt hatten, mußte man diese Lücke durch Errichtung speci¬ eller Schulen ausfüllen, derer leider! etwas allzulangsame Organi¬ sation die Musik eine Zeit lang in eine nicht sehr günstige Lage versetzt hat. Seit etwa fünfzehn Jahren jedoch haben auch diese Schulen bedeutende Fortschritte gemacht. Eine zahllose Menge von drei- und vierstimmigen Volks-Gesängen ist durch den Druck ver¬ öffentlicht worden, und diese Gesänge sind für diejenigen, für welche sie einen Gegenstand des Unterrichts und Studiums ausmachen, zugleich ein anziehender Genuß geworden. Das sechzehnte Jahrhundert, diese Zeit der großen Dinge, diese Zeit, in welcher in ganz Europa alle geistige Thätigkeit einen so hohen Aufschwung nahm, war aber auch für die Cultur der Musik eine der fruchtbarsten und bedeutsamsten Epochen. Vom Anfange dieses Jahrhunderts datirt die schöne Organisation des Unterrichts in dieser Kunst in Deutschland, das in dieser Beziehung es stets allen andern Ländern Europas zuvorgethan hat. Sobald durch Luther die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf die Nothwendig¬ keit hingelenkt worden war, den Gebrauch des Gesanges in den evangelischen Kirchen allgemeiner zu machen, war es die erste, an¬ gelegentlichste Sorge einiger Gelehrten, einige Abhandlungen, ent¬ haltend die Elemente der Musik, für die öffentlichen Schulen zu schreiben. Unter diesen ersten Verfassern musikalischer Elementar¬ bücher zeichnen sich vorzüglich aus: Georg Rhau, Nicolaus Listen, Heinrich und Gregor Faber. Der Umstand, daß ihre Bücher in einem Zeitraum von etwa vierzig Jahren wohl zehn bis zwölf Auflagen erlebten, welche sämmtlich vergriffen wurden, giebt den besten Beweis dafür ab, welche bewundrungswürdige Thätigkeit in Bezug auf musikalischen Unterricht in jenen ersten Zeiten der Refor¬ mation in den lutherischen Schulen herrschte. Diese Bücher, die sämmtlich in lateinischer Sprache, »6 usum oder in ^ratiiun 8duiventuÜ8, geschrieben waren, behandelten die in jener Zeit gebräuch¬ liche Solmisation und Notation. Da nun die Systeme jener Zeit in diesen beiden Punkten jetzt gänzlich verlassen worden sind, so sind dadurch die Werke Faber's, Rhau's und Listen's ganz unnütz ge¬ worden und man findet sie nur noch in den Bibliotheken einiger wenigen Gelehrten, als Denkmäler der Kunst der Vergangenheit. Doch ist es zu bedauern, daß die Methoden, die in den verschiedenen Epochen der Umgestaltung oder des Fortschrittes einander gefolgt sind, nicht für den Elementarunterricht in der Musik die einfache Form dieser Lehrbücher beibehalten haben. Aber schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts machten die Elementarbücher von Schneegaß, Crusius und Magiri Ansprüche auf strenger wissenschaftliche Formen. Ein um dieselbe Zeit ausbrechender Streit über einen sehr wichtigen Punkt in der Musik trug vollends dazu bei, daß die Methoden des musikalischen Elementarunterrichts ohne Vervollkommnung und Fort¬ schritt blieben. Wir müssen über diesen Streit um so mehr einige Worte sagen, weil man dadurch zugleich die Ursachen kennen lernt, welche jene oben erwähnten ältesten Traktate für den musikalischen Unterricht unbrauchbar gemacht haben.. Es ist wohl als allgemein bekannt anzunehmen, daß Guido von Arezzo im eilften Jahrhundert statt der beiden getrennten Tetra¬ chorde der Griechen, welche vereint die Octave bildeten und das ewige Gesetz einer jeden vernünftigen Tonleiter, so wie aller auf natürliche Verhältnisse gegründeten Musik sind, ein Herachord, d. h. eine Tonleiter von sechs Noten einführte und dieselben nach den Anfangssylben eines Hymnus an Johannes den Täufer benannte, worin sie sich zufällig in ihrer natürlichen Reihenfolge vorfanden. Es waren dies die Noten; ut, re, mi, tu, sol, 1». Wie falsch diese Methode auch war, — denn da diese wenigen Töne nur eine sehr geringe Melodie enthielten, so sah man sich bald genöthigt, unter einem Namen mehrere Tone zu verstehen, was unendliche Verwirr¬ ungen herbeiführte, — so behauptete sie sich dennoch länger als fünfhundert Jahre. Von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an aber beginnt ein hartnäckiger Kampf dagegen, der bis in den Anfang des achtzehnten hinabdauerte, sVuttstedt und Matthesoül aber natürlich mit dem Sieg der vernünftigen Solmisation, welche auf die Octave sich gründet, endigte. Die Hauptstreiter in diesem Kampfe waren Belgier, nämlich Anselm von Flandern, Hubert Waelrant, der gelehrte PuteanuS; in Deutschland im Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts Ralwitz; in Spanien Peter von Arena lind in Frankreich Jean Lemairc. Durch diese Streitigkeiten nun und ihre lange Dauer ward die Aufmerksamkeit der Gelehrten für lange Zeit von einer sorgfälti¬ gen Vervollkommnung der Elementarmethoden abgewandt worden. Denn man muß doch wohl erst über eine Doctrin selbst einig sein, ehe man sich mit ihrer mehr oder minder deutlichen Darstellung be¬ schäftigen kann. Zu derselben Zeit übrigens, wo jener Streit über die Solmisation, diesen so wichtigen Theil der musikalischen Elemente, geführt wurde, erlitt auch die Notenschrift nicht minder durchgreifende Veränderungen. Die seit mehreren Jahrhunderten in Gebrauch ge¬ wesene Notenschrift war dermaßen mit unnützen Schwierigkeiten überladen, daß seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts alle vernünftigen Köpfe zu der Einsicht gelangten, es sei in der Hyero- glyphenschrift der Töne ein Reform unerläßlich nothwendig, da einige Fälle selbst für die sachkundigsten Musiker Gelegenheit zu Irr- thümern gaben. Diese Reform dauerte lange und man erreichte das Ziel erst nach mancherlei umhertastenden Versuchen. Streng ge¬ nommen kann man sagen, daß das Notensystem, wie wir es heutzu¬ tage haben, wenigstens in Bezug auf gewisse Einzelnheiten nicht vor 175« festgestellt wurde. In diesen beiden theoretischen Umwälzungen nun muß man die Ursachen der seltsamen Widersprüche suchen, welche in den Grund¬ sätzen einiger im 17. Jahrhundert erschienenen Elementartractate vorhanden sind. Aus denselben Gründen mangelte es natürlich dem theoretischen Unterrichte an Einheit der Doctrin und an Klarheit und Methode der Darstellung; der praktische Unterricht aber war in den Schulen Deutschlands in gutem Bestände und das Volk erhielt fortwährend in den Elementarschulen eine musikalische Erziehung, welche das Gefühl der Harmonie in ihm entwickelte. Leider nicht so war eS in Frankreich und den Niederlanden; hier gab es eigentlich keine musikalische Erziehung. Einige Kinder zwar, die als Chorknaben in die Musikschulen der Kathedral- und Stiftskirchen aufgenommen wurden, lernten daselbst das Lesen der Musik und wurden ihnen einige Begriffe von Gesang und die ersten Principien des Generalbasses beigebracht; aber diese nur der Musik gewidmeten Schulen, in denen diese Kinder erzogen wurden, konnten nicht als öffentliche, Jedermann zugängliche Schulanstalten betrachtet werden: dem eigentlichen Volke blieben auch die einfachsten Begriffe der Kunst fremd. Diese vollständige Unwissenheit nun war ein gro¬ ßer Nachtheil, nicht blos in Bezug auf die Kunst selbst, sondern auch wegen des heilsamen Einflusses, den die Musik auf die Sitten aus¬ übt. Es ist dieser wohlthätige Einfluß der Musik auf die sittliche Ausbildung der Völker zu oft und mit zu beredten Worten von großen Philosophen und Staatsmännern der alten und neuen Zeiten aner¬ kannt und geschildert worden, als daß wir noch nöthig haben sollten, hier weiter darauf einzugehen. Trotz dessen aber hat das gewöhn¬ liche Vorurtheil, wodurch dieser Kunst kein anderer Zweck als der einer geistigen Zerstreuung gegeben wird, fortwährend seine Herr¬ schaft über die öffentliche Meinung behauptet und manche Regierun¬ gen selbst scheinen es getheilt zu haben, indem sie die Musik nicht in den Kreis des Elementarunterrichts mit aufnahmen. Die Grün¬ dung einiger speziellen Musikschulen in Frankreich, Belgien, Spanien und Italien widerlegt unsere Behauptung nicht; denn die natürliche Be¬ stimmung dieser Schulen ist, Künstler zu bilden, ihre Anzahl zu ver¬ mehren und sie in der Ausübung ihrer Kunst geschickter zu machen, als sie durch Privaterziehung werden könnten. Ein ferneres Resul¬ tat des Daseins solcher Schulen ist, daß in gewissen Gesellschaften der Geschmack an Musik ausgebreiteter wird; gäbe es aber deren auch in jeder Stadt, so würden sie dennoch immer nur einen Auönahms- unterricht bilden, weil es dem Willen jedes einzelnen Individuums überlassen ist, daselbst Belehrung zu suchen oder nicht. Damit der Elementarunterricht in der Musik wahrhaft volksthümlich sei, darf er nicht vom Unterricht in den Anfangsgründen der socialen Kenntnisse, d. h. der ersten Elemente des Lesens und Schreibens getrennt werden: er muß für die Kinder ein Begleiter der ersten moralischen und religiösen Belehrung sein, welche ihnen zu Theil wird. In den letzten Jahren des französischen Kaiserreichs und im Anfang der Restaurationsperiode schienen einige Geistliche erkannt zu haben, welch' nützlichen Bundesgenossen der religiöse Unterricht in der Musik finden kann; denn in einigen Kirchen von Paris und Südfrankreich lehrte man den Kindern geistliche Lieder nach einfachen und bekannten Melodien singen. Diese Lieder, von denen man mehrere Sammlungen nebst der dazu gehörigen Musik hat drucken lassen, wurden jeden Tag vor und nach dem Katechismusunterrichl gesungen. ES wäre wünschenswert!) gewesen, wenn man eine grö¬ ßere Sorgfalt darauf verwendet hätte, daß die Kinder richrig into- nirten, und wenn man sie gewöhnt hätte, die Töne sanfter und, minder aus der Kehle hervorzusingen; doch, wie mangelhaft dieser Unterricht auch war, trug er dennoch schon einige Früchte, und man darf sich wohl darüber wundern, daß die höheren geistlichen Behör¬ den diesem praktischen Mittel zur moralischen Vervollkommnung des Volkes nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben. Im Jahre 1819 trat in Paris eine Gesellschaft zur Verbesserung des Elementarunterrichts zusammen. Unter den Gegenständen, wel¬ chen diese Gesellschaft ihr Augenmerk widmete, war auch die Musik nicht vergessen worden: vielmehr machte Baron Gercuwo, einer ihrer Begründer, am 23. Juni desselben Jahres einen hierauf Bezug haben den Antrag, indem er der Gesellschaft die Prüfung folgender beiden Fragen vorschlug: 1) Würde es nicht passend sein, dem Unterricht in unseren Schulen einige Uebungen in Musik und Gesang beizugesellen? 2) In diesem Falle, welche Ausdehnung, welche Me¬ thode, welche Form und welche Zeit müßte man die¬ sen Uebungen geben, damit sie mit dem ganzen Unterrichtssystem in Einklang ständen? Diese beiden Fragen wurden einer besondern Commission zur Prüfung übergeben: die erste wurde einstimmig bejahend beantwor¬ tet. Das Resultat der zweiten war die Annahme einer Methode, die Herr Boauillon Vilhem, Professor der Musik in Paris, erdacht und mit der man in einem der Kollegien dieser Stadt im Jahre 1814 einige erste Versuche gemacht hatte. Wir werden über diese Methode weiter unten sprechen. Nach dem Bericht, den Herr Jomard am 17. August 1819 im Namen dieser Commission abstattete, nahm die Gesellschaft deren Beschlüsse an. Diese Epoche ist bemerkens¬ werth, weil von dieser Zeit der Gedanke datirt, in Frankreich die Musik in die Reihe der Gegenstände des Elementarunterrichts ein¬ zuführen; ein Gedanke, der in theilweisen Versuchen langsam, aber ausdauernd gereist wurde und der endlich dazu geführt hat, daß nach achtzehn Probejahren das Princip von dem l'einholt rc>v>«l ä<- i'iuditruction pu^liPie angenommen wurde. Die Anwendung dieses Grundsatzesund seine consequente Durch¬ führung bietet freilich große Schwierigkeiten dar, so daß man nur auf einen sehr langsamen Erfolg dieser Neuerung rechnen darf. Schon das erste Hemmniß ist die Seltenheit von Lehrern, die im Stande sind, zugleich die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens, Rechnens und der Musik zu lehren und die letzteren praktisch beim Gesänge anzuwenden. Es wird eine Reihe von Jahren erforderlich sein, bis es möglich wird, die Wohlthaten dieses Systems auf alle Gemeinden auszudehnen, welche eine Elementarschule besitzen. Glück¬ liche Versuche mit dem musikalischen Unterricht hat man in neuerer Zeit in mehreren der Kiel ut inderb ewas ran statten gemacht. Der Unterricht war daselbst rein praktisch und bestand darin, die Stimme der Kinder zu üben, indem man sie einfache Liedchen uni- smio singen ließ; je mehr aber man durch die Erfahrung über die Unterrichtsmittel aufgeklärt worden ist, desto mehr vorzuschreiten hat man gewagt: man fing an, den jungen Zöglingen einige Begriffe von den Principien der Musik zu geben und sie daran zu gewöhnen, dieselben Melodien nach zwei- oder dreistimmigem Satze zu singen. Wir haben in mehreren Städten Kinder, von denen das älteste kaum sieben Jahre alt sein mochte, im Chor auf sehr befriedigende Weife einige von jenen zwei- und dreistimmigen Melodien singen hören, von denen neuerdings in mehreren Ländern Sammlungen zum Ge¬ brauch dieser Kleinkinderschulen verössemlicht worden sind. Da diese Kinder früher oder später in Elementarschulen übergehen, wo ihnen in ihrem vorgerückteren Alter angemessener höherer Unterricht ertheilt wird, so erleichtern sie die Arbeit deö Lehrers bedeutend durch die Kenntniß der Anfangsgründe der Musik, die sie in jenen Kleinkin¬ derschulen spielend erworben haben. Eine zweite, nicht minder bedeutende Schwierigkeit bietet die Wahl der Methoden oder vielmehr der einzigen Methode, die man annehmen muß, um eine Kunst, deren Grundbegriffe so complicirter Natur sind, der Fassungskraft und Erkenntniß aller Welt zugänglich zu machen. Seit der Mitte des 18ten Jahrhunderts, wo die Grund¬ sätze des Notensystems und der Solmisation so festgestellt worden sind, wie wir sie bis auf unbedeutende Aenderungen noch heute an- erkennen, sind eine Anzahl von Werken über die Anfangsgründe der Musik, von musikalischen Grammatiker und von Solfeggien in allen Ländern und Sprachen Europas erschienen. Den meisten dieser Werke fehlt das Verdienst einer originellen Abfassung; es ist im Gegentheil erwiesen, daß die Verfasser derselben nicht einmal immer eingesehen haben, mit wie viel Schwierigkeiten die Arbeit verknüpft sei, der sie sich unterzogen. Sie schreiben alle von einander ab, wenn auch nicht in den einzelnen Ausdrücken, doch in der Classifici- rung der Gegenstände und in dem Sinne der Erklärungen, die sie geben. Was andrerseits diejenigen Bücher betrifft, die von einem selbständigen Nachdenken zeugen und einen wirklichen Werth haben, so ist ihr Gegenstand meist entweder der Selbstunterricht oder der in speciellen Musikschulen. Nun kann aber ein Lehrsystem, dessen Bestimmung es ist, junge Künstler bis zur vollständigen Kenntniß alles dessen zu bringen, was ein Musiker wissen muß, um seine Kunst vollständig inne zu haben, in einem Elementarunterricht für größere Volksmassen nicht mit Aussicht auf Erfolg angewandt wer¬ den; denn die Mittel, deren sich dieser letztere Unterricht bedienen soll, müssen hauptsächlich das Verdienst einer großen Einfachheit ha¬ ben, und das Resultat des Unterrichts selbst soll kein anderes sein, als Jedermann in den Stand zu setzen, einfache und leicht flugbare Melodien oder eine der begleitenden Stimmen zu lesen und zu sin¬ gen. Was darüber hinausgeht, liegt schon nicht mehr im Bereiche des elementaren und volksthümlichen Unterrichts, sondern gehört der künstlerischen Ausbildung an und diese ist nicht Gegenstand unseres Aussatzes. Seit etwa vierzig Jahren haben einige ausgezeichnete Männer sich vorzüglich und speciell mit Systemen musikalischen Unterrichts beschäftigt, die man für mehr oder minder beträchtliche Schülermasfen anwenden kann. Nur diesen Systemen wollen wir hier unser Au¬ genmerk widmen. Wir wollen diejenigen darunter, welchen am meisten Erfolg zu Theil geworden und die deshalb unsere Aufmerk¬ samkeit und Theilnahme besonders verdienen, genauer prüfen. An die Spitze aller jener verdienstvollen Männer, welche dem Musikunterricht den Charakter größerer Allgemeinheit zu geben ge¬ sucht haben, muß man den berühmten Pestalozzi stellen, dessen ganzes Leben der sittlichen Vervollkommnung des Volkes gewidmet war. In der von ihm begründeten Musterschule ging sein Streben be¬ kanntlich weniger dahin, seinen Zöglingen ausgedehnte und positive Kenntnisse zu geben, als vielmehr sie zu deren Erwerbung nach Verhältniß ihrer natürlichen Bestimmung fähig zu machen, und hauptsächlich ihnen die Elemente zu einem glücklichen Leben zu ver¬ schaffen, in welche Stellung sie auch das Schicksal späterhin brin¬ gen möge. Pestalozzi selbst besaß, was Musik anbelangte, nur ein sehr beschränktes Wissen; er nahm daher Behufs der Anwendung seiner allgemeinen Grundsätze für den Unterricht in dieser Kunst zu Musikern von Professton seine Zuflucht. Seine Ansichten hatte er zuerst in seinem eben so berühmten als originellen VolkSroman „Lienhardt und Gertrud" (1781, 4 Bde.) auseinandergesetzt; später gab er Erklärungen über die Art und Weise, wie seine Principien aus alle Zweige der Erziehung anzuwenden seien, in dem in seiner Einfachheit bewunderungswürdigem Buche: „Wie Gertrud ihre Kin¬ der lehrt" (1801) gleichsam in dem fünften Bande des obigen Wer¬ kes. Der Erfolg dieser Werke war ein günstiger, insofern sich da¬ durch einige gleich Pestalozzi von der Nothwendigkeit, die sittliche Lage des Volkes zu verbessern, überzeugte Männer an ihn anschlös¬ sen, deren tüchtige Kenntnisse in verschiedenen Fächern ihm die nöthigen Hülfsmittel zur Realisirung seiner wohlthätigen Jveen boten. Unter den Lehrern, die seiner Methode ganz beitraten, war es Michel Traugott Pfeiffer aus Würzburg, der in dem von Pestalozzi im Jahre 1804 im Schlosse von Uverdon gegründeten Institute den musikalischen Unterricht übernahm. Nach Pestalozzi's Ansichten mußte in den Grundanfängen der Künste und Wissenschaften alles Verwickelte vermieden werden und Alles, was nicht durch irgend ein Verwandtschafts- oder Aehnlich- keits-Band zu einem gleichartigen Ganzen sich abrundete, mußte im Unterricht völlig von einander getrennt werden. Nach dieser Grund¬ idee theilte Pfeiffer den musikalischen Eursus in der Uverdoner Er¬ ziehungsanstalt in drei Hauptabtheilungen. Die erste, unter dem Namen der rhythmischen, enthielt Alles, was auf das musika¬ lische Zeitmaß, auf die Dauer der Töne und Pausen Bezug hat, nebst allen daraus folgenden Combinationen. Die zweite, deren Gegenstand die Bestimmung der verschiedenen Jntonationsstufen und hre Vorstellungen in verschiedenen Gesangeöarten war, hieß die melodische; die dritte endlich, deren Namen nicht ganz bezeichnend war, — sie hieß.die dynamische, — behandelte die Töne in den verschiedenen Graden ihrer Intensität und in den Zeichen, welche die Modificationen dieser Intensität darstellen. In einer vierten Abthei¬ lung fanden sich die drei ersten zusammen unter dem Namen Wis¬ senschaft der Notation; die Schüler wurden darin geübt, die Zeichen der Töne zugleich in ihrer Dauer, ihrer Intonation und ihrer Intensität zu erfassen. Es waren hier die Uebungen im No¬ tenlesen und im Solfeggiren vereinigt. Eine fünfte Abtheilung endlich hatte die Bestimmung, die Schüler darin zu üben, die Melo¬ dien mit untergelegten Worten zu singen. Im Jahre 1810 wurden die Elemente von Pfeiffer's Arbeit zu¬ sammengestellt und geordnet durch Naegeli ans Zürich, einen durch seine Kenntnisse, so wie durch seinen originellen Geist ausge¬ zeichneten Musiker. Er bildete daraus einen starken Quartband, der jedoch nicht etwa ein Handbuch für Schüler, sondern ein Leit¬ faden für Lehrer ist. Dieses Werk entsprach jedoch der Erwartung des Publikums nicht und schien auch Pestalozzi'ö Ansichten nicht zu realisiren; denn, wenn man auch der von Pfeiffer und Naegeli ein¬ geführten Trennung der verschiedenen Theile des Musikunterrichts Lob und Beifall nicht versagen kann, so muß man doch auch einge- stehen, daß die Richtung, die sie in den einzelnen Theilen eingeschla¬ gen haben, für einen Elementarunterricht nicht praktisch genug ist und daß sie bei Auseinandersetzung der Principien zu sehr in's Ein¬ zelne eingegangen sind. Zu derselben Zeit, da Naegeli'ö Musik- und Gesangs-Methode erschien, veröffentlichte der Preußische Ober-Schulrath Zeller in Königsberg eine Elementarmethode für Musik unter dem Titel „Ein Versuch zur Beförderung der Nationalerziehung in Preußen." Dieses Werk, das einen geringeren Erfolg gehabt zu haben scheint, als es verdient, enthält gute Ideen über den Unterricht in dieser Kunst in Bezug auf Volksmassen; man kann aber nicht ohne Grund dem Verfasser vorwerfen, daß er seine», Buche eine für volksthüm- liche Anwendung, wozu es doch bestimmt war, allzu philosophische Form gegeben hat. Im Jahre 1813 erschien von Natorp, Preußischem Ober-Con- sistorialrath, einem der gelehrtesten Männer Deutschlands in Betreff 15 des ChoralgesangS der reformirten Kirche, ein erster Theil einer „Einleitung zum Gesangs-Unterricht, zum Gebrauch der Volksschule lehrer." Dieses Werk ist in seiner Darstellungsmethode einfacher, als alle früheren. Das System, das Natvrp darin annimmt, ist zwar dasselbe, das Pfeiffer im Pestalozzischen Institut eingeführt; aber eS ist bedeutend verbessert und vereinfacht. Er theilt zwar auch mit Pfeiffer und Nnegeli den Unterricht in drei Hauptabtheilungen, denen er ebenfalls den Namen der rhythmischen, melodischen und dynamischen giebt; aber er hält diesen Abtheilungen alle Einzelnheiten einer zu weit entwickelten Theorie fern und läßt dem Unterricht nur die einfachsten und zur Erlernung des Gesanges in den Elementarschulen unentbehrlichsten Grundbestandtheile. In Be¬ treff der Notenschrift, die von einigen neuerem als eine Hauptquelle der Schwierigkeiten in der Musik betrachtet wird, will Natorp zur Bezeichnung der Stufen der Tonleiter Ziffern angewandt wissen, die ober- oder unterhalb einer einzigen Linie stehen und die nach Ver¬ hältniß ihrer Größe eine bestimmte, genau geschiedene Bedeutung an¬ nehmen. Die Dauer der Töne soll durch Zeichen dargestellt werden, welche man dem gewöhnlichen Notensystem entlehnt und mit den Ziffern combinirt. Dieses System, die Intonationen der Musik durch Ziffern dar¬ zustellen, war nichts Neues; denn man findet Beispiele davon in allen Tabulaturen für gewisse Arten von Saiteninstrumenten. Im Jahre 1677 hatte Pater Souhaitly diese Idee für ein Notensystem des Kirchengesangs von Neuem angewandt, und sie dann auf die Musik ausgedehnt; und lange Zeit hernach hatte I. I. Rousseau ebenfalls vermittelst der Zahlzeichen ein anderes System combinirt. DasNatorp'sche aber, zumTheil derZeller'schen Methode ent¬ lehnt, aber in die Augen springender, besser combinirt und vollstän¬ diger, als das von Souhaitty, und bequemer für den Gebrauch als das Rousseau's, fand von vorn herein mehr Beifall, als diese bei¬ den. Denn das oben erwähnte Werk, das für den ersten Elemen- tarcursus bestimmt ist, erlebte innerhalb zwölf Jahre fünf Auflagen, so wie noch ein zweiter, höherer Cursus, der zum ersten Male im Jahre 4820 erschien, mehrere Male aufgelegt wurde. Natorp be¬ schränkte sich übrigens nicht darauf, den Lehrern Leitfaden in die Hände zu geben, sondern, um auch der Intelligenz der Schüler zu Hülfe zu kommen, veröffentlichte er nach und nach, zum Gebrauch der letzteren, die Handbücher der beiden Curse. Das Verdienst der Erfindung dieser Methode gebührt in Waljrheit nicht Natorp, da sie nur eine Combination der Methoden Zeller's und Naegeli's ist ; aber er hat sich gewissermaßen die Rechte des Erfinders erworben, indem er durch die Einfachheit, die er in dieselbe einführte, erst ihren Erfolg begründet hat. Das System, an die Stelle der Noten Ziffern zusetzen, ward von 181» an Gegenstand der Aufmerksamkeit mehrerer Schul¬ lehrer; es fand aber auch Gegner und so begann von diesem Zeit¬ punkte an eine Art Kampf zwischen den Anhängern dieses Noten¬ systems und denen des gewöhnlichen. Die Professoren Glaeser, Winkelmeyer u. a. ließen un Jahr 1821 musikalische Handbücher zum Gebrauch der Elementarschulen erscheinen, in denen sie das Natorp'sche System befolgten. Dagegen wollten die Herren Laetsch, Lehrer am Seminar von Jenkau bei Danzig, und Kühler, Musik¬ lehrer am Königlichen Waisenhaus zu Stuttgart das gewöhnliche Notensystem für den Unterricht beibehalten wissen, indem sie es sür die Naegeli'sche Eintheilung in drei Hauptstudienzweige anwendbar machten; sie veröffentlichten Methoden, die auf dieses System be¬ gründet waren. Die Schulen des Königreichs Würtemberg befolgen jetzt die Methode des Herrn Kühler, die zu Stuttgart im Jahr 1826 erschienen ist. Herr Heinroth, Doctor der Philosophie und Musik-Director an ver Universität zu Göttingen, (wo er seit 1818 der Nachfolger Forkel's, des berühmten Geschichtsschreibers der Musik ist) machte um dieselbe Zeit ein gemischtes System bekannt. Vor seiner Berufung nach Göttingen hatte Heinroth, der eigentlich protestantischer Geistlicher ist, den Musikunterricht an dem bekannten jüdischen Erziehungsinsti¬ tut, der Jacobsonschule zu Seesen, geleitet. Hier hatte er die ersten Grundlagen seines Systems gebaut, das, analog dem Naegeli'schen in Bezug auf Theilung der Studien, von allen anderen sich durch die Erfindung einer speciell zum Gebrauch der Volksschulen bestimm¬ ten Notenschrift unterschied, welche ihr Urheber, „Vervollkommnete Notenschrift" nannte. Seitdem er 1818 nach Göttingen berufen ward, beschäftigte er sich anhaltender mit Aufsuchung der Mittel zur Erleichterung des Studiums des Choralgesanges; und um die 15 -i- Aufmerksamkeit des größeren Publikums auf die von ihm erdachte Notation hinzulenken, ließ er ein kleines Werkchen unter dem Titel: „Volksnote oder vereinfachte Tonschrist" erscheinen. Ueberzeugt, daß eine specielle Notenschrift der Notation durch Ziffern bedeutend vorzu¬ ziehen sei, griff er diese letztere in Journalarlikeln und Brochüren Mehrfach an, was natürlich von Seiten der Anhänger der Ziffer¬ notation Entgegnungen hervorrief, worauf er replicirte. Das Resul¬ tat des Streites war, daß jeder bei seinem System behmrte; das des Göttinger Professors aber, dessen Gesammtheit er in seinem Werke „Methode für den Gesangs - Unterricht in höheren und niederen Schulen" der Oeffentlichkeit übergeben hatte, ist seitdem fast in allen Hannover'sehen Schulen eingeführt worden. Suchen wir uns nun ein Gesammtbild des Musikunterrichts in den deutschen Elementarschulen zu verschaffen, so sehen wir zu¬ nächst, daß dieser Unterricht in den verschiedenen Theilen dieses wei¬ ten Landes allgemein organisirt ist; daß die Eintheilung der seu-- bien daselbst fast gleichförmig ist und daß drei Notenschrists-Systeme, nach Verschiedenheit der Loyalitäten, neben einander bestehen. Jedoch scheint dieser letztere Stand der Dinge nicht definitiv zu sein, und man ist zu der Vermuthung berechtigt, daß früher oder später eine Verschmelzung der verschiedenen Systeme stattfinden und eine Gleich¬ förmigkeit des Unterrichts eintreten wird. Seit sechs Jahren erscheint sogar in Breslau ein pädagogisch-musikalisches Blatt, I5revu'it, das diesen Zweck verfolgt. Die Mitarbeiter dieser Zeitschrift besitzen daS für ihre Aufgabe erforderliche ernste Wissen. Ihre Berichte, Recensionen und Kritiken über die von Tag zu Tag in Deutschland sieh mehrenden Werke über musikalische Methoden sind mit vieler Gründ¬ lichkeit gearbeitet, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie zuletzt alle denkenden Geister zu ihrer Ueberzeugung herbeibnngen werden. In Erwartung dieses Zeitpunktes der Vereinigung aller Systeme in ein einziges kann man versichern, daß die Praxis der Kunst in allen Schulen Deutschlands im Allgemeinen auf einem sehr erfreu¬ lichen Fuße sich befindet. Die zahllose Menge religiöser und weit> licher Lieder, die seit dreißig Jahren zum Gebrauch dieser Schulen verfaßt und componirt worden sind, haben das Volk ungeheure Fort¬ schritte im Gefühl für Harmonie zu machen veranlaßt. Die Bevölke¬ rung Deutschlands, deren Gewohnheiten viel sanfter, ruhiger und glücklicher sind, als die der Franzosen und Belgier, ergiebt sich sehr oft einer Ergötzung, die nur in Chorgesängen besteht. Daher domin es, daß eS bei gewissen Volksfesten weder selten noch schwer ist, Chöre von ^12—Sängern, ja noch mehr, — beim Mainzer Guttenbergssest waren dttvl) Männerstimmen vereint — zusammen- anbringen, die sämmtlich geübte Stimmen haben und genug musika¬ lische Kenntnisse besitzen, um die ihnen anvertraute Musik gehörig vorzutragen. Um nun unsre Untersuchung über die verschiedenen Unterrichts- Methoden für Musik in ihrer Anwendung für Volksschulen vollsM- big zu machen, bleibt uns noch zu prüfen übrig, was man hiefür in Frankreich seit etwa 25 Jahren gethan hat. Erst nach dieser Prüfung wird es uns erlaubt sein, unsre eigene Meinung, Betreffs der Wahl unter allen diesen Methoden, abzugeben. Diejenigen, welche in Paris den entschiedensten Beifall gefunden, sind Vie N«-.- t!w,to col!c«re!into von Choron, die Methode des gleichzeitigen Un¬ terrichts, erfunden von Massimino, der Meloplast von Gaur, die harmonische Lyra von Pastou und endlich die Methode des Herrn Boauillon Wilden. Mit Ausnahme von Herrn Wilden scheint keiner unter den Urhebern dieser verschiedenen Methoden sich eine Erleichterung des volkstümlichen Musikunterrichts zur eigentlichen Aufgabe gemacht zu haben; es scheinen sie vielmehr in allen Forschungen und Arbeiten Rücksichten andrer Art geleitet zu haben. Das Pariser Musik-Con- servatoire hatte, indem es die Elementarwerke für den speciellen Musikunterricht vervollkommnete, zu tüchtigeren Studien gezwungen und dadurch geschicktere Musiker gebildet, als die der früheren Ge¬ nerationen waren. Diese kräftige musikalische Erziehung aber, die man im Conservatoire erhielt, fand man eben auch nur da und nir¬ gend anderswo. In den Provinzen gab es keine Schulen, keinen gemeinsamen Unterricht; Privatunterricht war das einzige Mittel, das den Belehrungslustigen daselbst zu Gebote stand, und die welche denselben ertheilten, waren meistentheils arme Künstler, denen, es an Methode fehlte und welche der Literatur und den Fortschrit¬ ten ihrer Kunst in Folge ihrer beschränkten äußern Mittel gänzlich fremd blieben. So erwarben denn die jungen Leute aus beiden Geschlechtern, da sie nur den erbärmlichen Unterricht dieser oft selbst lehrbedürftigen Lehrer genossen, nur eine vorübergehende Kenntniß der Kunst, und kaum war die Zeit des eigentlichen Unterrichts für sie verflossen, so beeilten sie sich, das Wenige, das sie gelernt hatten, vollends zu vergessen, so daß von Generation zu Generation Alles, was nicht Künstler von Stande war, in tiefer Unkennmiß der Kunst und in voller Gleichgültigkeit gegen dieselbe befangen blieb. Indessen hatte die städtische Obrigkeit einiger Städte Frankreichs die Einsicht erlangt, von welchem Nutzen die Musik in der öffent¬ lichen Erziehung sei und es waren demzufolge in den letzten Jahren der Kaiserherrschaft in Lille, Douai, Metz, Straßburg und Toulouse einige, wenn auch nur mit schwachen Hülfsmitteln ausgestattete Schulen begründet worden. Obgleich dieselben im Allgemeinen mehr dem althergebrachten Schlendrian der Lehrer überlassen blieben, als daß eine wirkliche Methode in ihnen angewandt wurde, so waren sie doch nicht ohne erfreuliches Resultat geblieben in Folge des Wetteifers, der in einer Mehreren gemeinschaftlichen Erziehung sich nie geltend zu machen unterläßt. Unter diesen Umständen begannen fast zu gleicher Zeit alle die Urheber der oben aufgezählten Methoden Hand aus Werk zu legen. Choron ist der erste von ihnen, mit dem wir uns beschäftigen müssen, weil er, ohne gerade die Einführung der Musik in den Elementar¬ unterricht beabsichtigt zu haben, doch sich speciell mit einer der Sachen beschäftigte, welche bestimmt sind, darin ihren größten Erfolg zu finden, nämlich mit der Entwickelung des Gefühls für Harmonie. Durch eine Intrigue im Jahre 1816 der Operndirection beraubt, beschäf¬ tigte er sich in seiner gezwungenen Muße damit, ein System zur Errichtung einer Musikschule auszudenken, in welcher der Schüler, in fortschreitender Methode, vermittelst vierstimmig gesetzter Lectionen, auf alle Arten von Schwierigkeiten eingeübt werden sollte. Gleich den deutschen Meistern, von denen wir oben gesprochen, siel es auch Choron auf, daß das Reinheitsgefühl und das Taktgefühl eins vom andern gänzlich unabhängig sind, und, gleich ihnen, zog auch er daraus den Schluß, daß man beim Unterricht die Begriffe, welche diese Dinge betreffen, von einander trennen müsse. Hievon ging er dann zu der Nothwendigkeit der Steigerung der Schwierigkeiten über und schuf sich ein System Betreffs dieser Gradation, welches darin bestand, Solfeggien drei- oder vierstimmig so zu combiniren, daß eine jede dieser Vier Stimmen eine verschiedene Stufe in der Reihenfolge dieser Schwierigkeiten darbot. Dergestalt war seine Schule in vier Classen eingetheilt, von denen jede einen verschiedenen Grad des Fortschrittes darstellte. Diesem Unrerrichtssystem gab er den Namen der Uetliuäv cviicert-uit«, und wandte es bet einer großen Anzahl Kinder an, die er in Chöre vereinigt und zumeist aus den Ärmeren Classen und den Armenschnlen ausgewählt hatte. Die NetKoilv concert.uns ist für vier gleiche Stimmen geschrieben: sie ist in I3K Lecttonen eingetheilt, in welchen alle Combinationen des Zeitmaßes, der Takte und Töne enthalten sind. Der eine dieser Theile behandelt nur einfache oder punktirte, ganze und halbe Noten, d. h. die Wurzel der geraden und Tripel-Taktarten. Er ist für die un¬ erfahrensten Zöglinge bestimmt, aus denen Choron seine erste Classe gebildet hatte. Der für die Zöglinge der zweiten Classe bestimmte Theil behandelt die einfachen Abtheilungen der geraden und Tripel- Taktarten. Und so steigern sich für die Zöglinge der dritten und vierten Classen die Schwierigkeiten, indem der Werth der zu singenden No, ten immer geringer wird. Dieselbe Steigerungsmethode ist auf die Töne und die verschiednen Schlüssel angewandt. Was die äußere Einrichtung dieses Unterrichts betrifft, so wollte Choron, man solle sämmtliche Schüler, die man bilden wolle, sei ihre Anzahl auch noch so groß, in vier Classen eintheilen und als Eintheilungsgrund die Stufe geistiger Ausbildung oder die Höhe musikalischer Kenntnisse der Einzelnen annehmen. Jeder Schüler in Besitz eines Büchelchcns der Not!>o<1e concvrt-ente, sang die Stimme der Classe, zu welcher er gehörte, bis man erkannte, daß seine Bil¬ dung weit genug vorgeschritten sei, um ihn in eine höhere Classe übergehen zu lassen. Unterlehrer oder Pultaufseher dirigirten die andern Zöglinge. Der Lehrer saß am Picmoz er gab das Zeichen und ein- bis zweihundert Kinder begannen die vierstimmige Lection, welche gerade einstudirt werden sollte. Wenn die Aufhetzer einen Zögling bemerkten, der nicht Takt hielt oder nicht richtig intonirte, so hielten alle inne, man ließ den einen allein üben, und wenn er es so weit gebracht hatte, daß er mit Genauigkeit sang, dann fing man das Ensemble wieder an. So war die Nvtlw'it! come'-i tunto beschaffen, die ihren Erfin¬ der nicht überlebt zu haben scheint. Choron jedoch hatte schöne Erfolge dadurch erhalten, daß er sie auf eine große Anzahl von Schülern anwandte. Aber weder darf man sich diese Resultate als gar zu vortheilhaft vorstellen, noch sie als die eines wahrhaft volks- thttmlichcn Unterrichts betrachten. Die Schwierigkeiten, deren Ueber¬ windung vermittelst der Methode man sich vornahm, waren zu groß, als daß alle Zöglinge hätten darüber hinwegkommen können. Im Gegentheil war der größere Theil derselben durch diese Schwierig¬ keiten abgeschreckt und verließ den Cursus nach mehr oder minder langen, unnützen Versuchen. Der Zweck des Gründers der Ne- ltx)itour lÄvni'iLf"- I'in'lnsel'i« nationale: diese Gesellschaft hat einen großen Kreis von Terrains im Osten der Stadt dicht vor dem Thore angekauft, um letztere an einzelne Baulustige wieder zu verkaufen. Um dieser neu zu construirenden Glatt eine gewisse Bevölkerung zu sichern, hat die Gesellschaft nicht nur selbst eine Reihe von Häusern gebaut, sondern sie hat auch öffentliche Gebäude auf¬ führen lassen, wie sie nur eine vollständig organisirte große Stadt besitzt, hier¬ unter namentlich eine großartige, prachtvoll im herrlichsten Style angelegte Kirche, welche vor Kurzem von dem Cardinal Erzbischof von Mecheln in eig¬ ner Person eingesegnet wurde. Diese Art von specu-lation hat für den Frem¬ den etwas Unheimliches und Ahnungsvolles: es wird einem in der That ganz absonderlich zu Muthe, wenn man plötzlich in eine andere Stadt versetzt wird, mit Häusern , Kirche, Markt, deren Fenster im Sonnenschein glitzern, deren weiße Mauern den Blick blenden, die aber ganz leer steht, in deren Innern noch kein Mensch sich regt und die ganz der Zukunft noch angehört, wie eine neue Wiege, oder vielleicht auch wie ein neuer Sarg. Diese kecke Sicherheit, mit welcher man auf das Morgen rechnet, erscheint fast frevelhaft und man zittert, ob nicht das boshafte Schicksal, ergrimmt über den Eingriff und die Anmaßung der Menschen, ihnen einen bösen Strich durch die Rechnung ziehen und das so tiefsinnig Combinirte durch einen einzigen Unglücksstreich in seiner Entwicklung hemmen und zerstören wird. Ein einziger Hauch des Krieges, eine einzige Wolke am politischen Himmel, — und all diese schönen Häuser blieben wie ein ausgeklasencs El, wie ein unverschuldetes Pompeji, öde und leer. Und bedenken denn diese Männer, die so große Capitalien in solchen Unternehmungen wagen, nicht den Fall eines Krieges und die damit verbundenen Folgen? Wohl; aber diese Herren raisonniren folgendergesialt: Ein Krieg in Europa kann bei dem jetzigen Zustande der Artilleriekunst unmöglich lange dauern, namentlich auf einem Boden wie Belgien, wo die Transportwege die feindlichen Massen so rasch gegen einander führen, daß die Entscheidung des Waffcnglücks in einigen Wochen, ja vielleicht in wenigen Tagen erfolgen muß. Wie dieses sich auch wende, immer wird Brüssel die Brücke des europäischen Verkehrs zwischen England, Frankreich und Deutschland bleiben. Die fremden Ansiedler, welche das üppige, wohlfeile, bequeme und freie Leben Belgiens herbeilockt, werden auch in Zukunft nicht fehlen. Bedenkt man, daß die Fahrt von London nach Brüssel in nur zwölf Stunden und für die geringe Summe von vier Thalern zurückgelegt werden kann, daß man von Cöln hierher kaum so viel bedarf und von Paris hierher nur das Doppelte braucht—natürlich überall die wohlfeilste Reiseart angenommen — so wird man leicht begreifen, wie so dieser Zuwachs an Fremden mit jedem Tage sich vermehrt und worauf da» Vertrauen der Spekulanten begründet ist. — Man kann im Ganzen annehmen, daß nur die kleinere Hälfte der Einwohner Brüssels aus eigentlichen Brabantern besteht; die andere, bei weitem größere Hälfte besteht aus flandrischen und wallonischen Belgiern, und aus den Fremden, unter welchen man ungefähr 20,000 Fran¬ zosen annimmt, 10,000 Deutsche, 4—5000 Engländer und ein kleines Häuflein Holländer, welche aus langer Gewohnheit oder aus Geschäftsnöthigung nach der Revolution hier zurückgeblieben sind. Die verschiedenen Lebensweisen, die sich durch die Verschiedenheit der nationalen Neigungen herausstellen, geben Brüssel seine Mannichfaltigkeit. Der Brabanter, wie überhaupt der Flamän- der zeichnet sich durch einen besondern Geist der Gleichheit aus, der in den belgischen Provinzen weit älter ist, als der Begriff der vgalitv, den die fran¬ zösische Revolution geschaffen. Die Macht der Städte und Zünfte, welche die¬ sen Provinzen ihren alten Reichthum brachte, gab dem Bürger ein Bewußtsein seiner Würde, welche der Adel achten mußte: die Eifersucht zwischen Adel und Bürgerschaft in der Blüthezeit der deutschen Städte und welche so oft den Ruin derselben herbeigeführt, kam hier aus dem wichtigen Grunde nicht zur gefähr¬ lichen Entwicklung, weil die belgischen Provinzen oft unter fremder Herrschaft standen, gegen welche die städtische, wie die aristokratische Macht sich brüderlich verbinden mußten, um ihre Privilegien aufrecht zu erhalten. Dieses gcgensei- scitige Verhältniß hatte sich durch die Zeit so tief eingewurzelt, daß noch heute, wo doch der Adel als politische Körperschaft hier keinen Bestand mehr hat, wo er alle Lasten und Pflichten in Bezug auf Steuer, Militärdienst :c. ganz gleich mit dem Bürger tragen muß und durch seine Geburt zu keinem Vorzug berechtigt ist, er dennoch social noch immer einer großen Hochachtung und Po¬ pularität genießt, die er sich wohl hütet, durch Stolz und Abgeschiedenheit zu verspielen. In den ersten Jahren nach dem Ausbruche der Revolution, als die Bürger — und leider auch die Pöbelmacht eine der Aristokratie gefährliche Stellung gewann, zogen sich einige der bedeutendsten Häupter von der gesell¬ schaftlichen Bühne zurück. Es geschah dies bei weitem weniger aus Anhänglichkeit für das oranische Haus, als aus Furcht vor pöbelhafter Uebergriffen und der 16» Ungewißheit der neuen Stellung. Der Herzog von Aremberg lebte auf diese Weise mit seiner Familie durch 10 Jahre in der strengsten Zurückgezogenheit und erst im vorletzten Winter öffnete er zum ersten Male seine Salons der größeren Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist trotz aller ihrer hocharistokratischcn Elemente doch bei weitem nicht so erclusiv, wie die der alten Aristokratie in der I?aut>aurx 8t. Ksrmain. Die Salons des Herzogs von Aremverg, des Prince de Ligne, des Herzogs von Ursel, des Marquis von Trösigny, des Herzogs von Beaufort u. s. w. sind zwar wie natürlich der Mittelpunkt des alten, einheimischen und fremden Adels und es ist sogar hier bei weitem schwe¬ rer Zutritt zu erhalten, als zu den Bälle» und Soireen des Hofes; dennoch tragen diese Gesellschaften nicht den Charakter jener hochmüthigen Abgeschlos¬ senheit, der unsern lieben deutschen Adels-Zusammenkimftcn eigen ist. Man findet hier nicht nur den männlichen Theil der bürgerlichen Sommitäten, son¬ dern auch ihre Damen; Etwas, das in Deutschland, bei den halblibcralen Ari¬ stokraten, welche Künstler, Gelehrte ?c. in ihren Salons empfangen, nie der Fall ist. Andrerseits verschmäht der hiesige Adel nicht nur das Haus des Bürgerlichen nicht, sondern auch nicht einmal seine öffentlichen, bisweilen sogar seine ordinairen Vereinigungspunkte zu besuchen. Weit wichtiger für das Ra- tionallebcn ist übrigens der Geist der Gleichheit unter der Bürgerklasse selbst. Die lächerliche Vornehmheit, mit welcher in Deutschland die militärische, büreaukra¬ tische und finanzielle Welt von den übrigen Klassen sich abscheidet, kennt man hier kaum dem Namen nach. In den Cafüs und Estaminets findet man den höheren Militair- und Civilbeamten, den reichen Kaufmann und Industriellen in vollständiger Vertraulichkeit an demselben Tische sitzen, an welchem der ehr¬ same Tischlermeister in seiner Blouse sitzt. Die kurze, weiße, thönerne Tabaks¬ pfeife und das längliche Bierglas, welches einen Hauptbestandtheil der Tcniers- schcn Gemälde bildet, spielen noch heute dieselbe Rolle, wie zu den Zeiten Albert's und Jsabella's. In der Kirche, auf dem Stadthause und in dem Esta¬ minet sind alle Belgier einander gleich: es sind dies die drei Hauptgebäude, aus welchen alle Bewegungen und Nationaläußerungen dieses Volkes hervor¬ gegangen sind. Des Morgens die Kirche, des Mittags das Stadthaus, des Abends das Estaminet: das sind die drei Lebenspunkte, deren verschiedene Zu¬ sammensetzung die ganze Geschichte dieses Volkes hervorgebracht hat. Der Priester, der Schöffe, der Journalist finden da ihr Feld, ihre Tribüne. Zur Zeit, als der gedruckte Journalismus noch nicht eristirte, wurde er im Estaminet münd¬ lich betrieben: hier predigten die Vonckiften und Bandernootistcn während der Zeit der Brabanter Revolution gegen Oesterreich; hier wurden an jedem Abend die Angriffe gegen die holländischen Truppen im Jahre 1830 geordnet. Hier versammeln sich noch in diesem Augenblicke die Wahlcomitös in geschlos¬ senen und offenen Gesellschaften. Diese EstaminetS sind so zahlreich und von solcher politischen Bedeutung, daß um das Rathhaus herum mehr als vierzig der¬ selben gezählt werden, von denen einige wie z. B. das Raison eigentlich der Urenkel und nicht der Enkel meines Großvaters sein sollte. Mit derselben Logik sagt man uns in's Gesicht, wir wären für unsere Zeit zu human, zu aufgeklärt, zu reif, das könne nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein, und wir sollten daher noch einmal vergessen, was wir wissen, und werden, was wir gewesen sind. Doch lassen wir die Doctrinairc. — Das Jahr 1842 war bis jetzt sehr creig- nißvoll. Abgesehen von den Welthändeln, bei denen Leipzig Zuschauer im ersten Rang ist — von den Feuersbrünsten und Erdbeben, Revolutionen und Verschwörungen — haben sich auch hier mannichfache Erscheinungen ge¬ jagt, so daß mein Bericht nur ein kurzes, unvollständiges Resümv sein wird. Sie haben gewiß von den Erfolgen gehört, die Halm's „Sohn der Wild¬ niß" auf den meisten deutschen Bühnen hatte, obgleich die Kritik fast in ganz Deutschland den Stab über dieses Drama gebrochen hat. Ich glaube, die Kritik ist zu weit gegangen. Halm ist mehr als irgend ein östreichischer Poet Vertreter der modernen Wiener Bildung; von diesem Gesichtspunkt aus hat man den „Sohn der Wildniß" zu betrachten. Es ist wahr, dieser Ingomar ist kein Sohn der Wildniß, so wenig wie Massilia eine griechische Pflanzstadt und Parthenia ein Ausdruck griechischer Cultur ist. Das Thun dieser Helden und Heldinnen steht im geraden Widerspruch mit ihren Reden. Ingomar ist ein Wiener Stutzer, der den Wilden spielt; denn ein wahrhafter Mann und Na¬ turmensch würde selbst einer Iphigenia Ehrfurcht einflößen, wo sie ihn nicht lieben kann, keinesfalls aber mit sich spielen lassen, ihr wie ein Galanthom sich zu Füßen setzen und — ich möchte sagen — Hut und Shawl halten. Parthenia ist ein liebes Wiener Putzmachermädchen, welches fleißig das Burgtheater be¬ sucht hat, und weiß, wie man sich einen Liebhaber erzieht. Die durchschnitt¬ liche Wiener Bildung verwechselt noch gern Liebe mit Galanterie, Cultur mit Artigkeit und 'hat überhaupt von vielen Dingen, z. B- von Naturfreiheit, Heidenthum u. s. w. gerade solche Vorstellungen, wie ein Kind von den Herr¬ lichkeiten, die es in seiner Bilderfibel abgemalt sieht. Und doch möchte man so gern auch einmal frei, naturwüchsig, Sturm- und drangvoll sein! Wie rüh¬ rend ist nun das Bemühn, alle diese Begeisterungen, Leidenschaften und Tugen¬ den, die man dem Namen nach kennt, aber nie in sich gefühlt hat, anzunehmen! Wie rührend diese Armuth, die sich durch äußerliches Anklammern an gewisse stereotype, gleichsam aus den Lehrbüchern zusammengeholte Phrasen helfen will! Myron erklärt dem Sohn der Wildniß die Civilisation: „Wir sind ein ^ekel bauend Volk!" Parthenia definirt dem Wilden, ich glaube nach Bouter- weck's Aesthetik, was schön sei und daßdas Schönenichtzu nützen brauche. Jngomae selbst ist so hupcrnaiv, daß er nicht weiß, was ein Kranz ist. „Aus Liebe frein ? Wie macht Ihr das?" fragt er. Doch verräth sich bald darauf die Maskerade und er vergleicht die Liebe mit einem tiefen See, in dessen Grund er sich versenken möchte. Offenbar hat sich der Dichter hier einen falschen Begriff von dem Sohn eines Naturvolkes gemacht. Ich will nicht weiter gehen. Wie gesagt, es scheint mir fast, als wäre dies die Sprache, welche der Dichter reden mußte, um auf das Wiener Publikum Eindruck zu mache». Das Stück ist für Wiener oder Weiber geschrieben. Süß einschmeichelnd, ge¬ müthlich und phantasiereich ist die Diction; der technische Bau verräth einen Bühncnkcnner und einzelne Scenen sind so effectvoll und wirklich schwunghaft, daß sie selbst den ernstem Zuschauer bewegen. Daraus und aus dem treffliche^ Spiel der Mine. Rettich erkläre ich mir die außerordentlichen Erfolge des Stückes. Trotz oder vielleicht wegen der unwillkürlichen Komik, die das Stück bei der Aufführung entwickelt, sah man es hier mehrmals mit Vergnügen. Man nahm es auf wie einen gutmüthigen Wiener, den man lieb gewinnt, während man herzlich über ihn lachen muß. — In Berlin hat der Sohn der Wildniß sogar Furore gemacht, ein Beweis, daß zwischen Wien und Berlin eine größere Aehnlichkeit herrschen muß, als man zugeben will. Und Gutzkows „Werner?" Rede mir Einer noch von der Theilnahme des Volkes, vom Aufschwung des Dramas! Aeußere Verhältnisse sind es, die heutzutage das Glück einer dramatischen Dichtung machen. Gutzkow's Werner, obgleich mit allerhand alten Kotzebue „Ifflandischen Elementen versetzt, steht in mancher Hinsicht so hoch über dem Sohn der Wildniß, wie der Denker über dem gefühlvollen Declamator. Die Aufführung ging aber beinahe spur¬ los vorüber. Erstens war es dem Publikum nicht mehr neu genug, zweitens war es zu heiß, drittens ging man lieber in die italienische Oper. Der Büh¬ nendichter dient heutzutage, wie das Bühneninstitut selber, der Gelegenheit und dem Vergnügen des Publikums im gewöhnlichsten Sinne des Wortes. Ich fürchte, daß Alles, was die Journale seit zwei oder drei Jahren über den Aufschwung des deutschen Dramas phantasirt und raisonnirt haben, lange noch zu den i>iis clvsi-keins gehören wird. — Eine italienische Operngesellschaft aus Kopenhagen zieht jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Das Fremdartige der Erscheinung, ivor zwei Jahren waren zum letzten Mal italienische Sänger hier) das lebhafte Spiel und die hübschen Gestalten locken das Publikum in das enge, fürchterlich schwüle Haus. Die sächsische Artigkeit wird von den Gästen gewiß überall gepriesen werden. Man betäubt sie mit Beifallklatschen und Hervorruft», als wollte man sie dadurch für die, wie es heißt, karge» Einnahmen entschädigen. Rossini's Barbier von Sevilla hat wieder seine ewige Jugend bewährt; Wellini's und Donizetti'ö Syrupsüßigkeiten aber grimmen im Bauch. — Ein anderes Schauspiel, unter freiem Himmel bei Gohlis aufgeführt, hat über fünf und zwanzig Tausend Menschen versammelt: die Hinrichtung eines, zwanzigjährigen Unholds, der seine schwangere Geliebte auf ncufranzösisch romantische Weise umgebracht hatte. Nach der Messe verspricht man uns noch ein solches Schauspiel und zwar auf dem Leipziger Markte! Inzwischen aber ist wieder ein Mord vorgefallen; und es scheint fast, als ob mit den Hinrichtungen sich das Gelüste nach Blut unter den Verlornen Söhnen der> menschlichen Gesellschaft steigerte. — Anfang kommenden Monats wird die Eisenbahn bis Altenburg eröffnet und Leipzig streckt seine eisernen Fühlhörner dann auch bald in's Baierland hinein. — Von Politik und Publicistik das nächste Mal. _ Neueste Literatur. ^-H^ - I. Die Münchener Jahrbücher für bildend« Künste Während das Cotta'sche Kunstblatt einen Redactionswechsel erlebt, welcher einen frischeren Aufschwung dieses Instituts erwarten läßt, treten andrerseits R. Marggrasss Jahrbücher ihren 2ten Jahrgang in erweiterter Form an. Statt der Unregelmäßigkeit, mit welcher bisher die Lieferungen der Jahr¬ bücher erschienen, werden sie von nun an in vierteljährigen Heften aus¬ gegeben. Sehen wir hierin den erfreulichen Beweis, daß dieses tüchtige und bedeutende Organ deutscher Kunstinteressen einen festen Fuß im Publikum gesaßt hat: sehen wir hierin das schöne Aelchen, daß, während Deutschland sei¬ ner politischen Großjährigkeit mit immer entschiedeneren Schritten entgegen¬ geht, es auch aus dem Gebiete der Kunst das nachholt, was es in jahrelanger Apathie vernachlässigt hat. So wahr ist es, daß ein tiefer, stiller Zusammen¬ hang zwischen dem Kunstleben und dem politischen Bewußtsein einer Nation eristirt. Daß ein so ernstes Institut, wie die Münchener Jahrbücher, Wurzeln schlagen kann, spricht lauter für den Triumph, den die Kunst in Deutschland feiert, als der ganze Flitterenthusiasmus, mit dem der Haufe den SicgeSwagen Herausgegcvcn von v,-. R. Marggraff. Zw-leer Jahrgang. München l8iZ. Mit artistischen Beilagen. eines Ivfingrigen Pianisten und einer lObeinigen Tänzerin zieht. Hören wir hierüber Marggraff selbst sprechen: „Was die Stellung des Publikums der Kunst gegenüber betrifft, so er¬ scheint sie in vielen Stücken anders, als sie es noch etwa vor 10 Jahren war. Allerdings können wir nicht leugnen, durch die Vervielfältigung und Verbesse¬ rung der verschiedenen Anstalten zur Erhaltung, Fortpflanzung und Verbrei¬ tung der Kunst, durch die zweckmäßige Ergänzung, Feststellung und Freigebung der öffentlichen Kunstsammlungen; durch die alle Kreise und Stände des Volks eng einschließenden, mit ihrer Wirksamkeit über größere und kleinere Ortschaf¬ ten sich verbreitenden Kunstvereine und die von ihnen geförderten und veran¬ laßten Kunstausstellungen; durch die regsamere Thätigkeit im Gebiete der ver¬ vielfältigenden Künste des Kupferstichs, des Holzschnitts und der Lithographie und die hieran sich knüpfende gesteigerte Unternehmungslust der Kunsthändler; endlich durch die zum Theil in Folge der erwähnten Verhältnisse herbeigeführte Ver¬ mehrung der Künstler und hierunter die entstehenden Kunstwerke selbst, hat sich die Liebe zur Kunst und der Sinn dafür in einem Maße aller Gemüther bemächtigt, daß wir berechtigt sind, sowohl in Bezug der Vermehrung als des künstlerischen Werthes der Productionen noch höhere Erfolge von der Zukunft zu erwarten." ,,Man drängt sich zur Theilnahme an den Kunstvcrei'nen und unsere Zeit würde die Benennung des Zeitalters der Denkmäler nicht verdienen, wollte das Volk jetzt, wie in den beiden letzten Jahrhunderten, nur.seinen Fürsten es über¬ lassen, berühmten Männern Monumente zu errichten. Die früher unter Verschluß gehaltenen oder auf Wucher verliehenen Privatmittel verwendet man jetzt wieder lieber auf den Erwerb von Kunstgcgenständen, mit deren beweglichem Schmuck man so brillant als möglich sein Local zu verzieren sucht, während Einzelne, schon in größerer Zahl, als früher, auch der monumentalen Malerei und Bild¬ nern Gelegenheit geben, bei der Errichtung neuer Wohngebäude und Land¬ häuser mit der Architektur in unmittelbare, gemeinsame Wirksamkeit zu treten." Die deutsche,» Tosch-nlckchcr und ti« Wcltzegende» »°n Chlodwig. Die Literatur der deutschen Taschenbücher ist in letzterer Zeit aus eine be¬ deutende Apathie im Publikum gestoßen. Ihre nächste Bestimmung, als Neu¬ jahrsgeschenke oder sonstige Galanteriebezeugung auf die vtagöre einer Dame niedergelegt zu werden, hat mannichfache Nebenbuhler erhalten. Die deutsche Industrie hat tausend kleine Bijouterien erfunden, welche der galante Ehemann, der zärtliche Liebhaber nur mit vielem Aufwande aus Paris herbeischaffen konnte. Die deutsche Artigkeit hat nun nicht mehr nöthig, in der monotonen Form eines Taschenbuchs „für Liebe und Freundschaft" ihre Reujahrs- und Wcihnachtsgrüße dem zarten Geschlechte zu übersenden. Andrerseits haben die illustrirten Bücher in Quart und Großoctav die kleinen liliputanischen Schwärme aus ihren Niederlassungen verdrängt. So muß denn die fliegende Literatur der kleinen Novellen, Balladen und Sonnette einen andern Bienenkorb suchen, um ihren Honig, der leider oft allzusüß ist, zu bereiten. Die bei Meyer in Cottbus erscheinenden „Weltgegenden" scheinen aus einem solchen Motiv her¬ vorgegangen zu sein. Der Titel ist ungeschickt gewählt und steht zu dem In¬ halt in gar keiner Beziehung. Allein es findet hier der nicht gewöhnliche Um¬ stand statt, daß der Inhalt besser als der Titel ist. Die literarische Gesell¬ schaft, die man hier trifft, ist eine gute: die meisten unserer besten Erzähler und einige achtbare Lyriker liefern das Material. Das letzte Heft, welches uns in die Hände gekommen, enthält werthvolle Beiträge von Wilibold Alexis und Robert Heller, eine humoristische Epistel von Adolph Peters, Schilderun¬ gen aus München von Heinrich Scheerer, Gedickte von Dingelstedt, Friedrich von Sattel und Richard Morning. Letzterer hat auch eine Charakteristik von Anastasius Grün geliefert, die werthvoller wäre, wenn sie kürzer sein möchte. Die bescheidene Aufgabe, „eine Sammlung schöngeistiger Produkte der beliebte¬ sten und berühmtesten Schriftsteller Deutschlands zu liefern," erfüllte der Her¬ ausgeber auf eine ehrenvolle Weise: ob jedoch eine solche Aufgabe, die ohne alle Tendenz, ohne irgend einen bestimmten Literatur- und Culturzweck in'6 Auge zu fassen, die Materialien zufällig aneinanderreiht, an der Zeit ist? Ob ein Un¬ ternehmen, das mit nicht unbedeutendem Aufwand von materiellen Mitteln und mit so tüchtiger Unterstützung literarischer Capacitäten in's Leben gesetzt wird, nicht tiefere Spuren zu graben hätte? Dies ist eine Frage, die wir nicht zu Gunsten dieser literarischen Erscheinung beantworten können.' I' 5> S «-r Vorstellung 8 Francs eintrug, darunter findet sich auch ein Bers, der aus einem einzigen Iielas! besteht. Einer neuen Art Diebstahl geben die französischen Theater das Leben. Bei außergewöhnlichen Borstellungen wird die Casse bekanntlich schon vom frühen Morgen an belagert und die Spätkommenden kaufen Leuten, die hier¬ aus eine Industrie machen, entweder ihren Platz ab, um selbst sich dahin zu pflanzen, oder, was noch häusiger der Fall ist, sie werfen ihnen das Geld zu, um einen Platz für Loge oder Sperrsitz nehmen zu lassen. Dadurch ergiebt sich nun eine Art Gaunerei, die Z» w I.ilixut genannt wird. Man wirft einem solchen Platzhalter 20 Francs zu, um zwei Billete zu kaufen und giebt genau aus ihn Acht. Wirklich sieht man ihn alle Anstrengungen machen, um zur Casse vorzudringen, und auch dabei läßt man ihn noch nicht aus den Augen. Und doch ist er plötzlich verschwunden. Er hat sich nämlich unmerklich immer mehr und mehr gebückt, bis er endlich mit dem Kopf untertaucht, und nun durch die Beine der übrigen Menge durchschlüpft. Einige Uhren und Börsen, die er auf diesem Wege findet, verschmäht er natürlich nicht. Und seid Ihr so glücklich, ihn am andern Morgen zu treffen, so bedauert er unendlich, gestern, nachdem es ihm gelungen die Billete zu kaufen, Euch trotz allen Su¬ chen« nicht getroffen zu haben. Es hat ihn dieß Suchen zwei Stunden Zeit gekostet und er hält den Hut hin und bittet um Entschädigung. V-iuernfeld'S neueste« Lustspiel. Hat Bauernfcld seinen Einfluß auf das Burgtheater in dem Grade ver¬ loren, daß er ein neues Stück nicht früher, als in der Mitte des Juni, d. h. in der unglücklichsten Theaterzeit, kurz vor Eintreten der Ferien, wo ganz Wien aus dem Lande ist, zur Aufführung bringen konnte? War Deinhard- stein ein freundlicherer Gönner der Bauernftld'schen Lustspiele, als Holbein? Der Titel, welchen das Stück führt, „Industrie und Herz," ist eben auch nicht glücklich. „Herz und Welt," „Industrie und Herz," — das sieht einander so ähnlich! Der Inhalt? Wir wollen ihn nicht erzählen: der Leser würde sagen: das ist ja ein alter Bekannter. Ohnehin besteht der Reiz der Baucrnfeld'schen Stücke nur im Dialog, und im Interesse des Verfassers mögen wir das Ske¬ lett nicht ohne das Fleisch zeigen. Die Wiener Journale berichte», man habe Herrn Bauernfeld mehrere Male hervorgerufen. — . — . Einer unserer Freunde schreibt uns aus Wien: „Holbein ist nicht sehr beliebt, weder beim Publikum noch bei den Schauspielern. Zwar ist sein Streben nach heilsamen Reformen, besonders hinsichtlich des Finanziellen, höchst rühmlich; allein dies reicht für seine Stellung nicht aus: es bedarf hier einer geistreichen, gewand¬ ten, lebensvollen Auffassung des Zwecks und der dargebotenen Mittel. Bis jetzt haben nur zwei Stücke unter seinerLeitung gefallen: „das Glas Wasser" und „der Sohn der Wildniß." — Es scheint, als ob unser Freund jener Vor¬ stellung, in welcher Bauernfcld dreimal hervorgerufen wurde, nicht beigewohnt habe. — . — . Die österreichischen Lottospielcr. In Oesterreich, wo die kleine Lotterie oder das sogenannte Zahlen-Lotto noch gäng und gäbe ist, wird damit so mancher Volksaberglaube genährt, den zu belauschen nicht ohne Interesse ist. Um im Traume die Zahlen und deren Combinationen zu Amber, Ternen u. s. w. zu sehen, welche herauskommen, vergißt man nie, ehe man einschläft, den kleinen Finger der linken Hand in die rechte zu legen. Um aber aus der Menge Zahlen, die man alsdann im Traume sieht, den rechten Treffer herauszufinden, verfährt man folgenderma¬ ßen: Man sucht sich die Nummern in's Gedächtniß zurückzurufen, die am stärk¬ sten erschienen, und schreibt diese auf kleine Papierstreifen, die man mit der Schrift noch dem Boden in eine Holzschachtel legt; dazu sperrt man eine Abends gefangene Spinne; denn Abendspinn' bringt Gewinn. Nachtstun¬ den nimmt man nun die Schachtel wieder zur Hand und diejenigen Papier¬ chen, welche durch die Spinne umgedreht worden sind, enthalten die Nummern, auf welche man setzen muß, denn diese kommen ganz gewiß heraus. Nur muß man noch die geheimnißvolle Kunst der Combination zu Amber, Ternen in. verstehen. Der gemeine Mann glaubt hieran so fest, daß, wenn eine so ge¬ wählte Nummer dennoch nicht gewinnt, er rcvolutionair genug ist, die Regie¬ rung eines Betrugs zu beschuldigen, indem er sagt- „man hat die Nummern, weil sie, als sehr stark besetzt, ungeheure Summen gewonnen hätten, gar nicht in's Rad gethan." Die Gerant« der französischen Journale. Der Titel Giraud klingt in Deutschland sehr vornehm; in Frankreich zwinkert man dabei mit den Augen. Die Gazette de France z. B. ist in die¬ sem Monat in der Person ihres Gerant zu einem Jahr Gefängnißstrafe und I2V0V Francs Geldbuße verurtheilt worden; wer ist nun dieser Gerant? Sein Name ist Paul Aubry; sein Stand ist--Tagelöhner und Austräger des Journals, bei welchem er als Gerant fungirt. Derselbe ist in diesem Doppel¬ amte der Nachfolger seines Vaters, Aubry Foucault, der bereits früher in Folge eines ähnlichen Preßprocesses eingesteckt wurde und seine Strafe noch nicht abgesessen hat. Ein Gedicht »onSenau. Lenau, der in letzter Zeit ziemlich still geworden, hat in Fränkl's Sonn- tagsblättern ein kleines Gedicht „der Räuber im Bakony" drucken lassen, wel¬ ches in einer einzigen Pointe die tiefste Wunde unserer gesellschaftlichen Zustände, den ganzen Kampf der Armen gegen die Besitzenden, aus welchem der Commu¬ nismus und der Chartismus hervorgewachsen, trifft. Wir theilen es hier mit: Der Eichenwald im Winde rauscht, Im Schatten still der Räuber lauscht, Ob nicht ein Wagen auf der Bahn Fern rollt heran. Der Räuber ist ein Schweinehirt, Die Heerde grunzend wühlt und irrt Im Wald herum, der Räuber steht Am Baum und späht. Er hält den Stock mit scharfem Beil In brauner Faust, den Todeskcil. Worauf der Hirt im Wurfe schnellt Sein Beil, das fällt. Wählt aus der Heerd' er sich ein Stück, So fliegt die Hacke in's Genick, Und lautlos sinkt der Eichelmast Entseelter Gast. Und ist's ein Mensch mit Geld und Gut, So meint der Hirt: es ist sein Blut Nicht anders, auch nur roth und warm, Und ich bin arm. Officielle Kritik in Berlin. Die fgtale Stellung, in welche der Kunsthistoriker Franz Kugler in neue¬ ster Zeit gerathen ist, kommt einzig und allein aus der Vernachlässigung der alten Regel: Erst freie die Tochter, dann werbe beim Vater. Franz Kugler hat zuerst beim Vater geworben und hat nun von der Tochter einen Korb bekommen. Es wird Jeden, der die werthvollen Schriften Kugler's kennt, un¬ angenehm berühren, daß der Senat der Kunstakademie ihm die Aufnahme ver¬ weigerte ; und dennoch muß man diesem Schritte der Akademie allgemeinen Bei fall zuklatschen. Sonderbare Verhältnisse in Berlin! Auf der einen Seite soll eine Gerichtsbehörde darüber urtheilen, was in Hoffmann von Fallersleben's Gedichten in die Reihe der Poesie gehört und was nicht; auf der andern Seite creirt die politische Behörde Mitglieder von Kunstakademien! Man hat in neuester Zeit viel von der Redactionsveränderung des Cotta'schen Litera¬ tur- und Kunstblattes gesprochen. Herr von Cotta hätte nur die beiden In¬ stitute nach Berlin verlegen dürft«: die Behörden hätten sie vielleicht gratis redigirt. Wie man die Kinder erzieht. Wir wollen ein wenig von der Erziehung der Kinder sprechen — sagt Alphons Karr. Man schließt etwa sechzig Knaben in einem Zimmer ein; man hält sie ab, Ball und Reifen zu spielen, was ihrem Alter angemessene Spiele sind, damit sie sich eine classische Bildung erwerben, etwas, was dem reisen Mannesalter zur Erholung dient. So läßt man sie acht Jahre in Langeweile, Verdruß, Thränen und Ent¬ behrungen hinbringen, — damit sie eine Sprache lernen, die kein Mensch auf Gottes weiter Erde spricht. Der Zweck dieser Erziehung und das Resultat dieser acht traurigen Arbeitsjahre ist, — daß man in einem Alter von zwanzig Jahren eine geringere Geschicklichkeit in dieser Sprache besitzt, als ein jun¬ ger Römerknabe von sechs Jahren. Man hat es sonderbar gefunden, daß Cato im vorgerückteren Lebensalter sich einfallen ließ. Griechisch zu lernen. — Ich halte es für viel sonderbarer, daß man die arme Jugend zwingt, Lateinisch zu lernen. — Cato lernte Griechisch, weil er Lust hatte, es zu kennen, — und übrigens gab es damals noch Griechen. Die Erziehung beruht gänzlich in der Sprache; — man wird den Knaben belohnen, der die Ausschweifung in einem schönen Style schildern wird; derjenige dagegen, der in barbarischer Schreib¬ art die edelsten und reinsten Gesinnungen ausdrücken würde, erhielte sicherlich eine Strafarbeit oder Arrest. Man läßt die Jugend nichts als Schilderungen republikanischer Sitten und Tugenden übersetzen; — man spricht ihnen acht Jahre lang nur von der Re¬ publik; man lehrt sie Brutus bewundern. Andrerseits — lehrt man sie nur schöne Prosa und Verse schreiben- Nachher sterben die Dichter vor Hunger in einer Dachkammer, und diejenigen, die allzurepublikanisch sind, sterben — auf der Gasse, oder im Kerker. Daher besteht auch das ganze Wesen dieser Knaben, wenn sie Männer geworden sind, nur in Worten. Reiche Thränen - Armes Volk. Eine literarisch-sociale Epistel. ist eine schöne Sache um die Empfindsamkeit. Nur ist eS zu bedauern, daß man in dieser lieben Welt oft unnützerweise einen sehr starken Verbrauch davon macht. Ich wünschte, diese plötz¬ lichen Rührungen, von denen wir bei jeder Gelegenheit ergriffen werden, hätten einen Zweck, dann wäre nicht unser Heiz eben so rasch trocken, als unsere Augen. Möchte man begreisen, daß die Thränen das Samenkorn der biblischen Parabel sind, und daß es also unsin¬ nig ist, sie auf dürren Fels zu säen, wo sie keine Keime treiben können, man würde sich alsdann mäßiger hierin bezeugen und unsere Theil¬ nahme an fremdem Unglück wäre dann nicht blos eine krankhafte Schwäche unserer Thränendrüsen. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum man ein so heftiges Geschrei über die Herzensdürre und den mitleidsloser Egoismus unserer Zeit anstimme. Ich denke im Gegentheil, daß es ihr an Empfindsamkeit durchaus nicht fehlt und fordere Jedermann heraus, mir in der Geschichte einen Zeitraum aufzufinden, in dem mehr Thränen ver¬ gossen worden sind, als in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren. In einer periodischen Schrift habe ich letzthin eine Berechnung ge¬ funden, welche den armen, von Herbst- und Frühlingsregen und vom Winterschnee durchnäßten Fußgängern unwiderleglich bewies, 17 daß sie im Laufe von sechs Herbst- und Wintermonaten doch nur etwa zehn Zoll Wasser auf die Köpfe bekommen haben. Ich wünschte, die Verfasser dieser Berechnung hätten sich in ihren Mußestunden dem Studium der moralischen Feuchtigkeitsmessung ergeben: — wir würden ihnen zu ihrer Genugthuung erlauben, hiefür eine neue Wissenschaft, Laerymo-Hygro-metrie, zu erschaffen — und ich bin über¬ zeugt, das Resultat einer solchen Berechnung würde meine Behaup¬ tung nur allzusehr bestätigen. Wollte ich hier alle jene Menschenklassen mustern, die cor-im jo>nie> weinen und in einer zur Schau getragenen Empfindsamkeit einen gewissen Ruhm suchen, so würde dieser Aussatz eine unabseh¬ bare Länge erhalten. Von dem tugendhaften Menschenfreunde an, welcher wegen der unerschöpflichen Kraft seiner Thränendrüsen und wegen des reichlichen Gebrauchs, den er bei feierlichen Gelegenheiten davon zu machen weiß, das Glück hat, zum Vorstand aller sogenann¬ ten Wohlthätigkeitsgcsettschasten erwählt zu werden, bis zu dem be¬ scheidenen Verfasser rührender Kinderschriftcn, der zu Weihnachten und Neujahr vor Glück stille Thränen vergießt in einer dunklen Ecke des Ladens seines Verlegers, wo die Mütter und Erzieherinnen zahlreich sich einfinden, um seine Bücher zu kaufen, — alle Weinen¬ den, die zwischen diesen beiden Polen liegen, aufzuzählen, wäre eine Arbeit, bei der einer Herkuleöbrust der Athem ausginge. Und was hätte ich nicht zu thun, wenn ich, um meinem Aufsatze ein wissenschaft¬ liches Ansehen zu geben und meine Eigenschaft als systematischer Deut¬ scher nicht zu verläugnen, die Thränen in Abtheilungen bringen wollte? Es giebt Leute, welche bei dem allergemeinsten Ereignisse ihres hausbacken-prosaischen Lebens Thränenströme vergießen. Ich bin überzeugt, daß Jedermann schon, nicht ein, sondern unzählige Male, guten, dickbäuchigen Familienvätern begegnet ist, deren Wangen so glatt sind, so von Gesundheit strotzen, so heiter erglänzen, daß man darauf schwören möchte, sie seien nie von Thränen durchfurcht wor¬ den. Aber wie trügerisch ist dieser Schein! Man beobachte sie nur und man wird sehen, wie schnell die Fluth, die von ihren Gefühlen emporgetrieben wird, ihr Auge netzt. Sie verheirathen heute, nicht ihre erste, nein, ihre fünfte Tochter — also weinen sie. — Ein klei¬ nes Geschäft zwingt sie, den Kirchthurm ihres Geburth- und Wohnorts auf einige Tage zu verlassen und kaum vermögen sie vor Schmerz alls den Armen ihrer schluchzenden Familie sich zu reißen und ihr Auge ist so thränenumdunkelt, daß sie beim Einsteigen iiz den Wa¬ gen dem Postknecht, der ihr Paquet Hieher gebracht, sein-Trinkgeld zu geben vergessen. — . — . Die Empfindsamkeit ist zwar, wie alles Uebrige, der Mode unterworfen; jedoch haben Romane und Theaterstücke zu allen Zeiten das Vorrecht behauptet, reichliche Thrä¬ nen zu entlocken. ES gab eine Zeit, da in der deutschen Literatur ein Streben herrschte, ungeschminktes Naturleben darzustellen; der Mensch sollte wieder zu Wurzeln und klarem Wasser zurückkehren: damals erweichte das Gemälde einer tugendhaften Familie, die sich den lei¬ der! etwas übelriechenden Beschäftigungen des Hühnerhofes ergab, die stoische Seele des Philosophen; das Herz des Freundes der Natur, der von seinem fünften Stockwerk herabgestiegen, um die friedliche Stille des Landlebens zu beobachten, ward bei solchem Schauspiel ganz unter Wasser gesetzt. Der Anblick eines schönen Greises, mit weißem, bis zum Nabel herabwallenden Barte, ergriff ihn tief: dickwangige Bübchen, mit butterglänzendem Munde, ver¬ setzten ihn in die süßeste Entzückung lind, ward die Gruppe durch ein Paar Zwillinge am Busen ihrer Mutter vervollständigt, dann hatte die durch dieses reizende Schauspiel hervorgebrachte Rührung eine solche Höhe erreicht, daß er sich nicht mehr halten konnte, sondern schluchzend und mit halb von Thränen erstickter Stimme ausrief: „Kommt, laßt Euch an mein Herz drücken!" Und die ganze interes» sante Familie, der Greis und die „rotznäsigen" Bübchen, die Mutter und ihre Jünglinge zerschmolzen mit ihm zusammen in Thränen an seiner bewegten Brust. Wer von unseren Lesern hat nicht Geßner's Idyllen und die ersten Scenen in Göthe's Werther gelesen? Wer kennt nicht aus den Erzählungen seiner Eltern oder aus der Litera- turgeschichte, oder auch aus eigener Lectüre in unüberwachter Jugend¬ zeit, den thränenreichen Siegwart und den mildherzigen Lafontaine, der nach drei Bänden Leiden, die einen Stein erweichen könnten, von seiner eigenen Rührung und den Thränen seiner Frau bewegt, sich gewöhnlich entschloß, seinen Romanen einen sogenannten glücklichen Ausgang zu geben? Und die Theaterstücke jener Zeit hatten dieselbe weinerliche Tendenz, in die ja zum Theil selbst Schiller's Ca bale und Liebe verfiel. Wer erinnert sich nicht an Jffland's Hage- !7-«- stolzen und andere Thränen — und Rührstücke desselben Verfas¬ sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's „unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin, wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬ nen unzählbare Thränen entlockte. Freilich diese letzteren weinen jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬ setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner-- schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬ rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬ gossen ! Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬ worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei Halm'S „Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen geflossen sind? Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬ nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu Wege bringen sollte, noch gesteigert wurde, in eine befreundete Fa¬ milie, wo eine Anzahl mir bekannter junger Damen fast täglich sich zusammenfand. Man denke sich, wie mir zu Muthe ward, als ich bei meinem Eintritt in'6 Gesellschaftszimmer die Augen aller Mit- glieder des lieblichen Kreises thränenfeucht und alle Taschentücher in Bewegung sah. Mein Gott! dachte ich und erschrack, was ist denn hier vorgefallen? Der Hausherr ist doch nicht, seitdem ich ihn vor einigen Stunden nach der Börse gehen sah, todtkrank gewor¬ den? Und von einem bedeutenden Bankerott in der Handelswelt, der auch auf meinen Freund nachtheiligen Einfluß üben konnte, habe ich doch auch nichts gehört? Kurz, ich war über den Schmerz, der sich auf allen Gesichtern malte, ganz außer Fassung gerathen und fing schon an, darüber nachzudenken, wie ich mich mit Ehren zurückziehen konnte. Da fand ich in dem dritten Bandevon Godwie- Castle, der auf einem Tischchen vor der Hausfrau aufgeschlagen lag, die Lösung deS Räthsels ,- die Ursache des ganzen Jammers. Ich fluchte in meiner Seele ganz entsetzlich über alle weinerlichen Romane und noch mehr über die nervenschwachen Frauen, welche dergleichen Sachen nicht lesen können, ohne Thränenstrvme zu vergießen. Den» hätte ich ihnen gesagt, daß ich auf dem Wege zu ihnen vielleicht mehr denn einen vor Hunger sterbenden Armen getroffen habe, es würden viele schöne Worte über Armenhäuser, aber gewiß uicht eine Thräne geflossen sein. Ja, es ist eine schöne Sache um die Em- pfindsamkeit, besonders wenn sie nichts kostet und zu keiner Ausgabe verpflichtet. Es ist eine Schwäche der menschlichen Natur, daß sie an Thränen ihr Wohlgefallen findet. ---- Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen. Aber Leute von Geist verstehen die Kunst, ihre Empfindsamkeit sowohl mit ihrer Gesundheit als vorzüglich mit ihrer Bequemlichkeit in gutem Einverständniß zu halten. Sie haben gern alle Annehm¬ lichkeiten des Mitleids: die langweilige Seite desselben wissen si>' sich fern zu halten. Daher hat die in allen Ländern sich gleich blei¬ bende vornehme Welt — und ich nehme die weibliche Hälfte dersel¬ ben gar nicht aus — stets bei Crin inalprozessen, wo sie öffentlich sind, und bei Schaffoten sich Aufregungen gesucht. Es ist etwas so Bequemes, über ein unabänderliches Uebel in Rührung zu gerathen. Je gehässiger der Verbrecher, desto größer das Vergnügen! Daher giebt es z. B. in Frankreich gar manchen vornehmen Adeligen, wel¬ cher mit der Juliusrevolution und dem Sturz Karls X. sich wohl aussöhnen würde, hätte nicht die Regierung, die aus dieser Revo¬ lution hervorgegangen, zwei tyrannische Akte sich zu Schulden kommen lassen, welche alle Aussöhnung mit ihr unmöglich machen. Sie hat den Auszug der Galeerensclaven-Ketre und die Hinrichtungen auf dem Gröveplatz in Paris abgeschafft, zwei Schauspiele, die man gratis hatte, von denen man mit zusammengeschnürten Herzen zurückkam und bei denen man M einem Tage mehr Thränen vergoß, als zu Haus in zehn Jahren. Wenn es schon ein Vergnügen ist, im Thea¬ ter zu weinen, über erdichtete Leiden, so stelle man sich erst die Wonne vor, die man hier empfand, wo c>>i die Stelle der Dichtung blutige oder schreckenvolle Wahrheit getreten, wo das Melodram von der Bühne auf die offene Straße herabgestiegen war. Wenn man den Zeitungsberichten trauen darf, so hatten sich, als der letzte Zug Galeerensclaven nach Toulon abging, 3V,WV Zuschauer versammelt, dreißigtausend Zuschauer, um zweihundert Elende zu sehen, die an eine lange Eisenkette geschmiedet waren. Diese Dreißigtausend fragen nun unwillig die französische Negierung: — Wie? Das war unser moderner Circus, der uns an die Spiele des alten Rom erinnerte, wo schöne, nackte Fechtersclaven im Angehenden keuscher Vestalinnen einander erwürgten; daS waren unsere Gladiatoren, welche, die gesetzliche Gesellschaft und deren Herr¬ schergewalt in uns erkennend, mit ihrem: ^.-of-u,'I um-ituri te sulu- timt, uns begrüßten! Und das will man uns rauben? Wo sollen wir denn Mit unserer Empfindsamkeit hinaus, wenn man all diese blutigen Dramen, die in der Finsterniß begonnen, auch im Dunkeln endet? Sollen wir Nichts mehr zu sehen bekommen? Soll Alles, was unsere geglättete, nivellirte Gesellschaft an Unmoralischem, an Ergreifendem, an Rührendem noch hat, verschleiert werden? Worüber sollen wir denn nun weinen?— Die französische Negierung, da sie nur ein moralisches Wesen ist, hat diese Klagen nicht gehört, oder wenigstens unbeantwortet gelassen und ist ihren Weg weiter geschritten. Ich aber antworte den Fragenden: — Ihr sollt eben nicht weinen! Denn Eure Herzenshärte und Eure Selbstsucht rühren gerade davon her, daß Ihr feiger, weibischer Weise über Alles weint. Weinet nicht im Theater, weinet nicht während der Criminalverhandlungen der Assisenhofe, benetzet nicht mit Thränen die Romane, die der pathetische Schriftsteller vielleicht lachend geschrieben! Diese unablässige Zersplitterung Eures Gefühls stumpft es zuletzt ab und wenn dann ernsthafte Austritte kommen, welche der Thränen Zoll von Euch zu heischen berechtigt sind, so finden sie Euch kalt und theilnahmlos und Euer Auge bleibt trocken, Und Ihr, die Ihr glücklich seid und nicht zu weinen Ursache habt, bewahret Eure Thränenperlen in Eures Herzens Schrein. Fordert nicht verwegen durch grundlose Thränen die Traurigkeit heraus, und fürchtet Nemesis Adrastcia, die reisende Göttin, auf daß sie nicht plötzlich eine jener grausamen Wunden Euch schlage, die nimmer vernarben, auf daß nicht des Unglücks bitterer Kelch Euch unvermu- thet gereicht werde und Ihr dann schamroth werdet, daß Ihr über all das falsche Bücherelend, über jeden erdichteten Jammer alltägliche Thränen vergossen habt. Dann werdet Ihr Euch einschließen, um zu weinen. Ihr werdet dann keine Zuschauer suchen, die Eure Rührung mit ansehen: und sollte mitten in Eure Einsamkeit ein Unwillkommener sich eindrängen, so wird Euer Schmerz plötzlich verstummen, Ihr werdet dem Fremdling ein ruhiges, ungetrübtes Gesicht zeigen, das wie ein Jsisschleier über das Heiligthum Eure Trauer gebreitet sein wird. Denn alsdann werdet Ihr fühlen, was ich schon längst inne geworden, daß eS eine unerträgliche Beleidigung ist, wenn der Salonpöbel Euch lobt und von Euch sagt: diese Per¬ son ist von einer überaus zarten Empfindlichkeit. Ich meinerseits wünschte, es wüßte irgend ein Schriftsteller, der das-Pathetische zu hehandelir versteht, einen Nutzen aus dieser mü¬ ßigen Empfindsamkeit zu ziehen; ich wünschte, daß diejenigen, die in ihrer unmittelbaren Nähe und Umgebung keine Gelegenheit zu jenen Schmerzen finden, nach denen sie so begierig sind, durch die Worte einer beredten Feder zum Besten der großen Familie der Menschheit gerührt und bewegt würden. Man erzählt eine Geschichte von einem Prediger, der so salbungsrcich über Mitleid und Menschen¬ liebe predigte, daß in allen Städten, wo er für die Armen seinen Eiser erglühen ließ, die Frauen ihren Schmuck, die Männer ihre kostbarsten Zierrathen zu Gunsten der Unglücklichen zu seinen Füßen niederlegten, Diese Geschichte hat mich stets sonderbar er¬ griffen und ich wollte, eS fände sich ein Schriftsteller, der in unserer Zeit, bei dem immer tiefer in die Gesellschaft sich einfressenden Krebs¬ schaden des Pauperismus, so auf die Herzen zu wirken verstände. Er müßte, wenn er die Glücklichen dieser Welt sür das wahre Elend interessiren wollte, einfach sein wie die Wahrheit und streng wie das Unglück. Er dürfte kein Menschenfreund von Profession sein, denn diese prunkvolle Tugend, womit die Eitelkeit sich brüstet, ist heutzu¬ tage, da Jedermann weiß, daß die Philanthropie zu Nichts ver¬ pflichtet, in Mißcredit gekommen. Eben so wenig dürste er, dagegen sträubt sich der Geist unserer Zeit, sein Buch im Kanzelstyle und Predigertone schreiben; denn gar viele sogenannte starke Geister würden gegen ihre eigene Ueberzeugung seinem Buche kein Gehör geben, blos weil sie aus anderweitigen Gründen ein System der Feindseligkeit gegen alle religiösen Gefühle befolgen. Aber ach! ich fürchte fast, mein Schriftsteller ist nicht aufzufin¬ den. Denn wo lebt in unsrer Zeit noch in stiller Verborgenheit ein Mann, der Talent und Herz genug besäße, um weder in Styl- noch in Gedanken-Ercesse zu verfallen, um seine Gefühle von aller Ueber¬ treibung fern zu halten, um weder aus Glaubens- noch aus Par¬ tei-Rücksichten seine Darstellung auf die Spitze zu treiben, der unzugänglich wäre den Täuschungen der Eitelkeit, der auf die kleinen Triumphe der Eigenliebe mit gerechter Verachtung hinab¬ schaute, und den die Liebe zum Guten allein zu solchem Werke be¬ geisterte? Wo, frag' ich, weilt ein solcher Schriftsteller? Und doch müßte er all diese Eigenschaften besitzen, um das zu thun, was ich verlange, nämlich die übertriebene Empfindsamkeit der Weltkinder zum Besten des Volkes zu lenken. Ich habe oftmals von einer traurigen, gar rührenden Geschichte geträumt, die ohne alle hinterlistige Einleitungen, ohne rednerische Kunstmittel, ohne all jene Sprachschlingen erzählt werden müßte, in die man selbst die einfachsten Dinge verwickelt; kurz/ eine Ge¬ schichte, nackt wie das Unglück und bei deren Vortrag man sich alles Effecthaschens enthielte; denn durch die Sucht, überall drama¬ tische Effecte hervorzubringen, werden zuweilen die besten Ideen und besonders die nützlichsten verdorben. Die Trauerlieder, die man zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte. Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬ fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬ bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬ ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist. Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬ wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen, hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus- geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in den Journalen figuriren könne. Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen, einem französischen Minister, nachdem er einen großen Theil des Ta¬ ges mit Kammerdiscussionen verbracht hat, kaum noch Zeit genug übrig bleibt, um die nothwendigsten Arbeiten zu erpediren. Die guten Regierungen sind auch meist von den Parteistreitigkeiten so in Anspruch genommen, daß sie sehr froh sind, wenn sie mit Hülfe ihrer Gendarmen, ihrer Gerichtshöfe und ihrer Gefängnisse zu ver¬ hindern im Stande sind, daß das verborgene Elend des Volkes nicht allzuviel Hemmnisse dem Gange der Staatsmaschine bereite, deren Leitung ohnedies so schwer ist. Man betrachte nur England einen Augenblick, man erinnere sich der niederschlagenden, entmuthigenden Reden des Ministers im Unterhause und der Königin in ihrer Vertagungs-Rede und man wird mir gewiß gern eingestehen, daß nicht von den Regierungen die Heilung des jammervollen Uebels zu erwarten steht und daß es, soll dem Volke wirklich geholfen werden, jedenfalls eines Besseren und Mehreren bedarf, als diese thun können. Aber nun frage ich: würden denn diejenigen, welche Muße haben; diejenigen, welche von den Interessen des Augenblicks inso¬ weit abgelöst sind, daß sie sagen können: wir gehören keiner Farbe an; diejenigen, welche Nichts weiter zu thun haben, als ihren Ge¬ danken vollkommen freien Lauf zu lassen, — würden, frage ich, alle diese, wenn ein Schriftsteller von einem starken, kräftigen Charakter, wie ich ihn oben zu schildern versucht, ihnen die Mittel zeigte, um das Elend aus den Orten aufzuscheuchen, wo es seinen Wohnsitz aufgeschlagen, um das Uebel mit der Wurzel zu vernichten, — würden sie nicht nach einer solchen Erzählung erst weinen, aber dann auch daran denken, zu handeln und sich endlich mit ganzem Herzen an's Werk begeben? Ach! wenn doch das Volk seine Lite¬ ratur hätte, es schriebe wahrlich keine Romane, sondern eS würde ganz schlicht und ungekünstelt seine Geschichte erzählen, und Ihr würdet alsdann manche bittre Thräne vergießen, Ihr, die Ihr so gern weint. Darum sage ich Euch noch einmal, sparet Eure Em¬ pfindsamkeit auf für die wahren Schmerzen, Ihr, die Ihr Euch in Thränen so sehr gefaltet, sparet sie auf für Euch selbst, wenn das Unglück Euch erreicht, oder für das Elend des Volkes, das gar groß und herzbrechend ist. Doch hier muß ich einen Augenblick inne halten j denn ich sehe eben, daß ich schon seit längerer Zeit mich eines Wortes bediene, dessen eigentliche Bedeutung unenträthselt, geheimnißumschleiert ist, eines Wortes, das ein Schiboleth geworden ist für alle Parteien, deren jede es nach Belieben anders ausspricht und anders versteht; eines Wortes, um dessenwillen ganze Ströme von Blut geflossen und das einer ganzen Menge von Systembauern zum schönen Vorwand gedient hat, um ihre Ideen und ihre eigenen Personen der Welt annehmbar zu machen, eines Wortes endlich, das man nur noch scheu und ängstlich ausspricht, so sehr ist es mißbraucht worden, des Wortes Volk. Denn wahrlich, wenn man nur einigermaßen den Gang der Dinge in unserer Zeit kennt und über die ersten Täusch¬ ungen hinaus ist, muß man dann nicht jedesmal, so oft man aus dem Munde eines unsrer vielen glänzenden Redner mit Begeisterung das heilige Wort Volk kommen Hort, die Frage sich stellen: — Was will der gute Mann eigentlich? Wo will er hinaus? Denn bisher sind fast alle Systemfabrikanten, alle jene vorgeb- lichen großen Wohlthäter des Volkes mehr oder minder dem Moliiue- schen Don Juan ähnlich gewesen, der einem Armen, den er im Walde antrifft, ein Goldstück als Almosen giebt, blos damit er dafür einen Fluch ausspreche. So war auch hinter all den socialen Verbesser¬ ungen, hinter all den goldnen Bergen, welche jene Herren uns ver¬ sprochen haben, immer noch der Hinterhalt eines Wenn oder Aber verborgen. Man mußte stets ihr ganzes Programm unterzeichnen, gewissermaßen die von ihnen beliebte Konstitution beschwören, ehe man in ihr Eldorado eingelassen wurde. Daher hat denn auch das Volk meistentheils nicht einmal gewußt, daß diese Leute eristir- ten und sich in ihrer Gnade rin ihm zu beschäftigen geruhten. Und man thut daher auch, nach meiner Ansicht, Unrecht, sich mit diesen Leuten in eine ernsthafte Discusston einzulassen: man brauchte für sie nur ein Feenmährchen zu erfinden, das in Tausend und Einer Nacht noch fehlt, und das folgendermaßen anfangen müßte: „Es gab einmal ein Volk, wo Jedermann wenigstens 20,000 Thaler besaß und wo selbst die am wenigsten vom Schicksal Begünstigten Grafen oder Freiherrn waren. Dieses Volk nun war sehr un¬ glücklich....." Wenn ich also den Wunsch ausspreche, es möge ein Mann von eben so viel Herz als Talent es unternehmen, dem Strome jener weichlichen, kraftlosen Empfindsamkeit, der auis Mangel an ver¬ nünftiger Leitung sich in den erbärmlichsten Rührstücken im Theater und in den flachsten, fadesten Romanen Auswege sucht, zum Besten der Leidenden in der großen Menge ein neues, befruchtendes Bette zu graben, so will ich hiedurch — und dagegen verwahre ich mich hier¬ mit feierlich — durchaus nicht etwa einem neuen tausend und ersten System über das Volk Thür und Thor geöffnet haben. Denn ich gehöre keinesweges zu denen, welche der Meinung sind, daß alles Elend unter den Menschen sofort aufhören wird, sobald der Lumpensammler und der Packenträgcr et twe Avmis omne werden lesen und schreiben können gleich den Millionären, die nichts weiter verstehen. Eben so wenig glaube ich, daß die untern Klassen der Gesellschaft viel an Wohlleben werden gewonnen haben, wenn man sie fortwährend mit Kartoffeln und Kohl und Rumford'schen Suppen, aus Knochen, die man dem Schinder abkauft, füttern wird. Wahrlich, es sind übergenug solcher Suppen vertheilt worden. Und der schwäbische Pferdeflcischverein wird auch kein Messias der leiden¬ den Armen sein. Füttert Eure Hunve mit diesem Fleisch, das eigent¬ lich dem Abdecker gestohlen ist; aber, ich bitte Euch, erniedrigt arme Geschöpfe mit Menschengesichtern und in veren Brust ein Menschen- Herz pocht, nicht dadurch, daß Ihr ihnen diesen unverdaulichen Fraß mit so viel prunkenden Worten als Wohlthat zuwerfe. Ich habe es Euch schon gesagt, das Christenthum hat schon lange früher und weit mehr, als Ihr, das Volk nicht Hungers sterben lassen; aber es hat nicht in alleil Journalen ausgeschrieen: „Kommt zu uns, Ihr Hungertgen, Ihr sollt gesättigt werden; kommt zu uns, Ihr Dursti¬ gen, Ihr sollt getränkt werden; kommt zu uns, Ihr alle, die Ihr leidet am Körper und am Geist, Ihr sollt geheilt werden an Fleisch, Leib und Seele!" Ihr thut freilich damit nichts Böses, aber Ihr thut nur wenig Gutes und bei Weitem nicht so viel,^ als Noth thut. Wenn dieser Frage Behandlung in meinem Bereiche läge, so wollte ich sagen, was dem Volke Noth thut, und das ist nicht jene armselige Nahrung, mit der man die erbärmlichen Wohnorte des Volkes anfüllt. Das ist auch nicht jene hohle, marklose geistige Nahrung, die man ihm angedeihen läßt und die nur dazu dient, ihm das Bewußtsein seiner Erniedrigung zu verschaffen und ihm sei» Elend unerträglicher zu machen. Wißt Ihr, was das Volk bedarf? Eine Art-moralischer Wiederherstellung, die es in seinem eigenen Geiste erhöht, wodurch ihm ein tiefer Abscheu gegen die Liverei des Elends eingeflößt wird, die es jetzt in abgestumpften Gefühle gleichgültig an allen Orten mit sich herumschleppt, wodurch ihm eine heilsame Energie eingeflößt wird, daß es nicht an sich selbst verzweifle, nicht den Muth, aufwärts zu streben, verliere. Es ist Platz für Alle unter der Sonne. Aber wie viele werfen sich Abends verzweiflungsvoll auf ihr elendes Strohlager, die den Tod als eine Wohlthat erflehen und, weil er nicht kommen will, ihr Leben in herabwürdigender Trunkenheit zu vergessen, ihre Leiden dadurch zu übertäuben suchen. Will man dem Volke wahrhaft wohlthun, so versuche man es unter dem niederbeugenden Joche seines erblichen Elends wieder aufzurichten und den Einzelnen das Bewußtsein ihrer Würde, als Menschen, als Bürger wiederzugeben: und dazu bedarf man weder langer theoretischer Auseinandersetzungen der Menschen, rechte, noch weitschweifiger Constitutionen. Wahrlich, man muß es wohl eingestehen, wir behandeln fast alle gemeinhin das Volk ent¬ weder mit beleidigenden Mitleid oder wir erdrücken es, indem wir ihm unsre Überlegenheit in geistiger und andrer Beziehung allzu fühlbar machen. Nun ja, das Volk ist unter einer gewissen Vor¬ mundschaft; aber soll es ewig geistesschwach, soll es ewig bevor¬ mundet bleiben? Und um es aus diesem Zustande zu bringen, bedarf es der Thaten: Worte reichen nicht hin. Ausgehen aber müßte diese Veränderung von den Gesetzen: sie müßten den ersten Schritt vorwärts in diesem Sinne thun. Denn bei dem besten Willen muß man doch gestehen, es herrscht in ihnen, weil sie meist von den Reichen und „Glückverhärteten" gemacht sind, fast stets ein unbegreifliches Gefühl der Feindseligkeit gegen den Armen und Be¬ dürftigen, gleich als wäre er der gemeinsame Feind der Gesellschaft. Im Mittelalter gab es ewig wandernde Banden von Zigeunern, von Bettlern, von Gauklern, die weder Dach noch Fach, weder Hütte noch Herd hatten: aber in den großen Städten fanden sie auf Kirchhöfen und andern Orten Zufluchtsstätten, wohin des Königs Gerichtsbarkeit nicht drang. Das ist nun in unsern Zeiten, wo die Frei¬ heit herrscht, anders geworden. Man hat das Vagabundenleben für ein Vergehen gegen die Gesellschaft erklärt und Jedermann ist ver¬ pflichtet, vor dem ersten, besten Gendarmen, der Lust hat, die Ange- legenheiten eines Fremden kennen zu lernen, den Nachweis zu fuhren, daß er einen festen Wohnsitz und hinreichende Eristenzmittel habe. DaS ist an und für sich ganz gut und die höheren und mittleren Klassen sehen hierin gar keine strenge Maßregel. Betrachtet nun aber ihre Wirksamkeit auf das Volk, und Ihr werdet sehen, wie schwer sie auf ihm lastet. Ein armer Familienvater, dessen müh¬ sames Gewerbe plötzlich durch eine herrliche, neuerfundene Maschine getödtet worden ist, hat keine Mittel' mehr, seine Miethe zu bezahlen, und wird vom Hauseigenthümer nebst Weib und Kind auf die Straße geworfen: er wird in den Augen des Gesetzes ein Vagabunde! Ein armer Landmann, den ein Blitzstrahl, ein Mißwachs, ein Hagel¬ wetter ruinirt hat und dem es für den Augenblick an Arbeit fehlt, was ist er? Ein Vagabunde! Als solchen schleppt man ihn vor das Polizeigericht und verurtheilt ihn: was geschieht damit? Er wird, unverschuldeten Unglücks halber zum Verbrecher gestempelt und mit unauslöschlichem Mal gebrandmarkt sür sein ganzes Leben. Man kann natürlich die Unterdrückung des herumstreichenden Lebens nicht tadeln wollen, weil dessen Billigung der Gesellschaft nachtheilig sein würde. Aber das kann man tadeln, daß die Gesetze ein Vergehen daraus gemacht haben. Warum soll der Unglück¬ liche, der aus Armuth, aus Mangel an Erwerbsmitteln keinen bleibenden Aufenthalt hat, > der strafenden Gerechtigkeit verfallen sein und mit Spitzbuben und nächtlichen Ruhestörern in eine Kategorie gestellt werden? Hier haben nach meiner Ansicht die Gesetzgeber selbst ein Vergehen gegen die Menschenwürde der niedrigen Volksklassen begangen. Warum soll der als Schuldi¬ ger erscheinen, dessen Unglück darin besteht, daß er arm ist und keine Stätte hat, da er sein Haupt hinlegen soll? Weil er nichts hat, so setzt Ihr voraus, daß er stehlen will? Nun zugegeben, die Vermuthung ist wenigstens nach der Logik der Reichen nicht unwahrscheinlich. Aber begeht Ihr nicht einen doppelten Fehler, indem ihr den Armen, dem dieser verbrecherische Gedanke vielleicht ganz fern lag, dadurch, daß Ihr so unverhohlen diesen Verdacht kund ' gebt, unverdient in seiner eigenen Achtung herabsetzt und so viel¬ leicht selbst erst den Keim des Verbrechens in seine Seele streut? Ach! wenn Ihr nur hören und beachten wolltet, wie ver¬ nünftige und gar traurige Dinge sie zuweilen vor den Tribunalen sagen: wahrlich, die Entscheidung würde Euch schwer fallen und Ihr würdet hinfort anders handeln. — Warum hat man Euch auf den Straßen herumstreifend angetroffen?^ — Weil ich keine Wohnung habe. — Warum habt Ihr keine? - Weil ich Miethe bezahlen muß und Nichts verdienen kann. — Warum sucht Ihr nicht Arbeit? — Ich suche sie wohl; aber Niemand will mir Arbeit anver¬ trauen, eben weil ich keine Wohnung habe. Was thut nun der Richter, der mit der Vollziehung des Ge¬ setzes beauftragt ist, in solchem Falle? Er findet, um aus diesem schlangenartig sich um ihn und den Armen windenden Kreise des Elends herauszukommen, kein andres Mittel, als daß er den Unglück¬ lichen in ein Arbeitshaus schickt, wo man ihm für seine Arbeit sparsam Brod giebt, aber auf Unkosten seiner Freiheit. Und doch, ich frage nochmals, was hat er für ein Verbrechen begangen, daß man ihn seines kostbarsten Gutes beraubt? Sollte man denn gar kein andres Heilmittel finden können? Man suche nur ehrlich und eifrig. Müssen denn die Vagabunden vom Zuchtpolizeigericht deur. theilt werden? Schickt sie mir doch vor ein Geschwornengericht von Reichen und laßt sie von diesen dazu verurtheilen, frei und von ihrer Familie umgeben zu arbeiten und laßt den Richter selbst ihnen Arbeit schaffen. Es fehlt wahrlich nicht daran und sollte es keine geben, so müßte man sie erfinden: das ist heilige, unabweisbare Pflicht der Gesell¬ schaft. Aber kerkert sie nicht ein^ sperrt sie nicht von der Welt und ihrer Familie ab; bekleidet sie nicht mit der entehrenden grau und weißen Jacke des Zuchthanssträflings. Der Vagabund hat das nicht verschuldet: richtet ihn auf, erhebt ihn in seiner eigenen Achtung, sage ich Euch, und wenn er sehen wird, daß Ihr ihn aufrichtig ohne hochmüthiges Achselzucken bedauert, daß Ihr den Menschen noch in ihm achtet, dann wird er frischen Muth fassen und wird sich aus allen Kräften, — und die Armen haben so viel Kraft zu leiden, — gegen das Elend steifen. Aber so Ihr ihn als Schuldigen behandelt, so Ihr ihn in's Zuchthaus zu Dieben und andern Verbrechern steckt, so wird auch in ihm des Verbrechens Gedanke keimen und Euer ist die Ver- antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast. Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬ vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die Ursache zu diesen Zeilen geworden ist. Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬ schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern Dich denn Deine Eltern nicht zurück? Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten, eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die Mutter in ?. . . . Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬ zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin- des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬ ben von einander gerissen! Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬ fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬ rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen, die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬ pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen Eindruck auf Euch machen. Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch, den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben hättet? O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft in Händen habt, höret auf die Stimmen des Volkes, die um Hülfe schreien. Bedenkt, daß es Menschen, Brüder sind und wartet nicht, bis das Volk müde wird, zu tragen und zu dulden. Die Berank wortlichkeit des Unheils, das dann entsteht, ruht auf Euch. Lernet Geschichte. viscite Mstitiam mmiiti et von tomuvre tllvos. L. H. Geldt.er. Soldatenbilder aus Oesterreich. Der Reiter und sein Roß. Bon einem ehemaligen Cavalerie-Offizier. Die österreichische Cavalerie, gewiß eine der besten in Europa, zerfällt gleich der aller übrigen Nationen in schwere und leichte Cavalerie. Erstere besteht aus acht Cuirassier- und sechs Dragoner- Regimentern, die sich fast gänzlich in Böhmen, Ober- und Nieder¬ österreich, Mähren und Stevermark recrutiren. Die Recrutirung begreift aber nicht allein die Menschen, sondern auch die Pferde in sich. In diesen Provinzen, gleich wie in allen übrigen österreichischen Besitzungen giebt es Neuville-Depüts, in denen man die von den Ortschaften selbst erzeugten Pferde ankauft, um sie sodann, je nach Maßstab ihres Wuchses und ihrer Stärke, unter die verschiedenen Regimenter der Armee zu vertheilen. Unter den Pferden, zu denen man auf diese Art gelangt, sind die böhmi¬ schen vielleicht die besten und schönsten. Die Bewohner dieses Lan¬ des verstehen sich in der That besser auf die Pferdezucht, als die andrer Provinzen und die Pferderace selbst ist hier von vorzüglicherer Qualität. 18 Im Vorbeigehen wollen wir hier eines Gebrauches Erwäh¬ nung thun, dessen Anwendung die böhmischen Bauern die Feinheit der Füße ihrer Pferde zuschreiben. Im Augenblick nämlich, da das Füllen aus dem Leib der Stute kommt, sind seine Veine weich und haben nicht mehr Widerstandsfähigkeit, als ein Stück Wachs. Nach einigen Stunden aber, innerhalb deren sie dem Einfluß der atmos¬ phärischen Luft ausgesetzt bleiben, erlangen die Füße Festigkeit genug, um die Last des Körpers zu tragen, ohne daß ihre Formen an Zartheit verlieren. Die böhmischen Bauern aber, um jedem Zufall zuvorzukommen, binden dem Füllen unmittelbar, nachdem es gewor¬ fen worden, die Beine zusammen und zwingen eS, achtzehn bis zwanzig Stunden in liegendem Zustande zu bleiben, bis seine Nerven die gehörige Stärke gewonnen haben. Wir wollen die Verantwort¬ lichkeit dieses Verfahrens nicht über uns nehmen; aber das ist that¬ sächlich erwiesen, daß die böhmische Pferderaee sich in Bezug auf Güte und Feinheit der Füße ganz besonders auszeichnet. Von der oben erwähnten Regel, sich durch Remontepferde, die im Lande selbst erzeugt werden, zu recrutiren, machen drei Regimenter schwerer Cavalerie eine Ausnahme. Der commandirende Oberst oder Eigenthümer des siebenten Cm- rassier-Regiments ist nämlich der General Inspector und Director der Cavalerie-Remonten. In Folge dieses Umstandes nun genießt dieses Regiment die ganz besondere Gunst, daß eS seine Pferde aus den kaiserlichen Stutereien von Mezohegyes, Babolna, Lippik u. f. w. bezieht. Das Regiment ist eins der prächtigsten und hat vielleicht in allen Europäischen Armeen wenige seines Gleichen, wie dieses selbst von englischen Cavalerie-Offizieren anerkannt worden ist, die sonst über fremde Reiterei gewöhnlich sehr geringschätzig urtheilen und, wie Verfasser dieser Zeilen es z. B. in Kalisch und Heilbronn bei den großen ManomvreS häufig von anwesenden englischen Militairs zu hören Gelegenheit hatte, stets folgende Phrase im Munde führen: „Glauben Sie, daß diese armen Teufel mich nur einen Angriff unsrer Garde-Cavalerie aushalte» würden?" Das fünfte Dragoner-Regiment macht sich seit einigen Jahren in Siebenbürgen beritten- es liegt dieß an zufälligen Ursachen, deren Besprechung uns hier zu weit seitab führen würde. Ueber die Pferdegattung dieser Provinz gedenken wir im Laufe dieses Artikels ausführlicher zu sprechen. Das erste Dragoner-Regiment endlich reitet meistentheils pol» mische Pferde. Auch von diesen werden wir noch zu sprechen Ge¬ legenheit haben. Der durchschnittliche Preis eines vierjährigen Pferdes ist für Cuirassiere IM Gulden und für Dragoner 12V Gulden: zu diesen Preisen bekommt man sie leicht. Jedoch dürfen wir die Be¬ merkung nicht vergessen, daß alle schweren Cavalerie - Regimenter aus den kaiserlichen Stutereien eine Anzahl Pferde von besserer Qualität bekommen, welche für die Offiziere und Unteroffiziere be¬ stimmt sind. Jeder Cavalerie- Offizier vom Capitain zweiter Klasse an hat ein Pferd auf Kosten des Staates, das nach achtjährigen Dienste sein Privateigenthum wird. Die armen Offiziere haben daS Vor¬ recht, daß ihnen, auf Empfehlung des Regiments, dem sie angehö¬ ren, von der Negierung zum möglichst billigen Preise ein Pferd verkauft wird, das sie nur in monatsweise»! Abzügen von ihrem Solde zu bezahlen brauchen. Kraft einer andern gesetzlichen Bestimmung, deren Zweck man leicht begreift, erhält der gemeine Soldat, so wie der Unteroffizier, der zehn Jahre lang dasselbe Pferd behält, nach Ablauf des zehnten Jahres drei Ducaten und für jedes fernere Jahr einen Ducaten. - Ein jedes Dragoner- und Cuirassier - Regiment besteht aus sechs Schwadronen, deren Stärke folgende ist: Gemeine Soldaten . . 13V. Nicht berittne Soldaten . . 4. Offizier-Bediente») ... 5. Unteroffiziere.....12. Wachtmeister ..... 2. SecondelieutenantS ... 2. Premier-Lieutenants ... 2. Rittmeister .....1. Rittmeister und Escadronchef 1. Summa ISA *) Diese erhalten zwar Löhnung und Kleidung, sind aber weder unifor- mirt, noch bewaffnet, noch beritten. 18» Hiezu muß man in Friedenszeiten noch einen Sattler und einen Kurschmied rechnen, die zwar Uniform tragen, aber nicht beritten sind und nie in Reihe und Glied eintreten. In Kriegszeiten zählt die Schwadron zehn Reiter mehr; die vier nicht berittnen Soldaten werden alsdann in eine Reserve-Schwa¬ dron versetzt, welche anstatt eines Depüt sich bei jedem Regiment befindet. Die leichte Cavalerie besteht aus sieben Dragoner-Regimentern (Chevaulegers), zwölf Husaren-Regimentern und vier Regimentern Uhlanen oder Lanciers. Jedes von ihnen hat acht Schwadronen, welche vier Abtheilungen bilden. Eine Schwadron besteht aus 15,0 berittnen Soldaten und vier nicht berittnen: im Uebrigen ist Alles fast eben so, wie bei der schweren Cavalerie, mit Ausnahme deö Sattlers. Da nämlich die leichte Cavalerie mit ungarischen Sätteln versehen ist, welche bekanntlich aus Holz gemacht sind, so bedarf sie keines Sattlers. Was die Ausbesserung und Instand¬ haltung des Lcderzmgs und Geschirres anbetrifft, so finden sich ge¬ wöhnlich in jeder Schwadron zwei oder mehrere Soldaten, die sich darauf verstehen. Wie in der schweren Cavalerie, zählt die Schwadron auf Kriegsfuß zehn berittne Mann mehr. Die sieben Dragoner-Regimenter werden auf dieselbe Weise recru- tirt, wie die der schweren Cavalerie; jedoch beziehen sie ihre Pferde nicht aus Deutschland und Böhmen, sondern sie machen sich mit wilden Pferden beritten. Welches Verfahren man beim Fangen und Abrichten dieser Pferde anwendet, werden wir weiterhin erzählen. Die zwölf Husaren-Regimenter bilden die leichte ungrische Na- tional-Reiterei. Der ursprüngliche Grund ihrer Organisation fällt in die Zeiten der Türkenkriege. Der Name Husar ist aus den ungarischen Worten iius-i, das zwanzig bedeutet und ar, dessen Be¬ deutung eine Verpflegung, eine Steuer ist, zusammengesetzt. Die Husaren waren nämlich in der That die Abgabe Ungarns an die Krone, und jeder von ihnen repräsentirte den Betrag der Steuer, die auf zwanzig Häusern lastete. Heutzutage bestehen diese Regi¬ menter ausschließlich aus Bauern, die man in Ungarn, im Banat und in Siebenbürgen aushebt. ES sind daher diese Regimenter ein Gemisch von Menschen aus den verschiedensten Nationen, mit den verschiedensten Sprachen und Glaubensbekenntnissen: Ungarn, katho¬ lische und evangelische, griechisch-katholische Illyrier und Wallachen desselben Bekenntnisses, Deutsche, die sich in Ungarn niedergelassen haben,, und endlich Abkömmlinge der alten Sachsen, die nach Sieben¬ bürgen ausgewandert sind. Aber trotz dieser Verschiedenheit der Abstammung besitzen sie doch Alle sast in gleich hohem Grade jene Eigenschaften, wodurch sie gerade zum leichten Cavaleriedienst so sehr geeignet sind. Es liegen jedoch diese Eigenschaften in volkstüm¬ lichen Sitten und Gewohnheiten, nicht wie man im Auslande lange fälschlich geglaubt hat, in der äußeren Ausstattung der Husaren. Denn so wenig, nach einem alten Sprichwort, die Kutte den Mönch macht, eben so wenig machen Pelz, Dolman und Czako den Husaren. Diese Tracht, die, wenn ein Ungar sie trägt, sich so zierlich ausnimmt, ist nur eine Art lächerlichen Maskenanzugcs, wenn ein Franzose, Engländer oder Spanier sich damit herauöstaffirt. Der Landbewohner Ungarns ist im Allgemeinen mehr Hirt, als Ackerbauer. Die Dörfer sind sehr dünn gesäet im Lande und liegen meist sehr beträchtliche Strecken von einander entfernt. Ueberall im Lande dehnen sich unermeßliche Ebenen hin, die hie und da mit dichten Wäldern bedeckt sind, an deren jungfräulichen Bäumen noch keine Art ihr mörderisches Eisen geübt hat. Durch diese Ebenen nun irren die Lämmer, Ochsen, Schweine und Kühe eines jeden Dorfes, die in Heerden vereinigt und der Obhut von Wächtern an¬ vertraut sind, welche von Jugend auf zu diesem Gewerbe abgerichtet worden sind und kein anderes kennen. Zur Abwehr räuberischer Anfälle von Dieben und Wölfen sind diese Hirten gewöhnlich mit Waffen und einem Pferde versehen. Die Mundvorräthe, die sie bei sich führen, bestehen in rohem Schinken, Pfeffer, Salz, Knoblauch, etwas Brod und zuweilen etwas Branntwein: so bleiben sie oft ganze Wochen ohne irgend eine frische Speise an Fleisch oder Ge¬ müse. Man sieht sie immer in aufrechter Stellung, ihre Heerden aufmerksam überwachend. In der Hand führen sie eine lange Hacke, die sie so geschickt, wie ein Indianer seinen Tomahawk zu schleudern verstehen. Die Weiden, auf denen die halb wilden Pferde herumirren, bieten nebst den Hirten derselben, die man Check«s nennt, einen sehr interessanten Anblick. Es sind meist Ebenen, die sanft hügel- aufwärts steigen: im Hintergrunde schimmert der Glockenthmm der nächsten Dorfkirche, das einzige Anzeichen der Nah« menschlicher Cultur und Wohnung: von allen andern Seiten schließen großartige Wälder voll riesenhafter Buchen und Eichen den Gesichtskreis ab: hin und wieder, besonders nach der Seite des Dorfes zu, bieten Korn- und Maisfelder einen bunteren Anblick. Auf dem höchsten Punkte der kleinen, wellenförmig sich erhebenden Hügel, von denen die Ebene durchfurcht ist, bemerkt man aufrecht und unbeweglich eine menschliche Gestalt, deren beide Hände und Kinn sich auf einen langen, starken Stock stützen, an dessen äußerstem Ende man das scharfe Eisen eines Beiles, Csakany genannt, blinken sieht. Diese Menschengestalt nun, von etwas unter mittlerem Wuchse, ist mehr schmächtigen als kräftigen Baues. Die Füße, von bemerkenswerther Kleinheit, werden durch Sandalen beschützt. Um das Bein ist vom Knöchel bis zum Knie ein breiter Tuchstreifen gewunden: eine weite, kurze Hose von grober Leinwand ist vermittelst eines Strickes, der als Gurt um die Lenden sich dreht, festgehalten. Zwischen diesem Kleidungsstück und dem Hemd, das nicht ganz bis zu ihm herab¬ reicht, ist etwa eine Handbreit der Körper gänzlich unbedeckt, und diese Stelle ist von Luft und Sonne gegerbt und gebräunt worden. Sein Hemd schmiert der ungrische Hirt tüchtig mit Schweinefett ein; denn da er wochenlang nicht in's Dorf kommen kann, so würde er ohne diese Maßregel zu viel vom Ungeziefer leiden. Eine Weste ohne Aermel, nach ungarischer Mode geflochten, bedeckt seine Brust. Um den Hals hat er ein schwarzes Tuch gewunden, weil es, wie er sagt, am längsten weiß bleibt; über die Schultern wirft er den Keppenyek, einen Mantel von weißem Tuche, dessen kurze Aermel, da sie an den unteren Enden zugenäht sind, ihm zuweilen als Vor¬ rathskammer für Kleinigkeiten dienen. Außerdem trägt er an einem Bande quer über den Oberkörper eine ArtTornister, woraus die Säbel¬ taschen derHusaren entstanden sind, und einen Schlauch, Csuttera, für Wein oder Branntewein. Wenn er den Mantel auseinanderschlägt, so blitzt zuweilen das Ende eines kleinen Carabiners hervor, der an einem kurzen Bande ihm über den Rücken hängt. ^Dieses so co- stümirte Individuum hat lange, schwarze Haare, die entweder frei in Locken ihm um Achseln und Schultern flattern oder in einen Zopf zusammengebunden sind: stets erglänzen sie, aus dem bei dem Hemde obenerwähnten Grunde, stark von Schweinefett. Unter wild blickenden Augen, tu denen jedoch etwas Melancholisches sich nicht undeutlich ausspricht, eine lange, asiatischen Ursprung verrathende Nase; der furchtbare, sorgfältig mit schwarzgefärbtem Fett gepflegte Schnurrbart verbirgt fast die dicken Lippen. Dieses sind die Haupt¬ züge seines Gesichtes, die stark und charakteristisch hervortreten, so daß es dem Ganzen nicht an einer gewissen Schönheit fehlt, beson« dero, da der rauhe und wilde Ausdruck dieses Gesichtes häusig durch etwas Romantisches, Melancholisches im Blicke gemildert wird. Ein niedriger, breiträndrigcr Filzhut dient zur Kopfbedeckung. Zur Ver-- vollständigung dieses Portraits dürfen wir auch die Pfeife nicht ver¬ gessen, den unzertrennlichen Begleiter der Hirten, die in den seltenen Augenblicken, da sie nicht im Munde hängt, aus dem Hemdkrage» herausguckt, so wie die Tabaköblase, Koßtcck, die am Gürtel be¬ festigt ist. Wenn man nun dieses Individuum so aufrecht in unbeweglicher Stellung erblickt, so glaubt man Anfangs, er sei völlig unbeschäftigt. Bei einiger aufmerkfameren Beobachtung jedoch sieht man, wie seine Augen sich in unaufhörlicher Bewegung befinden und wie fein ruhi¬ ger, aber wachsamer Blick unablässig auf allen Theilen der Wiese, wo seine Pferde weiden, sich ergeht. Plötzlich faltet sich seine Stirn, ziehen sich seine Gesichtsmuskeln heftig zusammen. Seine Heerde ist unverimtthet in Unordnung gerathen, die Pferde rennen fliehend durch die Ebene und lassen jenes dumpfe Schnauben hören, das bei ihnen ein Zeichen der Unruhe ist; zu gleicher Zeit stößt eins von ihnen einen Todesschrei aus. Der Coll<»S springt auf das erste beste Pferd, das er in der Nähe erwischt und ohne Sattel, ohne Zaum. — das ist für ihn alles unnütz, — sprengt er in vollem Galopp davon. Während dieses wüthenden Rittes fliegt sein Mantel, vom Winde aufgebauscht, flattern seine langen Haare wild um die Schul¬ tern. Vermittelst seines Csakany stachelt er sein Pferd und treibt es, trotz seines instinctgemäßen Widerstandes, nach der Gegend hin, wo sein geübtes Auge einen Wolf erkannt hat: zwei oder drei weißhaarige Hunde, die vedettenartig auf verschiedenen Punkten des Weideplatzes ausgestellt waren, eilen ihm nach. Der Wolf sucht zu entwischen; aber die Hunde bedrängen ihn von der einen Seite, während ihn der Chili's von der andern Seite angreift. Das Pferd, durch die Nähe und den Geruch des ihm verhaßten Wolfes erschreckt, will nicht vorwärts, bäumt sich zurück, aber ein Schlag mir dem Schaft des Csakcmy treibt es vorwärts. Einen Augenblick daraus fliegt die mit sicherer Hand geschleuderte Waffe todbringend auf das Haupt des Wolfes. Der Csik6s, den der Ungestüm seines Pferdes fortreißt, hält sich an der Mähne fest mit der einen Hand, während er sich mit der andern zur Erde beugt, um seinen Csakany aufzuraffen, worauf er dann seinen Ritt fortsetzt. Denn der schwerste Theil seiner Arbeit steht ihm noch bevor, nämlich die Wiedervereini¬ gung seiner Pferde, die sich erschreckt nach allen Richtungen hin zerstreut haben. Doch er kömmt bald damit zu Stande und in kurzer Zeit ist die Ordnung wieder hergestellt: nur trägt eines der Pferde von den Klauen und den Zähnen des Wolfes tiefe Wundmale. Aus diesen ungarischen Bauern nun werden die meisten Husaren- Regimenter recrutirt. Abgehärtet gegen Strapazen, gegen Hunger, gegen Nachtwachen, von Jugend auf der Elemente rauhem Wechsel ausgesetzt, geben sie natürlich ganz treffliche Soldaten ab; jedoch sind sie aus eben so leicht begreiflichen Gründen etwas schwer an Subordination und Disciplin zu gewöhnen und im Anfange ihrer Dienstzeit verursachen sie häusig unangenehme Vorfälle und lassen sich leicht grobe Vergehen zu Schulden kommen. Zugleich aber wird man nun einsehen, wie andere Nationen, bei denen die vorbereiten¬ den Zustände fehlen, wodurch der Ungar zum Husaren herangebildet ist, noch ehe er unter die Uniform kömmt, unmöglich eine mit dieser wetteifernde, leichte Cavalerie haben können. Eine andre falsche Ansicht von der ungarischen Reiterei, die man im Auslande sehr häufig und weitverbreitet findet, ist die, daß sie nur mit ungarischen Pferden beritten sei. Dem war wohl früher so; für den Husaren unserer Tage aber ist das heutige ungarische Pferd zu klein. Ueberdem haben die Stutereibcsitzer, welche früher die Lieferung für die Regimenter hatten, sich jetzt in Wien einen vortheilhafteren Markt für ihre Erzeugnisse eröffnet. Durch diesen Umstand, so wie durch die Einführung der englischen Pferderace ist die Waare dermaßen im Preise gestiegen, daß die Regierung sich genöthigt fand, sich anderswoher zu versehen. Es giebt jedoch ein Regiment, das gänzlich mit ungarischen Pferden beritten gemacht ist; es ist dieß das dritte Husaren-Regiment, das in Pesth und der Umgegend sein Standlager hat. Das zweite Husaren- und das vierte leichte Dragoner-Regiment machen sich aus Siebenbürgen beritten, einer Provinz, wo die Pferdezucht besonders stark be¬ trieben wird. Pagel in' seinem sonst so trefflichen Werk über Siebenbürgen und Ungarn macht über diesen Punkt der österreichischen Negierung einen ungerechten Vorwurf, wenn er sie anklagt, diese beiden Provin¬ zen ihrer Pferdezucht beraubt zu haben. Die einfache Darlegung der hierauf Bezug habenden Thatsachen macht dies deutlich. Einer der Mheren österreichischen Kaiser ließ eine gewisse Anzahl Beschäler aus Andalusien kommen, um eine Mischung der beiden Racen zu bewerkstelligen. In der That findet man auch die vorzüglichsten Eigenschaften, wodurch das spanische Pferd sich auszeichnet, majestä¬ tische Haltung und eine fast verständig zu nennende Gelehrsamkeit, in hohem Grade beim ungarischen und siebenbürgischen Pferdeschlag vor. Es sind die schönsten und gesuchtesten Thiere des Kaiserreichs, mit Ausnahme freilich der polnischen Pferde, und die drei Regimen¬ ter, die sich aus diesen beiden Provinzen beritten machen, gelten mit Recht für die am Besten berittenen der Armee. Eine andere Thatsache aber, die auch durchaus keinem Zweifel unterliegt, ist die in Folge der Mischung mit englischem Blute ein¬ getretene Verschlechterung der siebenbürgischen Race seit einigen Jahren. Diese nicht allzuvernünstige Mischung hat in diesem Lande, wie in Irland, ein Bastardgeschlecht hervorgebracht, das, beiden Racen angehörend, doch weder die eine, noch die andre ist. Diese Erscheinung hat übrigens noch eine zweite Ursache. Da nämlich die Schafwolle bedeutend im Preise gestiegen ist, so haben die großen Eigenthümer, welche natürlich stets die schönsten Producte erzielen können, sich der Schafzucht eifrig ergeben, so daß die ungeheuren Flächen, auf denen vor wenigen Jahren noch zahllose Pferde weide¬ ten, meist in Pächtereien verwandelt worden sind. Die Negierung thut für Ermunterung der Pferdezucht in Siebenbürgen möglichst viel: so kauft sie z. B. die Erzeugnisse dieser Zucht bedeutend theurer, als die andrer Länder. Sie nimmt dieselben ein Jahr, ehe sie das reglement-mäßige Alter erreicht haben, d. h. zu drei Jahren anstatt zu vieren und bezahlt ein Dragonerpferd in Sieben¬ bürgen mit 150 Gulden, ein Husaren- und Chevaulegers-Pferd mit 120 Gulden, während sie anderswo derartige Pferde mit 120 und 112 Gulden haben kann. Das zehnte Husaren-Regiment, dessen Standquartiere in Polen sind, macht sich mit polnischen Pferden beritten. Die Quartiere des eilften Husaren-Regiments sind an der siebenbürgischen Grenze und die Leute in diesem Regiments reiten fast alle ihre eigenen Pferde. Die übrigen neunzehn Regimenter leichter Cavalerie werden fast gän- lich mit wilden Pferden beritten gemacht, die aus der Moldau, aus Bessarabien, aus Noth-Nußland und aus der Ukraine kommen. Der Handel überhaupt ist in diesen verschiedenen Ländern be¬ kanntlich in den Handen der Griechen, Armenier und Juden: dem Pferdehandel haben sich speciell vorzüglich diese letzteren ergeben. Unglaublich sast ist die Ausdehnung, die sie diesem Geschäftszweige verschafft haben: sie allein übernehmen gewöhnlich sämmtliche Pferde, welche die österreichische Regierung für ihre Armee bedarf. Sie rei¬ sen, um ihre Einkäufe zu machen, bis in'S Innere von Rußland, ja, bis mitten in die Steppen, welche in der Nähe des schwarzen Meeres liegen. Ein wildes Pferd geht so oft durch die Hände von zehn Kaufleuten, welche ihm einer nach dem andern Muskeln und Nippen betasten, sein Alter untersuchen, ja ihm zuweilen sogar ihr Wahrzeichen eindrücken. In Folge dessen ist, wenn das Pferd nach Nadautz in der Bukowina kommt, wo sich das Hauptdep,'»t für Re- monten befindet, seine natürliche Wildheit durch die schlechte Behand¬ lung, die eS erlitten, oft dermaßen gewachsen, daß es eine gefährliche Sache wird, dasselbe zu berühren oder sich ihm auch nur zu nahen. Diese jüdischen Roßtäuscher sind wegen ihrer Listen und betrü¬ gerischen Streiche allgemein berüchtigt: ein Scherzhaftes Beispiel unter taufenden möge unseren Lesern genügen; zuvor wollen wir jedoch noch bemerken, daß ohne großen Unterschied der Religion auch christliche, besonders griechische Roßtäuscher ein sehr elastisches Ge¬ wissen besitzen. Ein Offizier besaß zwei sehr junge Wagenpferde; sein Kutscher, der oft betrunken war, schlug sie zu stark, so daß sie ganz widerspenstig und unlenkbar wurden. Trotz dem wollte der Offizier mit denselben bis in ein ziemlich weit entferntes Stäbchen gefahren sein. Der Weg war schwierig; die Pferde drohten jeden Augenblick umzuwerfen oder durchzugehen. Ermüdet von diesem Kam¬ pfe war der Offizier kaum am Ziele seiner Reise angelangt, als er auch sein unlenksames Gespann um einen Spottpreis an einen jüdi¬ schen Pferdehändler verkaufte, zugleich aber bat er den Käufer, ihm für den andern Morgen, wo er seine Rückreise antreten wollte, ein Paar Pferde zu verschaffen, deren Werth und Preis man vorher festsetzte. Anderen Tages zur festgesetzten Stunde brachte ein kleiner jüdischer Stallknecht dem Offizier dieselben Pferde wieder, die er dem Juden gestern »erkauft hatte. Natürlich war dieser eben so erstaunt, als erzürnt über eine solche Unverschämtheit. Es entspann sich ein heftiger Streit: aber, was war zu thun? Man hatte von dem Juden schöne und junge Pferde verlangt, sie waren beides; der festgesetzte Preis, sie waren ihn werth; gelehrig und gut abge¬ richtet, das waren sie auch. Der Offizier mußte sich also darein ergeben; man spannte die Pferde an den Wagen und unter Leitung des kleinen jüdischen Stallknechts kehrte der Offizier nach seinem Aufenthaltsorte zurück, ohne daß die Pferde während der Reife auch nur den geringsten Versuch zur Widersetzlichkeit gemacht hätten. Nun erstaunte der Offizier noch mehr; denn diese eben so durchgrei¬ fende als schnell bewirkte Veränderung in der Willenöstimmung sei¬ ner Pferde war ihm unerklärlich. Erst nach einer sorgfältigen, klein- lichen, genauen Untersuchung entdeckte er, daß man den Thiere» die Haut an beiden Enden des Gebisses leicht aufgeritzt hatte, so daß sie bei dem mindeste!? Druck der Zügel einen lebhaften Schmerz empfanden. Wir haben oben schon gesagt, daß das Hauptdepüt für die Remontepferde zu Radautz in der Bukowina sich befindet. An die¬ sem Etablissement sind ein höherer Offizier, ein Generalcommissair, Thierärzte, Beamten der Nemonteverwaltung, CöitV.ö u. s. w. an¬ gestellt. Wir wollen unsern Lesern die Ankunft eines Zuges wilder Pferde, als den interessantesten Moment in diesem Depüt, einiger¬ maßen zu schildern versuchen. Ehe sie ankommen, hat man geräu¬ mige Gehege errichtet, die mit hohen Gattern umgeben und noch durch ein zweites Geländer eingeschlossen sind, so daß die Gefange¬ nen, zu deren zeitweiligen Aufenthalt man sie bestimmt, trotz aller Bemühungen unmöglich daraus entkommen können. Diese Gehege nennt man Okols. Im Mittelpunkte befindet sich ein starker Pfahl von etwa sieben Fuß Höhe, an dessen Spitze ein beweglicher Ring angeschmiedet ist, der sich um einen Zapfen dreht. Diese Okols (denn es giebt ihrer mehrere) stehen durch Ausgänge, die man nach Belieben schließen und öffnen kann, mit einander in Verbindung. Hier hinein nun führt man den Zug Pferde zunächst nach seiner Ankunft, Die erste Operation, die man mit ihnen vornimmt, besteht darin, daß man diejenigen Pferde zu erkennen und auszuscheiden sucht, die man als tauglich sür den Dienst erkennt und welche die Negierung an sich kaufen will. Zu diesem Zwecke muß man jedes Thier einzeln vornehmen und besonders untersuchen. Hiebei verfährt man nun folgendermaßen: Ein langes Seil, das man Arkar nennt, wird durch den obenerwähnten Ring am Pfahle durchgezogen. Drei oder vier Männer halten das eine Ende; aus dem andern wird eine Schlinge gemacht und ein Stück Holz daran befestigt, durch welches erzielt wird, daß die Schlinge sich nicht über ein gewisses Maß hinaus zuziehe. Einer der Csikäö nun ergreift sie und tritt in die Nähe der Pferde, welche, nachdem sie das Gehege in wilder Unord¬ nung durchraunt haben, sich gewöhnlich zuletzt in einer Ecke zusammen¬ stellen. Dem Pferde nun, das man prüfen will, wirft der Cöikäs die Schlinge über den Kopf; in demselben Augenblicke ziehen die Männer, welche das andere Ende des Seiles halten, es mit allen Kräften nach sich zu, so daß die Schlinge um den Hals des Thie¬ res sich verengt, ohne ihm jedoch den Athem zu versetzen. In diesem Augenblicke muß man es sehen, wie es sich bäumt, nach allen Sei¬ ten hin ausschlägt, Kopf und Schweif zwischen die Beine nimmt und wüthend rennt, um der Umschlingung, die sich seiner bemächtigt, zu entgehen; aber alle seine Bemühungen sind vergebens. Die CsikuS verdoppeln ihre Anstrengungen und ziehen es nach und nach an den Pfahl, an dem sie es dann mit Kopf und Brust anbinden. Wenn man sich nun so eines Pferdes bemeistert hat, wird es, so weit seine lange Mähne und sein borstig emporragendes Haar dies möglich machen, gemessen und besichtigt. Findet man es tauglich für den Militärdienst, so brennt man ihm das kaiserliche Zeichen ein und fängt dieselbe Operation von Neuem mit einem anderen Thiere an. Man begreift leicht, daß es zu dieser Untersuchung viel prakti¬ scher Urteilsfähigkeit bedarf; die hiermit beauftragten Offiziere be¬ sitzen aber so viel Erfahrung in diesem Fache, daß ein einfacher!Blick für sie hinreicht, um die oft von den Verkäufern sorgfältig versteckten Fehler der Thiere zu entdecken, die man ihnen vorführt. Und dabei sind die Thiere in einem Zustande, der die Schwierigkeit der Beur¬ theilung verdoppelt: denn sie zittern vor Wuth und Schrecken und stellen sich auf die Hinterfüße, ihr Haar steht borstig empor, ihre Mähne ist in Unordnung und sie selbst mit Staub und Schweiß bedeckt. Wenn diese Besichtigung nun vorüber ist, führt man in den Olot ein gut abgerichtetes Pferd ein, das mit einer starken Halfter versehen ist und von einem guten Reiter geritten wird. Die¬ ser nähert sich dem Pfahle so weit als möglich und schlingt vorsich¬ tig das äußerste Ende des Seiles um den Hals des Gefangenen. Darauf wird dann die Schlinge gelöst und das wilde Thier läßt sich mit mehr oder minder Widerstand bis in ein anderes Gehege fort¬ ziehen, wo es von seinen Gefährten getrennt wird. Es ereignet sich zuweilen, daß man diese Remontepfcrde sofort nach ihrer Ankunft einem Offizier übergiebt, der beauftragt ist, sie von Nadautz zu seinem Regimente zu bringen, dessen Standquartiere sich in Mailand oder in Prag oder in Brunn, kurz auf irgend einem entfernten militärischen Punkte des ausgedehnten österreichischen Kai¬ serreichs befinden. In diesem Falle wählen die CsitV»s des jüdischen Roßtäuschers zwei oder drei der stärksten Pferde unter der Truppe aus: diesen binden sie eine Glocke an den Hals und die andern folgen ihnen dann gelehrig. Ost auch schließt man in diesem Falle mit den Csik«»s der Juden den Handel dahin ab, daß sie den Convoi einige Tage lang begleiten, um bei Bezähmung des ersten Widerstandes behilflich zu sein. Denn es ist in der That durchaus nicht selten, daß die Pferde ihre Bande zerreißen und zu den Weideplätzen zurück¬ kehren, denen man sie entrissen hatte. Der Offizier, dem die Sorgfalt für einen solchen Zug Nemonte- Pferde zu Theil geworden, hat oft eine Aufgabe voll Schwierigkeiten und Kümmernisse zu lösen. Seine Verantwortlichkeit ist sehr groß; denn er ist dem Staate für jedes Pferd, das er unterwegs verliert, Rechenschaft schuldig und der Preis wird ihm an seiner Löhnung abgezogen. Man giebt dem Offizier für einen Zug von achtzig bis hundert und zwanzig Pferden gewöhnlich einen Kurschmied, einen Unterosfi-- zier und höchstens acht bis nenn Soldaten bei. Der Marsch, der von dem Nemontedepüt bis zur Kaserne zu machen ist, dauert oft Zwei, drei, sogar vier Monate. Um die Schwierigkeiten dieses Marsches zu begreifen, muß man sich eine Idee von den Ländern machen, durch welche der Weg führt. Im Norden Ungarns und namentlich an der polnischen Grenze ist die Gegend außerordentlich gebirgig, da diese ganze Linie von den Kar¬ pathen begrenzt wird. Erst seit einigen Jahren hat man angefan¬ gen, einige ziemlich gute Straßen in diesem Landstriche anzulegen; unglücklicherweise aber führen sie nicht weit. Im Allgemeinen ist dasjenige, was man dort Landstraße nennt, nur eine Art Fußsteig, der die Felder durchschneider und der durchaus von keiner Seite ir¬ gendwie durch Graben oder sonst wie immer, abgeschlossen ist. Um nun auf diesem von allen Seiten offenen Wege Pferde zu lenken und zusammenzuhalten, müssen die Führer derselben mit langen Peitschen bewaffnet sein. Einer von ihnen stellt sich an die Spitze des Zuges, andere sind auf den Seiten von Entfernung zu Entfernung postirt und die übrigen marschiren hinterdrein, um die Nachzügler vorwärts zutreiben. Die Städte und Dörfer liegen in diesen Provinzen bedeutende Strecken auseinander. ES ist daher äußerst selten, daß man jede Nacht an den Haltpunkten ein Obdach für die Pferde findet. Man schließt sie meist in den Hof irgend einer Herberge ein: ehe man sie aber zum Eintritt in diesen Hof bewegt, sind, besonders wenn die Herberge im Innern des Dorfes liegt, nicht unbedeutende Schwie¬ rigkeiten zu überwinden. Man kommt damit oft nicht zu Stande und ist genöthigt, außerhalb des Dorfes irgend ein Gehege zu suchen oder zu einem andern Hülfsmittel seine Zuflucht zu nehmen. Da man fast überall eine große Anzahl Karren und vierrädrige Wagen besitzt, so bildet man daraus ein Niereck, dessen eine Seite man offen läßt, bis die Pferde hineingegangen sind, worauf man es dann von außen abschließt. Innerhalb bilden dann andere Karren Abtheilun¬ gen, Trennungsmauern) man wirft ihnen darauf Stroh oder Heu hinein und die Wagenleitern dienen ihnen anstatt der Raufen. Kann man sich nicht Wagen genug verschaffen, so muß man Mauer¬ leitern und Stangen anwenden, um die Lücken in den von den Karren gebildeten Linien auszufüllen. Zwei oder drei Soldaten, die nur einen Marschtag voraus sind, haben das Amt, für diese Vorberei¬ tungen des jedesmaligen Nachtlagers zu sorgen, damit die Pferde bei der Ankunft sofort ihren Stall oder deren Stellvertreter vorfinden. In der ersten Zeit, so lange diese Thiere nicht gezähmt sind, weigern sie sich gewöhnlich Hafer zu essen, man giebt alsdann einem jeden anderthalb Rationen Heu. Sehr ernsthafte Schwierigkeiten bereitet der Uebergang über Ströme. In jenen fernen Gegenden, wo die Civilisation noch in den Kinderjahren ist, findet man nur sehr wenig Brücken. Wo man Fähren besitzt, würden diese freilich ein sehr gutes Mittel abgeben, über das Wasser zu setzen. Die Thiere sind aber zu wild, um sich einschiffen zu lassen. Sie müssen also schwimmend hinüberkommen und zu diesem Zwecke verfährt man folgendermaßen. Ein Soldat macht den Anfang damit, daß er vermittelst einer Fähre eins von den Thieren, welches die Glocke trägt, auf das andere Ufer übersetzt. Man zwingt sodann die übrigen Pferde, in'S Wasser hineinzugehen und wenn sie erst einmal darin sind, so folgen sie dem Lcitroß schwim¬ mend, indem ihr Instinkt sie treibt, eine Art ungleichseitigen Dreiecks zu bilden, dessen spitzester Winkel gegen den Strom gerichtet ist. Bekanntlich setzen die Pferde im Zustande völliger Wildheit stets schwimmend über Ströme, wie dies ja eins der malerischsten Schau¬ spiele ist, das jene wüsteiiartigen Prairien und Savannen Nordame¬ rikas darbieten. Außer diesen unvermeidlichen Hindernissen giebt es noch eine Menge von Zufällen, auf die man gefaßt sein muß. Unter diesen ist der häufig eintretende Fall eines Sturmwetters in Begleitung von Donner und Blitz der vor allen am meisten zu fürchtende. Denn selbst wenn die Pferde im vollkommnen Naturzustände leben, so wie umgekehrt auch, wenn sie Hausthiere geworden sind, verursacht ihnen das Geräusch des Donners einen außerordentlichen Schrecken, da bei diesen Thieren der Sinn des Gehörs überaus empfindlich ist Man stelle sich den Convoi vor, wie er am Ende eines Tages voll Strapatzen Halt macht und sich anschickt, die Nacht mitten in irgend einer unbewohnten Ebene zuzubringen; man hat die gehöri¬ gen Anstalten getroffen, daß die Pferde nicht entfliehen können; der Offizier und seine Leute beschäftigen sich rund um das Bivouac her¬ um mit Reinigung ihrer Kleider, Zubereitung des Nachtmahls u.s.w. Plötzlich breiten sich große Wolken wie ein dichter Trauerschleier über die Himmelsdecke hin. Das Tageslicht erblaßt, die atmosphä¬ rische Luft wird drückender und schwerer, und die ganze Natur scheint wie unter der Last eines feierlichen Erwartens darmederzuliegm. Bald hallt das dumpfe Grollen eines noch fernen Donners in den tiefen Wäldern wieder, von denen der Gesichtskreis der Lagernden rings umgeben ist. Die Soldaten, welche die Begleitung des Zuges bil¬ den, springen bei diesem Zeichen auf, um ihre Reitpferde zu satteln und zu zäumen; sie laden auf alle Fälle ihre Pistolen und befestigen das Gehege noch mehr, in welchem die Pferde des Convoi einge¬ schlossen sind. Diese letztern haben schon aufgehört, sich mit ihrem Futter zu beschäftigen. Mit unruhig forschenden Auge sehen sie nach allen Punkten des Horizonts herum, als wollten sie sich Ge¬ wißheit darüber verschaffen, von welcher Seite die Gefahr kommen müsse; sie strecken die Hälse, sie schütteln ihre Köpfe; ein geheimer innerer Schrecken hat sich ihrer bemächtigt. Indeß kommen die Wolkenmassen immer näher, werden immer dichter und lassen am Ende kaum noch einzelne Strahlen des Tageslichts durchschimmern. Das elektrische Fluidum entladet sich, der Blitz zischt und des Don¬ ners Krachen erschüttert das Himmelsgewölbe. Mitten unter diesem Tumult der entfesselten Elemente nun rennen die wilden Pferde im Galopp im Gehege umher; jener neue Blitz, der die Wolken durch¬ furcht, jeder neue Donnerschlag, der erschallt, treibt sie von Neuem von ih^er Stelle und eins dicht an's andere gedrängt, laufen sie fortwährend im Umkreis ihres verschlossenen Geheges herum, indem sie den schwächsten, am leichtesten zu durchbrechenden oder zu über¬ springenden Punkt desselben suchen. Endlich haben sie einen solchen gefunden; dann stürzen sie sich in dicht gedrängter Masse wie zum Angriffe auf diesen einen Punkt hin und mit unwiderstehlicher Kraft zerbrechen und zertrümmern sie den Zaun, der sie einschließt, und rennen in die Ebene. Beim düsterrothen Schein der Blitze sieht man sie nach allen Richtungen hin ihre Flucht einschlagen und gleich nebelhaften Schatten eilen sie an den Menschen vorbei. Nun kommt für den Offizier die unendlich schwierige, dornen¬ volle Aufgabe, diese zerstreute Truppe wieder zu sammeln. Wie soll er bei der geringen Anzahl Leute, die ihm zu Gebote stehen, damit zu Stande kommen? Hier muß er alle seine Geschicklichkeit anwen¬ den. Wenn nun die Pferde sich in zwei Gruppen zertheilt haben, so richtet er seine Anstrengungen zunächst dahin, sie durch Geschrei und durch wiederholte Schüsse zu erschrecken und zu einer einzigen Truppe zu vereinigen. Fahren sie in ihrer Flucht fort, so folgt er ihnen mit seinen Leuten und sucht mehr ihren Lauf zu lenken, als ihn anzuhalten, bis sie, wenn das Unwetter endlich aufgehört hat, erschöpft und ermüdet sich wieder ruhig in's Gehege zurückführen lassen. Jedoch gelingt dieses Mittel nicht immer. Zuweilen zerstreut sich das Convoi nach allen Ecken und Enden des Horizonts hin und es ist eine Sache der Unmöglichkeit, sie wieder zusammenzubringen. Es bleibt dann nichts weiter übrig, als das Land zu durchstreifen, um sie aufzufinden und den benachbarten Civil- und Militärbehör¬ den die genaue Beschreibung der einzelnen Pferde zu senden, damit durch den Beistand derselben es den Bauern unmöglich gemacht werde, sich des kaiserlichen Eigenthums zu bemächtigen. Dem Ver¬ fasser dieses Artikels ist wahrend seiner Dienstzeit ein seltsamer Fall zugestoßen, den wegen seiner komischen Seite er seinen Lesern nicht vorenthalten will. Er hatte ein ziemlich beträchtliches Convoi von Pferden zu begleiten und begegnete auf der Landstraße einer Heerde fetter Schweine. Ein junger Dachshund, der einem Soldaten des Zuges angehörte, lief bellend diesen Thieren nach. Diese wurden dadurch wüthend gemacht, wandten sich gegen den Hund um und verfolgten ihn bis mitten in den Zug, wo er einen Zufluchtsort ge¬ sucht. Dadurch geriethen nun die Pferde in Unordnung, und es entstand eine Scene der seltsamsten Verwirrung. Die beiden Heer- den waren plötzlich unter einander gemischt; ein halb Dutzend Pferde galoppirte mitten durch die Säue hindurch und trat diese mit Füßen. Die Hirten schössen mit ihren Carabinern, die Husaren mit ihren Pistolen. Das Schreien und Fluchen der Menschen, das Knattern deö Kleingewehrfeuers, das Grunzen der Schweine, das Wiehern der Pferde — dies Alls zusammen bildete einen Lärm, von dem man sich kaum einen Begriff machen kann. Bei Pferden der Art, von denen hier die Rede ist, braucht man den Huf und die anderen Körpertheile, welche von den Stra- patzen des°Marsches etwa Schaden leiden könnten, keiner übersorg- fältigen und kleinlichen Untersuchung zu unterwerfen. Jedoch sino sie eben so sehr als zahme Pferde der Gefahr des Lahmwerdens ausgesetzt. Außerdem sind sie, was bei jungen Pferden ganz natür¬ lich ist/sehr häufig von Drüscnkrankheiten heimgesucht. In diesem 19 Falle muß man sorgfältig prüfen, ob die Materie, die aus ihren Nasenlöchern herausfließt, von Drüsen oder sonst einer andern an¬ steckenden Krankheit herrührt; denn die Thiere leiden oft schon, wenn man sie kauft, inwendig an diesen Gebrechen, die äußerlich durchaus nicht hervortreten, daher auch von Niemandem bemerkt werden kön¬ nen, die aber, wenn sie sich dann erklären, darum sehr gefährlich sind, weil sie sich leicht den sämmtlichen Pferden des Zuges mittheilen, ja sogar zuweilen über die Landstrecken, durch die das Convoi seine» Weg nimmt, ihre gefährliche Ansteckung verbreiten. Ein trauriges Beispiel dieser Art von Thatsachen hat sich erst vor wenigen Jahren ereignet. Der Offizier, der mit der Leitung des Convois beauftragt gewesen, erschoß sich aus Verzweiflung, um den schweren Folgen, die seine Nachlässigkeit ihm zuziehen konnte, zu ent¬ gehen; ich habe Nachlässigkeit gesagt, und dies ist das rechte Wort. Denn es ist leicht, die Pferde während der Reise zu überwachen, sie einzeln zu prüfen, ihre Bewegungen, ihren Gang zu beobachten, zu sehen, ob sie lahm gehen, ob sie traurig scheinen, ob sie nicht fressen »vollen, kurz die verschiedenen Symptome des Uebels zu constatiren. Die Gegenwart eines Kur- und Hufschmiedes, der sich unter den Mitgliedern der Begleitung befindet, ist für solche Fälle eine sehr schätzenswerthe Hülfe. Jedes Pferd, das zu leiden scheint, muß an¬ gebunden werden; wenn es lahm geht, weil sein Huf zu Schade!» gekommen ist während des Marsches, so muß man es beschlagen. Fließt ihm irgend eine verdächtige Materie aus den Nasenlöcher», so verordnet die Klugheit, es sofort von den übrigen Pferden zu trennen und es in Quarantaine zu halten. Man hält es nicht immer für nothwendig, sich eines Arkar (Seil mit einer Schlinge) zu bedienen, wenn man Pferde > denen man nicht traut, ergreifen und anbinden will, sondern die Husaren und selbst die Offiziere der Bedeckung ergreifen sie zuweilen mit den Händen. Diesen Gebrauch muß man aber durchaus fernhalten; denn einerseits seht man dabei unnützerweise ein Menschenleben auf'S Spiel und anderseits werden die Pferde obendrein dadurch noch wilder und mißtrauischer. Folgende Vorsichtsmaßregeln, vorzüglich für den Offizier, welcher die Leitung eines Convoi bekommen hat, sind nicht genug zu em- pfchlen. Er muß häufig Halt machen und muß den Pferden wah¬ rend des Marsches erlauben, das Gras, das an den Seiten der Landstraße wächst, abzuweiden; nie darf er sie dagegen abmüden und muß sie stets sanft behandeln, damit sie nach und nach die Schlage vergessen, die sie von ihren ersten Herrn, den Pferdehändlern, erhal¬ ten haben. Wenn die Reise nur einigermaßen lange dauert, so werden dadurch mehrere anfangen, sich an den Anblick deö Menschen zu gewöhnen, der ihrer wartet, und ihn als einen Freund und Wohl¬ thäter zu betrachten. Einige werden es sogar geduldig ertragen, wenn man ihnen eine Halfter auflegte. Diejenigen, die krank gewesen sind und eine sorgfältige Pflege und gute Behandlung gefunden haben, werden die gelehrigsten und zeigen die meiste Zuneigung, gleichsam, als wollten sie ihre Erkenntlichkeit für die Sorgfalt an den Tag legen, die man ihnen hat zu Theil werden lassen. Denn in der That ist das Roß ein edles, hochsinniges Thier und die Fehler, die es annimmt, sind in den meisten Fällen der Erfolg einer schlechten Erziehung. Der Offizier, dem der Auftrag zu Theil geworden, ein Convoi wilder Pferde herbeizuholen und der das Glück hat, sie in gutem Zustande seinem Regimente zuzuführen, kann darauf, als auf einen Erfolg, stolz sein. Bei seiner Ankunft wird ein Tagesbefehl bekannt gemacht und die lobenswerthe Art darin erwähnt, auf die er seiner Sendung sich entledigt hat. Dieß ist zwar die einzige Belohnung unzähliger Mühen; für einen Mann von Ehrgefühl aber ist sie eben so schmeichelhaft, als ehrenvoll. Wir wollen nun zum Schlüsse noch einen kurzen Ueberblick und eine relative Schätzung der verschiedenen Pferderacen geben, von denen bisher in diesem Artikel die Rede gewesen. Die schönsten Thiere kommen unstreitig aus den kaiserlichen Stutereien; sie sind alle mehr oder minder von arabischer Abstam¬ mung und voll Feuer. Da sie aber oft von Beschälern erzeugt werden, die schon sehr alt sind, so sind mehrere unter ihnen leicht dem Unglück ausgesetzt, auf einem oder gar auf beiden Augen blind zu werden. Die übrigen sind im Allgemeinen prachtvolle Thiere und von einer außerordentlichen Stärke: man hat deren gesehen, die zwanzig Jahre lang den Strapazen des Dienstes widerstanden ^-i- haben. Jedoch liefern im Ganzen genommen die kaiserlichen Stute- reien eine zu geringe Anzahl Pferde. Das siebenbürgische Pferd gehört, wie wir schon oben erwähnt haben, spanischem Ursprünge an. Es hat vortreffliche Beine und Füße, aber seine Fesseln sind um ein Unbedeutendes zu lang. Schul¬ tern und Hals sind von anmuthiger Form; im Schritte gleicht seine Schnauze der eines Widders; den Kopf hat es gut gestellt und überdem läßt es sich sehr leicht das Gebiß anlegen. Die Vereini¬ gung aller dieser Eigenschaften macht, daß diese Gattung Pferde sehr gesucht wird; denn die Art, wie sie den Kopf tragen, ist gerade diejenige, welche in einer Schlachtreihe die schönste Wir¬ kung hervorbringt und wodurch ein Geschwader Reiterei das kriege¬ rischste Aussehen erhält. Die Fehler des stebenbürgischen Pferdes bestehen darin, daß es ein wenig gestutzt ist, seine Gelenke sind oft etwas schlaff und der Hintertheil seines Körpers nicht stark genug im Vergleich mit seinem Vordertheil. Daher ist eS auch sehr häusig, daß e6 im Laufe der Zeit lendenlahm wird. Jedoch ist sein Kreuz sehr schön geformt und sein Schwanz vollkommen ebenmäßig am Körper befindlich, wodurch es dann von hinten ein eben so pracht¬ volles, stattliches Ansehen bietet, als von vorn. Durch diesen Gang treten seine Vortheile und seine schöne äußere Erscheinung noch mehr hervor: jedoch stampft es zu viel mit den Füßen und gewinnt nicht so viel Terrain, als andre Pferde. Im Ganzen genommen aber ist es ein sehr geschätztes Pferd und, wenn es nur die gehörige Pflege erhält, so conservirt es sich auch zu vollkonimner Zufrieden¬ heit. Sein Wachsthum geht nur langsam vor sich; eS erreicht seine vollständige Körperentwickelung erst mit seinem siebenten Jahre, und bis dahin muß es sehr schonend und rücksichtsvoll behandelt werden. Verfasser dieses hat noch anfangs vorigen Jahres sieben- bürgische Pferde, welche den letzten französischen Feldzug im Jahre 1815 mitgemacht hatten, gesehen; eines davon war noch jetzt das ge¬ wandteste in der ganzen Schwadron und hatte den sichersten Tritt. Ein noch besserer Beweis für die Tüchtigkeit und Ausdauer der stebenbürgischen Race ist folgende officielle Thatsache. Im ver¬ flossenen Jahre wurde in einem einzigen stebenbürgischen Regiment an Soldaten, welche ihr Pferd zehn Jahre lang behalten tethan, die Summe von 45 Ducaten ausgetheilt, also an 15 Mann, da jeder, wie oben erzählt worden, drei Ducaten erhält. Von Offizieren, welche durch achtjährigen anhaltenden Gebrauch desselben Pferdes Eigenthümer desselben werden, gab es jährlich wenigstens zwei. Es sind dieß, nach amtlichen, statistischen Angaben, die höchsten Zahlen, die bisher in irgend einem Regimente erhalten worden sind. Einige von diesen Offizierpferden werden übrigens zu weit höheren Preisen verkauft, als sie die Regierung eingekauft hatte i die Offiziere erhalten 5—600 Gulden dafür. Das polnische Pferd trägt über alle andern die Siegeskrone davon. Es ist das wahre Ideal des Schönen in der Gattung. Seine Form ist die des englischen Pferdes, aber sein Hintergestell steht in besserem Verhältniß zu seinem Vordergestell. Auch kann man eS leicht nach allen Seiten hin wenden, eine Eigenschaft, die den englischen Pferden gänzlich abgeht, da diese in Folge des stand¬ festen, etwas plumpen Baues ihres Hintergestelleö besser zum Laufe in gerader Richtung geeignet sind. Eine Eigenheit in der Form des polnischen Pferdes ist, daß es Platte Rippen hat. Man kann es früher zur Arbeit benutzen, als das siebcnbürgischei aber es dauert nicht so lange Zeit aus und es ist verschiedenen Krankheiten unterworfen, welche Knochen und Muskeln am untern Theile des Beines angreifen. Wir kommen nun dazu, von den russischen, bessarabischen, mol¬ dauischen, überhaupt von denjenigen Pferden zu sprechen, die wir bisher die wilden genannt haben, oder von den Mokaner-Pferden, die allgemeine Benennung, unter welcher die Husaren - all diese Pferde ohne Unterschied ihrer Herkunft zusammenfassen. Die Pferde dieser Gattung haben ein gutes Aussehen. Ihr unterscheidendsteö Merkmal ist ein bedeutender Fond Von Stärke und Kraft. Ihre in's Auge springendsten Fehler dagegen sind: die ge¬ schmacklose Gestalt ihres Kopfes, die ungeschlachte Breite ihrer Kinn¬ lade und die übermäßige Länge des ganzen Knochengerüstes ihres Leibes. Von ihrem fünften Jahre an bekommen sie ein fast gänzlich verändertes Aussehen und zwei Jahre reichen für sie hin, um diese Umwandlung ganz durchzumachen. Ihr Körper wird schmächtiger, die Hüften treten höher hervor, der Hals wird gedehn¬ ter und schmäler. Er gleicht alsdann dem Halse des Hirsches, während der Kopf die Form eines Schweinskopfes angenommen hat. So sind diese Pferde tüchtig zum Dienste, ohne freilich gerade schön zu sein, und wenn sie in gerader Reihe neben einer Schaar polnischer oder siebenbürgtscher Pferde stehen, so bieten sie freilich, besonders in Folge eines Umstandes, einen sonderbaren Gegensatz dar. Es ist nämlich in Folge ihrer Kopfgestaltung schwer, ihnen Zaum und Zügel gehörig anzupassen; während daher jene stolz ihre Köpfe in die Höhe tragen, senken diese die ihrigen nach dem Boden, wodurch alle Re¬ gelmäßigkeit der Linie zerstört wird. Viele unter diesen Pferden übrigens können, weil sie durch die in ihrer Jugend erlittenen Mi߬ handlungen allzusehr verwildert worden sind, niemals vollständig dressirt werden: auch sind sie sehr dem Nachtheil ausgesetzt, herz- schlächtig oder blind zu werden, trotz dem die Cavalerie in Oester¬ reich sehr bedeutende Futterrationen erhält, nämlich etwa zehn Pfund Heu für die Pferde der schweren und acht Pfund für die der leich¬ ten Cavalerie-Regimenter und sodann, was jedoch nach dem Alter wechselt, bis zu dreizehn Pfund Hafer. Alls den bisher auseinandergesetzten Thatsachen erkennt man ziemlich klar, daß mi I»»ut ver zu ernähren, da sie alle Arten Viehfutter fressen. Vor noch wenigen Jahren war fast die ganze deutsche Cavalerie mit solchen Pferden beritten; erst seit einigen Jahren hat die Ver¬ besserung der Pferdezucht, namentlich in Würtemberg und Preußen, die Anwendung der einheimischen Race als vortheilhafter erscheinen lassen. T a g e b u ach. i. Aus Mailand. Deutsche Reisende. — Stieglitz »ut Kühne. — Rossini. — Beethoven und Kanne. — Die Scene in Mauern. — Die Juden. Seit der Krönung Kaiser Ferdinand's I. erinnere ich mich nicht, so viele Deutsche hier gesehen zu haben, wie in den letzten Monaten; die Zahl dersel¬ ben vermehrt sich mit jedem Jahre nach dem Verhältnisse, in welchem der hiesige Handel immer mehr und mehr seine Richtung gegen Deutschland nimmt. Auf materiellem Gebiet hat Oesterreich hier eine große Eroberung gemacht und ich glaube nicht, daß der Zollverein die kleinern Staaten Deutschlands so eng mit Preußen verbunden hat, wie die Handelsverhältnisse der Lombardei sie an Oesterreich knüpfen. Es ist zu bedauern, daß diese Verhältnisse noch nicht eine geschickte deutsche Feder fanden, welche sie Deutschland klar und übersichtlich bekannt machte: das ist die Schattenseite der deutschen reisenden Schriftsteller, daß sie überall nur Jagd auf gelehrte oder poetische Ausbeute machen: praktische Belehrung muß man immer nur in den Reisebüchern der Engländer und Franzosen suchen. Es heißt, daß Stieglitz ein größeres Werk über die Lombardei und Venedig herausgeben werde. Nun — Sie kennen Stieglitz: die Praxis wird aus diesem Buche sich nicht satt essen. Von Küh¬ ne's Sospiri habe ich einige Bruchstücke in verstümmelter Uebersetzung in zwei italienischen Journalen gesunden: das'Buch selbst bekam ich nicht zu Gesicht. Eine 'ganze Colonie junger deutscher Sängerinnen bereiten sich jetzt hier vor, um später die italienische Sangesmethode aus deutschen Bühnen triumphiren zu machen: den größten Triumph hat diese wohl dadurch gefeiert, daß unsere alte Pasta in Berlin noch so viel Aussehen machen konnte. Es hat dieses dem deutschen Geschmacke hier keinen großen Credit erworben; ein hiesiges Journal meinte spöttisch: eine dürre italienische Feige sei für deutsche Zungen noch eine Delikatesse. Rossini kommt häusig Hieher. Er beharrt über seinem Ent¬ schlüsse, auf seinen Lorbeeren auszuruhen und nichts mehr zu componiren und lacht über seine Verleger, wenn sie in großsprecherischer Ankündigungen das Swbat seinem Wilhelm Teil an die Seite stellen. Er benutzt jedoch sein otium cum clignititts und auf eine sür sein Vaterland und die Musik gleich nützliche Weise, indem er sich die Aufgabe gestellt hat, die italienischen Conservatorien umzugestalten. Er hat zunächst die Leitung des musikalischen Lyceums in Bologna übernommen, und man ist zu der Hoffnung berechtigt, daß dieses Institut unter einem solchen Director seine alte Berühmtheit bald wieder er¬ langen wird- Er hat den alten Gebrauch der Prüfungsconcerte und der jähr¬ lichen Ermuntcrnngspreise daselbst wieder eingeführt. Im letztverflossenen Juni hat Cardinal Oppizom, Erzbischof von Bologna, eigenhändig die Preise ver¬ theilt; Rossini war bei der Feierlichkeit zugegen und die einstimmigen Beifalls- bezeugungen sämmtlicher Zuschauer waren ein Beweis der allgemein dankbaren Gesinnung, ti^ Rossini als den einzigen und schönsten Lohn seiner Bemühun¬ gen zur Förderung des Lyceums annimmt. Im Concerte, das man bei dieser Gelegenheit unter Leitung und Anordnung des Meisters gab, wurde unter an¬ deren Stücken auch Beethoven's Ouvertüre zu Egmont ausgeführt. Diese Huldigung, die Rossini dem deutschen Musikgenius darbrachte, ist um so er¬ freulicher und von Seiten Rossini's um so verdienstlicher, als seine Leistungen keinesweges von Beethoven mit derselben Unparteilichkeit beurtheilt wurden, dieser ihn vielmehr einen Spitzbuben nannte. Ich erinnere mich in dieser Be¬ ziehung einer pikanten Anekdote. Man spielte in Wien den Barbier von Se- villa und Beethoven, welcher der Vorstellung beiwohnte, gab den ganzen Abend hindurch deutliche Zeichen von dem Vergnügen, das er empfand. Besonders schien ihn die Scene des Gesanguntcrrichts, wo die Musik auf eine so geist¬ reiche Weise das stumme Spiel Figaro's und Bartolo'ö ausdrückt, während das Liebespaar seine gegenseitigen Geständnisse austauscht, sehr zu interessiren. Nach der Vorstellung machte ihm der alte Kanne, der bekannte Wiener Kritiker, der in seiner Nähe gesessen hatte, ein Compliment darüber, daß er nun endlich von seinem ungerechten Borurthcil gegen die italienische Musik zurück¬ komme und besonders, daß er den glänzenden Geist, der sich in der Partitur des Barbiers ausspricht, Gerechtigkeit widerfahren lasse. Beethoven aber erwiederte mit seinem mürrischsten Ausdruck: Die Musik! Als ob ich im Thea¬ ter viel davon zu hören im Stande wäre! In der That sing er damals schon an, taub zu werden und was ihm während der Vorstellung so viel Vergnügen gemacht hatte, war das Mienenspiel der Schauspieler gewesen. ^- Die hiesige Judenschaft hat nach den bedauernswerthen Vorfällen in Mantua einen Augenblick in Furcht geschwebt, daß unser Pöbel gleichfalls Excesse suchen würde. Der Umstand, daß die österreichischen Truppen zu Gun¬ sten und zum Schutze der Mantuaner Juden unter's Gewehr traten, that letz¬ teren in der öffentlichen Meinung der Italiener Schaden, da man die Juden dadurch in den Verdacht brachte, mit den verhaßten „l'oileseln" im Einver- ständnifi zu sein. Jedenfalls sieht dadurch die lombardische Judenschaft die Verwirklichung einer langgenährten Hoffnung wieder auf eine Zeit lang hin¬ ausgeschoben. Als die Lombardei nach dem Sturz des Napoleonischen Reiches unter das Scepter Oesterreichs kam, wurde den Juden zwar die politische Gleichstellung entzogen, die bürgerliche aber ihnen gelassen. Die Juden des österreichischen Italiens hatten nicht nur den Bortheil vor ihren Glaubensgenossen im übrigen Oesterreich voraus, daß ihrer bürgerlichen Existenz nirgends Hem¬ mungen oder Steuererhebungen in den Weg gewälzt sind, sondern der Kaiser Franz gab ihnen im Jahre 1SI9 die Zusicherung, daß bei der ersten Gelegen¬ heit, wenn die Verhältnisse es erlauben würden, die österreichischen Judengesetze zu ändern, diese auch in Bezug auf das lombardisch-venetianische Königreich eine freiere Richtung und die Juden auch ihre politische Emancipation, den Eintritt in den Staatsdienst ze., wie zur Zeit der französischen Herrschaft, wieder erhalten sollten. Diesen Zeitpunct glaubte die hiesige israelitische Ge¬ meinde vor der Thüre. Die lombardischen Juden haben sich in der That sowohl auf dem Gebiete eines großartigen Handels, als auf dem Gebiete der Wissenschaft, rüstig und ehrenvoll ihrer Emancipation würdig gemacht. Ob das heiße Blut eines jungen Mannes, der eine tiefe Beleidigung—man hatte ihm in'S Gesicht gespieen — mit einem tüchtigen Faustschläge beantwortete, Veranlassung geben wird, einen gerechten Anspruch und eine edle Hoffnung vor der Hand zu unterdrücken — darüber ist die Entscheidung ungewiß. Tra¬ gisches Schicksal eines Volkes, wo Alle für Einen einstehen müssen, wo ein unvorsichtiges Wort, ein Wirthshausstreit, ein Zeitungsartikel hinreicht, allen Balsam der Civilisation zu vernichten und die alten, klaffenden Wunden wie¬ der aufzureißen. G. T. 2 Preußische Vor- und Rückschritte. (Brieflich aus Leipzig.) Von einer Seite möchte man, wenn sich Preußen einmal im Schlaf be¬ wegt, gleich alle Festglockc» läuten: von der andern dauert die boshaft zischende Opposition und ein fast unversöhnliches, hypochondrisches Mi߬ trauen gegen Preußen fort. Die Einen haben sich in die preußische Zu¬ kunft so vergafft, daß sie Deutschland gar nicht mehr zu sehen scheinen- die Anderen erblicken in Allem, was Preußen beginnt, nichts als Reaction. Beide Theile haben nicht Unrecht, doch hoffen wir, daß nur der Fortschritt Thatsache werden und die Reaction luftiges Project und Gespenst bleiben wird. Preu¬ ßen, ein jugendlicher Glücksfant, hat sich stets mehr durch seine Redensarten als durch seine Thaten geschadet. Offenbar hat die jetzige Regierung liberale Anfänge gemacht und ist, gegen die vorige gehalten, ein glückliches Ereignis); dieses Verdienst würde bereitwilliger anerkannt und richtiger gewürdigt, wenn man nicht so viel Geschrei davon machte. Die Censur ist, in Köln und Königsberg, wesentlich gemildert worden und die Presse ist dort ungefähr so weit, als die badische, würtenbergische, sächsische vor bereits zehn bis zwölf Jahren war; durch den Gegensatz der übrigen Institutionen des streng monarchischen Staa¬ tes erhält dieser Umstand eine günstige Folie, wenn auch keine feste Bürgschaft; wenn aber die preußischen Zurunftspostillone dergleichen löbliche Anfänge mit bombastischer Posauncnstößcn als etwas Unerhörtes' und Einziges verkünden, wenn sie mit kindischer Prahlerei das Geschenk ihres geistreich lächelnden Vaters über das sauer erworbene, verfassungsmäßige Eigenthum der erwachse¬ nen Bruderstämme stellen, dann hält man die Unterdrückung der inländischen Artikel in der Königsberger Zeitung, die Processe gegen Jacob» und Fallers- leben, das Verbot eines ganzen Verlages und die preußischen Nasen fremder Censoren dagegen und möchte vor Unmuth und Täuschung rufen: Windbeu¬ telei über Windbeutelei! Es ist Alles Wind! Macht sich nun Preußen auf diese Art durch seinen offiziellen Liberalis¬ mus unbeliebt, so schadet ihm eben so die reactionaire Partei, deren Projecte merkwürdiger Weise immer von oben herab dem Lande angedroht werden, als ob diese lichtscheue Eulengescllschaft wirklich im Staatsrath Sitz und Stimme hätte. Wir glauben nicht, daß sie mehr ist als die Ruthe hinter dem Spiegel. Allein selbst Kindern soll man nicht jeden Augenblick die Ruthe zeigen, wenn man sie nicht anzuwenden denkt. Eine Drohung, die man nicht ausführen wird, ist bekanntlich sehr unpolitisch. Solche unvorsichtige Demonstrationen, die nur das Mißtrauen in die Absichten der Regierungen anfachen, sind das projectirte Eheschcidungsgcsetz, die Judencorporationen und selbst der Proceß gegen Jacob». Man wird diesen eben so wenig auf die Festung schicken, als man neue Judengassen mit Thoren und Fallgattern bauen oder unglückliche Ehen dadurch zu glücklichen machen wird, daß man die unzufriedenen Eheleute zwingt, sacramentsmäfiig beisammen zu bleiben. Dergleichen unhistorische, un¬ geheuerliche Mißgeburten mit langen Ohren und Fledermausflügeln sollte man, wenn sie schon das Licht der Welt erblicken, geschwind und in aller Stille begraben, nicht aber erst alle Gevattern und Basen zur Besichtigung laden. Hier dürste man doch einmal an Gellert's Fabel von der Frau Orgon denken. Hauptsächlich aber ist es zu beklagen, daß sich die Regierung oder wenig¬ stens ein Theil derselben, das Kultusministerium, den Anschein gibt, als>höle bei dem Streite der extremen, religiös-philosophischen Richtungen Partei nähme. So ist sie in den Verdacht gekommen, daß sie dem Predigcrhülföverein Vor¬ schub leiste, der — nach Art der Gcsmdcvcrmicther — bekannt gemacht hat, er könne die Vcnöthigtcn mit „frommen" Candidaten versorgen; daß sie bei Verleihung von Gymnasiallehrer - und anderen Stellen vorzugsweise „fromme" Candidaten begünstigen und so diese, meist armen jungen Leute der Versuchung aussetzen wolle, aus Rücksicht auf ihr materielles Fortkommen zu Heuchlern zu werden. Hoffentlich werden alle diese spukhaften Nebel und feuch¬ ten Sumpflüste vor einem kecken Windstoß und einem gnädigen Sonnenstrahl verschwinden! ob sich nur bis dahin die öffentliche Meinung nicht ein wenig erkältet haben wird'! — 3. Aus Berlin. Philvsl-pyische Wunderkinder — Die Augsburger. — W. v, Humboldt und Philaritc ClMcS. - —--Man hat mathematische Wunderkinder, Knaben von zwölf Jahren, welche die schwierigsten Rechnungs-Aufgaben lösen: aber philosophische Wunderknaben hatten wir bisher noch nicht. Noch drückte sich kein Kind in einem naiven Tagebuch, wie Kant und Hegel aus. Dieß ist es, was der Verfasser des Buches „Selbstgespräche Friedrich Wilhelm's IV. nach einer Ab¬ schrift seines Erziehers Delbrück" vergessen hat. Was die äußere miss e„ «r,vnd? des Buches betrifft, so war sie ganz geschickt und fein ausgeführt: man hat Delbrück selbst aus dem Spiel gelassen, wodurch die Schrift das Unschickliche, welches sie durch einen so officiellen Verfasser erhalten hätte, verlor: man hat den Vcrlagsort nicht nur außerhalb Preußens, sondern auch außerhalb Deutsch¬ lands gewählt, in Bern, in der republikanischen Schweiz, von woher man in der Regel Schriften ganz andrer Art zu empfangen gewohnt ist und wo die Erscheinung einer solchen Schrift doppeltes Aussehen und doppelten Eindruck machen muß. Was aber den Inhalt betrifft, so hat man aus Furcht, der königlichen Feder eine kindische Idee zu unterlegen, die Sache so philosophisch redigirt, als hätte sie ein Berliner Professor als Dissertation brauchen wollen. Der kindliche, knabenhafte Charakter, der dem Actenstücke Glaubwürdigkeit hätte erwerben können, ging durch jene Rücksicht verloren. Sind Stellen, wie die) folgende, die Ausdrucksweise eines vierzehnjährigen Knaben: „Wie viel oder wie wenig ich wissen mag, so bin ich doch mir bewußt, auf welche Weise das Einzelne zusammenhängt und wo das Mannigfaltige der Kenntnisse, so wie die Uebungen des Verstandes und des Gedächtnisses und des Willens seinen Einheitspunkt finden; und die Einheit, sagt man mir, ist die wahre Gründ¬ lichkeit. Soll ich daher mein Wissen in dieser Einheit kürzlich darstellen, so würde ich es allenfalls so fassen können: aller Verkehr zwischen Lehrenden und Lernenden ist nur möglich durch das Denken; der Kraft zu denken bin ich mir auch bewußt u. s. w." Ich verkeime die Absicht jener Herren nicht, welche sich damit beschäftigen, schlagende Witzworte und tiefe Gedanken dem Monar¬ chen in den Mund zu legen. Wenn aber dieß auf ungeschickte Weise geschieht, wen» das Absichtliche dabei durchschaut wird, dann trifft den Verfasser der doppelte Tadel, erstens als Schriftsteller, zweitens als Politiker, der seine eigene Sache verdirbt.^ Daß man von hieraus Nichts unterläßt, was in Deutschland die öffentliche Meinung zu Gunsten Preußens leiten kann, das werden Sie aus der unzähligen Menge von Eorrcspondenzartikcln, die in diesem Sinne geschrieben sind, leicht erkennen. Auf ein kleines Beispiel will ich Sie beson¬ ders aufmerksam machen. Die Allg. Augs. Zeit, brachte stets die preußischen Artikel unter einer eigenen Rubrik: Preußen; wie ich aber aus einer ziem¬ lich gut unterrichteten Quelle mir sagen ließ, hat man bei der Redaction dieses Blattes Schritte gethan um die Abschaffung der besonderen Ueberschrift: und seit dem März dieses Jahres —fast gleichzeitig mit der Erscheinung des Buches von Wülow-Eummcrow — sind die preußischen Eorrespondenzcn der Augs- burger dem allgemeinen Deutschland als Eigenthum zugefallen. — Nicht ge¬ ringes Aussehen hat hier eine! Kritik von PhilarKte Chasles über Wilhelm von Humboldt gemacht. Gewöhnlich klagt der deutsche Konservatismus die Franzosen wegen ihrer republikanischen Extravaganzen an; hier ist es umge¬ kehrt. Ein französischer Kritiker tadelt einen deutschen Schriftsteller und oben¬ drein einen aristokratischen wegen seiner republikanischen Sympathien. Bei Gelegenheit der Beurtheilung der kleinen Schriften W. von Humboldt's im Journal des Dvbats sagte unlängst Philarvte Chiles unter Anderem: „Die ausschließliche Bewunderung dieses gelehrten, geistreichen und gründlichen For¬ schers für Lycurgus und Solon; sein Bedauern über die Unmöglichkeit, eine Republik nach dem Muster Sparta's, Athen's oder Rom's zu errichten, seine Khcorie zu Gunsten des Krieges, seine klassischen Bisionen, welche die Helden des heidnischen Alterthums mit einem Heiligenschein umgeben, erscheinen uns als ebensoviel thörichte, unschuldige Träumereien und gelehrte Phantasiebilder, mit denen wohl Deutschland noch seine Mußestunden ausfüllen mag, für die aber in dem praktischen Frankreich und England alle Sympathie fehlt." — Gutes, ehrliches Deutschland I Solche Vorwürfe sind Dir wohl noch selten ge¬ macht worden. Herr Philarc-te Chllslcs gilt in Frankreich für den Schrift¬ steller, der Deutschland am Besten kennt. Rum erfahren wir's erst, was wir eigentlich für Wöscwichter sind. Am Ende wird Frankreich sich noch gegen uns abschließen, damit keine gefährlichen Ideen von uns hinüberkommen und die deutsche Propaganda die friedliebenden Franzosen nicht mit ihren Rcvolu- rionsidecn auslecke.K> M c y c r b e e r. ----Personen, welche sich für gut unterrichtet ausgeben, ver¬ sichern, basi Meyerbeer, als er letzthin nach Paris kam, vier Partituren in seinem Portefeuille hatte. Davon wären zwei, der Prophet und die Afri¬ kanern,, für die große Oper bestimmt, die dritte wäre eine komische Oper in drei Akten und die vierte endlich die unvollendet hinterlassene Weber'sehe Oper, deren Beendigung Meyerbeer übernommen. Das wären nun freilich für die Musikfreunde sehr angenehme und erfreuliche Nachrichten; denn das Repertoire unsrer größeren Bühnen ist sehr schwach und seit den Hugenotten haben wir noch keine Oper von hervorragendem Verdienste gesehen. Wenn wir daher den obigen Gerüchten einen geringere» Glauben beimessen, als wir wollten, so geschieht dicfi blos deßhalb, weil wir, so oft Meyerbeer nach Paris zurückkam, regelmäßig mit der Hoffnung auf die Aufführung einer neuen Partitur getäuscht worden sind. Die Schuld davon, daß man seit mehreren Jahren alle Vierteljahre ankündigt, Meyerbeer werde der Direction des Opern¬ hauses seine vollendete Oper überreichen, und daß diese Nachricht immer falsch ist, liegt nicht so sehr an dem berühmten Componisten, als an seinem Arbeitö- Portefcuille. Das hält fest, was es einmal hat, und hat bisher noch nicht darein willigen mögen, sich von besagten Partituren zu trennen. Meyerbeer selbst wäre gern bereit, den Propheten zur Aufführung zu bringen und er fin¬ det das Sängcrpersonal der Oper ausreichend dazu- sein Portefeuille aber ist nicht derselben Meinung. Das erklärte zuerst, es würde seine Partitur nicht eher herausgeben, bis man ihm an die Stelle der Dem. Falcon eine andre, sie vollkommen ersetzende Sängern verschaffen würde. Nun das war Dank¬ barkeit von Seiten des Portefeuille für die großen Dienste, welche jene Sän¬ gerin Robert dem Teufel und den Hugenotten geleistet hatte. Als man nun aber später die andre Forderung des Portefeuille, einen guten Baßsänger, durch Baroilhct, dessen Talent es nicht in Abrede stellen konnte, befriedigt hatte und es sich nun hinter der Abnahme von Duprez's Stimmmitteln versteckte, um seine Partitur zu behalten, da gerieth es in den Bereich des Eigensinnes. Sollte es nun endlich gelungen sein, alle diese Einwendungen besagten Portefeuilles zu beseitige» ? Wir glauben es kaum und zwar um so weniger, als Meyerbeer nach Schlangcnbao in's Bad gegangen ist, was er nur zu thun pflegt, wenn er selbst mit seinem eigenen Portefeuille nicht fertig werden kann. — W' i e n c r SP asi. — Die famose Ludlamshöhle in Wien hat nun nach vielen vergeblichen Versuchen, sie zu erneuern, eine Nachfolgerin erhalten. Vier und zwanzig lustige Brüder bilden die Gesellschaft der Matschakcrer. Der beste Spaß, mit dem sie bisher debutirten, wurde kürzlich an einem Sonntag ausgeführt. Der Präsident der Matschakerer reiste mit der ganzen Gesellschaft nach dem Schneeberg. Der Präsident Herr von sich für xmen Narrendoctor aus und seine Gesellschaft für die Pensionäre eines Narrenhauscs. Es sollen köstliche Scenen vorgekommen sein. — Eins der berühmtesten wiener Volksfeste, der „Brigittcn-Kirtag" (Kirchtag) hat dieses Jahr zum letzten Male Statt gefunden. Die Brigitte»-An, eine ungeheure Ebene, wo dieses Ast alljährlich gefeiert wurde «ut über Menschen herbeilockte — wird zum Anbau einer neuen Borstabt verwendet und mit der Leopoldstadt vereinigt werden. — Der PiIvt, bisher von Th. Mundt redigirt, hat an Dr. Saß einen neuen, jugendlich strebenden Steuermann bekommen. Saß wird schwerlich mit derselben gewand¬ ten Schmiegsamkeit allen Klippen ausweichen, wie sein Vorgänger, aber hof¬ fentlich nicht scheitern. Vielleicht etwas einseitig, aber mit echt deutschem Sinn geradaus blickend und geradaus kämpfend, wird er nirgends fehlen, wo die Brandung der Zeit gegen Philistern und Gesinnungslosigkeit anstürmt. Ueber den goldenen Boden der leider zum Handwerk gewordenen Journalistik scheint er sich, einigen Aeusserungen seines Programmes nach, keine falschen Hoffnungen zu machen. Möge er nicht den Muth verlieren! Eduard Maria Octtingcr, ein alter journalistischer Condotticre, gibt vom ersten October an in Leipzig einen „Charivari" heraus. Wir hoffen, daß er die noch nicht verrosteten Waf¬ fen seines Witzes und Verstandes für die ernsthaftem Interessen führen wird, die jetzt die Zeit bewegen; den Sänger Aschicsche, dem er in einem Inserat der Leipziger Allgemeinen Zeitung bereits die Fehde angesagt hat, bitten wir ihn doch in Frieden ziehen zu lassen. Gco r g H c r w c g h. Unlängst lasen wir in öffentlichen Blättern, der gefeierte Dichter Herwegh werde die Redaction des „Deutschen Boten aus der Schweiz" übernehmen; derselbe habe bereits in seinen Kritiken in der „BolkShalle" entschiedenes Ta¬ lent zur Journalistik gezeigt. Wir müssen dies um so eher glauben, als Her-. wcgh selbst in seinen „Gedichten" viel journalistisches Talent bewährt hat.' Zwischen der Journalistik und unserer modernen politischen Poesie läßt sich überhaupt die rechte Grenzlinie nicht mehr angeben. Die Industrie und das Jahrhundert. Skizzen, Andeutungen, Wünsche. Werth der Arbeit in der heutigen Gesellschaft. — Trauriger Zustand der In¬ dustrie im Alterthume. — Sociale Ursachen dieses Zustandes. — Walzen- industric. — Die Civilisation der Menschheit und ihre Zukunft. — Das Mittelalter, seine Jndustrielage und deren Ursachen. — Zunft und Ge- tvcrke. — Wissenschaft und Lebenspraris. — Die neuere und neueste Zeit. — Gemcrbcfreiheit und ihre Nachtheile, nebst Vorschlag eines Heilmittels. — Maschinen und ihre Bordseite. — Eine Ursache mancher industriellen Verlegenheiten. — Erfindungen und ihre Wichtigkeit für die Völker. — Verhältniß der Patente zu den Erfindungen. — Wünsche für Abstellung hierin herrschender Uebelstände. — Einführungsparcntc. Is'ir leben mitten unter den Annehmlichkeiten der Bildung wie der Fisch im Wasser, ohne es gewahr zu werden, und als wäre dies immer so gewesen und müßte immer so sein. — Man denkt nicht genug daran, daß Alles, was unser Dasein so behaglich macht, nur in den kurzen Friedenstagen entstanden ist, die zwischen blutigen Schlachten uns ein Aufathmen erlaubten. Man scheint ganz aus dem Auge zu verlieren, daß ein neuer dreißigjähriger Krieg hinrei¬ chen würde, um diese Pyramide von Kenntnissen, aus die wir so stolz sind, umzustürzen. Jeder Reichthum ist das Product irgend einer Arbeit. Es muß also, dieser Annahme zufolge, die erste Sorge einer guten Re¬ gierung dahin gehen, die Arbeit zu Ehren zu bringen, sie durch 20 Auszeichnungen zu belohnen und zu ermuthigen. Denn die Arbeit ist die einzige rechtmäßige Quelle der Achtung, der Ehren und des Reichthums, wie sie auch die Quelle aller gesellschaftlichen Tugen¬ den ist. Daß man diese Grundwahrheiten vergessen hatte, dadurch ist der Sturz aller der Staaten vorbereitet und herbeigeführt worden, in denen sich die Arbeit bei den höheren Klassen von einer Art Bann und Verachtung getroffen fand, weil man sie den Heloten, den Sclaven, den niedrigsten Klassen der Gesellschaft überlassen hatte. Glücklicherweise fängt dies abgeschmackte Vorurtheil in dein civilisirten Europa immer mehr zu schwinden an. Das erste Bei¬ spiel hat hierin die englische Aristokratie gegeben und der französische Adel ist demselben bald nachgefolgt. Ja selbst der deutsche Adel glaubt nicht mehr, seiner Würde etwas zu vergeben, wenn er sich Sem Handel und der Industrie ergiebt. Diese Revolution oder vielmehr diese Rückkehr zur Vernunft ist das schönste Resultat der Abschaffung der Sclaverei, des Leibetgen- thums, der Frohnen u. s. w.; denn diese völlige Unterdrückung eines Theils der menschlichen Gesellschaft hat zu allen Zeiten den Umsturz der Reiche herbeigeführt. Erst von unserer Epoche an kann man die Hoffnung hegen, daß in Europa ein dauerhaft blühender Zustand der Gesellschaft sich entwickeln werde, seitdem man sich nämlich fest entschlossen hat, als Grundlage der letzteren eine gute Organisation der in ihre Ehren und Rechte wieder eingesetzten Arbeit, des Han dets und der Industrie anzunehmen. Die Arbeit hat offenbar am meisten dazu beigetragen, den Menschen moralisch zu machen; sie hat Wunderwerke erzeugt, um Vertrauen in die Wunder einzuflößen, die sie noch zu thun verspricht, von nun an bis an's Ende der Jahrhunderte, so lange man sie gegen die Angriffe der Wilden der Civilisation beschützt und vor jenem Geschlecht von t)-a»>>to8«»,c; ^avsls, die selbst nichts thun und auch Andere an ihrer Thätigkeit verhindern wollen. Wenn man ei¬ nen Blick auf die lange Kindheit der Industrie wirft, die, so zu sagen, in einem zusammengeschrumpften, verkrüppelten Zustande blieb, seit dem Töpfer Dädalus bis zu dem Schmelzarbeiter Bernhard von Palissy, und wenn man ihr langsames Vorwärtsschreiten seit Bernhard von Palissy bis zu der Epoche, der unsere Väter ange¬ hören, mit dem Aufschwünge vergleicht, den sie seit nur dreißig Jah¬ ren genommen: — so ist man zu der Hoffnung berechtigt, daß, wenn ihr Nichts hemmend in den Weg tritt, diese neueKönigin der'Welt bald ihr Haupt bis hoch empor an die Sterne tragen wird. In der That auch, was war die Industrie bei den Griechen, die ihr nicht einmal einen Namen zu geben hatten? Nichts Unförm¬ licheres, als die Fingerhüte, die Nähnadeln, die Zirkel, die aus jenen Zeiten uns überkommen sind ; ihre Stecknadeln selbst waren nur mit der Feile gearbeitete Nagel; ihre Kämme waren eine Art Striegel. Ja sie konnten nicht einmal ein Pferd beschlagen. Alle Hülfsquellen ihrer Mechanik beschränkten sich aus das, was man zur Erbauung von Catapulten bedürfte, auf Hebel der einfachsten Art und spater auf die Archimedische Schraube. Ihre großen Tempel ballten sie lediglich durch Armeskraft: Menschen wurden angewandt, um einen einzigen Stein in Balbek von der Stelle zu bringen. Welch ein schlechter Gebrauch der Kraft! Hunderttausend Menschen arbeiteten dreißig Jahre lang an der Pyramide deS Cheops, die Steine wurden auf ungeheure Ervdämme geschleppt, die vor den Gebäuden errichtet waren und die nach Ma߬ stab, daß diese in die Höhe stiegen, gleichfalls erhöht wurden. Zwölf tausend jüdische Gefangene wurden drei Jahre lang zur Erbauung des Coliseums in Rom verwandt. Und, wie uns Strabo erzählt, wurden zur Ausbeutung der spanischen Bergwerke vierzigtausend Menschen gebraucht. Die Alten kannten weder Wind- noch Wassermühlen: Theo- phrast und Plautus haben ja auf Handmühlen das Korn dem Bäcker gemalen. Für Maße und Gewichte gab,es keine bestimmte, zur Regel dienende Einheit, kein Gleichmaß: alle ägyptischen Ellbo¬ genlängen und alle römischen Fuße waren unter einander verschie¬ den. Die Zeit maß man nach den unsichern Sonnenuhren, erst später nach den nur um Weniges besseren Wasseruhren. Man kann also mit Recht behaupte», daß die auf die Theilung der Arbeit begründete Industrie, die Industrie, deren Bestreben es ist, den behaglichen Bequemlichkeiten der Reichen den Zutritt selbst in die demüthige Hütte der Armen möglich zu machen, kurz die Industrie in jetziger Bedeutung des Wortes nie bei den Alten 2V» bestanden hat. Die natürliche Ursache hiervon lag in der Zusammen¬ setzung der antiken Gesellschaft, die nur aus Herren und Sclaven bestand, aus der Industrie gänzlich sern stehenden Herren, welche ausnahms¬ weise!,, ausgezeichneten Producten gewerblich künstlerischer Bestrebun¬ gen nach Belieben eine Belohnung geben konnten und aus arbeiten¬ den Sclaven, die aber Nichts besaßen, und deren Arbeit das Eigen¬ thum ihrer Herren war. Im Orient, dem stabilen Vaterlande, aus dem alle Gesellschafts¬ und Staatseinrichtungen des Alterthums sich heraus entwickelte», sehen wir noch heutigen Tages ein lebendiges Probestück und Bei¬ spiel von dieser Ordnung der Dinge. Es fehlt daselbst wahrlich weder an bewunderungswürdigen Goldarbeitern, noch an geschickten Töpfern, an unnachahmlichen Elfenbeinarbcitern, an kostbaren Fili¬ granverfertigern, an trefflichen Zeugwcbern; aber man sieht keine jener großen gewerblichen Einrichtungen daselbst, wo, so zu sagen, jene unzählbaren Facsimiles verfertigt werden, die, im Ueberfluß aus einem einzigen Grundtypus sich herausbildend, immer billiger im Preise werden, je größer ihre Zahl wird. Den Alten, gleich den heutigen Orientalen, war jener Haupt¬ grundsatz der heutigen Nationalökonomen unbekannt: kleiner Ge¬ winn verschafft großen Vortheil. Die Alten verstanden wohl zu produciren, aber nicht zu reproduciren; sie kannten nur die Gewaltthätigkeit für den eigenen, engen häuslichen Bedarf, die da¬ her stets eine Thätigkeit einzelner künstlerisch begabter Individuen blieb, welche ihre Talente und Fähigkeiten daraus verwandten, Ge¬ genstände zum. Gebrauch der reichen Besteller zu machen oder zu verzieren. Unsere Industrie dagegen hat den Zweck, den Ankauf erst der unumgänglich nothwendigen, dann der nützlichen und endlich auch der angenehmen Dinge möglich zu machen. Unsre Mittelklasse, unsere so zahlreiche Bürgerschaft, sie, von der im Alterthum kaum in der Klasse der freigelassenen Sclaven ein schwacher Keim bestand, sie ist es, welche unsere Walzenindustrie ge- sckMffcn hat und ihr noch heutzutage sowohl Nahrung als Leitung angedeihen läßt. Ich habe mich des vielleicht etwas sonderbar erscheinenden Aus- drucks „Walzenindustrie" bedient; und zwar deshalb, weil die Walze das Kriterium aller modernen GewerbsthAtigkeit ist und weil jedes mechanische Verfahren, jede Fabrikation, die nicht die fortwäh¬ rend ununterbrochene Thätigkeit besitzt, noch im Zustande deS em¬ bryonischen Werdens ist. Die Spinnerei, die Buchdruckerei, die El. senfabrikativn, die Gvldarbeiterkunst, die Hydraulik, die Papicrmüb im, die Tuchweberei, die Sägemühlen und tausend andere Gewerbe sind schon dahin gelangt, die Walze anzuwenden und die Anstren¬ gungen aller erfinderischen Kopfe gehen stets dahin, auch andere gewerbliche Thätigkeiten durch Einführung der Walze zu vervollkommn nen und auf die Höhe unserer Zeit zu erheben. Die Griechen waren in Allem, was Formenschönheit betraf, zu einer außerordentlichen Höhe gelangt, die seitdem vielleicht nie über¬ troffen, ja kaum erreicht worden ist: ihre Töpferscheibe dient der unsrigen noch heute zum Muster, und Wedgwvod, der berühmte eng¬ lische Porzellanfabrikant, hat die schönsten etruskischen und korinthi-- schen Vasen, behufs der Nachbildung, zu hohen Preisen angekauft, man kann im wörtlichen Sinne sagen, sie mit Gold aufgewogen. Megara, eine kleine Stadt ohne Landgebiet, blühte durch seine Stoffe, die jedoch den ägyptischen Erzeugnissen nachstanden. Letztere waren so fein, daß man auf den Wänden der Tempel und Cryptcn Aegyptens — wenigstens nach den Zeichnungen, die Champollion und Belzoni davon entworfen haben — Priester und Fürsten mit leinenen Gewändern bekleidet sieht, durch welche das Fleisch hindurch schimmert. Wahrscheinlich war dies der ventus dentitis, jener luftige Stoff, von dem Juvenal spricht. Die Bijouterie war ebenfalls bei den Griechen zu hoher Voll¬ kommenheit gediehen, und man vermag kaum zu begreifen, wie ihre Goldarbeiter mit ihren erwiesener Maßen so unvollkommenen und rohen Werkzeugen so schöne Hals- und Armbänder in vollkommen biegsamer Schuppenarbeit liefern und so herrliche Siegel und Steine schneiden konnten. Wir haben absichtlich hier einige jener Dinge angeführt, in denen die Griechen uns fast gleich standen, um nicht von eingefleischter Alterthumsfreunden den Vorwurf zu hören, wir sprächen so verächt¬ lich von antiker Industrie nur aus Unkenntniß. Aber wir bleiben darum nichts desto weniger bet unserer obigen Behauptung, daß diese Arbeiten nur einer individuellen Ausdauer und Geschicklichkeit verdankt wurden, wie heutzutage noch Schweizer Hirten und andere Holzarbeiter in manchen Gegenden Deutschlands die schönsten Holzsachen, wahre unnachahmliche Meisterstücke, mit einem elenden Federmesser schni¬ tzen. Aber, führen wir ferner zum Beleg unserer Meinung an, die Alten hatten keine eigentlichen Tuchfabriken; was sie an Wollenzeug brauchten, das spannen ihre Frauen selbst, wie dies vor anderthalbhun¬ dert Jahren die alten Coloniftenfrauen in Nordamerika thaten, oder wie die Frauen in Madagascar und Japan noch jetzt ihren Bedarf an Stoffen selbst spinnen, weben und färben. So rühmte sich Ale- rander gegen Sisygambis, die Mutter des Darius, daß die Gewän¬ der, die er trage, von den königlichen Händen seiner eigenen Mutter Olympias und seiner Schwestern Thessalonice und Laodicca gesponnen seien. So lautete die ehrenvollste Grabschrift so mancher hohen, pa- trtzischen Matronen Roms: Lu,8tü, vixit, 1a n a in l'van, boni in-nihil. Aber war nicht diese Thätigkeit der Frauen und der Sclaven, die man als Arbeiter verwandte, gleich den Künsten eines Wilden, blos das Resultat der Talente eines Einzelnen? Nur als einzelne Künstler hatten die Arbeiter gewisser Städte des Alterthums einen Ruf durch die Vvrtteffüchkeit ihrer Arbeiten, wie z. B. die Taren- tiner die besten Färber waren nach den Phöniziern und Babyloniern. So war auch ganz Unteritalien berühmt wegen seiner reichen und kostbaren Meubles von Bronce, so wie wegen seiner gold- und silbergestickten Paillen; aber man hatte weder einfache, gute Stühle, noch warme Kleider zum täglichen Gebrauch für's Volk. So haben noch heute die Chan'S, Emire und Scheiks der Araber und anderer uncultivirten Völkerschaften deö Orients schöne, wunderbar gestickte Pferdesättel, damaseirte Waffen, prächtig ciselirte, reiche Scheiden und glänzende Uniformen: aber alle ihre Untergebenen gehen zer¬ lumpt und halb nackt einher. So waren es die Belgier, welche den Römern zuerst jene dich¬ ten und warmen Wollenstoffe lieferten, bei denen sich diese so wohl befanden, daß der Epigrammatiker Martial, der ein Gewand daraus zum Geschenk erhalten, offen erklärte, er werde fortan den Winter nicht mehr ertragen können, wenn er nicht ein zweites derartiges Gewand erhalte. So gelangte später Friesland zu der Berühmtheit für diese Stosse, die es heute noch besitzt. Kurz, während heutzutage das Prinzip der Vergesellschaftung größerer Kapitalien die Errichtung und Durchführung der kostspielig- sten Fabriken möglich macht, blieb den Alten Alles unzugänglich wozu irgend eine bedeutende Kraft oder irgend ein complicirteren Werkzeug nöthig war. Nur wozu keine kostspieligen Maschinen und keine accurat gearbeiteten Werkzeuge erforderlich waren, nur hierin hatten sie es zur Vollkommenheit gebracht. So haben sie eigentlich auch nie irgend eine schon geprägte Münze gehabt. Dagegen müssen wir aber auch eingestehen, daß, eine je größere Ausdehnung das Manufactur- und Fabrikwesen in Europa erhält, desto mehr auch — und dies ist unausbleiblich nothwendig — alle individuelle Industrie verschwindet und verkümmert. Der isolirto Mensch, und sei er auch noch so genial, wird bei uns von den gro¬ ßen Capitalien und den durch sie erzeugten Kräften erdrückt, die dem gewöhnlichen Geschäftsbetriebe zu Gebote stehen: er nimmt sich da¬ her auch nicht die Mühe zu denken oder seine Hände zu einer di¬ rekten Production zu üben. Was würde auch in der That der ge¬ schickteste Schreiber heute gewinnen, wenn er einen Wettkampf mir der Drucker- oder Lithographenklasse eingehen sollte? Oder was ver¬ mag selbst der Schnellläufer Mensen Ernst gegen den Dampf? Und ist nicht der englische Werkstuhl der Ruin der besten flamändischen Spinnerin? So mögen auch z. B. die geringsten chinesischen Arbeiter handgeschickter fein, oder die des Alterthums es gewesen sein, als unsere besten in Europa ; aber sie waren und sind nichts gegen die . kleinste unserer Maschinen. Wenn die Alten in Bezug auf Philosophie, Literatur, Archi- tectur und Bildhauerkunst — denn ihre Malerei kenne» wir ja nur aus Berichten — unsere Lehrer und Meister waren, so haben wir einerseits in Bezug auf gewerbliche und gemeinnützige Thätigkeit und Kunst sie weit überflügelt und fern hinter uns gelassen, wäh¬ rend wir andrerseits in Bezug auf schöne Künste uns mis gelehrige Schüler erwiesen haben, und so nah als möglich, wenn auch nicht an das unerreichbare Ideal des Vollkvmmnen, doch an unsere llassi. sehen Meister herangetreten sind. So lange dieses Letztere nicht der Fall gewesen war, konnte man die Meinung ausstellen, es drehe das Leben der Menschheit sich im Kreise und es habe die Bildung, gleich den Bahnen der^ Plane¬ ten, eine Erdferne und eine Erdnähe und es erreiche ein jedes Volk, wenn auch ein jedes in einer andern Weise und auf anderem Wege, den Kulminationspunkt dieser Bahn, von da ab denn das Sinken und Herabsteigen unvermeidlich sei. Jetzt aber, da wir des Alter¬ thums Höhe erreicht haben, in dem, worin es groß und erhaben war und doch daneben auch auf anderen Bahnen einem andern ho¬ hen Ziele uns nähern, jetzt mag man wohl eher sagen, daß die Bahn, welche der Menschengeist in seiner geschichtlichen Entfaltung beschreibt, einer Spirale gleicht, die, obgleich scheinbar stets in den¬ selben Schwingungen sich bewegend, doch fortwährend sich erweitert und von dem Punkte, von dem sie ausgelaufen, sich immer mehr entfernt. So oft auch bisher die Menschheit gesunken oder von einer Höhe herabgestürzt zu sein scheint, so waren dies doch immer nur die ersten Versuche eines Kindes, das, während es gehen lernt, sällt und sich wieder aufrichtet und noch oftmals fällt, bis es endlich fest stehen und gehen gelernt hat. Jetzt nun ist auch die Menschheit so weit: sie ist kein Kind mehr, sie hat ihre Windeln und Gängelbande abgeschüttelt, sie steht und geht allein; aber jung ist sie noch. Denn weil der Geist der Menschheit kein anderer ist als der belebende Hauch der Gottheit, der in der Geschichte sich manifestirt, darum ist der Fortschritt ein ewiger und darum sind Jahre für ihn wie Tage und Jahrhunderte wie Monate. So sind also alle Arbeiten der Aegyptier, der Griechen, der Römer, überhaupt all unserer fernern und nähern Vergangenheit nur Anhäufungen von Kräften gewesen, um den großen Schwung der Bildung hervorzubringen, in dem die Welt sich jetzt dreht und den Menschenhand nur unterhalten, befördern und beschleunigen kann, aber nicht frevlerisch zu hemmen vermag; denn wer es wagen will, mit verwegener Hand dem Rade in die Speichen zu greifen oder es zurückzudrehen, der würde zermalmt und zerbrochen, gleich einem Strohhalm, der unter die Fugen eines Walzwerkes gerathen wäre. Der Gang und Fortschritt der Civilisation steht im geraden Verhältnisse zu der Leichtigkeit der Mittheilungswege unter den Menschen. Einst verbreiteten sich Kenntnisse nur langsam und un¬ sicher auf den wenig betretenen, mühsam sich windenden Pfaden der mündlichen Ueberlieferung, so wie die Waaren auf unwegsamen Straßen durch Wälder und über Felsen, durch Wüsten und Steppen auf dem Rücken des Menschen, höchstens des Kameeles getragen wurden. Jetzt verbreiten die Druckerpressen und die Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen die Kenntnisse der Menschen eben so rasch und eben so leicht, wie die Waaren mit Vogelflügels Schnellig¬ keit auf eisernen Wegen und im dampfgetriebenen Kiel durch Land und über Strom und Meer fliegen. Der hartnäckigste Rubner des Alterthums muß es doch wohl eingestehen, daß Alles, was die Alten auf den Gipfelpunkten ihres Ruhmes vollbracht, auch wir gethan, und daß, wenn wirklich der Fortschritt einen Zenithpunkt hätte, wir ihn wohl schon erreicht haben müßten. Aber wir haben noch mehr gethan, als nur den Alten in Maler- und Bildhauer- und Dichtkunst, in Philosophie und in Architectur uns gleichzustellen, und jeden Tag noch schreiten wir weiter vorwärts. Man denke sich einen Augenblick, um das zu begreisen, wie weit wir den Alten vorgeschritten sind, es fehlte oder ginge plötzlich verloren unsrem jetzigen Leben nur eins oder das an¬ dere der folgenden Elemente, welche der alten Welt unbekannt waren; das Gefühl der fast unerträglichen Armuth eines solchen gesellschaftlichen Zustandes würde den besten Beweis für un¬ sere Behauptung geben. Was wären wir also ohne Entdeckung von Amerika und ohne Erfindung der Buchdruckerkunst, ohne Pul¬ ver und ohne Dampf, ohne Eisenbahnen und ohne Gasbeleuchtung, ohne Pofteinrichtung und ohne Compaß, ohne Chemie und ohne Anatomie, ohne Decimalsystem, Algebra und angewandte Geometrie, ohne Spinnmaschinen und ohne Schleusensystem,. ohne Chirurgie und ohne Wechselbriefe, ohne Mikroskop und ohne Teleskop, ohne Spiegelglas und ohne Steinkohlen und ohne tausend andere Dinge, die wir in und auf der Erde, seit der Entdeckung ihrer runden Ge¬ stalt und ihrer Bewegung, gefunden und erfunden haben? Wollte mancher von uns wohl ohne diese Dinge noch fortleben? Nun denke man sich aber dagegen, welche Resultate aus der Combination dieser Elemente, die erst das Alphabet unserer Kenntnisse, die bloßen Grö¬ ßen einer unermeßlichen Gleichung sind, entstehen können! So lange die Civilisation aus ein Fleckchen der Erde oder in eine staubige Bibliothek gebannt war, so lange sie das Eigenthum einer Nation oder gar nur weniger über den Erdball hin Zerstreu¬ ter war, so lange sie nicht die Pulsader im Leben der gesammten Menschheit war, so lange konnte man befürchten und war es auch wirklich nicht schwer, daß eine hereinbrechende Barbarenhorde sie überfiel und erstickte und in lange, dunkle Nacht warf. So ist die erste große Hälfte des Mittelalters über uns gekommen und hat die Civilisation sast begraben, bis der waltende Geist der Gottheit, wie germanische Barbaren der antiken Welt Bildung zerstört hatten, so durch asiatische Barbaren Constantinopel fallen ließ, auf daß die griechischen Flüchtlinge Wecker und Lichtbringer, oder wenigstens Schatzgräber würden, und daß gerade zu der Zeit, wo zum Heil der Welt, zur Sühnung der Schuld ihrer Väter, von zweien Deut¬ schen die doppelte schwarze Kunst der Buchdruckerei und des Pul¬ vers erfunden worden, diese zauberischen Mittel, welche des Geistes und des Leibes Faustrecht auf immer brachen. So war eS einst, so aber kann es nicht mehr werden. Denn wenn heute eine Horde von Barbaren in den fernen Steppen Asiens oder Afrikas oder Indiens sich regte, zu einem Einfalle in das Be¬ reich der Cultur, gleich denen der Hunnen und Mongolen und Tar¬ taren, so wüßte man es in London und in Petersburg und in Pa¬ ris, noch ehe sie drei Tagereisen zurückgelegt hätten. Ja, wenn selbst durch irgend eine unerwartete, unvorherzusehende Wendung der Dinge ein solcher Einfall, eine zweite Völkerwanderung Statt fände und die ganze Civilisation Europas mit Feuer und Schwert ver¬ nichtet würde, so hätte man vielleicht Nichts verloren, denn dann fände man Alles in Amerika und in Australien wieder. So können wir denn gesichert sein über das Loos der Menschenbildung, sie wird nimmer wieder untergehen. So wie während der ersten zwölf- bis vierzehnhundert Jahre des Christenthums Künste und Wissenschaften durch den Krieg und die allgemeine Anarchie, an der fast ganz Europa mehr oder minder danicderkranktc, erstickt wurde und erst zu der oben berührten Epoche, der sogenannten Zeit der Ueuaisauco, um mit einem französischen Worte eine weitschweifige deutsche Phrase zu ersetzen — wieder le¬ bendig aufblühten, eben so lag auch die gewerbliche Thätigkeit in schwerem, todtenähnlichem Schlummer, insofern wir sie nämlich von dem heutigen, oben angegebenen Standpunkte der Theilung der Ar¬ beit und der Billigkeit und allgemeinen Zugänglichkeit der Producte betrachten. Abdelkader, der wilde Emir der algierschen Wüsten, ist behaglicher gekleidet und kennt mehr von des Lebens Bequemlichkeiten, als Karl der Große, der mächtige Kaiser; tauchte doch dieser, als er seinen Capitularien ein Jnsiegel ausdrücken wollte, zu diesem Zwecke seine Hand in die Dinte und legte sie dann auf's Perga¬ ment ! Volk und Priester trugen damals Kleidungsstücke aus Thier¬ häuten, wie heut etwa kaum noch Baschkiren und Kirgisen; an Festta¬ gen warf man über diese Felle eine Hülle von Leinwand. Wenn man einer Kirche zum Gebrauch sür den Messe lesenden Priester einPaar Schuhe schenkte, so war dies eine eben so fromme, als beträchtliche Gabe. Noch später im Mittelalter war der Gebrauch von Weißbrod, von Schlachtfleisch, von Lichtern und von Leibwäsche etwas sehr Sel¬ tenes. Acht oder zehn Personen schliefen in einem Bette, vornehme Leute machten ihre Reisen in einem von Ochsen gezogenen Karren. In einem strengen Winter sah man hohe Damen in Paris, die zum Kirchgange sich mit strohbelegten, oben eingeschlagenen Tonnen schleppen ließen. Wahrlich die Chinesen mit ihren elastischen Trag¬ sesseln und ihren behaglich eingerichteten Wohnungen waren damals um ein gut Theil weiter als wir. Fragen wir uns nun, worin die Ursache dieser traurigen Zustände lag, so finden wir hier zunächst freilich wieder die Schuld in der inneren und äußeren Gestaltung des Staats und der Gesellschaft zu jener Zeit. An die Stelle des wenigstens in seinem Ursprünge familienartigen römischen Sclaven- thums war das feudale Leibeigenthum getreten, ein Tausch von Namen, während die Sache dieselbe geblieben, also die alten, oben auseinander¬ gelegten Hindernisse für den Aufschwung gewerblicher Thätigkeit kei¬ neswegs beseitigt, im Gegentheil durch die rohere, sinnlich und gei¬ stig verwilderte Lebensweise der wilden Ritter nicht einmal so reiche Veranlassungen zur Ausübung von Geschicklichkeit und künstlerischem Talent Einzelner geboten wurden. Als aber später trotz der rauhen Kriegsstürme von allen Seiten her das Städtewesen in Europa sich zu bilden begann, und also die Elemente einer auf freien Erwerb gegründeten industriellen Thätigkeit sich zu gestalten anfingen, als durch die Politik der Könige die Städte den Rittern gegenüber ge¬ hoben und geschirmt wurden, und man nun glauben durste, es werde hinter den wohnlichen festen Mauern sich ein reges, geistiges und gewerbliches Leben aufschwingen, — da ward man freilich eine Zeit lang, besonders in den Ländern deutscher Zunge, nicht getäuscht. Die Reichsstädte eiferten der Lombardei rüstig nach; unter Heinrich I V. schwang sich Frankreich in edlem Wettstreite mit den benachbarten Niederlanden kräftig auf. Aber die bald immer mehr um sich greifenden religiösen Wirren zernichteten den jungen Flor allzurasch wieder. Als nach langen blutigen Kriegen der Friede wieder seine Segnungen über Europa ausbreitete, da heilten freilich auch diese Wunder mehr oder minder rasch. Colbert z. B. hob Frankreich, dessen Industrie freilich durch die wahnsinnige, frömmelnde Rechts¬ verletzung -Louis XIV., wodurch die Protestanten aus Frankreich vertrieben wurden, einen doppelt harten Schlag erhielt im eigenen Verlust und im Gewinn der die Vertriebenen bereitwillig aufnehmen¬ den fremden Strafen. Außerdem aber krankte Frankreichs Industrie mit der aller anderen Staaten an einem gemeinsamen Uebel. Der Geist der Zeit, der sich in einem starren Formelwesen gefiel, das in den Statuten der Gewerke und Zünfte zur trockensten, mumlenarti- gen Dürre herabsank, hemmte jeden Ausschwung, jeden Fortschritt. Wir wollen das Gute der Korporationen durchaus nicht ver¬ kennen; sie leisteten viel Nützliches in Bezug auf die Organisation der Arbeit; aber ihre Forderungen waren, und das meist aus klein¬ lichen, selbstischen Gründen, die in beschränkter Engsichtigkeit oft ihren eigenen Vortheil verkannten, so übertrieben, daß sie mehr Schaden anstifteten, als sie zu nützen vermocht hatten. ES war nämlich dem Erfinder eines neuen Verfahrens rein unmöglich, eine Nieder^ lassung sich zu gründen, um von seiner Erfindung einen Ge¬ brauch zu machen; denn er mußte nach den bestehenden Gesetzen sich in alle Gewerke ausnehmen lassen, mit denen seine Erfindung auch nur durch irgend einen Punkt zusammenhing. Diese Aufnahmen aber waren etwas so Kostspieliges, daß die Arbeit ein wahres Regal geworden war. Dadurch aber wurden alle intelligenteren Köpfe abgeschreckt, sich gewerklicher Thätigkeit zu widmen. Zu diesem Allen kam nun noch, daß Praxis und Wissenschaft, diese beiden Factoren eines wahren, fortschreitenden industriellen Lebens getrennt waren: die Chemie stand noch auf schwachem Fuße, die Physik und Mathematik waren in geheimnißvollen, aristokratischen, transscendentalen Formeln, in X. und V. befangen, so daß sie dem Laien unzugänglich waren, während die Priester der Wissenschaft selbst ihrer Würde zu vergeben glaubten, wenn sie sich zur Praxis herabließen. DaS Alles hat sich nun freilich in neuester Zeit gar sehr ge¬ ändert. Durch ein Decret der constituirenden Natioimlversammluna. vom 17. Februar 1791 wurden in Frankreich zuerst die Zünfte und Gewerke mit einem Schlage aufgehoben und statt deren eine Ge¬ werbe oder Patentsteuer eingeführt. Alle Kaufleute, alle wahren Industriellen nahmen diese Verbesserung mit Dankbarkeit und Freude auf und erst von diesem Tage an, kann man sagen, enstirte die Möglichkeit, von seiner Arbeit zu leben. In Deutschland folgte zu¬ nächst Preußen, dann fast alle andren Staaten nach. Selbst in einigen, durch Princip stabilen Staaten, wie Oesterreich u. a. hat man neben den Zünften Institutionen eingeführt, welche, von diesen unabhängig, einer freieren Gewerbthätigkeit Spielraum eröffnen. Der hohe, gewaltige Aufschwung aber, den alle industriellen Bewe¬ gungen seit etwa fünfzig Jahren gewonnen haben, ist nicht blos diesem letzteren Umstände zuzuschreiben, sondern auch dem andern, eben so wichtigen, daß die Wissenschaften, Chemie, Physik, Statik, Hydraulik, Mechanik u. a. theils im eigenen Kreise sich bedeutend hoben, theils aber — und das war die Hauptsache ^- von ihrer transscenden¬ talen, rein theoretischen Höhe herabstiegen zur praktischen Anwendung. Dazu kamen nun noch die Alles durch und durch verändernde Er¬ findung vom Gebrauche des Dampfes durch Watt, die bedeutenden Maschinenverbcsserungen von Jacquard, die Erkenntniß von der hohen Wichtigkeit der Steinkohle, von der Berzelius sagte, sie allein sei die Civilisation." — Dies und tausend Anderes, was besonders durch die großen Chemiker Frankreichs, Monge, Verthollet, Fvundoy, Payen, Thenard, Dumas und wie sie alle heißen, so wie durch Berzelius, Liebig, Trommelsdorf, Mitscherlich u. a. in Deutsch¬ land und Alles endlich, waS durch die an Mitteln und Geist so reichen Chemiker und Mechaniker in England erfunden und entdeckt wurde, trug dazu bei, nicht allein der Industrie eine ganz neue Form und Gestaltung zu geben, sondern auch Keime einer ewig neuen Zukunft, voll der reichsten Hoffnungen, in sie hineinzulegen, indem durch diese Erfindungen die Industriellen selbst zur Wissenschaft her¬ angebracht wurden. Hier nun müssen wir aber uns über zwei Mißstände aussprechen, welche durch diesen neuen Zustand der Dinge unvermeidlich wurden und denen Heilmittel zu suchen eine große sociale Aufgabe unsrer Zeit geworden ist. Eine unausbleibliche Folge der unbedingten Gewerbefreiheit nämlich war natürlich der, daß der erste Beste, der etwas Geld hatte, nach einem Gewerbe, d. h. blos nach einem Patent dafür griff, und einen Laden errichtete, worin er blos die Pro- ducte von untergeordneten Arbeitern ausstellte, während er selbst sich zwar für einen vollkommnen Meister des Faches ausgab, oft aber es entweder ganz und gar nicht, oder höchstens auch nur stümper- und pfuscherhaft zu betreiben verstand. So ward denn natürlich auch das Publikum unaufhörlich das Schlachtopfer von unwissenden, mit Patent versehenen Charlatanen, ohne daß man, wie sonst, zu Zunftmeistern und Werkverständigen seine Zuflucht nehmen konnte. Die Gerichtshöfe aber kann man hier wegen der vielen, langwie¬ rigen und kostspieligen Förmlichkeiten, die eine Berufung vor sie herbeiführt, nicht dazu brauchen, das Unrecht wieder gut zu machen: im Gegentheil zieht ein ruhiger Bürger es vor, den Schaden, den ein solcher gewerblicher Diebstahl ihm zufügte, geduldig zu ertragen, da er, um die gerechte Bestrafung deö Diebes zu erlangen, mit einer Masse viel verdrießlicherer Sachen sich abgeben müßte. Dadurch aber wird dieses gewerbverderbende Gesinde! in seinem Unfuge nur noch mehr bestärkt. „Aber wenn Ihr nun alle Welt werdet betrogen haben,"—sagte Schreiber dieser Zeilen einmal zu einem solchen, als Verkäufer und Verfertiger industrieller Produkte etablirten Gauner, — „da wird ja Niemand mehr mit Euch etwas wollen zu thun haben, und alle Eure kostspielige Einrichtung wird Euch nichts mehr einbringen, da Ihr Eurer Kunden sämmtlich werdet verlustig worden sein?" — Dieser aber erwiederte uns ohne die geringste Aufregung: „Wenn ich werde alle Welt betrogen haben, dann säbelnd mein Schäfchen in'ö Trockne gebracht und was liegt mir dann an meinen Kunden? Zu meiner Einrichtung finde ich immer noch Käufer." DaS Tramigste ist, daß dieses Giftgeschwür immer weiter frißt, immer tiefer eitert und endlich Alles dcmoralisirm wird. Der Name eines „Industriellen" ist leider durch diesen Unfug schon gar sehr in der allgemeinen Achtung gesunken, weil er freilich nur allzu¬ oft gleich bedeutend ist mit dem eines „Industrie-Ritters," eines Gauners und Spitzbuben. Nur hierin liegt der Grund einer solchen Erscheinung, wie jene Petition, welche die Stadt Cöln im Anfange dieses Jahres um Wiederherstellung der Korporationen dem Könige überreichte. Ein Heilmittel gegen diesen Uebelstand darf aber ja nicht etwa in einer reactionairen Wiedereinführung ver Gewerke und Zünfte mit all ihren mittelalterlichen Satzungen bestehen. Denn, wenn wir gleich aus allen Kräften die ehrlichen Jndustriebesitzer dazu auffordern, eine Organisation der Arbeit vom Staate zu verlangen, welche es ihnen möglich macht, den Unwissenden, den Untüchtigen, den Unehrlichen aus ihren Reihen fern zu halten; so wollen wir darum keinesweges aus dem Auge verloren wissen, daß die Welt der Arbeit an¬ heimgefallen ist als Besitz: und die Beschränkungen der Zünfte vernichten die Freiheit der Arbeit, ihre Hauptgrundlage und das einzige treibende, umgestaltende Prineip. Wir schlagen aber den Gewerbtreibenden etwas Anderes vor, wozu sie greifen können, selbst ohne die Hülfe der Regierungen abzuwarten. Mögen sie, nach Art der Advocaten in Frankreich und andern Ländern, in eine Art des Disciplinar-Rathes zusammentreten, der, mit Leitung eines aus ihrer Mitte gewählten Syndicus, darauf zu achten habe, daß nur ehrliche und tüchtige Arbeiter, die ihre Befähigung durch ihre Wanderbücher oder sonst wie gehörig nachweisen, als zum Ge¬ werbe gehörig von ihnen anerkannt werden. Eine solche öffentliche Ausschließung der Unfähigen würde wenigstens den Vortheil haben, daß der größere Theil des Publikums diese Nichtanerkannten meiden und so diesen selbst nur wenig Spielraum für ihre Betrügereien aller Art bleiben würde. Ein Zweites, wovon zu sprechen hier der Ort ist, das ist die freilich schon oft besprochne und bestrittne Frage über die moralischen Nachtheile des Maschinenwesens, worauf der größte und bedeutendste Theil der heutigen Industrie beruht. Wir unsrerseits stimmen in diesem Punkte ganz alt l)r. Villermv überein; nur wollen daher auch nicht anstehen, seine Ideen hier wiederzugeben, um so mehr, da uns seine Darstellung die möglichst erschöpfende und entscheidende scheint. „Zunächst," sagt er, „ist der Gebrauch der Maschinen etwas, das über allem Streite steht. Selbst wenn große Uebel aus ihrer An¬ wendung hervorgingen, könnte man sie nicht abweisen. Ein Volk, das die neuen Entdeckungen in dem oder jenem Industriezweige nicht annähme, während seine Nachbarn rings herum es thäten, würde sich offenbar in einen untergeordneten Zustand versetzen. Es könnte nicht allein auf keinem fremden Markte mehr concurriren, sondern selbst sein eigener innerer Markt würde ihm nicht bleiben. Ein zahlreicher Schmuggelhandel würde an den Grenzen eingerichtet werden, sobald er gegen die hohen Schutzzölle einen bedeutenden Gewinn darböte, so daß die Fabrikanten des Landes dadurch, daß sie auf ihren alten Produktionsweisen beständen und nicht mit der Zeit fortschreiten wollten, bald genöthigt sein würden, ihre Arbeiten einzustellen." „Wir wollen unsere Leser zum Beleg für diese Meinung nur bitten, einen Blick auf Spanien und Portugal und die Verhältnisse dieser Länder zu den großen Fabriknationen, besonders zu Frankreich und England zu werfen." „Wenn die Arbeiter durch die Einführung der Maschinen auf einen geringern Arbeitslohn herabgekommen sind, so mögen sie beden¬ ken, daß sie ohne denselben vielleicht gar nichts zu thun hätten. Heutzutage müssen die Völker entweder aller Industrie entsagen oder aus der Bahn des Fortschrittes gehen. Um die Anwendung neuer industrieller Erfindungen und ihre Folgen für den Arbeitslohn zu verhindern, müßten alle civilisirten Nationen dahin übereinkommen, keine Maschinen mehr anzunehmen, wodurch die Arbeit vereinfacht würde. Diese Uebereinstimmung aber, selbst wenn sie möglich wäre, wie sie unmöglich ist, würde eben so widersinnig als nachtheilig in ihren Folgen sein." „Die Folgen der Maschinen sind, wenn man die ersten, nicht einmal allgemeinen Wirrnisse nur überstanden hat, auf die Länge eine größere Summe-von Arbeitslohn, die freilich auch unter eine verhältnißmäßige Anzahl von Arbeitern vertheilt wird ^). Alles *) Einen Beleg hiefür bietet die Spitzenfabrikation in England, die vor Geschrei, alle Klagen, die man gegen die Anwendung neuer Maschv nen erhebt, haben also keinen Gehalt und können zu Nichts führen. Denn der Gang der Industrie ist heutiger Zeit eine Nothwendigkeit geworden, die höher steht, als die Macht irgend einer Negierung." „Ein zweiter, beträchtlicher Vortheil der Maschinen ist, daß sie den Menschen einer Menge der schwersten und geistig abstumpfcndsten Arbeiten entheben. Sie thun Alles, wozu es keiner Beimischung von Intelligenz bedarf, Alles, was durch ein einförmiges, sich stets gleich bleibendes Verfahren geschieht. Das ist ein Fortschritt, der wohl in Anschlag gebracht zu werden verdient. Der Mensch erhebt sich und steigt um eine Stufe höher zu seiner Bestimmung und das jedes Mal, so oft er rein mechanischer Verrichtungen entbunden wird. In den ältesten Zeiten spannte man Sclaven an die Müh¬ len, um das Korn zu zermalmen: nachher kam man darauf, die Mühlgänge von Pferden oder Ochsen treiben zu lassen; jetzt endlich hat man auch die Thiere durch die lebendige und doch todte Kraft der Maschine ersetzt. Dabei können nun die Civilisation und die menschliche Würde nur gewinnen." „So weit die guten Seiten der Einführung der Maschinen z da¬ neben aber steht eine andere, noch bedeutender Verbesserungen fähige und bedürftige, und das ist die moralische Seite. Wir wollen auch diese kurz berühren." „Ein industrielles Etablissement kann jetzt nur mit Hülfe be¬ deutender Geldmittel errichtet werden. Dies hat aber eine dreifache nachtheilige Folge. Zunächst nämlich wird der Uebergang vom Ge¬ hülfen, Gesellen, Arbeiter zum Stande eines freien Meisters von Tage zu Tage seltner. Sodann sind durch den Einfluß des Gelves die Häupter der Industrie vornehme Herren geworden, oft genug schon von Geburt aus gewesen: dadurch haben denn jene wohlwol¬ lenden, fast familienartigen Beziehungen zwischen Meister und Ge¬ sellen aufgehört, wie sie zu großem Nutzen der Moralität der arbei¬ tenden Klassen früher bestanden, da noch der Meister an einem Tische mit seinem sämmtlichen Arbeitspersonale speiste und unter einem Dache, wo möglich, mit ihnen schlief. Endlich wird hier- Ersindung des Wcrkstuhls nur etwa 2VVV Personen beschäftigte während sie , A. d. Aerf. jetzt 20VVV0 Arbeitern Brod giebt. 21 durch die so schätzenswerthe, so heilbringende Vereinigung der indu¬ striellen Beschäftigung mit Ackerbau und ländlichen Arbeiten von Tag zu Tag minder möglich. Die sonst so bedeutende Anzahl jener Klasse Landbewohner, welche neben ein oder zwei Morgen Landes, die sie bebauten, noch einen Webestuhl oder ein fleißiges Spinnrad im Gange hatten, nimmt immer mehr ab. Diese friedliche, ordnungs¬ liebende, arbeitsame, sparende Klasse der Bevölkerung ist durch die Gewalt der Dinge immer mehr nach den Mittelpunkten industrieller Thätigkeit hin zusammengedrängt worden; sie hat sich gezwungen gesehen, aus freien, unabhängigen Landbewohnern zu Stadtbewoh¬ nern, zu Arbeitern in großen Werkstätten sich umzugestalten und bei dieser Umwandlung hat sie leider auch ihre alten Tugenden gegen Laster Vertauscht, die aus ihrer neuen Lage hervorgingen." „Endlich ist auch die Entwicklung der mechanischen Kräfte die Haupwrsache der Handelskrisen, welche mit einer periodischen Regel¬ mäßigkeit in unserer-Zeit wiederkehren und leider immer häusiger zu wer¬ den drohen. Die Maschinen treiben die Industrie zu einer maßlosen Production, indem sie die Concurrenz noch mehr begünstigen, so daß die Schranken der Vorsicht gar schnell überschritten werden. Dann häufen sie in den Magazinen Massen von Waaren an, die trotz der niedrigsten Preise keinen Absatz finden können, weil es an Consu- nienten fehlt, so daß als natürliche Folge hiervon eine Arbeits-, also auch Brotlosigkeit von Tausenden von Arbeitern aus teil nie¬ drigen Volksklassen eintritt, nachdem man diese eine Zeitlang vorher zu einer übermäßigen, geistig entkräftenden Arbeit angespannt hat. Denn was hat ein Arbeiter, der mit fünfzehn Jahren an einen Webestuhl gesetzt worden ist, nach vielleicht vierzigjähriger Arbeit gelernt? Etwa zwei oder drei automatenartige Bewegungen, die ihn zu jeder anderen Beschäftigung fast untauglich machen, während sie ihm, so bald seine Fabrik still steht, kein Brod geben können." So weit Villerneo. ' Das Alles ist freilich sehr betrübsam; aber wo will man auch hienieden eine Institution finden, die nicht neben ihrer guten auch ihre schlimme, neben ihrer Licht- auch ihre Schattenseite hätte? Wenn es keine reichen Fabrikherrn gäbe, so gäbe eS darum nicht weniger elende Arbeiter; doch nein, wir täuschen uns, es gäbe ihrer zwar weniger, aber warum? weil sie Hungers sterben müßten aus Mangel an Arbeit. Es bleibt also nur noch die Erwägung der Frage übrig, worauf übrigens die Antwort nicht zweifelhaft sein kann: Ist Nichtsein besser als eine, wenn auch schwierige, doch durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht erhaltene Eristenz, besonders, wenn diese Hoffnung auch die Wahrscheinlichkeit für sich hat? Denn ein Tag wird kommen, wo die Erzeugung des Reichthums dergestalt ergiebig und gut organisirt sein wird, daß ein Jeder nicht allein das Nothwendige, sondern auch das Ueberflüssige besitzen wird. Dieses Wunder wird bewirkt werden durch die Vereinigung der Wissenschaft und der Industrie in der Person erfinderischer Köpfe. Denn der Grund, weshalb heutigen Tages so viele Fabrikanten des europäischen Festlandes sich rui- niren, liegt darin, daß sie Alles, was nur in irgend einem Punkte ihre ursprüngliche Industrie berührt, umfassen wollen. Das ist, um nur ein Beispiel anzuführen, die Geschichte des großen Etablissements von Cockerill in Seraing. Der Eisenfabrikant will Steiiüohlengrubm haben, er will nur sein eigenes Metall bearbeiten, er will sich die Maschinen selbst bauen, er will Kalk fabriciren, Ziegel brennen, will Tuch, Baumwollenwaaren, Papier, Porzellan, kurz alles Mögliche anfertigen, unter dem Vorwande, daß er alle diese Gegenstände für sich und seine Arbeiter bedarf. Die Engländer allein haben eingesehen, daß man die verschie¬ denen Industrien von einander abspalten müsse, weil eine einzige schon hinreicht, um einem geschickten Fabrikherrn hinlängliche Uebung seiner geistigen Fähigkeit zu verschaffen. Sie haben begriffen, daß diese unersättliche Gier, die nach allen Gewerbszweigen zugleich greift, zuletzt aus Mangel an den erforderlichen, übermenschlichen Kräften zu einer todbringenden Ueberfüllung, UnVerdaulichkeit und daraus hervorgehenden Kraftlosigkeit führen muß. Warum aber auch Eng¬ lands Fabrikwesen hart daniederliegt, das ist theils zu bekannt und würde theils uns zu weit abführen, als daß wir es hier erörtern sollten, da es uns nur um einige allgemeine Andeutungen zu thun ist. Der Kampf der Menschen mit der Materie wird schnell sein Ende erreicht, er wird sie bald bezwungen und seinen Bedürfnissen unterworfen haben, wie er schon so viele Gegenstände sich angeeig¬ net hat, sobald nur erst die Regierungen werden allgemeiner begrif¬ fen haben, wie es eine Forderung der Gerechtigkeit ist, daß sie das geistige Eigenthum gleich dem Grund- und Geldbesitz unter ihren Schutz und Schirm nehmen. Wir glauben und bekennen uns frei zu diesem Glauben, daß dasjenige Land, das zuerst in seinen Ge¬ setzen dem in Maschinen zur Materie gewordenen Gedanken gleiche Rechte mit dem in Druckwerken veröffentlichten Gedanken verleihen und das den Erfindern dieselben Begünstigungen, wie den Schrift¬ stellern angedeihen lassen wird, — dieses Land, glauben wir, wird unstreitig in kurzer Zeit einen sicherern Sieg, als Waffen erfechten können, über alle Nachbarstaaten davontragen. Wenn ein ErsindungSpatent als ein werthvolles, sicheres Be- sitzthum sich zeigen wird, dann werden eine Menge genialer Men¬ schen sich auf die Carriere werfen, in der noch so viele Cntdck- kungen zu machen sind, in die Carriere der praktischen Naturwissen- schaft. Die Kapitalisten werden alsdann nicht mehr anstehen, Geld für dergleichen Privilegien herzuschießen, sobald ihre Dauer ihnen hinreichend dünken wird, um sie später für die Opfer zu entschädi¬ gen, welche erste Versuche stets erfordern; dagegen haben sie jetzi vollkommen Recht, wenn sie auf Brevets für fünf, zehn, fünfzehn Jahre Nichts wagen wollen, da diese ein wahrer Spott sind, indem man fast für jede neue Entdeckung so viel Zeit braucht, um ihr nur eine Bahn in's Publikum zu brechen, so daß der eigentliche Nutzen der Erfindungen selten oder fast nie den Urhebern derselben zukommt, sondern meist denen, welche mit frischen Mitteln auf die Bahn tre¬ ten, nachdem der Erfinder die groben Steine des Anstoßes daraus hinweggeräumt und dabei seine Kräfte in jeder Beziehung erschöpft hat. Der beste Beweis sür die Nichtigkeit meiner Ansicht ist mir, daß der berühmte Gelehrte und Deputate Arago, der früher die völlige Aufhebung der Patente verlangte, weil sie eine Schranke und Hemmung für die freie Entwicklung der Industrie seien, das Irrige dieser Ansichten eingesehen hat und von ihnen gänzlich zurück¬ gekommen ist; ein Verdienst, das Schreiber dieser Zeilen zum Theil seinen Ansichten, die er diesem berühmten Manne auseinanderzusetzen die Gelegenheit hatte, beimessen darf. Mögen die folgenden Blatter, in denen er diese Ansichten näher entwickelt, das Glück haben, ir- gend einem einsichts- und einflußreichen Staatsmanne in die Hände zu fallen. Die Erfindung ist die Civilisation; der Erfinder ist der Schö¬ pfer aller Ideen- und Sachen-Combinationen, die Gott nicht gemacht hat; er ist der Fortsetzer des göttlichen Werkes, der Beförderer allen Fortschrittes. Der Erfinder ist der größte, gottähnlichfte Mensch der Welt; denn er macht ans Nichts Etwas, er giebt dem, was werth¬ los war, Werth und Preis, er verleiht todten Massen Bewegung und bringt Kraft selbst in die Schwäche hinein. Als Watt den Dampf in eine Röhre einzwängte, hat er Eng¬ land fünfzig Millionen Arme verliehen, während ihm die Natur nicht halb so viel gegeben hatte. , Alles, was jenseits der todten Natur besteht, ist das Werk der Erfinder. Sie suchen und finden neue Verfahrungsweisen, vereinfa¬ chen das Getriebe der Maschinen, vermindern die Ermüdung des Arbeiters, kürzen die Entfernungen ab, erklären die Phänomene, verketten die Elemente mit einander und bringen sie, gelehrig und stark, in die Hände der Menschen. Die Erfinder sind das Haupt und die Seele einer Nation; ohne sie giebt es weder Fortschritt, noch Reichthum, noch Macht. Das Land, das am meisten erfinderische Köpfe besitzt, wird seine Nachbarn bald zu tributpflichtigen Vasallen machen. Man wird ihm seine Bücher, seine Gemälde, seine Farben, seine Stoffe abkaufen; man wird seine Gesetze, seine Einrichtungen, seine Methoden sich anzueignen suchen. Man wird von fernher kommen, um seine Denk¬ male, seine Werkstätten, seine Schulen zu besuchen; dies Alles sind eben so viel Erfindungen. Denn der allgemeine Geist eines Landes verfährt auf ähnliche und gleichartige Weise, mag es null gelten, eine Konstitution oder ein Gedicht anzuordnen, ein Gemälde oder einen Werkstuhl zu schaffen; wenn ein Genie Räder und Kämme in einander greifen läßt, so combiniren andere Verse und Reime, Linien und Farben. Ein Volk, das Nichts combinirt, Nichts erfunden hat, bleibt ein wildes, bis ein Erfinder aus ihm auftaucht. Eine Idee ist das Eigenthum dessen, der sie zuerst besitzt; sie gehört ihm, wenn auch schon blos nach dein natürlichen Rechts- grundsatz des nrinms oceujums. Er ist Meister und Herr derselben, von ihm hängt es ab, ob er sie veröffentlichen oder geheim halten und die Gesellschaft ihrer berauben will. Sie gehört ihm und das mit mehr Recht, als Feld oder Wald demjenigen, der es geerbt hat. Denn hätte der Erbe das Feld oder den Wald nicht, so würde ein Anderer sie genießen, der Besitzer hat sich sein Besitzthum nicht ge¬ schaffen: der Erfinder aber hat seine Idee selbst gezeugt. Eine jede Erfindung ist eine Vermehrung des Reichthums der Gesellschaft; sie ist eben so viel als die Urbarmachung einer Haide, als die Austrocknung eines Morastes, alö die Entdeckung einer Mine; sie ist eben so viel als die Dichtung eines Buches, als die Composition einer Oper, als die Zeichnung eines großen Gemäldes. Allen diesen Werken ausdauernder Arbeit oder des Genies verleiht die Gesellschaft das Recht eines ewigen oder lebenslänglichen Be¬ sitzes, — daß auch dies noch leider! nicht überall geschieht, kann kein Argument gegen uns sein — der Dampfmaschine, dem Filztuche und anderen gemeinnützigen Erfindungen aber macht man dies Recht streitig. Wie falsch, wie einseitig! Oder höchstens bewilligt man ihnen, und das auf eine kostspielige Weise, auf wenige Jahre ein unsicheres, mißliches, trügerisches Scheinrecht von Eigenthum. Wahrlich, das ist allzu offenbares Unrecht. Es giebt Leute, die so leicht und obenhin urtheilen, daß sie ein Patent wie ein Monopol ansehen und ihm gleichstellen, weil man beide mit demselben Namen deö Privilegiums bezeichnet; aber ein Patent ist weder ein Monopol, noch eine Gunst, noch eine Beloh¬ nung, sondern es ist ein Recht, heiliger als das Erbrecht. Der constituirenden Nationalversammlung von Frankreich wird gewiß Niemand den Vorwurf machen, sie sei eine Freundin der Privilegien gewesen: denn sie hat bekanntlich alle abgeschafft; und doch besagt sie ausdrücklich: „Alle Privilegien sind abgeschafft, mit Ausnahme derjenigen, welche den Erfindern und Einbringern u. f. w. bewilligt werden sollen." Denn jede Erfindung oder Einbringung einer solchen bildet einen Zusatz zu dem gesellschaftlichen Grundver¬ mögen, da durch sie Arbeiter Beschäftigung finden, rohe Stoffe nutzbar gemacht werden, Handel und Industrie eine neue Lebensader erhalten, fremde Capitalien in'ö Land gezogen oder wenigstens die Ausfuhr der inländischen, bezweckend die Einbringung anderwärts sabricirter Producte, verhindert wird. Das Bureau der Patente sollte nur wie eine GcburtSliste der Erfindungen betrachtet werden; die Annahme eines Brevcts ist nichts andres als die Feststellung eines gewissen Datums, und das dürste nicht mehr kosten, als die Eintragung eines neugeborenen Kindes in die Staatsbürgerlisten. Die Erfinder und Einbringer, welche ihre Industrie unter den Schutz stellen, den ihnen die Landesgesetze bieten, haben also ein Recht auf die Beschützung und Ermuthigung einer jeden Negierung, die ihre Interessen und die ihres Volkes und Landes richtig versteht: sie ihrer Rechte zu berauben, wäre eine Ungerechtigkeit. Je kleiner ein Land ist, desto mehr muß es die Erfinder durch Erleichterungen an sich locken, damit sie darein willigen, es mit ihren Industrien zu beschenken. Wenn sie aber daselbst von Seiten der Negierung nur ein abschreckendes, feindseliges Verfahren finden, ziehen nicht allein die Fremden sich zurück, sondern selbst die Ein¬ heimischen verlegen ihre Gewerbthätigkeit dahin, wo man ihnen eine wohlwollende, freundliche Aufnahme angedeihen läßt. Denn, man muß es wohl eingestehen, nur die von Haus aus glücklichen, von Geburt reichen Leute haben eine Heimath; wir übrigen, die geistig oder leiblich unser Brod verdienen müssen, sind Kosmopoliten; denn ni'i denk, ii»i pickriit. Es ist eine durch die Geschichte klar erwiesene Sache, daß die Erfindungen von selbst gar nicht oder nur sehr spät kommen; jede Verzögerung aber, sei sie von einem Jahr, einem Monat, oder einem Tage, ist ein unersetzlicher Verlust. Der Grund von all dem, was wir bisher sagten, wird denen vollkommen einleuchten, welche aus eigener Erfahrung wissen, daß, ehe man eine Fabrik, irgend welcher Art es auch sei, begründet, man Reisen machen, Arbeiter aus der Fremde einführen oder hei¬ mische unterrichten, die Oeffentlichkeit bezahlen, seine Producte den Leuten annehmbar machen und ihnen Eingang in'S Publikum bah¬ nen muß und daß oft, ehe man dies Alles erlangt hat, das Brevct erloschen ist. Eine Entdeckung ist ein heiliges Eigenthum. Sie setzt eine lange, sehr lange auf sie verwandte Zeit und oft beträchtliche Kosten voraus; die Regierung muß also dem Erfinder als Bürge dienen, daß ihn: sein Kostenaufwand ersetzt werde. Die Wahrheiten kommen nicht Plötzlich; sie springen nicht wie Minervcn geharnischt und von Kopf bis auf den Fuß gewaffnet aus Jupiter's Haupt. Durch einen Mangel an Bürgschaft die freien Nachsuchungen im Bereiche der Industrie hemmen, heißt der Denkfreiheit einen Zü¬ gel anlegen, und wo keine Denkfreiheit ist, giebt es nur Unwissen¬ heit und Knechtschaft. Colbert, der berühmte Minister Ludwig's XIV., zog die Er¬ finder ins Land, richtete ihnen selbst Etablissements ein, lieferte ihnen Geld, um sie zu führen, und bewilligte ihnen oft, selbst wenn sie nur Nachahmer fremder Erfindungen waren, Privilegien von fünfzehn bis zwanzig Jahren; so z.B. handelte er, um die Venetiani- schen Spiegelgläser und das Sächsische Porzellan in Frankreich ein¬ heimisch zu machen. Der Erfolg hat seine Maßregeln gerechtfertigt. Eine wichtige Bemerkung scheint uns die, daß diejenigen Län¬ der, wo Industrie und Civilisation am meisten Fortschritte gemacht haben, zugleich auch diejenigen sind, in welchen frühzeitig das gesetz¬ liche Eigenthumsrecht des Gedankens anerkannt wurde. Ein Blick auf die folgenden sprechenden Zahlen wird das beweisen. England gab sein Gesetz über die Patente 1623; Frankreich und die Nordameri¬ kanischen Freistaaten 1790; Preußen und Nußland 1812; Baiern, Würtemberg. die Niederlande 1817; Oesterreich und Italien 182V; Spanien, Portugal und Neapel noch später. In der Türkei, in Persien, in Indien, wo es keine derartigen Gesetze giebt, giebt es auch keine Entdeckungen, ausgenommen etwa ein Farben- oder Firniß-Geheimntß, oder ähnliche Sachen, die man leicht geheim halten kann. In diesen Ländern stehen die Dinge noch ganz auf demselben Fuße, auf dem sie in Europa im Mittel¬ alter standen, in jener Zeit der Alchymisten und Wahrsager und Sterndeuter, der Zauberer und Zigeuner, welche die Länder durchzo¬ gen und ihre Arzneimittel, ihre Wundertränke, ihre Universalheil¬ mittel verkauften und alle Welt, vom Bauer bis zum Fürsten, be¬ trogen. Das war die gute Zeit für den Stein der Weisen, für die Verwandlung der Metalle, für Amulete und dergleichen mehr. So fern wir aber auch dieser Zelt stehen, so leicht ist es, uns Wieder dahin zurückzuführen, wenn man die Gesetze, welche tels Recht des Schriftstellers und Dichters auf sein Werk, das Recht des Ma¬ lers gegenüber dem Kupferstecher, das Recht deS Bildhauers gegen¬ über dem Gypsabdruck, und die Rechte für den Erfinder und sein Patent feststellen, entweder zu geben unterläßt, oder gar die gegebenen aufheben will. Alsdann wird eS wieder werden, wie es schon ein¬ mal war; wenn zufällig irgend eine bedeutende Entdeckung gemacht wird, so wird man sie geheim halten und da sie nicht in den Archiven des Staats einregistrirt sein werden, so werden sie gar oft mit dem Erfinder aussterben und der Nachwelt verloren gehen. So haben wir das Geheimniß des Purpurs, des Neapolitanischen Gelb, des häm¬ merbaren Glases, des griechischen Feuers, der Glasmalerei und tau¬ send andere verloren, von denen nicht einmal der Name bis auf unsere Zeiten gelangt ist. Viele Personen haben sich dahin geäußert, es sei wünschens¬ wert!), daß die Regierungen die Erfindungen an sich kaufen und den Erfinder des gemeinen Nutzens halber für das ihnen genommene Ei¬ genthum entschädigen sollten. Das hieße aber Mißbräuchen und Klagen Thür und Thor öffnen; denn keine Regierung, keine Commission vermag den Werth oder die Wichtigkeit einer Erfindung zu beurthei¬ len, ehe sie mit Allem, was schon eristirt, oder erst später vielleicht eristiren wird, combinirt worden ist. Welche Belohnung hätte man z. B. demjenigen gegeben, der auf den Einfall geriet!), Tischlerleim mit Svrup zu mischen und daraus Walzen für die Druckerei zu ma¬ chen? Gewiß eine höchst unbedeutende. Nun, und doch hat diese Erfindung zu der Entdeckung der ununterbrochen arbeitenden cylin- drischen Pressen geführt, welche der Civilisation durch die ungeheure Anzahl Abdrücke, die man auf ihnen in kurzer Zeit erhalten kann, vielleicht mehr Dienste leisten, als die Erfindung der Buchdruckerkunst selbst, oder doch jedenfalls dieser erst den höchsten Grad ihrer Brauch¬ barkeit verliehen haben. Was die Einbringung neuer Erfindungen aus fremden Landen betrifft, so ist die nicht einmal überall gültige, günstigste Stellung, die man ihr anweist, diejenige, wodurch sie mit der Erfindung selbst auf gleichen Fuß gesetzt wird. Wir aber sind der Meinung, daß die Einbringungspatente von den Regierungen noch mehr begünstigt werden müssen, als die Erfindungen, und daß man dieselben vor- zugöweise in's Land ziehen, nicht sie von sich weisen solle. Denn man verlangt ja Einführungspatente nur für Dinge, die schon anderweitig erprobt und als nützlich erkannt worden sind. In Anbetreff der Resultate sind ja übrigens Erfinden oder Ein¬ führen völlig gleich. Mag man nun einen Fels mit heimischer Erde oder mit aus der Fremde gebrachter befruchten, das Land zieht im¬ mer gleichen Vortheil und Gewinn aus der Sache, denn es ist am Ende immer eine Vergrößerung des gesellschaftlichen Grundvermögens. Man wendet gemeinhin noch ein, daß ein Einführungspatent nur ein Preis für ein Wettrennen ist. Zugegeben; aber ist nicht Alles hienieden der Preis der Thätigkeit? War nicht Amerika auch nur der Preis des Wettrennens? Wer aber wollte Wettrennen, er¬ wartete ihn nicht am Ende der Bahn eine Belohnung? I?tM8 littorum p-llma. I. A. Jobard, Director des Museums für Industrie zu Brüssel. Skizzen aus dem Cölner Dombaufest. Junges Deutschland. — Maas Cöln! — Die französische Revolution und ihre Folgen. — Die Redacteure der Rheinischen und der Cölnischen Zeitung.— Das jüdische Frühstück. — Kunstausstellung. — Lißt. — Zwei Italiene¬ rinnen. — Die Illumination. — Dombaufeier, Gerümpel, Schutt, — das will sagen Notizen, Aphorismen, Einfälle, wie ich sie gestoßen, getreten, halb betäubt, halb aufgeregt im Gedränge gefunden habe — das ist Alles, was ich ihnen senden kann. Verlangen Sie keine Beschreibung, kein plastisches, fertiges Bild von einem Feste, das ja an und für sich nicht zur Erinnerung ein etwas Fertiges, Abgethanes veranstaltet uA gefeiert worden. Das Ganze, was in diesen Tagen hier vor¬ ging und vorgeht, ist ja eben nichts, als eine lyrische Aufregung, ein Anzünden, ein Aufflammen und der gekrönte Redner, der so trefflich stylisirte Worte vor dem Aufheben des Hammers sprach, hat dies sehr wohl hervorgehoben. Das alte Cöln soll ein junges Deutschland gebaren; aber kein junges Deutschland aus den drei¬ ßiger Jahren, das mit dem Kops gegen die Wand läuft; ein junges Deutschland der vierziger Jahre d. h. ein solches, welches das Alter erreicht hat, wo selbst die Schwaben klug werden. Es ist immer vortheilhafter, wenn ein König sich an die Spitze der Bewegung stellt, als wenn ein gemeiner Schriftsteller dies thut: solche Hammer¬ schlüge kann der Bundestag nicht in die Acht erklären. Alaaf Cöln! Den ganzen Tag über, während ich die Straßen der Rhein.stadt durchstreifte, klangen mir die Worte in den Ohren: „Meine Herren von Cöln! Es begiebt sich Großes unter Ihnen." Die Straßen sind hier so krumm, als wären es lauter Fragezeichen. In der That, wenn man die engen, dunkeln Gassen der alten bischöf¬ lichen Stadt durchzieht, so glaubt man eher, daß sie der Ver¬ gangenheit als der Zukunft angehören. Erst draußen am Rhein- damm liest man in den grünen Fluthen des Stromes die ganze Mission ihrer kommenden Tage. Ja die Geschichte ist göttlichen Ursprunges, und mit goldenen Fäden knüpft sie das Verflossene an das Werdende. Die französische Episode dieser Stadt ist heil¬ bringend für ganz Deutschland geworden: die neue Herrschaft muß die Zeiten der alten zu überbieten suchen. Darum wird Rheinpreußcn mit glänzenderen Gaben beschenkt, als alle übrigen Provinzen dessel¬ ben Staates. Aber darf ein kluger Vater eins seiner Kinder auf Kosten der andern bevorzugen? Gewiß nicht; und darin liegt die Zukunft Preußens, daß alle seine Provinzen allmälig dieselben Rechte erlangen müssen, die man Benjamin, dem Lieblingskind, in dessen Kornsack man den goldenen Becher gefunden, zugestanden hat. Und mit Preußen rückt Deutschland vor. Wer will noch läugnen, daß die französische Revolution auch sür Deutschland wohlthätig ge¬ wesen? Indem ich die großen Rheinschiffe und die hundert kleinen Nachen sah, welche ihre Waarenballen geschäftig bei Seite schafften, um Platz zu der glänzenden Illumination zu machen, welche diese Nacht den Weg des Königs erhellen sollte, da sah ich zugleich die Zukunft der großen deutschen Handelswege vor mir geöffnet. Die Rheinlands nöthigen früher, als alle andern, zur Eroberung deutscher Häfen, zur Eroberung eines deutschen Meeres, zur direkten Verbindung mit überseeischen Colonien und so ist es doch wahr, „meine Herren von Cöln! Es begtebt sich Großes unter Ihnen!" — Herkömmlicher Weise ging ich, das Handwerk zu begrüßen: vor Allem nach dem Bureau der Rheinischen Zeitung, das meines Erachtens zu den ersten Merkwürdigkeiten Cölns zählt. Die Rhei¬ nische Zeitung kann für die deutsche Presse das werden, was der Kölnische Hasen für den deutschen Handel werden muß: die Presse und der Rheinstrom müssen frei werden, ^us^u'-t I», mer. Die Zusagen, welche auf dem Wiener Congresse der deutschen Nation gemacht worden, müssen ihre wahre Erfüllung erhalten, nicht bis an's Meer, sondern bis in'S Meer muß die Strömung des denk- schen Rheines und des deutschen Geistes sich ergießen können, un¬ begrenzt, unbeengt, die Welt in freier Bewegung umfassend. Soll das Fest dieser Tage nicht ein falsches, lügenhaftes, undeutscheö sein, so müssen die Wünsche der Nation in Erfüllung gebracht werden und ganz Deutschland muß die Worte des königlichen Redners im Echo wiederholen können: „Meine Herren von Cöln! Es hat sich Großes unter Ihnen begeben!" Ich traf auf dem Redactionsbureau der Rheinischen keinen der Redacteure zu Hause: die liberalen Herren waren an diesem Tage wahrscheinlich liberal gegen sich selbst und durchstreiften die Straßen und raubten den Fremden das Bischen Platz, das zwischen den engen Häusern noch zum Gehen übrig blieb. Erst später stellte man mir im Gedränge einen der Redacteure vor, eine lange, hagere Gestalt, mit blassem Gesichte und schlotternder, unentschiedener Haltung, die eher einem Universitätsfuchs ähnlich sieht. Insoweit erschien er mir als vollständiger Gegensatz des Redacteurs und Besitzers der Eölni- schen Zeitung, H.Dumont-Schaumberg, eines großen, kräftigen Mannes, mit offenen, gutmüthigen Zügen, bestimmt in seinen Worten und Bewegungen, wie Jemand, der seiner Sache gewiß ist. In der That, die Cölnische Zeitung, mit ihren achttausend Abomienren, in ihrer wohlgenährten Behaglichkeit, mit dem ächt rheinländischen Principe „Leben und leben lassen," wie sollte sie nicht röthere Wan¬ gen haben, als ihre jüngere, zukunftschwangere, philosophirende, stets aufgeregte Schwester. Die Politik der Kölnischen Zeitung ist (von praktischem Gesichtspunkte aus betrachtet,) eine sehr kluge; indem sie in den preußischen Fragen meist das Interesse der Regierung vertritt, sucht sie den Vorwurf deS JlliberalismuS dadurch von sich abzuwenden, daß sie in nicht-preußischen Angelegenheiten sich gerne zum Organe der Opposition macht; so z. B. nimmt sie über die badischen Kammerverhandlungen viele Artikel aus der liberalen Mannheimer Abendzeitung; die nicht unbedeutenden Berichte aus Würtemberg sind gleichfalls in diesem Sinne geschrieben u. s. w. ' Sind die Straßen Cölns eng, so waren die Gasthöfe dies Mal noch enger. Ich mußte mit einem glücklicher Weise mageren Engländer und einem jungen jüdischen Arzte ein und dasselbe Zimmer theilen und wohl dem, der noch so glücklich weg kam, als ich. Viele Personen schliefen auf den Schiffen und in den Reise- wagen und zahlten diese improvisirten Schlafstätten theurer, als wir im Mainzer Hofe. Dingelstedt und der Maler Becker, die mit vieler Noch in einem Privathause sich einlogirt hatten, zahlten zehn Thaler für eine Nacht. Sie werden aus dieser Notiz leicht ent- räthseln, wer der Korrespondent der Augsb. Allg. Zeitung ist, der die Cölnische Gastfreundschaft so grausam an den Pranger stellte. Was mich mehr, als daS unbequeme Nachtlager gönnte, das waren eben meine beiden Zimmergefährten, die ich des Morgens nicht von meiner Seite bringen konnte. Der Engländer, dem ich mich unglücklicherweise in seiner Sprache verständlich machen konnte, — in Mitte der mannigfach poetischen Aufregung aller dieser Fest- zuge, Chorgesänge, schöner Frauengesichter, berühmter Persönlichkeiten, geputzter Häuser und Läden, verlangte er statistische Notizen über Fabriken, Eisenwaaren, Cölnisch-Wasser, Schifferlvhn und Gott weil?, was Alles noch seine lederne Seele interessirte. Der israelitische Arzt andrerseits übergoß mich mit einem Redestrom, dem ich das jusg'ii, I» mer gleichfalls gegönnt hätte: er gab mir über Alles Notizen, worüber ich keine verlangte; und während mein Gefährte zur Rechten mich bis auf's Blut anzapfte, füllte mich mein Gefährte zur Linken bis über die Kehle an. Hätte ich mich aus ihrer Mitte reißen können, so würde der Auskunftsbedürftige und Mittheilungs¬ überströmende gegenseitig jeder an den rechten Mann gekommen sein; aber zu meinem Unglück verstand der Eine nicht deutsch, der Andre nicht englisch und so mußte ich die Rolle des internationalen Vermittlers weiter spielen. Uebrigens machte mich mein israelitischer Begleiter auf manchen Zug aufmerksam, der mir sonst wahrschein¬ lich .entgangen wäre. Wie alle seine Glaubensgenossen jeden Luft¬ zug der Zeit rascher und feiner fühlen, eben weil ihre Haut von den Vorurtheilen der Gesellschaft wund gerieben ist, machte er mich darauf aufmerksam, daß in der ganzen Rede des Königs die Religion bei Seite blieb; er war ganz entzückt über die Worte: „dies ist kein gewöhnlicher Prachtbau, er ist das Werk des Bruder¬ sinns aller Deutschen aller Bekenntnisse." In der That ist eS wunderbar, daß in einer Rede, die bei der Grundsteinlegung einer Kirche gehalten wird, das Wort Christenthum gar nicht vorkommt. Mein Begleiter demonstrirte mir die Ursache dadurch, daß viele Juden zu dem Dombau gesteuert haben und der Cölnische Dombau- verein sogar ein israelitisches Mitglied in Herrn Oppenheim zähle. Ob dies derselbe jüdische Banquier ist, in dessen Hause der König nach Beendigung der Grundsteinfeierlichkeit gefrühstückt hat, ist mir unbekannt; aber Eins möcht' ich wissen: ist der Leipziger Meßkatalog wirklich ein Lügner? Ein protestantischer König weiht eine katho¬ lische Kirche, um gleich darauf sich als Gast an den Tisch eines Juden zu setzen: wie ist es nun möglich, daß Hunderte von Streit¬ schriften den mittelalterlichen Confessivnskrieg in einer solchen Zeit fortsetzen? Wo ist die Wahrheit? In der Aussöhnung oder im Krieg? — Als ich des Abends nach der Zeitung griff, in welcher die Rede des Königs abgedruckt war, fand ich in derselben Nummer einen Bericht aus Berlin, der folgenvermaßen lautet: „Wie man hört, ist dem Commandeur deö ersten Garde-Regi-- neues von Seiten höheren Orts der Befehl zugegangen, künftig ohne Unterschied des christlichen Glaubensbekenntnisses Offiziere uns Soldaten dem Regimente einzuverleiben; bisher waren Katholiken:e. ausgeschlossen." — Ist es möglich? So spät besinnt man sich? Während man auf der einen Seite so weit vorwärts gerückt ist, kann man auf der andern so weit im Nachtrabe sein? Wäre es mir mehr um einzelne Studien, als um einen Total- eindruck zu thun gewesen, so wäre ich schon um der Kunstausstellung willen längere Zeit hier geblieben. Viel Schönes, einzelnes Gro߬ artige, namentlich das große historische Bild von Gallait, die Ab¬ dankung Karl'sV., welche Conception, welcheFarbenpracht! Philipp!!. und Wilhelm der Schweigsame sind da noch Jünglinge: Philipp kniet mit gefalteten Händen, um den Segen deS bleichen, lebensmü¬ den Kaisers zu erhalten, der mit der einen Hand auf seinen Pagen, Wilhelm von Oranien, sich stützt. In dem Blicke, mit welchem letzterer auf den knieenden Philipp herabschaut, liegt die ganze Ge¬ schichte der kommenden Jahre ausgedrückt. Eine wunderbare Figur, der Beichtvater Karl'S, steht in der Nähe und in der Art, wie er der Scene zuschaut, erräth man gleich, welchen Einfluß er auf die Handlungsweise des alten Kaisers übte und wer dies Ereigniß her¬ beigeführt hat. Um diese Hauptgruppen reihen sich nun zahlreiche, treffliche Figuren, Priester, Hofleute und in ihrer Mitte die alte bleiche Schwester Karl'S, die langbewährte, weise Regentin der Niederlande. Ich will keine Abhandlung schreiben, aber dieses Ge- malte gäbe Stoff zu einer solchen: Poesie und Technik reichen ein¬ ander die Hand, um dieses Meisterstück zu krönen. Der Schöpfer desselben ist sechs und zwanzig Jahre alt. Ein anderer junger bel¬ gischer Maler, den ich auf der Ausstellung persönlich kennen lernte, hatte ein nicht minder bedeutendes historisches Bild im Saale aus¬ gestellt, der Compromiß deö Edlen. Herr Debiefve, so heißt der Maler, hat für dieses Bild von seiner Regierung 30,000 Fr. er¬ halten. Bon Cölner Malern zogen mich einige Genrebilder lebhast an, namentlich ein allerliebstes Bild von Kervel: Venetianische Fischer; treffliche Farben, geistreich gruppirt: leider haben alle diese einhei¬ mischen Genrebilder einen gefährlichen Nebenbuhler erhalten durch das aus Antwerpen angelangte Bild von Dekeyser: Rubens im Kreise seiner Familie vorstellend, gerade beschäftigt, das bhr-ühmte Bild, der Stroh Hut, zu malen. Welch' ein Reiz schwebt über dieser kleinen Welt! Rubens tritt gerade von der Staffele! herab, gegenüber sitzt die liebliche Jungfrau Lunden mit ihrem koketten Strohhütchen auf dem wunderbaren Köpfchen: die Freunde und Haus¬ genossen des Meisters stehen bewundernd umher: unter ihnen Helene Frommens Rubens, die hübsche Gattin in zweiter Ehe, im Hinter¬ grunde steht sein Schüler Jordanns, der verstohlen nach der jungen Frau hinschielt und es erklärlich macht, warum der große Maler auf diesen Jünger eifersüchtig gewesen ist. Das Keyser'sche Bild ist Eigenthum eines hiesigen Privatmannes geworden. Der Glückliche! Das fröhliche Fest hat viel fröhliches, lustiges Volk von allen Seiten herbeigeführt: Schriftsteller, Poeten, Maler und Musiker. Lißt erschien als veus ex irmcl»!»-». Außer seiner Kunst auf dem Claviere, worin es ihm keiner gleich thut, besitzt er die vielleicht noch größere, sich interessant und. wichtig zu machen. Es ist ein musikalischer Diplomat, ein politischer Klavierspieler. Er trug hier nebst seinem neuen Orden nour 1» in«rito noch das Band als Ehrenmitglied des Dombauvereins. Wie ich bestimmt hörte, wird er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt werden; dann möchte ich ihn aber ein Mal in vollem Costüme sehen, mit dem ungarischen Ehrensäbel an der Seite, Brust und Hals mit den Jnsignien als !u>inne lie i»ormiui6 öde. Da verschwindet das Wort mit dem Tag, wie das Blatt, nachdem es seine» Dienst gethan, zerrissen oder zur Emballage wird: „Hast Du den Artikel von gelesen?" — Ich war unpäßlich, abwesend, beschäftigt und las seit einigen Tagen kein Journal. — Du mußt den Artikel lese», er ist witzig. — Aber wo ihn bekommen? Laufet den Wellen nach, um sie einzuholen. Und wie viele Journale, die in der einen Gegend Deutschlands erscheinen, werden in der an¬ dern nicht gehalten, und vollends belletristische, kritische Journale. Wie Viele, die solche keines Blickes würdigen. Erst im Buche spricht der Schrift¬ steller zur ganzen Nation. — Was auch die hartnäckigsten Gegner Gustow's gegen ihn vorbringen mögen; immerhin werden sie eingestehen, daß die Nation nicht gleichgültig an einem ihrer anregendsten Geister vorübergehen darf; nicht daß sie zu seiner Fahne schwören soll, aber seine Farben soll und muß sie kennen, um im Kampfe der Zeit zu wissen,, wo und zu wem sie steht. Ich bin weit entfernt, den Lobredner dieser gesammelten Schriften Gutzkow's zu machen. Ohnstreitig ist in diesem Buche viel Unwahres, Leidenschaftliches, Einseitiges, Gewaltsames, aber überall ist es eine kräftige, schneidende Hand, die in die Dinge greift und ihren Antheil, wenn auch oft blutig, herausnimmt. Das ist das Kräftige an Gutzkow, daß seine Aussprüche nicht gleichgültig las¬ sen, daß sie immer eine warme Zustimmung oder eine heiße Opposition hervor¬ rufen; aufregen wird er immer und seine falschesten Urtheile haben die Wir¬ kung eines Tuschbadcs, dessen Tropfen kalt und stechend auf den Kopf fallen, aber eine Reaction hervorbringen, die stärkend und gesund ist. Und wie viel Wahres, Treffliches, Glänzendes steht da neben den» Leidenschaftlichen und Gewaltsamen. Die Gutzkowsche Kritik hat nicht das objective, ruhige Elem.ent, welches die Dinge von allen Seiten betrachtet und die ganze Peripherie des¬ selben überschaut; sein Auge richtet sich gewöhnlich nach einem Punkte hin — aber es ist das Auge eines Adlers, der Stellen sieht, die jedem Andern umsieht. bar geblieben; auf solche stürzt er los und saßt sie mit gewaltigen Fingern auf und trägt seine Beute fort, entweder um rettungslos sie zu zerfleischen oder um zu seiner Höhe sie emporzutragcn und auf seinem Schilde sie emporzuheben. Gutzkow, der Kritiker, ist ein Selbstherrscher im guten, wie im bösen Sinne; voll Muth, Kraft, Genie, Eroberungslust, nur seinem eigenen Willen folgend, darum oft vereinzelt, häusig bewundert, stets gefürchtet. So ist er immer gewesen und so tritt ex aus dein vorliegenden Buche von Neuem uns entgegen, 23 Eine Kritik des Buches zu geben, kommt uns nicht in den Sinn, weil man nie Kritiken über Kritiken schreiben muß. Worüber wir ein Beifallsgeschrei erheben möchten, das werden Andere verdammen, was wir tadeln würden, erregt bei Anderen vielleicht Enthusiasmus. Wir bewahren uns unsere Kritik für den Dramatiker Gutzkow, von dessen gesammelten Dramen der erste Band gleich¬ falls vor uns liegt. ' ', ' . 7 2. Die Prejwcrhciltuissc in Mcklcnbm'g - Schwerin. Meklenburg hat einen Schritt rückwärts gethan. Es ist Schade, daß sich sein bisher schwach geäußertes Streben nach Schritthalten mit, seinen Nach¬ barstaaten so wenig bewähren kann. In dem Zustande eines scheinbaren äu¬ ßeren Weiterstrebens und materieller Cultivirung praktischer Verhältnisse bleibt seine interne Schwungfeder matt und kraftlos, wie sie immer gewesen. Ge¬ wöhnliche Interessen, die sich meist nur im Bereich' der Oekonomie äußern, sind allein fähig, den Meklenburger wenigstens zu begeistern. Aber was ist das für ein Geist? der aus der niedern Zone der Habsucht und Gcwinnes- wuth; der Krämergeist, der, angekettet an den unbehauenen Pfahl seiner Un- gebildetheit, ohne Streben nach äußerlicher Gewandtheit und einem glänzen¬ deren Standpunkt, um Pfennige seinen Kram verhandelt, oder sich auf den Ladentisch wirst und, mit beiden Fäusten im Gesicht, in allen Ecken und Kanten seiner umgekehrten Speculationskammcr nachkramt, wo er einen Lappen finde, den er für einen Seidenflickcn verhandeln könnte. An dieser compakten Spekulationsmateric laborirt nun leider, angesteckt, auch die Blüthe der ganzen modernen Welt. Interesse am Reellen schiebt den immer weiter poussirenden Trieb einer Charaktcrvevedclung, oder wenigstens Verfeinerung der Gewerbsreagcnzien mehr und mehr in den Hintergrund einer vermeintlich zu großen Idealität; nur was da ist, in seiner Allgemeinsaßlich- keit, ist werthvoll; die Idee, vor ihrer Verkörperung schon manchmal die Mutter des Glücks, ist verketzert. — Was soll nun aber in diesem zierdchas- scnden Austand unsrer künstigen Welt die Literatur, doch ihre Zierde, für einen Standpunkt gewinnen? — Sie trägt Fesseln und blüht; man peitscht sie, und sie legt sich wie ein treuer Hund nieder zu den Füßen des schlagenden. Die Literatur ist verkannt und eingesperrt, leider. Sie strebt nach Vervoll¬ kommnung, nach der möglichsten Unübcrtrefflichkeit, trotz dem, daß man sie nicht versteht, und den Narren für einen Poeten hält; sie sang eine Zeit lang ihre Ketten verherrlichenden Lieder, aber sie sah, daß diese dadurch nicht weicher wurden. Jetzt merkt sie, man müsse den Ring zu dehnen suchen, und wie's scheint, soll es ihr gelingen, sie hat sich aufgerafft, sie sängt an, ihre intel- lectuellen Muskeln schwellen zu machen, und diese Muskeln sind — die Poesie. Diese sonst so milde, so süße Pflcglingin der schreitenden Zeit, fängt an, ein witziges Weib zu werden, operirt mit ihrer glitzernden Busennadel in der Frei¬ heit fordernden Ader des Geistes das hemmende Geschwür des ihr feindlichen Staatshaushalts und fragt dabei naiv thuend, was Staaten und Könige seien. Ich glaube sogar, die Poesie hat es unternommen, ihrem Körper Literatur einige Fesseln zu sprengen, oder loszubitten. Gott gebe, daß es ihr gelinge. Wie müssen sich aber zwei Extreme in nachbarlichen Staaten ncvenein- anderfügen, welche in ihrem Fortschreiten und gegenseitigen Bestehen fast einen Schritt zu behaupten pflegen, oder vielmehr: deren kleinerer, nämlich Meklen- burg, sich meist in allen seinen Organisationen nach dem Vorbilde des größe¬ ren, Preußens, richtet ! Während man in dem Letzteren für die Emancipation der Presse handelt, — denn dafür darf man seine Schritte halten — bindet Meklenburg seinem Bischen Literatur einen Stein um den Hals und ersäuft es schon in seiner Kindheit. Ist gleich in Meklenburg Literatur ein Unding, oder ein unbekanntes Subjekt, so ist es doch nur Literatur allein, die von ihm zu erzählen weiß, während die Diplomatie dies Land fast nur wie einen tief unten am Ostseestrande hausenden Pygmäen betrachtet. Und dieser Erzählerin hängt man einen Stein um den Hals ! vielleicht, wett sie erzählt hat oder gar erst erzählen will. Es publicirte unterm 29. April d. I. die mcklcnburg-schwcrinische Negie¬ rung folgende Censurverordnung. Wir Friedrich Franz :c. de. Finden Uns bewogen, in Grundlage der über die Handhabung der Censur be¬ stehenden bundesgesetzlichcn Bestimmungen und im weiteren Verfolg der Patent- Verordnung vom 27. October 1819, hiermit festzustellen: daß kein der Censur unterworfenes Buch von einem inländischen Buch¬ händler, als Verleger oder als Commissionär des Autors, oder von dem Autor selbst, ohne moorige Genehmigung Unsrer Regierung, im hiesigen Großherzogthum dcbitirt oder vertheilt werden darf, daß es mithin in- ländischen Buchhändlern oder Autoren nicht gestattet sein soll, Scrip- turen in einem andern Bundesstaat censiren und drucken, sodann aber im Inlande debitiren zu lassen, ohne zuvor zu diesem Debit die Con¬ cession der Llegi«rung «rhalten zu haben. Auf diejenigen Metrischen Werke, welche Seitens inländischer Buchhändler auf dem Wege des Buchhandels von auswärtigen Buchhändlern bezogen wer¬ den, findet diese Verordnung keine Anwendung. Wonach man sich zu richten. Friedrich Franz. Ich will hier die hauptsächlichsten Progresse der meklenburgischen Literatur, zugleich auch die hemmenden der Censurverwaltung im Lande der Reihe nach in der Kürze durchgehen, wie sie in Raabe's systematisch-chronologischen Ver- zeichnisi aller meklenburg'-Schwerin'sehen Gesetze und Verordnungen aufgeführt stehen; sie dürften wohl das beste Licht auf die literarischen Zustände dieses Landes werfen. Seite 126 sub 12 dieses Verzeichnisses steht unter der Rubrik „litera- rische Polizei" obenan: Censur publicistischer Schriften der Akademiever- wcmdtcn. Das heißt so viel, als: Verbot, auf der Akademie Rostock, der ein¬ zigen des Landes, historische in landcshohcitliche und lehnherrliche Rechte einschlagende Schriften ohne Einsicht und Bewilligung der Regierung drucken zu lassen. Ein Rescript, d. d. 30. März 1742, erlassen aus der Festung Dönitz vom Herzog Leopold.--Diesem zunächst steht die bundesbeschlußmäsngc Beschränkung der Preßfreiheit vom 27. October 1819, welche im Jahre 1825 aus unbestimmte Zeit für Meklenburg prolongirt ist. — 1823 ward bekannt gemacht, der Bundestag nehme nur Druckschriften aus den Staaten, wo deren Schriftsteller oder Verleger wohnen, durch den Gesandten dieses Staates an, und wolle keine Zueignung ohne vorher erbetene und erhaltene Erlaubnis,. — 1824. Alle zu ccnsirendcn Schriften müssen in llnplo bei der Regierung einge¬ reicht werden. Im Jahre 1835 wurde dies geschärft. — 1825. In Meklen¬ burg redigirte Zeitschriften politischer und andrer Art sollen von den Redactoren in einem Exemplar bei der Regierung eingereicht werden.---1832. An dem Rheinbaierschen Verein für freie Presse soll Niemand in Meklenburg Theil nehmen. — Um die Zeit indeß, da dies Gesetz erschien, kam in Schwerin eine Verei¬ nigung junger Leute, vorzüglich Gelehrter und Beamteter/ zu Stande, deren Zweck ein durchaus nicht demagogisches Streben war, sich nach Möglichkeit in loyaler Art einer Freiheit der Presse theilhaftig zu machen. Dies Da¬ tum führte die beiden Justiz-Kanzleien zu Schwerin und Güstrow an einander. Trotz den, freilich etwas weniger conservativen Bestrebungen dieses Vereins, als sie sonst in Meklenburg zu Hause sind, der sich durch- aus nicht zum Haupt, oder vielleicht auch nur einer Uebermacht im Kampf gegen niederschlagende Gesetze machen, sondern nur sein etwanigcs Resultat als ein unbedeutendes Scherflein zu dem von größeren Korporationen erstrebten Ganzen hinzutragen wollte, schritt die Schweriner Justizkanzlei zu ernstlichen, in der Wirklichkeit aber lächerlichen Untersuchungen dieses ihrer Meinung nach so gefährlichen revolutionairen Complotts und behandelte diese Sache, an und für sich von so geringer Bedeutung —da ihr überhaupt nicht die Kräfte werden konnten, als Widerstreberin des regierenden, gut sein sollenden Prin¬ cips dastehen zu können —als Criminalverbrechen. Sie verdammte nach gehal¬ tener hinlänglicher Untersuchung die meisten Mitglieder dieses Vereins und so¬ gar dessen Defensoren zu beträchtlicher Geldbuße und gesanglicher Haft. Der Justizkanzlei zu Güstrow hingegen gelang es, dies rigorose Verfahren der Schweriner mit sammt ihrem Urtheil zu cassiren; und sie trieb es dahin, daß die Justizkanzlei zu Schwerin neben der Ungiltigkeit ihres Urtheils sogar die Kosten des Verfahrens zu tragen hatte. — 183S. Der Druck der Schriften unter zwanzig Bogen erfordert vorherige Genehmigung. Dies ist eine Einschärfung des Bundesgesetzes und gilt auch von Journalen und heftweise erscheinenden Schriften. — In demselben Jahre hieß es.- Die Bundesversammlung habe den Beschluß gefaßt, über Verhandlungen deutscher Ständeversammlungen dürft nur aus den öffentlichen Blättern des betreffenden Staats geschöpft werden, und Jedermann solle die Quelle angeben, aus. welcher er seine Nachricht ge¬ nommen. Wonach man sich in Meklenburg auf's Genaueste verhält. —. In eben dem Jahre erfolgte ein Rescript, nach welchem sämmtliche Schriften des jungen Deutschlands, Mundt's, Gutzkow's, Laube's, Heine's, Wienbarg's bei Contravcntionsstrafc von 10 Thlr. preuß. Cour, aus dem Lande verjagt wa¬ ren. So wollte es der deutsche Bund. — Und, prot i>u Eben so gestattete 1836 die Großherzogliche Regierung den Mecklenburgern das Lesen der französischen Zeitungen, Moniteur, Journal av» vükats, Quoti- ,1'wurf, Omirisr srsncai» ceo. als passend für meklcnburgischen Geschmack, verbot ihnen aber den Oliarivari und ti>! v-»iieatnrs zu lesen, weil sie schäd¬ lich sind. Die Meklenburger aber bekümmern sich so wenig um ausländische, zumal fremd sprechende Literatur, wie Mehemed Ali um die Hannöversche Bcrfassungsfrage. In Meklenburg werden fast ausschließlich nur Hamburger Zeitungen gelesen, vorzugsweise der Korrespondent und die Reue Zeitung, welche letztere die Postämter Meklenburgs Befehl haben, nur unter einer Preiserhö¬ hung von 1 Thaler 16 Schillinge ihren inländischen Abonnenten zugehen zu lassen. Man will sie gerade nicht verbieten, jedoch soll dem Meklenburger das mit liberalen Tendenzen zubereitete Ragout theurer zu schmecken kommen. Der Korrespondent kann ungehindert die Grenze passiren; man hat auch gar kein Arg daraus, daß er unpartheii sah heißt. Nach dem erwähnten Befehl vom 29ten April dieses Jahres würde jeder in Meklenburg wohnende Schriftsteller, d. h. natürlich ein solcher, der in ihm das Heimathsrecht genießt, wenn er sein Werk in Leipzig oder Berlin drucken las¬ sen wollte, es vor allen Dingen der meklcnburgischen Censur unterwerfen, dann mit ihrem Imprimatur zur preußischen oder sächsischen schreiten; er hätte also eine doppelte Censur zu befahren, und was die Scylla verschont, läßt es die Charybdis passiren?> Wäre nicht gerade jetzt in Preußen ein geringerer Ccnsurzwang verheißen, so ließe sich jener strenge Schritt Meklenvurgs vielleicht sür ein zu voreiliges Hervortreten eines Actuars in den großen deutschen Censurgerichtssaal auslegen. Wofür ist er aber unter diesen Umstanden zu halten"! Meklenvurgs geographische Lage ist zu abgeschlossen von allen außerbundesstaatlichen Ländern, als daß es einem seiner wenigen Schriftsteller einfallen sollte, sich mit seinen geistigen Er¬ zeugnissen nach einem von diesen zu versteigen und sie dort zum Druck zu bringen; auch sind bisher fast gar keine Fälle im Lande vorgekommen, welche die meklenburgische Censurpolizei zu strengerer Wache veranlassen könnten. Warum erläßt sie also so strenge Maßregeln gegen eine Sache, die bisher hier nur eine geahnte, deren Erscheinensbcfürchtung stets noch so fern war? Will sich Meklenburg seinen Nachbarstaat Hannover zum Borbild nehmen, wo al¬ lerdings noch schärfere Preßgesetze obwalten? Die einzigen, neueren Erscheinungen, die auf Staatswesen, und zwar aus das eigene Bezug haben, sind einige Brochüren über den in Frage stehenden preu- snsch-meklenburgischcn Zollverein, und F. v. Maltzahn's Meklenburg in allgemeinen deutschen Beziehungen, eine unbedeutende Schrift, aber desto bedeutender mit pietistischer Abschweifungen und nicht hineingchörendcm Gesäure vollgepfropft) daß man den Wald vor faulen Bäumen nicht sieht, daß wenig vom Staat überhaupt und noch weniger von einem allgemeinen staat¬ lichen Bestehen darin zu lesen ist, was vielleicht das Auge der Censur genöthigt hätte, sich eine Brille aufzusetzen. (5rMnsr!Mgen und Mittheilungen »'in-s Äand- schaftsmalei's von B. C. .ÄoeWoek Kapitel i. Von Cleve nach Düsseldorf. Rathschläge an junge Maler über den Nutzen, sich Umrisse zu machen. ^Avr Emmerich bis Bonn bietet der Rhein wenig interessante Ansichten, die wor Cöln und Düsseldorf ausgenommen. Da ich, meiner Gewohnheit zufolge, einen Gegenstand zur Beschäftigung für mich suchte, so zeichnete ich ein oder daS andere zufällig an unserm Wege liegende Stück Dorf. Da aber dieser Stoff sich seltener bot und leicht erschöpft war, so fing ich an, meine Reisegefährten zu skizziren, die ganz in Betrachtung eines schönen Mädchens, einer *) Wir geben hier einige Auszüge aus einem trefflichen Buche, welches vor Kurzem unter dem Titel: „Herinneringen en Mcdcdeilingen van neuem Landschcip-Schilder door B. C. Koekkoer" in Amsterdam erschienen ist. brauchen wohl unsern Lesern nicht erst zu sagen, welchen hohen Rang der Ver¬ fasser in dem Reiche der lebenden Künstler einnimmt. Diejenigen, welche we¬ der ein Bild von Kockkock noch seine Würdigung in dem großen Werke des Grafen Raczynski zu Gesicht bekamen, müssen wir auf das Conversationslcri- kon der Gegenwart verweisen. Wenn Holland stolz auf den Künstler Koekkoek ist und seine Bilder in gewisser Beziehung noch höher als die vieler alten be¬ rühmten Meister stellt, so rühmt der Reisende zugleich den Menschen und die Lesewelt den Schriftsteller. 24 wahre» Perle ihres Geschlechts, versunken waren, und von der ich selbst gern eine Erinnerung in meinem Album hätte aufbewahren mögen. Da wir nun gerade einmal von Umrissen sprechen, so will ich die Gelegenheit benutzen, um meinen Lesern einige besondere Bemer¬ kungen hierüber mitzutheilen. Ich habe einen Maler gekannt, der, obgleich sehr geübt im Zeichnen nach nacktem und drappirtem Modell und obgleich die Verhältnisse des menschlichen Körpers, die Verkür¬ zungen u. s. w. vollkommen gut kennend, dennoch unaufhörlich ein Skizzenbuch bei sich führte, in das er, wo er sich auch immer befand, leichte Umrisse von Menschen- und Thiergruppen in allen denkbaren Stellungen und Lagen einzeichnete, indem er dabei sorgfältig und mit gewissenhafter Genauigkeit die Farbe eines jeden Gegenstandes bemerkte. Zufällig besuchte ich eines Tages diesen Maler, gerade da er beschäftigt war, irgend eine Landschaft durch Hülfe von Stu¬ dien zusammenzustellen. Da bemerkte ich nun, mit welcher Leichtig¬ keit er seine Thiere und Menschen gruppirte, indem er seinem, offen auf der Staffelei vor ihm liegenden Skizzenbuche die Originale ent¬ lehnte. Ich war um so mehr darüber erstaunt, da ich viele andere Maler gesehen hatte, welche, trotz eines Dmchblätterns mehrerer Sammlungen von Zeichnungen, es doch nie so weit brachten, daß sie ihren Figuren auf der Leinwand Leben und Bewegung verleihen konnten, sondern diese stets ohne Wirkung und armselig heraus¬ brachten. Nachdem der in Rede stehende Künstler seine Gruppen in den Situationen, wo er sie anbringen wollte, oberflächlich geordnet hatte, zog er seine akademischen Zeichnungen zu Rathe, um sodann den Umrissen die letzte abschließende Verbesserung angedeihen zu lassen. Für naturwahre Farbe und Costüme seiner Figuren gerieth er selten in Verlegenheit, weil sein Album ihm hierüber die zuverlässigsten und abwechselndsten Angaben darbot. Ich hatte früher oft die Frage an mich gerichtet, ob dieser Maler mit seinen ewigen Umrissen nicht unnütz das Papier verschmiere, da er so gut zeichne und so gute akademische Studien besitze: jetzt aber erkannte ich den Nutzen dieses Skizzirens. > Die Dampfschiffe bieten die beste Gelegenheit dar, von allerhand Dingen und Gestalten flüchtige Zeichnungen aufzunehmen, da man in einer oder der andern Ecke stets ganz ungestört beobachten kann. Es ist min aber nicht blos eine der angenehmsten Zerstreuungen, Umrisse zu machen, sondern es bereichert sich auch die Einbildungs¬ kraft durch die Beobachtungen und man gewinnt dadurch die Ge¬ wohnheit, seinen Figuren natürliche, ungezwungene Stellungen zu geben, eine Gewohnheit, die man auf der Akademie mit dem be¬ sten Willen von der Welt nicht immer erlangen kann; denn die Modelle mißverstehen meist die Absicht dessen, dem sie sitzen, und bieten fast immer nur gezwungene, unnatürliche Attitüden dar. Kapitel II. Von Düsseldorf nach Limburg an der Lenne. Ausflug von dem Dorfe Mettmann nach der Ncanderhöhle. Beim Herauskommen aus dem Dorfe Mettmann führte uns ein Fußsteig durch weithin sich dehnende Kornfelder zu einem wal- digten Terrain. Wir folgten dem Wege, bald aber auch seiner Ein¬ ladung, die kühle, schattige Frische zu genießen; und auf ein schwel¬ lendes Mooslager am Fuße herrlicher Eichen und Buchen hinge¬ streckt, genossen wir in der friedlich schweigsamen Natur eine kurze Ruhe. Sodann ergriffen wir unsern Wanderstab wieder und traten in die Waldung ein. Bald schlug da das Gemurmel eines Wasser¬ falles an unser Ohr und ergriff unsere Seele: wir fühlten uns wie mit unwiderstehlicher Kraft nach dem Orte hingezogen, von wo das mit jedem Schritte wachsende Geräusch herkam. Nach und nach entdeckten wir durch einen, in den Rissen des Felsens schwebenden Vorhang grünen Gesträuchs hindurch einen silberblinkenden Schein. Es war dies einer der malerischsten Bäche, der seine krystallklaren Wellen in mehreren kleinen Wasserfällen in die Düssel ergoß. Wir folgten nun dem Laufe des Baches und gelangten zu einer Grotte, die schöner war, als irgend eine, selbst die glänzendste Einbildungskraft sie malen konnte. Wir befanden uns nun vor einem Wasserfall von etwa zwanzig Fuß Höhe, welchen der Bach bildete, den wir bei unserm Eintritt in die Grotte aus dem Auge verloren hatten. 24» Welches Glück habe ich an diesem reizenden Orte empfunden! Wie viele jener mächtigen Gefühle, die das Herz erheben, schwellten da meine Brust: Mein Auge netzte sich mit Thränen, meine Seele empfing Eindrücke, wie alle Erhabenheiten der Erde sie weder zu ver¬ wischen noch zu verleihen im Stande sind! Ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als in die bewunderungs¬ würdige Mannigfaltigkeit der heiligen und schönen Natur tief ein¬ dringen und sie mit Hülfe des Pinsels auf der Leinwand wiedergeben können. Mein ganzes Wesen glühte vor Begeisterung, und ich pries den Menschen glücklich, dessen Herz Sinn hat für die Schönheiten der Natur. . . . Wir setzten unsern Weg durch die Grotte fort und kamen zur Dussel. Erstaunt riefen wir alle aus: „Wie? Ist dies die Düffel, die sich bei Düsseldorf so prosaisch und kaum bemerkt in den ge¬ waltigen Rhein verliert?" Wir befanden uns am Ufer eines Flusses, der mit großem Ge¬ räusch zwischen den Felsen hindurchströmt und über den in wil¬ dester Unordnung Bäume aller Art sich hinneigen, die im Fels¬ gestein Wurzel gefaßt haben. Der Fußsteig, der sich hier in ein Labyrinth von Gesträuch und Steinen verliert, führte uns auf den Gipfel der Felsen, wo wir, ungewiß, welchen Weg wir einschla- gen sollten, vor einer zweiten Grotte, zweihundert Fuß über dem Flußbette stehen blieben. — Aber unsere Ungewißheit endete bald; denn der Weg führt nicht anderswohin, sondern gerade Hieher und schon die bloße Neugter zog uns an, diesen Weg weiter zu verfol¬ gen. Als wir nun aus diesem neuen Tunnel herauskamen, waren wir auf das Gewölbe der Grotte gelangt und genossen daselbst den Anblick einer der schönsten Landschaften, die Deutschland bietet. Zu unseren Füßen dehnte sich ein Thal hin voll Wunder. Das Murmeln des Baches und der Wasserfälle gelangte bis zu uns her¬ auf, unser Auge tauchte sich in malerische Massen von Bäumen und Dickicht, um den silberschäumenden Bach herauszufinden, der in tau¬ send Krümmungen durch neue Felsschluchten sich hindurchwindet, die bald steiler Nacktheit dastehen, bald mit Bäumen bedeckt sind; hinten eröffnete sich uns ein Horizont, dessen Schönheiten, besonders wenn die sanften Strahlen eines Sonnenunterganges sich an ihm brechen, unbeschreiblich sind. O, wenn ich doch im Stande wäre, vermittelst der menschlichen Sprache meinen irdischen Brüdern alle die Empfindungen mitzuthei¬ len, die bet Anschauung dieser poetischen Herrlichkeiten der allmäch¬ tigen Natur in mir wach wurden! Aber ich fühle es nur zu sehr, wie unmöglich ein solches Beginnen ist. Auf der Leinwand würde es mir vielleicht gelingen, einen schwachen Abglanz des Gemäldes hervorzubringen, das ich hier mit unzureichenden Worten in dürftigen Umrissen meinen Lesern vorzuführen gesucht. Jeder Maler sieht die Gegenstände in Bezug auf ihre Farbe auf eine ihm eigene Weise. Wenn vier Maler eine Reise außer ihrem Vaterlande unter¬ nehmen, behufs einer Vervollkommnung in ihrer Kunst, so ist es na¬ türlich, daß sie selbst in ihren Mußestunden sich noch mit dem Gegenstand ihrer Studien beschäftigen, daß sie ihre Meinungen und Ansichten hierüber austauschen, daß sie ohne leidenschaftliche Aufregung hier¬ über streiten, daß sie eine Menge wichtiger Fragen von allen Ge¬ sichtspunkten aus beleuchten, um zu einer gründlicheren, ausgedehn¬ teren Kenntniß ihrer Kunst zu gelangen. Ich glaube nichts Unnützes zu thun, wenn ich hier ein Fragment einer Unterhaltung über die verschiedenen Arten, wie die Maler die Gegenstände in Bezug auf ihre Farbe betrachten, mittheile. Herr manu. „Sieh einmal, Rudolph, diese blau-violett gefärbte ° Fernsicht." Rudolph. „Eine blau-violette Fernsicht, Du spaßest wohl! Man sagt, daß die Art und Weise, wie die Menschen eine Sache se¬ hen, eben so verschieden ist, als ihre Art, etwas zu beurthei¬ len. Und in der That kann es wohl auch nicht gut anders sein; denn Letzteres ist ja nur die Folge des Ersteren. Ich kann Dich versichern, Herrmann, daß ich nichts Violettes in dieser Fernsicht erblicke, dagegen bemerke ich, daß ein sehr denk-- lich ausgesprochener grün-blauer Ton darin herrscht." Herrmann. „Ist das möglichI Ein grün-blauer Ton, sagst Du? In Wahrheit, armer Junge, mir scheint, der Bleichart von gestern Abend spukt Dir noch im Kopfe und trübt Dein Auge." Rudolph. „Umgekehrt, lieber Freund, Du siehst Alles noch durch das Prisma des Bletchart, da Du seine violette Farbe auch in der Kernsicht zu erblicken glaubst: ich bin ganz nüchtern und mein Auge ist vollkommen klar." Karl. Mir scheint, daß die Fernsicht eine grau-bläuliche Färbung hat." Rudolph. „Und was denkst Du davon, Kamerad?" I es. „Mir scheint es, Du und Herrmann habt in so weit beide Recht, daß in der That die beiden von (Lues angegebenen Tin¬ ten sich zugleich in der Farbe dieser Fernsicht befinden; die Ur¬ sache Eures Auseinanoergehenö aber liegt in der Verschiedenheit Eurer Gefühle." „Herrmann läßt sich von der Purpur-Tinte, die sich in der Fern¬ sicht befindet, dermaßen beherrschen, daß ihm die grün-bläuliche Farbe, die darin die violette Tinte mäßigt, gänzlich entgeht." „Ein Jeder von Euch beiden zieht, vielleicht ohne es zu wissen, eine besondere Farbe allen andern vor, und so ist es ganz natürlich, daß er in dem Gegenstande, der uns jetzt beschäftigt, diese Farbe vorherrschend findet." „Karl dagegen bemerkt in dieser Fernsicht nur eine grau-bläu¬ liche Färbung, weil sein Auge noch nicht hinlänglich geübt ist, um die feinen Nüancen zu entdecken und zu unterscheiden, aus denen die Farbe dieser Fernsicht zusammengesetzt ist." „Wenn Ihr jetzt, jeder seinerseits, eine Skizze nach der Natur von dem in Rede stehenden Gegenstand entwürfet, so würden sich in deren Farben die Beweise für meine Behauptung finden." „Diese Verschiedenheit des Gefühls ist eine der Hauptursachen der Verschiedenheit in den Farbentönen, die man in jeden zwei Gemälden von verschiedenen Meistern wahrnehmen kann, wenn man sie neben einander stellt, ohne daß man dabei noch auf die Verschie¬ denheiten ihrer eigenthümlichen Art zu malen oder ihres Geschmacks Rücksicht zu nehmen braucht, die sie schon durch die Wahl ihrer Stoffe bekunden. Und dennoch können beide Gemälde gleich natur¬ wahr sein." Man erlaube mir nur noch die Bemerkung, daß wir die in Rede stehende Fernsicht am Mittag beobachtet hatten. Denn das weiß wohl Jedermann, daß die Farbe der Gegenstände je nach den verschiedenen Tagesstunden eine andere ist. Kapitel III. Von Limburg nach Remagen. C ö l n. Vom Rhein aus gesehen, bietet die Stadt Cöln wirklich einen imponirenden Anblick. Wie sind sie so majestätisch, diese Kirchen im byzantinischen Styl, deren malerische Thürme stolz auf die unregel¬ mäßige Masse von etwa achttausend Häusern hinabzuschauen schei¬ nen, die sich zu ihren Füßen in labyrinthischen Verwicklungen hin¬ dehnen. Und der Dom andrerseits, dieses unvollendete Meisterwerk germanischer Architektur, mit seinem riesenhaften Chor, betrachtet er nicht wie ein königlicher Greis, majestätisch und prachtvoll, sein wei¬ tes Gebiet, in dessen Mitte der hohe Se. Martinsthurm nur gleich einem großen Vasallen hervorragt! Ich habe die alte Colonia Agrippina schon oft gesehen; immer aber hat diese Stadt mit ihren ehrwürdigen Denkmalen einen unbe¬ schreiblichen Eindruck in meinem Gemüthe hinterlassen. Unwillkür¬ lich entrollten sich alsdann die Annalen einer großen historischen Vergangenheit vor den Augen meines Geistes. Ist nicht die ganze Geschichte des deutschen Reiches an diese alte Stadt geknüpft? Wa¬ ren nicht alle diese Gebäude Jahrhunderte lang die Zeugen der merkwürdigsten Ereignisse in Deutschlands Geschichte, und werden sie nicht noch lange bei den kommenden Geschlechtern Zeugniß ablegen von einer Größe und Bedeutung, welche die Stadt jetzt in anderer Art wieder zu erringen sucht?" Das Dampfschiff. Der Nachmittag war schön. — Die Reise von Cöln nach Bonn, obgleich sie durch höchst eintönige Landschaften führte, lang¬ weilte uns nicht. Das Dampfboot war dermaßen mit Reisenden und Waaren überfüllt, daß es unmöglich war, an einen Spaziergang auf dem Verdecke zu denken. Diese buntfarbige Menschenmenge, ei¬ nige Musikanten, die sich hören ließen, das Geräusch der Unterhal¬ tungen, die allgemeine Fröhlichkeit, gaben der Gesellschaft, — indem wir selbst für unsern Theil das Gehörige beitrugen — das Ausse¬ hen eines Maskenballes. Endlich fanden wir mit vieler Mühe einen Platz in Gesellschaft einiger Herren, die wir, ihrer Kleidung nach zu urtheilen, für Collegen hielten. Es ist eine Lehre, die wohl Jedermann aus seiner Erfahrung geschöpft hat, daß der Mensch auf Reisen, seien sie nun zu Lande oder zu Wasser, achtungsvoll und artig behandelt wird, wenn er ein Kleid nach der Mode trägt, während man unter dem Leinwandkittel, und wäre man ein Engel, selten etwas Besseres, als geringschätzige, verächtliche Aufnahme findet. So falsch und trügerisch nun auch dies Urtheil nach dem äußeren Scheine sehr häufig ist, so, hat es doch in so fern etwas für sich, als es in der That schwer ist, einen uns gänzlich fremden Menschen nach etwas Anderem, als seiner äu¬ ßern Erscheinung zu beurtheilen, und diese besteht denn doch nur in seiner Kleidung i denn nicht Jedermann ist ein Lavater, um nach der Physiognomie und den Gesichtszügen zu urtheilen. Wir hatten uns diesmal nicht geirrt: die Gesellschaft, zu der wir uns setzten, bestand nus Malern und Studenten, und nach dem alten Sprüchwort: „Gleich und gleich gesellt sich gern," tafelten wir denn auch bald mit einander an einem lustig mit Weinflaschen besetzten Tisch, der in einen dichten Schleier von Tabaksdampf eingehüllt war, aus dem unser Anstoßen der Gläser unter dem Rufe: „Ihr Wohlsein, meine Herrn" fröhlich herausklang. Den Gegenstand unserer Unterhaltung bildeten, wie man sich leicht denken kann, Kunst uno Wissenschaften. Hinter uns befand sich ein Herr in Gesellschaft einiger Damen, welche ehrenwerthe Person uns aber von Zeit zu Zeit Blicke zuwarf, die nichts weniger, als wohlwollend waren. Unsre geräuschvolle Heiterkeit schien ihn in einer wichtigen Erzählung zu stören, die er diesen Damen über seine Reise in Italien mittheilte. Zwei andre Herren, die ebenfalls an diesem Tische saßen, machten ihm hin und wieder Complimente über die elegante Art, mit der er das Italienische aus¬ sprach, da er sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, durch einige bei passenden Stellen in seine Rede eingeschobene italienische Worte mit seiner Kenntniß dieser Sprache zu prunken. Uns erschien nichts lächerlicher, als dieser Reisebericht: denn der Retsende, der überall, selbst in Rom, gewesen war — beiläufig bemerkt, er erklärte den Papst nicht gesehen zu haben — sprach nur von der italienischen Küche; so gab er unter andern die kleinsten Details über die Ma- caroni und ihre verschiedene Bereitungsart in den verschiedenen Städten Italiens. So gerieth er, als er von seiner Rückreise durch die Schweiz sprach, in eine lange, gelehrte Dissertation über den ächten Schweizerkäse. Eine junge, ebenfalls zur Gesellschaft gehörige Dame schien uns auch nicht das größte Interesse an den Küchen¬ berichten des Reisenden zu nehmen, sondern im Gegentheil ließ sie ihre schönen blauen Augen oft mit sichtbarer Theilnahme auf unsrem fröhlichen Kreise ruhen. Wir selbst beschäftigten uns auch ziemlich viel in Blicken mit ihr; denn sie war in der That sehr schön und es schien ihr durchaus alle Coquetterie und Anmaßung fern zu sein. Meinung deö Verfassers über die Art und Weise, ein Gemäld.e zu entwerfen und zu verfertigen. Unsre Unterhaltungen über Kunst gingen indessen, da die Studenten bei Brühl an'ö Land gestiegen und wir Maler allein geblieben waren, ihren Gang immer fort, und wir kamen zur Mit¬ theilung unsrer gegenseitigen, sehr verschiedenen Ansichten über die Art und Weise, ein Gemälde zu entwerfen, zu malen und zu been¬ digen; besonders rollte das Gespräch lange über die Frage, ob mau einen ersten Entwurf eines Stoffes machen solle, oder nicht. Nach¬ dem einer der deutschen Maler seine Meinung dahin ausgesprochen hatte, er halte einen Entwurf eines Gemäldes für eine unnütze Arbeit, bat er mich um meine Ansicht. Ich antwortete ihm folgendermaßen. Ich mache mir keine vorbereitende Zeichnung von dem Gegenstande oder von dem Stoffe, den ich behandeln will, weil ich finde, daß es unangenehm ist, ein und dieselbe Sache zwei Mal zu machen. — Ich begnüge mich damit, meinen Gedanken sofort auf die Leinewand hinzuwerfen- Nachdem ich zuerst meinen Entwurf hinlänglich skizzirt und gründlich durchdacht habe, besonders, was die Anordnung von Licht und Schatten betrifft, fange ich an ihn in breiten Zügen auszumalen und bemühe mich sofort, die Färbung, das Colorit hineinzubringen, das ich in dem Gemälde, wenn es fertig sein wird, zu sehen wünsche. Ich bestimme sofort die Wirkungen der Sonne, deS Lichts und des Schattens u. f. w. ohne mich auch im Geringsten bei den Details aufzuhalten. Auf diese Art finde ich in meiner Ebauche schon die allgemeine Idee, die ich in mir trug, ehe ich mein Gemälde anfing: ich bin im Stande, mir Rechenschaft zu geben von der Harmonie der Gegenstände, die ich zusammengestellt und der Farben, die ich ihnen verliehen, wobei ich zugleich noch den Vortheil habe, daß ich vor Beendigung meiner Arbeit alle möglichen Arten von Verbesse¬ rungen darin anbringen kann. Man kann freilich auf verschiedenen Wegen zu ein und dem¬ selben Ziele gelangen; aber warum soll man einen Umweg einschla¬ gen, wenn man geradeaus gehen kann? ES giebt Maler, die ihre Idee erst aufs Papier hinwerfen in einer rohen Skizze, nach der sie sodann eine ausführliche genaue Zeichnung sich machen, welche sogar die Blumen und Gräser enthält, die in ihrem zukünftigen Gemälde vorkommen sollen. Wenn man diese Arbeit vollendet hat, so überträgt man sie in sklavischer Nachahmung auf die Leinewand, indem man sie erst mit weißer und schwarzer Kreide abzeichnet und sich dann, um die Umrisse de¬ finitiv zu bestimmen, einer Art Rohrfeder und einer braunen Tusche bedient. Erst nach diesen langen Präliminarien greift man zur Palette. Man fängt den Himmel an mit starker Farbengebung und beendigt ihn mit einem Gusse, so daß alles Retouchiren un¬ möglich ist. Sodann geht man zur Fernsicht über, die man sorg¬ fältig beendigt, und so kommt ein Stück nach dem andern, bis der Vordergrund und mit ihm das ganze Gemälde fertig ist. Da es unmöglich ist, mit Wasser- oder Leim- oder Honig- Farben ein so kräftiges und treues Colorit zu erhalten, als vermittelst der Oelfarben, die sich zur Nachahmung der Natur am meisten eig¬ nen, so finde ich, daß man seinem Ziele sehr fern bleibt, wenn man durch eine mit Hülfe der ersten Farbenarten gemachte Zeichnung sich von der Wirkung/ die das Gemälde selbst hervorbringen wird, einen Begriff machen will. Selbst angenommen, daß in der vor- bereitenden Zeichnung die Gegenstände, Schatten und Lichter wohl angeordnet sind, so kann sie doch immer bei der Ausführung des Gemäldes nur als Leiter dienen. Wozu nun so viele Sorgfalt darauf verwenden? Reicht dann die Skizze nicht hin, um die erste Idee deö Malers darzustellen? Ich meiner Seits bin der Meinung, daß sie vollkommen auslangt, und daß man nach der Skizze eine gute Ebauche machen kann, die eine zufriedenstellende Anordnung von Licht, Schatten und Farben enthält. Ist man übrigens stets sicher, daß alle Partien einer Zeichnung gleich geschmackvoll gewählt sind? Kann eS nicht sehr leicht der Fall sein, daß der Maler, wenn er sich an die Staffelei setzt, von einer schöneren Idee inspirirt wird? Wenn dieser nicht so sehr seltene Fall eintritt, so giebt der Maler sicherlich seiner neuen Idee Gehör; sein Gemälde wird unter der Hand ein anderes und die detaillirte Zeichnung hat dann zu gar nichts genützt. Denn der wahre Künstler muß im Stande sein, sich von einer ersten Auffassung eines Gegenstandes loszusagen, da man sehr oft die Erfahrung macht, daß diese falsch, fehlerhaft ist. Drei Mal einen und denselben Gegenstand behandeln, ist etwas Geschmackloses. Geht ja doch leider das erste Feuer der künstlerischen Auffassung schon dadurch zum Theil verloren, daß man den Gegenstand der Prüfung der Vernunft und ihrer Regeln unterwirft. Nun kann man mir freilich von diesem Standpunkte aus den Einwurf machen: Wozu ist es alsdann gut, ein Gemälde zu c>bau- chiren? Darauf aber entgegne ich Folgendes: Jene Feinheit des Tones, jenes Durchschimmernde im Himmel, im Baumschlag, im Wasser, was gerade die Punkte sind, in denen das eigentliche Verdienst eines guten Landschaftsgemäldes liegt, kann man unmöglich erhalten, wenn man nicht zuvor eine gute Ebauche des Bildes gemacht hat. Denn man muß auf alle diese Gegenstände mehrere Male zurückkommen, wenn man ihnen jene Schönheit, jene Wahrscheinlichkeit verleihen will, wodurch sie ihren natürlichen Vor¬ bildern nahe treten. Umgekehrt kann man übrigens auch durch geschickte Pinselstriche, durch glänzende Lichtgebungen alle jene matten Stellen, die ein Gemälde etwa durch die Operation des Ebauchirens erhalten haben könnte, leicht beseitigen. Die schönen beweglichen Tinten, welche man durch die Ebauche hervorzubringen in den Stand gesetzt wird, und die einem Gemälde erst sein wahres Leben Verleihen, opfert man völlig, wenn man mit einem Pinselstriche malen will und die Durchsichtigkeit durch stark aufgetragene, klebrige Farben zu erreichen gedenkt. Die Umrisse werden dadurch hart, und das Gemälde selbst gewinnt ein undurch¬ sichtiges, schwerfälliges Aussehen, während es ihm an Natürlichkeit und Harmonie gänzlich sehlen wird. Nun nur noch einige Worte über die Art und Weise, die Details eines Gemäldes zu behandeln. Wenn man aus einem Gusse malen will, so ist nichts häufiger, als daß man sich zu sehr mit den Details des Hintergrundes aufhält. Das ist deßhalb so oft der Fall, weil man sich zu einer sklavischen Nachahmung seiner eigenen Zeichnung vermtheilt hat. Man erschöpft aus diese Art alle seine Hülfsmittel nur, um der Fernsicht alle möglichen Reize zu geben und ist aufs Trockene gerathen, ehe man zu Mittel- und Vordergrund des Gemäldes gekommen ist. Nun muß doch aber in einem Gemälde, — wohl bemerkt, wir sprechen nur von Landschaftsmalerei — der Vordergrund die kräf¬ tigste, hellste, am Meisten ins Einzelne eingehende Partie sein. Gewöhnlich — und, wie ich glaube, mit vollkommnem Recht, — weist man dem Gegenstand, auf den man die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz besonders lenken will, seinen Platz auf dem Ueber¬ gangspunkte aus dem Mittelgrund in den Vordergrund an, un¬ gefähr und zum wenigsten im Drittel der Breite des Gemäldes. Nun ist es von höchster Bedeutung, diesen Gegenstand durch seine Schönheit, durch eine anziehende Licht- und Schattengebung, durch den Ausdruck hervorzuheben, ohne daß man jedoch hierbei die unter¬ geordneten Gegenstände ganz aus dem Auge verliere. Die Fernsicht muß in ihrem Ton naturwahr sein, muß aber stets als bloßer Hin¬ tergrund betrachtet und auch als solcher behandelt werden, d. h. sie darf so wenig Details enthalten, als nur möglich. Man kann mit einem ersten Wurf geistreiche Skizzen hervor¬ bringen; aber es ist rein unmöglich, auf diese Art wahrhaft voll¬ endete Gemälde zu erhalten. Ankunft in Bonn. — Mondenschein. Herrmann hatte früher eine Zeit lang in Bonn sich aufgehal¬ ten; er war also von Gottes-und Rechtswegen unser Quartiermeister. Bald auch lagen wir an den Fenstern des Gasthauses „zum alten Keller," zu unsern Füßen rollte der Rhein, in der Ferne das wun¬ derherrliche Panorama des Siebengebira.es. Vergebens suchten uns einige andre im Saale befindliche Fremde in ihr Gespräch zu ziehen, das sich um die Tagespolitik drehte: was gingen uns in diesem Augenblicke die ephemeren, politischen Sorgen der Menschen an? Unsre Seele war ganz von dem herrlichen Schauspiele in Anspruch genommen, das sich vor unseren Augen hindehnte. Schöne Natur! Welcher Sterbliche kann es wagen, die eben so zahlreichen als mannigfachen Gemälde zu reproduciren, die Du seiner Beschauung darbietest! — Nachdem Du uns schon durch einen schonen Tag erfreutest, verdoppelst Du unsre Genüsse noch durch einen noch herrlicheren Abend. Kein Lüftchen regte sich in den Höhen, ausgenommen jener schwache Hauch, der ein steter Begleiter des Abends zu sein scheint. Der breite Spiegel des Rheins strahlte getreulich Alles wieder ab, was über ihm am gestirnten Himmel und an seinen Ufern auf der blühenden Erde stand. Ein graulicher, silberflockig übersäeter Strei¬ fen stellte nach fernhin den majestätischen Lauf des Stromes dar. Links befanden sich einige Nachen, die in malerischer Unordnung all's Ufer festgeankert waren. Ihre schwarze, kräftige Masse stach sowohl gegen den helleren Vordergrund, als gegen die unbestimmten Tinten der Fernsicht ab. Hinter und bei diesen Nachen erhoben sich die gebirgigen Ufer der rechten Rheinseite, die in leichte Nebelschleier gehüllt waren. Nach und nach klärt sich rechts der Himmel auf) die Gebäude dagegen, welche die Landschaft einrahmen, werden noch düsterer.... Der Mond erscheint und übergießt mit seinem Silberlichte dieses Schauspiel! Maler sein, diese Herrlichkeiten bewundern und doch seine Ohnmacht fühlen, sie jemals wiederzugeben! Denn welcher Pinsel vermöchte diese schwankenden, zarten Tinten hervorzubringen, die über der durch das Siebengebirge abgegrenzten Fernsicht aus¬ gegossen waren! Diese beweglichen Demantlichter, die auf den blauen Strom fallen, diese Wiederspiegelungen der Schatten, diese erglänzenden Strahlen, diese dunkeln Tiefen! Wer endlich vermag die Empfindungen wiederzugeben, mit welchen ein solches Schauspiel die Seele erfüllt, und wer ist je im Stande, es würdig auf die Leinewand zu werfen, um, was er empfunden, auch in der Seele des Beschauers hervorzurufen? Am andern Morgen wollte ich, als wir an unsrem Fenster Kaffee tranken, in mein Album eine Erinnerung an diese schöne Landschaft eintragen. Kaum hatte ich den Bleistift zur Hand ge¬ nommen, als alle meine Gefährten sich beeilten, meinem Beispiele zu folgen. In einem Augenblick saßen wir nun alle vier da, zeich¬ nend, croquirend, skizzirend, als hätte auf ein Mal ein Kunsthändler eine ganze Sammlung Rheinansichten bei uns bestellt. Während dessen fiel es Herrmann ein, sich folgendermaßen zu äußern: „Der Gegenstand, der uns augenblicklich beschäftigt, ist interes¬ santer durch den schonen Farbenton, der darin herrscht, als in Be¬ zug auf Zeichnung; kaum habe ich ihn mit einigen Strichen auf mein Album geworfen, so verliert er schon seinen Neiz: und doch hat diese Ansicht einen eigenthümlichen Neiz, so daß man wider Willen sich bewogen fühlt, nach Papier und Bleistift zu greifen." Darauf entgegnete ich ihm Folgendes: „Unmöglich kann ich wohl annehmen, lieber Freund, daß Du nur zeichnest, weil ich es thue. Denn das wäre gerade so dumm, als wolltest Du mir in Allem folgen, wie mein Schatten. Man mag wohl gut thun, den Rath eines Andern anzuhö¬ ren, aber man höre stets auch auf sein eigenes Gefühl. Hättest Du übrigens Deine Umrisse und Deine Linien getreu der Natur nachgezeichnet, so würde Dir Deine Skizze besser gefallen. Denn wenn Du nicht zum Bleistift gegriffen hast, eben nur um meinem Beispiele zu folgen, so muß sich nothwendig in der Land¬ schaft, die ihre Herrlichkeiten vor uns ausbreitet, ein oder der andre Gegenstand finden, der in Dir den Wunsch rege machte, ein Andenken davon in Deinem Album zu haben. Denn Alles, was wir hier sehen, ist natürlich: aber nicht Alles ist schön. Das Siebengebirge bildet den Hauptgegenstand dieser Landschaft: durch seine grandiosen und doch angenehmen Umrisse verleiht es derselben ihren ganzen Glanz. Man nehme sie heraus und die Landschaft will nichts mehr sagen. Und Du hast nun gerade die schönen Linien dieses Gebirges vernachlässigt, ohne zu bedenken, daß das Uebrige für die Bleistift¬ zeichnung keine Wichtigkeit hat. Indem Du so den einzigen Gegen- stand, der Deinen Skizzen einen Werth verleihen konnte, bei Seite gelassen hast, so kann Dir diese keinen weiteren Dienst leisten, als Dich daran erinnern, daß Du im Jahre 1840 in Bonn eine Zeich¬ nung gemacht hast. Die Landschaft selbst stellt sie nicht dar." Der Drachenfels. Wenn man den Rhein auch nur für einige Tage besucht, so vergesse man ja nicht, auf den Drachenfels zu steigen; denn man genießt vom Gipfel dieses Felsens aus, da er die umliegenden Höhen überragt, eine unvergleichliche Fernsicht. Kein Maler aber hoffe hier die Natur nachahmen zu wollen: schon ein bloßer Versuch wäre eine Thorheit. Man bewahre tief im Herzen den Eindruck dieses Anblickes, erfülle seine Seele ganz damit und so wird man lernen, selbst zu schaffen. An solchen Orten fühlt man recht die Große und die Liebe des Allerhöchsten und die Kleinheit und Undankbarkeit der Menschen. Kapitel IV. Von Remagen nach Ahrweiler. Begegnung mit deutschen Kunstbrüdern. ......Der Wein schien das zu Wege zu bringen, was alle Anstrengungen Herrmcmnö nicht vermocht hatten. Unsere deut¬ schen Collegen wurden gesprächiger und theilnehmender und erzählten uns, sie hätten einen großen Theil des Sommers damit verbracht, Ansichten der Ahr aufzunehmen und hätten jetzt eine Reise nach der Mosel vor. Bald rollte nun unsre Unterhaltung über allerhand Kunstinteressen und so kamen wir unter Anderen auch auf die Düsseldorfer Ausstellung. „Als Holländer, sagte einer der deutschen Maler, müssen die Herren doch wohl auch ihren Landsmann, den Landschaftsmaler „Koekkoek" kennen, der zwei Mal Gemälde nach Düsseldorf zur Aus¬ stellung geschickt hat." „Ich winkte unbemerkt meinen Reisegefährten mit den Augen und wir antworteten im Chorus: „El freilich." Der Deutsche. „Was mag wohl der Beweggrund sein, weß- halb dieser Maler sich in neuester Zeit davon enthält, uns Gemälde zu schenken? Hat er nicht Lorbeeren genug geerntet, als er 1836 eine Winterlandschaft in Düsseldorf ausstellte und hat nicht auch die Sommerlandschaft, die er im folgenden Jahre hinsandte, alle Stimmen für sich gehabt?" Ein Zweiter. „Das erste Gemälde hat wenigstens allgemein gefallen. Ueber das zweite hat man sich freilich zu schreiben erlaubt: Dieser Kuckuk singe seltsamer Weise den Winter besser, als im Sommer. Vielleicht haben diese Aeußerungen den Maler in üble Laune gegen uns versetzt." Der Erste. „Das kann ich doch kaum glauben." I es. „Ich bin vielmehr der Meinung, daß er nicht die Zeit hat, die ihm nothwendig wäre, um für jede Ausstellung ein bedeu¬ tendes Bild zu arbeiten; denn er hat bis über den Kopf mit bestellten Gemälden zu thun. Was die Kritik betrifft, so be¬ achtet er nur diejenige, die mit Sachkemitniß geschrieben ist, und das ist leider nur sehr selten der Fall; Artikel, in denen sich die Unwissenheit hinter einem Gewände spöttischer, geist¬ reich sein sollender Witzeleien verbirgt, läßt er gänzlich unbe¬ achtet. Denn die Kritik soll den Künstler belehren, nicht aber sich mit ihm necken oder ihn durch Persönlichkeiten verletzen." Rudolph. „Ach, die Herren Kritiker verfallen zuweilen in gar sonderbare Irrthümer. Und wie kann es auch anders sein? Die meisten von ihnen verstehen eigentlich von der Kunst wenig; sie lassen sich also in ihren Urtheilen von irgend einem unbeschäftigten, also verdienstlosen Maler, leiten, der ihnen als Cicerone durch die Säle einer Ausstellung dient, der aber aus neidischer Gehässigkeit die wenigsten Gemälde richtig würdigt." Ein deutscher College. „Sie sagen, Koekkoek sei mit Be¬ stellungen überhäuft; warum schickte er alsdann nicht diese be¬ stellten Gemälde vorher auf die Ausstellung?" Ich. „Die meisten Liebhaber wollen ihre Bilder nicht an öffent¬ lichen Orten figuriren sehen." Der Deutsche. „Wenn ich Koekkoek wäre, so wollte ich für keinen Kunstliebhaber ein Bild malen, der mir nicht die vollkommene Freiheit ließe, meine Gemälde auf eine Ausstellung zu senden." Ich. „Das Ware um so schwieriger durchzuführen, da nicht alle bestellten Gemälde für eine Ausstellung passen." Die Unterhaltung würde sich über diesen Stoff wohl noch in'S Weite gesponnen haben, hätte nicht unser junger Freund Karl Alles verdorben, indem er mich beim Namen rief. Kapitel V. Aufenthalt in Ahrweiler. Rathschläge an junge Maler über das Studium der Natur. Der Unterricht im eigentlichen Sinne des Wortes ist in der Kunst nur eine nothwendige Einleitung zum großen Werke. Was hilft dem Maler eine regelrechte Ausführung, eine tadelfreie Per¬ spektive, wenn das Gemälde selbst kalt und leblos ist? — — Es giebt in der Natur nicht zwei Gegenstände, die einander völlig gleichen, die Mannigfaltigkeit scheint die Grundlage der Schöpf¬ ung zu sein. Sodann nach der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kreaturen unter einander kommt ihre Verschiedenheit in Bezug auf sich selbst; für lebendige Wesen ist dies die Bewegung der Leiden¬ schaften und der Handlungen, für leblose Dinge sind dies die Ver¬ änderungen, welchen sie durch die Gewalt der äußeren Einflüsse, durch Licht und Wärme, durch Kälte, Regen, Wind und aus lau^ send andren Ursachen unterworfen sind. Sodann kommt die Ver¬ schiedenheit der Landschaften, der Gebirge, der Ströme, des Bodens, der Bäume und Pflanzen, sodann kommen die der Luft, des Lichts, des Hellen und Dunkeln, welche unerschöpfliche Quelle von Beobacht¬ ungen und Studien für einen Maler! — Wo will man den Naturforscher finden, der zu diesen zahllosen Abwechselungen den Schlüssel giebt? Der Mann der Wissenschaft vermag uns wohl das Brechen der Lichtstrahlen darzustellen; aber die Wirkungen, welche dadurch auf die Farben der Körper hervor¬ gebracht werden, muß der Maler selbst beobachten. 25 Studirt daher unaufhörlich die nimmer endende Mannigfaltig¬ keit der Natur; dadurch werdet Ihr Euren Geist mit einer Menge Schönheiten bereichern und werdet lernen, aus Euch selbst heraus zu schaffen, Ihr werdet durch und durch originell werden und alsdann werden Eure Gemälde gesucht sein. Ja, ich will Euch noch mehr sagen: selbst wenn Ihr in der Kunst auf einer minder hohen Stufe steht, werdet Ihr um Eurer Originalität halber höher geschähe werden, als die sklavischen Nachahmer irgend eines mehr oder min¬ der vollkommenen Meisters. Mögen die Unwissenden auf ihre von Fremden entlehnten Ideen noch so hohen Werth legen, sie, die kaum einen Blick auf die Natur werfen und aus Trägheit sich an die Werke Anderer halten, wobei sie sich in die darin befindlichen Schön¬ heiten dermaßen vergaffen, daß sie für ihre eigenen Werke sich dar¬ auf beschränken, diese zu Rathe zu ziehen: — nie können dergleichen Leute hoffen, Anspruch aus Originalität machen zu dürfen. Man verdient den Namen eines originellen Künstlers nur, wenn man selbst denkt und schafft. Weder das größte Meisterwerk, noch der geistreichste oder unternchtetste Mensch ist im Stande, eine befriedigende Idee von der Natur zu geben. Nur eigene, unablässige, aufmerksame Betrachtung derselben vermag ihre Große und Maje^ stät zu offenbaren. Man gehe in's Freie an einem schönen Morgen, wenn die Felder erglänzen von silberhellen Tinten, oder an einem goldigfär¬ benden Abend, an einem schönen Frühlings- oder Herbsttage. Man suche das große Schauspiel eines Sturmes, eines Gewitters auf, das im Entstehen oder im Aufhören begriffen ist. Oder auch man erforsche die zahlreichen Schönheiten eines Winters, indem man die Wirkungen des Lichtes, dieser Seele aller Dinge, dieses Quells aller Schönheit, studirt, und so wird man in seinem Geist einen Schatz schöner Gedanken anhäufen, denen man später auf der Leinwand Leben verleihen kann. Wir haben die Hinzufügung jeder Erläuterung zu den Stel¬ len, die wir hier übersetzt mittheilen, für unnütz gehalten. Wir waren der Meinung, Jedermann vermöge es zu würdigen, wie viel nützliche Belehrungen in diesen Aeußerungen eines ausgezeichneten Landschaftsmalers unserer Zeit enthalten seien, und wie sehr fie, richtig begriffen, geeignet wären, so manchen Künstler von der fal¬ schen, weitab vom Erfolge führenden Bahn zurückzubringen, die er zu seinem und der Kunst Nachtheil eingeschlagen. Jedermann weiß, daß Koekkvek ein naturforschender Landschafts¬ maler ist) hätten uns aber seine Gemälde nicht schon lange Mittel zu seiner gerechten Beurtheilung an die Hand gegeben, so würde sein Buch uns hinreichend beweisen, wie fern er jener reichen, aber kalten Nachahmung steht, der sich so viele ehrsame Mittelmäßigkeiten erge¬ ben haben. Irregeleitet, wie sie sind, glauben dieselben, der höchste Zweck der Kunst sei eine kleinliche Reproduction; denn man hat ihnen eingeredet, die Poesie und die Wahrheit seien einander feind¬ selig. Als ob die Natur je aufhören könnte, wahr zu sein, weil man eine geschmackvolle Auswahl aus dem macht, was sie bietet, oder weil man ihre erhabenen Schönheiten mit Begeisterung darzu¬ stellen versteht. 25» Wanderungen dnrch die Pariser Theater» l. In welche Straße von Paris soll ich den deutschen Leser führen, in der er nicht bekannt ist? Man kennt in der kleinsten Stadt Deutschlands die Faubourg Se. Germain, die Chaussee d'Artim, die Rue Richelieu, die Boulevards, das Palais Royal genauer und besser als die Linden und die Leipziger Straße in Berlin, den Jo¬ sephsplatz und die Jägerzeile in Wien und wie alle die unberühm¬ ter Straßen und Plätze unserer berühmten Hauptstädte heißen. Die Phantasie der Deutschen lebt im Auslande. Sie ist eine fürchterliche Ehebrecherin, die, im innigsten Umgange mit dem ihr angetrauten Gatten, ihre Gedanken anderswo erhitzt. Und vollends die Theater! Die Pariser Theater! Es fällt kein Oel- tropfen auf das Manuscript eines Pariser Souffleurkastens, es schwebt kein Geheimniß zwischen dem ersten Tänzer und der letzten Choristin in irgend einer Pariser Coulisse, ohne daß man in Deutschland durch Estafette die Nachricht erfährt. Es giebt wenigstens eine halbe Million Deutsche, die mehr von der Rachel als von der Rahel wissen, denen Talma besser bekannt ist, als Fürst Hardenberg, und die weit ge¬ nauer die ersten Komiker im Vaudeville-Theater, als die ersten Mi-- nister deS österreichischen Staatscabinets zu nennen wissen. Und nun erst die Stücke! Ein französischer Theaterdichter hat noch sein neues Stück nicht niedergeschrieben, nicht entworfen, so ist es schon in Deutschland von wenigstens drei Personen übersetzt. Indem ich Sie, verehrter Leser, einlade, mir auf einer kleinen Wanderung durch die Theater von Paris Gesellschaft zu leisten, will ich keineswegs Ihren Cicerone durch die großen, goldnen Säle des Theatre frainMs machen, durch die große Oper, durch das Vau- deville und die Opora-comique; ich will nicht die Rolle eines Lohn¬ bedienten spielen, der, einen Gelehrten durch die Straßen der Stadt führend, ihm erzäh/t, wer Karl der Große war, dessen Statue aus dem Marktplatze steht, zu welcher Zeit Gustav Adolph lebte, der hier in diesem Gasthofe eingekehrt, u. s. w. Nein, ich führe sie dorthin, wo ich noch hoffen darf, Ihnen eine kleine, wenig bekannte Welt zu zeigen, „dort, wo die letzten Häuser stehen," die letzten Schauspiel¬ häuser nämlich, auf dem entlegensten Ende der Boulevards. Die Dramen, die auf dem Theatre des Funambules zur Darstellung kommen, sind glücklicherweise noch nicht in's Deutsche übersetzt, aus dem einzigen Grunde, weil dort Pierrot, Arlequin und Colum- bine die einzigen drei Einheiten sind, welche bei der Conception die¬ ser Stücke in'ö Auge gefaßt werden. Wie heißen diese Stücke aber auch! „Der wüthende Ochse," „Meine Mutter Gans." Und vollends der Inhalt! Die Analyse meiner Mutter Gans hat Jules Janin mehr Aufwand an Witz, Verstand und Styl gekostet, als sein Bericht über alle Vaudevilles der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Welche Stücke! aber auch welches Theater und besonders, welche Zuschauer! Da giebt es doch noch ein Publikum, das sich nicht langweilt i da giebt es weder Stutzer in ihren mehr oder minder gelben Handschuhen, noch kommen hierhin die Herren Feuilleton¬ schreiber, die abgenutzt, eckelsatt und blasirt, das Theater nur ox calli- «:in> besuchen, noch steht man die vornehmen Damen der Geburts- und Geld-Aristokratie hier, die statt mit dem Stücke sich nur mit ihren Prachtgewändern und kostbaren Blumensträußchen beschäftigen, und nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden, in's Thea¬ ter kommen. Das Publikum dieses Theaters kommt in Jacken, in Leinewandkitteln, in Hemdärmeln, oft auch ohne Hemde und mit nackten Armen, mit der Mütze auf dem Kopfe: aber dafür ist es auch unbefangen und naiv, wie ein Kind, dem man die ersten Märchen erzählt; es läßt sich in aller Gemüthlichkeit von der Dich¬ tung des Poeten (ja, lacht nicht/ des Poeten; ich werde es Euch gleich beweisen) fortreißen; es kritisirt nicht, sondern nimmt Alles an, wenn man es nur amüsirt. Das ist das ächte, unverdorbene Theaterpublikum, das alles Phantastische mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit begreift, das ohne allen Einwand Ludwig Tieck's „Ge¬ stiefelter Kater" oder „das kleine Nothkäppchen" oder jene funkeln¬ den Gozzi'schen Possen mit anhören würde, in denen die buntlappig gekleidete, grimassenschneidcnde Welt der italienischen Charaktermas¬ ken mit den zauberhaftesten Feenwesen so seltsam gemischt ist. Wenn es je möglich ist, gewisse Shakspeare'sche Stücke, wie den „Som- mernachtstraum," den „Sturm," das „Wintermärchen" in Frankreich zur Darstellung zu bringen, so wird es gewiß auf diesen armseligen, wurmstichigen Brettern geschehen, und dieses zerlumpte Volk werden die ersten Zuschauer sein, die es mit Liebe, ich mochte fast sagen, mit Verständniß aufnehmen werden. Hätte Schreiber dieser Zeilen die Ehre, ein großes Genie zu sein, so würde er den Versuch wagen, für dieses verachtete Theater ein Stück zu schreiben. Aber eine solche Kühnheit stände ihm übel an: höchstens könnten Dichter, wie Victor Hugo, Alfred Musset und ähnliche, und das auch nur in ihren besten Tagen, so etwas unternehmen. Wer ist denn nun aber, wird man fragen, der oder die Verfasser, welche an diesen unerhörten Meisterwerken arbeiten? Niemand kennt sie, Niemand weiß ihren Namen, eben so wie man nicht weiß, wie die Dichter deS spanischen Romancero, oder die Erbauer der mittelalterlichen gothischen Kathe¬ dralen geheißen haben. Der Verfasser-dieser wunderseltsamen Possen .ist alle Welt; dieser große Dichter, dieses Collectivwesen, das mehr Witz besitzt, als Voltaire, Beaumarchais und Byron; an dieser Art von Stücken arbeiten Verfasser, Souffleur und besonders das Publi¬ kum zugleich, so ungefähr wie im Munde des Volkes Melodien und Lieder unbekannter, namenloser Dichter und Komponisten leben, die voll Fehler gegen Metrum und Reim und Musikgesetze sind und die dennoch dermaßen die Verzweiflung großer Dichter und Kompo¬ nisten sind, daß sie für eine Strophe dieser unregelmäßigen Lie¬ der, für einen Satz in diesen Melodien ihre kostbarsten, gefeiltesten Arbeiten o wie gern! hingeben möchten. Vor etwa zehn Jahren war ein berühmter Hanswurst, Debureau, die Zierde dieses Theaters. Er war so geistreich, daß er nicht allem die Menge, sondern auch eine große Anzahl Schriftsteller, Maler und andere Künstler in dieses elende Theater auf dem Boulevard du Temple lockte. Ich gehörte in jener Zeit fast zu den täglichen Besuchern der FunambuleS und ich erinnere mich, daß unsere ganze Gesellschaft gewöhnlich eine Loge dicht an der Bühne inne hatte, von wo ans wir uns mit dem Schauspieler, der den Pterrot (Hanswurst — Kasperl — Staberl) gab, unterhalten konnten. Er war so an uns gewöhnt und so vertraut mit uns, daß wir von allen leckeren Gastmahlen, die er auf der Bühne genoß, regelmäßig unsern Theil bekamen. Jüngst nun war ich einmal unserer großen Sänger und Sän¬ gerinnen, unserer großen Schauspieler und Schauspielerinnen in Luft- und Trauerspiel überdrüssig und satt und beschloß, in Erinnerung der fröhlichen Stunden, die ich in diesem Winkcltheater verbracht, wieder in dasselbe einzutreten. Anfangs schwankte ich etwas, wie dies immer der Fall ist, wenn man eine Person oder Sache wiedersehen soll, die Einem früher gefallen hat, von der man aber, weil man sie lange nicht gesehen, nicht weiß, ob es jetzt wieder der Fall sein werde. Besonders flößte mir der Umstand Besorgnis? ein, daß das Theater überweißt und angestrichen worden war und fast ein sauberes Aus¬ sehen hatte. Als ich nun gar im Orchester eine Verstärkung von fünf oder sechs Blaseinstrumenten erblickte, fürchtete ich vollends, es möchte dieses Theater etwa ein trauriges Anhängsel der komischen Oper geworden sein und schickte mich schon an, fortzugehen. Da ging glücklicher Weise der Bvrhang in die Höhe, und meine Be¬ sorgnisse nahmen ein fröhliches Eröe; denn ich erkannte bald, daß sich das Theure deö FunambuleS siegreich auf seiner ursprüngliche» Höhe zu behaupten verstanden habe und daß die Traditionen der Kunst rein und unverfälscht in seinen Mauern, wie in einem schützenden Heiligthum, bewahrt worden waren. Das Theater stellte eine Straße, einen öffentlichen Platz dar, ganz wie in einem Stücke des alten classischen Lustspiels. Pierrot geht auf und ab, die Hände stecken in den Taschen, sein Kopf hängt auf die Brust nieder, sein Gang ist schleppend; er ist traurig, eine geheime Melancholie zehrt an, seiner Seele. Sein Herz ist leer und seine Börse in einem ähnlichen Zustande, woe sein Herz. Cassandrc, sein Herr, antwortet ihm auf seine Geldforderungen mit einem un- widerleglicher Argument, nämlich mit einem jener Fußstöße, wodurch der Dialog dieser Pantomimenstücke oft so sehr belebt wird. Armer Pierrot, wie traurig ist Deine Lage! Gleich Leporello bekommst Du: Schläge nur bei Tag' und Nacht, Schmale Kost und nimmer Geld! Nein, da ist es kein Wunder, daß der arme Teufel so bleich ist: es gehört nicht so viel dazu, um seine rothe Farbe zu verlieren. Und obendrein ist der unglückliche Pierrot noch verliebt, aber nicht etwa in ColumbtnenS niedliches Schnäutzchen und in ihren viereckigen Rock, sondern er ist hinaufgestiegen zu den Töchtern der Elohim, wie einst die Söhne der Elohim hinabgestiegen sind zu den schönen Töchtern der schwachen Menschen. Er hat eine vornehme, sehr vornehme Dame, eine Herzogin einmal aus ihrem Wagen steigen sehen, um in eine Kirche oder in's Opernhaus, ich weiß nicht genau wohin, zu treten: und da hat er denn seines Herzens Leere ge¬ fühlt. In Folge seines Liebesgrames und seiner gezwungenen Fasten, fürchtet Pierrot, möge sein reizender Körper zu Schaden kommen; er betastet seine Nase, die sehr mager geworden, und seine Beine, die so dürre sind, wie die Arme einer Tänzerin. Dies Alles aber stößt ihm noch keine ernstliche Besorgniß ein; denn ein bleicher und magerer Liebhaber ist nur um so interessanter. Aber er möchte gern unter Leute kommen, in Gesellschaften gehen, um seine angebetete Herzogin zu sehen. Nun besitzt Pierrot aber keine andern Kleidungs¬ stücke, als seine geflickten Hosen und seinen Kittel von roher, grauer Leinwand. Geh' einmal Einer in einem solchen Aufzuge in die Abendgesellschaften einer Herzogin! Keine Kleider, kein Geld ; was ist da anzufangen? Wie soll er in jene geheimnißvollen Paradies¬ gärten dringen, in denen Alles von blitzenden Krystall-Lustr<'ö, von rosenfarbenen Kerzen, von Frauen und Blumen strahlt und flammt und deren Glanz er durch die hell erleuchteten Fenster des Hütelö hindurch schimmern sieht? Armer, verliebter Pierrot! Während er nun diesen traurigen Gedanken nachhängt, die Götter, das Geschick und sein Loos anklagt, geht ein Kleiderhändler vorbet, der allerhand mehr oder minder stattliche Kleidungsstücke trägt. „Ach! wenn ich doch diesen apfelgrünen Frack und dieses schöne, bauschige Beinkleid hätte," sagt Pierrot zu sich selbst, und sein Auge glüht vor Begier, und in den Fingern zuckt ihm eine unwiderstehliche Lust, und während er jene Worte spricht, streckt er seine Hand mehrere Male hin, zieht sie aber wieder zurück. Der Kleiderhändler hat so eben einen abgelegten Anzug eines dienstun¬ fähig gewordenen Nationalgardisten gekauft und trägt den dazu ge¬ hörigen Säbel, wie einen Regenschirm, unter dem Arm, so daß der Handgriff der unschuldigen Waffe, die wahrscheinlich noch jungfräu¬ lich rein von Blut ist, ganz wie von selbst in Pierrot's Hand geräth, der ihn denn auch erfaßt. Der Kleiderhändler, ohne dies im Ent¬ ferntesten zu bemerken, geht seinen Weg weiter, während Pierrot mit dem Säbelgriff in der Hand unbeweglich stehen bleibt, so daß die Klinge bald aus der Scheide gezogen ist, während der Kleider- Händler letztere noch unter seinem Arme hält. Im Augenblicke, da Pierrot den funkelnden Stahl erblickt, entflammt ein teuflischer Ge¬ danke sein Gehirn: er stößt die Klinge, nicht etwa in ihre Scheide zurück, nein, in die Brust ihres unglückseligen Eigenthümers, so daß sie ihn von hinten nach vorn durchbohrt und er starr und todt hin¬ sinkt. Pierrot verliert darüber durchaus seine Fassung nicht, sondern sucht- sich aus dem Paauet des Verstorbenen die modischsten Klei¬ dungsstücke heraus, wofür er, um alle Spuren seines Verbrechens hinwegzuräumen, den Leichnam in einen Keller hinabstürzt. Sicher, daß man seine Missethat nicht entdecken werde, will er nun in seine Wohnung hineingehen, um sich anzukleiden und eine Gesellschaft zu besuchen, wo er sicher ist, seine angebetete Herzogin zu treffen: — da plötzlich hebt sich die Fallthüre, die den Keller schließt, in die Höhe und hervor steigt das Gespenst des Ermordeten, eine un- heilvrohende Gestalt, eingehüllt in ein langes Leichentuch, die Brust durchbohrt von dem Säbel, dessen Spitze noch hervorragt, und mit grabesdumpfer, hohler Stimme ruft es aus: Marrrchand d'habits! ' Das Entsetzen, den Schreck, der sich aufPierrots eingemehltem Gesicht kund giebt, als er diese Stimme aus einer andern Welt ver¬ nimmt, — das ist keine Feder zu beschreiben im Stande. Bald aber ermannt er sich zu einem entsetzlichen Entschlüsse: er will dieser Schreckenserscheinung ein für alle Mal ein Ende machen; er er¬ greift daher ein ungeheures Stück Holz aus einem in der Nähe liegenden Haufen, und beginnt einen grausigen Kampf mit dem Ge- spenste. Anfangs weicht dies seinen Hieben aus oder parirt sie, endlich aber erhält es einen Schlag gerade auf den Kopf mit dem Scheite Holz, so daß es wieder in den Keller zurückstürzt, wohin dann Pierrot, um alle möglichen Vorsichtsmaßregeln zu treffen, in aller Eile das ganze, von den Holzhauern schon zugesagte Holz ihm nachwirft, worauf er dann zu seiner Sünde noch Frevel, zu seinem Verbrechen noch Hohn und Spott fügt, indem er seinen Kopf an das Kellerloch hält und den Ruf des Ermordeten: „Marrrchand d' Hahns" nachäfft. Ist das nicht ein bewunderungswürdiger Eingang, seltsam, launenhaft, phantastisch, so daß Shakspeare selbst sich seiner nicht schämen würde? Nun wechselt der Schauplatz. Pierrot ist ii: seine Wohnung eingetreten und zieht mit ehrfurchtsvoller Bewunderung das unge¬ heure Beinkleid la co«in>us und den wunderbaren, apfelgrünen Frack an, er steckt Vatermörder an, klebt sich einen falschen, schwarzen Schnurrbart auf und sucht die verbrecherische Bleiche seiner Gesichtszüge dadurch zu verbergen, daß er auf das Mehl, womit sie bedeckt sind, zwei kleine Streifen von rother Schminke legt, wo-> durch er das allercoquetteste und trtumphirendste Aussehn auf Gottes Erdboden erhält. Pierrot tritt nun in den Abendzirkel der Herzogin ein; er hat sich schon ganz in den Geist seiner Atolle hineingefunden und sein Be¬ nehmen ist durchaus voll kaltblütiger Würde und angemessener Zier¬ lichkeit; er grüßt eben so fein, als wäre er ein Tanzmeister oder ein abgerichteter Hund; er reicht den Damen artig die Hand und weiß sein Augenglas so geschickt zwischen die obere Wölbung seiner Brauen und dem untern Bogen seines Auges einzupressen, als wäre er ein Stutzer, der sein Lebetag keine andere Beschäftigung gehabt hat. Besonders aber muß man ihn in der Nähe der Herzogin sehen. Wie anmuthig beugt er sich über die Lehne ihres Sessels, wie süß flüstert er ihr tausend zarte Worte ins Ohr, mit welchen Flammenzügen malt er ihr die Liebe, die für sie in seinem Herzen brennt! Mitten in seinem schönsten Redeflüsse aber hält Pierrot plötzlich inne, sein Schnurrbart, obgleich falsch, sträubt sich in die Höhe, seine Schminke fällt ihm vom Gesicht, seine Zähne klappern vor Entsetzen, die Aermel seines Fracks werden ihm plötzlich zu kurz ; eine dumpfe, erstickte Stimme, ähnlich dem Röcheln eines Sterbenden, murmelt die feierliche Phrase: „Marrrchand d'habits!" Ein Kopf kommt aus dem Fußboden hervor. Kein Zweifel mehr, eS ist das Gespenst des Ermordeten. Pierrot stellt ihm den Fuß auf den Hirnschädel und zwingt ihn wieder unter den Fußboden hinab, in¬ dem er zu ihm, wie Hamlet zu der Geistererscheinung seines Vaters sagt: „Gieb dich zur Ruh', alter Maulwurf/' Darauf setzt er mit heldenmüthigem Entschlüsse seine einen Augenblick unterbrochene Liebeserklärung fort. Das Gespenst aber kommt einige Fuß weiter hin wieder unter der Erde hervor: Pierrot aber stößt es mit einem zweiten so kräftigen Fußstoße zurück, daß es sich eine Zeit lang in der That ruhig hält. Nun glaubt sich Pierrot für immer von der rächenden Erschei¬ nung befreit: er überläßt sich daher einem unsinnigen Uebermaß fast krampfhaft sich äußernder Freude. Er tanzt, wie wahnsinnig, Galopp; er führt die allerzügellosesten Cachuchas aus. Nachdem er tüchtig getanzt hat, ist ihm natürlich heiß geworden und er will zur Er¬ quickung ein Glas Eis nehmen; aber o Himmel! das Gespenst kommt ihm entgegen, indem es ein Plateau mit Erfrischungen hält und wie Pierrot die Hand darnach ausstreckt, murmelt es mit noch grabedumpferem Tone als früher: „Marrrchand d'habits!" — Hier beginnt nun zwischen Pierrot'S Genäschigkeit auf der einen und seiner Furchtsamkeit aus der andern Seite einer jener so naturwahren und so Hochkoniischen Kämpfe, die Deburcau so trefflich darzustellen weiß. Endlich trägt die Leckerhaftigkeit den Sieg davon: Pierrot wählt ein prächtiges, tausendfarbig buntes Glas Panache-Eis, das sich aber, wie er es an seine schuldigen Lippen setzt, in ein Feuerwerk verwandelt und ihm einen solchen Schreck verursacht, daß er den Löffel verschlingt, mit dem er das Eis essen wollte. Endlich nimmt diese schreckensvolle Abendgesellschaft ein Ende.— Trotz den ungelegener und störenden Erscheinungen des Gespenstes ist es Pierrot gelungen, daS Herz seiner Herzogin zu rühren und er darf hoffen, bald der glücklichste Sterbliche zu werden. — Zuweilen freilich überfällt seinen Geist noch die Erinnerung an den so verräthe- risch ermordeten Kleiderhändler, aber er weiß dieselbe zu verjagen, indem er sein Gewissen durch eine ungeheure Menge Gläschen ver¬ schiedener Liqueure überschwemmt oder in den Schlaf wiegt. — Der apfelgrüne Frack glänzt fortwährend in unbeschreiblicher Pracht; das Beinkleid » lit cositqiiö erregt unaufhörlich den Neid aller Stutzer zweiten und dritten Ranges. — Pierrot ist, freilich zur Schande der Moral und der menschlichen Natur, in Allem, was er unter¬ nimmt, glücklich. Er reussirt überall in der großen Welt, er gewinnt fleißig im Spiele, so daß er sich sogar baumwollene Handschuhe kaufen kann, Cigarren mit Strohspitzen raucht und seinen Schnurr¬ bart neu ausfärbt und täglich wichst. — Sein Schlaf wird durch-" aus nicht von Gewissensbissen beunruhigt; aber Nichts leider! stürzt so schnell zusammen als das Gebäuve eines Wohlstandes, dessen Grundlage nicht die Tugend ist. Indem Pierrot in die Welt ge¬ gangen ist, hat er auch ihre glänzenden Laster angenommen. Durch seine Liebe für die Herzogin läßt er sich nicht abhalten, auch noch mit einigen Operntänzerinnen Liebschaften zu unterhalten, so daß der arme Teufel bald wieder in die äußerste Noth und Verlegenheit geräth. Es bleiben ihm keine andern Hülfsmittel mehr übrig, als der Verkauf seines köstlichen, hoffnungsfarbigen Fracks, der ihm so viele süße Erfolge zu Wege gebracht, und seines bewunderungswür¬ digen Beinkleids ü in, cosaquv, dessen bauschige Weite ihm so prachtvolle Dienste geleistet hat, um seine abwesenden Waden zu verheimlichen. Hier findet sich nun eine dramatische Situation von einer bis¬ her vielleicht unerstiegenen Höhe und einer erschreckenden philosophi¬ schen Tiefe. Pierrot, den die Erinnerung an sein Verbrechen, nun er in's Elend gerathen ist, wieder zu quälen anfängt, wagt es nicht einen Kleiderhändler zu rufen, aus Furcht, das entsetzliche Ge¬ spenst möge ihm erscheinen. In der That geht auch, als hätte es der bloße Gedanke herbeibeschworen, das Phantom in der Straße vorbei, indem eS mit heiserer Stimme und als hätte es den Mund voll Erde gestopft, röchelnd die Worte: „Marrrchand d'habits" heult! Pierrot geht keck dem Gespenste entgegen und schlägt ihm mit einer Verwegenheit, die Don Juan selbst vielleicht nicht hat, vor, ihm Frack, Weste, Beinkleid und Hut im Ganzen abzukaufen: das Ge¬ spenst spricht sich pantomimisch dahin aus, daß die Sachen schon sehr abgenutzt sind und bietet ihm für Alles anderthalb Franken.— Pierrot wagt es erst, ihn einen Dieb zu nennen, dann aber willigt er in den Handel und übergiebt ihm die Kleidungsstücke; da aber will ihm das Gespenst die anderthalb Franken nicht geben, weil, wie es behauptet, die Effekten ihm gehören. Pierrot's Wuth kennt keine Schranken mehr: er schleudert einen unverschämten Fußstoß in die Beine deS Gespenstes und läßt auf den Fußstoß eine Reihe tüchtiger Faustschläge in Augen und Magen folgen; das Gespenst zieht, um sich zu vertheidigen, den Säbel, der ihm durch die Brust geht, her¬ aus und vertheidigt sich bestmöglichst: Pierrot aber schlägt mit Hän¬ den und Füßen so kräftig um sich, daß er die Kleider wieder erlangt und Meister des Schlachtfeldes bleibt. Was hat er aber mit diesem Siege gewonnen? Seine finan- cielle Lage ist dadurch um nichts besser geworden. Er hat kein Geld: was ist da zu thun? Pierrot ersinnt sich eine List, die der Schläuchen, durchtriebensten Moliere'schen Bedienten würdig wäre. Er sucht Cassandre auf und es entspinnt sich nun folgendes Gespräch zwischen ihnen: „Sehen Sie, beginnt Pierrot, die kurischen Seeräuber haben mir die Zunge ausgeschnitten; sind Sie so gut und schenken mir Etwas." „Was Teufel, erzählst Du mir i>a, fragt Cassandre überrascht: wie kannst Du denn sprechen, wenn Du keine Zunge hast?" „Ach! lieber Herr, ich habe gerade noch so viel, daß ich das Mitleid braver Leute anzusprechen vermag." Cassandre, gerührt von dieser Antwort, giebt nun Pierrot einiges Geld. Da dieser aber sieht, daß ihm seine List so gut gelungen ist, so unterläßt er nicht, sich bald in der Gestalt eines Blinden dar¬ zustellen. „Ach, mein lieber Herr Cassandre, ich hatte vergessen, Ihnen zu sagen, daß eben dieselben kurischen Seeräuber mir auch die Au¬ gen ausgestochen haben." „Wie stellst Du es denn an, mir so genau auf dem Fuße zu folgen, wenn Du nicht klar siehst?" „Mein süßer Herr, ich sehe gerade noch gut genug, um die gefühlvollen Seelen zu unterscheiden." „Nun Deine traurige Lage rühr: mich; hier hast Du einen Thaler, komm aber nicht wieder." Pierrot geht fort; in seinem Gemüthe aber regt sich ein um¬ fassenderer, des höchsten Muthes würdiger Plan: er will sich Cas- sandre's ganze Börse aneignen. Um nun dieses löbliche Vorhaben auszuführen, schneidet er von den Aermeln seines Letnewandkittels die Unterarme ab, so daß er einem Amputirten nicht unähnlich ist und geht nun auf dem Theater hin und her, indem er mit den bei¬ den stumpfen, wie mit.zwei Flügeln eines Albatroß, hin und her schlendert. „Herr Cassandre, Herr Cassandre, die bösen Türken haben mir auch die Arme abgeschnitten." „Ja, das ist freilich schlimm; aber wie soll ich Dir nun helfen?" Während dieses Gespräches läßt nun Pierrot feinen Arm in Cassandre's Tasche gleiten, der aber den Streich bald entdeckt und nun ausruft: „Wie? Du Canaille von einem Kerl, Du behauptest, die Türken hätten Dir die Arme abgeschnitten, und da ertappe ich einen von Deinen Armen in meiner Tasche." „Sie haben meinen Arm in Ihrer Tasche; meinen armen Arm, den ich so lange gesucht habe! Sie sind mir ein lieber Herr! Armer Leute Arme so zurückzuhalten! Ob man Sie auch mit Ihrem ehr¬ lichen Aussehen einer solchen Schandthat fähig gehalten hätte, Arme um ihren Arm zu bestehlen! Nun sollen Sie aber auch gleich mit mir zum Polizeicommissair gehen!" Man braucht wohl kaum dem Leser zu sagen, daß Pierrot, in¬ dem er seine Hand aus Cassandre's Tasche herausgezogen, die Börse nicht darin gelassen hat. Mit Cassandre's Geld wird nun Pierrot glänzender als jemals und entfaltet eine solche Liebenswür¬ digkeit, paß er die Hand seiner geliebten Herzogin erhalt. Die Heirath soll nun gefeiert werden. Pierrot, stolz und übermulh- trunken, geht an der Spitze des Zuges, indem er seine strahlende Braut zart an den seinen Fingerspitzchen ihres niedlichen Händchens hält; plötzlich steigt aus dem Souffleurkasten ein langes, bleiches Gespenst auf und wiederholt mit ächzender Stimme die verhängniß- volle Phrase: „Marrrchcmd d'habit's." Pierrot, außer sich gerathen, verläßt seine Braut, stürzt sich auf das Gespenst und giebt ihm einen derben Puff; darauf setzt er sich selbst auf den Souffleurkasten, um die Oeffnung'hermetisch zu verschließen und das Gespenst zum Ver¬ bleiben in den nächtigen Grabeöregionen zu zwingen.— Die Braut ist außerordentlich erstaunt über dieses seltsame Verfahren; denn das Gespenst ist nur dem Verbrecher Pierrot sichtbar. Sie ergreift ihn nun bei der Hand, zwingt ihn, seinen Sitz auf dem Souffleurkasten aufzugeben und zum Altare zu schreiten. Sofort erscheint dann das Gespenst wieder, umschlingt Pierrot mit seinen langen Armen und zwingt ihn, einen höllischen Walzer mit ihm zu tanzen, der noch viel tausendmal entsetzlicher ist, als der Herentanz in Goethe's Faust. Der Ermordete drückt den Mörder an die Brust und zwar dermaßen, daß die Spitze des Säbels Pierrot von vorn nach dem Rücken zu durchbohrt und ihm zwischen den Schultern hervorkommt. So werden denn der Mörder und sein Schlachtopser auf ein und dasselbe Eisen gespießt, gleich zwei Schmetterlingen, die an einer Nadel aufge¬ stochen sind. Das phantastische Paar tanzt noch einige Male auf dem Theater herum und versinkt dann in einen Abgrund, während ringsumher das Höllenfeuer hoch auflodert. Die Braut wird ohnmächtig, die Ver¬ wandten bilden in den verschiedenartigsten Haltungen und Stellungen des schmerzlichen Erstaunens eine interessante Schlußgruppe und der Vorhang fällt mitten unter allgemeinem Beifallsklatschen. Ist das nicht ein seltsames Drama, wo Lachen und Schrecken sonderbar gemischt sind! Herrscht nicht ein eigenthümlicher Zusam¬ menhang, ich möchte sagen, ein verwandtschaftlicher Zug, zwischen dem Gespenst Banquo'S (in Macbeth) und der Geistererscheinung im Hamlet einer — und dieser Geistererscheinung des „Marrrchand d'habits" andrerseits? Und ist es nicht etwas Merkwürdiges, Shakspeare in den Funambules wiederzufinden? Diese Posse ent¬ hält übrigens eine sehr tiefsinnige, durchaus vollständige, höchst mo¬ ralische Mythe, die bloß in der süßen Sprache der Brahmanen ge¬ schrieben zu sein brauchte, in dem heiligen Sanskrit, um eine ganze Schaar Kommentatoren zu finden. Pierrot, der in seinem Kittel und Beinkleid von weißer Leinewand, seinem mit Mehl eingeweißten Gesichte, von unbestimmten, sehnenden Gefühlen bestürmt, auf der Straße hin und her geht, — ist das nicht eine Symbolisirung der menschlichen Seele, die noch unschuldsrein, lilienweiß ist und die von unsäglichem Sehnen nach einem Aufschwung in höhere Regionen gepeinigt wird? Der Säbelgriff, der sich, wie von selbst, Pierrot'S Hand darzubieten und ihn durch das treulose, tückisch-lockende Fun¬ keln seines hellgrünen Messings zu verführen scheint, — ist das »icht ein sprechendes Sinnbild von dem gewaltigen Einfluß der Ge- legenden auf Gemüther, die schon unter der Bürde der Versuchung schwanken? Die Schnelligkeit, mit der, gleichsam wider Pierrot'ö Willen, die Klinge in den Körper des Schlachtopfers fährt, stellt uns dar, wie leicht man ein Verbrechen begeht und wie eine unbedachte Handbewegung uns verderben kann. „Laß Dich den Teufel bei einem Haare fassen und Du bist ganz sein." Denn offenbar hatte Pierrot, als er nach dem Säbelgrtff faßte, keine andre Idee, als die, einen Scherz zu machen! Das Gespenst des Kleiderhändlers, das aus dem Keller hervorkommt, zeigt, wie ein Verbrechen nicht ver¬ borgen bleiben kann, und wenn Pierrot den Schatten deS bedauerns¬ werthen Opfers durch Streiche mit dem Scheite Holz wieder in den Keller' zurückstürzt, hat nicht hiemit der Verfasser auf die klarste und geistreichste Art angedeutet, daß man zwar durch Vorsichtsma߬ regeln die Entdeckung einer Missethat eine Zeit lang verzögern kann, daß aber der Tag der Rache, „des hinkenden Boten" sicher einmal kommt. — Das Gespenst selbst ist auf die allerdramntischste Und Schrecken einflößendste Weise das Symbol der Gewissensbisse. Diese einfache Phrase „Marrrchand d'habit's," die ein so tiefes Ent¬ setzen in Pierrot's Seele wirft, ist ein wahrhaft genialer Zug und steht sicherlich auf gleicher Höhe mit dem berühmten Macbeth'schen: Wer dacht' es aber, daß der alte Mann Noch so viel Blut in Adern hätt'. Dieses „Marrrchand d'habits" war das letzte Wort des Ermor¬ deten im Augenblicke seines Todes; — die Worte und ihre Beto¬ nung sind daher mit unauslöschlichen Zügen im Gedächtniß des' Mörders geblieben. Und diese Scene der Liebeserklärung, wo das Gespenst unter dem Fußboden ist, „ein wacker grabender Maulwurf" und von Zeit zu Zeit seinen Kopf hervorhebt, stellt sie nicht auf die er's Auge fallendste Weise dar, wie eigentlich Nichts im Stande ist, die Stimme des Gewissens im Herzen des Verbrechers zum Schweigen zu bringen? Er mag sie immerhin zu übertäuben, mag sich in Wein und Liebe zu berauschen suchen, überall ist das Gespenst da, und immerfort fühlt er, wie Fieberschauer, den eisigen Hauch an seiner Schulter und hört des Grabes dumpfes Geflüster: „Marrrchand d'habits." Selbst der einzelne Moment, wo das Glas Eis sich unter seinen Lippen in ein Feuerwerk verwandelt, ist nicht ohne tiefere moralische Bedeutung: es soll hiermit vielmehr angezeigt sein, wie für den Verbrecher Alles zu Gift wird und wie das, was dem Munde des Unschuldigen eine Kühlung ist, für den Gaumen des Bösewtchts ein brennendes Feuer wird: zudem ist es eine vorbereitende Anzeige des ewigen Höllenfeuerö, dem der Mörder unfehlbar an¬ heimfallen muß. Die Scene, wo Pierrot keck und verwegen der Gegenwart des Gespenstes trotzt, und die Kleider, die er ihm ge¬ stohlen, an es selbst zurückverkaufen will, zeigt durch ihre beispiellose Kühnheit, daß die Katastrophe nahe sein müsse und daß die Teufel unten am Feuer schon schüren. Pierrot, eine Art Don Juan, for¬ dert des Himmels Zorn heraus: seine sündige Verhärtung hat ihren höchsten Grad erreicht; daher erscheint auch das rächende Gespenst wieder, wie er die Herzogin zu Heimchen im Begriffe steht und dies Mal vermag er nicht mehr, es in den Abgrund zurückzudrängen, aus dem es emporgestiegen. Es ist dies eine sehr sinnige Allegorie, welche darthut, daß ein jedes Verbrechen trotz aller Kühnheit, trotz aller Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit des Missethäters doch früh oder spät entdeckt wird. Dieser höllische Walzer und die Säbelspitze, welche, nachdem sie den Körpers des Kleiderhändlers durchbohrt, auch in Pierrot's Brust dringt und ihn gänzlich durchsticht, lehren uns, daß die Menschen durch ihr eigenes Verbrechen bestraft werden, und daß der Dolch, womit ein Mörder sein Schlachtopfer trifft, noch tiefer in sein eigenes Herz sich einbohrt. Das Erstaunen der Verwandten der Herzogin, als sie dieses Wunder erblicken, zeigt deutlich, welchen Gefahren Herzoginnen sich aussetzen, wenn sie Pierrot's heirathen, ohne vorher Erkundigungen einzuziehen und die Zuschauer werden dadurch gemahnt, 'in ihren eigenen gesellschaftlichen Beziehungen mit mehr Vorsicht zu verfahren. — Giebt es nun wohl viele neuere, frcmzöstsche oder deutsche Trauerspiele, deren Analyse ein so reichhaltiges Resultat liefern würde und die sich selbst unter dem Prüfstein der Kritik so probe- haltig erweisen würden? 26 T a g e b u es. ^ ^ ^ ^.. ^. ^ ^ i. > ^ -----. Die diesjährige Versammlung der Aerzte und Naturforscher in Mainz war gewiß eine der schönsten, seitdem der geniale Oken sie vor zwanzig Jahren in's Leben gerufen; in einer der reizendsten Gegenden Deutsch¬ lands, man könnte sagen, Europas, und in einer seiner frohesten und gastfreic- sten Städte. Aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes waren Gelehrte von Ruf, oft erste» Ranges, dort und viele Länder Europas waren wenigstens durch einen Namen repräsentier. Die Seiten des Verzeichnisses glichen frei¬ lich oft einem nebligen Herbstabend, an dem nur hin und wieder ein Stern hervorschimmert; aber am Ende treten die Lichter auf schattigem Hintergrunde auch besser hervor. Auf besagtem Hintergründe haben wir denn auch einige junge Studierende bemerkt, die in dem Verzeichnisse gewiß mit Recht figurir- ten, der Hoffnungen wegen, die sie vielleicht erregt hatten. Manche Natur¬ forscher hatten sich auch schlechtweg Particulier, Kaufmann, Privatmann ge¬ nannt. Wir betrachten dies Alles als ein günstiges Zeichen der Zeit, über das man scherzen kann, über das sich aber Jeder freuen wird, der die Theilnahme an der Wissenschaft nicht blos in die staubige Studirstube einschließen will. Ich könnte Ihnen nun weitläuftig erzählen, was Alles in den Sectionen von der Astronomie an bis zur Zoologie verhandelt worden ist; da indeß viele Ihrer Leser und Leserinnen wahrscheinlich gar keiner Section angehören, so wage ich das nicht. Uebrigens sind dafür auch die allgemeinen Sitzungen vorhanden; da werden Gegenstände verhandelt, die allgemein, Herren und Damen, inrcres- Siren. So sprach in der ersten allgemeinen Sitzung ein Arzt sehr geistreich über Jnfusionsthierchen im Urin. Dem Reinen ist ja Alles rein. Ich hatte dieser ersten allgemeinen Sitzung nicht beigewohnt und war daher sehr neugierig auf die zweite geworden. In dem sehr geschmackvoll eingerichteten Saale des neuen Schlosses hatten sich wohl 800 Forscher und Naturforscher versammelt; der Anblick so mancher intelligenten, schönen Stirne erfreute die Beobachter, und oben von der Galerie sahen eine Menge Naturforschcrinnen und Natursteundinncn auf uns freundlich lächelnd herab. Sie schienen sich herzlich zu freuen, als Herr Leukard aus Freiburg in einer übrigens wohlge- schricbenen Rede ihnen sonnenklar bewies, daß wir von den Affen uns zu un¬ serem Vortheil unterscheiden. Die Krone des Tages gebührte aber einem Franzosen und einem Oesterreicher. Mr. it<- (üinnnvnt, tonllittsnr >1es von- xi-es 8l-.lo»t!/i^uL» «zu Kranes lud in einer herzlichen, freundlichen Rede, die den lautesten Beifall verdiente und erhielt, uns Alle nach Straßburg ein; nur Schade, am Ende versprach er unter den dortigen Festlichkeiten zu unsere» Ehren uns r tiiios, im täglich, 95 wöchentlich, 218 monatlich, 5 vierteljährlich, 8 drei Mal wöchentlich, 31 zwei Mal, 8 drei Mal monatlich, 4 sechs Mal wöchent¬ lich, 2 über den andern Tag, 3 alle fünf und 2 alle zehn Tage; 1 erscheint halbjährlich und 4 in unbestimmten Zeiträumen. Der Abonncmcntspreiö ist von 120 bis 2Z Francs jährlich. Ausser mit Politik beschäftigen sich 15 mit religiösen Gegenständen (davon 6 dem Protestantismus, 1 dem Judenthume angehören) 20 mit Jurisprudenz, 27 mit Arzneikunde, 14 mit Naturwissen¬ schaften, 4 mit Marine und was dahin einschlägt; 10 mit Theaterangelegen- heiten, 4 mit philosophischen Forschungen, 5 mit moralische», 10 mit Vcnval- tungsgcgenstänbcn, 28 gehören der Pädagogik an, 37 sind literarischen Inhalts, 1 für Freimaurerei, 23 Intelligenz- und Anzcigeblättcr, 18 sind dem Ackerbau, der Gartencultur, dem Seidenbau u. dergl. gewidmet; 10 beschäftigen sich mit dem Buchhandel, 4 mit der Mathematik, 4 mit der Industrie, 33 mit Han¬ delssachen, 14 mit der Musik u. s. w. — Wir wollen nächstens eine ähnliche statistische Uebersicht der deutschen Journale zu geben suchen. Reisende Schriftsteller. Die Blätter für literarische Unterhaltung machen bei Gelegenheit einer Beurtheilung der letzten Schriften des bekannten Reisenden Kohl mit Recht die Bemerkung, es sei in der deutschen Literatur ein seltenes Beispiel, daß eine einzige Feder binnen Jahresfrist zehn starke Bände länderschildernden Inhalts auf den Markt bringt, ohne die Verdienste einer angenehmen Darstellung und einer eigenthümlichen Ergründung des Gegenstandes zu entbehren. In der That ist die Individualität Kohl's gewissermaßen von der Natur zum reisenden Schriftsteller bestimmt. Ein angenehmes Aeußere, das ihm bei dem Postillon, wie bei dem Gelehrten, den er besucht, bei der rothwangigen Wirthin, wie bei dem ernsthaften Prior irgend eines Klosters ein freundliches Entgegenkommen sichert. Kräftiger, schlanker Wuchs, stets angeregt, ohne da¬ bei die Ruhe zu verlieren und dazu mit einem Talent des Aussragens begabt,' daß ein brüsseler Schriftsteller, Herr van Hasselt, mit Recht von ihm sagte: er drücke Jedermann, der mit ihm spricht, den Kopf, wie einen nassen Schwamm aus. Kohl macht seine neuen Reisen auf Kosten Cotta's, der ihm, wie auch HöfkenundDingelstedt ein sehr glänzendes Reisegehalt ausgesetzt hat. Letzterer, der vor Kurzem aus England zurückkehrte, wird bald eine Reift nach dem Orient antreten; Höhlen befindet sich in Spanien, von ihm sind die in der Beilage der Augsburger mit II. vorgezeichneten Reisebrieft; Kohl hat vor Kurzem Belgien verlassen. _ Die jüngste Hein cfcttcr. Der letzte der Abenceragen, die jüngste unter den Schwestern Hcinefettcr, singt jetzt auf dem Brüsseler Theater, wo sie sür die Dauer der Saison enga- girt wurde. Ein kühn geschnittener Kopf, schwarzes, glänzendes Haar, große, mehr als kecke Augen, raffinirte Bewegungen — ein Weib, ganz geschaffen, Jünglinge von 18 Jahren und Greift von SV mit gefährlichem Retz zu um¬ spinnen. Die Stimme ist wohlklingend, aber unausgebildet, oder vielmehr ver¬ bildet. Französische Assectationcn ohne französischen Affect. Diese junge Sän¬ gerin hat in Paris Unterricht genossen und brachte gleich bei ihrem ersten Auf¬ treten das mit, womit andere enden, Routine, gemachten Pathos; aber ihr fehlte, was die jugendliche Kunst so reizend macht, das innere Feuer, die Be¬ geisterung; sie ist mit einem Sprunge in das reife Weibesalter getreten — die Mädchenzeit, das Roftnaltcr der Kunst ist ausgeblieben. Die jüngste Heine- fetter — die sich Kathinka nennt, obschon sie ein ganz inländisches Mainzer Gewächs ist — hat von ihren Schwestern die ganze Erfahrungsschule, welche diese auf ihren vielen theatralischen Triumph- und Irrfahrten sich allmälig er¬ worben haben, als Aussteuer gleich bei dem ersten Tage ihres Auftretens erhal¬ ten. Sie hat die ganze Tradition ihrer Künste geerbt, aber ihr fehlt das Genie ihrer älteren Schwester und das breite Stimmvolumen der letztern. Es scheint, daß das Talent dieser alt-jungen Sängerin in Paris keinen Anklang gefunden hat, denn nachdem sie das selbst sür die Löwe unerreichbare Glück hatte, in der großen Oper auftreten zu können, wurde sie wicdrr entlassen- In Brüssel ist ihr Erfolg nicht glücklicher. Der deutsche Michel, — in der bekannten Carricatur nämlich — hat sich seiner selbst geschämt und sich endlich — auch in einer Carricatur — aufgerafft. Er ist zum Burschen geworden und schwingt einen gewaltigen Eichenstock; Rußland bittet, Frank¬ reich sällt vor Schreck auf den Rücken, die Bulldogge verkriecht sich vor ihm und selbst dem römischen Himmelsguardian zittert der Schlüssel in der Hand. Möge das zweite Bild so wahr werden, als es das erste leider ist. Die belgischen Städte und ihre Kunstwerke i Antwerp er. ^me und dieselbe merkwürdige geschichtliche Erscheinung wie¬ derholt sich in drei Ländern, deren Berühmtheit zwar nicht auf gleich hoher Stufe steht, bei deren Bewohnern aber gleichermaßen das Gefühl des Städtewesens mächtiger war, als das der Liebe zum gemeinsamen ganzen Naterlande: es sind dieöGriechenland im Alterthum und die italie¬ nischen Republiken und die flandrischen Provinzen im Mittelalter. Die Städte, die in ihrem vereinzelten Dastehen zu Macht gelangt sind, bilden sich zu Freistaaten aus, zu von einander abgetrennten Gemeindewesi'n und machen dann die Hegemonie entweder mit den Waffen oder auf dem Schlachtfelde eines friedlicheren Kampfes ein¬ ander streitig. Sparta erniedrigt Athen; Florenz wirft Pifa's Macht nieder; Gent ist neidisch auf Brügge. Jede Stadt glänzt der Reihe nach als Fiihrerin über die anderen hinaus und fällt dann wieder in die Dunkelheit zurück, weil eine jüngere, kräftig emporstrebende Neben¬ buhlerin ihren schwächer werdenden Händen das Scepter entrissen hat. Auf Lakedämon, die Besiegen» von Athena folgt Tschä, die so lang verachtete böotische Stadt. Der Lagunenstadt wahre Grösie beginnt erst mit Genua's Erniedrigung. Und so auch ging im Norden der Handel von Brügge, dem Haupt der teutonischen Hansa während des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, auf Antwerpen über, 27 dessen tiefer Fluß die Schiffahrt an sich zog, welche durch die Ent¬ deckung Amerika's und des Wasserweges nach Indien eine bis da¬ hin unbekannte Ausdehnung und Bedeutsamkeit gewonnen hatte. Wie der Hafen einer Binnenstadt, der mit dem Meere nur durch einen vier Meilen langen Canal zusammenhängt, in einem Lande, das eine wirkliche, obendrein von der Natur ganz dazu ge¬ schaffene Seestadt besaß, zu hohem Wohlstande gelangen konnte, wäre eine unerklärliche Thatsache, wüßte man nicht, daß das künst¬ liche Element der Politik nur allzuoft Gewalt genug besitzt, um der¬ artigen natürlichen Gaben ihre Kraft zu rauben. Wie oft hat nicht, um ein ähnliches Beispiel anzuführen, die Macht der Verhält¬ nisse und der Verträge Chalcedon auf Unkosten von Byzanz be¬ günstigt ! Antwerpen ist übrigens vielleicht eines der' schlagendsten und traurigsten Beispiele von dem seltsamen Spiele der Ereignisse in der politischen Welt. Ein Hafen, der dem Londoner in Nichts nachsteht, und der noch dazu den Vortheil hat, auf dem Festlande gelegen zu sein; eine Stadt, welche im Laufe der Jahrhunderte an Größe und Wohlstand in immer steigendem Maße hätte zunehmen müssen, da sie mit ihrem Rücken an Deutschland sich lehnt und die Nordsee beherrscht — hat doch ihr Glück in seiner Fülle nur ein Jahrhundert hindurch genossen, während Amsterdam, daS unaufhör¬ lich von der Ueberschwemmung bedroht wird und dessen Canäle dnrch Meerschlamm verstopft sind, sich ein so dauerhaftes Geschick zu schaffen gewußt hat; gleichsam als sollte hiermit ein Beweis mehr geliefert werden, wie die Völker leichter die Hindernisse sieghaft überwältigen, die von der Natur ausgehen, als die von den Menschen selbst ein¬ ander in den Weg gelegt werden.' Doch lassen wir diesen zu peinlichen Betrachtungen führenden Gegenstand bei Seite. Wollten wir ja doch eigentlich nur die Be¬ merkung aussprechen, wie jede der belgischen Städte die Eigenthüm¬ lichkeiten ihrer jetzigen Physiognomie der Zeit verdankt, in der sie früher geglänzt und wie alle noch das Gepräge dieser Epoche ihres höchsten Ruhms unverwischbar tragen. So ist z. B. Brügge ganz und gar die Stadt des Mittelalters. Der Styl ihrer architektoni¬ schen Meisterwerke ist rein, ohne alle spätere Beimischung; kaum hat er den letzten Ausdruck der Spitzbogen-Baukunst erreicht. Man sieht deutlich, daß, wie die Stadt von ihrer Größe herabzusteigen anfing, man in ihren Mauern zu bauen aufhörte. Nicht eben so ist es in Antwerpen. Diesem Orte hat das sechzehnte Jahrhundert einen neueren Charakter verliehen und erst das siebzehnte hat ay seine monumentalen Zierden die letzte vollendende Hand gelegt. Seine ganze frühere Geschichte liegt zwischen den Thürmen der Ka¬ thedrale, an denen man um das Jahr 1422 arbeitete und der Jesuiterkirche. deren Bau 1621 beendet ward. Im zwölften Jahrhundert stand auf dem Platze, wo sich heute die herrliche, hoch und stolz in die Lüfte ragende Kirche Unserer Lie¬ ben Frauen zu Antwerpen erhebt, nur eine Kapelle- ES ist dies fast aller großen christlichen Tempel Ursprung und Beginn gewesen; ja manche Städte selbst verdanken solchen Kapellen ihr Entstehen. Diese Kapelle, die im Jahre 1124 zum Rang einer Collegialkirche erhoben ward, machte hundert achtundzwanzig Jahre spater einer an¬ dern Kirche Platz und an deren Stelle trat endlich diejenige, die wir heute noch da sehen. Der Chor ward in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts vollendet. Meist begannen die Bau¬ meister des Mittelalters ihre Leistungen mit diesem Theil der Kirchen, wie es diejenigen Tempel beweisen, die unvollendet auf unser Jahrhun¬ dert gekommen sind. Später dann verbanden sie die Grundlage der Thürme mit der Haube des Chores, indem sie das Schiff erbauten, und überließen ihren Nachfolgern die Vollendung jener wunderherr¬ lichen Thurmspitzen, deren kühnes Aufsteigen noch heute ein tiefes, bewunderndes Staunen erzwingt. Die katholischen Kirchenbauten zerfallen fast immer in zwei verschiedene Theile, die selbst der That nach meist zwei ganz getrennten Epochen angehören, in den wagerechten Theil, d. b. Chor und Schiff, und den senkrechten, die Thürme und Thurmspitzen. Die erstere Hälfte ist fast überall vollkommen aus¬ gebaut worden; die letztere dagegen ist meist unvollendet geblieben. Wenige der ursprünglichen Pläne sind getreulich befolgt wor- den. Man begreift dies leicht, wenn man erwägt, daß in der lan¬ gen Aufeinanderfolge der Epochen die Architektur, welche in direktem geistigen Zusammenhange mit dem gesellschaftlichen Leben steht, ohne es selbst zu wissen, alle Umwandlungen dieses letzteren mit durch¬ machte. Wenn auch die Nachfolger des ersten Baumeisters nicht wagten, die großen Linien, die er hingestellt hatte, zu zerstören,,so entschädigten sie sich für diesen Zwang an den Details, in denen ein 27 » aufmerksamer Beobachter stets ziemlich genaue Angaben der Jahres¬ zahlen findet. Appelmannö — oder, wie ihn Andere nennen, Appe- lius — der Baumeister der Antwerpener Kathedrale hatte sein Werk zu spät begonnen, als daß er hätte hoffen dürfen, man werde ehrfurchtsvoll seinen Plan durchführen. So ist bis zum obern Ge¬ schoß das Einlaufen der Thurmspitze regelmäßig und unmerklich. Von da aber sieht man sie mit einem Male dünner werden und diese plötzlich eintretende Magerkeit des Gipfels schneidet nicht allein das Profil auf eine unangenehme Weise ab, sondern nimmt auch noch allzu gesuchte Formen an, welche der strengen Einfachheit deS Ganzen Eintrag thun. DaS ist auch der Grund, weshalb die Thurmspitze der Antwerpener Kathedrale, in Bezug auf Reinheit und Majestät deö Styls, der des Straßburger Münsters nachsteht, mit der sie sonst wegen ihrer ungewöhnlichen Höhe in Vergleich ge¬ stellt werden kann. Was die Kuppel des Transept betrifft, so kann man zwar nicht in Abrede stellen, daß sie, vom Pflaster der Kirche aus gesehen, einen imponirenden Anblick bietet; doch kann man auch nicht umhin, einzugestehen, daß die runden Kuppeln in griechischem Styl, wie Michel Angelo's Genie sie gleichsam in der Luft schweben läßt, auf den Geist des Beschauers einen lebhafteren, tieferen Eindruck machen. Es ist dies gerade die einzige Beziehung, in welcher die heidnische Kunst in ihrer Jdealisirung durch das Christenthum mit der rein katholischen Kunst an Erhabenheit und Kühnheit einen Wettstreit eingehen kann, der meist zu Gunsten der ersteren ausfällt. Die gothische» Kuppeln nach Art derjenigen, von denen wir liier spre¬ chen, sind zu eng, als daß sie, gleich den andern, über das verhäng- nißvolle Gesetz der Schwere zu triumphiren scheinen könnten. Nur viejenigen Thürme, die, gleich denen zu Straßburg und zu Freiburg im Breisgau, zu unermeßlich scheinenden Tiefen ausgeweidet sind, können einen großartigeren Eindruck hervorbringen, als die weiten Kuppeln, welche der der Se. Peters-Kirche nachgeahmt sind. Die Kuppel der Antwerpener Kathedrale ist weit weniger eine solche, als vielmehr eine Lanterne von ungeheuren Dimensionen. Sie ist zu bauchige und im Aeußeren zu geschnörkelt, als daß sie nicht auf das Auge einen unangenehmen Eindruck machen sollte^ und wüßten wir nicht, daß sie aus dem Jahre !ö^4 ist, d. h. aus dem Ende der dritten Umwandlungsepoche der Spitzbogen-Baukunst, so würde man tres aus der trockenen und manierirten Ueberladunq von Einzelnheiten im Innern hinlänglich klar erkennen. Die Spitzbogen-Architektur hat ihre höchsten Thürme fast stets in ebenen Landstrichen, in ungeheuren Thälern und am liebsten an den Ufern der großen Ströme hingestellt, so daß es den Anschein hat, als habe sie da, wo die Natur den Menschen jene unvergleich¬ lichen Aussichten, wie man sie von einer hohen Bergspitze herab genießt, verweigert hat, den Horizont künstlich erweitern wollen. Es ist dies sogar eine unterscheidende Eigenthümlichkeit, welche der christlichen Baukunst nicht ausschließlich angehört. Die drei emporragendstcn Denkmäler, die man kennt, die große Pyramide des Cheops in Aegypten, der Straßburger Münster und die Antwerpener Kathedrale beherrschen alle drei mit ihren Staunen erregenden Massen große, überall gleich hochbleibende Flußgebiete, das deS Nils, deö Rheins und der Scheide. Und der Cölner Münster selbst in seinem unvol¬ lendeten Zustande ist mir ein Beweis mehr für diese Bemerkung. Der vielbesprochene babylonische Thurm, dessen Spuren man vergebens sucht, hat sich auch — hierüber ist man sicher — aus der Mitte der unabsehlich weit hingedehnten mesopotamisehen Ebenen, am Rande des Euphrat erhoben. Mau denke sich auch einen Augenblick in der Nähe all dieser Bauwerke ein hohes Gebirge, und der Künst¬ ler würde gewiß allen Muth zu seiner Arbeit verloren haben. Was wäre selbst die gigantisch hohe Pyramide deö Cheops neben einem jener ungeheuren Felsen, wie sie die Natur so oft über den Rand der Abgründe schwebend hinhängt? Nichts als ein durch seine An¬ maßung lächerlicher Maulwurfshaufen, der den Beschauer ganz kalt ließe. Selbst jene gewaltige Sphinr, deren unbewegliches Haupt noch heute den anstürmenden Sandfluten des Wüstenmeercs trotzt, würde eher von der Kleinheit als von der Macht der Menschen Zeugniß ablegen, wenn sie sich einer Vergleichung mit jenen von der verwitternden Macht der Jahrhunderte geformten Felsen aus¬ setzte, die in phantastischen Bildungen auf den Gebirgsketten Afrika's in vereinzelter Größe unsern Blick fesseln. Daher hat der Antwer¬ pens Thurm vor dem Straßburger insofern noch einen Vortheil voraus, als er auf einer unbegrenzten Grundlage ruht; denn so fern sie auch ist, so scheint doch die doppelte Gebirgskette der Vogesen und des Schwarzwaldes auf das unsterbliche Meisterwerk des deutschen Architekten höhnisch herabzusehen. Der Niese der Scheide dagegen steht in seiner Herrlichkeit einsam da. Die Fahrzeuge, die aus der" sturmgepeitschten Nordsee einherwogen, neigen grüßend ihre luftigen Häupter vor ihm, als einem jener Leuchtthürme der Civilisation, welche weit in die Ferne hinaus den Glanz eines reichen, gewerbthättgen Volkes strahlen. Und von der Landseite her giebt es zehn Meilen in der Runde auch nicht eine Stadt, deren Bild man nicht in schat¬ tenhaften Umrissen von seiner in die Wolken ragenden Spitze erblickte. Es ist eine großartige, imponirende Aussicht, die man von der Höhe der letzten Galerie herab genießt. So hat Schreiber dieser Zeilen erst neulich noch Gelegenheit gehabt, in Folge dieses unvergleichlichen Standpunktes einen Gegensatz zu bewundern, durch den er die Schön¬ heit dieser Denkmale einer verschwundenen Zeit tiefer als je er¬ kannt hat. Die Eisenbahn, welche Brüssel und Antwerpen mit einander verbindet, liegt bekanntlich ganz in dem Gesichtskreise, den der Be¬ obachter von diesem hohen Standpunkte aus überschauen kann. Der Thurm der Se. Romualds-Kirche in Mecheln scheint ein ungeheurer Pfahl zu sein, der absichtlich hier hingestellt worden, um einen Punkt in der Mitte der Bahn zu bezeichnen. In dem Momente, da wir unsere Augen auf diese zauberkräftige Bahn warfen, auf welcher mit der Schnelligkeit des Vogelfluges der eherne Hippogryph dahin rennt, ging ein Wagenzug ab, während ein anderer in die Station hineinkam. Da die Luft mit feuchten Bestandtheilen schwer beladen war, so erhielten die hohen Säulen des aufwirbelnden Dampfes eine weißliche Farbe und wurden dadurch unseren Augen sichtbar. Der ankommende Convoi schien sich mühsam auf dem Boden hinzu¬ schleppen ; der abgehende, der noch langsamer war, kroch dahin gleich einer Schnecke, die über einen Weg geht. Trotz dessen entfernte er sich fortwährend und lange noch verfolgte ich ihn mit meinen Blicken. Sein Dampfbanner verrieth ihn durch die Windungen des Bodens hindurch, hinter denen er zuweilen verschwand, und bezeichnete seinen Durchzug durch die Dörfer und kleinen Waldfleckcn, welche dem eintönigen Anblick dieser reichen Gefilde einige Abwechselung verlei¬ hen. Wäre es nicht Abend geworden, so hätten wir ihn vielleicht bis zu der Mechelner Station sehen können, deren zahlreiche Lichter weithin am Horizont einen matten Glanzschein verbreiteten. Unwill- kürlich aber brachen wir in folgende Worte aus, welche den durch diesen Anblick in uns geweckten Gedanken entsprachen: „Wie! Das also ist diese zügellose, so schnelle Kraft der Loco- motive, von der wir fast zum Schwindel gebracht wurden, als sie uns zum ersten Male auf ihren umflammten Rädern fortriß und wir Dörfer, Wälder und Ebenen wie schattenhafte Traumbilder an uns vorbeifliegen sahen! So große Schnelligkeit aus dem Erdboden und solche Langsamkeit, wenn man um fünfhundert Fuß höher ist! Und doch glaubte die Materie schon den Fittigen des Vogels Trotz bieten zu können, und strebt schon selbst den Schwingen des Gedan¬ kens vorauszueilen, und der Geist unserer Zeiten ist schon gar nahe daran, trunken von dem Zauber seiner eigenen Wunderwerke auszu¬ rufen: „Was denkt wohl Gott von seiner Creatur, wenn er sie so die Entfernung des Raumes verschlingen sieht? Ach! Gott sieht sie immer kriechen, da kaum aus halbem Wege zu den Wolken, ein Menschenauge schon das Bewußtsein dieser den Athem versetzenden Geschwindigkeit verliert, die es eben noch blendete." Indessen war es Nacht geworden und meine Blicke hoben sich zu dem funkelnden Lichte einiger Sterne empor, welche durch die nebligte Decke eines Herbsthimmels hindurchzuschimmern vermochten, und ich bedachte, wie auch wir und diese Erde, die uns trägt, zwischen Millionen von Sonnen mit einer Schnelligkeit uns bewegen, welcher die der Kanonenkugel noch gar fern steht, und wie wir wiederum auch diese Geschwindigkeit nicht gewahr werden. Darauf dann wandten sich meine Gedanken zum Menschen und den verschiedenen Werken zurück, die er von Jahrhundert zu Jahrhundert erfüllt, und es be- dünkte mir, daß, wenn der Charakter einer verschwundenen Gesell¬ schaft sich in den ruhenden Monumenten der Vergangenheit kund giebt, jene große Erscheinung der vorüberbrausenden Dampfwagen, die ich eben beobachtet, der bewegliche und flüchtige Ausdruck unserer Zeit sei und daß in einer solchen Entfernung davon, als diemeinige jetzt war, der Vergleich nicht eben zu unserem Vortheile aufschlüge. Das Werk jener spirttualistischm Zeit schwebt noch in seiner Unbe- weglichkeit hoch über den Staunen erregenden Entdeckungen, welche den Stolz einer neuen, im Kampfe mit der Materie begriffenen Ge¬ sellschaft ausmachen. Sie arbeiteten in die Höhe, wir schleppen uns auf der Oberfläche hin. Wir mögen immerhin unsere Erobe- rungen ausdehnen; der Schatten der ihrigen überragt sie doch. Ja, die Industrie kann noch nicht das letzte Wort der Zukunft sein; nein, so oft wir dies auch gedacht haben mögen, unsere Eisenbahnen sind nicht unsere Kathedralen. Der Odem deS Geistes, der einst diese Granitmassen formte, weht noch aus diesen Steinen heraus, die Gesellschaft, welche so edle Monumente zu erbauen verstand, hat uns in ihnen ihre Seele hinterlassen. Wenn aber jetzt ein Sturm das Feuer ausbliese, das unseren heutigen künstlichen Eisenbahnen, worauf wir so stolz sind, seine Nahrung giebt, was würde dann übrig bleiben? Skelette, die beim geringsten Anstoß zu Staub zer¬ fallen. Und ist das Alles, was uns überleben soll? Wann wird sich das Lebenöprincip, dqS sich in uns bewegt, von seiner irdischen, ver¬ gänglichen Form losmachen? Wann werden wir unsern Tempel bauen? In Erwartung dieser geistigeren Zukunft unserer Architektur restauriren wir und thun gut daran. Dieser sieberartig um sich greifenden Lust an der Rehabilitation der Vergangenheit verdanken wir es, daß die Meisterwerke der Spitzbogenbaukunst vor dem gänzlichen Ruine bewahrt werden und die alten Kathedralen unter der ein¬ sichtsvollen Leitung unserer Künstler sich verjüngen. Es scheint, als wollten wir an diesen Denkmalen drei Jahrhunderte der Ver¬ wüstung und geistlosen Uebertünchung wieder gut machen, denen sie anheimfielen, als sie kaum aus den Händen ihrer bewunderungs¬ würdigen Erbauer hervorgegangen waren. Ob die Aufregung, die sich neuerdings besonders in Deutschland kund gegeben und welcher die großen und einfachen Worte des königlichen Redners eine hohe Weihe verliehen, eine stichhaltige sein, ob sie Kraft genug besitzen wird, die großartige Basilika der Nheinstadt auszubauen, ob der Nationalstolz das vollenden wird, was die Energie deS religiö¬ sen Gefühls nicht vermocht hat — aufrichtig gesagt, so sehr wir es, besonders von diesem letzten Gesichtspunkte aus, wünschen, so wagen wir es doch kaum zu hoffen. Die Kathedrale am Schelde- Ufer aber wird glücklicherweise noch viele Jahrhunderte hindurch den unvermeidlichen Angriffen der Zeit zu trotzen im Stande sein. Obzwar erst im Jahre 1518 beendet, hatte die Thurmspitze doch schon viel gelitten; denn das feuchte Klima Antwerpens zerstört den Stein. Zum Glücke aber werden diese allzufrühen Spuren des Verfalles bald beseitigt sein: fast die ganze obere Galerie, von der wir oben gesprochen haben, ist wiederum erbaut worden. So ist auch der Haupteingang, über den die zerstörende Wuth der Refor¬ mation ergangen war, in seinem ursprünglichen Zustande wieder hergestellt worden. Ebenso sind in neuerer Zeit auch im Innern der Kathedrale große Verschönerungsarbeiten vorgenommen worden. So haben wir unter anderen auf der rechten Seite des Chors eine Ka¬ pelle bemerkt, die einen sehr schönen gothischen Styl haben wird Was aber vorzüglich verdient, ein Gegenstand unserer Aufmerksam-' keit zu werden, das sind die Chorstühle in geschnittenem Holze, mit denen der Umkreis des Chors bald vollständig geziert sein wird. ES ist bis auf diese Zeit noch Nichts der Art in Belgien unternom¬ men worden, und wir glauben, daß es, mit Ausnahme Englands etwa, schwer halten sollte, irgendwo anders ein zweites Beispiel einer so sinnigen, geistreichen Rückkehr zur gothischen Kunst zu fin¬ den, besonders ein nach einem so hohen Maßstabe aufgefaßtes. Fast alle Chorstühle nämlich, die man in den reichen Kirchen Flanderns bewundert, rühren aus dem siebzehnten Jahrhunderte her. Die Ur¬ sache dieses Umstandes begreift man leicht. Die Wuth der Bilder¬ stürmer nämlich hat während der Reformationszeit, besonders um das Jahr 1566, sämmtliche Kirchen ihres alten Schmuckes beraubt. Nur sehr wenige Gemälde und Bildsäulen und noch weniger Altäre, Kanzeln und Chorstühle entgingen dem AechtungSurtheil, das diese Secte über sie fällte, welche den Bilderdienst und Alles, was damit zusammenhing, gleich einem heidnischen Götzendienst verabscheute. Der Strom raujchte vorüber und die Tempel wurden leer. Als endlich die Unruhen gänzlich beigelegt waren und dem katholischen Glauben an diesen Orten der Sieg geblieben war, da waren alle Stätten des Got¬ tesdienstes neuer Ausschmückung bedürftig. Diese Aufgabe war das Erbtheil, das dem siebzehnten Jahrhundert zufiel; dieses war würdig, sie zu erfüllen. Seine Maler, seine Bildhauer, seine Baumeister machten sich an's Werk und in einigen Jahren war der Schaden überall verschwunden. Daher herrscht in Belgien zwischen dem Cha¬ rakter der im Spitzbogenstyl erbauten Kirchen und dem der Zierra¬ then, mit denen sie geschmückt sind, eine weit durchgreifendere Verschie¬ denheit als irgendwo anders. Der Zwischenraum, der sie trennt, ist die letzte Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. In den Orna- unter nun herrscht unumschränkt Rubens und seine Schule, die in Bezug auf die Form durchaus profan ist. Die plastische Kunst je¬ ner Zeit hatte selbst in ihrer Anwendung auf religiöse Dinge jenen Lurus an schwellenden, beweglichen Formen und, wenn man sich so ausdrücken kann, an Fleisch beibehalten, der mit der nüchternen Strenge der rein gothischen Form einen Contrast bildet, der heutzu¬ tage weit mehr in'ö Auge springt, als dies damals der Fall war. Die Chorstühle, die Altäre, die Kanzeln und die Beichtstühle jener Epoche haben eine allzuweltliche Physiognomie, selbst wenn sie in der Ausführung nicht manierirt sind. Nun kann es aber in einer katholischen Kirche Nichts geben, das minder an seinem Platz wäre, als diese einer späteren Epoche angehörenden Baldachine, welche die Altäre entstellen und die an jene verschwenderische Mode erinnern, welche zur Zeit, da Ludwig XIV. regierte, in den Meubles herrschte. Daher wäre es überaus wünschenswert!), daß man zwischen den religiösen Bauwerken und ihren inneren Verzierungen jene Ueberein¬ stimmung des Styls wieder herstellte, welche durch die oben von uns angedeuteten Ursachen zerstört ward. Und darum hat es uns eine außerordentliche Freude gemacht, als wir die Kirchenverwaltung der Kathedrale Unserer Lieben Frauen zu Antwerpen hierin im Großen mit gutem Beispiele vorangehen sahen. Die Chorstühle werden, wenn wir uns nicht irren, aus Linden¬ holz angefertigt werden und ganz im Style der Kirche selbst sein. Man kann nach denjenigen, welche schon placirt sind, sich vollkom¬ men eine Idee von dem Gesammteindruck dieser schönen Arbeit machen. Da der Umkreis des Chors von sechs massiven Pfeilern gebildet wird und sich in der Säulenweite im Hintergrunde lediglich der Altar befand, so hatte der Bildhauer noch sechs Räume, drei auf jeder Seite auszufüllen. Herr Geerts aus Löwen nun, der mit dieser Arbeit beauftragt worden, hat die Sache folgendermaßen angeordnet. Der Altar wird von den Chorstühlen durch ein durch¬ brochenes, hölzernes Geländer getrennt werden, das nach rechts und links hin von einem Pfeiler bis zum andern sich zieht, und dessen rechte Seite schon angebracht ist. Es blieben also von jeder Seite nur noch zwei Säulenweiten auszufüllen, deren Mitte durch einen Pfeiler bezeichnet wird. Auf diesem Pfeiler soll sich nun eine Art sehr schmaler und sehr schlanker gothischer Thurmspitze erheben, die, wenn wir uns nicht täuschen, zwei Drittel der Höhe erreichen wird, welche die Kirche vom Boden bis zum Gewölbe hat. Diese Thurmspitze, der auf dem andern Pfeiler eine ganz gleiche gegenübersteht, wird einer Bildsäule zur Nische dienen und an ihre Grundlage wird sich die Treppe lehnen, die zu den zwei Chorstühlen einer jeden Seite führt. Diese selbst werden, wie es Brauch ist, hoch genug stehen, damit vor ihnen, auf einer niedrigen Fläche eine zweite Reihe Sitze Platz finden kann. In der Verzierung dieser Chorstühle nun hat Herr Geerts, Architekt und Bildhauer zu gleicher Zeit, allen Reich¬ thum seiner Einbildungskraft und seiner Erinnerungen entfaltet. Die schönsten Arbeiten dieser Art, die wir bisher in Belgien besaßen, bestehen ganz einfach in einer Verkleidung von Bas-Reliefs, die sich über den Chorstühlen befinden und die fast immer durch Säulen im Renaissance-Styl in Fächer abgetheilt ist, während sie unab¬ änderlich in einem Karnteß sich abschließt. Herr Geerts nun hat diesen Weg gänzlich verlassen. Indem er sich an den Werken der Bildhauerkunst, die im Brüsseler Museum sind, inspirirte, hat er hinter den Chorstühlen eine wahre Mustersammlung aller Formen der Spitzbogen-Architektur angebracht, und das nicht blos im Relief, sondern in der Tiefe, dergestalt, daß die obere Linie von einer Menge kleiner Glockentt)ürmchen spitzenartig durchbrochen ist, welche von beiden Seiten der, wie wir schon beschrieben haben, an den Pfeiler sich anlehnenden Haupt-Thurmspitze entsprechen. Diese go¬ thische Phantasie zeichnet sich aus durch eine wahrhaft bewunderungs¬ würdige Verschwendung von kleinen Säulen, Nischen und Figuren, die überaus zart gearbeitet sind. Das Innere der Portale, welche die kleinen Säulen bilden, nehmen Arbeiten ein, deren Modell in Gyps man ebenfalls im Brüsseler Museum sehen kann, und welche, was den schon vollendeten Theil betrifft, Mariä Verkündi¬ gung, Mariä Heimsuchung, die Anbetung der drei Könige aus dem Morgenland, die Flucht nach Aegypten und die heilige Familie dar¬ stellen. In allen diesen Werken athmet ein durchaus bemerkens¬ werthes, gothisches Gefühl; man möchte sie fast für eine plastische Übertragung der Gemälde Van Cyck's, Hemmelinck'S und Lucas von Leyden halten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch unausgefüllten sieben Nischen der rechten und zwölf Nischen der linken Seite eine Fortsetzung des Lebens Jesu Christi nach der Darstellung der Evangelien enthalten; über diesen Bildhauer-Ge- niälden nun stehen in gleichen Zwischenräumen andre Figürchen, welche einen Christus, der die Weltkugel in den Händen hält, meh¬ rere Engel in verschiedenen Stellungen, — unter andern einen weinenden Engel, dessen Ausdruck sehr schön ist, — einen Se. Mi¬ chael, einen guten Hirten darstellen. Das ist aber noch nicht Alles; vor den Chorstühlen sieht man andre sitzende Figuren, welche eben¬ soviel symbolische Bilder sind. So z. B. hier ein bußethucnder Kaiser, der das Zeichen der Herrschaft mit Füßen tritt; weiterhin einen verzückten Märtyrer; neben ihm eine junge Frau, welche den Frieden darstellt (diese beiden Figuren sind diejenigen, deren Aus¬ führung unter allen die feinste ist); noch weiterhin endlich die Barm¬ herzigkeit, die Unschuld und andre gleichfalls leicht erfaßliche allego¬ rische Figuren. Die Ausführung aller dieser Gestalten aber rührt nicht von einer Hand her; denn es sind drei oder vier darunter, welche einen ziemlich schwerfälligen Meißel verrathen. ES ist aber durchaus zu wünschen, daß Herr Geerts die Einzelnheiten dieses großen Werkes so wenig als möglich ungeschickten Händen anver¬ traue. Sollte er deshalb auch nur langsamer vorwärts schreiten, so möge er doch bedenken, daß er für die Zukunft arbeitet und daß er dieser so wenig Gelegenheit zum Tadel lassen darf, als er nur immer kann. Auf der Seite, die nach dem Altare zu geht, stehen auch noch Engelsgestalten, welche Legenden halten. Ihre schwebenden Gewänder, ihre an den Schläfen zurückgeschlagenen Kopfhaare, ihre langen Fittige, in die sie sich einhüllen, sind ganz und gar im Geschmack des sechzehnten Jahrhunderts. Auch von diesen kann man in der diesjährigen Brüsseler Kunstausstellung ein Muster sehen. Diese Arbeit ist, besonders der unendlichen Mannigfaltigkeit des Details halber, etwas Ungeheures und sie wird Herrn Geerts die größte Ehre machen, der, wie uns scheint, als Bildhauer hier auf das gestoßen ist, worin das Charakteristische seines Talents besteht, nämlich auf die nachahmungs des Gothisch-naiven. Er hat eine Anschauungsweise wieder geltend gemacht, die wir ganz verloren geglaubt haben, und er leistet in der Bildhauerkunst das, was deutsche Künstler in der Malerei thun; nur mir dem Unterschiede, daß in einem Gebiete, wo die Kunst fast gar kein Muster hinterlassen hat, der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬ nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten können. Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬ naissance ist für ihn noch nicht da gewesen. Die Figuren sind lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif, und alle Linien absichtlich durchaus mager. Da aber, wie wir weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬ bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von, einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann, sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild- hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht, der Urheber derselben die Anklage — wenn es eine solche ist — deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬ stimmung nun, — so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an sich trägt, — ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬ treten. Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-, holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬ hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬ petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts hineinzieht. Es ist dies freilich nur ein Umstand von geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl' den, so wäre man doch hieraus allein späterhin zu dem vollkommen wahren Schlüsse berechtigt, daß der Baumeister dieses schönen Werkes alle Phasen der christlichen Baukunst an sich hat vorbeigehen sehen. Und es ,ist gut, daß man dieses zu erkennen vermag; denn, wenn es irgend möglich wäre, die Nachwelt auf eine falsche Spur zu brin¬ gen, welche Verwirrung würden da nicht die eben so verschieden¬ artigen als zahlreichen Nachbildungen unserer Zeit in die Geschichte hineinbringen. Wie fast alle großen Kirchen Belgiens, ist auch die Unsrer Lieben Frauen zu Antwerpen mit ausgezeichneten Gemälden geziert. Außerdem hat sie noch den unschätzbaren Vortheil, daß sie die be¬ rühmte KreuzeSab nähme von Rubens besitzt. Ich war neu¬ gierig, mich durch eigene Anschauung zu überzeugen, was an den Gerüchten Wahres sei, welche im Publikum über den Zustand des Verfalles umliefen, in dem sich dies herrliche Bild befinden solle. Es ist leider nur zu wahr, daß es durch die Feuchtigkeit der Kirche sehr viel gelitten hat, obgleich, Gott sei Dank, dem Unglück noch abgeholfen werden kann. Ueberdem erlaubt auch der Staub, der sich langsam auf der Oberfläche angehäuft hat, kaum noch das ge¬ waltige Colorit deutlich zu unterscheiden, besonders bei den mehr in Schatten gestellten Partien. Wir gehören nun zwar nicht zu den¬ jenigen, welche der Meinung sind, man solle den Kirchen ihre Ge¬ mälde rauben, um die Musen damit zu bereichern. Die religiösen Gemälve sind, unsrer Ansicht nach, unter den Gewölben der katholi¬ schen Tempel ganz am rechten Platze, und sie tragen nicht wenig zu dem Pomp eines Gottesdienstes bei, dessen Großartiges ja selbst der Protestantismus der neuesten Zeiten wieder zu wünschen be¬ gonnen hat. Trotz dessen aber wünschen wir, es möge die Regie¬ rung, insofern es die Kunstgegenstände betrifft, ihre aufgeklärte Oberaufsicht und Ueberwachung auf alle Orte ausdehnen können, in denen die schönsten nationalen Kleinodien Belgiens aufbewahrt sind. Wenn es wirklich Noth thut, die Kreuzesabnahme auf Leine¬ wand aufziehen zu lassen, d. h. Rubens' Meisterwerk von Holz auf Leinewand zu übertragen, so ist es Zeit, daß die Regierung den Unentschiedenheiten und Meinungsconflicten, welche diese überaus zarte Arbeit noch verzögern, ein Ende mache. Wir glauben, daß sie allein im Stande ist, diese Arbeit mit allem nöthigen und our- sehenswerthen Aufwand an geistigen und pekuniären Mitteln voll¬ ziehen zu lassen; denn sie allein bietet durch ihre Stellung über den Parteien, genügende und beruhigende Garantien dafür, daß keine der Kunst fremde Rücksicht sie in der Wahl der Person, welcher diese so wichtige Aufgabe anvertraut werden müßte, bestimmen würde. Antwerpen zählt noch andre Kirchen, die, wenn sie auch in keiner Beziehung mit der Kathedrale einen Vergleich aushalten, doch auch nicht ganz ohne Erwähnung bleiben dürfen. So ist z. B. die, welche dem heiligen Jacobus geweiht ist, ein gothisches Bau¬ werk aus der Verfallzeit dieses Styles, dessen Verhältnissen es aber nicht an Großartigkeit fehlt. Sie wurde im Jahre .1479 begonnen und konnte also nicht vollendet werden; denn diese ungeheuren Ar¬ beiten erforderten mehr als ein Jahrhundert und zwei nebeneinander fortlaufende historische Thatsachen, welche beide auf den Spitzbogen¬ styl eine gleich nachtheilige Einwirkung haben mußten, die Refor¬ mation und die Renaissance, nahten mit großen Schritten. Dennoch wurde im Jahre 1515, also sechs und dreißig Jahre nach dem Anfange, der Chor beendigt. Die Thürme aber, welche man erst im Jahre 1491 zu bauen begann, blieben in diesem Zustande der ersten Anfänge: sie erheben sich nur um ein sehr Geringes über die Kante deS Daches des Schiffes und sehen von Weitem wie ein entmastetes Schiff aus. Bemerkenswert!) ist im Innern dieser Kirche ein Smgchvr, eine Art von Tribune vor dem Chor, wie man sie nur noch sehr selten antrifft. Was aber den Blick des kunstsinnigen Beschauers am meisten betrübt, das sind die Glasfenster. Sie müssen, wenn ich mich nicht sehr irre, aus dem Ende des siebzehnten Jahr¬ hunderts, d h. aus einer Epoche herrühren, wo das Geheimniß der Glasmalerei schon fast gänzlich verloren war. ES möchte daher schwer sein, ein Werk zü finden, dessen Ausführung matter wäre, als diese Scheiben; man mochte fast meinen, die Farben seien nach und nach vom Regen abgeschwemmt worden. Ueberhaupt ist dies eine Zierde, welche den Antwerpener Kirchen fehlt. Die Glasmalereien sind wahrscheinlich während der Schreckensherrschaft der Bilderstür¬ mer zertrümmert worden und die Antwerpener Kirchen haben nicht gleich der von Se. Gudula in Brüssel, das besondere Glück gehabt, daß sie zu einer Zeit reparirt wurden, wo in diesem Fache die guten Traditionen noch lebendig waren. In dieser Se. Jakobus-Kirche giebt es einige gute Gemälde vorzüglich dasjenige, das über dem Grabstein des Malers Van Balen hängt. Das Bildniß dieses Künstlers und seiner Gemahlin, in einem Medaillon, ist eins der schönsten und vollendetsten, die man sehen kann. Auch über die Se. Paulus-Kirche will ich einige Worte hier sagen, obgleich sie durch ihre Architektur auch nicht den mindesten Anspruch auf Auszeichnung machen kann. Denn kaum kann man den Styl bestimmen, dem der kleine untersetzte Glockenthum ange¬ hört, der sich kaum über das Dach erhebt. Ein innerer Hof, den diese Kirche besitzt und der in einen Calvarienberg umgewandelt worden, ist wohl der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Man begreift kaum, wie neben so vieler Kunst, die der Katholicismus hervorge¬ bracht, auch so viel Barbarisches Platz finden konnte. Wenn man die abscheulichen Bildsäuleu aus Gyps sieht, welche diesen Calva¬ rienberg überfüllen, diese fast komischen Nachahmungen von Felsen, diese namenlose Mischung von dicken Wolken, von Gyps-Strahlen lind von illuminirten Engelsgesichtern, so möchte man doch sicherlich nicht glaube», daß dies von demselben Cultus herrührt, der anders¬ wo zu den erhabensten Meisterwerken begeistert hat. Eine besondre Eigenthümlichkeit dieser Kirche ist noch, daß das Schiff blos von einer Seite her Licht erhält. Die Mauern sind alle mit Holzwerk verziert: das auf der linken Seite mit Inbegriff der Chorstühle ist in dem eleganten Styl, der dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts angehört;'das auf der rechten Seite dagegen, schwerfällig und schlecht gearbeitet, rührt offenbar aus einer späteren Zeit her. Das Bemerkenswertheste in dieser Kirche ist ein sehr schönes Gemälde von Rubens, die Geiße¬ lung, von dem man auch eine Copie sieht, die ziemlich gut ist, obgleich der Pinselstrich derselben ein wenig schlaff ist. Von neueren Kirchen zieht nur eine einzige unsre Aufmerksam¬ keit an; es ist die Jesuitenkirche. Sie ward im Jahre 1614 begon¬ nen und im Jahre 1621 vollendet: zwei Daten, die beredter sind, als jede Schilderung. Man erkennt an diesen Zahlen, daß der Katholicismus der Zeit schon fern stand, wo der Glaube so stark war, daß ein Werk, zu dessen Vollendung Jahrhunderte erforderlich waren, von Generation zu Generation überliefert und fortgesetzt ward. Die Jesuitenkirchcn aller Länder haben alle etwas Etnför- migeS und Weltliches, woran man sie sehr leicht.rikennt. Diese hier war eine der reichsten und schönsten, die sie je haben erbauen lassen. Der Sage nach rührt die Fa^abe von Rubens her; jeden¬ falls ist sie möglichst profan. Eine Reihe musikalischer Instrumente zieht sich die ganze Breite entlang, unmittelbar unter dem berühmten Monogramm. Das Innere ist prachtvoll; eS ist ganz leuchtend von Gold und Marmor. Die beiden oberen. Steingalerien sind in einem sehr eleganten Styl, der viel nachgeahmt worden ist. Mai, sieht überhaupt, daß das Haupt der flamändischen Schule Gefallen daran gefunden hat, diese seine LieblingSkirche auf alle Art auszuschmücken. Trotz aller seiner Anstrengungen aber ist die letzte Dorfkapelle mit ihrem zerdrückten Gewölbe und ihren ländlich rohen Fenstern viel geeigneter, die Seele zur Andacht zu stimmen, als dieses prachtvolle, stolz glänzende Haus, das durchaus nicht zum Gebet geschaffen ist. Die Kirchen der Jesuiten gleichen ihren Lehren; sie scheinen nur in der Absicht geschaffen, eine leichte und lachende Andacht einzuflößen; sie schmiegen sich dem Geschmack des Jahr¬ hunderts ihrer Errichtung an, das in Kunst und Literatur wieder heidnisch geworden war, und um ihm zu gefallen, nähern sie sich wiederum, so viel nur immer möglich, dem griechischen Tempel. Die Jansenisten dagegen, diese Puritaner des Katholicismus, ließen in strenger Konsequenz ihrer Ideen, ihrem ernsten Unwillen in den asketischen Finsternissen von Se. Severin oder in den kalten Zellen von Port-Royal-deS-Champs freien Lauf. Die weltliche Baukunst wird in Antwerpen durch vier von verschiedenen Rücksichten aus merkwürdige Gebäude repräsentirt. Die Kathedrale ausgenommen, und diese selbst ward erst sehr spät begon¬ nen, erinnert Nichts in dem modernen Antwerpen an das Bürgerthum des Mittelalters. Tas Rathhaus allein ist ein hinlänglich schla¬ gender Beweis, daß es nur die demüthige und unbekannte Zeitge¬ nossin der stolzen Gemeinden Brügge und Gent war. Dieses Rath- haus ist ein schwerfälliger, im Jahre 1564 vollendeter Bau, dem man die spanische Herrschaft schon gar deutlich ansieht. Man be¬ merkt beim ersten Blick, daß es nicht mehr das Werk jener freien und unruhigen Bürgerschaft des vierzehnten Jahrhunderts ist, welche ihr Gefallen daran fand, jene furchtbaren Orte, innerhalb deren sie ihre gewaltigen Aufstände beriethen, zu befestigen und zu verzie- 28 ren. Hier sind an der Stelle der wehenden Banner und der Sinnbilder der Gewerke und Zünfte traurige und kalte Allegorien getreten. Man sieht es wohl, Karl V. in seinem entsetzlichen Zorn hat das ewige Feuer der inneren städtischen Unruhen schon mit dem Blute seiner Genter Mitbürger gelöscht; jetzt gilt rS, sich unter den Zepter seines schrecklichen Sohnes zu beugen und ohne Murren den Befehlen zu gehorchen, die aus den Gemächern des Escurial herüber¬ kommen. DaS Nachhalls der Stadt Antwerpen besagt Nichts, weil weder eine Leidenschaft noch ein Glaube dem todten Stein eine Seele eingehaucht, dem stummen Bau eine Sprache verliehen hat. Trägt es ja irgend einen Charakter an sich, so ist es eben der der Sklaverei. Seine niedrigen Stockwerke, seine graue Fa^abe, dem die Zeit eine abscheuliche schwarze Fälbung verliehen, sein Styl, die nicht mehr gothisch und dennoch auch nicht zu keck weltlich ist, — dies Alles betrübt den Blick und scheint dem Beschauer auf alle seine vergeblichen Fragen Nichts weiter zu antworten, als daß Antwerpen, allein unter allen Städten der flandrischen Provinzen, keine municipale Geschichte hat. Daher trägt auch die Architektur der Privathäuser, die aus derselben Epoche herrühren, denselben Charakter deö Schwankenden, Unentschiedenen. Nicht als ob, — um einen sehr schlagenden Ausdruck Victor Hugo's in Notre-Dame de Paris zu brauchen — „die Buchdruckerel mit ihren bleiernen Geschossen hier tödtlich gewirkt habe," nein, die communale Freiheit war verschwunden, weil die feudale Unabhängigkeit auch ihre Zeit durchgemacht hatte. Denn das Eine war die Folge deö Andern. Um nur ein Beispiel aus den Antwerpener Privatbauten hervorzu¬ heben, führe ich das Junungshaus der Armbrustschützen an; man betrachte eS nur mit seiner geschmack- und verhältnißlosen Fa^abe, mit diesen fünf Stockwerken, in denen die meisten Fenster nur Blenden sind. Ist dieses Halts nicht ein deutlicher Beweis von der Ohnmacht der Kunst, die sich hier an Nichts weiter zu begei¬ stern hatte, als an der Eitelkeit einer fortan unnütz gewordenen Körperschaft. Und dieselbe Unsicherheit und Armuth deö Styls bieten, wie gesagt, alle alten Häuser Antwerpens dar. Die düstre une- «los Nütissvui-Z, welche auf den Platz rechts vom Rathhause ausläuft, gehört ganz und gar dieser Epoche an und es ist hier seit dreihundert Jahren auch nicht ein Ziegelstein von der Stelle gerückt worden. Diese Straße war damals häßlich und ist es heute «och mehr. Wir machen diese Bemerkung absichtlich, damit man uns nicht für einen jener Liebhaber der alten Architektur in Panhas und Bogen halte, welche in den Gegenständen ihrer Bewunderung keine Auswahl treffen und sich vor Allem in fanatischer Ehrerbietung beugen, was eben alt ist. Im Gegentheil hat in unsren Augen die Kunst nur durch das, was sie ausdrückt, einen Werth. Wenn sie uns Nichts sagt, so gehen wir vorüber und bedauern es durch¬ aus nicht, wenn der alte Gyps und Kalk fällt, um neuem, wenig¬ stens eleganterem und bewohnbarerem Gyps und Kalk Platz zu machen. Die einzige Ausnahme von dem Tadel, der die ganze alte bürger¬ liche Architektur Antwerpens trifft, macht vielleicht das Gebäude des im Jahre I5l)3 ausgebauten Schlachthauses, das mit seinen Thürmchen an den Seiten einer Festung gleicht und doch wenigstens die Arbeit nicht deS ersten, besten Maurermeisters, sondern eines noch auf seine Freiheiten eifersüchtigen Gewerkes scheint. Mehr Recht auf unsre Achtung in Bezug auf Baukunst Hai der Antwerpener Handel. Da Antwerpen im sechzehnten Jahrhun¬ dert die höchste Stufe seines Glanzes als Seestadt erreicht hat, so hat auch diese Epoche ein charakteristisches Zeugniß von sich hin¬ terlassen, daS länger gedauert hat, als dieser vorübergehende Wohl¬ stand. Wir sprechen nämlich von der Börse, die man als daS erste Gebäude der Art betrachtet, das zur Bequemlichkeit der Handels¬ geschäfte erbaut worden. Der erste Stein dazu ward im Jahre 1531 gelegt, also gerade in demselben Jahre, in dem Gent das malerische Schifföhcrrnhäus sich erheben sah. Dieses Gebäude nun, das von Außen an beiden Seiten von Häusern eingeschlossen ist, besteht eigentlich nur aus einem viereckigen Hof, um dessen vier Seiten sich eine breite Säulenhalle zieht, die von sehr dünnen, sonderbar aussehenden Säulen getragen wird. Vier Thüren dienen als gedeckte Nebenausgänge. Der Styl dieser Säulenreihe erin¬ nert nur in sehr großem Abstand an den Spitzbogenstyl; sie nähern sich mehr den maurischen Formen und der Baumeister, dem die unvermeidliche Einfachheit deS Ganzen die Flügel d>r Einbildungskraft gar sehr beschnitten hatte, hat sich dafür durch me mannigfache Abwechselung in Zeichnung der Capitäler entschädigt, in welcher Beziehung er übrigens den Beweis einer ausgezeichnet 28* fruchtbaren Phantasie abgelegt hat. In Belgien findet sich von diesem Styl, dessen Sonderbarkeiten nicht ohne Reiz sind, nur noch ein Beispiel vor, nämlich der innere Hofdeö alten fürstlichbischöflichen Palastes in Lüttich. Fürchteten wir übrigens nicht, in Aussuchung von Analogien zu weit zu gehen, so würden wir sagen, daß diese Erinnerungen an den Orient hier in Antwerpen mit den seltsamen und bunten Trachten der überseeischen Handelsherrn sehr gut har- monirte, welche damals um die Mittagsstunde die weiten Galerien dieses Sammelplatzes von Kaufleuten aller Nationen füllten. Das Hansahaus, Oosterlingnes, das zweite große Han¬ delsgebäude, das in demselben Jahrhundert erbaut wurde, — denn es trägt die Jahreszahl 1568, — verdient wenigstens insofern hier eine Erwähnung, als eS ein noch bestehendes Denkmal des ausge¬ dehnten Handels ist, den Antwerpen mit den Bewohnern des Nordens trieb. Es enthielt, wie man sagt, dreihundert Zimmer, in denen die Kaufleute aus den hanseatischen Häfen freie Wohnung erhielten und in denen sie ihre Waaren niederzulegen berechtigt waren. Bekanntlich hat Antwerpen lange, lange Zeit zu seinem großen Unglück in den religiösen Unruhen der Niederlande unter der ver- hängnißschweren Herrschaft Philipp's II. eine Rolle gespielt. Da¬ mals fehlte nur wenig daran, daß Antwerpen, während es im Be¬ sitz der abgefallenen Provinzen war, zu der Wichtigkett gelangt wäre, welche nachher zu des ersteren großem Nachtheil Amsterdam erlangt hat, das damals nur ein armselig, unbedeutendes Fischerdorf war. Wäre Antwerpen der protestantischen Partei verblieben, so würde es ohne Zweifel zu einem unerhörten Grad von Wohlstand sich aufgeschwungen und in Folge dieser Unruhen selbst seine See¬ macht bedeutend emporgebracht haben. Erst als die Holländer völlig daran verzweifeln mußten, es den Spaniern wieder zu ent¬ reißen, dachten sie daran, einen Fluß zu schließen, aus dem die > Natur den geradesten Weg in die Noidsee gemacht hatte, eine schreiende Ungerechtigkeit vom gesellschaftlichen Standpunkte aus, welche aber von der Politik lange ihre Weihe erhalten hat und noch heute nicht gänzlich aus dem europäische» Staatenrecht ver¬ schwunden ist, das freilich gar oft mit dem geheiligten Recht der Na¬ tionen in schreienden Widerspruch steht. Antwerpen nun scheint, seitdem der siegreiche Widerstand seiner entfernten Herrscher es dem Protestantismus entrissen hat, sich in die Arme der Religion gestürzt zu haben, um hier einen Trost gegen den unheilbaren Schaden der Ge¬ genwart und gegen die Erinnerung an eine glänzendere Vergangen¬ heit zu finden. Wenigstens giebt es keine Stadt, wo man mehr äußere Anzeichen katholischer Andacht und Frömmigkeit findet. Die Bilder der heiligen Jungfrau, welche man an jeder Straßenecke trifft und über die der Fremde, besonders der aus dem protestan¬ tischen Norden, sich nicht genug wundern kann, geben mit ihren vom Winde lustig hin und her geschaukelten Laternen Ant¬ werpen noch heute jene Physiognomie einer spanischen Stadt, wie sie vielleicht die Städte der Halbinsel selbst heutzutage dem Reisenden nicht mehr zeigen. Wir haben in der Unzahl dieser frommen Bildsäulen vergebens nach einer Arbeit uns umgesehen, welche verdiente, in diesem den Kunstwerken Antwerpens gewidmeten Artikel einen Platz zu finden. Sie sind alle einander gleich und da sie nothwendigerweise alle nach dem Vorüberziehen der Bilderstür¬ mer gesetzt sein müssen, so gehören sie einer sehr späten Epoche ein: ihr Hauptverdienst sollte Naivetät sein und umgekehrt leiden alle an einer abscheulichen Ueberladung und Manierirtheit. Zu diesen- Fehler kommt noch ein in Belgien allzu häufiger, barbarischer Ge¬ brauch, der nämlich, sie alle Jahre mit einer neuen Lage von Ma¬ lerei zu überkleiden: man scheint hier nicht zu der Erkenntniß kommen zu wollen, daß diese Uebertünchung den Werken des Meißels mehr schadet, als die Rauheit der Luft und Witterung. Antwerpen ist arm an Monumenten, die ganz der Neuzeit an> gehören. Der Palast des Königs auf der place 6e Neir, obgleich im siebzehnten Jahrhundert, d. h. in dem Styl erbaut, dem man den Spottnamen des Cichorienstylö gegeben hat, fällt doch durch seine Anordnung angenehm in's Auge, vielleicht weil dem Ganzen die monotone Nacktheit der benachbarten Fayaden als erhöhende Folie dient. Die großen unter dem Kaiser ausgeführten Arbeiten gehören nicht in das Bereich und die Competenz dieses Aufsatzes und thun wir vielmehr alles Mögliche, um die Scheune nicht zu sehen, die man unter dem anmaßenden Namen eines Entrepüt, während der Vereinigung Belgiens mit Holland am Ende des Hafens hingebaut hat. Das einzige in neuerer Zeit errichtete Werk, das in den Rahmen dieses Artikels gehört, ist die Rubens-Bild Säule oder, richtiger gesagt, der Piedestal, auf den, acht einmal mehr jenes GvPSmodell steht, das man daselbst vor oval Jahren mit so vielem Pomp eingeweiht hatte. Wir sind der Meinung, und zwar sind wir nicht die einzigen, die ihr angehören, daß der Se. Walburgs-Platz die schlechteste Stelle war, die man wählen konnte. Gegenüber der Scheide, da war nur für einen Seehelden ein passender Platz, Die plano verte schien uns mehr Recht auf den Besitz dieser Bildsäule zu haben, der ihre schönste Zierde gewesen wäre. Man hätte damit zugleich den Uebelstand vermieden, daß die schöne Bronze-Arbeit von Geefö der feuchten Scheldeluft ausgesetzt ist, welche sicherlich viel zu einer schleunigeren Verschlechterung beitragen wird. Doch dagegen läßt sich nun Nichts mehr ausrichten; wir wünschen nur, man möge den abgeschmackten Schwierigfeiten, welche die Auf¬ richtung der Bildsäule auf ihren Piedestal verzögern, ein baldiges Ende machen. Der Reisende vermag sich das Verschwinden einer Bilvsäule, deren feierliche Einweihung einen Widerhall durch ganz Europa gehabt hat, nicht gut zu erklären. Bei Gelegenheit deS Piedestal wollen wir übrigens, zum Schlüsse dieses Aufsatzes, noch eine Bemerkung uns erlauben. Was sollen die Wappen bedeuten, die über der zukünftig hinzusetzenden Inschrift eingehauen sind? Sollen es die Wappen der Stadt sein, so ist das Wenigste, was man dagegen sagen kann, daß sie unnütz sind. Hat man damit aber darauf hinweisen wollen, daß Rubens seiner Zeit dem niedern Apel angehörte, so heißt dies, ihn herabwürdigen. Rubens war ein Genie! Das wissen wir und als solches ist er auf die Nach¬ welt gekommen; daran allein also braucht sie erinnert zu werden. Lenau s Albi genfer. (Di e Albigenser Freie Dichtungen von Nicolaus Lenau. ) Seitdem die neue deutsche Romantik die aus dem Mittelalter hervorgeholter Schätze und das poetische Erbe, welches sie noch von der großen Blüthezeit unserer Dichtung überkommen, allmälig auf¬ gezehrt hat, thut sich, unter den mannigfachen Lebensweisen deutscher Muse, nichts so mächtig und bedeutsam hervor, als die Neflenon, der bewußte Gedanke, eine neue Kraft, welche die Poesie in sich aufnehmen will. Schon bei Schiller sehen wir sie zu freiem Durch, bruns kommen, bei Göthe tritt sie in seiner letzten Periode immer gesonderter heraus, bei spätern, wie Rückert, erzeugt sie ganz neue Arten der Dichtung. Dieser Erscheinung, die dem Ueberwiegen der wissenschaftlichen Thätigkeit der letzten Jahrzehnde zuzuschreiben ist, und die jetzt mehr und mehr auf die Produktion selbst Einfluß ge¬ winnt, begegnen wir theils in der Lyrik, theils im Drama. In der lyrischen Gattung hat die Neflenon ein freies Feld, hier kann der Gedanke selbst, wie bei L. Schefer, Fr. v. Sattel, in reiner Ab¬ straktion, sich unbehindert ausbreiten. Die Individualität des Dich¬ ters und der Zeit bildet immer einen lebendigen Mittelpunkt, den Träger aller Ideen, denen der Vers sich leihen will. Im Drama dagegen verlangt diese Richtung den größten Aufwand des schöpfen- schen Talents, damit das Denken, die bewußte Tendenz dieser höchsten Form, der Dichtung gewachsen sei. Wir haben dafür nur im Lessingschen Nathan, ein unübertroffenes Beispiel. Wir unsrerseits wollen eS keineswegs tadeln, wenn unsere Dich¬ ter den nächsten Interessen, den allgemeinen Fragen der Zeit sich zu¬ wenden; nicht als glaubten wir, es läge darin die eigentliche Auf¬ gabe der Dichtkunst, als fände sie darin ihre weiteste Wirksamkeit, sondern vielmehr, weil die Fragen, die jetzt unsere öffentliche Welt in Athem halten, selbst auf Ideen und Weltanschauungen hindrän¬ gen, welche die dichterische Behandlung erfordern und begünstigen. Der Streit zwischen Gedanken und Satzung, in dem meist Lessing seine Waffe erhob, der Kampf zwischen Freiheit und Willkürzwang, aus dem Schiller'S Genius sich emporarbeitete, gährt auch in der heutigen Generation, ..und sie läßt es sich nicht verwehren, diesen Krieg, wie sie ihn Jeder'Äüfzufassen vermag, in allen Weisen aus¬ zukämpfen und auSzusingen. Ueberall sei uns darum eine Tendenz in der Poesie willkommen, wo sie das Haupt der Zeit trifft, wo sie in bedeutenden Massen die geistigen Gewalten des Jahrhunderts gegen einander spielen läßt. Voll Erwartung gingen wir an die Lectüre deS vorliegenden Gedichtes, das schon seit Jahren den Freunden der Lenau'schen Muse versprochen war. Der Stoff desselben ist an sich so großartig, so gedrängt voll erschütternder Momente, er ist zugleich so geistig und so voll Leidenschaft und Begebenheit, daß wir die Zeit nicht bevauer- ten, in der das verheißene Werk reifen sollte. Der Kampf der Al- bigenser—denn unter diesem Namen faßte man die mancherlei häre¬ tischen Secten jener Zeiten zusammen — gegen die päpstliche Hier¬ archie, ein Kampf, angefacht durch die radikalsten Doctrinen, welche das Mittelalter erzeugt hat, gegen die auf dem Wendepunkt ihrer Allherrschaft schwebende römische Kirche, ein Kampf voll Heldenmuth) und Grausamkeit, voll Glauben und Rohheit, ein offener Kreuzzug im Herzen der Christenheit, gewiß, eS war ein echt dichterischer Entschluß, den zu besingen. Und so ist auch das Werk, eine Reihe von Balladen, mit Lyrik umwoben, mit Bildern aus des Dichters eigenem Innern verschmolzen, eine wahrhafte Dichtung, von einem starken, seiner selbst gewissen, männlichen Geist durchweht, voll Natur, Willen und Erfindung. Beim Eingang freilich stieß uns daS Fremdartige, das Gesuchte des ersten Gedichts, die harte, herbe, gegen die Welt entrüstete Stim¬ mung des Dichters ab' die sich in den sonderbarsten Ausdrücken Lust macht. Wir sahen in dem unermüdlichen Ausspinnen einer und der¬ selben Figur, daß der Dichter, wie auch sonst in einzelnen Stellen seines Werkes, hier mehr im Bilde als in der Sache verweilte. Wie mochte nur der Verfasser so lange an dem seltsamen Bilde hasten, wo er sich einen Tiger zum Schuhgenossen wünscht, damit ihm der seine Gedanken bewache und alle Erdenwünsche und Erinnerungen zerreiße; wo er denselben Tiger dann aufsetzt: „send ich ein Lied auf die Tyranncnfratzen, So helf ihm, Tiger, nach mit deinen Tatzen." Hier, wie bei den Worten: „O Welt, ans allen Wüsten möcht ich holen Die Tigergeister dir zu Apostolen," so wie bei der grimmigen Begeisterung: „Ich wünschte mir den Tiger zum Genossen, Schon ist in meinem Geist sein Hauch zu spüren, Und durch mein Herz sein wildes Blut ergossen." kann ein unverdorbener Geschmack sich nur abkehren; für einen na¬ türlichen, dichterischen Erguß vermögen wir das nicht anzusehen, obschon wir begreifen, wie ein Poet sich in dergleichen Phrasenpathos verirren kann, nicht unter der Gunst der Muse, sondern „Wenn sein einsames Herz Gedanken hämmert." Indeß wird der Leser, wenn er die anfangs störenden Ei¬ genheiten des Gefühls und der Ausdrucksweise überwunden hat, sich bald mit dem Gedicht befreunden, uno gern bei den Gebil¬ den verweilen, die des Dichters kühner, freier Geist an ihm vorüberführt. Und doch wird ihn weniger die meisterhafte Aus¬ malung einzelner Situationen fesseln, die Lebendigkeit individueller Momente, die mit den Erscheinungen der wirklichen Welt wetteifert, als die tiefe Vertrautheit mit dem Geist und Charakter des histori¬ schen Gehaltes, dies Schaffen aus eigener Brust, das eine vergan¬ gene Zeit neu und lebendig zum Vorschein bringt. Hier ist keine Bearbeitung äußerer Stoffe, kein Formiren eines todten Materials nach gegebenen Regeln, hier wird nicht erstarrte Geschichte auf die rauschende, seelenlose Leier gespannt, wie dies in unzähligen Roman- zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬ pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬ dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla- gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld, wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬ ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus, welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬ den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬ kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik. Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder- gelegt, die ihm selber die heiligsten sind, seinen Glauben an die Ge¬ schichte, ein den Fortschritt nach dem Ziel, dem freien Geiste; und luerin eben liegt die volle Wirkung, die Einigung des Gedichtes mit der jetzigen Welt, wie diese im Dichter sich abspiegelt. Man kann das Gedicht in drei Hauptmassen abtheilen, ohne daß diese jedoch äußerlich eine strenge Scheidung zuließen. Der Dichter führt uns zuerst in die Stimmung, in die geistige Atmo¬ sphäre der Zeit; aber diesem historischen Geist kommt sein eigener entgegen, in ihm selber tauchen die Ideen und Widersprüche auf, die jenen entstammen. Sodann eröffnet sich das Kampffeld, die Parteien der Geschichte ringen mit einander um den Sieg ihres Glaubens, um die Weltherrschaft; und zum Schluß, nachdem die empörten Ele¬ mente sich ausgewüthet, blicken wir zurück und stehen vor der Frage: Was ist das Ziel dieser Begebenheiten, welchen Sinn und Bezug haben sie für uns? Begleiten wir den Dichter durch sein Werk, welches, aus dieser Angabe schon, sich als ein Ganzes, dem Inhalt und der Tendenz nach, ausweist. Verfolgen wir zuerst die Dialektik, welche die Gegensätze an einander hält, die durch das Gedicht, bis auf den Hochpunkt dessel¬ ben, fortlaufen und wachsen. Im ersten Abschnitt, „Nachtgesang" überschrieben, läßt der Dichter zwei Stimmen relen, welche die strei¬ tenden Principe vorstellen. Die erste Stimme mahnt von Haß und Kampf ab; der Natur, dem wilden Geist, dem die reißenden Thiere angehören, soll der Mensch sich nicht ergeben; die Natur ist abge¬ fallen, nur Gott kann sie erlösen: „Weltbcfreien kann die Liebe nur, Nicht der Haß, der Sklave der Natur . . ." „Dort sieh' Golgatha! Jehovahs Stunden, Heil'gar Konigstigerö, sind verwunden!" Nun begreifen wir jedoch nicht, wie diesen Stimmen zugleich der pantheistisch rohe Zuruf beigelegt werden kann: „Wenn der Tiger schlau im Dickicht lauscht, Vorspringt und ein Menschenbild zerreißt, Blut trinkt, hat er sich in Gottes Geist, Den spüret, ahnungsvoll berauscht." Wie stimmt dies zu den vorigen Versen? — Die zweite Stimme ihrerseits ruft dem Dichter zu¬ lasse herzhaft! rüste Dich zum Streite! Liebe die Natur, die treu und wahr, Ringe nach Licht und Freiheit immerdar, Wenn auch unter ihren eignen Füßen Graun und Tod und Schmerz aufwirbeln müssen." Aus dieser Doppelheit ver Gefühle, dem Contrast der sitt¬ lichen und natürlichen Weltordnung, welcher den Ausruf auspreßt: „O Geist, ist Deinem Lenz die Lust genommen, Sei Du der Welt in Schrecken auch willkommen!" treten wir sofort in die wirkliche Welt voll thätlichen Widerstreites, voll Mord, Qual und Verwüstung. Mit dem Bannstrahl des Pap¬ stes Innocenz bewaffnet, tritt Pierre von Castelnau gegenüber dem naturfrohen, von Liebe und Tapferkeit glühenden Troubadour Fulco vor uns; von letzterem heißt es: „Pierr'i ich bin ein Ketzer!" ruft der Wandrer, „Heraus mit Fluch und Bann! hei, dorn're zu!" In ihrem Zusammentreffen und Gespräch (die Legende von den Zigeunern und dem Kreuz, die Pierre erzählt, ist eine höchst gelun¬ gene Episode) arbeiten sich die streitenden Principe, die sie vertreten, deutlicher heraus. Nun folgen die Ereignisse Schlag auf Schlag. Der Priester wird ermordet, der Sänger wird am Sarge seiner Geliebten plötzlich in einen fanatischen Diener der Kirche verwandelt. Und was treibt ihn dazu? Der Anblick der Todten ist es, der ihm den Albigenserglauben entreißt, der keine Auferstehung annimmt; da treffen wir auf den ganz neumodischen Satz: „Denn Sterben ist im Geist verschwinden, Wir glauben an kein Wiederfinden." Bald sehen wir den Troubadour, der die Schönheit der Frauen so bezaubernd besang, als Innocenz' Boten und Bischof von Tou¬ louse, den Kreuzzug anschürend. So wird dieser Charakter auf die tragische Bahn des Schicksals gerissen. Bei dieser Katastrophe spricht der Dichter die schönen Verse: „Wenn all sein Glück ein starkes Herz verloren, - Wenn seine Wund' am tiefsten klafft, Dann wird es vom Verhängnis, gern erkoren, Und in den großen Sturm hinauögcrafft." Die imposantste Gestalt dieses Gedichts ist Innocenz, ein Mann der innern That, in dessen Brust die ganze, stärkere Hälfte- der Begebenheit eingeschlossen ist. „In seinen Zügen ist es fest und stille, Wie Steingepräg' in jedem Zuge steht Entschluß und unerschütterlicher Wik/e." Die Friedensverhandlungen sin^ «.gebrochen; die Ketzer sollen ausgetilgt werden. Umsonst sucht Dominicus sie zu bekehren. Da er ihnen das bekannte Gleichniß von dem Durstigen und dem Aase im Bach vorträgt, entgegnen ihm jene mittelalterlichen Nationalisten nur: „Wir wollen oberhalb des Aases trinken." Er muß sogar ihre Irrlehren der Reihe nach anhören, und bei der Einweihung eines Albigensers Zeuge sein, wie die kirchlichen Gebräuche, die Sacramente, der Eid, die Bilder, das Zeichen des Kreuzes :c. verworfen werden. Zuletzt, indem der Dichter diese Sekten im Allgemeinen charakterisirt, heißt es: „Mag, was wir meinen, auch sich spalten noch und trennen, Die frei»,' Forschung ist's, wozu wir uns bekennen." „Wir lassen uns den Geist nicht hemmen mehr und knechten. Es gilt, das höchste Recht auf Erden zu verfechten____" „Einst wird das Heil der Welt, Erlösung, sich vollbringen, Wenn Gott und Mensch im Geist lebendig sich durchdringen." Wir werden dabei unwillkürlich an die Fehden und skeptischen Ideen auf dem theologischen Felde neuester Zeit erinnert. Derselbe Sinn wohnt dem Liede inne, worin die Pariser Studenten die Lehren ihres Meisters Almerich von Beile singen. „Bon Tisch zu Tisch hineile das große Wort, Und reißt die jungen Herzen mit sich fort;" " „Der Geist ist Gott! so schallt es hin mit Macht, Ein Frcudendonner durch die Frühlingsnacht. Unter den folgenden Bildern ist das Interdikt, das über Tou¬ louse verhängt wird, von gewaltiger Wirkung, melancholisch, schwer¬ lastend, eine schlagende Zeichnung. Dem Interdict folgt der Kreuz¬ zug, an dessen Spitze Abt Arnald und Graf Simon Montfort stehn. Das Stück: „der Rosenkranz," giebt uns eine Probe ihrer Proce- düren; denn dieser Rosenkranz besteht aus hundert geblendeten Ketzern, unter denen der eine, Hugo von Alfar, halb geblendet, die übrigen an einem Seile aus dem eroberte» Schloß Brom leitet. Erschütternd ist die Klage der Geblendeten. Von gleicher Art ist- „das Schlachtfeld;" aus dem Krieg zwischen Forschung und Hierar¬ chie bricht hier die furchtbarste Verzweiflung hervor: „O Gott, wie Du auch heißen magst, es bleibt Ein Schmerz, daß Glaube» solche Früchte treibt." In der nächtlichen Scene wandert Alfar, der allen Glauben, häretischen wie kirchlichen, abgeworfen, umher: „Ob das ein Gott, ein Kranker ist zu nennen, Der eine Welt in Fiebergluth errichtet, Und bald im Frost des Fiebers sie vernichtet? Ist Weltgeschick sein Frieren und sein Brennen? Ist's nur ein Göttcrkind, dem diese Welt Als buntes Spiclgcräthc zugefallen?..." ÄZir stehen hier in der Mitte deS Gedichts; der Sturm der Geschichte hat sich entladen. Die Begebenheiten scheinen der mensch¬ lichen Vernunft zu spotten, denn die Menschheit, der Geist der Ge¬ schichte, scheint mit sich selber in Krieg zu stehen. Rache, Blutdurst, der wüste Trieb des Thiers wüthen auf dem Boden, der ihr gehört, entfesselt umher. Die Seele zerknickt, von so furchtbarem Gericht ergriffen. So zeichnet uns der Dichter in einzelnen Figuren den Wahnsinn, die Verzweiflung, die Verhöhnung des Heiligen, Un¬ terjochung und feige Bube, entsetzendes Gemetzel, düstre Leiden und lachenden Frevel. Alle Figuren, die dahin gehören, wie Jacques, der wahnsinnige Schneider, der Herzog von Narbonne, der Graf von Foir, Gras Simon, der gefangne Vicomte Roger von Beziers, daS irre Mädchen von Lavaur, drücken auf verschiedene Weise diese Spitze des Pathos aus, auf welchem das Gedicht nun angelangt ist. Vielleicht kehrt der Verfasser zu sehr allein den Frevelsinn der ergrimmten Albigenser heraus, wie in der Scene, wo Foir mit seinen Gesellen im Kloster lagert, wo nach mancherlei Gespött, zuletzt eine Moral des Fleisches gepredigt wird, so nackt, platt und plump, wie die neusten Wiederfindet derselben sie kaum vorbringen möchten: „Er predigt: Im Anfang war da« Fleisch, Und Gott war das Fleisch, und dieses war Bei ihn» beständig und immerdar, Und das Fleisch ist Wort geworden und Licht, Johannes schrieb verkehrten Bericht, Drum sollen das Fleisch wir halten in Ehren, Seid lustig, ihr Kinder, und laßt es gewähren!" Zwischen diese Nacht, und Gräuelscenen fällt wohl ängstlich und wehmüthig ein lichter Moment ein, wie in: „des Wanderers Gruß," ein tiefgefühltes Lied, das uns auf den Lerchenruf der Freiheit harren läßt; dann eine schöne Klage eines Sängers an einem Brunnen, worin seine Geliebte versenkt war, mit den schnei¬ denden Zeilen aus der trostlosen Irrlehre: „Du wirst nicht wieder auferstehn, Wenn Gott Dich einmal ließ vergehn, Kann er Dich so nicht wiederbringen." Aber noch einmal treten wir vor eine Scene des Fanatismus; eine Anzahl Studenten, Anhänger Almerich'S, werden unter grä߬ lichem Spott verbrannt. Endlich, nachdem das ganze Land verheert ist, fällt auch Simon Montfort, eben als er den Lohn, die Beute des VerwüstungSkreuzzugeS zu ernten hoffte. Die Nachegöttcr sind gestillt, wir blicken auf ein unermeßliches Leichenfeld. Da erscheinen, einsam wandelnd unter den Todten, ein Ritter und ein Mönch. Ueberwunden durch den Schmerz der Scene, sich selbst besinnend bei dem Ueberblick der Gräuel, wirst der Mönch die Waffen weg, reißt das Kreuz von der Brust und geht zu dem nieder, mit ihm zu fechten und zu fallen. „Nicht folg' ich mehr der Kirche blut'gar Fahnen, Im Hinblick auf das stumme Leichenfeld Hat Frieden wunderbar mein Herz erhellt, Des tiefsten Sinns ward mir ein freudig Ahnen." Und was ist der Sinn, der letzte Zweck der Geschichte, was ist die Wahrheit, nach welcher dieser Kampf, dieses Schicksal zielte? Oaö endliche Ueberwinden, die Läuterung des Geistes: „Das Leben bricht der Kirche düstre Schranke; Die heilige Geschichte ist geschehn, Doch war auch sie nur Abglanz und Bergehn; Wollenden wird Erlösung der Gedanke!" Und hier zuletzt schließt das Gedicht die innerste Ueberzeugung des Verfassers auf, welche wir in den früher vorkommenden Zeilen zu finden glauben: „Gedanke heißt der Heilige, der Held, Der im Urkamps ersiegt das weite Feld! Er hat getaucht die Sterne in sein Licht, Er gab den Stand den Sterne und die Flucht, Hält ewig fest die strenge Sternenzucht, Sein ist die ganze Welt und ihr Gericht." Der Sieg des Geistes, die Herrschaft der Wahrheit ist das Endziel der Weltgeschichte, zu welchem alle großen Katastrophen, das Bauen und Niederstürzen in der unendlichen Arbeit der Völker hinwirken müssen. Aber der Anblick der schweren Entwicklung«!!- Phasen erfüllt das menschliche Herz mit Wehmuth, mit Bewundern und Schauder. Wir glauben an die einstige Erfüllung der Ge¬ schichte, aber die Wege, die Wir, das eine menschliche Geschlecht, da¬ hin genommen haben, ziehen sich noch weitab zur Seite des Ziels, das noch trübe und fern aus Irrthum und Verhängniß hindurch¬ blickt. So ruft der „Greis" gegen Ende: „Noch die Freiheit war es nicht; Dunklen Gruß, verworrne Kunde Brachte nur von ihrem Licht Die vorangeeilte Stunde." Was man erkämpfen wollte, war noch nicht die reine und völ¬ lige Freiheit, nicht „ein klarer Blick in'S Herz der Freiheit," nicht „Liebe für die heilige, erkannte," trieb dazu, nicht Wissenschaft, es war von der Wahrheit nur ein „dunkles Ahnen." — Und warum, fragt der Schlußgesang, warum jene Zeiten aus der Vergessenheit rufen? „Hat unsre Zeit nicht Leids genug für Klagen?" — Allein in der Vergangenheit lebte auch unser Schicksal mit, in der Vor¬ welt und in unserer Gegenwart wirkt der nämliche stetige Geist, der auch uns ansprechen soll: „Daß wir uns recht mit ihm zusammcnfühlen, In ein Geschlecht, ein Leben, ein Geschick." Jeder Zeitraum arbeitet dem folgenden vor: leidet für ihn, bahnt ihm die Straße. ' Auch unsere Zeit, mit ihren Wehen und Zwie- spalten hat einen Eichen Beruf und wird im Gedächtniß der Nach¬ welt sich erheben. Auch wir leben noch nicht im Licht und im Ge- nuß; wir „sterben ungeduldig, freudenarm, im Morgengrauen des Lichts." Auch über uns drücken Zwang und Nacht und so, meint der Dichter, stehen auch uns Umwälzungen und schwere Kriege um den Preis der Geschichte bevor: „Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen, Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen Mit Purpurmäntcln oder dunkeln Kutten; Den Albigensern folgen die Hussiten, Und zahlen blutig heim, was jene litten; Nach Huhi und Ziska kommen Luther, Hütten, Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter, Die Stürme der Bastille, und so weiter." Ist denn aber die Freiheit, der Sieg deS Gedankens, wirklich bei uns in dem Grade bedroht, wie der Dichter an vielen Orten es andeutet, wie es die letzten Worte seines Werkes, das: und so weiter" klar genug aussprechen; hat dieser politische Ingrimm, der Tigersinn, der so herbe und schneidend durch die Dichtung fährt, wirklich so viel Grund,, eine so allgemeine Bedeutung, wie das Ge¬ dicht annimmt, wie ohne Zweifel eine Menge Schriftsteller dem Verfasser beifällig einräumen? Wir glauben es nicht; wir glauben, daß der Verfasser, wo er die jetzigen öffentlichen Verhältnisse berührt, die Farben'zu stark aufträgt, daß er die klagenden Saiten zu hef¬ tig reißt. In Lenau's Gedicht ist eine Empfindung niedergelegt, die von vielen Zeitgenossen getheilt wird, der Schmerz über die Bedrängniß deS öffentlichen und geistigen Lebens, welchem der Trost ganz unbe¬ stimmt und abstract, alö einstiges Ueberwinden deS Gedankens vor¬ schwebt. Gewiß, die Wahrheit muß uns das rechte Heil bringen. Aber woher diese Bitterkeit, dieser Weheruf, der so stark und durch¬ dringend nicht leicht anderswo alö in vorliegender Dichtung ertönt, wozu dies Jagen in die Zukunft? Ist der Gedanke nicht auch wirk¬ lich lebendig in allen großen Epochen, bleibend und wachsend im Geiste, in dem geistigen Reiche für immer? Dies zwar wird uns nicht bestritten. Und doch führt uns unser Dichter nicht weiter, als 29 bis zur Stufe deS Harrens auf die Freiheit oder Wahrheit; er steht damit auf einer allgemeineren Stufe der jetzigen Zeit, nicht über derselben. Wie ganz anders würde Schiller, aus dem Reichthum seines Genius, den von Lenau gewählten Stoff belebt haben! Er würde, die Vergangenheit durchwandelnd, als ächter Dichter, selbst die Welt der Wahrheit und des Schonen offenbart haben, die jene nur dunkel ahnte; er würde der Zeit nicht, wie es die Dichtenden jetzt thun, ihre Gefühle blos entlehnt, er würde sie aus eigenem Vorrathe zugleich bereichert und erhoben haben. T h. S es. Briefe aus Wien.") Erster Brief. Die Staatseisenbahnen und die Privatunternehmungen. Ungarn. 178» und 1842. Politische Reflexionen. Schriften über Oesterreich. Ein Duell- Der eigentliche Mittelpunkt unseres gemeinsamen Lebens, der bedeutendste Fortschritt in sozialer Beziehung sind ohne Zweifel die Eisenbahnen, vorzüglich die Staatseisenbahnen, welche auf eine noch lange Zeit hinaus die Achse bilden werden, nuk die sich das ohne¬ hin nur spärlich gefristete öffentliche Interesse dreht. Dieser gro߬ artige Entschluß, der plötzlich in fertiger Riesenhaftigkeit vor alle Welt hintrat, verspricht das, was die Negierung in Brüssel für das kleine Belgien gethan, für das länverreiche Kaiserthum zu leisten. Denn Belgien und Oesterreich sind derzeit noch die einzigen Staa¬ ten, wo ein Eisenbahnnetz auf Staatskosten ausgeführt oder beschlossen wurde; ein Beispiel, dem sich nunmehr auch andere Länder, das scheinbar träge, aber innerlich doch stets thatfrohe Frankreich an der Spitze, erfolgreich anschließen. An der Ausführung der bestimmten Bahnlinien in Oesterreich zweifelt gegenwärtig auch der ärgste Skeptiker nicht mehr, denn schon sind die drei Routen zwischen Mürzzuschlag bis nach Grätz, zwischen Olmütz und Prag und zwischen Brunn und Prag in An¬ griff genommen und die Generaldirektion, deren Chef der Hofrath Francesconi ist, und dem der bekannte Ingenieur Negrelli als Ober¬ inspektor an die Seite gestellt wurde, hat den Befehl, in jedem Jahr mindestens dreißig Meilen Eisenstraße der Benutzung eröffnen zu *) Nicht D- R. vom Verfasser der beschaulichen Briefe aus Oesterreich. 29-i- müssen, welches Minimum jede auffällige Versäumnis? unmöglich macht. Obschon nicht, wie man anfangs vermuthete, Militär zum Bau verwendet wird, so kommt dennoch die Meile Schienenbahn um ein Drittheil wohlfeiler zu stehen, als die von den Privaten gebauten, wornach man mit Leichtigkeit ermessen kann, wie übel die Ausschüsse der Aktienvereine mit fremdem Geld gewirthschaftet haben. Als schlagendstes Beispiel von der Genauigkeit und dem redlichen Geschäftsgange dieser Leute mag der Umstand dienen, daß mit den Einlagen, deren Betrag zum Bau einer Bahn von Wien nach Raab in Ungarn bestimmt war, nur die Strecke zwischen Wien und Glogg- nitz hergestellt ward, ja die ganze Richtung des Schienenweges nach¬ träglich und eigenmächtig dahin verändert wurde, daß Ungarn dabei ganz aus dem Spiele blieb. Man kann sich denken, wie sehr ein solch verwerfliches Verfahren die treuherzigen Ungarn erbittern mußte, von denen sich sehr viele aus Patriotismus bei dem Unternehmen betheiligt hatten und die sich nun in ihren Hoffnungen betrogen sahen; die ungarischen Journale haben diesen Gegenstand mit Fug einer scharfen Kritik unterzogen und sind auch soweit gegangen, den Beschluß der Negierung zu tadeln, da bekanntlich die allgemein er¬ wartete Bahn von Wien nach Pesth sich nicht unter den vom Staat zu erbauenden Routen vorfand und somit das Königreich Ungarn mit seinen Kronländern so ziemlich allein von der Wohlthat solcher CommunikationSmittel auf allgemeine Kosten ausgeschlossen blieb. Ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung aus Wien giebt, indem er die Staatsverwaltung von jeder Animosität freispricht, nicht undeutlich zu verstehen, Ungarn besitze einmal seine besondere Ad¬ ministration, sein eigenthümliches Steuersystem; und wolle es er allen Dingen als ein Abgesondertes und Eigenartiges gelten, so möge es sich auch in dieser Beziehung von dem erkämpften Standpunkt der Selbständigkeit betrachten und nicht auf die Verwendung von Sum¬ men Anspruch erheben, zu denen dasselbe doch nichts beigetragen habe. Sieht man nicht klar, sagte mir ein eifriger Magyar in Pesth, man will die Ungarn durch die Konsequenz schlagen und ihnen den Besitz ihrer Freiheiten auf diese Art verleiden, man will das Dasein der moralischen Güter durch die Entziehung der materiellen bestrafen? Wir glauben nicht, daß sich die Regierung von solchen unzweckmäßigen Ansichten leiten lasse, sind den Gegentheil überzeugt, sie werde jedem Antrage auf dem Landtage des nächsten Jahres auf das Bereitwilligste entgegenkommen und den Ungarn nicht eine kommerzielle Wohlthat entziehen, die für die Regierung selbst ein wichti¬ ges Mittel der Centralisation darbietet und von großer politischer Be¬ deutung sein würde. Und in der That beginnt man im Jahre 1842 dieselbe Tendenz, welche 1786 gescheitert ist, im weisen und gemäßigten Sinn wieder aufzunehmen und wenn der großeDenkkaiser, wie manJosephlI. unlängst genannt hat, die engere Verbindung und allmälige Verschmel¬ zung der sprachverschiedenen Völkerschaften auf dem Wege der geistigen Reform zu bewirken meinte, indem er ihnen die Seele der Nationalität, die Sprache zu nehmen suchte, so geht gegenwärtig das Bestreben blos dahin, bet möglicher Gewährung nationaler Wünsche die Bande materieller Wohlfahrt desto enger zu schürzen und die äußern Interessen der verschiedenen Völkerstämme vollkommen zu centrali- siren. Die Staatsbahnen dienen offenbar in höherem Maß zur Erstarkung der Centralgewalt. Abgesehen von der innern Conso- lidirung der Monarchie und der erhöhten Handelsbewegung kommt der militärische Vortheil der Eisenstraßen wenigstens einer Verdoppe¬ lung des Heeres gleich, so daß man überhaupt sagen darf, der Kaiserstaat werde bei einstiger Vollendung seines weit verzweigten Eisenbahnnetzes mit doppelten Kräften gegen innere und äußere Feinde dastehen. — Bedenkliche Schwierigkeiten dürften jedoch erst dann entstehen, wenn einige der projektirten und bereits im Bau begriffenen Staatsbahnen wirklich fertig sind und verpachtet werden sollen. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß bei diesen Eta¬ blissements, von denen die Regierung in ihrer officiellen Erklärung in der Hofzeitung selbst gestanden, sie seien mehr vom Standpunkt des höhern Staatszwecks, als aus merkantilischer Spekulation unter¬ nommen worden, die Frage der Herstellung leichter zu entscheiden ist, denn jene der Verwaltung. Die Pachtverhältnisse werden sür die Negierung jedenfalls sehr ungünstig ausfallen; denn schon haben sich mehrere Mitglieder der Direktion der Nordbahn dahin ausge¬ sprochen, die Größe der Pachtsumme erst nach einer zweijährigen unentgeltlichen Benutzung der fertigen Bahnstrecken je nach der wahrgenommenen Frequenz durchschnittlich feststellen zu können! Seit einiger Zeit beschäftigt sich die auswärtige Presse wieder sehr angelegentlich mit österreichischen Zuständen, der Aufmerksam- keit gewiß, die jede einigermaßen ansprechende Mittheilung über das merkwürdige und so wohlverwahrte Oesterreich erregen muß. Ein in der Schweiz, ich glaube in Winterthm aufgelegtes Buch mit dem Titel: „Der Jakobiner in Wien" — halb Romantik, halb Wirklichkeit, ein echtes Wahrheit und Dichtung, beleuchtet eine wenig erfreuliche Zeit voll Mißgriffe und Härte in den obern und voll Verblendung und Stumpsinn in den untern Regionen. Die in Leipzig gedruckten: „''in . Die neue Nednerinn ist Mrs. Maria Anna Walker, eine junge, in der That nicht uninteressante Figur, die in der heutigen Sitzung ihre muidou spsecl, hält. Diese ist aber von solcher Bedeutung, daß die Mrs. die Heldin der Tagcsfltzung wird, und daß ich nicht umhin kann, die hervorragendsten Stellen daraus mitzutheilen. „Ich bin erstaunt," begann sie, „über die Frage des Master Cohen, so wie überhaupt über die ungeziemenden Bemerkungen dieses Herrn (Bravo!) „Ich weise mit dem tiefsten Unwillen die Idee zurück, daß, „wenn Frauen im Parliament wären, irgend ein Mann, sei er nun ihr Ge¬ liebter oder ihr Gatte, erbärmlich genug sein könnte, auch nur eine einzige „von ihrer Pflicht und Ueberzeugung abzubringen." (Verdoppeltes Bravo¬ rufen von Seiten der Männer.) „Ich würde einen Mann, der durch solche „Mittel Einfluß auf das Votum einer Frau zu gewinnen suchte, mit aller, „einer Frau möglichen Geringschätzung, wie einen verächtlichen Schurken (-» „vordem^ditto sevun<1ick) behandeln." (Neue Bravos.) „Die Ereignisse, die „jetzt im Norden des Königreiches vorgehen, wo man unsre Brüder und schwe¬ rem in modcrvcrpestctc Kerker wirft, sind wohl geeignet, auch uns Frauen „aus unsern stillern Wirkungskreisen ins öffentliche Leben zu rufen." (Ein wahrer Donner von Beifallsbezeugungen: der Saal droht mit dem Ruf „Bravo, Mrs. Walker!" einzustürzen.) „Was Lord Abingcr „Ernst, der gern so neu als eigenthümlich spricht, Nennt einen Stachclreim sein leidig Sinngedicht. Die Reime hört' ich wohl, den Stachel fand ich nicht." Briefe aus Se. Petersburg Die Temperatur in der Stadt und im Palaste. — Allocution und Denkschrift des Papstes. — Einheit der polnischen Kirche und Nationalität. — Die Protestation des Papstes und die der französischen Deputirtenkammer. — Die Cölner Angelegenheit und die russische Kirchenverfolgung in Polen.— Unmöglichkeit eines Rücktritts von beiden Seite». — Schwierigkeit der Lösung dieser Frage. — Einfluß der österreichischen Diplomatie auf die Entschlüsse des Papstes. — Die russische Gesandtschaft in Rom und ihre außerordentlichen Hilfsmittel. — Bestrebungen Rußlands, die päpstli¬ chen Actenstücke der Oeffentlichkeit zu entziehen. — Quelle der gehaltloser Zeitungsberichte über russische Angelegenheiten. — NAe im übrigen Europa, so hatten auch wir hier in Se. Pe¬ tersburg einen ungewöhnlich heißen Sommer; besonders hatte die Hitze im Anfange des August eine in diesem nordischen Klima un¬ erhörte Höhe erreicht. Auch im kaiserlichen Palaste war die Lust schwül und unerquicklich, und trotz der Kühlung der Marmorhallen war die Temperatur daselbst noch schwerer und beklemmender, als draußen. In den übrigen Theilen der Stadt konnte man wenigstens eine lustige Stelle finden, wo der frische Windhauch, den die Newa vom baltischen Meere herüberbrachte, die Glieder kühlend und stär¬ kend durchzog; im Palaste aber lebte Alles unter dem Sciroccohauch des unheilschwangeren Südwindes, der mit Sturmsittigen über das adriatische Meer aus dem fernen Süden her gekommen war. Die M deutschen, englischen und französischen Zeitungen berichteten in jenem Monat aus Rußland Nichts als Verschwörungen gegen den Kaiser, Mordversuche der Großen und dergleichen mehr. Uns hier in Se. Petersburg, denen die meisten fremden Journale, besonders die deut¬ schen, nur sehr spät zukommen, erscheinen dergleichen Berichte um so seltsamer, wenn sie, wie dies Mal geschah, von einem Unsinn und einer Unwahrheit zu einer entgegengesetzten umspringen. Nach den Geschichtchen von den Ermordungen des Kaisers durch seine Großen tischten nämlich die englischen Blätter das Umgekehrte auf, wie der Czar im Palaste auf seine Minister, Adjutanten u. s. w. förmlich eine Menschenjagd angestellt und mehrere derselben höchst¬ eigenhändig umgebracht habe. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß alle diese Fabeln nicht einmal das Verdienst des bon trop-tlo haben und wirklich besser im Feuilleton zur Unterhaltung abenteuer- und märchenlustiger Leser als im ernsten Theile polni¬ scher Blätter ihren Platz gefunden hätten. Denn der Kaiser aller Reußen hat mit dem König der Franzosen (der sich, beiläufig be¬ merkt, auch hierin von den früheren Königen von Frankreich unter,- scheidet), wenigstens das gemein, daß er kein Jäger, wie überhaupt die Jagdliche in der kaiserlichen Familie nicht sehr heimisch ist. Eines aber liegt all jenen Zeitungsberichten zu Grunde, nämlich die offenbare Verstimmung und Mißlaune des Kaisers während der ersten Wo¬ chen des Augustmonates. Dies ist eine Thatsache, deren Bestätigung mir nicht allein aus dem Munde aller Personen geworden, welche Gelegenheit hatten, Nicolaus während jener Zeit im Paläste zu be¬ obachten, sondern die auch Jedermann sehr leicht wahrnehmen konnte, der demselben auf der Straße begegnete. Sonst nämlich pflegte die¬ ser jeden ihn Grüßenden mit seinem durchdringenden Blick scharf und forschend in's Auge zu fassen; in jenen Wochen aber war er sichtbar zerstreut und erwiederte, ohne weiter hinzublicken, die zahl¬ reichen Grüße nur durch eine fast mechanische Handbewegung nach dem Hute. Das stolze, männlich schöne Angesicht des Kaisers pflegt sonst nicht gerade ein Spiegel seiner Empfindungen zu sein, und diese gewaltige Natur übt ihre Herrscherkraft zunächst an sich selbst aus. Es mußte also etwas Bedeutenderes sein, als eines der europäischen Zeitungsmärchen, etwa von einem Tscherkessen-Sieg, oder von einer Bojarenverschwörung, was ihn aufregte und verstimmte. In der-That auch hatte die sorgenschweren Falten dieser Stirn ein Gewichtigeres hervorgerufen; eine entfernte, alterschwache Hand hatte zitternd und verborgen einen befiederten Pfeil geschleudert und der hatte die Achillesferse deS Autokraten, den wunden Fleck seiner Herr¬ schaft getroffen. ES war nämlich um diese Zeit ein Courier der russischen Gesandtschaft zu Rom eingetroffen, dessen Depeschen die Allocution des Papstes vom I9ten Juli nebst einer Denkschrift deS römischen Cabinets nach Se. Petersburg brachten. In letzterer waren alle Beschwerden der katholischen Kirche Polens, so wie alle Nachgiebigkeiten und Zugeständnisse aufgezählt, welche die russische Negierung nach einander den Päpsten Pius VI. und VII., Leo XII., Pius VIII. und neuerdings noch Gregor XVI. eöcamvlirt hat. Dies letzte Wort ist, wenn auch etwas hart, doch vollkommen wahr; denn auf dem falschen Wege, den der Kaiser in dieser Beziehung eingeschlagen, war ein offenes, loyales Benehmen nicht möglich. Um seinen Zweck, die vollständige Vernichtung der polnischen Na¬ tionalität durch die Zerstörung ihres letzten Bollwerkes, der katholischen Kirche, zu erreichen und damit eine von seinen Vorfahren seit Ka¬ tharina II. ererbte Aufgabe endlich zu erfüllen, war kein anderer Weg tauglich, als der schon von dieser Kaiserin eingeschlagene der versteckten, hinterhältigen List. Und auf dieser Bahn ist denn auch der jetzige Kaiser in beharrlicher Consequenz fortgeschritten. Nur darf man mit Recht darüber sich wundern, daß Rußlands sonst so scharfsichtiger Herrscher nicht erkannt hat, wie doppelt gefährlich ein solches Unternehmen sei. Denn einer Seits kann es nie zu glück¬ lichem Ende geführt werden, weil Polen selbst in seinem jetzigen, gelähmten Zustande noch nationale Kraft genug besitzt, um alle der¬ gleichen seine volksthümliche Enstenz untergrabende Versuche zum Scheitern zu bringen. Andrer Seits aber ließe sich ein solches Streichen Polens aus der Völkerreihe auf keinerlei Weise, weder durch eine moralische noch durch eine politische Nothwendigkett, ja nicht einmal aus dem Gesichtspunkte eines wohlverstandenen Inter¬ esses Rußlands selbst rechtfertigen und dürfte wohl über kurz oder lang ein thatkräftiges Einschreiten der beiden betheiligten Grenz¬ mächte hervorrufen. Mit wie vieler Sanftmuth und fast ehrfurchtsvoller Schonung Rußlands die päpstliche Allocution vom I9ten Juli auch geschrieben 30 » ist, so behält sie darum doch nicht minder den Charakter einer sehr energischen Protestation des Oberhauptes der katholischen Christen¬ heit gegen die Verletzungen der polnischen Kirche, deren sich Nu߬ land seit der unseligen ersten Theilung Polens bis auf unsere Tage schuldig gemacht hat. Das geheimnißvolle Helldunkel in der Sprache dieser Allocution läßt dennoch fast durchschauen, daß in diesem Ac- tenstück die polnische Nationalität unter der polnischen Kirche zum Theil unverstanden ist. Es kann daher diese Protestation zu Gun¬ sten der polnischen Kirche auch sür eine zu Gunsten deS politischen Zustandes von Polen gelten^'). Und wenn auch jenes offenbar, *) Wir können nicht umhin, bei dieser Gelegenheit aus dem Werke des Grafen Balerian Krasinsky „über die Geschichte der Reformation in Polen u. s. w," eine hierher bezügliche Stelle unsern Lesern mitzutheilen. Sie lau¬ tet folgendermaßen: „Warum eiferte Rom gegen die Empörung katho¬ lischer Polen gegen den griechischen Herrn, da es doch nie gegen die Em¬ pörung Hegen lutherische oder calvinistische Herrn geeifert?" Und er sucht dies folgendermaßen zu beantworten: ,Rom sieht mit seinem gewöhnlichen Scharf¬ blick, welche Gefahr seiner Herrschaft in Polen droht, wenn das Land wieder „ein unabhängiger Staat werden sollte. Daher das bekannte Schreiben, das „Gregor XVI. im Jahre 1832 an die polnischen Bischöfe richtete und worin „er den Aufstand in den stärksten Ausdrücken verdammte. Dieses Schreiben „bezieht sich auf ein anderes von gleichem Inhalt, das während des Kampfes „abgesendet ward, aber, wie der Papst klagt, nicht an seine Bestimmung ge¬ langte. Diese Klage scheint nicht ganz gegründet zu sein, und obgleich das „päpstliche Schreiben nicht veröffentlicht worden ist, so muß es doch unter der „Geistlichkeit in Umlauf gekommen sein, da es eine bekannte Thatsache ist, daß „die dem römischen Stuhle besonders ergebenen Mönche von dem Missionsorden „den polnischen Soldaten die Lossprechung im Beichtstuhle versagten, weil sie „gegen den Kaiser von Rußland gefochten hatten. Ubbo Lameiuiais behauptet „in seiner bekannten Schrift: ^Mires IIt«; lwlomiigo n«z vvrii'-t pas." Denn die Worte des heiligen Vaters, für den jeder Katholik täglich betet, dringen tiefer in's polnische Volk und werden von ihm lebendiger erfaßt, als die eines Königs von Frankreich, den er nur dann ken¬ nen wurde, wenn er Napoleon hieße. Dies Alles versteht Ru߬ lands Kaiser gar wohl und darum haben diese Depeschen einen solchen Eindruck auf ihn gemacht. Der Czar gehört nicht zu jenen hochmüthigen, kurzsichtigen, beschränkten Geistern, wie es deren über¬ all, aber besonders in Nußland giebt, die den Papst verächtlich ei¬ nen „armseligen, unbedeutenden Mönch" nennen; im Gegentheil weiß Nicolaus, daß der päpstliche Stuhl in dieser Angelegenheit nicht mir auf das katholische Frankreich und Oesterreich, sondern selbst auf den protestantischen Theil Deutschlands rechnen kann. Deal man muß eS zur Ehre Deutschlands anerkennen, gerade in letzteren Landen ist die Ehrfurcht vor allgemeiner Religionsfreiheit so groß, daß gar Viele, selbst eifrige Preußen und Protestanten dem verstorbenen König von Preußen, in Bezug auf die Cölner Angelegen¬ heit, Unrecht gaben, wenn auch vielleicht das strenge Recht des Ge¬ setzesbuchstaben auf seiner Seite war. Und doch was war die Köl¬ ner Angelegenheit und der daraus hervorgegangene Zwiespalt zwi¬ schen Preußen und Rom in Vergleich mit der schon jetzt zwischen dem heiligen Stuhl und dem Petersburger Cabinet bestehenden Un¬ einigkeit? Nie wohl wäre es irgend einem Vernünftigen eingefallen, Friedrich Wilhelm III- einen Unterdrücker des Katholicismus zu nennen; wenigstens hat keine Handlung seiner Regierung dazu be¬ rechtigt. Ganz das Gegentheil aber ist bei Kaiser Nicolaus der Fall, und eben, weil er sich sowohl seiner Schuld bewußt ist, als auch erkennt, daß er beim Eintritt eines offenen Bruches mit dem päpstlichen Stuhl auf keine Bundesgenossen unter den europäischen Mächten rechnen kann, eben deshalb ist er über das Actenstück vom töten Juli tief bekümmert. Denn dieser erste Schritt kann andre von ernstlicherer Natur herbeiführen; nun der Papst ein Mal seine Stimme erhoben, — und das kann er nicht wieder ungeschehen machen, — nun darf er nicht ablassen, bis ihm Genugthuung, vollkommene Gerechtigkeit zu Theil geworden. Und hier liegt eben der nicht ein Mal mit dem Schwert zu durchhauende gordische Kno¬ ten. Denn so wenig der Papst von seinen Forderungen abstehen kann und darf, so wenig vermag sie Rußland zu gewähren. Man ist nämlich russischer Seits in den letzten zehn Jahren in dem Sy¬ stem der allmäligen, aber diesen, der geräuschlosen, aber nachhaltigen Zerstörung der polnischen Nationalität und der Vernichtung deS Katho¬ licismus mit so beharrlicher Consequenz und Festigkeit fortgeschritten; man hat diesem System selbst, ermuthigt durch die Theilnahmlosig- keit Europas und die schon gewonnenen glücklichen Resultate, eine solche Ausdehnung gegeben, daß es jetzt unmöglich ist, auf der glei¬ tenden Bahn anzuhalten oder umzukehren, wenn man es nicht ris- kiren will, das ganze Gebäude der russischen Regierungskunst in seinen tiefsten Grundfesten bis zum Umsturz zu erschüttern. Was in Polen geschah, hängt gar eng zusammen mit dem, was in den deutschen Ostseeprovinzen und anderswo in Bezug auf Sprache und andere Elemente nicht russischer Nationalitäten gesche¬ hen ist, und die künstliche Zusammenfügung der widerstrebenden Gliedmaßen des russischen Staatskörpers erlaubt es nicht, einen Ring der Kette zu lösen, ohne daß das Ganze auseinanderfalte. Wodurch in so vielen andern Fällen Nußland verwickelte Fragen zu seinen Gunsten zu entwirren verstand, diplomatisches Hinhal¬ ten und schlaue Gewandtheit, das will ihm, wie es scheint, in dieser Angelegenheit nicht aushelfen. Jedenfalls kann es ihm nicht gelingen, durch bloße wortreiche, aber thatenleere Diplomatie seine frühere Stellung, der Römischen Curie gegenüber, wieder zu erlan¬ gen; denn dort überwacht es jetzt mehr als je mit scharfen, for¬ schenden Blicken und ziemlich erfolgreich die Diplomatie des Fürsten Metternich. Darf man einigen Andeutungen in Briefen hochstehen¬ der, sehr wohl unterrichteter Personen, die aus Rom hier angelangt sind, trauen, so ist die östreichische Regierung und ihr mit Recht so bedeutender Einfluß in Rom den in Rede stehenden Schritten des päpstlichen Senilis nicht fremd geblieben. Und dies läßt sich um so eher glauben, als man dadurch ein Gegengewicht wider die slavisch¬ russischen Umtriebe erhielte, welche, bald an die Sprache, bald an die Religion einzelner österreichischer Provinzen sich anlehnend, den Zu¬ sammenhang derselben mit dem ganzen österreichischen Staatskörper zu untergraben suchen. Wenn dem wirklich so ist, so war dies ein Meisterstück diplomatischer Gewandtheit österreichischer Seits; denn die Allocution und die Denkschrift sind in Rom mit einer solchen Geheimhaltung vorbereitet worden, daß die sonst so fein spionirende, Russische Gesandtschaft nicht eher Wind davon erhielt, als bis die Sache nicht mehr rückgängig zu machen war. Den Kaiser, der auch noch nicht einen Tag vorher von der Sache unterrichtet war, trafen daher Allocution und Denkschrift wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel und mit Recht war er, wie ich Ihnen aus guter Quelle versichern kann, auf den Russischen Gesandten in Rom, Grafen Gurieff, sehr erzürnt. Freilich war es auch nicht anders zu erwar¬ ten, da der Graf nur ein Mann von sehr mittelmäßigem, politischem Talent ist und seine ganze Befähigung zur Diplomatie nur in sei¬ ner Gewandtheit im Jnlriguenfache, in feinen angenehmen äußeren Manieren, seinem geschmeidigen Wesen und einer äußerlichen De¬ muth besteht, Charakterzüge, die sonst zwar beim päpstlichen Hofe in Gunst zu sein pflegten, für den diesmaligen Fall jedoch nicht aus» reichten. Das wußte aber der Czar selbst sehr wohl und die russische Gesandtschaft in Rom war daher auch niemals lediglich sich selbst überlassen, sondern eS kamen von Zeit zu Zeit nicht officielle Ge¬ sandte ihr zu Hülfe. So hat unter andern der Großfürst Thron¬ folger zwei Mal Rom besucht, um dem heiligen Vater seine Huldi¬ gung darzubringen. Ueberhaupt wurden alle, diplomatische und au¬ ßerdiplomatische Mittel in Anwendung gesetzt, um alle Personen, welche die Umgebung Seiner Heiligkeit bilden, den russischen Inter¬ essen geneigt zu machen. Die werth- und geschmackvollsten, dem Charakter eines jeden Einzelnen angemessensten Geschenke wurden mit Freigebigkeit, ja mit Verschwendung vertheilt. Dazu kamen noch die schönsten und diplomatischsten Frauen Rußlands, die wie an manchen anderen Höfen, so auch hier mit dem Zauber ihrer Reize die Pläne ihres Gebieters unterstützten. War es trotz dieser von Nußland erkauften Umgebung des Papstes dennoch, — freilich selten genug, — einigen wahrheitsliebenden Männern gelungen, zu dem Oberhaupte der Gläubigen Zutritt zu erhalten, und ihm die traurige Wirklichkeit und den Ruin der polnischen Kirche darzu¬ stellen, so fanden sich hundert Andere bereit, ihm das Gegentheil zu versichern. Um die Glaubwürdigkeit der unwillkommenen Bericht- erstatter zu verdächtigen, scheute man sich nicht, sie dem Papste als Jakobiner und Anhänger deS Ubbo Lamennais zu schildern, welche sich der Religion nur als eines Deckmantels bedienen wollten, um in Polen einen neuen Aufstand anzufachen, während es dem Kaiser kaum noch gelungen sei, die Wunden der letzten Revolution zu ver- harschen. Diesem bedeutenden Einflüsse Rußlands in Rom ist eS denn auch zuzuschreiben, daß es dieser Macht möglich ward, nach¬ dem durch anderweitigen Einfluß der Papst zur Erfüllung seiner Pflicht als Oberhaupt deS Katholicismus veranlaßt worden, dennoch wenigstens die Veröffentlichung der betreffenden Actenstücke im Diaria» 6i Il,om.i, dem officiellen Blatt des römischen Cabinets, zu hinter¬ treiben. Rußlands Staatsmänner wissen sehr wohl, welch unge¬ heuern Einfluß auf die öffentliche Meinung Europas religiöse An¬ gelegenheiten in unsern Tagen haben und wie nachtheilig die Be¬ kanntmachung und Besprechung der päpstlichen Beschwerdeschriften auf die allgemeine Stimmung einwirken würde, die man durch so viele künstliche Mittelchen zu Gunsten Rußlands zu erhalten sucht. Daher strebte das Petersburger Cabinet darnach, die Bedeutsamkeit der vielerwähntm Urkunden dadurch möglichst zu schwächen, daß man sie, so weit es geschehen konnte, der öffentlichen Discussion ent¬ zog»). Und dies ist ihm auch durch ein auf die kindische Leichtgläu¬ bigkeit der europäischen Zeitungswelt, — so der Redacteure, wie der Leser, — berechnetes, barockes Mittel ziemlich gut gelungen. Jene abge¬ schmackten Fabeln nämlich, mit denen im Juli und August dieses Jahres fast alle europäischen Journale aus Petersburg ihre Leser unterhielten, jene mehr als unwahrscheinlichen Märchen von Ver¬ schwörungen und Mordversuchen gegen den Kaiser, den nur die Geistesgegenwart des Königs von Preußen vom Tode rettete, sodann die lächerlichen Geschichtchen von dem Stuhle mit zwei verborgenen Schwertern u. s. w., u. s. w., später die, wenigstens damals noch *) So eben kommt uns die letzte Nummer der Kölnischen Zeitung zu, worin wir aus Schwaben berichtet finden, das Petersburger Cabinet habe sich beim bairischen Hofe über die Augsburger Allgemeine Zeitung beschwert, weil sie es gewagt, die Allocution des Papstes zu veröffentlichen. Einen besseren Beweis von der Wahrheit der Behauptungen unseres Peters¬ burger Correspondenten, konnte die russische Regierung nicht geben. Anm. d. Red. nicht begründeten Gerüchte von der Uneinigkeit, die plötzlich zwi¬ schen den beiden verschwägerten Monarchen ausgebrochen, — alle diese Dinge hatten nicht im Cabinet der verschiedenen ZeitungSre- dacteure, sondern meist im hiesigen Staats-Cabinet ihren Ursprung, von wo aus man dieselben aus directem und aus indirectem Wege, durch befreundete und feindliche Blätter in's Publikum brachte. Da¬ mit ward der Zweck erreicht, den ich oben angedeutet, die Aufmerk¬ samkeit der Massen wenigstens, wie auch die vieler Höherstehenden, ward von jenen so wichtigen Ackerstücken auf lange Zeit abge¬ lenkt. - II. Rußlands E!nfluß in Asien und dessen Anerkennung durch England. — Die Türkei und Polen. — Seine Stellung zu Europa, besonders zu Deutsch¬ land, verglichen mit der Preußens. — Versuche z,ur Constituirung einer russischen Nationalität durch Einheit der Sprache und Religion. — Re¬ formen in der innern Bcrwaltung. — Bisherige Gebrechen derselben. — Unterschleife und Betrügereien der Großen. — Eine Stadt auf dem Pa¬ piere oder in der Tasche. — Ungenügende pccunicire Stellung der Beam¬ ten. — Finanzielle Verhältnisse. — Das Leibcigenthum in seinem Zusam¬ menhange mit allem Obigen. — Der Kaiser, die Großen und das Volk in ihrer gegenseitigen Stellung. — Selten noch hat eine Zeitung so freudiges Aufsehen am hiesi¬ gen Hofe erregt, als das englische Journal, in welchem jene Rede Robert Peel's enthalten war, die so stark durch Europa widerhallte, und in welcher der britische Minister Englands Stolz so tief de¬ müthigte, indem er dankend den großmüthigen Schutz anerkannte, welchen Rußland den englischen Interessen in Asten angedeihen läßt. In der That auch hat Rußland seinen Einfluß in diesem Welt¬ theil so bedeutend ausgedehnt, wie eS nie früher der Fall war und kann es jetzt ruhig mit übereinander geschlagenen Armen den Tag abwarten, wo ihm, ohne sein weiteres Zuthun, durch die bloße Zer¬ rüttung des türkischen Reiches und durch seine geographische Berech¬ tigung, Konstantinopel als die dritte Hauptstadt seines Riesenreiches zufallen wird. Und das sollten einerseits die übrigen europäischen Mächte eigentlich ungehindert geschehen lassend, könnten sie dadurch ein Anderes, die Wiederherstellung der polnischen Nationalität, wenn auch nur nach den Bestimmungen des Wiener Congresses, erlangen; so wie anderer Seits Nußland Letzteres von selbst thun und freiwil¬ lig den bisher eingeschlagenen falschen und verderblichen Weg ver¬ lassen sollte. Denn Polen, so wie es mit den andern, nicht ur¬ sprünglich russischen Provinzen geschieht, seiner Nationalität in Reli¬ gion und Sprache zu berauben, wird Rußland nie gelingen. Es konnte durch sein numerisches Uebergewicht im Zusammentreffen mit, den inneren Gebrechen des Polnischen Aufstands, denselben erdrücken und hält eben dadurch auch jede neue, rein materielle Schilderhebung nieder. Aber eine Jnsurrettio», welche durch die fortwährende An¬ tastung der beiden Palladien Polens, seiner Religion und seiner Sprache, hervorgerufen würde, hätte gerade in diesen Elementen eine belebende Kraft, die den Kanonen nicht erläge. Polen ist in seiner ganzen Geschichte zu eigenthümlich national und zu durchdrungen Vom katholisch-christlichen Geiste, als daß es sich je, gleich den andern rus¬ sisch gewordenen Landstrichen, in eine fremde Nationalität, in einen ketzerischen Glauben verschmelzen konnte. Polen's Aar hat in seiner großen Vergangenheit Secrs einen zu hohen Schwung genommen, als daß er sich vor dem zweiköpfigen russischen beugen könnte; der Glanz einer Krone, welche auf dem Haupte eines Casimir, eines Sobiesky saß, kann vor dem Kaiserdiadem nicht erbleichen. Wohl aber können sie beide brüderlich um ein Haupt sich schlingen; wohl können beide Nationen neben einander die schöne Bahn der Civili¬ sation im allgemein christlichen Sinne betreten. Andrer Seits aber möge man in Europa bedenken, daß eS Rußlands eigentliche Auf¬ gabe ist, jenem Welttheil, aus dem dereinst die ersten Anfänge der Cultur kamen, jetzt ein Träger der europäisch-christlichen Bildung zu werden. Man vergesse nicht, daß ohne die Bestrebungen Rußlands jener ganze, weite, seiner Macht unterworfene Länderstrich eine Wü¬ stenei, eine von wilden, räuberischen, einander blutig aufreibenden Horden *) Warum nicht gar? Wir ehren und theilen die Sympathien unseres verehrten Herrn Corrcspondencen für das unglückliche Polen; seinen, politi¬ schen Combinationen können wir jedoch nicht beistimmen. Anm. d. Red. durchstreifte Steppe wäre, da doch jetzt wenigstens eine Staffel künf¬ tiger Cultur dafür gelegt ist. Ueberhaupt ist Rußland, wie wir glauben und wie manche weitere Stelle dieses Briefes darthun wird, für Europa und besonders für Deutschland nicht so zu fürchten als Manche meinen. Es ist durchaus nicht innerlich stark genug, um jemals der Unabhängigkeit einer der andern Großmächte gefährlich zu werden, und in der Reihe derselben nimmt es mit Recht in jeder Beziehung nur den letzten Rang ein. Preußen z. B. das kaum den fünften Theil von Rußlands Bevölkerung besitzt, ist bei Weitem mächtiger als dieses und braucht einem Kampf mit ihm gar nicht zu scheuen. Denn Preußen besitzt alle jene Prinzipien einer mora¬ lischen Macht, die heutigen Tages allein den Ausschlag geben; Ru߬ land dagegen fehlen diese bisher noch ganz. Ein ehrgeiziger, kriege¬ rischer Fürst auf Preußens Throne könnte der Ruhe Europas weit gefährlicher werden, als ein russischer Kaiser, weil ersterer sich auf seine ganz Deutschland wie eine Kette durchziehende, von einem Geiste durchdrungene, militärisch eingeübte Bevölkerung stützen könnte. Was aber wäre Rußlands Stütze? Die Bewohner seiner uner¬ meßlich weit hingedehnten Provinzen sind zwar tapfer, d. h. sie ste¬ hen im Feuer unerschütterlich da, aber ihnen fehlt alles zusammen¬ haltende Gefühl, jeder Aufschwung, den Ehre, Nationalität oder Religion einem Heere verleihen. Im Bewußtsein nun dieser innern Haltlosigkeit und Schwäche seines Reiches, „dieses auf thönernen Füßen ruhenden Erzkolosses," geht das Hauptbestrcben des jetzigen Kaisers dahin, die heterogenen Bestandtheile, welche das von seinen Vorgängern auf Rußlands Throne ihm überkommene, in Bezug auf Nationalität wahrhaft chao¬ tische Reich bilden, in eine national-russische Einheit zu verschmelzen. Es ist dies eine würdige Aufgabe für einen von edlem Ehrgeiz er¬ füllten Regenten, und wenn es ihm gelingt, sie zu Ende zu bringen, so wird er sich nicht allein in der Geschichte seines Vaterlandes, son¬ dern auch in den Annalen der europäischen Gesittung überhaupt ei¬ nen ehrenwerthen, hervorragenden Platz erworben haben. Bisher hat er mit der ihm eigenen Energie, freilich oft nur auf gewaltsam zerstörendem Wege, alle Hindernisse, die sich seinen constituirenden Maßregeln entgegenstellten, hinwegzuräumen gewußt, so daß die früher ganz lose und blos äußerlich an einander geketteten Elemente seines Staates jetzt schon einigermaßen wenigstens von einem inner¬ lichen, zusammenhaltenden Bande umschlungen werden. Die Haupt¬ bestandtheile einer jeden Nationaleinheit sind: Religion und Sprache. Ein kaiserlicher Ukas nun hat verordnet, daß die russische Sprache im ganzen Kaiserreich die officielle sei) Jedermann muß sie, als die einzig nationale, kennen, wenn er auch nur auf das geringste bür¬ gerliche oder militairische Amt Anspruch machen will. So verschmelzen sich alle bisher durch die Sprache fremdartigen Volkstheile Rußlands zu einer einheitlichen Volksthümlichkeit in diesem Bezüge, und zwar ist dies, — hier wie in allem Folgenden ist Polen immer als Aus¬ nahme zu betrachten — auf nicht allzu gewaltsame Weise geschehen, denn die wenigsten der betreffenden Stamme besaßen irgend ein le¬ benskräftiges Element, im Gegentheil hielten sich die meisten nur an kleinlichen Localsitten und an längst auf die Gegenwart einflu߬ loser historischen Erinnerungen ihres Ursprunges und früherer Selbst- ständigkeit oder nicht russischer Oberherrschaft fest, die ihnen dann keine nachhaltige Stütze abgaben gegen den Willen des Czaren. In Betreff der Religion sind hohem Orts die Verhältnisse der Nicht-Griechisch-Katholischen dergestalt geordnet, daß diesen Glau- bensbekennern wenigstens factisch keine vollkommene bürgerliche Gleich¬ stellung gewährt ist, sie vielmehr gegenüber der herrschenden Kirche nur als Geduldete erscheinen. So hat sich denn auch in diesem Punkte nach und nach eine Einheit gebildet und bildet sich noch, indem der Uebertritt zum griechischen Glaubensbekenntniß immer häu¬ siger wird. In Betreff der inneren Verwaltung des Reiches ist es dem regierenden Kaiser ebenfalls geglückt, merkliche Verbesserungen her¬ beizuführen; alle eingewurzelten und verjährten Mißbräuche der russischen Administration mit einem Schlage abzuschaffen, wäre mehr als eine herkulische Reinigung eines Augiasstalles. Pflichtverletzun¬ gen der gröblichsten Art, Erpressungen, Aussaugereien deS Volkes, felle Bestechlichkeit, Unterschleife und Beraubungen des Staatsschatzes sind Uebelstände und Gebrechen, die, der russischen Beamtenwelt wie angeboren scheinen. Vom gemeinen Kosacken bis herauf zum Ge¬ neral, vom Staatsminister bis zum letzten Schreiber, vom obersten Gerichtspräsidenten bis zum Kanzleidiener herab bewuchert sich Alles mit offenem Raub auf Staatsunkosten. Ganze Regimenter eristiren oft mir auf dem Papier, während der Staat alle dafür in Rech¬ nung gesetzten Ausgaben bezahlt, als beständen sie in Wirklichkeit. Alte Uniformen, die den Militair-'Commissionen als unbrauchbar zurückgestellt werden, vertheilt man an anderen Orten wiederum statt neuer und die fern von der Hauptstadt, also außerhalb des Gesichtskreises der persönlichen Ueberwachung des Kaisers, garniso- nirenden Regimenter sind in Folge dieses Betruges oft in Lumpen und zusammengenähte Fetzen alter Uniformen gekleidet. Ost würde wirklich der Anzug eines italienischen Lazzarone oder die aus den Straßen- Dublin'S zusammengerafften Hüllen, die einen armen Jr- länver bedecke», noch gut zu nennen sein, neben der Bekleidung eines russischen Soldaten. Mit den auf diese und andere schmachvolle Arten zusammengestohlencn Summen befriedigen die Großen ihre Laster und elenden Leidenschaften. Das grobe Beinkleid eines Re¬ giments verwandelt sich in kostbare Shawls oder prächtige Teppiche für die Maitresse des Generals; der Solbabzug, um den der arme Soldat betrogen wird, verschafft seinem Chef die Mittel, am Phn- rotische, das Lieblingslaster der russischen Adligen, ein keckes v-i, tummle zu rufen. Der verstorbene Kaiser Alexander verzweifelte, nachdem er ungeheure Anstrengungen in dieser Beziehung gemacht, daran, diesen Krebsschaden der allgemeinen moralischen Verdorbenheit heilen zu können und ergab sich resignirt darein, ihn zu dulden. Von der Höhe, die unter seiner Herrschaft dieser Unfug erreicht hatte, will ich Ihnen ein schlagendes Beispiel mittheilen. Der damalige Minister des Innern legte eines Tages dem Kaiser einen Bericht vor, damit er ihn zu der Verausgabung unge¬ heurer Summen berechtige, welche zur Erbauung einer Stadt dienen sollten, die der Kaiser am Ufer eines großen, schiffbaren Flusses an¬ zulegen befohlen hatte, wodurch der commercielle Betrieb und der Wohlstand der Bewohner eines bedeutenden, von diesem Fluß durch¬ strömten Landstriches erhöht und befördert werden sollte. Der Kaiser unterzeichnete. General Diebitsch, der General-Adjutant und Liebling des Kaisers, der sich zufällig in diesem Augenblick im Ccibinet desselben befand, nahm sich diese Thatsache zu Papier. Einige Zeit nachher begleitete er den Kaiser auf einer Reise in's Innere des Reiches, und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gab er dem Postillon den Befehl, die Richtung nach der vorgeblichen Stadt ein- zuschlagen. Es war Abend geworden und der Kaiser, der sich mit seinem treuen Diebitsch allein in der Kutsche befand, war richtig eingeschlafen. Als der Wagen nun plötzlich an der Poststation an¬ hielt, erwachte er und frug seinen Begleiter: — „Wo sind wir, mein Bester?" — „Ew. Majestät befinden sich in diesem Augenblick in der neuen, auf Ihren Befehl erbauten Stadt, Alerandrvw-CharaSzo." — „Sehr schön; ich will die Nacht über hier mich ausruhen und mir morgen die Stadt ansehen. Aber was ist das?" frug der Kai¬ ser, als er beim Aussteigen Nichts als ein einsames Posthaus und rings¬ umher nur eine weite Steppe sah, in deren alleinigem, ungestörtem Besitze sich die friedlich weidenden Pferde und Kühe des Postmeisters befanden. „Sie haben sich offenbar geirrt, Diebitsch; hier ist ja keine Stadt zu sehen." — „Verzeihen Ew. Majestät; die Stadt ist wirklich da, nur stehen die Häuser blos auf dem Papiere, oder viel¬ mehr sie stecken in der Tasche des Ministers." — „Lassen Sie an¬ spannen und sprechen Sie mir nicht weiter davon; ich verbiete es Ihnen," entgegnete Alerander. — Der jetzige Kaiser nun hat unermüdlich ein scharfes Augen¬ merk auf sämmtliche Verwaltungszweige und bestraft alle sich kund gebenden Veruntreuungen mit unerbittlicher Strenge, die denn frei¬ lich auch ihre Urheber seinem Auge um so sorgfältiger zu verbergen suchen. Des Kaisers Wille allein ist keinesweges hinreichend, um diesen am Marke des Staats saugenden und sein Wohl verzehrenden Krebsschaden auszurotten. Um diesen Zweck zu erreichen, müßte zunächst die Lage der öffentlichen Beamten verbessert werden, deren Gehalte mit den Noth¬ wendigkeiten nicht blos deS Lurus, sondern selbst des täglichen Le¬ bens im schreienden Mißverhältnisse stehen. Ein gemeiner preußischer Grenzaufseher hat einen höheren Gehalt, als ein Douanen-Director in Rußland und der Sold eines preußischen Secondelieutenants ist nur um ein Weniges geringer, als der eines russischen Oberstlieute¬ nants und Regimentschefs. Nur die Professoren der höheren Bil¬ dungsanstalten und die Diplomaten sind reichlich atisgestattet. Letzterer Theil der gouvernementalen Beamten verschlingt eine unge¬ heure Summe aus den Staatseinkünften; so haben z. B der vorige und der jetzige Kaiser den russischen Gesandtschaften zu London, Paris und andern großen Höfen sehr oft einen unbegrenzten Credit angewiesen, woraus denn auch die glücklichen Erfolge der russischen Diplomatie erklärt werden müssen. So lange daher dieser Uebel¬ stand der zu geringen Besoldungen besteht, werden auch die härtesten Strafen, die den Missethätern drohen, nicht vermögen, alle Beamten von Bestechlichkeit oder Unterschleifen abzuhalten. Um aber die pecuniäre Stellung der Staatsbeamten zu ver¬ bessern, müßte natürlich der russische Staatsschatz im Stande sein, alle seine zahlreichen Ausgaben auf normalem Wege zu decken; wie wenig dies aber der Fall ist, beweisen die sich immer erneuernden Anleihen. Rußland besitzt ungeheure, noch unausgebeutete Hilfs¬ quellen; aber ihre Entwickelung wird durch die Leibeigenschaft ver¬ hindert. Alle Versuche des Kaisers, den öffentlichen Wohlstand und die Moralität seines Reiches auf festen Grundlagen zu sichern, wer¬ den unfruchtbar sein, so lange die eiternde Wunde des russischen Gesellschaftszustandes offen bleibt. Geschlossen kann sie aber bei dem starren, verblendeten Eigennutz des russischen Adels nur vom Kaiser selbst werden. Von dessen erstem Versuche dieser Art und seinem traurigen Erfolge habe ich ihnen schon berichtet; seitdem sind neue Schritte in dieser Beziehung nicht geschehen. Ich muß bei dieser Gelegenheit noch ein Mal auf eine schon in früheren Briefen aufgestellte Behauptung zurückkommen, weil man, besonders im liberalen Theile des Publikums, ihr schwerlich wird glauben wollen, obgleich sie durchaus wahr ist. In Nußland nämlich ist die Autorität, der unbeschränkte Gewalthaber nicht nur der Einzige, von dem alle FortschrirtS-Jnstitutionen, alle Beförderungen wahrer Civilisation ausgehen, sondern Er ist es auch allein, bei dem sie Schutz finden. Die Aristokratie ist hier lediglich mit ihren engherzigen, gemein materiellen Kasscninteressen beschäftigt. Diese stehen im schreienden Gegensatz zu den Interessen deö Gesammtwohls, folglich auch des sie vorzüglich fördernden Bürgerstandes, der des¬ halb vom Kaiser außerordentlich beschützt wird. Eben so lasten jene Adelsinteressen besonders auch drückend auf der großen Masse der Bevölkerung Rußlands, den Leibeigenen, die lediglich vom Kaiser bessere Tage zu erwarten haben. Der schlagendste Beweis für diese durchgreifende Trennung der verschiedenen Stände und ihrer Vor¬ theils liegt in der Geschichte der wirklichen Verschwörungen gegen Rußlands Herrscher. Immer sind diese von dem Adel allein aus- gegangen: nie haben sich weder die Bürger, noch freiwillig die Leibeigenen ihnen zugesellt. Und die Soldaten mußten die ver¬ schworenen Adeligen entweder durch Vorspiegelung einer Verletzung in der Legitimität durch Thronfolge (wie im Jahre 1826 geschah) verlocken oder sie mußten, (wie im Jahre 1801 blutigen Angeden¬ kens) die treuen Wächter ihres Monarchen an der Schwelle seines Schlafzimmers erdolchen, um dann diesen selbst im Schlafe mit frevelnder Hand hinzuschlachten. Menschen, ohne alle Kunde der Sachlage, haben sich oft dahin ausgesprochen, das russische Volk sei nur noch nicht aufgeklärt genug, um seine Rechte zu verlangen und daher rühre seine Theilnahmlostgkeit an jenen revolutionären Ver¬ suchen. Aber wahrlich, gehört denn eine große Intelligenz, ein hoher Zustand politischer Bildung dazu, um Stadt und Land mit Feuer und Schwert zu verwüsten? Und mehr verlangten jene Ver¬ schwörer von den unteren Volksklassen gar nicht: sie sollten nur so viel leisten, als die carlistischen Banden in Spanien, die doch eben auch nicht sehr gebildet sind. Im Gegentheil aber geht gerade dar¬ aus, daß sich daS russische Volk zu keiner Theilnahme an solchen verrätherischen Versuchen verlocken ließ, auf's Klarste hervor, wie richtig dasselbe über sein Verhältniß zum Adel einer — und zum Kaiser andrer Seits urtheilt und wie es vollkommen weiß, von wem es eine Erleichterung seiner Lage, eine Erhebung zur Menschen- und Bürgerwürde erwarten kann. Das Volk weiß, wessen Schutz es die Erbauung neuer Städte, den Flor des Handels, den Wohl¬ stand deö LandbnuerS zu verdanken hat. — » » » „ Die Maas und ihre Anwohner. Von Julius Fester. Völker und Völkerstämme theilen sich ab nach Flußgebieten und wo nicht Staatsgewalt und Politik eine künstliche Trennung hervor¬ gebracht haben, da entfaltet sich von den beiden Ufern eines Flusses an bis in die fernsten Nebenthäler das rege Leben eines und desselben, in Sprache und Sitte gleich gebildeten Stammes. Wohl nur in den ersten Zeiten der Unkultur konnte ein mächtiger Strom den umherziehenden, Krieg und Jagd suchenden Wilden zur hem¬ menden Grenze werden; wo aber die Civilisation die Wälder aus¬ gerodet, die Felder befruchtet und zierlichere Wohnungen aufrichtet, da ist der Fluß keine Trennung mehr, sondern eine leichte Verbin¬ dung, und der Kahn trägt den Freund leichter zum drübenwohnen¬ den Gastfreunde, als selbst Roß und Fuhrwerk den zackigen BergeS- kamm überschreiten. Warum also, wenn die Familie sich vermehrt und sich auszudehnen sucht, nicht lieber im freundlichen Flußthale und seinen Nebenthälchen als jenseit des Berges sich ansiedeln? Läßt auch Cäsar den Rhein die Grenzscheide zwischen Gallien und Germanien bilden, so treten wir hier eines Theils in jene Zeiten der Unkultur zurück, anderen Theils hat die Völkerwande¬ rung diese Unterscheidung gänzlich aufgehoben. Wenn nun auch im Vertrage zu Verdun der Rhein wieder als die Grenze Deutsch- lands von..Lothar's Reiche angenommen wurde, so hat erstens diese Theilung bekanntlich nicht Stand gehalten, andrer Seits aber zeigte der Verfolg und zeigt es im Volke bis auf den heutigen Tag, daß das deutsche Volk aus der linken Seite des Rheines sich bis zu den oberländischen Alpen, den Vogesen, Ardennen, und weiter unten bis zum Meere ausdehnte. Wenn man im Jahre 1845 das von Ludwig XIV. ungerecht eroberte Elsaß, ich weiß nicht aus welcher Politik, dem französi¬ schen Reiche einverleibt ließ, so stand es im Jahr 1830 nach allem Völkerrecht jener echt deutschen Provinz frei, sich dem deutschen Staatsverbande wieder anzuschließen, was auch wahrscheinlich ge¬ schehen wäre, wenn nur die deutschen Regierungsverfassungen ein wenig lockender gewesen wären. Dadurch aber wäre Frankreich auf seine wahren Grenzen be¬ schränkt worden, und der Vorwand wäre ihm genommen, nach wel¬ chem man sagn Frankreich geht im Elsaß bis an den Rhein, schließt hier deutsch redende Franzosen ein, warum sollte nicht aus demselben Grunde das ganze linke Rheinufer und Belgien mit, trotz andrer Sprache und verschiedener Sitte, ebenfalls zu Frankreich gehören können, da ja nach Cäsar und dem Verduner Vertrage die Grenzen Deutschlands einmal blos bis an den Rhein gingen. Aber derjenige, welcher die Länder nicht wie ein Stück Waare betrachtet, das man nach Willkür in dem Ausschlag der Waffen bald diesem, bald jenem Reiche einverleibt, wer nach dem Unterschiede von Sprache und Sitte die Völkereintheilungen anstellt, der findet leicht, daß Frankreich sich nirgends bis zum Rhein erstreckt, daß, wie gesagt, die Vogesen und die Ardennen und die hohe Been seine Grenzen gegen Deutschland zu bilden, daß aber der Rhein in seinem ganzen Flußgebiete, vom Ursprünge bis zur Mündung, wahrhaft deutsch ist. Wenn auch nicht in der ganzen Ausdehnung von der Quelle bis zum Ausfluß, finden wir doch die oben angeführte Wahrheit, daß ein Fluß und sein Gebiet eher die Vereinigung als die Trennung gebildeter Volksstämme constituiren, mehr oder weniger bei allen StrömeK bestätigt. So zeigt auch die Maas, wenn sie schon in ihrem obern Theile französisch, in der Mitte wallonisch und gegen ihren Ausfluß hin deutsch-holländisch ist, daß sie diesen Charakter der einzelnen Stämme wenigstens in der ganzen Breite ihres Flußgebietes beibehält. Ein interessanter Fluß ist die Maas in jeder Beziehung. Ver¬ gleicht man sie mit dem kräftigen, männlich starken Rheine, so stellt sie sich bald im Gegensatze zu diesem in wahrhaft weiblichem Cha¬ rakter dar. In einer dunkeln Ecke des wasgauischen Gebirges, an der Ab¬ dachung der Hochebene von Langres entsprungen, fließt sie dahin in sanft sich absenkendem Thale, fast in gerader Linie, unbeachtet, wie ein still beschauliches, nur mit sich selbst spielendes Mädchen. Nach und nach offner sich ihrem Laufe ein breiteres Thal, mit entfernteren schwel¬ lenden Hügeln, den dunkeln Träumen der heranwachsenden Jungfrau, die mit den ersten Schiffen in die Jahre der Mannbarkeit ge¬ treten, nun allmälig (hinter Glock) anfängt, Felsen in Phantastischen Gebilden um sich aufzuthürmm. Alles verräth die Munterkeit und Schwärmeret des jungfräulichen Geistes; nun nimmt sie die Lesse auf: wie begierig horcht sie den Erzählungen, die diese neue Freundin ihr von ihrer unterirdischen Fahrt») vertraut, — immer kühner wird ihr phantastischer Geist in seinen Gebilden, schroff aufsteigende Felsen umgeben sie und nur mit Mühe drängt sich ein Städtchen (Dinant) zwischen sie und die himmelanstrebenden Steinmassen. Aber ihre weibliche Natur läßt sie sich nicht zu lange entfernen von den sanfteren Gefühlen; da tritt sie aus den schroffen Umgebungen heraus, grüne Wiesen bekränzen ihre Ufer, die Hirtenflöte ertönt von den sanften Abhängen, wo die Heerde graset, freundliche Land¬ häuser mit Gärten und Feldern lagern sich an ihrem Strande, freu¬ dig trägt sie schwerere Schiffe und zeitenweise duldet sie selbst die größere Last des sie bis in die innerste Tiefe erschütternden Dampf¬ bootes. Doch nicht gänzlich hat ihr romantischer Sinn sie verlassen und von mädchenhafter Laune ist sie noch nicht befreit. Noch erhe¬ ben sich von Zeit zu Zeit sonderbar geformte Felögestaltungen an ihrem Strande, sie erfreut sich an plötzlichen, unvermutheten Wen¬ dungen und schiebt dem sie beherrschen wollenden Menschen Klippen, Sandbänke und Untiefen in den Weg, oder reißt das Schiff in Durch die Tropfstein-Höhle von Heu, die dieser Bach durchflics-t. ' 31 schnellen Strömungen abwärts, daß das Steuer der Gewalt nicht mehr gebieten kann; und so fährt sie fort, obgleich ihr Lebenslauf durch die Vereinigung mit ihrer wohlgezogenen Landsmännin, der Sambre, eine neue Richtung erhalten hat, — immer noch bleibt sie einem arbeitsamen Leben feind und noch liebt sie es, von Zeit zu Zeit mächtige und seltsam gestaltete Felsen an ihrem Ufer auszu- thürmen, bis endlich, nachdem sie schon wie zum Spiel Wiesen und Weinberge angelegt hat, der arbeitsame, jugendlich kräftige Hoyour auch ihr die Augen öffnet; die sanftern Hügel bedecken sich mit Weinreben und Kornfeldern; Fabriken und ausgedehnte Dörfer neh¬ men die Ufer in Beschlag, Landhäuser und Schlösser steigen auf allen Seiten in die Höhe, mit einem Worte, wir sehen die Jung¬ frau in ihrer Vollreife, auf dem Höhepunkte ihres Lebens, der sich in dem gewerbthätigen, heitern und herrlich gelegenen Lüde ich noch besonders dargestellt findet, — aber kein würdiger Gatte stellt sich ihren Wünschen dar, immer sind es nur Freundinnen, diesmal die vereinigten romantisch lieblichen Schönen: Vesdre und Ourthe, die sich ihr nähern, von dem nicht gar zu fernen stolzen Rheine, zu dem sie ihren Lauf gerichtet zu haben schien, weiset sie gebieterisch und rauh die neidische hohe Veer zurück. Da giebt sie ihrer Laufbahn abermals eine neue Richtung; resignirt scheint sie sich dem häuslich geruhigen, gemüthlichen Leben widmen zu wollen, — ar¬ beitsam wandelt sie zwischen den reichen Feldern und Maestricht erhebt sich als ein Werk ihres Fleißes. Aber schon wird sie müde dieses traurig einsamen Lebens, die trübselige deutsche Nver kann sie nicht mehr erheitern, die Kraflgebilde ihrer Jugend haben sie verlassen und so schleicht sie in den sumpfigen, trüben Umgebungen, selbst trübe und düster, dahin: —da erblickt sie in der Ferne den Rhein, zu dem schon lange ein unbekannter Drang sie hinzog, unschlüssig schwankt sie, nä¬ hert sich, entsernt sich, — endlich kommt sie ihm entgegen und ihre altjüngferliche Scheu überwindend, nimmt sie den Lebensmüden freund¬ lich in ihre Arme auf und durcheilt nun in neuem Wirken, in stolzer Kraft den kleinen Rest ihrer Tage dem Oceane der Ewigkeit zu. — So trägt dieMaas, obschon sie ihren Charakter von ihrer Quelle bis zur Mündung dreimal verändert, diesen jedesmaligen Charakter in der ganzen Breite ihres Flußgebietes an sich. Von Glock an, wo sie Frankreich Lebewohl sagt, bis nach Macstncht, wo sie deutsch- niederländisch wird, ist derselbe der Wallonische. Dieser erstreckt sich dann auch im engsten Sinne des Wortes durch das ganze Flu߬ gebiet, (mit Ausnahme deS südlichen Theiles der Sambre) und auf diese Weise erhalten wir, ohne Rücksicht auf politische Einthei- lung, die deutlichste Abgrenzung dieses Sprach- und Völkerstammes. Sobald der eben beschriebene Theil des Flußgebietes nach Norden und Nordwesten zu durchlaufen ist, gelangt man nach Brabant und Flandern, nach Süden und Südwesten trifft man französische, nach Osten und Südosten deutsche Sprache. Wale, Walton, die Benennung deS Bewohners dieses Landstriches, der nach heutiger Eintheilung die Provinzen Lüttich und Namur umfaßt, kommt unstreitig von dem alten valuis her und diese Bezeichnung als Gallier müßte diesem Volksstamme nothwendig verbleiben, da sie nie eigentlich einen integrirenden Theil deS Fran¬ kenreiches ausmachten, sich stets abgeschlossen hielten und auch in der That von eigenen Fürsten regiert wurden. Daher liebten sie es wohl selbst, sich Gallier zu nennen, und auf diese Weise konnte sich dieser beständig gebrauchte Name leicht in das oben genannte Wort abschleifen. Die Franken, stolz darauf, den Unterworfenen ihren Namen einzupflanzen, ließen den Ausdruck Walton erst nach und nach um sich greifen, während die Flamänder in ihrem Nationalhaß Franzosen und Wallonen mit dem alten Namen Gal¬ lier oder Walen nannten. Das Abschließen der Wallonen gegen Außen brachte auf diesen Volksstamm nun zunächst die Wirkung hervor, daß seine Sprache sich ganz eigenthümlich gestaltete. Nicht ein verdorbenes, schlecht ausgesprochenes Französisch, wie dies bei den übrigen Dialekten statt¬ findet, sondern eine aus denselben Grundlagen, wie die französische, italienische, spanische Sprache sich gebildet habende, sonst aber ganz un¬ abhängige Tochtersprache ist das sogenannte wallonische Patois und verhält sich also zu den ebengenannten Sprachen ungefähr wie das Flämische zu dem Hochdeutschen, Dänischen und Schwedischen. Ist es nicht interessant, die Bemerkung zu machen, daß Belgien auf diese Weise zwei sich unabhängig von ihren Schwestern entwickelnde Sprach¬ stämme enthält und die Sprache denselben Weg geht, wie die Nation, die nur gezwungen das fremde Joch ertrug und niemals unbe¬ schränkte Unterjochung duldete! Die Beherrschung der Sprache aber wie des Volks blieb nicht aus und der nothwendige Gebrauch der französischen Sprache für die Schrift verhinderte eine wallonische Literatur. Im Umgang aber blieb die wallonische Ausdrucksweise selbst bis in die höhern Klassen der französischen Sprache vorgezo¬ gen und man liebt es, die Kraft und Nettigkeit dieses Idioms im Vergleich mit dem obgenannten hervorzuheben und selbst Stadtpredi¬ ger drücken besondere Kraftsprüche wallonisch aus. Es ist auch natürlich, daß die Umgangssprache eines kräftigen und geistreichen Volkes diese beiden Merkmale ebenfalls an sich tragt, wenn sie nicht, wie dies hier ja gerade der Fall ist, durch fremden Einfluß verwischt oder durch ein seines Hofleben ver¬ dorben ist. Obgleich es auf den ersten Anblick scheinen möchte, daß die Sprache viele spanische oder italienische und manche deutsche Elemente besitzt, so erweiset sich dies bei näherer Betrachtung, in Beziehung auf die erstere Behauptung wenigstens, als durchaus un¬ gegründet. Zwar hört man vielfach jene Zischlaute thes und thes, wohl kann man auch hie und da ein echt spanisches Wort unterscheiden; aber Ersteres scheint überhaupt in dem Charakter der aus dein La¬ teinischen abgeleiteten Sprachen und ebenso im Französischen zu lie¬ gen, nur daß hier die Ävschleifung weiter ging und aus jenen härteren Lauten das weiche j. und es. machte. Was die direkt aus dem Spanischen eingeführten Wörter be¬ trifft, so ist ihre Anzahl sehr klein; es sind nur einzelne Ueber¬ reste aus der Zeit, wo die spanischen Truppen hier hausten. Interessanter ist das wenige deutsche Element, daS sich in dieser Mundart vorfindet; hier haben wir nicht allein die echt deutschen Worte: Lough (Loch, Thüre), Sept (Stock), Dank, ni'et (Nachen) u. s. w., sondern es finden sich gegen den Geist der französischen Sprache verstoßende echt deutsche Construktionöweiscn in Menge vor. Sind die Bewohner der flandrischen Provinzen in ihrer indu¬ striellen Thätigkeit mehr ruhig und besonnen, die Franzosen obschon unternehmender als ausdauernd, so finden wir in den Bewohnern des MaaSthaleö den Uebergang dieser beiden Charaktere; die Wal¬ lonen verbinden eisernen Fleiß und unermüdliche Beharrlichkeit mit einem regen Unternehmungsgeiste und einer Lebhaftigkeit des Cha¬ rakters, die überall an Frankreich erinnert. Viel Wahres enthält jener bekannte Ausspruch: „Das Land der Wallonen ist das Fegfeuer der Männer und die Hölle der Frauen." Es versteht sich, daß man mit diesen christlich-mytholo¬ gischen Bezeichnungen den Grad der Arbeit ausdrücken will, zu dem die beiden Hälften der Bewohner hier gezwungen sind. In der That, man muß staunen, sieht man an den feuersprühenden. Hochofen, in den Plattmühlen und Eisenhämmern diese kaum be¬ kleideten, rußigen Gestalten, von dem eigenthümlichen, unheimlichen Lichte des geschmolzenen oder hellweiß-glühenden Eisens beleuchter, sich zwischen den sprühenden Funken und vor der lodernden Feuer¬ esse in rühriger Thätigkeit hin und her bewegen, manchmal im Dunkel verschwinden und dann plötzlich wieder erscheinen, mit einem strahlenden Eisenblocke, der unter dem gewichtigen Hammer leicht wie ein nasser Schwamm ausgedrückt und von den glühend abflie¬ ßenden Schlacken gereinigt wird. Bietet sich hier die Vergleichung mit dem Fegefeuer von selbst dar, so liegt die Steigerung sür das Loos der Frauen nicht mehr ferne, wenn man das von der Natur zarter gebildete Geschlecht an Bergwerken und Kohlenschiffen, Klei¬ dung, Gesicht und Hände von dem schmutzigen Staube geschwärzt, unter den schwersten Lasten gebeugt, einhergehen sieht, wenn man diese rohen und schmutzigen Ausdrücke hört, dieses gemeine Lachen vernimmt, was Alles die durch zu schwere Arbeit niedergedrückte Menschenklasse bezeichnet. Und wie die" Frauen der untern Stände am Meisten geplagt scheinen, so ist es auch in der mittlern Klasse wieder das weibliche Geschlecht, welches sich durch seine Thätigkeit vorzüglich auszeichnet. Ist eS doch etwas ganz Gewöhnliches, daß erwachsene Töchter selbst wohlhabender Familien irgend ein Geschäft beginnen und es selbst nach ihrer Verheirathung nicht aufgeben, so daß hier die Frau ei¬ nes geringer besoldeten Professors Putzmacherin ist, dort eine No¬ tarsfrau einen Handel mit langen Waaren und Seidenzeugen treibt. Wo giebt es noch ein Thalbecken, in welchem ein solcher Stru¬ del industrieller Thätigkeit sich drängt, als in dem Maasthale und seinen Verzweigungen? Diese Masse von Hochöfen, Eisenhämmern und Plattmühlen, von Zinkschmelzen und Kohlenbergwerken, von Messersabriken und Waffenschmieden, von Tuch- und Papierfabriken, von Gerbereien und Leimsiedereien, von Glashütten und Marmor- schlcifercien, diese Menge von Distillerien, Brauereien und Steingut- fabriken. Hier allein war es möglich ein Etablissement, wie das eines Cockerill in Seraing zu gründen und nach dem Fallimente und Tode des Stifters aufrecht zu erhalten und fortzuführen. Das Bestehen vieler dieser Etablissements beruht allerdings auf dem Reichthum des Maasthales an Marmorfelsen, Eisensteinen, Zink¬ minen und vorzüglich an den so nothwendigen Kohlen, aber ein weniger industrieller Volksstamm hätte selbst diese Schätze unbenutzt liegen lassen, oder wenigstens die Bearbeitung derselben nicht auf den Punkt ausgedehnt. Der Reichthum an Steinkohlen und der dadurch bedingte niedrige Preis derselben bewirkt, daß man hier oft Dampfmaschinen angewendet sieht, wo man anderwärts wohl kaum daran gedacht hätte; so sah man in diesem Sommer, bei der Aufführung eines neuen Quais bei Lüttich, eine Dampfmaschine aufgeführt, um zwei große Wasserschnecken und Pumpen in Bewe¬ gung zu setzen, wodurch denn die Arbeit im Großen gefordert wer¬ den konnte. Außerdem hat dieser Kohlenreichthum den häuslichen Einrichtungen einen eigenthümlichen Charakter aufgedrückt, der sich jetzt freilich fast nur auf dem Lande und in kleinern Städten erhal¬ ten hat. ES ist dies die freundliche Sitte, sich um den stets bren¬ nenden, immer reichlich versehenen Herd zu versammeln, und wäh¬ rend man in das trauliche Feuer blickt, eine um so gemüthlichere Con- versation zu führen. Die Küche ist auf diese Weise hier kein enger rauchiger Behälter, vollgestopft mit Geschirr aller Art, sondern ein Heller, großer und freundlicher Raum, wo die ganze Familie, wenn nicht auswärtige Geschäfte sie in Anspruch nehmen, sich versammelt und wo ebenfalls die wenigen vertrauteren Freunde ohne Ceremonie! empfangen werden. Ich sage mit Absicht, die wenigen vertrauteren Freunde, denn gerade dieses engere Familienleben um den Herd bringt es mit sich, daß man die Unterhaltung weniger auswärts sucht und von formellen StaatSvisiten keine Rede sein kann. Wie hier so haben die Wallonen auch in mancher andern Beziehung ei¬ nen eigenthümlichen Charakter, ihre eigenthümlichen Volkshelden bei¬ behalten, was jedoch nur von der mittlern und niedern Klasse ge- sagt werden kann ; denn die obern Stände haben sich hin an der Maas sowohl, als am Rheine und anderwärts der Herrscherin Möve gefügt. Der Wallone ist, wie angedeutet, unternehmend, dabei kräftig und kühn; er hält eben so fest an seinen Rechten und Freiheiten als an seinen Gebräuchen und war zu jeder Zeit bereit, beide, wenn man sie ihm zu nehmen drohte, mit den Waffen in der Hand, mit Blut und Leben zu vertheidigen. So lies't man in den alten Chroniken, bei den Geschichtschreibern von Lüttich und Namur, be¬ ständig von Reibungen und blutigen Kriegen, die mit der größten Erbitterung oft um die geringfügigst scheinende Sache geführt wur¬ den, sobald sich ein Recht daran zu knüpfen schien. Als Beispiel diene der in den Annalen der Geschichte dieses Landes so berühmt gewordene Krieg um die Kuh von Eine». In Ciney, einem zum Condroz, einer Landschaft des Bisthums Lüttich, gehörigen Flecken, wird eine Kuh gestohlen. Ein Bürger des Ortes glaubt sie in Antenne, einer Stadt in der Grafschaft Namur, wohin der Dieb dieselbe geführt hatte, um sie auf fremdem Gebiet in Sicherheit zu verkaufen, wiederzuerkennen. Es wurde gerade ein Turnier gehalten und außer dem Grafen von Namur und an¬ dern Rittern und Herrn befand sich der Gerichtöamtmann des Con¬ droz hier anwesend. Diesem theilt jener Bürger von Ciney seine Bemerkung mit und der Amtmann, in seinem Eifer, seinem benach- theiligten Untergebenen Recht und dem Verbrechen Strafe zu ver¬ schaffen, greift zu einem Mittel, welches wohl nur in den Augen jener Zeit, wegen der Leichtigkeit, mit welcher ein Verbrecher sich durch den Uebertritt auf fremdes Gebiet der Strafe entziehen konnte, Rechtfertigung finden kann. Der Amtmann begiebt sich nämlich zu dem Bauern hin, sagt, daß er sein Verbrechen entdeckt habe, schüch¬ tert ihn durch Drohungen ein, und sagt ihm dann, daß er Alles verschweigen und vergessen wolle, wenn der Andere, von zweien sei¬ ner Leute begleitet, die Kuh ihrem rechtmäßigen Besitzer wieder zu¬ stellen wolle. Der geängstete Dieb gehorcht, kaum aber hat er den Boden des Condroz betreten, so wird er nach dem Befehle des Amt¬ manns ergriffen und aufgehängt. Der Graf von Namur, der hierin eine Verrätherei gegen einen seiner Unterthanen und einen Eingriff in seine Rechte erblickte, zog verheerend ein in den Condroz und verwüstete das Land bis an die Mauern von Ciney, worauf der Amtmann einen ähnlichen Einfall in die Grafschaft Namur unter- nahm und das Städtchen Jallet zerstörte. Bald nahmen der Bi¬ schof von Lüttich auf der einen und der Graf von Hennegau, so wie später der Herzog von Brabant, der schon längst mit dem Bi¬ schöfe schlecht stand, auf der andern Seite Antheil an dem Kriege. Von bei¬ den Seiten wurde hartnäckig gekämpft, I5M0 Menschen verloren dabei ihr Leben, mehrere Schlosser, viele Flecken und Dörfer und eine große Anzahl Pachthöfe wurden zerstört und der Krieg erreichte erst sein Ende, als Philipp von Frankreich als Vermittler auftrat. So wie hier zeigten sich die Wallonen bei jeder Gelegenheit tapfer und hartnäckig an ihrem vermeintlichen oder wirklichen Rechte hangend, und so gelang es ihnen, nicht nur stets die alten Rechte und Freiheiten aufrecht zu erhalten, sondern sie erkämpften sich auch nach und nach neue, im Verhältniß als Aufklärung und Bildung fortschritten. — Der Charakter des selbstbewußten Kraftgefühls hat den Wallonen bis auf die heutige Zeit nicht verlassei, und noch bei der Revolution haben die Lütticher durch ihre rasche Entschlossen¬ heit, durch ihr schnelles Vertreten und den muthigen Zug nach Brüssel, so wie durch die Schlacht bei Se. Walburgis nicht wenig zum günstigen Ausgangs der Revolution beigetragen. Die Kleidung deS Wallonen, und ich spreche hier nicht blos von den Bauern und der untersten Volksklasse, besteht hauptsächlich in einem blauen leinenen Kittel (blousv), der um so eleganter er¬ scheint, von je feinerem Stoffe und je kürzer und neuer er ist. Hierzu gesellt sich wo möglich ein glänzender Seidenhut und modische Beinkleider. Auf solche Weise sieht man in allen kleinen Städten und selbst noch in Namur die Bürgerklasse gekleidet, welche in diese Ausstaffirung einen gewissen Stolz setzt, und dadurch jeden¬ falls eine Art kräftige Nationalität beurkundet. So wenig graciös die eben genannte Kleidung ist, so wenig macht der Wallone auch in seinem Umgange auf französische Feinheit und Leichtigkeit Anspruch, in seiaen Sitten wird man eher eine gewisse Roheit und Zurück¬ haltung als die Glätte unb Zuvorkommenheit seiner südlichen Nach¬ barn bemerken. Tadel ist er jedoch gutmüthig und nur höchst sel¬ ten artet ein Streit in der Schenke in eine ernstliche Rauferei aus. DaS Hauptgetränk war bis auf die neuere Zeit Bier und für die höhere Bürgerklasse der Wein deS Landes, der in der Umgegend Lüttich'S und vornehmlich bei dem Städtchen Huy auf den Hügeln am Ufer der Maas wächst und in den bessern Lagen einen, dem leichtern Burgunder ähnlichen Geschmack erhält. — Gegenwärtig übt aber, vorzüglich auf die untern Klassen, die durch die vielen Di- stillerien immer mehr um sich greifende Branntweinpest auch hier ih. ren verderblichen Einfluß aus. Unter den Volksgebräuchen zeichnen sich einige durch ihre ganz besondere Eigenthümlichkeit aus. Hierhin gehört vor Allein der so¬ genannte Cramion. Im Frühjahr nämlich sieht man an den war¬ men Abenden nach der Arbeit Mädchen und junge Bursche zu je 20 — 30, aber jedes Geschlecht besonders, in langen Reihen sich die Hände reichend, die Straßen durchziehen. Diese verschiedenen Ban¬ den singen Lieder gegen einander, wo denn vorzüglich von Seiten des männlichen Theils manche derbe Ausdrücke vorkommen, auch ver¬ ketten und verschlingen sich wohl die männlichen und die weiblichen Reihen unter einander, wobei es an manchem zärtlichen Druck und andern Liebesbeweisen nicht fehlen kann. So sich neckend und ver¬ folgend, (manchmal ist der weibliche Theil nicht der weniger unter¬ nehmende,) zieht man die Straßen auf und ab und das nennt man den Cramion, der unter der niedern Volksklasse der wirksamste ^ei- rathöstifter ist. Findet der Cramion vorzüglich an gewöhnlichen Abenden und den Vorabenden der Volksfeste statt, so bieten die Letz¬ tern wieder neue Gelegenheit zur Vereinigung der jungen Leute dar. Damit die vorläufigen Kosten dieser Feste bestritten werden können, ziehen die gewählten Kirmeßbursche am Samstag Abend, mit Bändern geziert und Bandstücke gegen freiwilligen Beitrag austhei¬ lend, begleitet von der meistens höchst ärmlichen Musik, durch die betreffende Pfarrei der Stadt, vor jedem Hause spielend und eine Beisteuer sammelnd. Von dem so eingekommenen Gelde wird der Kirmeßbaum auf einem freien Platze aufgerichtet, in seiner Nähe eine Tribune für die Musikanten construirt und das Pflaster, des bequemern Tanzens wegen, mit Sand bestreut. Sonntag, Montag und Donnerstag werden dann wirklich von 4 oder 6 Uhr bis spät in die Nacht hinein, bei gewöhnlich sehr mangelhafter Beleuchtung, die Tänze ausgeführt, die meistens aus der etwas eigenthümlich ausgebildeten französischen Quadrille bestehen ; ein Umstand, der we- gar des TanzplatzeS von Wichtigkeit ist, da andre Tänze, wie Wal¬ zer und Gallopade auf dem Pflaster oder dem Lehmboden unmög¬ lich wären. In manchen kleinern Städten, wie Huy, Ardennes :c. nehmen selbst die höheren Stände an diesen Tänzen unter freiem Himmel Theil und es bildet sich dann neben dem Volke oder den Bauern, ein Contretanz der schönen Welt. Eine Vermischung findet jedoch dabei nie statt und wenn auch nur instinctmäßig, so wird doch der Unterschied der Stände streng beobachtet. Es versteht sich von selbst, daß die feinern Herrn die Musikanten reichlich bezahlen und von Letztern bei der Größe des TanzplatzeS deshalb sehr gern gese¬ hen werden; da der Ton der heisern Geige und der schreienden Kla¬ rinette in dem ganzen Umkreis leicht gehört wird, und, indem er stets den Rhythmus richtig bezeichnet, in größerer Ferne den Vor¬ theil darbietet, die Mißtöne weniger hervortreten zu lassen. Ist auf diese Weise der Umgang unter den jungen Leuten und die Bildung von Bekanntschaften und Heirathen sehr erleichtert, so sind diese letztern darum doch nicht weniger einer Controle unter¬ worfen, die von einem großen, moralischen Instinkte des Volkes aus¬ geht. Wird es nämlich bekannt, daß ein Ehemann sich von seiner Frau schlagen läßt, so setzt man diesen selben Ehemann oder in neuerer Zeit seiner Sratt einen Strohmann, verkehrt auf einen Esel, ihm den Schwanz statt des Zaunes in die Hand gebend und führt ihn unter allgemeinem Hohngelächter umher. Da die Heirath eines Wittwers ebenfalls dem Volksgefühle widerspricht, so wird der Ta¬ del darüber durch ein während mehrerer Wochen jeden Abend wie¬ derholtes Charivari auf Kuhhörnern ausgesprochen, ein Gebrauch, der trotz geschärfter Verbote bis jetzt nicht unterdrückt werden konnte. Bet den Kirchweihen auf dem Lande gesellt sich zu den obenge- nannten Festlichkeiten noch das Werfen nach dem Truthahne. Diese Ergötzlichkeit bietet in ihrer ursprünglichen Gestalt einen schla¬ genden Beweis von der Gemüthöroheit des Volkes dar, da sie ei¬ gentlich verlangt, daß der Truthahn lebend mit dem Kopfe auf ni^ nen 3 Fuß hohen, in die Erde eingerammten Pfahl festgenagelt wird. (Neuere Verordnungen bestimmen, daß das Thier erst geschlach¬ tet werde, was denn häusig freilich selbst jetzt noch nur theilweise be- folgt wird.) Mit 3 Fuß langen, 2 kantigen, zolldicken eisernen Stäben wird inn, aus einer Entfernung von Aj—-25 Schritten, nach dem an dem Pfahle herabhängenden Thiere geworfen und derjenige, wel¬ cher so glücklich ist, durch einen geschickten Wurf den Hals des Vogels zu durchschneiden und letztern dadurch herabfallen zu machen, darf ihn als Braten mit nach Hause nehmen. Einen großartigern Charakter als die nur die nächste Umge¬ gend berührenden gewöhnlichen Kirmessen nehmen die Feste einiger berühmten Heiligen und vorzüglich das des Se. Hubertus in dem gleichnamigen Städtchen ein, welches letztere, wenn es auch tief in den Ardennen liegt, doch noch zu dem Flußgebiete der Maas gehört und somit zum Wallonischen gerechnet werden kann. Lange' Wall- fahrtözüge, großentheils zu Pferde, das in Holz geschnitzte lebens¬ große Brustbild des heiligen Hubertus mit großem Jagdhorn« an der Spitze, ziehen von Dinant, Namur, Huy und Lüttich her ein; der öde Flecken wird zur lebendig bewegten Stadt; Buden aller Art sind aufgeschlagen; ein großer Handel, vorzüglich rin Riemchen, welche das Horn des Heiligen berührt haben und gegen den Biß toller Hunde schützen, etablirt sich, Gaukler zeigen ihre Künste, Zahnärzte preisen in in¬ teressant komischer Beredsamkeit ihre Künste und Pulver an, Bettler und Reliquicnhändler (Letztere gewöhnlich in theatralischer Pilgcrkleidung) machen herrliche Geschäfte, Pferde werden ausgetauscht und verhandelt, hier würfelt man um eine Tabakspfeife, dort reitet man auf dem Ka» roussel, Alles natürlich, nachdem man in der Kirche die vorgeschrie¬ benen Andachtsübungen abgemacht hat, kurz das Heilige vermischt sich so mit dem weltlichen, daß eS am Ende schwer wird, Beides gehörig von einander zu sondern. Nachdem aber die verschiedenen Geschäfte besorgt und abgemacht sind, setzen sich die einzelnen Züge wieder in Bewegung, und meistens bringt man von solch' einer Wallfahrt eine so angenehme Erinnerung mit nach Hause, daß man sich im folgenden Jahre gern dazu versteht, auf diese Weise aber- mals Ablaß seiner Sünden zu holen. — Freilich hat der Katholicismus dadurch, daß er seinen Einfluß "uf die Gemüther in politischer Hinsicht geltend machte, die liberale Partei dagegen wider diesen politischen Einfluß ankämpfte, viel von seiner Macht verloren; wie Viele, die sonst wenigstens äußerlich gute Katholiken geblieben wären, sind durch diese Parteistreitigkeiten of¬ fene Bekenner des größten Indifferentismus geworden! Sah ich doch bei einer Prozession in einer kleinen Stadt einen Trupp junger Bauern, während am Altare die Hostie erhoben wurde, in nicht weiter Entfernung davon, den Hut auf dem Kopfe, ruhig stehen bleiben, während das Volk rund umher auf die Kniee sank. Solche offene Protestationen sind zwar noch selten; daß sie aber vorkommen, daß sie von dem Volke geduldet werden, beweist eine merkwürdige Erkältung des religiösen Eifers, der vor 5V Jah¬ ren die Volksmasse in Brüssel antrieb, einen Unglücklichen, wegen ähnlichen Vergehens, vermittelst einer Säge zu enthaupten. Mag man aber von dem Einflüsse der katholischen Priester denken, wie man will, immerhin ist es höchst traurig, die reißen¬ den Fortschritte zu sehen, die der Indifferentismus und die Irreligio¬ sität unter dem Volke machen; traurig, daß, um den Aberglauben zu vertilgen, aller Glaube ausgerottet wird! EinBesuchineiner Irrenanstalt Von all den zahlreichen Uebeln, welche die arme Menschheit quälen, ist unstreitig die Tollheit die grausamste. Der Blinde, der Taube, der Stumme haben sicherlich auch gerechte Ansprüche an unser Mitleid; aber immer erkennt man in ihnen noch das Meisterwerk der Schöpfung wieder. Zudem scheint der allgütige Schöpfer diejenigen seiner Kinder, denen er einen Sinn geraubt, eine Entschädigung durch die größere Feinheit und höhere Potenzirung der ihnen verbliebenen dargeboten zu haben. Aber der Irre, der Blödsinnige, waS soll diese Unglücklichen für den Verlust ihres Verstandes, für, ihre Thier- werdung entschädigen? Dergleichen traurige Gedanken bildeten letzthin den Stoff eines Gesprächs zwischen Meyerbeer, Liszt, Geraldy, einem der berühmte¬ sten Concertsänger und Gesanglehrer, der abwechselnd in Paris und Brüssel lebt) und dem Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege nach der Salpetriere (einer pariser Anstalt für weibliche Irre) die wir gemeinschaftlich besuchen wollten, besonders in der Absicht, uns über den Einfluß der Musik auf die Behandlung der Irren zu belehren. Was wir Alle bei diesem Besuche empfunden, das hier zu be¬ schreiben halte ich für eine heilige Pflicht, um dadurch einer Me¬ thode möglichst größte Verbreitung zu verschaffen, die ganz auf lie¬ bevoller Sanftmuth beruhend, den glücklichen Erfolg gehabt hat, daß Wesen, in denen nur noch das rein thierische Lebensprinzip zu walten schien, Etwas von ihrer früheren Intelligenz zurückbekom¬ men haben und daß Seelen, die für todt, für erstorben, für abge¬ schieden gelten konnten, wieder erweckt wurden. Eine Schwester Pförtnerin öffnete uns und führte uns zu Herrn Trelat, dem dirigirenden Arzte der Anstalt, der seinen täglichen Mor- gen-Rundgang schon begonnen hatte. Unser Weg führte uns durch eine Reihe Schlafsäle, die durch außerordentliche Sauberkeit einen angenehmen Eindruck machten, nach dem im ersten Stockwerk gelege¬ nen Arbeitssaal. Wie? höre ich hier ausrufen, eine organisirte Ar¬ beit im Irrenhause! Ist das möglich? Und durch welche Mittel hat man so ein wunderbares Resultat erlangt? Die Sache aber ver¬ hält sich in aller Wahrheit so und ist durch den Einfluß der Mu¬ sik erlangt worden. Die Irren in der Salpvtriore arbeiten wirk¬ lich und die Arbeit macht nicht nur ihre Geistesabwesenheit, ihre VerstandcSverirrungcn, ja sogar ihre Wuthanfälle seltener, sondern sie weckt und entwickelt auch Gefühle höherer Gattung in ihnen und besonders einen regen Wetteifer. Freilich ist es bis jetzt noch nicht möglich gewesen, alle Bewohnerinnen jener Anstalt zur Arbeit zu bewegen. Noch gar viele von ihnen sind entweder, weil wü¬ thend, unter fortwährender Zwangesüberwachung oder befinden sich in einem völlig verstandlosen Zustande, so daß sie, unbeseelte Körper, müßig in den weiten Höfen umherirren. Und da scheinen selbst die Vogel es zu erkennen, daß ihnen die Intelligenz fehlt; denn sie picken ihr Futter vor den Füßen dieser Unglücklichen auf und flattern um sie herum, ohne sich durch ihr Geschrei oder ihre plötzlichen Be¬ wegungen verscheuchen zu lassen. Doch kehren wir in den Arbeitssaal zurück, in den uns Doctor Trvlat eingeführt hatte: es ward darin freilich keine Beschäftigung getrieben, die einen Aufwand geistiger Kräfte verlangt hätte, sondern es war nur eine Fabrik von Filzschuhen, die unter der Leitung ei¬ ner Wahnsinnigen stand. Diese Werkmcisterin benimmt sich, seit¬ dem sie zur Arbeit angehalten worden, so gut, daß sie schon die Erlaubniß erhalten hat, in der Stadt auszugehen, und es steht zu hoffen, daß ihr bald die Rückkehr in ihre Familie wird gestattet werden können. Mehrere ihrer Schülerinnen kamen um die Wette zu uns, um uns ihre Arbeiten zu zeigen, und waren über das Lob, das wir ihnen ertheilten, außerordentlich erfreut. Eine unter ihnen, die zur Belohnung für ihr weises Benehmen (arme junge Irre!) letzthin nach Vicötre, einem andern Pariser Irrenhaus geführt wor¬ den war, um daselbst einer von den dortigen Irren veranstalteten theatralischen Aufführung beizuwohnen, konnte uns gar nicht genug von dem Vergnügen erzählen, das ihr diese Vorstellung verursacht hatte, und sie endete damit, sie würde sich gewiß fortan noch ver¬ nünftiger benehmen und noch fleißiger arbeiten, um bald wieder einer solchen Belohnung theilhaftig zu werden. So geringe geistige Kräfte auch bei dieser Arbeit in Anwen¬ dung kommen, so wird doch Jedermann eingestehen, daß es schon ein bedeutender Fortschritt ist, Irre überhaupt zur Arbeit zu brin¬ gen. Das berücksichtigten wir auch, als wir in einen zweiten Ar- beitssaal traten, wo auf zwei an beiden Seiten eines langen Tisches stehenden Bäiikcu etwa fünfzig Frauen des verschiedensten Alters mit Charpiezupfen sich beschäftigten. ES ist dies freilich nur die niedrigste Staffel der Intelligenz und die Arbeit besteht nur in ei¬ ner rein mechanischen. Bewegung der Hände, aber selbst diese mensa^ mische Bewegung hat den Vortheil, daß sie die Irren auch geistig beschäftigt und sie zum ruhigen Verweilen an einem Platze bestimmt. Uebrigens hat diese Arbeit, so geringen Gewinnst sie auch abwirft, doch wie eine jede andere, auch noch ihre Belohnung im Gefolge. Die Arbeiterinnen schätzen zwar das Geld an und für sich durchaus nicht; aber die kleinen leckeren Näschereien, die man ihnen für einen Theil des in einer Woche Erarbeiteten zu kaufen erlaubt, sind ihnen gar sehr willkommen. Zudem ist dieser große Saal, der sonst einer verpesteten Kloake glich und noch vor nicht gar zu langer Zeit ein Sammelplatz allen Schmutzes war, jetzt in allen seinen Theilen reinlich und sauber, und hat einen schönen Schmuck in einigen Tischen voll glänzenden zinnernen Geschirres, einem Lurus, der erst der neuesten Zeit ange¬ hört. Noch vor wenigen Jahren aß diese ganze Abtheilung Irrer aus ein und demselben hölzernen Napfe, oder richtiger gesagt, Trog, aus dem eine jede dieser Unglücklichen ihre Speiseportion mit der Hand herausrasstc! Diese unsauberen Gcschörfe sind nun wenigstens in diesem Punkte der Menschheit wieder väher gebracht worden. Und verdient wohl Jemand größeres Lob, alZ das edle Herz, dessen Sorgfalt und unablässige Bemühung eine so erhebliche Veränderung 32 bewerkstelligt und die armen gesunkenen Wesen aus ihrer unwill¬ kürlichen Ermednaung um Etwas herausgehoben hat! Im Hintergrunde dieses zugleich zum Speisezimmer dienenden Arbeitssaales, erhebt sich ein hohes hölzernes Geländer; hinter die¬ sem befindet sich die erste Classe der Gesangschule. Etwa hundert Irre kamen daselbst zusammen; unter ihnen befand sich der ganze Arbeitssaal der Filzschuhfabrik. Es gab da Tolle, die fast wieder zur Vernunft gebracht waren; eS gab aber auch andere aus der Elasse der Unheilbaren. Eine von ihnen, die unter die Gattung derer gehörte, welche in ihren wahnsinnigen Augenblicken Alles zer¬ reißen, was ihnen in die Hände fällt, war gerade in der Mitte des UnterrichtSlocales an einen Pfahl gebunden. Ihr Wahnsinn hat außer jener Zerstörungslust nichts Gefährliches, aber sie vergißt sich zu Berirrnngen, welche die Feder nicht beschreiben darf. Dem Musikunterricht in der Salpetriere widmet ein junger Gesanglehrer unentgeldlich einen Theil seiner Zeit. Als die Musik ein Element in der Behandlung der Irren werden sollte, hatte I),-. Trolat sich zu diesem Zwecke den durch die Composition Beranger- scher Chansons berühmten Bocquillon Wilden zugesellt. Dieser aber war zu zart und empfindsam, um diese gern übernommene Auf¬ gabe aus die Länge durchzuführen. Seinem Schüler Herrn Drey- fuß, der es an gutem Willen ihm gleich that, hat die Natur zugleich auch stärkere Nerven verliehen. Auf das erste Zeichen, das er gab, begannen die elementaren Uebungen, wie sie in den Gesangschulen, die auf dem Systeme des wechselseitigen Unterrichts beruhen, Statt finden; dann wurde» Kir¬ chengesänge mit Begleitung der Orgel ausgeführt. Dabei sangen denn alle Zöglinge, die Unheilbaren mit eingeschlossen, mit vollstän¬ diger Beobachtung aller Gesetze der Rhythmik und Harmonie. Wäh¬ rend dieser ganzen ersten Sitzung, die ungefähr eine Stunde dauerte, bemerkten wir, trotz der strengsten Beobachtung, — und das ist der wesentlichste Punkt — auch nicht eine Bewegung des Wahn-- sinus, auch nicht ein Zeichen der Tollheit; ja nicht einmal daS ge¬ ringste Merkmal auch nur der Ungeduld nahmen wir wahr. Am Schluß des letzten Ensemble-Stückes bat Dr. Trolat eine seiner Kranken, sie möchte uns doch eine Romanze singen und diese ge¬ horchte ihm ohne alles Zaudern. Wird man uns daS Folgende glauben wollen? Und doch ist es vollkommen wahr. Meyerbeer versicherte uns, die Töne dieser Wahnsinnigen, die ihr wie Perlen entfielen, erinnerten ihn an die berühmte Persiani. Dabei hatte diese Irre sich bisher hartnäckig geweigert, die Noten zu lernen und sich dadurch schon mehr als einen sanften Verweis des dirigirenden Arztes, wie des Gesanglehrers, zugezogen. Darauf setzte sich Liszt an'ö Pianoforte, um Geraldy zu beglei¬ ten, der für seine Zuhörerschaft von Irren eben so trefflich sang, wie er es im glänzendsten Pariser Salon zu thun gewohnt ist. Un¬ möglich vermag ich den Eindruck zu beschreiben, den eine erste tra¬ gische Romanze hervorbrachte; auf allen Gesichtern konnte man eine tiefe, gewaltige Rührung lesen, als der gefühlvolle Sänger seine' starken, schmerzerfüllter Töne hinwarf. Nach diesen sang Geraldy das Lied des Wundcrdoctors aus dem „Liebeötrank"; auch hier ward von allen Zuhörern sowohl der Sinn der Tertworte, als auch der alle seine Nuancen wiedergebende Gesang eben so richtig aufgefaßt, als eS der Sänger selbst gethan hatte. Der Tert lautet unter An¬ derem wie folgt: „Ich heile,, singt der Charlatan: „Des Fiebers wilde Gluth, Wie auch gcbroch'ne Herzen, Des Wahnsinns grause Wuth Und selbst, und selbst Zahnschmerzen." Das Volkssprichwort sagt, man solle im Hause deö Gehängten nicht vom Galgen sprechen. Aus diesem Grunde zitterten wir auch im Voraus, als Geraldy diese Arie begann, da wir wußten, daß in der Litanei von Krankheiten, die er herzählt, auch der Wahnsinn vorkomme. Aber der Sänger wiederholte sogar das gefährliche Wort mehrere Male und die armen Kranken lachten ... Darf ich es wa¬ gen, zu schreiben, wie toll?---- Der Blödsinnige lebt gleich dem Thiere nur durch instinktartige, von seinem freien Willen unabhängige, innere Antriebe. Nun mache Man selbst einen Schluß auf den Einfluß der Musik, in Bezug auf die Behandlung der Geisteskranken, aus der Thatsache, daß eine Blödsinnige an'dem Gesangunterncht, und der Ausführung der grö¬ ßeren Ensemblestücke einen eben so eifrigen und regen Antheil nimmt, wie die übrigen mehr oder minder wüthenden Irren und die Un¬ heilbaren. Wir haben vorhin einer Irren erwähnt, die aus Gründen an einen Pfahl befestigt war. Diese Unglückliche hielt ihr Gesangbuch in den Händen und schien, ehe der Unterricht begann, gegen Alles, was um sie her vorging, stumpf und gleichgültig. Aber bei den ersten Tönen, die auf der Orgel angeschlagen wurden, schienen ihre geistigen Kräfte gleichsam aus dein Schlummer zu erwachen; sie sang mit der ganzen Classe mit; es war dies aber für ihre außerordent¬ lich reizbare Empfindsamkeit zu wenig. Nach Beendigung der Chor- gcsnnge nahm sie allein den musikalischen Gedanken des letzten wie¬ der auf und sang ihn vor sich hin mit leiser Stimme, so daß wir, die in ihrer Nähe standen und sie mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten, es hören konnten. Darauf küßte sie ihr Buch, als ei¬ nen. Quell der Harmonie und der Melodien, und begann von Neuem, aber noch leiser, nur wie ein fernes, schwaches Echo, ihren Gesang. Als dann Geraldy mit seiner sanften und doch so schmetternden Stimme sang, sog sie förmlich mit allen Poren die Tone ein. Als die komische Arie des Wunderdoctors aus'dem Liebestrank zu Ende war, äußerte Meyerbeer, der vor dieser plötzlich mit Leben beseelten Statue bewundernd dastand, daß, wenn es ihm möglich wäre, seine Kunst noch mehr zu lieben, er es thun würde, da er gesehen, wie die Musik die schrecklichste aller menschlichen Leiden in so hohem Grade zu mildern im Stande sei. Während dieser Worte drangen plötzlich schwache Töne, aber ganz richtig gesungen, in unser Ohr ; es war die an den Pfahl befestigte Irre, die den komischen Refrain aus dem Liede des Wunderdoctors: „Des Wahnsinns grause Wuth Und selbst, und selbst — Zahnschmerzen." so Worte, wie Melodie, in derselben Tonart, in demselben Zeit¬ maß wie Geraldy sang. An ihren Pfahl festgebunden und zu starrer Unbeweglichkeit gezwungen, erinnerte sie an die harmonische Memnonssäule, die ja bekanntlich, wenn sie der erste Morgensonnen- strahl trifft, einen verschwimmend melodischen Ton von sich giebt Die Bewohner des Orients halten einen Irren für ein geheilig¬ tes Wesen und glauben, seine Nähe sei Glück und Heil bringend. Diesem Vorurtheck verdanke-? es die Wahnsinnigen jener Gegenden, daß man sie nicht aus dem Schooß der Gesellschaft verbannt, noch sie durch eine schlechte Behandlung quält und ärgert, sondern sie im Gegentheil mit zuvorkommender Sorgfalt überall aufnimmt. Sie streifen daher frei und ungehindert durch die Städte, und die Thüren aller Häuser stehen ihnen offen. So erhaben auch die gutmüthige und gefühlvolle Grundlage dieses Aberglaubens -der Morgenländer ist, so ist ihr Verfahren doch eine Unklugheit in gesellschaftlicher Be¬ ziehung und hat sehr oft bedeutende Nachtheile für das Gemein¬ wohl. Bei uns nun, wo die auf die Beobachtung fußende Wissen¬ schaft Schritt vor Schritt vorwärts gekommen ist, müßte man sich dazu entschließen, diese traurige Abtheilung der großen Familie der Menschheit so viel als möglich von den Uebrigen abzusperren. Ist es zudem wahr, wie neuerdings immer zahlreichere Thatsachen es zu erweisen scheinen, daß der Wahnsinn ein erbliches Uebel ist, so können wir nicht umhin, unsre, wenn auch nur schwache Stimme gegen die Meinung derjenigen Aerzte zu erheben, welche für andre Länder Europas die Errichtung einer Irre ncolo nie vorschlagen, wie sie seit dem sechsten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung in Gheel in Belgien besteht, wo die Kranken in vollkommner Gemeinschaft mit den andern Einwohnern leben und an ihren Arbeiten, wie an ihren Vergnügungen Theil nehmen. Ueber kurz oder lang werden wohl in diesem Punkte Wissen¬ schaft und Gesetzgebung mit einander übereinstimmen und wird die letztere das Eingehen rechtskräftiger Ehen mit Personen, die mit dieser unglücklichen Krankheit behaftet sind, nicht gestatten. Wir können uns übrigens hier einer auf Thatsachen begründeten Bemerkung nicht enthalten, daß nämlich die Fälle des erblichen Wahnsinnes bei den Reichen und Adligen häufiger vorkommen, als in den mittleren Classen der Gesellschaft. Der Wunsch, große Vermögensinassen unzerstückelt beisammen zu halten, aristokratische Eitelkeit, deren ein¬ zige Sorge dahin geht, den Glanz eines alten Wappens nicht durch eine Mesalliance zu beflecken, oft sogar diese beiden Gefühle in einem und demselben Falle vereint, erlangen das Uebergewicht über alle Rücksichten der Gesundheit und des häuslichen Glückes. Reiche ver¬ mählen sich mit ihren reichen Verwandten, Adlige verknüpfen die verschiedenen Aeste thres Stammbaumes mit einander. Und in Folge dieser nur von Geld- und Hochmuths-Rückstchten herbeige- führten Heimchen pflanzen sich so viele erbliche Uebel, zu denen eben auch der Wahnsinn gehört, fort. In Bezug auf die nun einmal nothwendig gewordene Absper¬ rung dieser Unglücklichen, — eine Nothwendigkeit, vie stets be¬ stehend bleibt, — ist es gegenüber einer so grausamen Gegenwart und einer nicht minder schmerzlichen Zukunft ein Trost, zu wissen, daß gewisse geistige Genüsse, besonders aber die Arbeit, nach und nach in die Irrenhäuser Eingang finden können. Denn die Arbeit gewährt diesen Köpfen, die auf ihre Art entsetzlich thätig sind, eine gewisse Ruhe und diese Körper, die bald in ihren wüthenden, tollen Bewegungen reglos sich zermartern, oder, wie zerbrochene Maschinen ohne treibende Kraft, starr und unbeweglich bleiben, finden in einer anhaltenden Beschäftigung ihre Gesundheit wieder. Und dieses Re¬ sultat wird wenigstens größten Theils der Musik verdankt, die eS zwar nicht allein herbeiführt, aber doch seine Erreichung in hohem Grade erleichtert. Die Anwendung der Musik in Irrenhäusern ist übrigens nichts Neues; Pinel, Esquirol, Pariset und andre berühmte Lehrer der Seelenkrankheiten haben die Macht dieser Kunst erkannt und in den von ihnen geleiteten Anstalten sie gebraucht. Die eigentliche Er¬ oberung der neuesten Zeit in dieser Beziehung ist, daß man die Kranken, noch während sie in der Behandlung sind, zur Arbeit be¬ wogen und dazu die Musik als Reizmittel angewandthat. Außerdem hat die Musik auch einen unmittelbaren, unbestreitbaren, leicht nach¬ zuweisenden Einfluß auf das Erwachen der geistigen Kräfte. Und wenn es wahr ist, wie man uns versichert hat, daß nach jenen Unterrichtsstunden, in denen sich die Macht der Harmonie durch die vollkommne Ruhe der Gemüther und die Entwickelung eines rührend kindlichen Wetteifers kund giebt, keine unangenehme Reaction ein¬ tritt, muß man alsdann nicht ein Mittel ermuthigen, dessen fast zauberische Wirkung täglich den unglücklichen Wesen, die zu unauf¬ hörlichen Schmerzen verdammt scheinen, zwei bis drei Stunden des Leidens auf unschädlichen Wege benimmt? Wir haben, seitdem wir diesen Besuch in der Salpetriere ab¬ gestattet, sonst sehr ernste und bedächtig urtheilende Männer zu unsrem Erstaunen sich tadelnd darüber aussprechen hören, daß man in neuester Zeit eine so außerordentliche Sorgfalt auf die BeHand- lung der Irren verwende. „Wäre es nicht besser," äußerte sich unter Andern ein bedeutender Arzt gegen »»ich, „den aufopfernden Fleiß der Aerzte und das Geld des Landes für andre Krankheiten zu verwenden, deren Geheimnisse die Wissenschaft kennt, und die zu be¬ siegen sie mehr Aussicht hat?" — Aber fragen wir dagegen, sollen wir, weil Gott in seiner weisen und gerechten Strenge und aus uns unbegreiflichen Ursachen einen Theil der menschlichen Familie hart behandelt hat, deshalb grausam gegen ihn sein? Nein, sagen wir und erklären uns in aller Demuth unmaßgeblich dahin, daß jedes Mittel, wodurch diese Unglücklichen eine Rast in ihren Leiden erlangen, sei es auch nur eine zweistündige jeden Tag, uns eine Eroberung zum Heil der Menschheit dünkt, daß also alle dadurch veranlaßten Ausgaben, selbst der Ankauf eines Pianoforte und die monatliche Bezahlung eines Klavierstimmers uns keinesweges eine Verschwendung scheinen. So lange wir in Europa nicht so inhuman werden, daß wir mit Lykurg und den chinesischen Gesetzgebern, alle dem Staate unnützen Wesen zum Tode verurtheilen, so lange werden Irrenanstalten auf Kosten der Gesammtheit eine Nothwen¬ digkeit und Erleichterung des traurigen Looses dieser Unglücklichen eine heilige Pflicht sein. Doch ist eS Zeit, daß wir in den Nahmen unsres Artikels zu¬ rückkehren, über den hinaus uns das Interesse des Gegenstandes unwillkürlich fortgerissen hat. Mögen also unsre Leser gütigst mit uns und den berühmten Künstlern, denen wir uns angeschlossen, in eine zweite Classe der Deklamation und des Gesanges eintreten, die ebenfalls in der Anstalt des Dr. TrÄat besteht. Hier hat man wahrhaft erstaunliche Resultate erhalten. Die Deklamationen prosaischer und poetischer Stücke zeigen von einer größeren Ruhe der Geister, von einer Folgerichtigkeit der Ideen, die man bei Irren kaum für möglich halten möchte. Wir hörten hier nach einander mehrere sehr gut und in vollkommenster Ordnung vor^ getragene zweistimmige Romanzen und Notturni. Bet den Schüle¬ rinnen dieser Classe war der Wetteifer dermaßen entwickelt", daß einzelne von ihnen, begierig vor dem fremden Besuche alle ihre besten Leistungen an den Tag zu legen, dem Lehrer auf einem zusammen-, gelegten Streifen Papier den Titel der Declamations- oder Gesang, Stücke zukommen ließen, die sie am besten inne hatten, oder mit denen sie am meisten Ehre einzulegen, ihre Stimme im vollsten Glanz zu zeigen hofften. So recitirte eine schöne, junge Dame mit einem rührenden Ausdruck tiefen Gefühls Lamartine's „Gebet eines See¬ mannes." So sagte eine andre junge Person, deren Wiederherstel¬ lung so weit vorgeschritten ist, daß sie bald wieder ihren früheren Platz in der Gesellschaft, als ausgezeichnete Lehrerin, wird einneh¬ men können, eine Scene aus einem kleinen Lustspiel mit unendlich vielem Witze her. So bezeugten mehrere andere Damen, durch die Recitation einiger Lafontaine'schen Fabeln das vollständige Verständniß des Inhalts ihrer Seits und berechtigten zur Hoffnung einer baldigen Rückkehr zur Vernunft. . Ein von allen Anwesenden gesungenes Ensemblestück machte den Uebergang zum musikalischen Theil der Stunde. Nach demsel¬ ben sang ein junger Poltergeist (deren eS leider selbst unter den vernünftigsten Bewohnerinnen der Anstalt giebt) eine Romanze aus einer komischen Oper mit so viel gemüthlicher Laune und so genau dazu passendem -Rienenspiel, daß es einer Theatersängerin keine Schande gemacht hätte. Hierauf sangen zwei Damen, die eine ein Sopran mit sehr richtigem Treffen der Noten, die andere ein aus¬ gezeichneter Contrealt, ein Notturno, betitelt: „Der Genfer See" auf eine Weise, daß ihnen im schönsten Conzert allgemeiner Beifall nicht entgangen wäre. Nachdem noch mehrere Stücke ausgeführt wurden, welche alle eine Probe anhaltenden Studirens, wieder auf¬ gewachter Geisteskraft und wenigstens großen Theils zurückeroberten Verstandes abgaben, wurden seine Schülerinnen reichlich belohnt. Geraldv nämlich sang ihnen Romanzen und Bravourarien mit jenem seelenvollen Gefühlsausdruck, der ihm eigen ist. Er erntete dafür die wärmsten Beifallsbezeugungen seiner sämmtlichen Zuhörer. So¬ dann setzte sich Liszt an'S Pianoforte und spielte das Finale aus der Ouvertüre zu „Wilhelm Tell." Als er an das Crescendo kam, das stets, selbst auf die blastrtesten Zuhörer der großen Oper, einen gewaltigen Eindruck zu machen nicht verfehlt, gab sich von Seiten der reizbareren Organisationen eine so diese, aus dem Innersten her¬ vorbringende Empfindsamkeit kund, daß wir einen Augenblick be¬ fürchteten, dieses Delirium des Glückes werde im wirklichen Wahn¬ sinn übergehen. Gott sei Dank aber war dies nicht der Fall. Kaum hatte der große Künstler sein Spiel beendet, so kam den Besuchern ein in aller Eile geschriebenes Billet zu. Wir theilen es, als den passendsten Schluß dieses Artikels, in wörtlicher Ueber¬ setzung unsern Lesern mit; es lautet: „Wir bedauern nicht mehr, krank gewesen zu sein; denn ohne dieses Unglück würden die meisten von uns kaum je das Glück gehabt haben, die Herren Meyerbeer, Liszt und Geraldy zu sehen und zu hören."-- T a g e b u eh. von Fr. von Sattel. Laiencvangelium, Schon der Name dieses Buches erinnert an dasjLaienbevier von L. Sche¬ fer. Das Evangelium wie das Brevier enthalten didaktische Gedichte, in denen die Verfasser ihre Philosophie, eine eigene Betrachtung der Welt und des menschlichen Lebens, ausgesprochen haben. Schefer jedoch ist poetischer, origi¬ neller; aber er ist auch reicher und mehr im Kleinen verloren; seine Dich> tungen sind nicht selten spielend, coquettirend mit Lieblingsgefühlen, und des¬ wegen unangenehm. Dann aber ist Schefer wieder erhaben in Anschauungen und Gedanken, rasch, kühn und glücklich in Bildern; v. Sattel hingegen ist mehr Denker, kalt, klar und strenge, immer in gleicher Linie der Reflexion fortschreitend; er ist mehr Lehrer als Dichter; trockener, allein auch männli¬ cher als der Verfasser des Breviers, giebt er nicht, wie dieser, jedem Reiz der Einbildungskraft, jeder Lockspeise der Anschauung nach; und dazu kommt noch das Verdienst, daß er nicht in reimlosen Zeilen sich ergeht, von denen ein Dichter sagt: Und fliehe wie den Tod die ungereimten Jamben! Aber diese überdachten, gleichmäßigen Dichtungen werden eintönig und ermü¬ dend, nicht allein wegen der vielen Wiederholung der Hauptidcm, sondern sobald man sie, freilich gegen das Recept, in zu großer Dosis nimmt. Man soll, wie in ein Salzfaß, nur von Zeit zu Zeit mit kleinen Löffeln hinein^ tauchen. Das Laicnevangelium bringt eine Reihe von Gedichten, über alle mögli¬ chen Stellen der Evangelien, die nur irgend einen Anlaß zu poetisch-contem- plativer Behandlung hergeben. Man muß die Ausdauer des Verfassers bewun¬ dern, daß er, statt frei seiner Inspiration sich zu vertrauen, das System seiner Gedanken, denn so können wir es wohl nennen, immer an einen Text, an ein Factum, eine Lehre seines Landes anknüpfte. Gemähre von den Ideen einer angesehenen Philosophenschulc, hat er sich die Aufgabe gestellt, diese Ideen und die tausendfache Anwendung derselben in der sittlichen Welt, den Bibel¬ stellen aufzuprägen, welche seinen Lehrgcsängen zu Grunde liegen. Wir unter¬ suchen hier nicht die Wahrheit seiner Grundsätze, und die Richtigkeit, der Aus¬ legung seiner Texte; der Leser wird nicht lange suchen müssen, um auf die Lehren zu stoßen, welche in der jüngsten Zeit die theologische und philoso¬ phische Welt aufgeregt haben. Wir, die wir uns zu jenen Ansichten nicht bekennen, fassen hier das Buch von Sattel nur als Kunstwerk auf. In seiner Aufgabe lag offenbar die freieste, ideellste Behandlung der Schrift; und diese ist ihm in, manchen Stücken allerdings gelungen. Nur will uns ti Doppelnatur des Buchs nicht behagen, das bald in den Ton einer Predigt, bald, mit gedämpften Saiten, in den der Poesie einschlägt. Der Verfasser ist von der Dogmatik, von dem naiven Glauben zu weit abgewandt, um im Herderschcn Legendentone zu uns zu reden; er ist zu sehr Philosoph, um mit Glück den Prediger zu spielen; und doch macht er zu gewissenhaft den Meister und Interpreten, um Sänger und singender Weiser zu sein. Wenn wir die Masse an Gedanken, an poetischen Keimen und Trieben, die im Werke ver¬ streut sind, überschlagen, so können wir den Wunsch nicht zurückhalten, daß diese Kräfte, diese Stosse völlig entbunden wäre, daß der Dichter eine erhabene, eine kühnere Form gewählt hätte, daß er hie und da, um der Sammlung mehr Schwung und Gluth zu verleihen, sich eben so sehr dem Hymncndichter genähert haben möchte, wie er jetzt meistentheils dem Schulmeister in's Ge¬ werbe greift. Ein kalter Stoff, wie solche Lchrbetrachtungen sind, und es soll das durchaus kein Borwurs sein, kann nur durch eine höhere Conception be¬ feuert und zur Schönheit gebracht werden. Wir verlangen hier nichts Unmög¬ liches. In der „Weisheit des Brahmanen" z. B. ist unsere Forderung an mehr als Einer Stelle erfüllt. > Was Herr v. Sattel in seinem Evangelium geleistet, bezeichnen wir mit Einem Worte vollständig: eine Vergeistigung der Evangelien, nach den Ideen der Schule, der er angehört. Der Geist ist das Panier, zu dem er geschworen; in ihm geht ihm die Menschheit aus; von Natur ist überhaupt wenig die Rede. Es findet sich kaum ein Stück, wo er nicht auf das Urpri»- cip seines Systems zurückkommt, und es ist interessant, dasselbe durch das Wuch hin zu verfolgen. Für unsern Dichter ist der „Geist" nicht blos ein unverstandenes Zauberwort geblieben, eine absolute Formel, die alle Fragen beschwichtigt, ein Veus ex mavluns,, der überall, wo es Noth thut, in der Geschichte, in der Kunst und Politik, ohne Weiteres einfallen muß, ein despo¬ tisches K tont, womit jeder Stich eingezogen wird; sondern hier ist der Geist, der bei Vielen mehr Chaos als Gott ist, wirklich in Entwicklung gesetzt, er erscheint hier in tausend Metamorphosen des Denkens, thätig, bestimmt, als lebendige, unendlich anwendbare Wahrheit. Folgen wir dem Dichter eine Zeitlang auf seinem Wege durch das Reich des Geistes. Die Erkenntniß ist der Ausgangspunkt der Geschichte, sie geht über des ersten Menschen Paradies: „Doch ich, bei Gott! nicht möcht' ich mit ihm tauschen, Noch heut' würd' ich die Frucht zu brechen wagen. Nicht mag ich Edens Klang halb schlummernd lauschen, Und mich in dumpfer Unschuld wohl behagen.", Durch den Akt der Erkenntniß tritt der Mensch in „freier Geister Orden"; der Geist ist Freiheit und That, der die Welt überwindet, indem er sie neu gestaltet; Thätigkeit ist Heil und Besitz. „Und was wir selbst errangen, sei uns Wahrheit," nicht das Ueberlieferte, Todte. Erneuernd und höherbildcnd schreitet der Geist durch die Geschichte; die Vergangenheit ist die Unterlage, worauf das Gebäude der reinern, geistgeschaffcnen Welt emporsteigt: „Der Bau wird auf bis zu den Sternen streben. Immer den Stoff vergeistigend nach oben, Bis letzte Thürme, lichtdurchbrochen, schweben, Gedanken, in das co'ge Blau gewoben.". In diesem Beruf kann ihm nichts widerstehen: „Hin geht der Geist, erfüllend seine Zeiten, Trotz Ketten und Schaffst, trotz Dolch und Gifte." Aber der Krieg, der dem Gedanken gilt, ist „ein schlimm'res Morden" als das Blutbad zu Bethlehem: „Die Herrn der Welt, manierlicher geworden, Sie tödten keine Kinder, blos Gedanken. Da blitzt kein Stahl. Mit leichtem Fedcrschwenkcn Wird Geistcstodtschlag säuberlich vollzogen. Nur dies und das dürft ihr nicht lerne» denken — Sonst bleibt man euch ja väterlichst gewogen." Nur der Geist hat rechten Werth, und Alles durch ihn: „Des Mensche» echte Kost ist Gottes Wort, Weißt du nach Brot, nach Futter nur zu streben — Schau, wie gemüthlich liegt der Ochse dort Im Gras und kaut. Geh, lege dich daneben-" Man sieht, des Dichters Seele ist ganz transparent vom Geist; alle andere Realität ist nur trüber Schein und gemeines Futter gegen den Glanz der Wahrheit. Wäre der Verfasser nicht so klar und spekulativ, wir würden sa¬ ge», er sei des Geistes trunken. Wir räumen gern ein, daß seine abstracto Weltanschauung, auf dem Gebiete, wo er uns heute begegnet, manches poeti¬ sche Samenkorn ausgehen lassen könne, weil seine Didaktik kein Formeln von Sprüchen, sondern ein eigentliches Producircn von Gedanken ist. Doch kön¬ nen wir im Ganzen das Urtheil nicht zurückhalten, daß wir dem Geiste mehr vertrauen würden, wenn er nicht so viel von sich selber redete. Th. Seht. Heinrich Merz. Dr. Heinrich Merz, einer der kräftigste» und geistvollsten Schriftsteller, welche in letzterer Zeit aufgetaucht sind, ist von Cotta für das Kunstblatt ge¬ wonnen worden. Ob er als wirklicher Redakteur dieses Blatt, welches jetzt ohne Nennung eines solchen erscheint, —die Herrn Kugler und Förster sind nur als Mitwirkende genannt — unterzeichnen wird, wissen wir noch nicht anzu¬ geben. Jedenfalls wird er von nun an in Stuttgart wohnen, wo er nach einer im geistigen Interesse des erwähnten Blattes zurückgelegten Reise nach London und Paris vor einigen Wochen angekommen ist. Wir machen unsere Leser auf eine Reihe von Briefen über die Münchener Kunst und Künstler aufmerksam, welche die Grenzboten aus der Feder dieses scharfsin¬ nigen Psychologen und Kunstkritikers in ihren nächsten Nummern bringen werden, und welche Vieles muthig aussprechen, womit man bisher hinter dem Berge gehalten hat. Hr. Merz ist Schwabe, Protestant und Theologe; dies muß man wissen, um die Individualität dieses Schriftstellers gehörig zu verstehen. Wilde Blumen von Joseph Mendelssohn. Viel Dilettantismus, wenig Eigenthümlichkeit, aber manches hübsche sang¬ bare Lied. Letzteres ist kein geringes Lob in unserer didaktischen Zeit, welche die Liedercomponistcn zur Verzweiflung bringen könnte. In dieser Gedicht¬ sammlung finden diese Herren manchen dankbaren Stoss in leichter Versisication mit nicht allzuschweren Gedankenballast, gerade wie sie es brauchen können. .'»ZttmZüins)»i!iA»,.7«-p,,?un,,.'ZZ.'Il-si Noch einige Details über Rossini. Rossini, dessen Ruhm dem Meucrbcer's um so viele Jahre vorcmeilte, ist doch nur um zwei Jahre älter, als dieser. So frühzeitig reift das Genie in den südlichen Ländern. Bekanntlich ist Rossini der Sohn eines armen Teufels, der als Waldhornist bei einer wandernden Theatertruppc ganz Italien mit seiner Familie durchzog, im heißen Sommer, wie im kalten Winter baarfufi, armselig gekleidet und der in Dörfern, deren Namen man kaum kennt, mit jener erbärmlichen Truppe Opern aufführte. Mit einem solchen Vater zog der junge Rossini bis zu seinem zwölften Jahre herum, indem er die Secunde der Waldhornpartien vor rohen Bauern und wilden Hirten spielte. Seine geisti¬ gen Kräfte, die schon damals hervorragten, verschafften ihm die Aussicht, bei der Truppe als Cymbalschlägcr angestellt zu werden. Endlich ward er halb aus Mitleid in der Bologner Musikschule in die Contrapunct-Classe aufgenom¬ men; da aber machte er so reißende Fortschritte, daß er in seinem sechzehnten Jahre eine Cantate und zwei Jahre darauf seine erste Oper aufführen ließ. In seinem zwanzigsten Jahre, 1812, schrieb er in dem kurzen Zeitraum von eilf Monaten fünf große Opern für fünf verschiedene Theater Italiens. Im Jahre darauf begann sein Ruhm durch die Opern „Trancred" und „die Ita¬ liener in Algier" größer und ausgebreiteter zu werden. Von da an folgten seine Arbeiten mit unbegreiflicher Schnelle eine der andern. Im Jahre I82Z aber fühlte sich der Künstler durch den mittelmäßigen Erfolg, den seine „Se? miramis" in Venedig erhielt, verletzt; er verließ Italien, hielt sich in Paris nur kurze Zeit auf, und eilte nach London, wo er fünf Monate blieb. Dort verlor er seine Zeit nicht; denn der Ertrag für Concerte und Lectionen belief sich auf 250,000 Fras-, d. h. beinahe 1700 Fras. jeden Tag. Darauf kam er nach Paris zurück, übernahm daselbst die Direction der italienischen Oper, die sich damals in blühendem Zustande befand, die aber durch seine Unthätig- keit und Faulheit ihrem Untergange nahe gebracht ward, so daß man sich ge- nöthigt sah, ihn zum Rücktritt zu bewegen. Zum Ersatz ward ihm dafür die Stelle als General-Inspector des Gesanges in Frankreich und als Intendant der Musik des Königs, eine reine Sinccurc, die ihn zu Nichts weiter ver¬ pflichtete, als jährlich 20,000 Fras. einzucassiren. Durch die Julirevolution verlor er diese Stellung; seinem Contracte zufolge machte er Anspruch aus eine Pension und gewann den Proceß, den er deshalb mit der Commission führen mußte, welche die Schulden der Civilliste zu liquidiren hatte. Wäh¬ rend der Dauer dieses Processes hatte er sich in eine Dachkammer oberhalb des Bodens der Italienischen Oper zurückgezogen und behauptete, er sei ruinirt und müsse sich auf's Sparen legen, obgleich es weltbekannt war, daß er ein reicher Mann sei. Dort warteten oft die vornehmsten Personen, die sich eine schmutzige lciterähnliche Treppe zu ihm hcraufgctappt hatte», im Vorzimmer, bis es ihm gefällig war, sie vorzulassen. Nachdem er 1829 in einem Alter von 37 Jahren „Wilhelm Tell" geschrieben, warf er die Feder weg, mit dem Vorsatze, sie nie wieder zu ergreifen; er hielt seine Laufbahn für geschlossen. Seitdem lebt er in Italien, ohne eigentliche Beschäftigung, abwechselnd in Mailand und Bologna, in welcher letzteren Stadt er, (wie letzthin unser Brief aus Mailand berichtete,) sich mit der Leitung des Eonservatoriunis beschäftigt. Er ist dabei jedoch mißvergnügt mit der Welt und unzufrieden mit sich selbst und von Langeweile stets geplagt. Seinem Entschlüsse, Nichts mehr zu schreiben, oder eigentlich nur Nichts mehr zu veröffentlichen, ist er bekanntlich in neue¬ ster Zeit durch sein vielbesprochenes Stabat Mater untreu geworden. Die Anzahl seiner Oper» beläuft sich übrigens auf acht und vierzig^ Saphir und G u ez k o w. Saphir reißt den Richard Savage, der bekanntlich am Hoftheater zur Aufführung kam, in Stücke. Wir hätten gewünscht, daß er seinem Groll gegen Gutzkow bei einer andern Gelegenheit Lust gemacht hätte. Kein Mensch wird seinem Geiste es absprechen, daß wenn er dreinschlagen will, er auf die Gele¬ genheit nicht zu warten braucht. Die Zulassung! solcher Stücke wie Richard Savage, überhaupt die Zulassung so verpönter Namen, wie die Mitglieder des sogenannten jungen Deutschlands, an dem Hoftheater, ist ein politisches Ereigniß und darauf hätte Saphir Rücksicht nehmen sollen. Jede Censurcr- leichterung in Oesterreich ist eine Sache der Gesammtliteratur. Warum soll man die Direktion, die Ecnsurbchörde in dem Augenblick, wo sie den ersten Schritt zu einem freien Zugeständnis) macht, durch einen so schweren kritischen Hagel abschrecken? Saphir's Kritik, man mag dagegen sprechen, wie man" will, ist in Wien von Bedeutung und Nachklang. Durch ein Mißverstehen ihrer Stellung aber bezieht die Hofburgtheaterdirektion gewöhnlich einen Theil des Tadels, der ein von ihr angenommenes Stück trifft, auf sich. Warum also Waffen gegen sich selbst liefern? Warum die Veranlassung zu dem Aus¬ rufe bieten: „Seht, Ihr verlangt, daß wir ausländischen Schriftstellern, moder¬ nen Produktionen u. s. w. Rufnahme gestatten, nun haben wir Euch ein viel¬ besprochenes, gerühmtes Stück von dem meistbesprochenen, gerühmtcstcn und modernsten ausländischen Schriftsteller vorgeführt und nun brecht ihr ihm selbst den Stab?"— Wäre der Savage nirgends anderswo noch aufgeführt und beurtheilt worden, als in Wien, so würden wir es dem literarischen Gewisse» eines Kritikers nicht zumuthen, seine Meinung zurückzuhalten. Aber ein Drama, das hundert und wieder hundert Mal analysirt und besprochen wurde!—Wir sehen Saphir gerne in der Opposition, es fallen dann immer originelle Funken und Blitze. Aber diesmal hätte ihm Milde besser geziemt.— Ueberdies müssen wir zu Gunsten des Savage anführen, daß der schärfste und gelungenste Cha¬ rakter dieses Dramas, der Journalist Steele in Wien unbegreiflicher Weise einem Schauspieler zufiel, der ein ganz anderes Fach spielt. Herr Lucas ist ein hübscher, kräftiger, übrigens steifer Heldenspieler zweiten Ranges. Was sollte der mit dem Steele? mit einer Rolle, die Seidelmann und Döring zu ihren besten zählen? _ Victor Hugo's Palast. Victor Hugo hat einen Palast, der auf der Place royale sich befindet, an sich gekauft; es ist dies derselbe, den einst der berühmte Marion Dclorme bewohnte. _^ Französische Tondichter. Der älteste der jetzt lebenden französischen Tondichter ist Bertou. Er fei¬ erte vor vierzehn Tagen seine goldene Hochzeit. Die komische Ooer dankt die¬ sem Komponisten eine Reihe interessanter Opern. In den letzten Tagen hieß es, Meyerbeer werde nun doch eine seiner neuen „im Portefeuille" schlummern¬ den Opern an der Acad^mie Royale de Musiaue aufführen lassen. Zwar nicht den Prophet, dessen Zauüersprüche Meyerbeer in ein so großes Geheimniß hüllt, wohl aber die Afrikanerin, in welcher der Stolz die Hauptrolle spielen soll. Diese Oper soll sogleich nach der ersten Vorstellung von Halövy'ö Karl VI. einstudirt werden. - Briefe aus der böhmischen Hauptstadt. Das deutsche und das böhmische Prag. — Kaiserlich-Königlich. — Wolfgang Menzel., — Provinzialgcist. — Böhmen und Elsässer. — Böhmische Na- rionawühnc. — Anschluß an den Zollverein. — Der Herzog von Bor¬ deaux. — Die Winke der Geschichte. — Vielleicht findet der Leser die Aufschrift dieser Briefe etwas pretentiös und gesucht. Warum nicht Briefe aus Prag? höre ich fragen. Frei herausgesagt, weil Prag als deutsche, oder als öster¬ reichische Stadt, wenn man will, eine der monotonsten und trotz seiner Hundert und zwanzig Tausend Einwohner eine der leersten Städte ist, die in ihrer Stabilität wenig des Interessanten, Pulstrenden, geistig Anregenden bietet. Darum sind die meisten deutschen Rei¬ senden, die über Prag geschrieben, selten über seine steinerne und »aturhcrrliche Pracht hinausgekommen, sie haben von den Wundern des HradschinS und der Brücke, der Moldauinseln und des Wische- brads sich begeistern lassen, aber weiter hinaus reichte ihre Anschau¬ ung nicht; sie sahen und beschrieben das, was ein Reisender, der zwei, drei Tage in einer Stadt sich aufhält, eben zu Gesichte be¬ kommt. — Länger hier zu verweilen findet sich der Fremde nicht an¬ geregt, weil das Leben, die Gesellschaft ihm hier weit weniger An¬ ziehendes und Mannigfaltiges bietet, als viele andere deutsche Städte, deren Einwohnerzahl kleiner ist, wie München, Dresden, Leipzig, Cöln, Frankfurt a. M. u. s. w.z größerer, wie Wien, 33 Hamburg, Berlin, gar nicht zu gedenken. Ich wiederhole eS, als deutsche Stadt ist Prag von keinem hohem Interesse als jede andere Provinzialstadt. Aber als Hauptstadt Böhmens — da öffnet sich plötzlich eine ganz neue Perspektive, da schwillt dieser von der Natur und der Geschichte so reichgeschmückte Punkt zu einer Bedeutung an, wie sie der oberflächlich Reisende, der nicht vertraut mit der Landessprache ist, freilich nicht begreifen und entziffern kann. In diesem Aneinanderstoßen der slavischen und der deutschen Bewe¬ gung, in dieser Reibung zwischen dem nationalen Stamm und der fremden aufgepfropften Bildung, da liegt Leben, Kraft, Geist, Ge- schichte^ da rennen Aktion und Reaktion in so geharnischtem Kampf an einander und ringen und prallen ab, wie bei einem glänzenden Turnier, da ringt die Zukunft sich vom Boden der Vergangenheit auf und umklammert mit nervigen Armen den Leib der Gegenwart, um sich an ihm aufzuranken und ihn unter sich zu bringen. ES liegt etwas Prunkendes in der Benennung: „kaiserlich königliche Hauptstadt Prag" aber auch eine ganze Charakteristik dieser Stadt ist damit ausgesprochen. Diese Mischung des böhmisch-könig¬ lichen mit dem deutsch-kaiserlichen ist es, was Prag zu einer Haupt¬ stadt, d. h. zu einem Hauptpunkte so vieler denkwürdigen Bewegun¬ gen in Religion und Geschichte gemacht hat. Wenn unsere jungen böhmischen Schriftsteller von ihrem Nationalgefühl sich zu der Ueber¬ treibung verführen lassen, alle die segensreichen Wirkungen welche die deutsche Civilisation in Böhmen hervorgebracht, zu verkleinern/ so wollen wir das ihrem feurigen Patriotismus und dem Schwunge der jugendlichen Leidenschaft zu Gute halten. Ein ruhiger Beobach¬ ter wird es nicht abläugnen wollen, daß der Zusammenhang Böh¬ mens mit dein deutschen Reiche ein Hauptmotiv seiner Cultur und seines Glanzes wurde. Selbst Karl, der Vierte, der die kostbarsten Steine der Bildung von dem Gürtel seiner Zeit gelöst hat, um sein theures Böhmen damit zu schmücken, wurde das nicht vermocht haben, wäre er nicht deutscher Kaiser gewesen. Und ist eS nicht deutsche Bildung, an welcher sich die Kraft der jungen böhmischen Literatur entzündet hat und mit deren Hülfe sie dem alten Körper der böhmi¬ schen Sprache wieder neues Leben giebt? Ich weiß, daß dieser Aus- spruch, wenn er hier gelesen wird, ein ganzes Donnerwetter von Polemik bei meinen jungen, böhmisch schreibenden Landsleuten über mich heraufbeschwört^ indeß soll mich dieses eben so wenig verlei¬ ten, meiner Ueberzeugung untreu zu werden, als über die ihrige so¬ gleich Zeter und Mordjo zu schreien, wie dies in der letzteren Zeit der deut¬ schen Nativnaldeklamationen Mode geworden ist. Wenn Herr Wolf- gang Menzel in der letzten Nummer seines Literaturblattes, bei einer Beurtheilung des neuesten Bandes der Palackyschen Geschichte Böhmens, in den Bewegungen der böhmischen Literatur russische Propaganda riecht und bei dieser Gelegenheit nicht umhin kann, et¬ was Böhmen zu fressen, wie er früher Franzosen gefressen hat, Sö hat das wahrscheinlich seinen Grund darin, daß er seinem Gaumen eine kleine Abwechselung bieten wollte. Vielleicht fühlt er, daß er sich an den Franzosen einen Zahn ausgebissen hat, und will eS nun versuchen, ob die Böhmen nicht mürber und weicher sind. Aber wenn andere leidenschaftslose und aufgeklärte Männer Deutschlands diese Nussenriecherei in allen Bestrebungen der jungen böhmischen Literatur theilen, so kommt man auf die Vermuthung, daß Ideen ansteckend sind wie Pocken und Nervenfieber, und eS nur eines Ein¬ zigen bedarf, der davon befallen ist, um sogleich ein ganzes Quartier anzustecken. Die Anstrengungen der böhmischen Literaten, ihre Mus¬ tersprache zu haben, ist eines jener wunderbaren Mittel, welche vie Vorsehung wählt, um die Keime der Civilisation unter einem Volke zu säen, welches auf dem großen Wege der Cultur eine Zeit lang in Rückstand geblieben ist. Beinahe zwei Drittheile dieses Land¬ striches, umgeben von deutscher Sprache und Bevölkerung, versteht die Mundart nicht, welche in den deutschen Gauen der Wärmeleiter geistiger Erleuchtung geworden ist. Will man jene Handvoll that¬ kräftiger, begeisterter Männer, welche die unsägliche Mühe über¬ nommen haben, auf den Teppich der alten Landessprache die Blu¬ men der modernen Bildung zu streuen, und Wissenschaft und Poesie dem Landvolke und den arbeitenden Classen zugänglich zu machen, ihren Beruf noch erschweren? Herr Wolfgang Menzel vergißt, daß er mit seinen Bemerkungen nur jenen Denuncianten sich anschließt, welche das traurige Geschäft treiben, ein tüchtiges, ruhig strebsames Volk in den Augen seiner Regierung zu verdächtigen, daß er den jungen böhmischen Schriftstellern gegenüber nur das wiederholt, was er gegen die deutsche schriftstellerische Jugend einst so glorreich aus¬ geführt. Ich habe Deutschland nach allen Richtungen durchstreift 3?» und gefunden, daß der Provinzialgeift weder in Sachsen noch in Preußen, weder in Schlesien noch in den Rheinlanden, weder in Franken noch in Baiern, weder in Schwaben noch in Hessen fehl«. Warum soll gerade der Böhme seine Provinz nicht lieben dürfen V Wenn Hebel allemannische Gedichte schreibt, wenn man in Hamburg und im Hannöverschen plattdeutsch Predigt, wird kein Mensch ein Arg daran haben. Nur Böhmen soll seine Nationalsprache abdanken — weil sie keine deutsche ist! Wahrlich, Ihr Herren, macht Ihr den Elsässern auch die Zumuthung, sie sollen ihr Deutsch vergessen, wie den Böhmen, ihr Böhmisch? Ich sollte denken: was dem einen Recht/ ist dem andern billig. Was würde Herr Wolfgang Menzel erst sagen, wenn er das neue böhmische Theater sähe, welches im vorigen Monate hier ei- öffnet wurde. ES ist dies für unsere Stadt immerhin wichtige Er¬ eignis) ein Beweis, wie große Fortschritte die Kräftigung des Na¬ tionalgeistes in Böhmen gemacht. Vor zehn Jahren zahlte das böhmische Theater noch nicht ein Mal so viele Theilnahme, um die Vorstellungen zu decken, welche deS Sonntags im ständischen Thea ter, vor der deutschen Vorstellung (d. h. von 3 bis 0 Uhr Nach¬ mittags) Statt fanden, und nun ist das Publikum so angewachsen, daß der Direktor Stögcr ein eigenes Theater dafür baute. Die Eröffnung desselben, welche am Se. Wenzels tage Statt sand, (der heilige Wenzel, einer der ersten christlichen Herzöge Böhmens, der aus Veranlassung seiner heidnischen Mutter Drcihomira von dem eigenen Bruder an der Schwelle einer Kirche ermordet wurde, ist ein Lieblingsheld der Böhmen) füllte das neue Hans zum Bre¬ chen. Ein höhnisches Original-Lustspiel von dem Gymnasial-Pro- fessor Swoboda füllte den Abend. Der Held dieses Lustspiels ist Skreta, ein böhmischer Maler des siebzehnten Jahrhunderts (ge¬ storben 1674), die komische Person darin ist Hurka, ein Schwach¬ kopf, der nur das schön findet, was ausländisch ist und alles Böhmische verachtet. Der Stoff gab Raum zu hundert nationalen Anspielungen und der Jubel der Zuschauer floß in Strö¬ men; Dichter, Schauspieler, Direktor, Statisten, Alles wurde her¬ ausgerufen; ich glaube, man hätte gerne auch den neuen Saal selbst herausgerufen, wenn nur die Zuschauer dann noch hätten darin blei¬ ben können. Die Eintheilung dieses neuen TheatergebäudcS hat manchen praktischen Mcksichten sich unterwerfen müssen. Die Bühne ist sehr breit, aber nicht tief. Wir wollen hoffen, die böhmischen Theaterdichter werden diesen Mangel in ihren Productionen dadurch ersehen, daß sie bei ihren Dichtungen das umgekehrte Verhältniß geltend machen: weniger Breite, aber desto mehr Tiefe. DaS Luft spiel des Herrn Swoboda hat wirksame Scenen, obschon der Spaß manchmal zu derb ist und nur für ein Sonntagspublikum berechne, zu sein scheint. Indeß wollen wir uns bei dieser Gelegenheit nicht auf das hohe richterliche Pferd setzen, und um des guten Anfangs willen ein Auge zudrücken. ES werden von nun an in diesem Theater wöchentlich drei Vorstellungen gegeben werden, darunter eine Oper. Der wackere Schriftsteller Tyl hat die Regie. Man erwartet einige interessante Novitäten von Klicpera; Uebersetzungen wie Gutzkow's Werner, Don Juan, der Liebestrank, u. s. w. bilden das anfängliche Repertoire. Da die meisten unserer Opernmitglic- der geborene Böhmen sind, so ist für die böhmische Oper gut gesorgt. Nicht so günstigen Umstands erfreut sich das böhmische Schauspiel, welchem, mit wenigen Ausnahmen, nur untergeordnete Darstellerta¬ lente zu Gebote stehen — was ans den Dichter selbst eine Nachtheil lige Rückwirkung hat und den Aufschwung der dramatischen Poesie der Böhmen — in so weit sie der Bühne zufällt — niederhal-- ten muß. Vielleicht mag Alles, was ich da mittheile, dem deutschen Pub- likum, das keine Ursache har, für die böhmische Bewegung fiel' n> interessiren, sehr befremdlich vorkommen, um so mehr als es dabei bemerken kann, daß dieses Aufwachen des böhmischen Volks-- geistes Manches absorbirt, was Deutschland von Böhmen zu cnvar-- ten berechtigt ist. In der That ist eS so und in dieser Beziehung will ich auch die Lage der Dinge nicht verschönern. ES wird auch Manchem unangenehm sein zu erfahren, baß der Anschluß Oester¬ reichs an den Zollverein nirgends so viele Gegner findet als in Böhmen. Freilich nicht aus nationalen Rücksichten, sondern aus materiellen. Die böhmische Industrie, die seit einigen Jahren so sehr im Steigen ist, hat nicht unbegründete Ursachen, die deutsche Rede«, düsterm zu fürchten. Wenn es auch ganz falsch ist, daß - wie einige Journale meldeten — die österreichische Regierung bei den Vorzüglichsten unserer Industriellen direkte Erkundigungen einzog, inwiefern sie dem Zollverein beizutreten geneigt oder abgeneigt seien, so ist es darum nicht minder wahr, daß die Regierung über die Gesinnun¬ gen derselben sich wohl unterrichtet hat. Wo es so viele indirekte Mittel zur Kenntniß der allgemeinen Stimmung giebt, wie bei uns, da braucht man sich von Oben nicht zu direkten Erkundigungen herabzulassen. Eine schlimme Vorbedeutung für den projektirten Zollanschluß ist es, daß der Delegirte, den der böhmische Gewcrbc- verein nach Mainz zu der dortigen Industrieausstellung absandte, dort statt aller Verbindungen nichts als — den Tod gefunden hat. Der Verlust dieses trefflichen Mannes, der um seiner vielen Verdienste willen, erst vor Kurzem von dem Kaiser in den Adelstand erhoben wurde — er hieß Leopold Jerusalem von Salenfels — hat hier eine große Theilnahme unter der Kaufmannswelt erregt, um so mehr als die Nachricht von seinem plötzlichen Tode fast gleichzeitig mit seiner Leiche, welche dessen Familie von Mainz abholen ließ, hier einträfe). Die hiesigen Industriellen, ohnehin gegen den Zoll- ^) Einige Tage darauf trat noch eine andere Ursache ein, um diese Be¬ stürzung unter der Kaufmannschaft zu erhöhen, da der Verstorbene durch seine unbegrenzte Wohlthätigkeit seine Vermögensumstände in Zerrüttung hinter¬ ließ ; doch hat seine Familie Alles auf das ehrenvollste geordnet. Zu bedauern ist es nur, daß durch dieses Unglück mehrere hundert Personen, welche dieser thätige Jndustriel beschäftigt hatte, arbeitslos geworden sind. Diese Fabrik¬ arbeiter, Drucker, Färber :c. sind vielleicht der unruhigste Theil unserer Be¬ völkerung und die Behörde sieht nicht gleichgültig diese Horden durch die Wirthshäuser brodlos schweifen. Die letzten Vorfälle in Liverpool und Man¬ chester sind ernste Mahner. Was würde aus diesen Leuten bei einem ZoUan- schlufi werdend) Anm. d. Eins. Unser werther Herr Korrespondent beantwortet sich ja diese Frage selbst, in seinen folgenden Zeilen. Ein Land wie Böhmen, das auf!.>57 Qua- dratmeilen kaum 4 Millionen Einwohner zählt, das einen so unschätzbaren, nicht zur Hälfte ausgebeuteten Reichthum an Naturproducten be¬ sitzt, ist nicht auf die Industrie einiger Cattunfabrikcn angewiesen. Die indu¬ strielle Zukunft Böhmens liegt in seinen Wäldern und Feldern, in seinen Ber¬ gen und Gruben. Mag auch el» Zweig seiner Industrie bei dein Anschluß an den Zollverein leiden, zwanzig andere werden dagegen aufblühen. Doch i» einer Redactionsnote ist der Platz nicht zur Beleuchtung einer für Oester¬ reich, Böhmen und Deutschland so wichtigen Frage. Wir müssen den geehrten verein mißtrauisch, sahen in diesem traurigen Ereigniß eine War^ mung deö Himmels. Wo man glauben will, da ist auch das Vor¬ urtheil nicht weit. Uebrigens muß man auf zwei Ohren hören und eS fehlt, namentlich auf dem Lande, auch nicht an Stimmen, die den GedankendesZollvereinanschlusseö als etwas sehr Willkommenes begrü¬ ßen. Hierunter sind die großen Walvbesitzer, die GlaShüttcninhaber, die Steinkohlengruben-Eigenthümer, deren Industrie mit jedem Tage sich vermehrt. Angeregt durch daS Eisenbahnwesen, werden häufige Grabungen nach Steinkohlen angestellt und größtentheils mit Er¬ folg. Von Liblin nach Budweis wird eine Eisenbahn für den Steinkohlen-Transport errichtet; das Einkommen derselben sollen die Kohlenbergwerke Liblin, Nadnic und Purglic, die auf mehr als W Millionen Centner geschätzt werden, verbürgen. Wenn in Oester¬ reich die Adressen an die Regierung und die Privatversammlungen i, I-l I^lilctiiron so Sitte wären, wie in Frankreich, so würden vielleicht nicht weniger Adressen für als gegen den Anschluß eingehen. ^.ä vcwem Frankreich melde ich Ihnen, daß seit einigen Tagen der Herzog von Bordeaur sich hier befindet. Seine Anwesenheit giebt unserem Adel Gelegenheit, seine monotonen Gesellschaften mit einem neuen Gesprächsstoff zu beleben. Der Herzog wohnt diesmal auf dem Roßmarkt, in derselben Straße, in welcher der General Skrzinezky nach dem unglücklichen Ausgang der polnischen Revolu¬ tion mehrere Jahre wohnte. Welches sonderbare Zusammentreffen! Welche Resultate deö Jahres I8ZV! Der Polengeneral als Sinn¬ bild der unterlegenen Revolution; der entthronte Prinz als Denkmal der Siegenden! — In der Mittelklasse wird seine An¬ wesenheit gar nicht bemerkt. War man doch selbst zur Zeit, wo Karl der Zehnte noch seinen kleinen Hof hier hielt, stumpf und apathisch gegen die Ehre, die Nachkommen Ludwigs deöHeiligen und Heinrich des Vierten in den Mauern unserer Stadt zu besitzen. Die kleine Schaar Kaufleute und Handwerker, welche Mund- und andere Waaren für die Bedürfnisse deö erilirten Hofes besorgten, war es allein unter dem Bürgerstande, welche an dieser kleinen Co- Lcser auf die nächsten Hefte dieser Revue verweisen, wo diesem Gegenstand «» passenderer Raum angewiesen ist. Anm. d. Red. tome ein lebhaftes Interesse nahm. Frankreich ist für uns ein viel zu ferner Staat, als daß man hier sich viel mit ihm beschäftigen sollte. In dem engen Bette, in welchem der deutsche und böhmische Wellenschlag.aufund niederwogt, ist keinPlatzfür ein drittes,—für fran¬ zösisches Wesen. Wenn der Herzog von Bordeaux, von seinein Hofmeister und einem Bedienten begleitet, durch die Straßen ritt, zeigte sich nirgends auch nur die geringste Theilnahme. Die Bür¬ ger blieben nicht stehen, um ihn zu grüßen, die Frauen traten nicht in die Ladenthüre, um ihm nachzusehen. Wenn Letzteres vielleicht jetzt eher als früher geschieht, so hat es seine Ursache darin, weil der Herzog ein hübscher, kräftiger, junger Mann geworden ist, des¬ sen Anblick, trotz seines für seine Jugend unverhältnismäßig starken Embonpoints, manches Busentuch höher schwellen macht. Ob er hinkt, kann ich Ihnen nicht sagen, da ich ihn nicht zu Fuße gesehen habe. Aber welch ein Unterschied zwischen seinem ersten und seinem zweiten Hiersein, zwischen seinem Knaben- und seinem Jünglings¬ alter! Damals war der kleine hiesige Carlistenhof in zwei Factionen getheilt: die Herzogin von Berry stand dem alten König Karl dem Zehnten mit großen Ansprüchen gegenüber; die Henriquinquisten erklärten den Herzog von Bordeaux für ihren König, weil sein Großvater zu seinen Gunsten abgedankt. Karl der Zehnte wollte jedoch keinen Fuß breit von seiner Würde vergeben. — Nun ist er todt und seinem Enkel steht Nichts in dem Wege, König zu sein, als--Alles. Der Tod des Herzogs von Orleans hat das kleine Häufchen der Legitimisten gelüftet und das Schlimmste ist, der junge Prätendent selbst hat den Glauben an sich verloren. Daß er in österreichische Dienste treten will, wie hier Einige sagen, ist eine offenbare Uebertreibung. ES wäre ein furchtbar tragischer Wink des Schicksals, wenn der Sohn Napoleons und der letzte Sprößling der Bourbons, die dem Hause Habsburg durch Jahrhunderte den Krieg gemacht, auf der Namensliste der österreichischen Offiziere der Nachwelt die wunderbaren Fügungen der Geschichte erzählten. Drei harmlose Briefe aus Schwerin. Bon A. W. N. Es ist zwar schon spät geworden, und der Herbst streicht Einem mit seinem rauhen frostigen Handschuh über das Gesicht, aber das hinderte mich nicht, gestern Mittag hier in Schwerin anzukommen. Der Reisende mit etwas leichtem Sinn sieht Frühling und Sommer in Allem, was ihm neu und ansprechend ist. Ich, als ein Solcher, muß gestehen, mich in meinen ahnenden Erwartungen getäuscht ge¬ sehen zu haben beim Einzug in diese Stadt, diese Residenz, die sich wie ein langer Marktflecken anspruchlos vor mir hinzog. Indeß, ihre Umgegend ist romantisch und manches schöne Gebäude streckt sein keckes modernes Haupt über die niedern Grenzhäuser dieses Orts. Mir zur linken Seite lag bei meiner Einfahrt der weit be¬ kannte Sachsenberg, das großartige Irrenhaus unter des rühm¬ lich bekannten Di-. Flemming Direktion, in dem schon Mancher die Narrenjacke des poetischsten Zustandes in unserem einförmigen Leben abgestreift und mit wieder gesundem Menschenverstand in die gepriesene Prosader Alltäglichkeit gesprungen ist. Wenn man Schwerin die Thürme abnähme, die über den vielen moosgrünen Dächern ii° der Lust hängen wie steile Schlafmützen, müßte man es für ein langes Dorf halten, das in einem, es fast rund umgebenden großen See schwimmt. Am Thor hatte ich eine Wache zu Passiren, ein wirklich origineller Contrast zu dem unscheinbaren Aeußeren Schwe¬ rins; sie sieht aus wie ich die chinesischen Tempel und Häuser überhaupt habe abgebildet gesehen, achteckig, wenn ich nicht irre, mit vielmal geschnäbeltcm Dach. Der Himmel mag wissen, wie man auf die Idee gekommen ist, eine Wache so ausländisch zu construiren. Neben dieser schritt mit großer Gemächlichkeit ein mecklenburgischer Chinese mit dichtem Schnurrbart. Vor mir lag die Paulstadt, ein ganz neues Viertel, welches des unlängst verstorbenen Großherzogs Paul Friedrich Baulust hervorrief, ohne es beenden zu können. Einige Kreuz- und Querstraßen führten mich zum Posthause^ Dort ist'S schön: vor mir das große alterthümliche Schloß mit seinen un¬ endlich vielen Thürmchen und den kleinen Fensterscheiben; die Reit¬ bahn, Kanonen, Soldaten, Gewehre — brr! was sieht das hier in der mecklenburgischen Residenz kriegerisch aus. Im PostHause herrscht reges Treiben. Alles läuft mit geschäftiger Miene durcheinander, ich suchte vergebens einen Postboten, der mir meine Habseligkeiten mobil machen könne. ES war nämlich ein Graf von Irgendwoher angekommen und verlangte Relais. Was solche Leute doch stets Unsereinem voraus haben; der Postdiener, welchen ich endlich erfaßte, fuhr mich gerade nicht sehr sanft an, weil ich ja sähe, daß er be- deschäftigt sei. Dafür hätte er eigentlich kein Trinkgeld vom Grafen verdient; ich werd'S ihm wiedersagen. Ich seufzte und trollte mich weiter — denn ich bin kein Graf. Trotzdem logire ich hier doch im Hs>tel de Hambourg. Alles ist hier auf'6 eleganteste eingerichtet, auch hält man hier auf anständige Preise; man nennt das großstädtisch. Warum reist man denn auch? Man sollte eigentlich ruhig zu Hause bleiben, weder Schlafrock noch Pantoffeln vom Leibe lassen, wie sich's echten Deutschen ziemt. Unsre Urväter gingen nicht ungezwungen aus dem Lande ihrer Heimath; deshalb gab eS damals ein Deutschland. Heut zu Tage soll man, in der vornehmen Welt geboren, erst Franzose werden, ehe man noch Hosen trägt, und hernach, wenn man pou -l pou einen Backenbart kriegt, sich mit der Fibel in'S Deutschthum hineinarbeiten. An seiner Sprache, sagt man, sollt ihr ein Land erkennen. Das ist ein sehr dummer Schnack. Wenn z. B. heute Einer vom Monde herab an die Küste der Ostsee fiele, und wanderte landeinwärts — immer weiter; käme — vorausgesetzt, daß er von Adel ist — in unsre eleganten Salons, kurz, er marschirte durch ganz Deutschland, auch nach Frankreich hinüber — und er langte wieder zu Hause bei seinen nordischen Mitbürgern an, so würde er diesen erzählen, daß es drunten auf der Erde weiter Nichts M lauter Frankreich gebe. Unten in der Gaststube des Hütelö war's sehr belebt. Ich habe da eine völlige halbe Stunde still gesessen und Charaktere aus den runden Gesichtern der Anwesenden, Land- und Stadtleute, Be¬ amten :c., studirt, aber summarisch nur einen daherauS gelesen, und diesen einen zu nennen, werde ich mich wohl hüten. Gott weiß, wie sauer diese halbe Stunde Stillsitzens mir geworden ist. Am Ende derselben fand ich eine alte Nummer des Schweriner freimüthigen Abendblatts, die sich noch vom Sommer her datirte. Dies Bis¬ chen mecklenburgische Literatur hat mich aber -für meine Langweile entschädigt, es giebt mir auch Gelegenheit, den ungeistigen Geist dieser Literatur kennen zu lernen. O, die Mecklenburger fangen setzt auch schon an, Geschmack an der schriftstellernden Welt zu finden, aber die Zahl der Literatursuchenden ist leider nur noch zu gering hier, sie kommen in der sie umgebenden Nacht deö Phlegmas zu¬ sammen wie Shakespeare's Heren in der Haide: „Mlwii statt wo tlirvo inevt NAmu In ^tniiulvr, liAlltmiiA or in nun." Ich theile hier eine Stelle aus dem Schweriner Abendblatt mit, als Probe mecklenburgischer Journalistik. In diesem Blatt wird nämlich die Aufführung des Goethe'schen Faust behandelt, und zwar in einer Weise, die ich originell genug gefunden, um darüber zu lachen, so sehr ich auch Gelegenheit gehabt, dies Journal als ein ehrwürdiges kennen zu lernen. Es steht nämlich in dieser Kritik von der Größe Goethe's, als spezificirte Größe, auch von seinem Faust geschrieben, und da kommt denn der Referent unter Anderm auf folgende drollige Idee: „Der liebe Gott," sagt er, „hatte die Welt nur erschaffen, da winkte er Goethe, und Göthe lieferte den Kommentar dazu." Also waren Goethe's Vor. fahren, auch Die, welche vor dem Erscheinen des Faust lebten, Nichts als Affen und Bären, die Goethe erst zu Menschen gemacht! - - Goethe ist demnach so eine Art von Messias. Der Nevakteur des Abendblatts mußte durchaus nicht der Ansicht des Recensenten sein, denn er machte drei große Ausrufungszeichen dabei. Weiter schreibt dieser Schriftsteller, dessen Statue ich wohl in der Walhalla aufge¬ stellt sehen möchte, daß wenn Goethe ihm gestern Ehre und Glück geraubt hätte, und er läse heute seinen Faust, er mit Freuden die Füße küssen würde, die ihn getreten. Was soll man von einer solchen Literatur denken? -ist sie nicht schön? nicht originell? Ich gestehe, ich hätte dies nicht in Mecklen¬ burg gesucht. Ich glaube auch, daß, wenn dieser Schriftsteller pro^- ductiv ist, es ihm ein Leichtes sein muß, den ganzen Goethe'schen Commentar in vierzehn Tagen wieder zunichte zu machen; und dann wären wir wieder, was wir vor Goethe waren! — Heute Morgen kam ich in eine Conditorei; am Fenster der¬ selben stand eine Gruppe von drei Herren, die sich sehr lebhast über ein schläfriges Thema unierhielten. Es war nämlich die große mecklenburgische Frage: ob der nichtadelige Rittergutsbesitzer ein Vo¬ tum auf dem Landtage habe, oder nicht. Die Rollen waren bei dieser Verhandlung hier in dieser Konditorei etwas ungleich vertheilt, denn zwei dieser Herren bearbeiteten ihren bürgerlichen Widersacher auf adelig feine Weise. Ich mischte mich in diesen Streit und sprach mit großer Kühnheit gegen die Arroganz des Adels; diese und meines Verbündeten Hartnäckigkeit erzwangen die Bestätigung der beiden adeligen Herren: daß es nirgendswo geschrieben stehe, der bür¬ gerliche Rittergutsbesitzer sei nicht competent für ein Votum in den landeötägigen Versammlungen. Und hierin wollten nur ja nur Recht haben. — Die hochadeligen Herren Mecklenburgs sehen aber auch gar zu schön aus in ihrer wolkigen Perrücke; sie nöthigen dies Land noch mehr zu einer größeren Fragsamieit, wie sie jetzt in manchen kleinen und größeren Ländern herrscht, die alle eine Frage unter sich an sich haben; Staatslebensfragen, die fast nie genügend beantwortet werden, da man bei aller scheinbaren Energie stets um die Entscheidung herumschleicht wie die Katze um den heißen Brei Man rüstet sich hier zum neuen Landtage, der am 16. November in dem Städtchen Malchin abgehalten werden soll. — Es liegt viel Komisches in so einer mecklenburgischen Standesversammmlung, wo v«I<) und I»it>«ziu1«> über das Wohl und Wehe des Landes berathen wird; ich will sie hier schildern, wie sie sich alljährlich er¬ neuert: — Jede kleine Bauerhufe Mecklenburgs ist ermächtigt, einen Vertreter auf den Landtag zu senden, der freilich Nichts da zu sagen hat. Aber was schadet das? ' Die größeren Landbesitzun¬ gen und die Städte Mecklenburgs schicken ebenfalls einen Reprä¬ sentanten hin; Wismar aber, eine an sich gar nicht unbedeutende Seestadt, durch die man nebst Rostock seine nicht geringen Aus¬ führen um Landesprodukten nach Schweden, Norwegen, Riga ze. bewerkstelligt, darf nicht einmal einen Abgeordneten senden; was sonderbar genug ist. So geht denn der mecklenburgische Rittergutsbe¬ sitzer aus den Landtag, die Bürgermeister der respectiven Städte müssen dort erscheinen; aber als Solcher muß man einen Degen an der Seite mitbringen. Einen Degen? Aber was soll er denn damit?— Rum, es ist Herkommen; erscheint doch der Adel sogar an diesem Tage in rother Uniform, mit schweren Epaulettes auf der Schulter. Der Introitus des Landtages ist eine große reichbesetzte Tafel, daSMnab' nicht minder geschmackvoll. Der LcmdeSmarschaU ist in steifer Kra- vatte da, er leitet den ganzen Akt, weil ja natürlich ein StaatSge^ bande nur aus der physischen Einzeleristenz seiner Grundmaterialien construirt sein kann. — Die rittergutsbesessene Bürgeilichkeit erkühnte sich vor ungefähr fünf Jahren zum ersten Mal, auf den, Landtage ihr Votum zu Markte zu bringen, da sie bisher nur die Stroh- mannSrollcn unnützer Figuranten gespielt hatte; der damalige Lan- desmarschall aber wies ihre Stimme zurück, weil der bürgerliche Rittergutsbesitzer Nichts zu sagen habe. Das empört natürlich, sie suchten ihren Groll in Champagner zu ersäufen; dies Beginnen erweckte Nachfolge — und da man ja doch alljährlich nur einmal M.solchem ständischen Gelage zusammenkommt, ißt man mit großer Virtuosität, ja man füllt sich sogar, eingedenk der zu Hause gebliebe¬ nen Lieben, die Taschen voll von Eßbarem. - Man reift nach Haust-, »>an ist auf dem Landtag gewesen, die Leute daheim denken, Wun¬ der, was man da Kluges ausgerichtet — nun das Klügste in der Welt: man hat vortrefflich gegessen und getrunken, dabei auch von Butter- und Wollmärkten gesprochen, und viel Gelo im Spiel verloren.^) Ein Gegenstand hartnäckigen Kampfes zwischen Adel und Bür¬ gerschaft sind die drei Landesklöster, deren Verwaltung sich der erstere als ein Vorrecht anmaßt, deren Raum er für seine Tochter be¬ stimmt glaubt. Das ist wiederum eine sehr noble Idee der mecklen¬ burgischen Noblesse. Die böse Welt behauptet, wenn die Verwaltung dieser Klöster ihren Verwaltern nicht so viele Schnitzeln neben dem ihnen jährlich zufallenden großen Lappen abwürfe, möchte sich der Adel vielleicht nicht so sehr um dies Recht bemühen, daS ihm, mei¬ nes Erachtens, doch bald entrissen werden dürfte. Seine Anmaßung strafend, steht aber in den Klvsterordnungen mit deutlichen Lettern: daß sowohl adeligen als bürgerlichen Jungfrauen die Aufnahme in die Klöster gestattet sei. Gesetz und dasselbe vergegenwärtigender Buchstabe werden also hier ohne Weiteres über den Haufen gestoßen; wer beide wiederfinden will, der arbeite sich erst durch Jahrhunderte alten Schmutz und Staub der Arroganz und Unbill. — Der summarische mecklenburgische Adel ist zum gro¬ ßen Theil eine personificirte Anmaßung, die alle bürgerlichen und Konvenienzverhältnisse unter die Füße treten zu können, ja mitunter sogar den Gesetzen trotzen zu dürfen glaubt, wie folgendes Erempel deutlich zeigt, das ein Gemisch von Feudalismus und mecklenburgi¬ schem Adelöstolz bildet. Lache der Leser über jenen mecklenburgischen Gutsbesitzer, der jüngst das Städtchen Mirow mit bewaffneter Dorf¬ macht belagerte und mit beschwerteter Faust einen seiner Knechte, der als gesetzwidrig durch die Straßen der Stadt jagender Cham¬ pagnerabgesandter von der Polizei verhaftet wurde, zu befreien kam, was ihm auch gelungen. — Morgen werde ich in Gesellschaft gehen. Man hat mir schon viel von dem in ihr herrschenden Ton erzählt, mich auch über- Man lacht selbst hier über jenen alten mecklenburgischen bürgerlichen Gutsbesitzer, der vor einigcnJahrcn es plötzlich für nöthig fand, cinmalausden Landtag zu steigen, dort im Borsaal die reichgallonirten Diener der Grafen Hahn :c. vorfand, und nicht anders glaubte, als mitten in der famosen Stan¬ desversammlung zu sein. Dies war indes» Einer vom anvien i'ueiiii-z, unsre, neuere Generation hier soll entschieden bessere Begriffe über Landtagsversamm¬ lungen und ihre c^-ita haben. Haupt schon einige Male in Mecklenburg gewarnt, bei der Wahl der Socilitv vorsichtig zu sein. Hier in diesem Lande muß man mit Peinlichkeit auf seinen Rang halten, und dies besteht im Festhalten und solider Frequentirung einer geschlossenen Gesellschaft, in der alle Glieder aus einem Holz gezimmert, wo Alle gleich klug oder gleich dumm sind; man muß hier bleiben, was man ist, wie man ist, und wo man ist, auch andre Sinn- dabei aber auch zugleich Standverwandte mit seinem eignen Ich in die bequemste sociale Lage zu betten suchen. Siehst du hier einen Stern in einer Ge¬ sellschaft, so sei gewiß, daß Alle um ihn, wenn grade nicht auch als Sterne, doch als Jrgendetwas am Himmel der Gesellschaft stehen. — Besser verstehe ich es nicht, hurtiger Weise den Charakter des mecklenburgischen d»u ton wiederzugeben. Heute bin ich von einem Herrn von zum Thee geladen ; 'das habe ich einem alten wiedergefundenen Freund zu verdanken. Dieser hinterbrachte mir auch, daß in diesem Hause die Eonversativn französisch geführt werde, und fragte mich ängstlich, ob ich auch noch stark darin sei, — man muß ein Mecklenburger sein, um eine solche Frage zu thun. — Ich werde also heute Abend Thee, sehr viel Thee trinken, und dabei französisch conversiren. — Gestern Abend führte man mich auch in eine Gesellschaft. Bei meinem Eintritt und meiner Bekanntwerdung mit dem Wirth war's mir, als zupfte mich überall Etwas am Frack, denn die ganze Gesellschaft zischelte sich was Geheimes über mich zu, und nur meine Einführung in jenes Zimmer, wo die Herren in undurchdringlichem Tabaksqualm einander pythische Worte über Mecklenburgs Wohl mittheilten, rettete mich aus dem beängstigenden Scherbengericht d.r Damen. So streng moralisch ich diese Absperrung der Herren- und Damengesellschaft auch finde, so untergräbt sie doch jeden Funken von Socialität. In¬ deß ist man hier der Meinung, Geschlechtsvereinigungen hätten noch nie zu gutem Ende geführt. — Schon ganz früh befand ich mich heute aus der Promenade nach dem Schloßgarten. ES war neun Uhr, ziemlich kalt, und der Nebel lag noch auf den Straßen, ganz nach Londoner Art. Von der Schloßbrücke aus sah ich den schönen runden Platz mit den vielen Statuen mir entgegenschimmern; dort glaubte ich, mich in der mecklenburgischen Genealogie orientiren zu können. Aber ich täuschte mich, es waren unmoderne Fabelmänner: Herkulesse :c. Der Schloßgarten ist wirklich schon, so recht von der Natur begün¬ stigt. Links an der Brücke zieht sich die schöne Promenade am Saum des Gartens hin, die Wellen des Sees erhalten neben ihr eine schöne, aber höchst monotone Musik; rechts neben mir unter den hohen Bäumen liegt das sogenannte Zelt, wo man im Sommer Früh- und Spätconzcrte giebt. Vor mir, das niedliche Grün Haus, wie man mir sagte, ein Sommeraufenthalt der hohen Herrschaften— aber da guckt mir ja ein Affe aus dem Fenster entgegen, das von erotischen Pflanzen überrankt ist! — Nun, man bewahrt in dieser köstlichen Orangerie eine Versammlung fremder und einheimischer Thierhonoratioren. — Neben diesem Palais zieht sich eine Chaussee hinauf; vor mir liegt das Buchholz, ebenfalls dort rechts Ostdorf, ein Wallfahrtsort der Schweriner, wo sie ihrem Moloch, dem Magen, opfern. — Meine Promenade ermüdet mich schon, überdies ist es kalt und windig. Ich werde also zurück in das Zelt gehen, mir ein Glas Grog und einen Stuhl geben lassen; alsdann mag die freie Natur zu mir kommen, sich bewundern zu lassen. Im Zelt ist kein Mensch. Das alte Schloß lassen die blatterleercn Bäume zu mir herüber¬ schimmern. — Du, alter Niese, siehst so zufrieden aus in dieser na߬ kalten baltischen Temperatur, und wenn der Luftgeist schreckliche Worte mit dir tauscht; ihr verhandelt dann beide wohl über die Vergangenheit. Da können wir freilich nicht mitsprechen. Aber ich weiß doch, alter Titan, wie's dir in deinen jungen Jahren er¬ gangen, die geschwätzige Kaffecschwester mit ihren Pockennarben und vergeblichen Schönpflästerchen, die Geschichte hat's mir ausgeplau¬ dert. In deinen Hallen haben einst schwere Kannen gestanden auf den mächtigen Eichentischen, deine Männer haben noch unverfälscht die Gerste getrunken; dafür waren sie auch kräftig und riesig wie du, lauter trotzige Mauerbrecher. Wir aber trinken Limonade und Zuckerwasser, wie es wohl deine Heldinnen thaten, brauchen auch nicht so kolossal zu sein wie deine todten vermoderten Kumpane, daS würde mammuthartig aussehen, es würde sich auch nicht schicken. Denn unsre Zeit ist eine kokette junge Dame, wir erscheinen vor ihr fein geschniegelt in Frack und EScarpins, nicht wie die Zeit¬ genossen deiner Jugend in Eisen und Stahl; wir kommen auch überhaupt nicht in Harnisch, denn wir dürfen eS nicht; — die hohe Obrigkeit hat es verboten. Wieder auf dem Rückwege nach der Stadt, fängt es zu regnen an; und ich habe keinen Regenschirm. Ich werde also nach Hause laufen, mich wieder in Schlafrock und Pantoffeln werfen, mir eine Pfeife anzünden und mecklenburgische Brochüren/ oder übriggebliebene Predigten über den Tod des Höchstseligen Großherzogs lesen; lauter feuchte, weinerliche Sachen, aber doch immer besser als ein Platzregen. Den heutigen Abend hatte ich eigentlich dem Theater bestimmt, mich aber vergebens gefreut, einer oder der andern hier engagirten Bretterheldinnen, wie die Schlegel oder die Klara Stich, wie¬ der zu begegnen. — Die Bühne ist jetzt in Wismar, wo sie sich acht bis zehn Wochen aufhalten will, um das dort neu erbaute Schauspielhaus zu Probiren. Eine großherzogliche Bühne ambu- lirend! — Nun, es ist erklärlich, sie ist aus dem Bade Doberan zurückgekommen, wohin sie der Hof mitgenommen hatte, und da ist sie denn bei guter Gelegenheit dort in Wismar stecken geblieben. — Da ich also nicht in's Theater gehen konnte, ging ich wo anders hin. Aber, die Leute hier denken, einem Fremden müsse man die Ohren recht voll von ihrem Lande blasen! Diese Musik hat denn zum Hauptthema den mecklenburger Zollverein, eigentlich sollte ich sagen den deutschen, an dem dies Land Theil nehmen soll. Der merkantilische Theil des Letzteren sträubt sich nun mit Hand und Fuß dagegen, auch die Gutsbesitzer, die meistentheils ihren Waarenbedarf von Hamburg her unter sehr vortheilhaften Einfuhrsbedtngungen beziehen, was ihnen durch den Zollverein be¬ nommen werden muß. Zu ihrem Aerger aber hat ein junger Pu- blictst in Hamburg, W. Lüders, sich der Mühe unterzogen, ihnen plausibel zu machen, wie vortheilhaft der Zollverein sei, und da schimpft 34 man denn weidlich über ihn, und kauft seine Schrift nicht, weil er ja, wie »uni sagt, Renegat an seinen früher ausgesprochenen Althias-- den über diese Sache geworden sei. Dieser Lüders'schen Schrift kommt nun der Buchhändler Duncker in Berlin durch eine ähnliche, aber sehr unzureichende zu Hilfe, und ich zweifle, daß der Herr Hof-Buchhändler Aker. Duncker damit reussiren wird, indem hier im Lande selbst schon mehrere Biochuren und Aufsätze erschienen sind, die alle dasselbe Thema behandeln, freilich verschiedenen Erfolg prog- „osticircn, alle aber sehr schwierige „Gedanken" über diese Frage aussprechen. Ach, und dabei wird der Mecklenburger so gedanken¬ voll, daß er mit seinem Phlegma sich gar nicht mehr aus seiner ihm eimerweise herzuströmenden Gedankenfülle herauszureißen vermag. Man sorge doch dafür, dem Mecklenburger nicht unnützerweise so viel Kopfzerbrechens aufzulegen, da er ja von Natur schon genug zur Bedenklichkeit geneigt ist. — Schwerins Lokalität hat nichts Neues mehr für mich; ich überlasse mich jetzt seinen geistigen Interessen; und da lese ich denn so eben Herrn F. v. Maltzahn's „Mecklenburg in allgemeinen deutschen Beziehungen." Es ist ein närrisches kleines Buch, durch und durch verfehlt; und wenn dieser hochwohlgebvrene Herr v. Maltzahn über seine höchst schlecht geborne Brochure hätte setzen lassen: Deutsch¬ land in allgemeinen europäischen Beziehungen, so hätte sie wenig¬ stens an scheinbarer Wichtigkeit gewonnen, man hätte sie mit euro¬ päischen Augen angesehen; dabei kommt der Verfasser in seinen Beziehungen überall hin, wo mau ihn nicht zu finden hofft; er be¬ schwört den Reformationsgeist herauf, viel biblischen Schnickschnack, kramt einen ganzen Sack voll pieiiftischer Schnurrpfeifereien aus — und kommt endlich um die Mitte seiner Schrift zum ersten Mal auf Mecklenburg. Er,irrt von Gott zu Staat und Kirche, zur Bibel und zum Wesen der deutschen Sprache, wird von dem Gedan¬ ken erhoben, sie sprechen zu können; kurz : ein Deutscher zu sein. Vorher will er die Geschichte „im Zusammenhang" sehen „in einer Zeit vor und nach Christus;" — „sie muß die Thaten messen nach dem Worte Gottes," von dem eS im Ebräerbriefe heißt: „es ist le¬ bendig und kräftig, und schärfer denn kein zweischneidig Schwert ze.ze." Tas ist ein ziemlich langer Bibelvers. Dann spricht der Verfasser in seiner mißmthmen Religionsphilosophie vom Kommen des Hin- melreichS, das sich nicht „in einem allgemeinen ans sich selbst zu erringenden Besserwerden des Menschen erschließe." Ein ziemlich gesunder Gedanke, etwas kirchenvätrisch, sehr genievoll. Ueberhaupt traue ich diesem Herrn v. Maltzahn viel religiösen Sinn zu, glaube sogar, daß er ein sehr frommer Mann ist; aber daß er ebenso hei¬ misch in mecklenburgischen Angelegenheiten sei, wie er es dem An¬ scheine nach in der Bibel ist, kann mir nicht einleuchten, und wenn ich vierzehn Tage lang hier invIclonlini-xionLes studire, so will ich, das versichere ich ihm, ein noch zweimal so dickes Buch über mecklen¬ burgische Beziehungen nach beiden Hemisphären zusammenschreiben, das obendrein noch gesäubert sein soll von all solchen Abschweifun¬ gen nach allen Gegenden der Geschichte, der Religion und ihren Zwecken. Revolution und Franzosenthum hält (In)nil,i!o dinen!) der fromme Herr v. Maltzahn für Abfall von Christo! Nach diesem Maßstab müßte man Deutschthum und deutsche Treue für blinden Ammenglauben und gespenstischen NachtmüizenterrorismuS halten. —Hinsichtlich des RevolntionSwesenS hat nun der Verfasser wohl insofern einigermaßen recht, als der Geist auch des Revolutio-- nairö ursprungsgemäß dem Himmel angehörte, er sich aber von dem Himmel irdischer Ruhe und gesetzlicher Subordination dem Gottsei¬ beiuns der Unzufriedenheit in die Arme warf. Und doch, auch in dem Geist des wirklichen Revolutionärs, des Zerbrechers aller Schranken der Tyrannei und der bürgerlichen Ordnung, kann eine, wenn auch nicht gebilligte Verehrung Gottes wohnen; sein Ver¬ brechen entspringt nicht aus seiner Gedankens olle, sondern aus der ihm eigenthümlichen Werkstätte eines ruhelosen Gemüths, daS die weltliche Macht nicht in ihrem Zweck und Ursprung erkennt, und mit der Waffe des MenschenrechtS strafen zu können glaubt. — Herr v. Maltzahn und ich sind demnach sehr verschiedener Meinung, um so mehr, als er Seite 5 seiner Brochure sagt: „man darf sich nicht verhehlen, wie die Revolution diesem Abfall von Christus hingegeben ist." — Ich glaube, er sieht alle neueren Tendenzen insgesammt für Teufelscingebungen an, und läßt deshalb kummervoll zum jüngsten Gericht blasen. Das Franzosenvolk hält er gar für Dämonenpack, weil er behauptet, „ihr Wesen wurzle im Abfall von Gott. 34-!- Ich muß gestehen, daß ich ganz melancholisch durch diese heil¬ losen „Beziehungen" geworden bin; ich werde sie also nicht weiter lesen. — Von Herrn v. Maltzahn'S pietistischer Saalbaderei gehe ich über zu dem hiesigen Treiben seiner in mancher Hinsicht Sinnesverwandten,' den unausstehlichen Frömmlern, deren es hier, wie in Mecklenburg überhaupt, eine Unzahl giebt. Sie nennen sich nach Niemanden, und thun auch wohl daran; so weiß man sie nicht zu nennen. Sie sind nicht Antonisten, noch Stephanisten, noch andre sekttrerische Nar¬ ren unter selbsterwählter Firma, bezwecken keine Weiber- noch über¬ haupt Gütergemeinschaft, wofür sie viel zu große Egoisten sind, und hegen auch sonst keine philanthropische, vielMniger noch, demagogische Idee — aber verrückt sind sie, das wage ich fest zu behaupten; denn welcher vernünftige Mensch würde wohl auf die Idee kommen, durch solche Narrenpossen einen Fingerbreit mehr vom Himmel zu erobern, als der gerade denkende AlltagSmensch?—Sie sehen, ihren bauöbäckigen Mitmecklenburgern gegenüber, so fromm, so bleich und so elend aus; man kann's ihnen ansehen, der Herr,hat kein Wohl¬ fallen an ihnen. Und nun gar die große Zahl der, häufig auch jungen Damen, welche diesem Mysticismus huldigen. Wenn'S ihnen noch auf der Stirn geschrieben stände, welchem Fetischismus sie dienen, daß man ihnen mit ihren Hirten aus dem Wege gehen, oder ausrufen könnte: nie ni^er estl — so aber fallen oft ganz unschuldige Menschen in einen nicht geahnten Hinterhalt. So habe ich mich gestern dazu hergeben müssen, mir zwölf lange Seiten aus „Thirza, oder die Anziehungskraft des Kreuzes" und fast die ganzen „sieben Hauptsünden" von einer Dame vorlesen zu lassen — die Konvenieuz wollte es so — ich habe aber uur zwei von ihnen gehört, die Erste und die Letzte, nämlich bevor ich einschlief, und nachdem ich wieder erwacht war. Dafür werde ich nun wohl nicht in den Himmel kommen. Wenn ich später einmal eben so fromm werde wie diese braven Menschen, will ich auch Alles wieder abbettelt ; indeß hat das keine große Eile. — Adieu. — Erinnerungen an den Wiener Congreß. In dem Augenblicke, wo an dem Congreß von Verona ein sonst bedeutendes deutsches Talent Schiffbruch gelitten hat, ist es interessant, einem ähnlichen Stoff in anderen Bearbeitungen zu fol¬ gen. Der Graf de la Garde ist ein poetischer Intuition gewiß unsrem Julius Mosen untergeordnet. Und doch, wie ganz anders weiß er seines Stoffes Herr zu werden! Da ist Nichts von der Uebertreibung eines deutschen Stubengelehrten, bei dem die diploma¬ tischen Figuren zu Fratzen und Ungeheuern anschwellen; vielmehr sind die Portraits mit geschickter Hand geschnitten, die Medaillons sind lebensähnlich, die Situationen glücklich belauscht und mit fei¬ nem Tacte niedergezeichnet. Die „Europa" hat vor einigen Wo¬ chen einige Bruchstücke dieser Erinnerungen mitgetheilt; wir glau¬ ben, ein zweites Bruchstück wird unsern Lesern ebenso interessant sein. Es scheint, als ob durch eine Art Gabe der Rückwärtsschau, mit der Entfernung selbst das Gedächtniß an Fruchtbarkeit gewinnt. Was mich betrifft, so habe ich dies schon oft empfunden und em¬ pfinde es täglich mehr bei Aufzeichnung dieser Scenen, die mit vol¬ lem Recht ein Eigenthum der Geschichte geworden sind. Ich wohne ihnen von Neuem bei; alle die Personen, die in ihnen eine Rolle spielen und von denen die meisten jetzt Nichts als Staub und Asche sind, beschwöre ich aus der Nacht des Grabes empor und zwinge sie zusammen durch den Zauberstab meiner Erinnerungen. Ich sehe sie wieder, wie sie damals waren, schön, jung, in ewigem Freuden¬ rausch cinhertaumelnd, während jetzt dieser glänzende äußere Schein bei ihnen entweder verwischt oder zerstört ist. Dieser lebhafte Ein¬ druck ist in den Gemüthern Aller zurückgeblieben, welche Augenzeu¬ gen des Wiener Congresses waren. Kein Ereignis? hat sich wohl je tiefer der Erinnerung eingeprägt, als diese sechs Monate, die man so passend den Zwischenact zwischen zwei Tragödien genannt hat. Dieses Gemälde, das den Contrast der sorglosesten Feste mit den ernsthaftesten Geschäften ringsumher darbot, hat nach meiner Ansicht in unsrer modernen Literatur bisher noch gefehlt. Das Wenige, was davon zur allgemeinen Kenntniß gekommen, bestand aus verworrenen, unzusammenhängenden, farblosen Skizzen. Und doch, gab eS je Scenen von ergreifenderen Interesse? Ich will hier nicht einmal von dem politischen Interesse sprechen, obgleich die Re¬ sultate des Wiener Kongresses die Grundlage alles dessen bil¬ den, was seitdem in Europa bis auf unsere Tage vorgefallen ist. Aber um so mehr will ich von dem Interesse sprechen, das ein Rittergemälde aus dieser Zeit verdient. Alles, wonach man in den Chroniken des Mittelalters, in den feenartigen Festen Ludwig'S XIV. sucht, fand sich hier in dem Nahmen von sechs Monaten und einer einzigen Hauptstadt eingeschlossen. Wie viel Liebeseide wur¬ den hier und zwar von den durch hohen Rang, durch glänzenden Ruhm, durch Geist und Gemüth verführerischsten Personen geschwo¬ ren! Wie viel berühmte Männer haben hier die Geschicke Europas in ihren Händen gehalten! Wie viele von jenen, denen damals ihre hohe Sendung eine hervorragende Stellung verlieh, sind heute ein¬ fache, schlichte Unterthanen! Welch staunenswerther Zusammenfluß endlich von Celebritäten aller Art, von den mächtigsten Monarchen und den berühmtesten Staatsmännern an bis zu den geistreichsten und schönsten Frauen! .... Mitten unter den so verlockenden, unaufhörlichen Freuden des Wiener Congresses war die Rolle Frankreichs eine sehr ernsthafte und mußte eS auch sein. Als eine solche hatten sie auch, von einem Gefühle feiner Schicklichkeit beseelt, seine Stellvertreter aufgefaßt. Sie mischten sich wenig in den allgemeinen Taumel und hielten sich in den Schränken einer Art von Gravität, welche der Wich- tigkeit ihrer Stellung angemessen war. Wen» ich mjch heute an ihre so ruhige und so würdevolle Haltung erinnere, so finde ich darin einen Beweggrund der Erkenntlichkeit gegen diese Männer, die damals so viel für Frankreich gethan und für welche der Tag der geschichtlichen Anerkennung noch nicht gekommen zu sein scheint. Die große Neuigkeit, welche mir Upsilanti am Morgen mit¬ getheilt,. ward mir vom Prinzen Koölowski bestätigt. Napoleon hatte wirklich die Insel Elba verlassen. Der Herr und der Gefan¬ gene Europas, wie man ihn so kräftig und bezeichnend genannt hat, war aus seinem Gefängnisse herausgetreten, bewaffnet mit sei¬ nem Ruhme. Er hatte einem schwachen Kahne Cäsar und sein Glück anvertraut. Die Neuigkeit, sagte mir Koölowski, ist durch einen Courier Hieher gekommen, den Lord Burgheß von Florenz aus abgeschickt hat. Ihm hatte sie der englische Consul in Livorno mitgetheilt. Lord Stewart, der sie hier erhielt, benachrichtigte sofort Herrn von Metternich und die regierenden Häupter. Die Minister der Gro߬ mächte sind dann sofort in Kunde davon gehest worden. Bisher weiß man noch nicht, welchen Weg Napoleon eingeschlagen hat. Begiebt er sich nach Frankreich? Will er, wie man glaubt, nach Nordamerika gelangen? Man verliert sich in Vermuthungen. Aber wer wird ihn vor dem Ungewitter bewahren, das sich grollend über seinem Haupte anhäuft? Wird das Schicksal einen leitenden Faden an seine Stirn heften, der den Sturm von ihm abwehrt?..... Die hohen Lenker des Congresses wünschen, man möge die Nach¬ richt so lange möglichst geheim halten, bis sie einige durch die ge¬ wichtigen, inhaltsschweren Umstände nothwendig gewordene Ma߬ regeln werden getroffen haben. War nun das Geheimniß wirklich gut bewahrt worden, oder trug der Rausch des Vergnügens noch den Sieg davon, — kurz die Stadt Wien halte ihr gewöhnliches Aussehen beibehalten. Die Wälle und die Leopvldsvorstadt, welche nach dem Prater führt, wa¬ rm übersä't mit Spaziergängern, die sich ungeduldig nach dem Ge- nuß der ersten Frühlingssonnenstrahlen sehnten. Noch war kein Anzeichen davon, daß der ferne Donnerschlag auch hier sein Echo ge> funden habe; überall herrschte sorglose Fröhlichkeit. Am selben Abend sollte eine Truppe von Liebhabern in einem der Säle des Palastes eine Aufführung geben, deren Programm, aus dem Barbier von Sevilla und, wie ich glaube, einem damals an der Tagesordnung schimmernden Vaudeville, der un¬ terbrochene Tanz bestand. Prinz Koslowöki hatte mir angebo¬ ten, mich in die kaiserliche Burg mitzunehmen. Neugierig, die Phy¬ siognomie der erlauchten Versammlung zu studiren und auch in der Hoffnung, einige neue Details über das große Ereigniß einzusam¬ meln, hatte ich eingewilligt. Die Gesellschaft war eben so zahl¬ reich, eben so glänzend als gewöhnlich. Aber eS war schon nicht mehr die sorglose Ruhe des vorigen Tages. Einige, wenn auch noch leichte Wölkchen lagerten sich um jede Stirn. Hie und da hatten sich Gruppen gebildet. Man sprach rin lebhafter Wärme über die Folgen dieser Flucht hin und her. „Er kann den englischen Kreuzern nicht entfliehen," sagte der Eine. „Pozzo ti Borg» hat versichert," erwiederte der Andere, „wenn er den Fuß auf Frankreichs Boden setze, werde er am ersten Baumast aufgeknüpft werden." So schien sich ein Zeder der lastenden Wirklichkeit des Erwa¬ chens aus dem bisherigen Traume entziehen zu wollen. „Wir können uns Glück wünschen," sagten einige Anhänger der italienischen Bourbons. „In Wahrheit, Buonaparte dient uns ganz nach Wunsche. Er kann nur nach Neapel zu seine Richtung nehmen. So wird sich der Congreß in die Nothwendigkeit versetzt sehen, endlich Maßregeln zur Vertreibung Murat's, dieses Eindring¬ lings und Usurpators, zu nehmen." Indessen hatte die Kaiserin von Oesterreich das Zeichen zum Anfang gegeben; man nimmt Platz, der Vorhang gehr in die Höhe. „Wir wollen sehen," sagte ich zum Prinzen Koslowöki, „ob dieser Vorfall, den man so wenig voraussehen konnte, in die er¬ lauchte komische Bande Unordnung und Verwirrung gebracht hat/' „Sie täuschen sich gar sehr, wenn Sie das glauben. Um diese hartnäckigen Schläfer aufzustören, müßte Hannibal »illo >,ortg,8 sein, müßten die Kanonen des Kaisers wiederum vor Wien's Mauern ihren Donner ertönen lassen. Die Nachricht kam heute Morgen zu Herrn von Tallehrand, als er noch zu Bette lag. Frau Edmund von Perigord saß zu den Füßen seines Bettes und war in fröhli¬ cher Unterhaltung mit ihm begriffen, als man einen Brief des Herrn von Metternich brachte. „ES ist gewiß nur eine Anzeige von der Stunde, wo der Con- greß zusammenkommt," sagte der Fürst. Indeß öffnete die schöne Gräfin mechanisch die Depesche, wirft die Augen hinein und liest die große Nachricht. Nun sollte sie im Laufe desselben Tages sich zu Frau von Metternich begeben, um eine Probe des Stückes.- Der Taube oder das überfüllte Gast¬ haus zu halten. Sie rief daher aus: „Buonaparte hat die Insel Elba verlassen. Ach, mein Gott, was wird nun aus meiner Probe werden, Onkel?" „Sie wird Statt haben, Madame," antwortete ruhig der Dip¬ lomat. „Und die Probe hat wirklich Statt gefunden. Europa steht vielleicht am Vorabend eines allgemein auflodernden Kriegesfeuers. Aber unsre Comödianten werden um so Geringes nicht ihre Hal¬ tung verlieren." Man studirte die Gesichter der diplomatischen Notabilitäten, auf denen sich gewöhnlich so wenig lesen läßt; man durchspürte ihre Blicke, um ihre kleinsten Gedanken darin zu finden. Aber alle äffen-- tirten ein Vertrauen, das ohne Zweifel in ihrem Innern nichts we¬ niger als vorhanden war. Auffallend war die Abwesenheit des Fürsten Tallevrcmd und daS tief bekümmerte, sorgenvolle Aussehen des Kaiser Alexander ward auch allgemein bemerkt. Welche Ursachen hatten Napoleon zu diesem großen Entschlüsse bewogen, der für Frankreich und für ihn gleich verderbliche Folgen hatte? Hoffte er, trotzdem sein Land so geschwächt war, dennoch ein zweites Mal dem ganzen wider ihn verbündeten Europa Stand halten zu können? War er verblendet über die Möglichkeit, fortan mit all diesen Souveränen, denen er früher Gesetze dictirt und welche nun ihrer Seits den Weg nach Paris gelernt hatten, in Frieden zu leben? Oder war nicht seiner Seits diese Flucht von der Insel Elba nur ein Streich der Verzweiflung, um dadurch der Gefangenschaft zu entgehen, die ihn sechs Jahre später, ein Geier an der Leber des modernen Prometheus, auf dem Felsen von Se. Helena langsam zu Tode marterte? Sicher und ausgemacht ist, daß die Gegenwart deö Kaisers mitten im mittelländischen Meere, die Unabhängigkeit, selbst der Schatten von Macht, den man ihm gelassen hatte, auf dem Wiener Congreß mehr als Ein Mal Gegenstand der Besorgniß geworden. Man wußte recht gut, daß in Paris ein weiter Herd der Intri¬ guen, ein Mittelpunkt der Korrespondenz bestand und daß man da¬ selbst mit Vorarbeiten zu einer Rückkehr der Kaiserherrschaft sich emsig beschäftigte. Die Königin Hortensia war die Seele dieses Com- ploteS, das von aller Welt gesehen ward, außer von der verblende¬ ten Regierung der Bourbons. Während des Aufenthalts der Kö¬ nigin von Holland in Baden im Augustmonatc des Jahres 1814 hatte die, seitdem durch ihre mystische Verbindung mit dem Kaiser Alerander berühmt gewordene Frau von Krüdener die Rückkehr vorausgesagt. Es war daher auch gleich vom Anfang der Corse» rcnzen an, aber im größten Geheimniß, die Rede davon gewesen, für ihn einen andern Verbannungs- oder Deportations-Ort auszu¬ suchen. Die Insel Se. Helena ward erst gegen Ende des Januar von Pozzo ti Borgo in Vorschlag gebracht. Er behauptete, Briefe erhalten zu haben, welche anzeigten, daß man in Genua, in Florenz und an der ganzen Küste hin Emisfaire Napoleons festgenommen habe. „Europa," hatte er gesagt, „wird nicht eher ruhig sein, als bis eS den Ocean zwischen sich und diesen Mann gebracht haben wird." Man versichert, daß dem Prinzen Eugen in Folge seiner vertrauten Freundschaft mit dem Kaiser von Rußland dieses wichtige Geheimniß offenbart worden und daß er sich beeilt, Napoleon davon in Kennt¬ niß zu setzen. Nun schwankte dieser nicht mehr, sein Entschluß, nach Frankreich zurückzukehren, stand fest. Von diesem Augenblick an ward auch in Kaiser Alerander's Benehmen gegen den Prinzen Eugen eine merkliche Kälte und Zurückhaltung sichtbar. Wien blieb beinahe fünf Tage ohne Nachrichten. Die Hof¬ feierlichkeiten und Feste kamen wieder in ihren alten Gang. Die allgemeine Besorgniß schien sich nach und nach zu zerstreuen. Aber endlich war kein längerer Zweifel mehr erlaubt; der Donner brach los, Napoleon war in Frankreich. Dieser Abenteurer, wie ihn Pozzo ti Borgo zu nennen sich erfrecht hatte, ward von den Be- volkerungen überall mit begeistertem Enthusiasmus aufgenommen; die Soldaten stürzten ihrem alten Feldherrn entgegen; Nichts hemmte seinen Triumphzug durch Frankreich. Der Fall des Riesen, der uns schon unbegreiflich geschienen, war jetzt minder staunenswerth, als die Wiederauferstehung seiner todtgeglaubten Macht. Man war auf einem Ball bei Herrn v. Metternich, als man Napoleon's Landung zu Cannes und seine glücklichen Schritte erfuhr. Die Nachricht von dieser ebenso unerwarteten, als wichtigen Neuig¬ keit glich dem Schlage mit dem Zauberstab oder dem Pfeifenton eines Machinisten, durch den Armidagärten in eine Wüste verwan¬ delt werden. Es schien in Wahrheit, als wären all die tausend Kerzen, die hier strahlten, auf einmal erloschen. Die Neuigkeit verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines elek¬ trischen Funkens. Der" Walzer wird unterbrochen. Vergebens spielt das Orchester die angefangene Melodie fort; man sieht einander an, man fragt einander; diese vier Worte: Er ist in Frankreich sind das Ubaldoschild, das, vor Rinaldo's Augen gehalten, in einem, Augenblick alle Zaubereien Armida's zerstört. Der Kaiser Alexander trat auf den Fürsten Talleyrand zu. „Hatte ich es Ihnen nicht gesagt, die Sache werde keinen Be¬ stand haben." Der französische Bevollmächtigte blieb unerschüttert und ver¬ neigte sich, ohne zu antworten. Der König von Preußen winkte dem Herzoge von Wellington; beide verließen augenblicklich den Ballsaal. Alexander, Kaiser Franz und Fürst Metternich folgen ihnen sofort. Der größte Theil der Eingeladenen macht sich still aus dem Staube und verschwindet. Nur einige Gruppen erschreckter Plauderer waren in den leeren Sälen zurückgeblieben. Prinz Koölowski, den ich im Laufe des Abends sah, konnte mir nur die dem Publikum schon bekannten, ziemlich in'ö Einzelne gehenden Nachrichten bestätigen." „Da haben die Herrn Troubadours, sagte er, „eine vortreffliche Gelegenheit, eine zweite Vorstellung des allerliebsten Vaudevilles: Der unterbrochene Tanz zu geben. Graf Palfy, der seine Rolle so wunderhübsch spielt, wird vollkommen passend singen können „So ward am Ende denn der Tanz verstört:^ Denn wer ist's, der dagegen sich noch wehrt !" Nur muß man fürchten, daß der Refrain bald von einigen hunderttausend Feuerschlünden wird begleitet werden." v „Diese Nachricht," fuhr er fort, „die mit all ihrem Schreckens¬ gefolge, wie die Schrift der unsichtbaren Hand in BelsazarS Fest, in unsern Ball störend hineinfiel, erinnert Sie gewiß auch daran, daß während der Aufführung eines Balletes, wo Heinrich IV. und Sülly tanzten, obgleich man letzteren gewiß nie unter die guten Tänzer mitgerechnet hätte, dein König gemeldet wurde, die Spanier hätten Amiens erobert." „Meine Herrin," sagte Heinrich zu der schönen Gabriele, indem er ihre Hand ergriff, „jetzt müssen wir unsere Tänze und Spiele verlassen, zu Rosse steigen und einen frischen Kriegestanz beginnen. Genug für jetzt der Liebesfreuden!" Das ist eine Phrase, die jetzt hier in mancherlei Sprachen wird übersetzt werden. Unmöglich ist eS, die Physiognomie zu schildern, welche die öster¬ reichische Hauptstadt von diesem Augenblick annahm. Wien glich einem Manne, der von Träumen der Liebe und des Ehrgeizes in süßen Schlummer eingewiegt, plötzlich durch den grellen Ton der Nachtwächtervfeise und dem Läuten der Sturmglocken erweckt wird, die ihm kund thun, daß sein Haus im Feuer steht. Diese verschiedenen Gäste, die hier aus allen Ländern Europas zusammengeflossen waren , konnten sich nicht ohne Schrecken an die -Phasen der eben abgelaufenen Epoche erinnern. Die unaufhörlich sich erneuernden Unglücksfälle von fünf und zwanzig Kriegsjahren, die Eroberungen der Hauptstädte, die mit Todten übersäeten Schlachtfelder, die gänzliche Stockung des Handels und der Industrie, die Familien und die Nationen in gleicher Trauer, das waren die jammervollen Bilder, die plötzlich aus ihren Geist einstürmten, und welche von dem gräßlichen Flammenschein des bren¬ nenden Moskau eine düstere Beleuchtung erhielten. Freilich konnte man all dem noch frische Repressalien entgegen¬ halten; die Gegenwart der Truppen der alliirten Mächte in Paris war ein hinlänglicher Beweis davon gewesen, daß selbst der so lange Unbesiegte darum doch noch nicht zum Unbesiegbaren gewor- den. Aber gerade diese Erinnerung machte die Angst noch lebendiger. Um den Coloß ein erstes Mal zu stürzen, hatte es schon eines au¬ ßerordentlichen Zusammentreffens von Umständen und, was von noch größerer Bedeutung war, einer solchen Vereinigung und Gleichheit der Gefühle und Gedanken so vieler und so verschiedenartiger Völker bedurft, wodurch die Kraft eines jeden Einzelnen verzehnfacht wor¬ den. Jetzt nun beobachtete man einander, und man sah nur Eines als Wirklichkeit und mit Gewißheit voraus; nämlich die Wiederkehr all jener Uebel, von denen man schon für immer befreit zu sein glaubte. Unter diesen so ernstschweren Verhältnissen entwickelte Herr v. Talleyrand eine Geschicklichkeit und eine Willenskraft, wodurch es ihm gelang, Alles mit sich fortzureißen. Nie war eine Rolle schwieriger gewesen; denn er stand jetzt zugleich der Regierung des Landes, das er repräsentirte, dem Lande selbst, dessen Interessen und Nationalität er retten wollte und den feindlichen Mächten gegen¬ über, welche Napoleon und Frankreich, das ihn so günstig aufge¬ nommen hatte, mit ein und demselben Bannstrahle bedrohten. Ich war zur Zeit der ersten Revolution nicht in Paris; ich habe daher sein Benehmen in jener Epoche nur durch die, oft lügenhaften Be¬ richte der Zeitgenossen kennen gelernt. Aber in Wien war ich Augen¬ zeuge von dem, was er im März des Jahres 1815 für sein Land und für die Bourbons that, und ich stehe keinen Augenblick an zu erklären, daß, wenn letztere ihm ein zweites Mal die Krone ver¬ dankten, Frankreich ihm vielleicht sein Fortbestehen als Nation ver¬ dankt. Er hatte mit feinem feinen Takte begriffen, daß diese beiden tiefinnig mit einander zusammenhingen und eines aus dem andern flössen. Daher rührte denn sein Benehmen und seine Be¬ mühungen, die berühmte Erklärung vom 31. März herbeizuführen. Hier findet nun dieses so vielbesprochene, so mannigfach beur¬ theilte Aktenstück seinen Platz. Die Aufregung hatte in Wien den höchsten Grad erreicht und wurde durch die Aussicht auf einen blu¬ tigen Krieg nur noch gesteigert. Der Enthusiasmus, den Napoleons Gegenwart erregt hatte, die Aufnahme, die ihm von der Bevölke¬ rung zu Theil geworden, die so natürliche Weigerung der Armee, gegen ihn zu kämpfen, dies Alles machte, daß man die ganze fran¬ zösische Nation als Mitschuldige am Bruche des so viel ersehnten Friedens betrachtete. Auch erschrack man über die Rückkehr der revo- lutionairen Ideen, deren Fiebertaumel Europa erschüttert hatte. Der Kaiser von Oesterreich hatte sich an den Czar gewandt und zu hin gesagt: „Sehen Ew. Majestät nun, was davon herauskommt, daß Si.' Ihre Pariser Jacobiner beschützt haben?" „Es ist wahr," hatte Alexander geantwortet; „um aber mein Unrecht wieder gut zu machen, stelle ich meine Person und meine Armee ganz und gar Ew. Majestät zu Befehl." So sollte also der Streit entbrennen zwischen Frankreich auf der einen und ganz Europa auf der andern Seite, ein Kampf auf Tod und Leben, der nur mit dem Leben eines der beiden Kämpfer enden konnte. Auch das Wort Theilung hörte ich aussprechen und Polens Beispiel war ja da, um zu zeigen, daß eine Nation aus dem europäischen Familienverbande gestrichen werden könne. Fürst Tallevrand stellte dagegen als Grundsatz auf, daß 181!» wie ein Jahr vorher Europa nur mit Napoleon, nicht aber mit Frankreich Krieg führen könne. Er manoeuvrirte mit so viel Geschick- lichkeit oder mit so großem Glück, daß er über alle Hindernisse triumphirte, die Gesinnungen derer, die gegen Frankreich feindlich gesinnt waren, gänzlich umwandelte, und die feierliche Anerkennung des von ihm aufgestellten Grundsatzes erwirkte. Zwanzig Mal wohl war der Congreß im Begriffe, auseinander zu gehen und Nichts zu entscheiden, als einen blinden Krieg; zwanzig Mal brachte er diese untereinander so abweichenden Meinungen wieder zur Einigkeit zu¬ rück. Ich weiß, daß gewisse unumschränkte, starre Geister diese Wendungen der Klugheit nicht anerkennen wollen; besser, hat man gesagt, wäre eine Kriegserklärung, eine Drohung völliger Ver¬ nichtung für Frankreich gewesen. Das Land hätte in seiner Ver¬ zweiflung eine übernatürliche Kraft gefunden; es würde mit Ruhm entweder im Kampfe unterlegen sein oder triumphirt haben. Tallevrand aber besaß eine allzu hohe Mäßigung der Gesin¬ nung, er würdigte die Hilfsmittel des geschwächten Frankreich allzu richtig, als daß er zu diesem äußersten gewaltsamen Entschlüsse hätte seinen Rath geben können. Er sah, Europa habe sich erhoben: er lenkte es gegen einen Mann, anstatt gegen ein Volk. Und hierin that er wohl. Sein Benehmen wurde in Wien als der Triumph des Verstandes und eines aufgeklärten Patriotismus gewürdigt und lewundert. Oft kam er aus den Conferenzen völlig entmuthigt in sein HiUel zurück. Noch am Morgen deS 31. März, am Tage, wo jener bedeutungsvolle Act unterzeichnet werden sollte, zweifelte er am Erfolge. Und doch war Alles bereit. Im Augenblick, wo er in den Wagen stieg, um sich zu Metternich zu begeben, bezeugte seine Um¬ gebung eine leicht begreifliche Unruhe. „Erwarten Sie mich," sagte er. „Um Ihrer Ungeduld auch nicht eine augenblickliche Pein zu verursachen, lauern Sie an den Fenstern des Hotels auf meine Rückkehr. Wenn ich den Sieg da¬ von getragen habe, so werde ich Ihnen zum Kutschcnschlage heraus den Tractat zeigen, von dem das Loos Europas und Frankreichs abhängen wird." Wenige Stunden hernach steckte er die Rolle zum Wagenfenster heraus, welche den Frieden enthielt, der wieder zum Schiedsrichter des Krieges geworden. Einen Augenblick zuvor noch schien diese so mühsam errungene Beistimmung wieder im Begriffe zu zerfallen, als man nämlich die Flucht vom 20. März erfuhr und daß Napoleon in die Tuilerien eingezogen sei, ohne daß er einen Schwertschlag zu thun gebraucht. Besonders konnte Kaiser Alexander nicht be¬ greifen, daß die Familie der Bourbonen auch nicht den geringsten Widerstand versucht und daß nicht ein Vertheidiger sich sür sie erho¬ ben habe. Ich begegnete an demselben Morgen dem General Uwaroff: „Der Kaiser," sagte er mir, „kann aus dem Erstaunen noch gar nicht herauskommen; er ist deS Krieges müde und er hat erst heule mehr als zwanzig Mal zu mir gesagt: Nein, nein, ich werde mein Schwert nicht mehr für sie ziehen."' Es bedürfte nun von Seiten Talleyrandö neuer Wunder von Äeduld und Geschicklichkeit, um den Bund wieder zusammenzuknüpfen und all diese auseinanderstrebenden Willenömcinungen nach einem Ziele hinzurichten. ----Die Massen bemerkten mit Entsetzen, wie der Hori¬ zont sich von Neuem mit drohenden Wolken belaste, die Ehrgeizigen aber sahen mit Freude, daß die gute Zeit für ihren Ruhm zurück¬ kehre; denn, man kann es nicht läugnen, die Intrigue, die schon thätig war, um Napoleon zu stürzen oder zu stützen, hatte die Aus¬ sicht auf ein schnelles Resultat von Größe und Reichthum. Der Congreß ist aufgelöst, hatte Napoleon gesagt, als er bei Cannes den Boden Frankreichs betrat. Und doch spielte am eilften März mitten unter dem allgemeinen Schreck, das Liebhaber- theater noch im Redoutensaale. Diese unzeitige Vorstellung bestand aus dem Kauf von Bagdad und den Nebenbuhlern ihrer selbst; aber es hatten sich nur wenig Neugierige dahinbegeben, freilich immer noch in größerer Anzahl, als man gemeint hätte. Aber eS war dies nur das letzte Aufflackern eines erlöschenden Lichtes, der letzte schwache Ton eines verschallenden Instruments. Das Vergnügen ist entflohen, der Congreß ist aufgelöst. Briefe aus Wien. Zweiter Brief. Die Illusionen über den Anschluss an den Zollverein. Handels- und Postvcrlräge. Fanny Eloler und die Enthusiasten. Das Mozartsche in Salzburg. Die Salzvui'gar Aufnahme der Fremden. Zeremiaden. Ich komme auf die Eisenbahnen, die der Staat baut, zurück und auf den Einfluß, den sie auf die Handelsverhältnisse zum Aus¬ land in nicht gar langer Zeitfrist ausüben müssen. Hier bietet sich ein Feld dar, auf dem sich die deutsche Journalistik seit Kurzem mit patriotischer Ertase getummelt und aus dem Dasein eines Baumes schon auf das Dasein eines Volkes geschlossen hat. Läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß die im Bau begriffenen Eisenbahnen, welche durchweg bis an die Grenzen oder bis ans Meer gebaut werden, nur bei einem erleichterten Verkehr mit der Fremde möglicherweise einen leidlichen Ertrag — Gewinn wäre zu kühn gesagt — abwerfen können, so vermag doch nur die Phantasie der Zeitungsschreiber oder der germanische Enthusiasmus in Deutsch¬ land daraus einen gänzlichen Anschluß Oestreichs an den Zollver¬ ein herzuleiten, denn die Monopolschwierigkeiten sind einmal zu groß und würden eine durchgreifende Umgestaltung der gesammten Steuer- Verfassung erfordern, auch ist die Finanzlage der Monarchie zu proble¬ matisch, um kommerzielle Experimente dieses Umfangs zu erlauben. Was Oestreich gewiß thun wird, ja besser gesagt, thun muß, be¬ schränkt sich so ziemlich auf einen, vielleicht sehr günstigen Handels¬ vertrag mit dem deutschen Zollverein, welcher dem Kaiserstaat ander¬ weitig nicht die Hände bindet; ein gänzlicher Anschluß erscheint der östreichischen Staatskunst aus mehr denn einer Ursache sehr bedenk¬ lich, denn die Industrie der deutschen Vereinslande ist jener der Monarchie in den meisten Stücken weit überlegen und namentlich dürste der Waarenzug aus dem industriellen Preußen den östreichi¬ schen Gewerbfleiß gar hart beeinträchtigen, und die Geldquellen des Landes aussaugen. Preußen würde durch einen Anschluß des Kaiserstaates seine Blüthe vermehren und mit ihm seinen allerdings ganz gerechten Einfluß in Deutschland, dem doch dieser Schritt haupt¬ sächlich entgegenarbeiten sollte. Die österreichische Regierung würde durch einen solchen Schritt sicherlich einen großen Vortheil wieder gewinnen. Aber der Wohlstand der Provinzen? 35 Wünscht der Kaufmann auch eine Erweiterung des österreichi¬ schen Handclsgebieteö um jeden Preis, so muß dagegen der Fabri¬ kant, der von der Concurrenz der deutschen Industrie Alles zu fürcht den hat, ganz Entgegengesetztes wünschen uns die Regierung muß daher ohne Zweifel ihre Entschlüsse solchergestalt fassen, daß die widerstrebenden Ansichten der Betheiligten vermittelt werden, und eine wesentliche Erleichterung in Handelsbeziehungen eintreten, ohne sich deshalb dem Zollverein ganz hinzugeben»). Auf diese neue Phase im Verkehr weisen auch schon die Veränderungen im Postwesen hin, die man wahre Verbesserungen nennen kann, was nicht immer der Fall ist. Handel und Post bedingen sich wechselweise und die Re¬ form der letztern muß den Veränderungen im Erstem jedesmal vorangehen. Hofrath Ottenfeld hat bekanntlich in München mit der königlich baierischen Regierung einen vortheilhaften PostVertrag abgeschlossen, welcher die Nothwendigkeit des Frankirenö aufhebt und dem correspondirenden Publicum vielfach zu Statten kommt; dieser Vertrag ist den mit Baden, Würtemberg, Sachsen und Preu¬ ßen angeknüpften Unterhandlungen zu Grunde gelegt und dürfte sonach der Anfang einer neuorganisirten Postverbindung mit ganz Deutschland werden. Nachdem sich das Gerücht lange genug mit dem ersten Wie¬ deraustritt der Fanny Elster beschäftigt hatte, erscholl endlich in al¬ len Zeitungen und ni allen Ecken der Straßen die Jubelkunde: Fanny Elster wird tanzen, nemlich im Hofoperntheater und noch dazu zum Vortheil einer Kinderwarteschule, welche sich zwar ein Haus gekauft, aber eS nicht bezahlt hatte. Der wohlthätige Zweck: für eine Kinderwarteschule, entwaffnete selbst den moralischen Zorn der tugendstrengen Frauen, die es sonst der freundlichen Tänzerin niemals verzeihen konnten, durch ein leichtes Lächeln — und Elster lächelt immer — Eroberungen gemacht zu haben, um die sie sich .jahrelang bemüht hatten. Der Zudrang um die Billete zur Vor¬ stellung war beispiellos; die Logen waren im Nu vergeben und ein *) Ein in ganz entgegengesetztem Sinne sich aussprechender Aufsatz, den die Grenzboten in einer ihrer nächsten Lieferungen bringen werden, weist mit überwiegenden Gründen die Vortheile nach, die Oesterreich ftrbst on6 einem D. Red. Anschlusse an den Zollverein erwachsen würden. — Sperrsitz im Parterre, obschon blos zu 5 Gulden angesetzt, ward dennoch auf 15 Gulden hinaufgetrieben. In manchen Familien wurde eine ganze Woche hindurch Nichts gegessen, um sich für den heiligen Tag vorzubereiten und das Eintrittsgeld zu ersparen. Da sage noch Einer, die Wiener seien nicht wohlthätig! Es sind wahre Engel der Wohlthätigkeit, besonders wenn sie für ihr liebes Geld auch ein Spectakel in den Kauf mit bekommen. Und daß es an Spectakel nichl fehlen würde, das sagte eine allgemeine Ahnung in der Menschheit Wiens. Der Lokalpatriotismus und die Fashion mischten sich auch darein und verrückten den Kaltblütigsten den Kopf. Fanny mußte jede Piece wiederholen und that es mit der freund¬ lichsten Grazie; als am Schlüsse der Beifall nicht enden wollte und sie nicht wußte, was das Publicum eigentlich von ihr verlange, er¬ klärte ein Herr aus der Loge heraus: man wünsche die Cachucha. Fanny wiederholte das Wort und sprach nicht wie bisher allgemein üblich: „Katschuka," sondern „Kaschuscha," was die Wiener ganz frappirt aufnahmen und sich Jeder ganz in der Stille in sein Fremdwörterbuch einzeichnete. Der Hof blieb gleichfalls so lange im Theater, bis sich die Elster ihrer polnischen Kleidung entledigt und in die spanische Nationaltracht geworfen hatte. Auch der Her¬ zog von Leuchtenberg mit seiner schönen Gemahlin befand sich in der Hofloge, da er eben am kaiserlichen Hoflager auf seiner Reise nach Italien verweilte. Die Enthusiasten begleiteten den Wagen der rei¬ zenden Terpsichore bis in ihre Wohnung und sollen ihr einige Sacktücher und andere Kleinigkeiten abgebettelt haben, die sie so¬ dann brüderlich unter einander theilten. In den nächsten Tagen sing jedoch der Katzenjammer an. Ein eitler Kunstjünger prägte Medaillen auf die Löwin der Saison und die halbe Männerwelt schwitzte am Schreibtisch, um galante Liebesseufzer in Verse zu bringen, die sodann von jenem Theil der Journalistik, der sich die Aufnahme von dergleichen Schmierereien init einem PränumerationS- betrag honoriren (?) läßt, in Fülle in's Publicum geschleudert wurden, das sie glücklicher Weise nicht lesen wollte. Von dem Mozartfeste in Salzburg kann ich Ihnen nicht eben das Beste melden. Wenn auch mit der Anwesenheit der Kaiserin- Wittwe und des baierischen Hofes beehrt, fehlte der Künstlerfeier dennoch jener glänzende Verein musikalischer Celebritäten aus ganz 35-i- Europa oder wenigstens von Deutschland, den man bei dieser Ge¬ legenheit erwarten durfte und der sich dadurch nur selbst geehrt hätte, denn Mozart steht viel zu hoch, um von Leuten wie Beriot, Thalberg und dergleichen erst die Weihe der Anerkennung zu er¬ halten. Allein zum Theil steckten sich die hohen Geister der Mu¬ sikwelt hinter dringende Geschäfte. Sie, die in ihrem ganzen Leben nichts zu thun haben als „den Interessen der Kunst (!)" zu leben und den Erdball mit Siebenmeilenstiefeln zu durchrennen, fanden nicht Zeit genug, um dreißig oder vierzig Meilen zu einem echten, weihevollen Kunstfeste zu pilgern, zu der Ehrensäule eines unver¬ gänglichen Meisters, dein so zu sagen alle diese zwerghaften Epigo¬ nen ihren Ruf und ihr Brod verdanken! Auf der andern Seite ließ es aber auch daS Comite an Aufmerksamkeit mangeln und über¬ haupt ist Salzburg zu sehr vom spießbürgerlichen Kleingeist beherrscht, um sich in dem genannten Fall mit all jener Zuvorkommlichkeit und urbaren Politesse benehmen zu können, die man an andern Orten bei dergleichen Gelegenheiten gefunden hat. Die Bürger thaten nichts für die erwarteten Fremden, deren Börse ihr alleiniges Ziel blieb und es gab Menschen, welche für ein Zimmer l5 Gulden täglich verlangten K), doch zum Glück war die Geldgier der Salz- burger größer gewesen, als der Zudrang der Ankömmlinge, und da über 300 Zimmer und Betten leer blieben, so ließen die ehrlichen Leute halv mit sich handeln. Reisende, welche die Gutenbergsfeier in Mainz oder nur das Musikfest in der Heidelberger Schloßruine gesehen, versicherten einstimmig, es habe in Salzburg an jeder lau¬ ten echten Volkölust gefehlt,, wie man sie am Rhein so schön und, erhebend finde, und die Leute hätten sich zwar streng polizeilich, aber auch und eben deshalb sehr albern benommen. Für die Unterhal¬ tung der Fremden, unter welchen das musikliebende Prag am stärk¬ sten und das musikprunkende Wien am spärlichsten vertreten war, hatte man sehr wenig gesorgt und ich kenne Personen, die sich an den langen Vormittagen herzlich gelangweilt haben. Die geringe Was das letztere betrifft, so könnten die frommen Cölner sich behaglich den Bauch streicheln und mit gottseliger Blicken ausrufen: So haben wir es auch gemacht! D. Red. Aufmerksamkeit, die man den Festbesuchern erwies, war noch über¬ dies sehr kastenmäßig vertheilt und die Befahrung der nahen, hell- erleuchteten Saline unter der schallenden Bergmusik der Knappen wurde mit aristokratischer Etikette blos den hundert vornehmsten Gästen zugedacht, indeß die Uebrigen zusehen konnten, wie die Kühe machen, wenn sie von der Alpe kommen und die Bauern sich im Ringkqmpfe auf die kunstgerechteste Weise den Schädel einschlagen. T a g e b u es. Gutzkow und die deutschen Kleinstädter. Man muß es den deutschen Literaten nachsagen, sie wissen alle Erwartungen zu übertreffen. Wenn man alle Winkel des deutschen Philisterthums gehörig studirt zu haben glaubt, so steigt der ehrliche Michel plötzlich von einer ganz andern Seite auf und zwingt uns Bewunderung sür seine unendliche Mannig¬ faltigkeit ab. Dies haben wir neuerdings bei der Beurtheilung der Gutzkow- schen Briefe gesehen. Es war vorauszusagen, daß diese Briefe auf viele Gegner stoßen würden. Wenn man ein so abgespieltes Thema, wie eine Reise nach Paris, beschreibt, so muß man neue Gesichtspunkte aufstellen; wie, sollten sich da die alten vorgefaßten Meinungen nicht dagegen auflehnen? Offenbar hat Gutzkow im Drange Neues zu sagen, sich verleiten lassen, manche Dinge auf den Kopf zu stellen. Es ist aus vielen Seiten dieser Briefe ersichtlich, daß ihr Verfasser, noch bevor er manche Personen oder Zustände persönlich zu Gesichte bekam,sein Urtheil über sie in sich trug und die persönliche Anschauung nur dazu aufsuchte, um sie besser motiviren zu können. Man kennt Paris, ohne dort ein Gamin gewesen zu sein — wie, komisch genug — ein Correspon- dent der Augsburger verlangt. Man reist nach der Hauptstadt Frankreichs nicht wie ein Naturforscher nach Centralamerika reist, um über Menschenracen und unbekannte Landstriche einen wissenschaftlichen Rapport abzustatten. Jeder Gebildete trägt ein fertiges Bild von Paris in sich. Und so ging es auch Gutzkow. Er kam mit Sympathien und Antipathien und suchte neue Belege. Dabei kann man freilich sehr oft die Wahrheit verfehlen. Aber die Charakte¬ ristiken Guizot's und Thiers', die Bemcrkunqen über Michel Chevalier, die deutschen Flüchtlinge, das Communistcnftst u. s. w. sind vortrefflich und über¬ raschend. Daß Gutzkow manchen Eindruck, manche mißverstandene Conversation leichtsinnig und flüchtig aufgezeichnet hat, darüber könnten wir, hier in Bel¬ gien vielleicht am ersten, uns beklagen. Bon dieser Seite wird Gutzkow selbst freiwillig sich der Kritik hingeben. Die ganz intuitive Gestaltung dieser Briefe zeigt, daß ihr Verfasser nur Eindrücke und Ansichten, nicht aber unumstößliche Behauptungen aufstellen wollte. Wenn ein anderer Kritiker der Allg. Zeitung breite Auseinandersetzungen von einem Buche verlangt, das nur die Stimmun¬ gen der Gegenwart andeuten und die Anschauungen eines deutschen Schrift¬ stellers schildern soll, der zu dem Glauben berechtigt ist, daß seine Landsleute sich fürscinUrtheil interessiren, —so hat erden StandpunktdcsNieisendcn verkannt, Immerhin jedoch liegt eine solche Kritik in dem Kreise einer gewöhnlichen Polemik, zu der Jedermann berechtigt ist, dessen Erwartungen ein Buch nicht entspricht. Wenn aber die literarischen Krähwinklcr in ihrer tiefen Weisheit pfiffig auf die Schnupftabaksdose klopfen, und mit blinzenden Augen zu verstehen geben, daß diese Gespräche bei den politischen und literarischen Celc- vritätcn Frankreichs nur eine dramatische Erfindung seinen und Gutzkow eigene. lich weder Guizot noch Thiers zu Gesichte bekam, weil diese Herren viel zu sehr beschäftigt sind, um ihre Thüre einem reisenden Schriftsteller zu öffnen;— dann muß man sich im Stillen fragen: Ist es nicht natürlich, daß man diesen deutschen Literaten von oben herab so vornehm und geringschätzig begegnet'? Ihnen, die es nicht verstehen, sich selbst zu achten und die Stellung, die sie in der Gesellschaft einnehmen sollten, nicht nur nicht zu behaupten, sondern nicht ein¬ mal zu begreifen wissen. Es wäre lächerlich, auf diese Zweifel eine Antwort zu geben, da es keinem der Berichterstatter aus Paris, er möge das Buch loben oder tadeln, in den Sinn gekommen ist, in dieser Beziehung Gutzkow der Unwahrheit zu zeihen. Solche kleingeisterische, krähwinklerische Bedenklich- keiten können nur im lieben Baterlande entstehen; sie geben einen traurigen Krankheitszustand unsererVerhältnisse zu erkennen, der so vielen Schriftstellern das Gefühl ihrer Würde raubt. In der traurigen Gedrücktheit der deutschen Verhältnisse vergessen sie es, daß sie Mitglieder jener edlen und glänzenden Klasse der Gesellschaft sind, deren Bewegungen den eigentlichen Maßstab zur Beurtheilung einer. Ration geben; daß sie jener privilegirten Klasse von Männern angehören, aus deren Mitte nicht nur Frankreich und England, son¬ dern auch Deutschland einen Theil seiner Staatsminister rccrutirt hat. Ver- funkelt in den kleinbürgerlichen Schlamm des deutschen Kastengeistes, ist ihnen der große, freie Begriff der Gesellschaft noch immer nicht klar. Sie können sich nicht zu dem Gedanken erheben, daß in dem Salon eines französischen Staatsmannes nicht nur^besternte und betitelte Personen, sondern auch die Künst¬ ler, die Schriftsteller, d. h. die Männer ihres Gleichen, die unter dem Knopf¬ loche Nichts, als ihr Talent in der Brust haben, einen Mittelpunkt finden. Auch Schriftsteller von weniger Ruf, als Gutzkow, wenn sie, mit den gehörigen Einführungsbriefcn versehen, nach Paris kommen, werden in allen Cirkeln (etwa die Faubourg Se. Germain ausgenommen) Zutritt finden, bei dem Minister, wie beim Pair. Gutzkow aber ging obendrein ein halb politischer Ruf zur Seite. Er war einer der Häupter des jungen Deutschlands, was in's Französische übersetzt un eilst ar I'iiitoi-Jiew <1v -ufte vt qui a neu prisoiiisi- I>oIIti^us <1ans »»t! ^ortervssv allöinicuclL, ete. Und Thiers sollte nicht beide Thüren einem solchen Gaste öffnen, von dem er vielleicht im Stillen den Beweis erwartete, daß er in seiner Rechnung auf das ,'revolutionaire Deutsch¬ land sich doch nicht'betrogen habe? Und warum geradeThiers und Gutzkow? War¬ um sollte überhaupt ein deutscher Schriftsteller in Frankreich nicht eben so viel sein, als ein französischer in Deutschland ? Sind Michel Chevalier, sind Mistreß Trollopc, und um ein allerncustcs Beispiel zu wählen, sind dem Bicomtc d'Arlincourt die deutschen Salons verschlossen geblieben? Freilich der Vicomte ist von Adel und, vergessen wir es nicht, Legitimist; aber Emile Girardin, der von dem glänzendsten und geehrtester deutschen Staatsmanne einen freundlichen Em¬ pfang aus dem Johannisberg erhielt, ist weder von Adel und noch viel weni¬ ger legitim. Ihm gingen nicht einmal so unbescholtene Antecedentien voraus, wie Gutzkow. Wenn übrigens einige Pariser Berichterstatter in deutschen Blättern behaupten, Gutzkow habe durch die Indiscretion, womit er Einzelnes ausgeplaudert hat, anderen Schriftstellern, die nach ihm kommen, den Zutritt erschwert, so ist das eine Unwahrheit und eine Uebertreibung. Jedermann weiß in Frankreich, daß der reisende Schriftsteller seine Eindrücke zu Papiere bringt — und Herr Alexander Dumas und seinesgleichen haben ganz andere Jndiscrctionen in ihren Im^ressions ils voMxs begangen, als unser Pariser Briefsteller. — T h o r w a l d s c n. Die von allen Seiten mit vollem Rechte gerühmten Sonntagsblätter, welche Ludw. Aug. Fränkl in Wien herausgibt, bringen namentlich sehr häu¬ sig höchst interessante Artikel im Gebiete der bildenden Kunst. Fränkl selbst ist ein trefflicher Kunstkenner und hat seinen Geschmack auf Reisen durch Italien und den Umgang mit großen Künstlern geläutert und ausgebildet. Eine der letzten Nummern seines Blattes bringt aus der Feder des Redakteurs folgende Bemerkungen über Thorwaldsen: Nicht leicht kann man zu dem Ruhme eines großen Bildners eine ent¬ sprechendere Erscheinung, als die des Thorwaldsen ist, sich denken: hoch und stämmig, aufrechte Haltung, weiße Haare, die gewaltig und reich wie Mähnen bis auf Nacken und Schultern fallen, blaue Augen, leuchtend, wie die des Braga, gesunde Färbung, nordischer Ernst in den Suger, die tieftönende Sprache, all dies vereinigt sich zu einem Ganzen, das Ehrfurcht einflößt, und wäre er auch kein Nordländer, und sein Name nicht mit dem nordischen Gotte verwandt, man wäre an einen solchen gemahnt, wenn man durch seine Tem¬ pel — zu diesen hat er seine drei Ateliers geweiht — schreitet. Ich sah ihn zum ersten Male bei dem Abschicdsfestc, das die deutschen Künstler in Rom dem Professor Wagner aus Baiern nach Vollendung seiner schönen Basreliefs gaben, als er diesem einen Lorbeerkranz aussetzte, und ich zähle es mit zu den schönsten Erinnerungen, daß ich mit ihm, als seine Gesundheit ausgebracht wurde, anklingen durfte und abweichend von Makbcth darf ich nun sagen: „Ich habe mit Unsterblichen zu Nacht gegessen." Bei keinem Künstlerfcste fchltThorwaldsen, er ist der glänzende Punkt des römischen Künstlcrfestes, und wenn man ihn von Heiterkeit umstrahlt, wie beim Wagnerfeste, sich wie im Tanze lustig bewegen sieht, so glaubt man die Sage von ewiger Künstlcrjugcnd verwirklicht. Thorwaldsen hat in zwei langen, lichten, Wagcnrcmisen ähnlichen Gebäuden die GipSabdrücke seiner meisten Werke. Hier stehen Christus und die Apostel, die im Geiste der besten Alterthümer entworfene Bergpredigt, sein Alcranderzug, die Grazien, die cmakreontischcn Basreliefs, Venus, die Statue Byron's, Guttenberg's; Helden und Götter, alles in bunter Versammlung eine Welt, in der man Tage lang sich bewegen muß, bis man ihrer zur Erin; narung Herr geworden ist; es ist aber eine Erinnerung, die sich für's Leben einprägt. Noch war es mir gegönnt, die Schillerstatue in der Werkstätte zu sehen, einige Tage vor der Absenkung nach Deutschland. Hier aber formt und meißelt Thorwaldsen nicht; jeden Sonntag Bormittag öffnet er freund¬ lich auf dem nördlich vom Quirinal gelegenen North z>ineio seine Galerie jedem Fremden. In fünf mäßigen Zimmern hängen Bilder, welche nur von modernen, jetzt in Rom lebenden Malern herrühren. Wenn man nicht lauter Kunstwerke sieht, so entspringt das aus dem edlen Beweggrunde, daß der große Meister, gewöhnlich um einen Künstler zu unterstützen, oder aus ihn die Aufmerksamkeit zu lenken, ihm ein Bild sür seine Galerie abkauft. Doch sind auch Werke darunter, wie die des charakteristischen Dänen Meyer, des ein halbes Jahrhundert schon in Rom wirkenden geiht- und liebreichen Rein» hart, des farbenlieblichen Pollack, Ritt, Kirner u. s. w. die nicht aus jenem Grunde allein angekauft scheinen. Thorwaldsen stand an einer Statue des letzten Hohenstaufen modellirend, welche der Kronprinz von Bai- ern bestellte, um sie in der Kirche 8. Nari-» <-i- it»wina ZiUiylvnis. Die Schweiz, die freie Schweiz, holte sich den Sänger einer unter¬ gegangenen Freiheit in ihre Mitte, bis ihn Frankreich wieder in seinen Schooß zurückrief, um ihm eine große und schöne Mission zu übertragen. Unter den mancherlei nützlichen Einrichtungen, welche den kurzen Aufenthalt Cousin's im Ministerium des öffentlichen Unterrichts be¬ zeichnet haben, ist die Erschaffung einer Professur am College de France für slavische Sprachen und ihre Literatur unstreitig eine der nützlichsten und für die Zukunft erfolgreichsten. Der Gesetzentwurf, den der Minister hierbei den französischen Kammern vorlegte, begeg¬ nete daher auch auf allen Bänken derselben einem fast einstimmigen Beifall. Eine zu ihrem eigenen Nachtheil sehr eigenthümlich ab¬ stechende Ausnahme machte jedoch hier der (wie ihn Cousin in seiner Entgegnung mit Shakspeare'sehen Spotte nannte) sehr ehren¬ werthe H. Anguis, einer jener in Kleinigkeiten haushälterischer Menschen, die sich eine Volkstümlichkeit zu erwerben suchen, indem sie eine ganze Sitzung hindurch kämpfen, um von einem Budget von tausend Millionen fünf Franken abzuzwacken. Dies Mal aber war es nicht gerade eine Oekonomie der Art, weshalb H. Auguis von der neuen Professur Nichts wissen wollte, sondern eS war Pa¬ triotismus. Der Ehrenwerthe hatte nämlich die Entdeckung gemacht, eS verstoße durchaus gegen alles Nationalgefühl, wenn man eine Untersuchung über den geistigen Zustand eines Volksstammes anstelle, der wohl sechzig Millionen zählt, der die Hälfte Europas und ein Drittel Asiens bewohnt oder beherrscht, und von. dem die Franzosen damals nicht viel weiter wußten, als daß er zwei Ma! den Weg nach Paris gesunden habe und daß sein einer Arm ein Constantinopels Mauern sich lehne, während der andre hart an ti chinesische Mauer stößt. Herr Anguis hatte gesunden, ein Studium über den Geist dieses Volksstammes, wie er sich in seiner alle,! Zweigen gemeinsamen Muttersprache, dem Slavischen und in dessen 36» vier großen Dialecten, dem Polnischen, Russischen, Böhmischen und serbischen kund giebt, ein solches Studium sei etwas eben so Abge¬ schmacktes als Unnützes, und eS würde viel nationaler, wie auch logischer sein, wenn man eine Professur für die Dialecte Frankreichs, wie z. B. Baskisch, Altbretannisch u. s. w. errichtete. Eine letzte Entdeckung, welche Herr Anguis noch gemacht hatte, war nach seinen eigenen Worten die „es sei der Würde der fran¬ zösischen Nation nicht angemessen, an einem französischen Institut einem Fremdling eine Stelle zu verleihen." So äußerte sich der Patriotismus des Herrn Auguis, der Frankreich mit einer chinesi¬ schen Mauer umgeben möchte. Der Fremdling dachte offenbar an diesen Deputirten, als er bei Eröffnung seiner Vorträge die Worte sprach: „Vor etwa zwei tausend Jahren sprach Tacitus zu den auf¬ merksamen Römern von jenen Barbaren, den Germanen, welche zwar noch in ihren Wäldern umherstretsten, aber schon die Zukunft der Welt in ihren Händen trugen. Erinnern Sie sich, meine Herren, daß Sie Abkömmlinge dieser germanischen Barbaren sind." Wir unsrer Seits glauben, daß Herr Auguis, der das Slaven- thum und seine Wichtigkeit so gering anschlägt, eher in gerader Linie von jenen unaufmerksamer Römern abstammt. Was endlich die Sache an und für sich betrifft, so ist hier nicht der Ort dafür, sie gründlich zu besprechen; wir verweisen deshalb unsre Leser zunächst auf die officiellen Documente, als da sind: das Vorwort des Ministers zum Gesetzentwurf, worin er dessen Beweggründe auseinandersetzt, so wie die Rede des Ministers und deö Deputirten Denis zu Gunsten des Gesetzentwurfes. Endlich können wir auch daS Buch des Herrn Eichhvff über slavische Sprache und Literatur nicht unerwähnt lassen, obzwar es nicht ganz vollständig ist. Es war aber mit dem bloßen Beschlusse noch nicht genug ge¬ than. Wollte Frankreich wirklich diese vier eben so reichhaltigen als großartigen und mannigfachen Literaturen zu seinem intellectuellen Besitzthum machen; wollte es mit einem ihm unbekannten und furchtbaren Volksstamme in geistigen Zusammenhang treten; wollte es ihn in seiner Vergangenheit studiren, um seine Zukunft voraussehen zu tonnen: so mußte es einen Mann finden, der sähig war, diese Untersuchung zu leiten und ihre Resultate umfassend darzustellen. Es mußte dieser Mann mit der allgemein classischen Bildung und der Kenntniß der modernen Literaturen Frankreichs und der andern Völker des westlichen Europa nicht allein die vollständige und genaue Kenntniß der slavischen Sprachen und Li¬ teraturen verbinden, sondern er mußte im Slaventhum eine so hohe literarische Stellung einnehmen, daß dieses in allen seinen Zweigen ihn als seinen würdigen Vertreter anerkennen konnte. Es mußte dieser Mann endlich die Sprache seines neuen Adoptivvaterlandes geläufig sprechen und schreiben können, damit in seinen Vorträgen nicht der Gedanke des einschmeichelnden Gewandes der schönen Dar¬ stellung entbehre; denn es waren ihm Zuhörer bestimmt, welche in andern Fächern die berühmtesten Redner Frankreichs von den Ka¬ thedern herab gehört hatten oder noch hörten. So schwer es nun auch war, einen solchen Mann zu finden, so hat man ihn doch gefunden. Der bejammernswcrthe Untergang einer Nation von Hel¬ den hatte ihn nach Frankreich geführt. Es war derselbe reisende Sänger, von dem wir oben gesprochen und dessen gewaltige Stimme Göthe so gern vernommen hatte. Es war der große Dichter Po¬ lens, der Byron des katholischen Nordens, der Sänger deö Kon¬ rad Wallenrod und der Dziady, er war Adam Mickiewicz, ein anderer Dante durch seinen feurigen Glauben, sein Genie und seine Verbannung. Von Cousin war es ein um so größeres Ver¬ dienst, daß er den Geächteten aus seiner Verborgenheit hervorzog da er, gleich so vielen andern leicht beleidigten klein-großen Männern unserer Zeit, dem Dichter persönlich hätte grollen können, weil ihm dieser er seinem „Buch der polnischen Pilgerschaft" den ziemlich originellen Beinamen einer leeren Mühle gegeben hatte. Adam Mickiewicz ward gegen das Ende des Jahres 1798 in Nowogorodek, einer kleinen Stadt Lithauens geboren, wo sein Va¬ ter bei einem Gerichte unterster Instanz Advocat war. Seine Fa¬ milie gehört zu den ältesten des Landes; einige Genealogen behaupten sogar, sie sei von demselben Stamme, wie die des Prinzen Giedroyn; sie war aber in Folge der politischen Umwälzungen des Landes in ihren Vermögensumständen herabgekommen. Unser Dichter hat meh¬ rere Brüder. Der eine davon, Alerander Mickiewicz ist ein ausge¬ zeichneter Rechtsgelehrter, der vor dem polnischen Aufstande an dem Lyceum von Krzemieniec in Volhynien die Stelle als Professor des römischen Rechts bekleidete. Sein ältester Bruder, Namens Franz, der durch einen organischen Fehler seit seiner Geburt an allen Glie¬ dern gelähmt gewesen war, hatte bis zum Augenblick, wo im Jahre 1831 die lithauische Revolution ausbrach, im elterlichen Hause, fast stets bettlägerig gelebt. Kaum aber waren die ersten Kanonen>chüsse ertönt, so warf er seine Krücken fort, stieg zu Pferde, machte mit den Insurgenten den ganzen Feldzug mit und legte erst nach der unglücklichen Katastrophe, in Preußen die Waffen nieder. Der junge Adam machte in der Distrietsschule seines kleinen Geburtsortes seine ersten Studien; die Mönche vom Dominicancror- Äen, welche derselben vorstanden, flößten ihm frühzeitig die Liebe zur Arbeit ein, so wie jenen lebendig aus seinem Gemüth quellenden, aufrichtigen, religiösen Glauben, der ihm durch sein ganzes Leben hindurch ein treuer Begleiter geblieben. Als Kind zeigte er eine große Borliebe für Chemie. Da sich in seinem elterlichen Wohn¬ hause eine Apotheke befand, so verschaffte er sich daselbst den nöthi¬ gen Apparat, um die Experimente zu Haus zu wiederholen, mit de¬ nen einer der Dominicaner, ein nicht ungeschickter Chemiker, die Au¬ gen des Knaben entzückt und geblendet hatte. Dieser Geschmack für Physik und Naturwissenschaften überhaupt ist übrigens bei Mickie- wicz lange vorherrschend gewesen und mehrere seiner Gedichte zei¬ gen sogar von ziemlich ausgedehnten Kenntnissen in diesen Fächern. Ein seltsames Zusammentreffen, das wir eben deshalb hier nicht unerwähnt lassen können, ist der Umstand, daß um dieselbe Zeit ein nicht viel älterer deutscher Dichter lebte, der gleich Mickiewicz ein glühender Patriot war und der ebenfalls, gleich Mickiewicz, sich zu¬ erst mir dem Studium der Naturwissenschaften sogar praktisch in den unterirdischen Gängen eines Bergwerkes beschäftigt hatte, ehe er Lieder deö Kampfes und der Freiheit sang. Diesem aber ward vom Glücke vergönnt, Was er so oft gefeiert,mit Gesang, Für Volk und Freiheit ein begeistert Sterben. Ihn raffte in seinem zwei und zwanzigsten Jahre eine feindliche Kugel fort, noch ehe er sein poetisches Talent zur vollkommenen Reife hatte bringen können. In Mickiewicz's Herzen »erweckte er vielleicht den ersten Funken deö patriotischen Feuers. Es war dies Theodor Körner, der Jäger und Sänger von Lützow's wilder, ver¬ wegener Jagd. Bald aber erwachte auch in dem jungen Polen der Geschmack zur die Poesie und errang sich das Uebergewicht vor allen seinen /indem Neigungen. Sein Vater, ein großer Bewunderer von Jo¬ hann Kochanowski, den die Polen als ihren berühmtesten Dichter och sechzehnten Jahrhunderts betrachten, machte zuweilen Verse. Der Knabe lauschte gierig auf die Worte des sie vorlesenden Va¬ ters und bald schrieb er selbst, angeregt durch einen Brand, der in seinem kleinen Städtchen ausbrach, einige Strophen hierüber, in de¬ nen schon die ersten Keime jenes beschreibenden Talentes glänzend an den Tag traten, das er später in so hohem Grade ausgebil¬ det hat. Nachdem er auf dem Gymnasium zu Minsk seine Vorstudien ,certet hatte, bezog er 1815 in einem Alter von siebzehn Jahren )le Universität Wilna und wollte sich dort der Mathematik und den Naturwissenschaften widmen, welche unter andern ein entfernter Ver¬ wandter seines Vaters, Abb« Mickiewtcz, lehrte. Ehe er an der Facultät inscribirt wurde, hatte er gleich allen andern von den Gymnasien Ankommenden eine Fähigkeitsprüsung zu bestehen. Er wartete mit einer Anzahl anderer ebenfalls zur Prüfung beschiede- nen neuen Ankömmlinge in einem Vorsaale, bis an ihn die Reihe kam und war daselbst zufällig neben einen jungen Mann von blei¬ chem Gesichte, träumerischem und nachdenklichen Auge und edler, ausgezeichneter Haltung zu sitzen gekommen. Durch eine jener eben so unerklärlichen als unwiderstehlichen geheimen Sympathien fühlte er sich zu seinem Nachbar hingezogen. Bald waren die beiden jun« gen Leute in ein lebhaftes Gespräch gerathen und kaum waren ei¬ nige Tage verflossen, so waren sie schon in Folge einer seltenen Uebereinstimmung in Ansichten und Gefühlen unzertrennliche Freunde geworden. Adam Mickiewicz'S neuer Vertrauter war Thomas Zan, einer jener Märtyrer ihrer politischen Glaubenstreue, dessen Namen in den Annalen der Wilnaer Universität unter den glänzendsten strahlt und der späterhin von dem Dichter, der Kerker und Entbeh¬ rungen mit ihm theilte, in dem dritten Theil seiner „Dziady" ver¬ herrlicht und unsterblich gemacht ward. Wie gesagt, studirte Mickiewicz in der ersten Zeit seines Auf- enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften; bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬ len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen, diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬ sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬ nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬ netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬ volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski, ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na- tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas näher gerückt wurden. Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬ schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬ sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren 1813 — 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte, eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst- cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬ ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬ der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der Revolution der politischen Verhältnisse !«und eine Umgestaltung der literarischen vor sich gegangen. Chateaubriand und die Frau von Stavl hatten theils selbständig neue Bahnen eingeschlagen, theils ihre bisher in sich abgeschlossenen Landsleute mit fremden Literatu¬ ren und neuen revolutionairen Ansichten und Ideen von der Kunst bekannt gemacht und somit der jungen romantischen Schule den Weg geebnet. Kurz überall vom fernen Süden, wo Manzoni auf¬ tauchte, bis in den hohen Norden hinauf herrschte eine arbeitsame geistige Thätigkeit. Wort und Gedanke, die lange Zeit vom Rol¬ len des Kanonendonners übertäubt worden waren, hatten ihre Rechte wieder gefordert und die Feder herrschte jetzt anstatt des Schwertes und über dasselbe- All diesen tönenden Bestrebungen und widerhallenden Ideen null lieh der junge Wilnacr Student ein eben so aufmerksames als gieriges Ohr. Ein neuer literarischer Horizont hatte sich vor sei¬ nen Augen erschlossen. Aber damit er mit aller Gluth seiner Ju- gendkraft in die offene Rennbahn trete, bedürfte es erst einer lebens¬ warmen, sein unentweihtes Herz tief innig aufregenden Leidenschaft, welche die poetische Saite in seinem Herzen zum Tönen bringen sollte. Diese Leidenschaft, die mit ihrem Geleite von Freuden und Schmerzen der Ausgangspunkt der meisten großen Dichter geworden, fehlte auch ihm nicht. Maria W . . ., die Schwester eines seiner Studiengenossen, war die Dame der ersten Liebe unsres Dich¬ ters, der es eben erst durch sie ward. Denn ungleiche Vermögens- umstände verhinderten, daß aus dem Bunde der Herzen eine dau¬ ernde Vereinigung hervorging und der tiefe Schmerz, der Mickie- wicz's ganzes Wesen und Sein durchdrang, machte aus ihm, wie aus Dante und Petrarca und andern, einen von seiner eigenen, dü¬ stern Melancholie begeisterten Sänger. Zu den Qualen dieser Liebe kam auch noch der Schmerz über die Unterdrückung seines Vater¬ landes und diese beiden Leiden vereint wurden für ihn eine ideale, von seinem ganzen Denken Besitz nehmende Welt. Wenn man sieht, mit welcher glühenden Liebe und Verehrung ein jeder einzelne Pole an seinem Vaterlande hängt, so ist es eine wahre Folter für den Geist, wenn er die Geschichte dieser eben so herr¬ lichen, als unglücklichen Nation begreifen will. Wie soll man auch in der That es nur für möglich halten, daß ein gewöhnlich in unzählige Parteien zerstückeltes Volk, das mehrere Male, gerade wenn alle Umstände rings umher ihre Einigkeit zum höchsten Be¬ dürfniß machten, durch Zwietracht seinen Untergang selbst herbeige¬ führt, daß gerade dieses Volk dasjenige sei, von dem jeder Ein¬ zelne zum heimischen Boden, zu Sprache, Sitten und Einrichtungen seines Landes die glühendste, heldenmüthig begeistertste, rührendste Liebe hegt! Man mochte wahrlich meinen, sie seien eine Nation von Freunden, die Nebenbuhler in ihrer Liebe geworden und einander eine von Allen gleich heiß geliebte Frau streitig machen. Die ge¬ meinsame Liebe erstickt die Freundschaft und erzeugt einen gemein¬ samen Haß; wenn das geliebte Wesen aber stirbt, so erlischt der Haß und die Liebe eines jeden Einzelnen wird ein Band mehr für Alle; erwacht aber die Frau wieder aus dem Tode, so wird auch der Haß neu geboren. Es liegt hierin etwas eben so Trostloses als Unerklärliches, das den Freunden dieses hochherzigen, der Sym¬ pathie aller Edlen so würdigen Volkes eine gerechte Besorgniß für die Zukunft desselben einflößt. Doch kehren wir zu unserem Dichter zurück. Mickicwicz's Freund, Thomas Zan, hatte unter allen Stu- direnden Wilnas eine patriotische Verbindung gestiftet. Die Mit¬ glieder derselben, welche anfangs die Strahlenden hießen, theilten sich in sieben, durch die sieben Hauptfarben des Sonnenprisma be¬ zeichnete Classen. Theologen, Mediciner, Juristen, Philologen, Künstler, Naturforscher und Mathematiker hießen Violet, Indigo, Blau, Grün, Gelb, Orange, Noth. Der Zweck der Verbindung war, unter allen Mitgliedern die Liebe zur Aufklärung, Freiheit und Nationalität ansteche zu erhalten. Die russische Negierung beachtete sie Anfangs ganz und gar nicht; als sie aber späterhin unter dem Namen der Gesellschaft der Philareten (Tugend- sreunde) eine größere Ausdehnung gewonnen, befahl der General- Gouverneur von Wilna, Korsakoff, dem Rector der Universität, die Verbindung aufzulösen und die Schuldigen zu bestrafen. Die Pa¬ piere der Verbindung wurden in Beschlag genommen, und gegen ihre Begründer ward eine Untersuchung eingeleitet. Da man je¬ doch von einem direct politischen Zwecke keine Spur fand, so ward die Verbindung ohne weitere Bestrafung aufgelöst, ihr aber verbo¬ ten, sich in Zukunft je wieder zu gestalten. Trotz dessen geschah dies wieder, aber im Geheimen und auf dreißig der vorzüglichsten Häupter beschränkt; sie nannte sich nun Gesellschaft der Philoma- es e n (Lernbegieriger): Mickiewicz warTheilnehmer derselben. Nach¬ dem dieser übrigens seine Studien beendet hatte, war er an daS Gymnasium zu Kowno in Lithauen als Professor der lateinischen und polnischen Sprache und Literatur gesandt worden. In dem am Zusammenflusse des Riemen und der Wille recht hübsch gelegenen Orte verlebte er, wie er- selbst sagte, die zwei glücklichsten Jahre (1^20 und 1821) seines Lebens. Schon seine ersten auf der Uni¬ versität geschriebenen Dichtungen, meist Liebesgedichte an Maria, die er in Warschauer und Lemberger Zeitschriften hatte einrücken lassen, hatten allgemeinen Beifall gefunden. Hier nun begeistert von der schönen äußeren Umgebung, und sanft gewiegt von der Nuhe eines grünen, lachenden Blüthenthales, das die Einwohner der Stadt noch heute Mickiewicz's Thal nennen, erzeugte er viele Gedichte und veröffentlichte dieselben 1822 in Wilna in zwei Bän¬ den, welche das Gedicht Grazina, die beiden ersten (der Reihe des Erscheinens nach; er nannte sie den zweiten und vierten) Theile der Dziady (die Todtenfeier) wie sehr viele Balladen enthielt. Diese in Form und Gedanken neuen Poesien wurden überall in seinem Vaterlande, besonders aber von der ganzen polnischen Jugend mit ungewöhnlichem Enthusiasmus ausgenommen. Noch lebte der Dichter in dem ersten Freudenrausche dieses Erfolges, als er plötz¬ lich auf einen von Wilna ausgegangenen Befehl von den Behör¬ den in Kowno arretirt und nach der Hauptstadt Wilna geführt wurde, wo die Fesseln seiner harrten. Ehe wir aber den Dichter in die Gefangenschaft begleiten, wollen wir erst ein Wort über seine ersten Poesien sagen. Ob¬ gleich er in den Balladen, was die Form betraf, Goethe und Bür¬ ger nachgeahmt, so war er doch in der Wahl der Stosse durchaus selbständig, indem er sie fast alle aus den im Munde deö Volkes lebenden Sagen nahm. Es liegt in dieser ganzen Reihe von Lie¬ dern, die größten Theils träumerischen, schwermüthigen, zärtlichen Inhalts sind, von denen einige aber auch eine kräftige und beißende Scityre enthalten, ein eigenthümlicher Hauch nationalen Lebens, dessen Hauptreiz alle Uebersetzungen nur schwächen, der aber, — und das will viel sagen — selbst in den Uebertragungen noch nicht ganz verschwunden ist. Die meisten von ihnen sind mehr oder min¬ der gelungen übersetzt worden; wir verweisen daher nur auf einige der vorzüglichsten, wie z. B. Switezianka (Undine des See Switez bei Kowno); Lilie (der Lilien); Powrot Taty (des Vaters Rückkehr); Dudarz (der Schalmeispieler). Mehr zu nen¬ nen oder gar, wie wir so sehr versucht dazu waren, eine Ueber- tragung einiger zu geben, verbietet uns Raum und Anlage dieses Aussatzes. In dem Gedichte Grazina hat sich Mickiewicz in einen wei¬ teren und höheren Kreis der poetischen Begeisterung aufgeschwungen. Er ward hier zum Geschichtsmaler, indem er sich einer ursprüng¬ lichen, wild-heidnisch kriegerischen Sage seiner Heimath bemächtigte. Der Lithauische Herzog Litaror, dessen Gemahlin Grazina ist, führt gegen die aus Preußen eindringenden deutschen Ritter einen hartnäckigen Krieg. Er fällt im Kampfe und seine Gattin, in seine Gewänder gehüllt und mit seinen Waffen angethan, rächt seinen Tod im Blute der Feinde. Dies ist der einfache Inhalt eines Gedichtes, in welchem Mickiewicz alle Schönheiten eines kräftigen Styles und einer eben so erhabenen, wie begeisterten Ein¬ bildungskraft entfaltet hat. Es enthält daher Stellen von einer Energie, wie sie in den Bruchstücken der alten Skaldensänge sich findet; man glaubt wahrlich zuweilen Stücke aus der skandinavi¬ schen Edda oder aus den alten Kriegeöliedern jener Helden zu lesen, die „sanken und sich freuten und starben." In den D z iadyk) bewegt sich der Dichter zwar auch wiederum in einer Reihe von Anschauungen und Gedanken, die längstver¬ flossenen Zeiten angehören; und dies ist vielleicht ein kleiner Man¬ gel, weil seine Gedichte dadurch nur einem kleineren Leserkreis ver¬ trauter werden. Er offenbart aber in denselben den unserem Jahrhun¬ dert eigenthümlichen Geist der Analyse der Leidenschaften, den Geist der tiefen psychologischen Forschung in einem hohen Grade. Er ist nicht mehr der durch seinen Ungestüm fortreißende Maler einer äußerlich sich darstellenden Wirklichkeit, sondern er ist ein in sich selbst versunkener Träumer, dessen Auge nach innen gekehrt ist, um *) Dieses Wort bedeutet im Lithauischen ein zu Ehren der Todten ge¬ feiertes Volksfest; und in diesem Sinne hat es der Dichter gebraucht; seine Anm. d. Verf. wörtliche Bedeutung ist „die Ahnen." die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen und die vorüber¬ huschenden Erscheinungen und Hirngespinnste deS Geistes festzuhal¬ ten. Die plastische Poesie hat der psychischen Platz gemacht; aus dem Zögling Goethe's ist ein Nebenbuhler Byron'S geworden. Der Stoff der beiden zuerst veröffentlichten Theile der „Dziady" ist wiederum sehr einfach; es entwickelt sich in ihnen nur ein rein innerlich spielendes Drama, das in einen phantastischen Nahmen eingelegt ist. Die philosophischen, politischen und socialen Tenden¬ zen des Dichters hat derselbe erst später in dem dritten Theil seines Werkes an den Tag gelegt, den er im Erile, nach den Qualen der Wilnaer Kerkermonate und nach dem Falle seines Vaterlandes geschrieben. Wir werden in diesem überhaupt mehr der Biographie als der Kritik gewidmeten Artikel Nichts über diesen Theil sagen und verweisen unsre Leser lieber auf das Beste, was darüber ge¬ schrieben worden, nämlich auf die Analyse, welche Georges Sand in der Revue de deur Mondes davon gegeben. Ein junger Mann, von heftigen Leidenschaften und begabt mit glühend lebhafter Einbildungskraft, liebt ein junges, eitles, flüchtiges Mädchen, die "eine glänzende äußere Stellung dem wah¬ ren Glücke vorzieht und ihre Hand einem andern jungen Manne reicht, ohne ihn zu lieben. Der verrathene Liebhaber in seiner Verzweiflung tödtet sich selbst. Dies ist die ziemlich abgenützte Grundfabel der beiden ersten Theile der Dziady; aber der Dichter entschädigt für diese Alltäglichkeit seines Stoffes hinlänglich durch den Reichthum und die Originalität der Art und Weise, wie er ihn behandelt. Das Drama beginnt erst nach dem Tode des Hel- den, während einer im Volke gebräuchlichen religiösen Ceremonie, deren Ursprung bis in die heidnischen Zeiten Lithauens hinauf¬ reicht. In der Nacht des Allerseelentages nämlich versammelt sich das Volk auf den Kirchhöfen, um die Seelen der Todten aus den Gräbern hervorzurufen. Ein Harfenspieler, der zugleich Zauberer ist, lockt durch seine Zaubersprüche und Beschwörungen alle zwi¬ schen Himmel und Erde umherirrenden Geister an sich. Sie kom¬ men in Masse herbei, um Nahrungsmittel und Gebete zu verlangen; bei diesem Todtenfeste nun erscheint auch der junge Mann, den die Liebe zum Selbstmörder gemacht hat. Ein Urtheilsspruch Gottes verdammt ihn, sein Grab zu verlassen und in jedem Jahre, an demselben Tage und am selben Orte sein Verbrechen von Neuem zu begehen. Um diesen großen und düstern, eines Dante würdigen Gedanken bewegt sich das ganze Drama. Und obgleich sich der Leser in diesem phantastischen Helldunkel und unter all diesen Volkssagen, die einer längst entschwundenen Epoche unbefangener Leichtgläubigkeit angehören, zuweilen nicht ganz zurecht findet, so fühlt er sich doch durch den lebendig warmen und innig wahren Ausdruck der Leidenschaft gefesselt. Was die Polen am Meisten in dieser Dichtung bewundern, ist die Kunst, mit welcher der Dich¬ ter der Sprache seines Landes ein neues Leben verliehen, indem er an die Stelle abgenützter Metaphern und altherkömmlicher Bilder neue stylistische Wendungen anbrachte, die er aus dem Studium der Natur und des Lebens geschöpft hatte, und die um so schlagender sind, da sie eben so passend als unerwartet sind. In Polen gab es damals, wie in Frankreich, eine sogenannte classische Schule, oder, richtiger gesagt, die polnische Literatur war nur eine mattes schwache Nachahmung der an und für sich nicht allzu lebenskräftigen französischen Literatur des vorigen Jahrhunderts. Der Witz stand in hohen Ehren und die glänzenden Flitter einer prunkenden Sprache verschleierten, so gut es eben gehen wollte, die innere Nichtigkeit. Alle gebildet sein wollenden Polen, die Nichts als fcingefpitzte, brillantirte Madrigals und dergleichen schrieben, lehnten sich daher gegen diese neue Poesie auf, die in dem nationalen Bo¬ den ihre Wurzeln schlug. Aber die Jugend, diese allzeit bereite Freundin von Neuerungen, deckte diese Poesie mit dem Schilde ihrer Begeisterung und Mickiewicz's Name flog schon als ein Feldge¬ schrei einer literarischen Wiedergeburt der Nation von Munde zu Munde, als der Dichter nach Wilna als Gefangener kam. Dort erschien er vor der vom Kaiser Alexander eingesetzten Untersuchungs-Commission, an deren Spitze der Senator Nowo- silzvff stand, und zwar der Theilnahme an der geheimen Gesell¬ schaft der Philomathen angeklagt. Die Untersuchung dauerte lange Zeit) der Dichter erwartete ihr Resultat in einer dunkeln Zelle des zum Staalsgefängnisse umgewandelten ehemaligen Basilianer-Klo¬ sters. Seine Kerkergenossen waren Thomas Zan, Franz Malewski, Johann Czeczot, Joseph JezowSki, OnophriuS Pietraszkiewicz, Kolakowski, Sobolewski und andre seiner Studiengcfährten und Universitätsfreunde, deren Namen alle er in dem dritten Theil seiner „Dziady" der Unsterblichkeit geweiht hat. Preisgegeben der ver¬ zehrenden Langeweile eines Gefängnisses, umringt von Spionen, feiler Bestechung und Drohung, umlagert von all jenem Apparat physischer und moralischer Leiden, welchen die russische Regierung ihre politischen Gefangenen unterwirft, fühlte Mickiewicz die einge¬ borene Liebe zur Freiheit und zu seinem Vaterlande immer größer und stärker werden und fortan ward sie das vorherrschende, leuch¬ tende und erwärmende Element seiner Gesänge. Die Untersuchung blieb ohne eigentliches Resultat; denn man konnte keine entschei¬ denden Beweise einer Verschwörung auffinden. Die Betheiligten wurden jedoch sämmtlich aus längere Zeit aus Polen verwiesen und ihnen ihr Aufenthaltsort in Rußland angewiesen. Mit ihnen kam auch Mickiewiez Anfangs nach Se. Petersburg und stand dort unter Aufsicht der hohen Polizei. Hier unter dem Auge des knu- tengewaltigen Czar (wie Mickiewicz ihn in den Dziady nennt), mitten unter einem seit Jahrhunderten in stummer, gehorsamer Knechtschaft gebeugten Volke, hier warf der stolze Dichter, gleichsam als Kampfhandschuh gegen die materielle Uebermacht, je¬ nen Hymnus hin, der von der Dwina bis an die Oder wider¬ hallte und zwanzig Millionen Herzen stärker pochen machte. Die „Ode an die Jugend," deren letzte prophetische Worte am 30. No¬ vember 1830 von unbekannter Hand an das Warschauer Rathhaus geschrieben, von der Begeisterung der Volksmasse tausendstimmig wiederholt und als ein glückliches Vorzeichen angesehen winden, giebt übrigens einen schlagenden Beweis von der Blindheit der Censur. Die russische Behörde erblickte nämlich in diesem vom Hauch der Freiheit durchwehten, begeisterten Stücke keine politische Beziehung, sondern hielt die Ode nur für eine außerordentliche kühne Neuerung in literarischer Beziehung. Die Polen dagegen betrachten dieselbe als. eine von Mickiewicz's gelungensten Pro- ductionen. Und die Russen selbst entflammten sich an solchen, an solchem Orte ausgesprochenen Worten. Puschkin, der bekannte rus¬ sische Dichter, und die nachher wegen politischer Umtriebe nach Sibirien verbannten Schriftsteller, Bestuscheff und Nylejeff wurden die Bewunderer und Freunde deS polnischen Sängers. Bald mußte aber die russische Negierung doch wohl in dem Zusammenleben jener Schriftsteller mit dem Verurtheilten, so wie überhaupt in der Vereinigung mehrerer hochgebildeten jungen Polen in Petersburg eine Gefahr finden; denn sie ertheilte Befehl, die letzte¬ ren mehr zu zerstreuen und sie in's Innere des Reiches zu senden. Mickiewicz mit mehreren seiner Unglücksgefährten kam nach Odessa und machte von da aus eine Reise in die Steppen der Krim. Der südliche Himmel und die orientalische Natur regten die Kraft seiner Phantasie und seine patriotischen Gefühle mächtig an, und in jener Zeit dichtete er an den Ufern des schwarzen Meeres jenen unter dem Namen „Sonnette aus der Krim" bekannten Cyclus von Ge¬ dichten, welche die ganze Geschmeidigkeit seines Genies zeigen. Sie athmen den wahrsten, tief innersten Schmerz, die feurigste Va¬ terlandsliebe und die höchste Poesie, und sind, was der Merkwür¬ digkeit wegen nicht unerwähnt bleiben mag, von Mirza-Kaptschi- Basha, einem Freunde des Dichters in'ö Persische übersetzt worden. Im Jahre 1626 ward er von Odessa wieder nach Moskau ge¬ schickt und verblieb daselbst auf höheren Befehl im Gefolge des General-Gouverneurs Fürsten Galitzin, unter dessen und anderer russischen Großen Patronate seine Sonnette gedruckt wurden. Mit Galitzin kam er dann auch wieder nach Se. Petersburg zurück, wo er durch sein fließendes Jmprvvisationstalent, eine in reichem Maße ihm zustehende Gabe, die Zahl seiner Bewunderer und Freunde vermehrte. Noch mehr aber geschah dies durch seine große, mehr¬ fach in's Deutsche übertragene, historische Dichtung Konrad Wal- lenrod, die er im Jahre 1828 in Se. Petersburg veröffentlichte. Der Stoff dieser Dichtung ist gleich dem deS oben besprochenen Gedichtes Grazina, den Kämpfen Lithauens gegen die zur Un¬ terjochung Polens eindringenden Ritter des deutschen Ordens entlehnt. Aber hier ist die Handlung von einem erhabenen Ge¬ sichtspunkte aus erfaßt und mit noch größerem sprachlichen Reich¬ thum dargestellt worden. Sodann ist auch der Stempel der Per¬ sönlichkeit, den die früheren Erzeugnisse des Dichters in so hohem Grade trugen, verschwunden und eine weitere, großartigere An¬ schauung ist an deren Stelle getreten. Der eigentliche Stoff ist nur ein durchsichtiger Schleier, durch den hindurch die trauernde Gestalt des unterdrückten Vaterlandes in all ihrer Schönheit hervor- schimmert, und worin es an Andentungen der neuesten Schicksale Polens unter fremder Herrschaft nicht fehlt. In Polen brachte da¬ her „Conrad Wallenrod" einen tiefen, lebhaften Eindruck hervor. Das Gedicht war bald zu einem Nationalepos geworden und über¬ all konnte man die schönsten Stellen desselben aus dem Munde des Volkes, hören. Die kraftvollsten Verse, welche Rache und Haß ge¬ gen den Unterdrücker lehrten, wurden von Jung und Alt auswendig gelernt; die wehmüthigen und ergreifenden Lieder Alf's und Alto- na's wurden in den vornehmsten Salons, wie in den ärmsten Hütten gesungen. Diese letzteren Stücke waren nämlich von Maria Przymanowöka, einer berühmten Pianistin, in Musik gesetzt worden. Um diese Zeit schrieb Micktewicz auch das schöne Gedicht Farhs, eine glühende, stürmisch hinreißende Dichtung, gleich dem Araberroß, dessen pfeilschnellen Lauf sie schildert, und eben so kräftig in ihrer Farbengebung und im Ausdruck, als Byron's Mazeppa. Dieses Gedicht war es auch, das der Dichter selbst bei der im Eingang erzählten Bekanntschaft mit dem Bildhauer David in Weimar diesem in französische Prosa übersetzte; er'S Deutsche über¬ trug es Spazier. Merkwürdiger Weise hatte zwar die russische Censur die eigentliche patriotische Tendenz des „Conrcid Wallenrod" ver¬ kannt und der Veröffentlichung der Dichtung nicht das geringste Hinderniß in den Weg gestellt. Als aber durch die feurige Auf¬ nahme , die dem Werke von Seiten der gesammten polnischen Be¬ völkerung ward, den russischen Behörden ein ziemlich unerfreu¬ liches Licht über ihren Mißgriff aufging, hielt es Mickiewicz für gerathen, sich neuen Verfolgungen, die seiner zu harren schienen, zu entziehen. Denn daß die Regierung ihm nicht eben günstig ge¬ sinnt sei, bewies nur zu deutlich der Umstand, daß trotz wiederhol¬ ten Ansuchens das Ministerium des Unterrichts ihm die Erlaubniß zur Herausgabe einer historisch-philosophischen Zeitschrift, die unter dem Namen „Iris" erscheinen sollte, hartnäckig verweigerte. Er benutzte daher die dadurch gesteigerte Theilnahme an seinem Loose, welche ihm mehrere, schon durch seine Gedichte für ihn begeisterte hochstehende Russen bezeugten, zur Ausführung eines andern Planes. Durch die Verwendung dieser Freunde, besonders des Dichters Jukosskoi, eines Lehrers des Großfürsten, gelang es ihm 37 munlich, einen Paß zu einer Reise in's Ausland, behufs der Wie¬ derherstellung seiner Gesundheit, zu erlangen. Seine russischen Freunde und Gönner hatten ihn bewegen wollen, sich einer Ge¬ sandtschaft attachiren zu lassen und es war einen Augenblick die Rede davon gewesen, daß er, mit einem officiellen Charakter be¬ kleidet, nach Brasilien, oder, wie es dann hieß, nach Turin ge¬ schickt werden solle. Der Dichter aber wußte diese goldenen Fesseln von sich fern zu halten und schätzte eS für ein höheres Glück, einen Reisepaß zu erhalten, als ein Diplom. Vor seiner Abreise ward ihm von seinen zahlreichen Bewunderern in Rußland noch ein schöner silberner Becher, auf dem die Namen der Geber eingegra- ben waren, als Andenken überreicht. Erfreut und ergriffen von dieser Huldigung, improvisirte der Dichter einige Strophen, die man am Ende des dritten Theiles der Dziady finden kann. Wir haben von seiner Reise und dem wichtigsten Erlebniß der¬ selben, so wie daß Mickiewicz sich zur Zeit deS Ausbruches der Juli-Revolution in Italien befand, schon oben erzählt. Als er die erste Nachricht von diesem Weltereigniß erhielt, fühlte er sich von traurigen, todeöbangen Ahnungen ergriffen. Er sah voraus, daß auch sein unterdrücktes Vaterland sich für die Freiheit erheben, daß es aber im Kampfe für dieselbe unterliegen werde. An dieser Stimmung schrieb er jene schöne Elegie „An eine polnische Mutter/' in der er prophetische Thränen über das traurige Geschick seiner Nation vergießt, das er in düsteren, Unheil weissagenden Worten schildert. Das heldenmüthige Polen protestirte gegen dieses Orakel der Cassandra, indem es zu den Waffen griff. Die Protestation war blutig und dauerte zehn Monate. Aber ach! Der vaterlandslie¬ bende Sänger hatte nur allzuwohl gezeigt, daß die Alten nicht Un¬ recht hatten, wenn sie ihre Dichter mit dem Worte v.ete8 (Seher) benannten und ihnen einen Blick in die Zukunft beimaßen. Nach dem Falle von Warschau hielt sich Mickiewicz eine Zeit lang in Dresden auf. Dort entwarf er den dritten Theil der „Dziady" und übersetzte daselbst den Giaur von Byron, so wie er auch mehrere kleinere Gedichte damals verfaßte, von denen be¬ sonders Die Schanze von Ordon zu nennen ist, worin er mit feurigen Zügen die letzten Zuckungen seines verbindenden Vaterlandes malte. Von hier begab sich der Dichter endlich mit seinen andern Landsleuten nach Frankreich, in dessen Hauptstadt er lange Zeit in Stillschweigen verharrte. Im Kreise der Verbannten war daS Erb¬ übel Polens, Zwietracht, ausgebrochen; die Ausgewanderten bildeten verschiedene Parteien, welche einander mit Heftigkeit angriffen und von denen eine jede den berühmten Dichter der „Dziadv" in ihren Reihen zu zählen behauptete. Endlich aber brach Mickiewicz sein Stillschweigen und gab in einem erhabenen Liede der Versöhnung und des Friedens einen neuen Beweis seiner schönen Seele. Er veröffentlichte im Jahre 1832 das berühmte Werk: „Die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft."») Unbeschreiblich ist der tiefe Eindruck, den dieses Werk nicht allein auf den ganzen polnischen Volksstamm, sondern auch auf daS übrige theilnehmende Europa gemacht hat. Es erschienen davon 1833 eine deutsche und eine französische Uebersetzung; letztere rührte von dem geistreichen Grafen v. Montalembert her und wir entlehnen dem merkwürdigen Vorworte, das derselbe seiner Uebersetzung voran¬ geschickt, die folgende durchaus wahre Charakteristik der Mickiewicz- schen Schrift: „Dieses Buch," heißt es, „ist die erste Offenbarung einer ganz neuen geistigen Richtung, die Mickiewicz eingeschlagen. Er entsagt darin den äußeren Formen der Poesie, um in einer der biblischen Sprache nachgebildeten, volksthümlichen Prosa seinen Landsleuten die hervorstechende Misston deutlich zu machen, die, nach seiner Ansicht, Polen in der Vergangenheit, wie in der Zukunft Europas -von Gott angewiesen worden. Er predigt ihnen darin, wie sie ihr erhabenes Unglück heiligen sollen durch ein unerschütter- *) Eine interessante, den Geist der Zeit charakterisirende, literarische Er¬ scheinung däucht uns das Zusammentreffen dieses Buches mit zwei andern Werken, die um dieselbe Zeit, in ähnlichem Styl und mit gleicher, freilich nach der Individualität der Verfasser verschieden nüancirter, historisch-philosophischer Tendenz geschrieben wurden. Wir meinen das in Deutschland nur wenig be¬ kannte, aber sehr bedeutende Werk des tiefsinnigen Theosophcn Vallanche, das unter dem Titel IIeI>aI kurz vor dem Mickiewicz'schen erschien und die darauf veröffentlichten p-n-olss <>'un n'v^ut von Lamennais. Anm. d. Werf. 37» liebes, dcmuthvolleS Vertrauen auf das Mitleid der Gottheit, durch eine vollkommne Einigkeit unter sich selbst, durch Aufgeben alles Rechtens und aller Vorwürfe über die unwiederbringliche Vergan¬ genheit, und durch einen unvergänglichen Glauben an den Triumph der guten Sache des Rechts und der Freiheit." In demselben Jahre veröffentlichte der Dichter, als vierten Band seiner im Jahre 1828 zu Paris gedruckten Ausgabe seiner sämmtlichen frühern Poesien, nun auch den dritten Theil seiner „Dziady." ES sind diese neuen Gedichte eine Reihe dramatischer Scenen, die sich vorzüglich auf die Verfolgungen der patriotischen Jünglinge zu Wilna beziehen und die, wie ein deutscher Beurtheiler richtig sagt, „das ganze Gebiet der Poesie von der bittern Satyre bis zur glühenden Andacht mit kühnem Schwunge durchfliegend, zu dem Trefflichsten gehören, was die neueste Literatur besitzt." Die pariser Ausgabe seiner Gedichte zeichnet sich, beiläufig bemerkt, vor allen andern früher und später in verschiedenen Städten Polens und Rußlands erschienenen durch Eleganz und Correctheit aus. In dem Vorworte derselben aiebt Mickiewicz einen geistreichen Ueberblick der poetischen Literatur des neueren Europa, worin er unter andern auch eine vertraute Bekanntschaft mit der deutschen Literatur an den Tag legt. Im folgenden Jahre 1833 vzrheirathete sich der Dichter mit der Tochter der oben genannten polnischen Dame, Maria Przyma- nowska, und hatte bald das Glück, Familienvater zu werden. Diese neue Umgestaltung seiner Lebensverhältnisse blieb auch auf seine Einbildungskraft nicht ohne Wirkung. Dieselbe ward nun ruhiger, nahm eine positivere Wendung und beschäftigte sich nun nicht mehr mit kriegerischen, sondern mit Scenen aus dem häuslichen und länd¬ lichen Leben seiner Nation. Einen Beweis hievon giebt das neue Gedicht, das er im Jahre 1835 in zwei Bänden unter dem Titel Herr Thaddäus in Paris herausgab. Diese Dichtung, in wel¬ cher weit mehr Beschreibung als Handlung ist, wird von den Polen als ein Muster von naturgetreuer Wahrheit und als das zugleich anziehendste und sprechend ähnlichste Bild des Privatlebens deS lithauischen Adels betrachtet., Im Jahre 1839 bot die Akademie zu Lausanne unsrem Dichter die Professur der alten Literatur an. In dieser neuen Stellung Hütte sich Mickiewicz schon allgemeinen Beifall erworben, die Akade¬ mie fühlte sich glücklich und stolz, einen solchen Mann unter ihre Mitglieder zu zählen und hoffte ihn mit dauernden Banden an sich geknüpft zu haben; aber ein weiterer Schauplatz für die Entwickelung seiner Kräfte harrte des polnischen Sängers. Als Frankreichs Auf¬ ruf ertönte, hielt er es für eine gebieterische Pflicht, dahin zu gehen, wo er seinem Lande am wirksamsten dienen konnte. Um aber un¬ sern Lesern einen Begriff zu geben, sowohl von dem lebhaften Be¬ dauern, das der Abgang Mickiewicz'S hervorgerufen, als auch von den charakteristischen und eigenthümlichen Zügen, die ihn von jedem gewöhnlichen Dutzend-Professor unterscheiden, glauben wir nicht besser zu thun, als wenn nur dem zu Lausanne erscheinen¬ den Ourivr «Nisse einige Stellen eines Artikels entlehnen, der von einem seiner College» als Nachruf geschrieben ward. „Lange Zeit wird in unseren Herzen die Erinnerung leben an diesen zugleich so ernsten und doch so anziehenden, mit einer so edlen Einfachheit geschmückten Unterricht; die Erinnerung an diese veranschaulichende, gewissermaßen inspirirte Kritik, in der die Syn- thesis. der Analyse voranging oder sie überragte, und in der sich ein eben so lebendiges als zartes, Gefühl für die Schönheiten der Kunst zeigte; die Erinnerung an diese Vorträge über lateinische Literatur¬ geschichte, in denen alle andern Literaturen gewissermaßen zusammen¬ kamen auf den Ruf eines Lehrers, der mit allen bekannt, mit meh¬ reren vertraut war; die Erinnerung an seine markige, inhaltreiche und doch durchsichtig klare Redeweise, an seinen antik-kräftigen, fast lapidarischen Styl; die Erinnerung endlich an diesen gesunden Menschenverstand, der so erhaben war, daß man ihn für die schönste Einbildungskrast gehalten hätte, und an diese so unbefleckte Phantasie, daß man sie für die edelste Vernunft hätte nehmen können." Fügen wir nun diesem Gemälde einige Züge hinzu, die dem großen Dichter während seiner Vorträge am KoII«^« it« ti'rime» abgelauscht sind und die unsern deutschen Lesern um so willkommner sein dürsten, je weniger Gelegenheit sie haben, Mickiewicz selbst ein Mal zu hören. Wir entlehnen dieselben theils Schilderungen sehr wohl unterrichteter Personen in Paris, die fleißige Besucher seiner Vorlesungen sind, theils eigener Anschauung während eines Behn- ches in Paris, wo wir nicht unterließen, einer Borlesung dieses so in¬ teressanten Professors beizuwohnen. Sein Vortrag, obzwar etwas schwer und langsam, ist darum nicht minder anziehend; er ist zunächst durch¬ aus klar, durchaus rein und verständlich, und hat in seiner Fremdartigkeit den Reiz einer seltenen Originalität. Das Wort kommt langsam aus seinem Munde, aber dafür kommt auch immer das beste und passendste, dem, was er sagen will, genau entsprechendste Wort. Einer seiner geist¬ reichsten Collegen, der ihm hierin ein wenig gleicht, sagte daher auch von ihm» „ES ist wahr, er sucht, aber er findet auch." Was seine Vorträge für die Zuhörer besonders anziehend macht, daS sind jene alten polnischen, serbischen, böhmischen, russischen Lieder, die der Dichter in ihrer Rauheit und fast homerischen Einfachheit wiedergiebt und die in das Ohr der Hörenden in fremdartig klin¬ genden, abgebrochenen, gleichsam zerhackten, aber doch rhythmischen und malerischen Worten dringen. Die Persönlichkeit und äußere Erscheinung des Lehrers steht in voMommner Uebereinstimmung mit dem Gegenstand seiner Vortrage. In diesem tiefsinnigen Blick und in dieser traurigen, träumerischen Physiognomie ist der Zettstcmpel unsrer Epoche deutlich ausgeprägt; in diesen eckigen Zügen dagegen, in diesem hervorragenden, an beiden Winkeln gefurchten Mund, in dieser Stimme mit ihren heftigen Betonungen der Worte liegt etwas Altslavisches. Besonders bemerkenswerth aber ist der un¬ verrückbare Ernst seines Gesichtes, der gegen die Heiterkeit seiner Zu¬ hörer, welche oft durch eine oder die andere naive Aeußerung eines böhmischen oder serbischen Helden des zehnten Jahrhunderts hervorgerufen wird, scharf und eigenthümlich absticht. Man sollte wahrlich meinen, der Dichter, der jene alten, heldenmütigen Ge¬ stalten aus ihren Gräbern hervorgerufen, habe in ihrer Mitte ge-. lebt. Er besitzt zwar nicht ihren Riesenwuchs und ihre gewaltigen Fäuste, aber er besitzt ihren kindlich warmen Glauben, ihre moralische Thatkraft und jene einfache Größe, die in unsrem auf die äußere Schaustellung berechneten Jahrhundert immer seltener wird. H. g. Pauperismus undColonisation Bon Alexander Baronvon Bülow. I. Es erben sich Gesetz und Rechte, Wie eine co'ge Krankheit fort. Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage, Weh Dir, daß Du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider! nie die Frage. Göthe. Seit einigen Jahren haben die socialen Fragen in den DiS- cusstonen über Gegenstände des Gemeinwohls einen bedeutenden Platz gewonnen. Lange Zeit hatten sie lediglich dem Gebiete der abstracten Theorien angehört und waren namentlich in Deutschland nur als träumerische, unpraktische Ausgeburten einiger unzufriedenen, abenteuerlichen Geister betrachtet worden. Hin und wieder waren freilich in einzelnen Zeitschriften diese Theorien besprochen worden, aber nur schildernd, an eine Anwendung auf's Leben war nirgends gedacht worden. In der letzten Zeit ist durch die Seiten, die Gutzkow in seinen Pariser Briefen dem FourrieriSmuö und Communismus gewidmet bat und durch die Reklamationen der Pariser Fourrieri- sten über ein Nichtvcrständniß von Seiten Gutzkow's, die Aufmerk¬ samkeit des deutschen Publikums auf diese socialistischen Bestrebungen wieder hingelenkt worden. Ueberhaupt aber sind diese jetzt mehr als je früher an'S offene, freie Tageslicht getreten, indem sie zu ihrer Berechtigung auf die Bedürfnisse der Zeit hinwiesen, welche sie im Voraus schon erkannt hatten und die sie befriedigen zu können glaub¬ ten. So sind aus chimärischen Utopien Theorien geworden, deren Discussion von Nutzen ist und so sind sie aus dem Bereiche des Phantastischen in das Gebiet der Wissenschaft übertrage!, worden. Von da haben sie nun auch in die Cabinete der Staatsmänner und Regierungsbeamten ihren Weg gesunden; wenigstens fürchten sich diese nicht mehr, sie zu befragen und zuweilen verlangen sie sogar einen guten Rath von ihnen. Die Nothwendigkeit der Oekonomie als Wissenschaft und der Nutzen, den man aus einer aufmerksam¬ sten Prüfung selbst der gewagtesten Systeme in diesem Fache schö¬ pfen kann, sind heute unbestreitbar anerkannt und die ernstesten und praktischsten Köpfe haben die Zeit nicht für verloren gehalten, welche sie Untersuchungen der Art widmeten. Leider aber haben diese Stu¬ dien bisher nur einen beschränkten Vortheil gehabt. Denn wenn die Reformatoren an den entscheidenden Wendepunkt gekommen wa¬ ren, wo sie praktische Vorschläge machen sollten, hatte sich in ihren Ideen stets eine Verwirrung und eine Confusion eingeschlichen, die davon herrührte, daß ihre, so lange sie das Bestehende schilderten und analystrten, gefangen gehaltene Einbildungskraft nun plötzlich einen gewaltigen Aufschwung nahm. Daher verloren sie sich denn auch alle in den unbegrenzten Räumen des Unbestimmten, des Ide¬ alen, des Unmöglichen. So ging es Se. Simon, so Fourrier, so Robert Owen mit ihren Systemen und Lehren. Sie beginnen mit interessanten Untersuchungen über die Vergangenheit; sie geben eine genaue Analyse unsrer Lage, sprechen mit warmer Beredsamkeit und der Wahrheit getreu über die Leiden der arbeitenden Volksclassen und schließen, jeder freilich mit ihm eigenthümlichen Modificirungen in den Mitteln, aber alle damit, daß sie den Besitz und dessen Ver¬ erbung abgeschafft wissen wollen. Sie alle vernichten die Idee der Familie und heben den Unterschied der Geschlechter auf. Sie über- sehen aber sämmtlich, daß ihre Mittel anwenden, nur hieße: der be¬ stehenden Verwirrung durch eine neue Unordnung, dem gegenwär¬ tigen Unglück durch eine Ungerechtigkeit und der augenblicklichen Haltlosigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine Vernich¬ tung der ewigen Gesetze, aus die sie gegründet sind, abhelfen. Daher haben diese Theorien, wo man sie in ihrer Unreife vorschnell und verwegen in's Leben setzte, nur große Tumulte und viel Skan¬ dal zu Wege gebracht. Darum sind sie gerade in Deutschland, das zwar das Land der Systeme, aber auch das der Stabilität ist, bis¬ her unbeachtet geblieben. Dagegen muß man sich aber auch hüten, das Kind mit dem Bade zu verschütten. Denn, wie sich eben in neuester Zeit herausstellt, haben diese ersten unreifen Versuche und Fehlgeburten doch nützliche Forschungen hinterlassen; einigen edlen Denkern ist ein neuer Impuls dadurch gegeben worden. Noch ist zwar das Heilmittel für die Krankheit unseres Gesellschastskörpers nicht gefunden, aber wenigstens ist doch der Sitz des Uebels nun auf's deutlichste und bestimmteste angezeigt und die Illusionen, welche es bisher vor den Augen so Vieler verbargen, sind geschwunden und wir sehen freilich leider manchen tief klaffenden Abgrund. Unter den zahlreichen Thatsachen, welche in Folge dieser Ana¬ lyse unserer gesellschaftlichen Zustände sich herausgestellt haben, ist eine, von der alle übrigen beherrscht werden und deren verschiedene Ursachen und Wirkungen daher mit besonderer Vorliebe auseinan¬ dergesetzt worden sind. ES ist dies die Thatsache des Elends der arbeitenden Classen, der Pauperismus. Ein neues Wort, ein ener¬ gischer Ausdruck, der geschaffen ward, um von einer bisher unbe¬ kannten Situation ein vollständiges, wahres Bild zu geben. Wäh¬ rend bet den andern Thatsachen die höheren Stände unachtsam blieben, wurden sie in Gegenwart dieses Uebels, das man ihnen jetzt als einen herandrängenden, in seinem Rachedurst oder vielmehr in seiner pressenden Noth unbarmherzigen Feind schilderte, plötzlich aufmerksam. Die furchtsameren Gemüther ergaben sich von vorn¬ herein geduldig in ihr Schicksal; muthigere und verständigere Män¬ ner dieser Classen aber sahen ein, daß in solcher starren Unbeweg- lichkeit kein Heil liegen könne. Sie machten sich daher an's Werk und fingen an, nach Mitteln zu forschen, vermöge deren sie ohne einen gewaltsamen Umsturz der jetzt bestehenden, nothwendigen Ort- mung der Dinge, den Forderungen und Interessen der unteren Stände Genüge leisten und dadurch die eigene, in ihren Grundla¬ gen erschütterte Stellung wieder befestigen könnten. Denn in der That verbindet eine enge Gemeinsamkeit der Interessen diese beiden entgegengesetzten Lagen. Die Festigkeit der einen ist eine Bürgschaft für die Dauer der andern. Das Grundeigenthum wird nicht eher ein unerschütterlich Feststehendes sein, die beweglichen Capitalien werden sich nicht eher in ihrem Umlauf völlig sicher fühlen, als bis die Arbeiter und Gehülfen, welche von beiden angewandt werden, sie nicht mehr, wie es bisher geschah, als Tyrannen betrachten wer¬ den, welche auf ihre, der Arbeiter, Kosten sich bereichern. Wie aber die Dinge heutzutage stehen, so sind es gerade die gegenwärtig herrschenden Verhältnisse, welche verhindern, daß die Arbeiter eine andere Ansicht der Dinge gewinnen. Das anhaltende Zunehmen der Bevölkerung während einer mehr als fünfundzwan¬ zigjährigen Friedenszeit, wie sie bisher in Europa fast noch nie Statt gefunden, die noch größere Entwickelung der Production, die fortwährende Verringerung des Arbeitslohnes und der immer nied¬ rigere Preis der Fabrikate haben jene so unheilvolle Spaltung der Gesellschaft in zwei einander auf den Tod befeindete Parteien her¬ vorgerufen , die sich in einem falschen, von der Concurrenz ihnen aufgezwungenen Zirkel beweg»n. Die Bedingungen, denen sich die Producenten heutiger Zeit unterworfen sehen, nöthigen sie, die Con- sequenzen eines Systems, dessen erste Opfer oft sie selbst werden, von dem allein aber sie ihre Rettung erwarten können, bis auss Aeußerste zu treiben. Ihr letzter Zweck muß ja immer die Unter¬ bringung ihrer Erzeugnisse sein; wie können sie diese aber bewerk¬ stelligen, wenn sie nicht vor ihren Concurrenten den Vortheil der niedrigeren Preise voraus haben? Denn jetzt, da die wirklichen Be¬ dürfnisse der Consumenten weit geringer sind, als die Anzahl der Gegenstände, welche Absatz erheischen, sind die Käufer wählerisch geworden und entschließen sich nur nach Verhältniß der ihnen be¬ willigten Vortheile zum Ankauf. Der Producent muß also, um die Consumenten an sich zu ziehen, einerseits seine Fabrikationöbcdürf- nisse so niedrig als möglich zu stellen suchen, da er andrerseits trotz der niedrigeren Verkaufspreise und des geringeren Gewinnes doch die Qualität seiner Waaren nicht verschlechtern darf. Der größte Theil der Kosten nun, welche die Fabrikation verursacht, sind haupt¬ sächlich der Arbeitslohn, da der Werth der Rohstoffe meist unter¬ geordneter Natur ist. Jede Reduction trifft also zunächst direct den Arbeiter. DaS ist für ihn die unvermeidliche Wirkung der Concur¬ renz zwischen Producenten und Producenten. Noch trauriger aber wird seine Lage, wenn in Folge des Anwachses der Bevölkerung die Concurrenz in die Reihen der Arbeiter selbst tritt, wenn diese gegen einander eine feindliche Stellung annehmen und die Arbeit dem Mindestfordernden zufällt, weil sie eine Waare geworden, also dem gemeinsamen Gesetz aller Waare unterliegt, d. h. billiger wird, weil sie in Masse Vorhanden ist, und ihr Preis sich nach der grö¬ ßeren Masse von Anbietender oder Verlangenden richtet. So wird durch die doppelte Concurrenz der Producenten und der Arbeiter, welche ihrerseits ein Erzeugniß der auseinandergesetzten Nothwen¬ digkeit ist, der Tagelohn derselben immer geringer. Endlich aber, wenn er so tief gesunken ist, daß er hart am Rande des Nichts steht, also nicht noch tiefer sinken kann, dann wird daS Elend, daS schmerzlich weit ausgebreitete Elend offenbar, und in dieser größeren Verbreitung und Ausdehnung über ganze Massen wird es zum Pauperismus. Dann beginnen die großen Aufregungen; erst dumpf und einen Augenblick von dem Zwange der Werkstätte niedergehal¬ ten, werden sie bald größer und treten aus dieser hinaus, um in der Straße, gestachelt von dem wahnsinnig machenden Reizmittel, Hun¬ ger, jene blutigen Schlachten zu liefern, in denen ein Stück Brod der Siegespreis ist. Nun ist die Eintracht zerstört, das Gleichge¬ wicht zwischen Arbeit und Capital ist gebrochen, und welcher Partei auch immer der Sieg bleibt, immer ist Zerrüttung seine Folge. Denn immer sind auf der einen Seite Leichname zu beerdigen, wäh¬ rend auf der andern Ruinen aufgerichtet und Trümmer von Ma¬ schinen weggeschafft werden müssen. Der Krieg hat also, obgleich aus einer traurigen Nothwendigkeit hervorgegangen, dennoch nur eine Vergrößerung des Uebelstandes zur Folge. Denn der Produ¬ cent muß nun doppelt so ökonomisch werden und strenger auf seinen Vortheil bedacht sein, alö je, damit er sobald als möglich den erlit¬ tenen Schaden wieder gut machen kann; der Arbeiter dagegen ist gezwungen, wenn er nicht Hungers sterben will, in seine Fabrik zurückzukehren, und noch härtere Bedingungen «is bisher, so lang zu ertragen, bis seine Schmerzenslast von Neuem seinen wunden Schultern zu schwer wird und er sie abwirft und neue Katastrophen dadurch herbeiführt. In dieser traurigen Alternative, in diesen gegenseitigen Ueber¬ griffen, in diesem Wechsel von Sieg und Niederlage bewegen sich heut zu Tage die Industrie und die arbeitenden Classen. Der fort¬ dauernden Feindschaft nun dieser Hauptbestandtheile des öffentlichen Reichthums ein friedliches Medium entgegenzustellen, in dem sie einander begegnen können, ohne an einander anzustoßen, in dem sie gegenseitige Dienste sich leisten, ohne daß einer dem andern geopfert wird, das ist es, um was eS sich handelt. Mit einem Worte, eS kommt darauf an, das Gesetz für die Organisation der Arbeit zir entdecken; denn dieses Gesetz ist der geheimnißvolle Logos unsrer Epoche, der Fleisch werden soll. An Anstrengungen für diese neue Aufgabe hat es wenigstens in Frankreich, England und Belgien, die freilich die bedeutendsten industriellen Staaten sind, — nicht gefehlt; die Lehrstühle der Hochschulen haben sich ihrer bemächtigt, die Aka¬ demienhaben für die Lösung derselben ihre schönsten goldenen Medail¬ len schlagen lassen und die Publicisten, die sich damit beschäftigt, ha¬ ben sich ihre Anläufe von der öffentlichen Meinung hoch anschlagen lassen. Was ist aber aus diesen Beschäftigungen so Bieter mit ei¬ nem Gegenstande für ein Resultat erwachsen? Ist auf die Analyse der gegenwärtigen Lage eine neue Synthesis gefolgt? Leider müssen wir mit Nein antworten. Mit Ausnahme einiger geistreichen Mo¬ nographien, die aber unter einander in keinem Zusammenhange stehen, ist das Problem in seiner früheren Dunkelheit und unaufge¬ löst geblieben. Noch hat man nichts Besseres zu finden vermocht, als die Principien, die Fourrier und Owen aufgestellt, d. h. das Gehässige und das Unmögliche. Es war aber indeß an einigen Orten das Uebel so gewaltig geworden, daß man nicht länger warten konnte, sondern von der Discussio« zu thatsächlichen Mitteln, von den Theorien zu ihren Proben überzugehen sich genöthigt sah. Eine solche Nothwendigkeit ist in England eingetreten. Dieses Land war aus den Höhepunkt seiner industriellen Macht gelangt; es sah zu gleicher Zeit die An¬ zahl seiner Bevölkerung immer größer, die seiner Consumenten aber immer geringer werden, weil fremde Concurrenz ihr die Märkte streitig machte. Alle jene Verlegenheiten, die wir oben beschrieben, all die Kämpfe, die daraus entstehen, England hat sie periodisch, fast von Jahr zu Jahr durchzumachen gehabt. Dieser Staat, einst das classische Land des Reichthums und der Industrie, ward nun auch der classische Boden deö Pauperismus und des Aufstandes und um jene zu retten, mußte man sobald als möglich diese bekämpfen und ihnen hemmende Schranken setzen. Man wählte anfangs daS ein¬ fachste und scheinbar gerechteste Mittel; den Retchen ward auferlegt, für die Bedürfnisse der Armen zu sorgen und die Mildthätigkeit ward aus einer Tugend des Privatlebens und des freien Willens, indem sie Gegenstand eines Gesetzes wurde, eine öffentliche Verpflich¬ tung, eine heilige Schuld, eine Steuer. Aber dadurch ward die Lage nur um ein Element verwickelter und die Milvherztgkeit, die Gott nur für die wirklichen Leiden in'S Menschenherz gelegt, war hier in den meisten Fällen zu einer, auf Unkosten der menschlichen Würde, der Trägheit gegebenen Belohnung herabgesunken. Wenn sie so ausgeübt wird, kann die Mildthätigkeit dem öffentlichen Elend keinesweges abhelfen, weil sie dem Laster, woraus jenes entsteht, von einem Tage zum andern leben hilft und die Arbeit, durch die allein das Elend verringert werden kann, unnütz macht. Ja man kann sogar behaupten, daß eine solche Wohlthätigkeit all ihren mo¬ ralischen Werth verliert, indem sie sich zu einer Beraubung von Gütern hergiebt, aus deren Früchte lediglich die wirkliche Ohnmacht und Kraftlosigkeit ein Recht hat; sie vergißt, daß, wenn ihr Name im Gesetze Gottes sich geschrieben findet, das Wort Arbeit ebenfalls darin steht, und zwar, als eine menschliche Stiftung in der Mitte zwischen Gebet und Schuld sich findet. Unter der Herrschaft dieses neuen Mittels konnte also, in Folge der Natur desselben, Englands ökonomische Lage keine bessere wer¬ den; im Gegentheil wurden die Nachtheile desselben nur bald fühl¬ bar und man sah bald, daß dieses Heilmittel nur eine auflösende Kraft habe und seinerseits wieder bekämpft werden müsse. In der That hatte auch die Armentare zwar auf der einen Seite den Fa¬ brikanten und Manufacturisten einige geringe Erleichterung gewährt, hatte aber auf der andern Seite die ackerbauenden Producenten, auf denen sie vorzüglich lastete, erdrückt und der kleine Grundbesitz lag unter dem Gewicht einer willkürlichen Steuer, welche ihm oft die beste Hälfte seiner schönsten Einkünfte raubte, gänzlich danieder. Durch dieses dritte Element der Unordnung ward dieselbe übervoll' ständig und England war nun in allen seinen Theilen, in seiner industriellen Produktion, in seiner Bevölkerung und in seinem Grund¬ besitz von ein und demselben zehrenden Krebsschaden angefressen. Man hatte zur Unterstützung der ersten beiden die Armentare ein¬ geführt; sie mußte nun abgeschafft werden, um letzteren zu retten oder vielmehr man bewilligte sie fortan nur unter so harten Bedin» gnügen, daß dadurch das freie Elend mit all seinem Jammer und seinen Qualen noch etwas Vorzuziehendes däuchte. Die Einführung der Wörtl-llcuseZ an die Stelle der von den Gemeinden ertheilten Ar- menunterstützung hat keinen andern Zweck gehabt; diese Häuser ei¬ ner gezwungenen Arbeit, die dem Anscheine nach allen Unglück¬ lichen offen standen, haben sie in Wahrheit alle zurückgewiesen, in¬ dem sie eine Lebensweise zur Bedingung machten, deren Schmer¬ zen keine menschliche Geduld zu ertragen vermochte. So hat sich denn der Pauperismus, der Unterstützung, die ihn erhielt, beraubt und von der Schwelle des ihm offen stehenden Asy¬ les durch die Furcht vor demselben zurückgerissen, von Neuem er die Straßen geflüchtet und erwartet den Platz in der Gesellschaft, den ihm die Ohnmacht der Staatseinrichtungen nicht anzuweisen vermag, jetzt nur noch von dem Willen der Gottheit. Das Erperiment, daS England gemacht hat, ist also ohne Resultat geblieben; es ist, nach¬ dem es einen ungeheuern Kreis von Opfern und Versuchen durch¬ laufen, zu seinem Ausgangspunkte zurückgekehrt. Ausgegangen vom Elend und der Unordnung, findet eS sich jetzt durch eben die Mittel, welche es ihnen hat entgegenstellen wollen, wieder dahin zurückge¬ führt und wiederum ist ein innerer Krieg der einzelnen Gesellschafts- classen sein letztes ZuftuchtSmittcl. Im Stich gelassen von allen Theorien, hat England die des Gehen- des Vorübergeh en- lassens erfunden und so sein Geschick, in das eS selbst die Ein¬ sicht verloren hat, dem Zufall, oder einer Art morgenländischen Fa¬ talismus anheimgestellt. Englands Nachbarstaaten, die in diesen Weg ohne Ausgang minder tief hineingerathen sind, aber nur weil sie ihn später betra¬ ten, haben sich noch nicht, gleich jenem Lande, auf das Feld der Experimente gewagt. Bei ihnen steht die Nationalökonomie noch auf dem Standpunkte des Besprechet, PrüfenS und VorschlagenS; an'S Anwenden dieser Vorschläge hat man sich noch nicht gemacht. Die Gefahr aber ist unvermeidlich; denn wie wir vom auseinander¬ gesetzt, bestehen in diesen Ländern dieselben oder ähnliche Verhältnisse, wie in England und gleiche Ursachen müssen gleich« Resultate her¬ beiführen. Die Bezüge zwischen Capital, Grundeigenthum, Arbeit, immer anwachsender Bevölkerung und stets steigender Fabrikation sind ebenfalls gestörte und in Unordnung gebrachte, müssen also gleichermaßen zum Pauperismus oder zu einem völligen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führen. Hat nicht Frankreich schon jetzt seine periodisch wiederkehrenden Volksaufstände, und kann man über dem politischen Charakter, den sie äußerlich annehmen, die materiellen Ursachen übersehen, die ihnen in Wahrheit zu Grunde liegen und sie hervorrufen? Kann man nicht sehen wollen, daß der Communismus, der eigentlich Nichts als die Formel oder Vorbereitung des längst drohenden Krieges der Armen gegen die Reichen ist, eine unvermeidliche Nothwendigkeit geworden? Denn man glaube es nur, das Volk erhitzt sich zumeist durch die Eingebungen jener traurigen Nachgeben», der Noth. Höhere Ideen, staatsrechtliche Theorien haben nur insoweit einen Einfluß auf seine Handlungen, als sie seinen Bedürfnissen entsprechen und eS wird diejenige Staatsverfassung, welche dieselben am besten be- friedigt, stets auch für die beste halten, möge sein Antheil an der¬ selben sein, welcher er immer wolle. Wenn Belgien, von dessen Bevölkerung der größere Theil durch Naturanlage und Temperament ruhiger und minder ungestüm in seinem Benehmen ist, bisher noch keine dieser gewaltsamen Pro- testationen der Armen erlebt hat, so ist es darum nicht minder unter der Herrschaft jener oben angegebenen Ursachen der Auflösung aller gesellschaftlichen Bande und es wird in geringerer oder größerer Zeit am Rande ähnlichen Verderbens stehen. Ja es hat sogar eine um so traurigere Aehnlichkeit mit Englands Loos zu befürchten/ da seine Industrie durch ihre eine Zeit lang so unverhältnißmäßige Ausdehnung, weil es nicht dieselben weiten Ausfuhrwege als Eng¬ land hat, jetzt in einem Zustande des Schmachtens daniederliegt, der die immer steigende Bevölkerung, von der zwei Drittheile, wie in jenem Lande, auf die Industrie angewiesen sind, schon jetzt hart genug druckt. Diese fast gleiche Lage würde sicherlich auch schon ähnliche Folgen herbeigeführt haben, wenn sie nicht aus jüngerer Zeit sich herschriebe und wenn nicht, — dies ist ein Hauptgrund — der glückliche Umstand des Baues seines großen Eisenbahn-Netzes eini¬ germaßen abgeholfen und viel Tausenden von Armen Beschäftigung gegeben hätte. Aber dies letztere ist nur eine vorübergehende That¬ sache, deren Resultate in diesem Punkte nicht länger dauern werden, als das Factum selbst, während daS Uebel und seine Ursachen un¬ verändert bleiben. Der Augenblick steht bevor, wo jene Kräfte, für welche eine Zeit lang ein Spielraum gewonnen worden, diesen ver¬ lieren werden und es ist gar eine wichtige Aufgabe für Belgiens Staatsmänner, daran zu denken, wie sie diesen Tausenden von Eristenzen, welche jetzt durch die großen Staatsbauten beschäftigt werden, eine neue Nahrung verschaffen können. So ist es also durchaus wahr, daß auch Belgien, wenn gleich für den Augenblick in geringerer Gefahr, als seine Nachbarn, doch einer Zukunft voll stürmischer Wirren entgegen geht. Grundbesitz, Capital und Arbeit stehen auch hier kämpfend einander gegenüber und sind in fortwährendem Anstoß begriffen. Aus ihrem Ringen wird dann ebenfalls jener äußerste Zustand des Pauperismus her¬ vorgehen, für den, wie wir gesehen, das waltende Geschick Mein ein Heilmittel geben zu können scheint. Es ist also hohe Zeit, sich zu beeilen, aus den vorbereitenden Bahnen herauözuschreiten, von der theoretischen Besprechung zur praktischen Anwendung, von den Ideen zu den Thatsachen überzugehen und die Erfahrungen, die andere Nationen auf ihre Unkosten gesammelt haben, zu benutzen. II. Ganz abgesehen von den Ursachen, welche Moralisten und Psychologen den Versuchen der modernen Reformatoren unterschieben, giebt eS in den rein materiellen Zuständen unserer gesellschaft¬ lichen Lage Elemente genug, welche eine hinreichende Quelle für Entstehung jener Versuche sein konnten. Anfangs waren sie meist blos von dem Wunsche beseelt, an einigen isolirten Punkten beten- tende Verbesserungen und Umgestaltungen zu bewerkstelligen. Da sie sich aber überzeugt hatten, daß auf eine allgemeinere Annahme dieser Vorschläge durchaus nicht zu rechnen sei, da erst vergrößerten diese kühnen Geister ihren Gesichtskreis und entschlossen sich, die Welt ganz umzugestalten, damit auch sie ein Plätzchen darin fänden. Es war dies eine unausweichliche Nothwendigkeit. Da das Me¬ dium ihrer Thätigkeit ein in sich abgeschlossener Organismus war, so konnten sie, ohne diesen selbst durchgreifend zu verändern, die theilweisen Reformen, die sie anfangs vorschlugen, nicht unter dessen Schutz stellen; nicht etwa als ob dieselben unvernünftig oder unnütz gewesen wären, sondern blos deshalb, weil innerhalb einer Reihe be¬ stehender Thatsachen, die so combinirt waren, daß man an keinem Detail etwas ändern konnte, ohne ihren ganzen Zusammenhang zu zerrütten, ihre Ausführung unmöglich war. Wie wollte man z. B., um beim nächstliegenden stehen zu bleiben, die Lage der Arbeiter verbessern und zu einer Erhöhung deS Arbeitslohnes kommen, ohne das Dasein der Industrie zu untergraben, die aus innern, oben er¬ klärten Nothwendigkeiten, von Tag zu Tag den Tagelohn herabzu¬ setzen sucht? Wie wollte man die möglichst größte Zahl an den Genüssen deö Besitzes Theil nehmen lassen, ohne den heiligen Rech, ten deS Bestehenden Abbruch zu thun? Wie wollte man endlich neben alten Rechten neue begründen, ohne jenen einen Zwang an¬ zuthun? Hierin lag offenbar eine unübersteigbare Schwierigkeit, und die Neuerer mußten, um ihren Ideen Erfolg zu verschaffen, dieselben ausdehnen; sie mußten die Nothwendigkeit der bestehenden Einrichtungen lüugnen, weil sie, physisch oder moralisch, nicht im Stande gewesen, einen Vergleich mit ihnen zu schließen. Dies ist und wird stets die nothwendige Schlußfolge aller Versuche sein, die man gemacht hat oder noch machen wird, um den Zustand der schon seit langer Zeit constituirten Gesellschaften in wesentlichen Punkten umzugestalten. Selbst die nüchternsten, phantasielosesten Geister ha¬ ben sich diesen Folgen ihres Beginnens nicht ganz entziehen können und, wenn sie auch nicht so weit gegangen sind, als ihre Vorläufer, so sind sie doch auch gleich diesen auf wahre Confiscationen hin¬ ausgekommen, indem sie, die Einen den freien Gebrauch des Besitzes beschränkten, die Andern in den Seitenlinien die Wirksamkeit des Erbrechts aufhoben, immer also an den Punkten, wohin sie sich 38 wandten, irgendwie an der Unverletzlichkeit schon erworbener und bestehender Rechte sich vergriffen. Man würde sich also nur denselben WechselfAllen von Unruhen oder Irrthümern aussetzen, wenn man unter den Verhältnissen, in denen wir leben, auf einem Terrain, das von allen Seiten durch ehrwürdige Gebräuche besetzt, vyn unverjährbaren Gesetzen beschützt und von dem rechtmäßigen Widerstande der bedrohten Interessen vertheidigt ist, eine neue Organisation der Arbeit versuchen wollte. Selbst die mit der größten Ungeduld von Allen herbeigewünschten Verbesserungen könnten hier kein Glück machen; und wir glauben kaum, daß es irgend einen Kapitalisten oder Fabrikherrn giebt, der den Tarif des Geldes oder des Arbeitslohnes zu verändern im Stande wäre, um dadurch den Leiden der von der Industrie an¬ gewandten Volksclassen abzuhelfen. ES bleibt, also Nichts übrig, als zu den umgekehrten Mitteln seine Zuflucht zu nehmen uno an Orten zu handeln, die von allen feindlich entgegenstehenden Antecedentien frei, ausgedehnt genug sind, daß neue Interessen sich hier behaglich und unbeschränkt einrichten können und zugleich hinlängliche Vortheile besitzen, um diese Interessen zu befriedigen. Um aber an solche Orte zu gelangen, bleibt kein andres Mittel, als Kolonien anzulegen, nicht in der althergebrachten Bedeutung dieses Wortes, sondern um den Menschen Ausgangspunkte zu er¬ öffnen, wodurch daS Heil unsrer eigenen Institutionen gesichert wird, und um daselbst eine Organisation der Arbeit einzuführen, die so combinirt ist, daß sie all den Elementen, welche jetzt unsren bestehenden Verhältnissen bedrohlich gegenüberstehen, hinlänglichen Spielraum gewährt. ES ist dies, dem ersten Anscheine nach, kein neues Mittel; aber die Art und Weise, wie es bisher angewandt worden, hat feine Kraft dermaßen geschwächt, daß man sagen kann, es befinde sich noch im Zustande völliger Kindheit und sei, wenigstens in Be¬ zug auf die heilsamen Wirkungen, die es haben kann, durchaus noch unbekannt. Denn fast alle Auswanderungen sind bisher—und besonders in Teutschland — lediglich dem Zufall anheimgestellt und ohne alle Vorbereitungen in die fremden Gegenden hinaus¬ geschleudert worden, die sie sich zum künftigen Aufenthalt auser¬ sehen hatten. Meist lediglich der Speculation überlassen und auf eine jammervolle Weise von derselben ausgebeutet, sind diese Auswanderungen aus einer Lebensfrage für das Wohl der Mensch¬ heit, zu der sie bei geschickter Leitung werden konnten, zu einem Gegenstande gemeiner Selbstsucht und unwürdiger Blutsaugerei her- abgesunken. Vom dringendsten Bedürfniß aus ihrem Vaterlande vertrieben, haben diese Auswanderer das Elend, vor dem sie flohen, nur an andern Orten wiedergefunden und England, Deutschland und die Schweiz haben in Folge dieser nutzlosen Emigrationen un¬ zählbare Schaaren ihrer kräftigsten Jugend sich zerstreuen und jam¬ mervoll untergehen sehen. Wenn trotz so vieler Prüfungen und Täuschungen die Auswanderungen noch nicht aufgehört haben, wenn täglich neue Schaaren sich anschicken, die Verlornen Spuren ihrer Vorgänger aufzusuchen, so liegt die Ursache, außer in mannig¬ fachen religiös-politischen Verhältnissen, deren Besprechung uns hier zu weit abwärts führen würde, besonders in den unvermeid¬ lichen Folgen der fast überall eingetretenen Uebervöllcnmg, welche nach außen hin sich Luft machen muß. ES ist also die Emigration eine Nothwendigkeit unserer Zeit geworden, welche eben darum eine höhere Fürsorge erheischt; sie ist eine neue Bewegung deö ge¬ sellschaftlichen Körpers, welche aber, wenn sie ihren Zweck erreichen soll, geregelten und bestimmten Gesetzen unterworfen werden muß. Es reicht über die Grenzen dieses Aussatzes und aufrichtig gestan¬ den, auch über die persönliche Befähigung des Verfassers hinaus, diese Gesetze hier zu formuliren und hinzustellen, so wie dies über¬ haupt eine der schwierigsten Aufgaben unsrer Zeit sein möchte. Aber wenn man das Ziel sich klar macht, das man mit den Emi¬ grationen erreichen will, so müssen die Gesetze derselben dem Geiste einigermaßen vorschweben. Die Auswanderungen sollen, nach meiner unmaßgeblichen Ansicht aber, einen doppelten Zweck erreiche». Sie sollen zugleich den Ländern, von denen sie ausgehen und denen, wo sie hin kommen, nützen, indem sie zwischen beiden Beziehungen an¬ knüpfen welche den Bedürfnissen eines jeden derselben entsprechen. Beide Länder müssen daher durch neue Handels-Combinationen mit einander verbunden und es muß auf der Basis ihrer gegensei¬ tigen Producte eine regelmäßige Bewegung von Beziehungen und Austauschen in den Gang gebracht werden. Vor Allem aber muß das Paterland der Auswanderer dafür sorgen, daß, indem es die 38 » Kinder, denen eS selbst ein Unterkommen zu verschaffen nicht ver- mocht, in die Fremde sich zerstreuen läßt, es dennoch auch in der Ferne sie noch unter seinem schützenden Fittich hält und daß diese ihrerseits ihm dafür einen thätigen Dank abstatten können. Man begreift aber leicht, daß so wie dieses letztere von der Lage und dem Wohlstande der Auswanderer in ihrem neuen Wohnorte ab¬ hängt, diese selbst wieder im innigen Zusammenhange mit der Kraft des Staats- und Arbeits-Organismus stehen, dem sie ein¬ verleibt worden sind. Diese und ähnliche Ideen haben offenbar den Begründern eines Vereins vorgeschwebt, welcher sich unter dem Namen Belgische Colvnisations-Compagnie constituirt und die Ge¬ nehmigung der Brüsseler Regierung für sich und seine Statuten erhalten hat. An der Spitze der Compagnie stehen als Meistbe- theiligte und kräftig Mitwirkende eine Anzahl Männer von vor- theilhaftem bekanntem Charakter, wie der Staatsminister GrafMerode, Graf Hompesch, ein Deutscher, Graf Arrivabene, ein nicht unvor- theilhaft bekannter Schriftsteller im Gebiete der ökonomischen Wissen¬ schaften, und andere mehr. Die Compagnie hat ihr Augenmerk zunächst auf den, District der Bai von Santo Thomas in der Republik Guatemala in Central-Amerika gerichtet, der ihr unter ziemlich günstigen Bedingungen abgetreten worden war. Hier be¬ fand sie sich auf einem Terrain, das noch jungfräulich, noch nicht von mannigfach verwickelten Interessen eingenommen war. Hier konnte sie also eine innere Einrichtung ganz nach ihrem Belieben treffen. Und dies bezweckt sie auch. Von Herrn Louis Obere, einem scharfsinnigen, erfahrenen Mann ist eine geistreiche Combina¬ tion der verschiedenen Elemente, die zur Colonisation eines Landes erforderlich sind, ausgesonnen worden, welche alle betheiligten In¬ teressen gleich sehr zufrieden zu stellen vermag und deren ausführ¬ licher Besprechung die folgenden Seiten gewidmet sein sollen. Bor¬ her wollen wir nur noch zur Geschichte dieses Unternehmens be¬ merken, daß von der Compagnie eine aus Sachkundigen bestehende Comtssion, der auch die belgische Regierung einen Comissair beigegeben, hatte, an Ort und Stelle geschickt worden war. Die Untersuchun¬ gen, welche diese Compagnie anstellen sollte, betrafen die wichtigen Punkte über Salubrität, Lage und Fruchtbarkeit des Landes, über, dessen Producte und über die Möglichkeit, einen Tauschhandel zwi- schen den industriellen Fabricaten Belgiens und Europas einer — und den rohen Naturerzeugnissen Central. Amerikas andrerseits herzustellen, kurz über Alles, waS für den Zweck der Compagnie „landwirthschaftliche, gewerbliche und ackerbauende Niederlassungen zu begründen," von Wichtigkeit war. Diese Untersuchungs-Com¬ mission ist vor einigen Monaten zurückgekehrt und ihre seitdem ver¬ öffentlichten Berichte sind der Gegenstand einer gründlichen und ernsthaften Besprechung nicht allein in belgischen, sondern auch in deutschen Blättern gewordenOhne hier weiter auf dieselben einzugehen, wollen wir nur bemerken, daß dieses ganze Unterneh¬ men von aller Spekulation auf unmittelbaren Geldgewinn durch Verkauf von Ländereien weit entfernt ist. Im Gegentheil tritt die sociale und menschheitliche Absicht der Compagnie deutlich her¬ vor durch das, was auch in anderer Beziehung ihre hervorstechendste, beachtenswertheste Eigenthümlichkeit ist, durch die in ihren Regle¬ ments enthaltenen Anordnungen und neuen Mittel nämlich, vermöge deren sie in dieser Kolonie, wo Nichts ihr hemmend entgegentritt, eine neue Organisation der Arbeit begründen null. Sehr weise hat hier die Compagnie daran gehandelt, daß sie von vorn herein ihren praktischen Zweck fest im Auge haltend, alle jene Ansprüche auf social-philosophische Bedeutsamkeit bei Seite gelassen hat, mit denen bisher diese Frage über Organisation der Arbeit gewöhnlich aufgetreten ist. Sie hat keinem System seine Man sehe unter anderen mehrere Artikel i>ro et contra in der Köl¬ nischen Zeitung vom November d. I. Wer sich übrigens über diese ganze Angelegenheit, die auch für Deutschlands unglückliche Auswanderer von höchster Wichtigkeit werden kann, weiter belehren will, den verweisen wir auf eine kleine Schrift, die nächstens unter dem Titel: „Belgische Compagnie zur Ko¬ lonisation des Districtes Santo Thomas in Guatemala" in Dresden in der Waltherschen Hofbuchhandlung erscheinen wird. Sie ist nach den offiziellen Dokumenten der Compagnie gearbeitet und giebt einen gedrängten Auszug über die ganze Angelegenheit. Zugleich sind darin die Agenten der Compagnie genannt, bei denen man sowohl die bisherigen sämmtlichen Berichte, Sta¬ tuten, Reglements und andern Publicationen des Vereins als auch jede an¬ dere Auskunft über die Sache erhalten kann. Von den Statuten und den, wie wir im Verlaufe dieses Aussatzes ausführlich darthun werden, überaus wichtigen und eigenthümlichen Reglements wird ebenfalls eine getreue deutsche Anm. d. Verf. Uebersetzung vorbereitet. dogmatischen Formeln, keiner Schule ihre neue Terminologie entlehnt. Sie hat all daS schwereGepäck des Socialismus hinter sich gelassen, das doch zu Nichts weiter dient, als den Mangel an Ideen hinter einem Purpurmantel hochtrabender Floskeln zu verbergen. Was sollte sie auch mit diesem unnützen Wortaufwand machen, der eben nur für die excentrischen Neuerer gut ist? Da sie Sitten und Ge¬ setze, Einrichtungen und Gebräuche unverändert so annahm, wie sie dieselben vorfand, so mußte sie nothwendigerweise auch den Geist und die Sprache derselben beibehalten. Sie ist von der Theorie zu den Thatsachen übergegangen und sucht, indem sie sich mitten auf den Markt des Geschäftölebenö stellt, das Verdienst ihrer Ideen nur in deren praktischem Werthe. Nur Eins hat sie den ihr vor¬ angegangenen Systemen entlehnt, nämlich das Wort Association, das ja eigentlich so alt als die bürgerliche Gesellschaft und dessen Bedeutsamkeit allgemein anerkannt ist, ob zwar es bisher noch Nie¬ manden hat gelingen wollen, eS vernünftig anzuwenden. Wir wollen nun betrachten, was in dem neuen uns vorliegenden Plane daraus geworden ist. Die Compagnie verbindet zu einer Gesellschaft mit einander die drei Elemente des Grundbesitzes, des Kapitals und der Arbeit, aber nur in den neuen Ländern, wo sie ihre Niederlassungen be¬ gründen will, weil dort keines jener unbesiegbaren und zahlreichen Hindernisse der Verbindung entgegentritt, welche schon bestehende gesellschaftliche Verhältnisse ihr in den Weg legen und weil man dort, ohne bei jedem Schritt ängstlich auf alle Umgebungen ach¬ ten zu müssen, neuen Combinationen sich überlassen kann. Die drei Mitglieder der Association liefern jedes eine ihm zugehörende Einlage; der Grundbesitz, die Gründer der Compagnie, giebt die von ihm erworbene Landstrecke her; das Kapital, die Mctionaire, welche größere oder geringere Loose an sich bringen, giebt die Mit¬ tel zur Ausbeutung der Ländereien; die Arbeit endlich, die von der Compagnie einzuführenden Colonisten, liefert ihren Beitrag, indem sie die Bebauung der Ländereien übernimmt. Der Fond der Gesellschaft, sowohl an beweglichem als an un¬ beweglichem Besitz, bleibt während der Dauer der ihn ausbeuten¬ den Gemeinde — die Association nimmt nämlich den Namen Oommu- »ant«- tlo t'lluwu an — unveräußerlich. Der aus der Exploitation erwachsende Gewinn, — denn die Compagnie wird nicht allein land- wirthschaftliche, sondern auch industrielle und Handels-Niederlassung gen innerhalb der Gemeinde anlegen —, wird in drei gleiche Th^t? zertheilt, die den Drei die Gesellschaft bildenden Hauptelementen zufallen. Eine zweite Vertheilung dieses Gewinnes geschieht inner¬ halb der drei Kategorien unter die ihnen Angehörenden und zwar erhalten die einzelnen Individuen einen ihrem Eingebrachten ent¬ sprechenden Antheil. So werden die Rechte der Grundbesitzer und Kapitalisten, in ihren respectiven Classen, nach der Anzahl der ihnen gehörenden Besitztitcl geordnet; für die der Arbeiter dagegen ist als Maßstab ihr Tagelohn angenommen, der, indem er die Summe und den Verdienst ihrer Arbeiten angiebt, zugleich die Be¬ deutsamkeit ihrer Einlage in die Association anzeigt. Diese Eintheilung des Gewinnes, die so einfach und natürlich ist, daß man erstaunt, ihr hier zum ersten Male zu begegnen, hat das wesentliche Verdienst, daß sie alle Verwirrung bei einem Ge¬ genstand vermeidet, der ihrer voll ist und daß sie die wirkliche ge¬ genseitige Bedeutung des Grundbesitzes, des Kapitals und der Ar¬ beit klar feststellt. Besonders tritt dieses Verdienst in Bezug auf die Arbeit hervor. (Wir nehmen hier, wie an andern Stellen die¬ ses Aufsatzes, das Wort Arbeit in seiner umfassendsten Bedeutung). Bisher fehlte es für dieselbe an einem genauen Maßstabe, so daß man sie nie nach ihrem wahren Werth, sondern immer ent¬ weder zu hoch oder zu niedrig anschlug. Das beste Mittel, sie billig zu schätzen, besteht aber darin, daß man sie einer Stufenleiter unterwirft, welche nach dem Verhältniß deS Grades der Arbeit auch die Grade der Belohnung bestimmt. Diese Art und Weise nun findet sich deutlich in der Bestimmung der Compagnie, wonach der Antheil am Gewinn mit dem Tagelohne des Arbeiters steigt oder fällt. Man sieht es wohl leicht ein, daß hier mit Hinweglassung der in ihrer Allgemeinheit unklaren, hochtrabenden Phrasen die berühmte an der Spitze des Se. Simonistischen Glaubensbekennt¬ nisses stehende Formel: Einem Jeden nach seiner Fähig¬ keit, einer jeden Fähigkeit nach ihren Werken, die im Grunde freilich nur eine der wesentlichsten und darum allgemein- giltigsten Formeln der menschlichen Gerechtigkeit ist, ihre praktische Anwendung gefunden hat. Wir glauben, daß dieser Punkt der hervorragendste und interessanteste der neuen Organisation derselben den allgemeinsten Beifall sichern wird; denn sie wird dadurch, ob¬ gleich ein Fortschritt im Geiste moderner Ideen, doch auch den vernünftigen Freunden der bestehenden Ordnung annehmbar. Es hat hier wieder ein Mal ein bei materiellen Dingen häufig ein¬ tretender Fall Statt gefunden. Alle Welt sah die Bedeutsamkeit eines Principes voraus, aber man suchte vergebens nach einer mechanischen Combination, um es in Gang zu bringen, bis man endlich fand, daß es hiezu nur einer ganz einfachen Vervollkomm¬ nung bedürfe. Nachdem die Compagnie diese Gemeinschaft der Interessen be¬ gründet, und die Rechte der Mitglieder dieser Association bestimmt hat, setzt sie für die arbeitenden Classen auch noch Belohnungen für einzelne Fälle aus, bewilligt sie ihnen besondere Gunstbezeugun¬ gen, die als neuer Sporn dienen sollen. Außerhalb dem Landge¬ btete der Gemeinde werden ihnen nämlich bestimmte Landstrecken gegeben, entweder wenn ein Arbeiter einen längeren Zeitraum (1t) bis 20 Jahre) als solcher in der Gemeinde verblieben ist, oder bei seiner Verheirathung innerhalb derselben, oder endlich bet der Ge¬ burt von Kindern aus seiner Ehe. So wird der Arbeiter, außer seinem Tagelohn und seinem Antheil am Reinertrage der Gemeinde, noch persönlich Eigenthümer von Grund und Boden und mit den wachsenden Lasten einer zahlreich werdenden Familie sieht er hier auch seinen Wohlstand zunehmen. Nun ist er in allen nützlichen Theilen des gesellschaftlichen Lebens selbst und unmittelbar betheiligt; er steht innerhalb irgend einer Industrie, ist selbst Besitzer von Land und Familienvater; diese dreifache Stellung macht ihn moralisch besser und macht ihn geneigter, die Interessen dieser drei Gesellschafts¬ kategorien zu vertheidigen, weil er selbst einen Platz innerhalb der¬ selben hat. Unruhen und Unordnungen können fortan durchaus von keinem Gewinne für ihn sein, wie sie auch bisher eigentlich den Arbeitern nie genützt haben. Denn, wenn er auch vielleicht in Folge des durch eine Revolution herbeigeführten Plätzewechsels auf der ei¬ nen Seite Etwas gewinnen könnte, so könnte er doch andrerseits das verlieren, was er Liebstes besitzt, nämlich den Erwerb langjäh¬ riger Arbeit, den ein Jeder so gern bewahrt und so heiß vertheidigt, weil es eben mit manchen Schmerzen und langer Ausdauer erkauft werden mußte. Freilich glauben wir nicht etwa, daß in dieser neuen Colonie sich unter den Arbeitern keine menschlichen Leidenschaften mehr regen werden. Da aber die Unruhen und Stürme, welche sie heraufzubeschwören vermögen, nicht mehr in den wirklichen Ursachen trauriger, erbitternder Noth ihre Begründung finden werden, so wird man einerseits sie leichter beruhigen können und wird sich andrerseits bei ihrer Bekämpfung nicht den Anklagen der Theilnahmlostgkeit und Härte ausgesetzt sehen, weil man leicht wird darthun können, daß die Feindseligkeit eine ungerechte und darum verbrecherischeist. Da verschwindet zum Theil wenigstens das schroffe Gegenüber¬ stehen des Grundbesitzers, des Kapitalisten und deö Arbeiters. Der Spielraum, den die Combination dieser drei Elemente bedürfte, ist gefunden, ihre gegenseitige Bedeutung ist geordnet, einem jeden sein Theil zugewiesen. Wie aber, durch welche gemeinsamen oder zer¬ theilten Anstrengungen soll dieses Resultat erreicht werden; wie sol¬ len die Arbeiten materiell organisirt werden? Wollte die Compagnie, da sie das Princip der Verschmelzung der Interessen angenommen hatte, ihrem Werke Einheit verleihen, so mußte sie in verstandeSge- mäßer Folgerichtigkeit, auch zur Verschmelzung der Mittel, zur Ge-> meinschaftlichkeit der Arbeit sich verstehen. Es ist diese Art und Weise übrigens bei Gründung von Colonien die einzig praktische; nur die durch die Concentrirung erlangte Vervielfachung der Kräfte kann zu den großen Arbeiten ausreichen, welche die Folge der An¬ legung einer Colonie sind und für welche die beschränkten Mittel vereinzelter Individuen durchaus unzulänglich sind. Das Anlegen von Straßen und Canälen, das Eindämmen von Strömen, das Ur¬ barmachen großer Urwälder, kurz alle für das Wohl einer großen Gemeinschaft und für die Zukunft berechneten Unternehmungen ge¬ hören ausschließlich der Collectivarbeit ein. Denn um solche Bauten und dergleichen durchzusetzen, bedarf es einer einigen Leitung, welche über große Kräfte verfügt und nach den Bedürfnissen von Ort und Zeit die ihr zu Gebote stehenden Hilfsmittel combintrt, zusammen¬ hält und vertheilt. Es ist dies eine Wahrheit, welche durch die Erfahrung aller Gesellschaften, die nur im Verhältniß ihrer Cen¬ tralisation groß geworden sind, mehr als hinlänglich erwiesen ist. Was aber von allen gesellschaftlichen Vereinen (auch dieses Wort nehmen wir in seinem weitesten Umfang, wo es mit dem Be- griff deS Staates zusammenfällt) bisher unterlassen worden, das ist eine enge Verbindung des Interesses derjenigen, welche durch ihre persönlichen Anstrengungen die großen materiellen Arbeiten auszu¬ führen haben, mit den Resultaten dieser Arbeiten selbst. Im Gegen¬ theil haben diese Arbeiter bisher fast nie den Nutzen, wenigstens nicht ihren persönlichen, an solchen Unternehmungen einsehen können und haben daher auch nicht mit jenem Eifer dafür sich bemüht, den eben nur das Bewußtsein einer persönlichen Betheiligung erregt. Noch fühlbarer wird der Nachtheil dieser Abtrennung des Arbeiters, wenn er aus dem Kreise der Unternehmungen für das Gemeinwohl heraustritt und wenn sein Privatinteresse dem eben so schroff isolirten des Producenten, sei es nun in landwirthschaftlicher oder in gewerblicher Beziehung, gegenüber steht. Dann interesstrt den Arbeiter nur noch die Frage über die Höhe deS TagclohnS; an das Gedeihen oder Zugrundegehen der Fabrik oder der Pachtung liegt ihm so wenig und er steht ihnen so fern, daß er sie sogar in den Tagen seines Zornes plündert oder verbrennt. Wo aber eine auf Gemeinschaft der Interessen zwischen den Arbeitern einer- und den Grundbesitzern und Kapitalisten andrerseits beruhende Cvllectivarbeit eintritt, da stellt sich auch sofort jene enge Verbindung heraus, wodurch die Sicherheit des Einen der Eristenz des Andern und die Macht des Ganzen der Wirksamkeit der einzelnen Theile unterge¬ ordnet ist. Es ist also die Association nicht blos den Arbeitern nützlich, — denn in diesem Falle würde ihr Nutzen und sie selbst bald aufhören, — sondern allen Gliedern, aus denen sie besteht. Der Capitalist und der Grundeigenthümer finden darin eine Bürg¬ schaft für das ruhige Bestehen ihres Besitzes, indem sie nicht länger für die Arbeiter ein Gegenstand feindlichen Neides sind. Zugleich aber, — und dies ist bei ökonomischen Untersuchungen ein Haupt¬ punkt — wird die Gesammtkraft der Produktion dadurch zu einer höheren Entwickelung befähigt, indem sie an der intelligenten Thä¬ tigkeit des Arbeiters, der sich ihr nun, da er am Erfolg betheiligt ist, ganz widmet, ein neues befruchtendes Element erhält. Diese natürliche Wirkung der Association macht sich aber eben so gut, als in industriellen Unternehmungen, auch beim Ackerbau geltend. Denn, wenn auch mit Verschiedenheiten in der Anwendung, immer ist doch Capital oder Grundbesitz der Arbeit gegenüber gestellt und immer kommt es auf ihre Einigkeit an. Die Einkünfte eines Grundeigen- thümers und der Gewinn eines Fabrikherrn hängen gleich sehr von dem Verdienst und dem Eifer der Arbeiter ab und diese Eigenschaf¬ ten wiederum stehen im geraden Verhältniß zu den Banden, welche den Arbeiter an das Grundstück oder die Werkstätte knüpfen. In beiden Beziehungen wird sich zeigen, daß die Association, weil sie den Arbeiter bei der Sache betheiligt, also seinen Wetteifer anregt, die fruchtbringendste Combination ist. Denn sie beruht auf der auch in den Gesetzgebungen der civilistrten Nationen geltenden psycholo¬ gischen Erfahrung, daß das Interesse an einer Handlung der beste Maßstab für die Theilnahme daran ist. Ha «»bürg nach dem Brande. Es ist nicht immer traurig auf Trümmern wandeln, unter Ruinen träumen, die gesunkene Herrlichkeit der Erde hat auch ihre helle Lichtseite. Es liegt ein tiefer Trost in der Vergänglichkeit der Dinge, eine tiefe Poesie im Sturz der Palläste, im Fall der Tempel, im Vergehen und Verwehen der Menschenwerke. Es ist der Trost des Erhabenen, die Poesie des Unvergänglichen, die sich wie ein innerster Kern aus der zerbrochenen Schale löset. In diesem Wiederaufbaun, in diesem Erneuern, welch ein Trotz, welch ein Kampf gegen die Macht deS großen Flusses, in dem Alles strömt, Alles fließt, untergeht und auftaucht, zu Grabe geht und wieder zu Tage kommt, sterbend hinwelkt, um blühend wieder geboren zu werden. Es ist die große Wanderschaft der Idee, die auch dem kalten Stein die Spur ihres Riesenschrittes einprägt; eS ist der Schritt der großen Weltseele, der über die Gräber von Memphis streift, durch die Urwälder am Missisippi rauscht. Ueber Schutthaufen und Trümmern das glänzende Wolkenheer des Mor¬ genhimmels; über Aschen und Schlacken — die funkelnden Stern¬ bilder der blauen Nacht. Es ist nicht traurig unter Ruinen wan¬ deln; waS wäre die Welt ohne sie? Wie einst Aeneas auf seinen Schultern AnchyseS und die Hausgötter aus Trojas Flammen rettete, und mit Priam's blühender Tochter und ASkanius vom Berge Jda steigend, das ionische Meer durchschiffte und im ladinischen Reich den Baustein zur römischen Herrlichkeit zusammentrug, so wird auch dieser ungeheure Brand ein Wendepunkt in der Geschichte der alten Hansastadt werden und das Urgesetz vom ewig Neuen erhärten, das sich im Kleinen wie im Großen kund giebt, an Menschen und Städten. Das Leben in der großen Brand- und Baustätte erwacht täg¬ lich mehr, gießt sich in immer neue Formen; bald wird eS wieder kräftig und eilend an diesen Stätten vorüberrauschen, aus denen jetzt noch das Grauen und die Einsamkeit des Erstorbenen hervor¬ starrt. Bald werden diese Mauern, denen der erste Schnee des Winters die letzte Spur der heißen Gluth genommen, wieder Alt und Jung umschließen, Freud und Leid, Jubel und Klage; bald wird wieder dieser Eingang, von dem nur noch wenig Stufen in die leeren Räume ausgebrannter Wohnungen führen, zum Prunkgemach und zur Dachkammer leiten; die Menschen werden wieder über und neben einander wohnen, Tod und Leben werden sich wieder die Hand zum Aus- und Eingehen reichen; der Bettler wird wieder auf der Schwelle des Reichen kauern und das Toben der großen Stadt wird wieder zu den neuen, hohen Dächern dringen. Statt der krummen, engen Straßen wird der Fremde sich heimisch fühlen in geraden, breiten Gängen, und die Söhne der Heimath werden fremd sein in der eignen Vaterstadt. Der gerade Weg der beste, das scheint der Grundsatz zu sein, nach welchem der Plan der neuen Stadt angelegt und ausgeführt wird, und wo er nicht durch¬ geführt werden kann, darf man sich damit trösten, daß die gerade Linie nicht immer die Schönheitslinie ist. Die Stadt wird sehr schön werden. Noch nimmt die Enttrümmerung einen großen Theil der Arbeit in Anspruch; der Schuttwage» knarrt noch von früh bis spät, die mächtigen Taue reißen noch immer ein, nach und nach treten die Grundlinien der Häuser nackt hervor, und was das Feuer übrig ließ, das entmörtelt das Brecheisen. Die kleinen Fähn¬ lein an den Bau- und Richtstangen, die anfangs roth und weiß waren, verbleichen im Sonnenlicht und Regen, aber hie und da rankt sich die rothe Mauer schon kühn über sie empor; Häuser wer¬ den gerichtet und der Mauerkranz grünt im hohen Dachstuhl. Möchte Freud' und Fried' in Menge unter den neuen Dächern wohnen, Größe und Einheit und Klarheit am neuen Herd, daß sich kein böser Geist über die junge Schwelle schleiche! Die beiden Niesentrümmer harren der neuen Zeit; die Hände scheinen sich vor ihrer Berührung zu fürchten; wehmüthig ruht das Auge auf den stummen Tempelresten, über deren offne Wunden die Stürme hinbrauscn; auf die die Wolken herabweinen. An der mächtigen Galerie des Nicolai Thurms (sie ist nicht wie Schleiden sagt, von Holz, sondern von Sandstein) zaust der Wind, und wirft von Zeit zu Zeit einen Steinblock herab; unheimlich glitzern in der Abendsonne die spärlichen Neste der Kirchenfenster im halbgeschmolzenen Gitter; zwischen den wehenden Kupferfetzen, die wie röthliche Lappen — die Neste der Thurmbedcckung — über die Galerie hin und her schwanken, reckt sich der offne Rachen der Gießrinnen biegend hernieder, als lechzten sie nach Kühlung; der Vollmond zeichnet grell die hohen gothischen Fensterbogen und Ge¬ wölbe auf den düstern Mauergrunv. An der Westseite zieht sich ein schmaler, bandartiger Streifen von der obersten Brüstung bis aus die Grundmauer herab, er bezeichnet den Platz, an welchem der Blitz¬ ableiter befestigt war, der in der Gluth abschmolz. Auf der äußer¬ sten Spitze des Mittelstücks steht ein einzelner Pfeiler von der steiner¬ nen Galerie; in der Dämmerung ist's, als wäre es eine Schilowache, die dort einsam herabspäht, die eisernen Klammern scheinen müde die bauchigten Mauern noch länger zusammenzuhalten; die Giebel der Seitenkirchen drohen umzuknicken, und der oberste Mauerkranz lugt mit seinen offnen Fenstern so sterbemüde und gramschwer herab, daß man ihm anzusehen glaubt, wie sehnsüchtig er den Einsturz herbei¬ wünscht. Der Gedanke, daß diese Kirche bis auf den Boden abge¬ tragen werden muß, zieht das Auge immer wieder auf sie zurück; sie ist massiver und schwerer in allen ihren Formen, gedrängter und gedrückter in ihren Bögen, als die Petrikirche, aber sie ist eben so kolossal und hat in ihrer Unbeholfenheit etwas tief Ergreifendes, in ihrer moralischen Hinfälligkeit mehr Furchteinflößendes als jene, die sich besser zum Malen und Beschreiben eignet. Sie scheint das Mitleid zu verachten und die Hilfe zu verschmähen, die jener geboten wird; es ist, als fühlte sie's, daß vielleicht an ihrer Stätte fromme Hände zum letzten Mal zusammenlagen, daß vielleicht hinfort das profane Leben über Altäre und Heiligenbilder siegen wird. Kein christlicher Segen hinfort, keine Seelenbeichte, keine fromme Klage, keine knieende Demuth mehr; statt der Orgeltöne schrille die ferne Dampfpfeife durch die offnen Fenster, statt des Gesanges andächtiger Gemeinde das Aechzen rollender Steine, das Dröhnen seufzender Gräber; statt Himmelfahrt und Frohnleichnamsfest — lustige Erden¬ fahrten und fröhliche Leichnamseste. Wer weiß, ob nicht nach hun^- dert Jahren an der Stätte des Gotteshauses ein witziger Gesell seinen Zechbrüdern erzählt, hier habe ein Mal ein Tempel gestanden, an derselben Stelle habe ein Mal ein Priester gedroht mit Gottes Zorn; da, wo Tanz und Jubel, habe einst eine büßende Seele in Sack und Asche getrauert. Wer weiß, ob nicht, wo jetzt die Ge¬ beine modern, bald Rosen glühen und das Leben lacht; auf den Schlacken der geschmolzenen Glocken — der Schmelz von Jugend und Schönheit! — Noch röchelt das Echo seufzender gestorbener Menschen durch diese Mauern, noch weht es den einsam nächtigen Wandrer an wie Leichenduft und Brandgeruch; noch heben sich zwischen den Trümmern — die Geister der entsetzlich Gefallenen — nächtlich zwischen den, Nebeln, und die Wehklage winselt zu den Sternen; Ohnmacht und Grauen wankt in den hohlen Tiefen; bald ist keine Spur mehr von den Tagen des Schreckens, und das Gedächtniß löscht eine Jammerknnde nach der andern von ihrer Tafel. Wie viel Gedanken, Bilder und Erinnerungen gehen mit einer Generation zu Grabe! Die Enkel streifen nur flüchtig am Sarge ihrer Ahnen vorüber. — Stürze dich immerhin in dein eignes gährendes Grab, du alter Frömmling aus Backsteinen; sie werden' deiner noch lange gedenken und vielleicht kommen ihnen Stunden der Wehmuth, in denen sie das Auge zu dir erheben, und statt deiner Nichts sehen, als den kahlen Himmel; dann weinen sie dir nach und sprechen eine moderne Elegie statt des Rosenkranzes. Die Zeiten sind nicht mehr, da tausend Hände mühsam Steinchen auf Steinchen häuften, beharrlich von nah und fern herbeischleppten und für Ewigkeiten fest kitteten; heute muß Alles aufschießen, wach¬ sen in Einer Nacht, in Einem Nu; heute gießen wir eine Kirche aus Eisen, Tempel aus einem Guß. Der alte Geist ist hinwegge¬ schmolzen, und der junge fließt wie klingende Glockenspeise im Feuer einer großen schönen Sonne. Und am Ende wozu so hohe Thürme, in einer ^eit der Nivellirung? Er hat seine Frist dahin, sein Leben gelebt; laßt die Todten ruhn. Diesem alten müden Giganten steht der letzte Schritt noch bevor. Bis jetzt hat man noch, nicht wie auf dem Petrithurm seine Höhe erreichen können, fast scheint es, keines Menschen Fuß werde dort oben je mehr Raum finden, keines Sterblichen Auge von dort oben über die durstende Stadt hinaus in die lachenden Fluren des leise rauschenden Elbstro- nics spähen. Es würde Nichts besser in den Schlußact des großen Dramas passen, das der alte Thurm selbst aufführt, als wenn er den zagenden Händen der Menschen zuvorkäme und in einer Stur¬ mesnacht zusammenstürzte. Ich glaube fast, er thut's, denn gräm¬ licher und lebenssatter blickte nie ein lebendiger Stein. Georg Schirges. T a g e b u es. Notizen. Der wackere Eomponist des Nachtlager zu Granada, der in den letzten zwei Jahren städtischer Capellmeister in Cöln war, ist nach Paris übersiedelt, um dort — wie die kölnische Zeitung sich wohlwollend ausdrückt, das einzige noch zu finden, was ihm bisher noch fehlte, nämlich einen erheblichen und accredititcn Ausgangspunkt für seine dramarischen Tondichtungen, von welchem aus, gleichsam nach bestandener Feuerprobe, sie sich nach fallen Seite» hin schnell und erfolgreich verbreiten können- Die cölnische Zeitung , die sonst die deutsche Nationalität mit vielem, oftmals sogar mit sehr weit ausgedehntem Eifer vertheidigt, läßt sich diesmal offenbar durch Wohlwollen verleiten, aus ihrer Rolle zu fallen. So arg steht es nicht in Deutschland, daß ein deutscher Tondichter von Ruf genöthigt ist, wie ein schwäbischer Häusler auszuwandern. Es ist nicht wahr, daß Creuzer in Paris Auswege für sein Talent suchen muß. Um nur das jüngste Beispiel anzuführen, hat Lortzing —dem nicht so günstige Mittel zu Gebote standen als Creutzer, nöthig gehabt, nach Paris zu ziehen? Conradin Creuzer hatte mehr als eine Gelegenheit in Händen, „nach bestan¬ dener Feuerprobe seine Tondichtungen nach allen Seiten hin zu verbreiten." Er war Kapellmeister im Kärnthnerthor-Theater in Wien, und alle Welt weiß, daß von dort aus, wenn ein Tomvcrk nur Halbweg Lebenskraft besitzt, es am leichtesten den Weg durch ganz Deutschland macht. Die wahre Ursache ist — daß Creutzer von jenem unstäten Wandergeist besessen ist, der ihn wie man¬ chen Schauspieler nicht lange auf einem Punkte läßt, selbst bei den günstigsten Umständen. Zudem ist Creutzer durchaus mehr Lieder- als dramatischer Kom¬ ponist. — Weil er sein Talent verkennt, verkennt er auch Deutschland und wir fürchten — er verkennt auch Paris! — — Was nützen uns all die schönen Deklamationen gegen die Uebersetzungen französischer Stücke, mit welchen unsere Bühnen überschwc'und.sind ? Die Thea- terdirektorcn in ihren undurchdringlichen Häuten kümmern sich sehr wenig darum und leider müssen wir es sagen,, sie haben die Lacher auf ihrer Seite, das Publikum nimmt Parthie für sie. Wie wäre es sonst möglich, daß z. B. in diesem Augenblick zwei verschiedene Uebersetzungen von Scribe's Lustspielen zu gleicher Zeit erschienen ? die eine in Stuttgart, die andere in Wien. Die Stutt¬ garter Uebersetzung ist im großen Vortheil gegen die Wiener, weil sie Alles, sagen kann, was im Originale steht — was die Wiener Eensurverhältnisse nicht gestatten. Herr Dralle, der Uebersetzer der Stuttgarter Ausgabe, hat dieselbe dem dortigen Oberregisseur Moriz gewidmet. Französische Uebersetzungen einem deutschen Regisseur zu widmen ist eine beißende Satyre auf unsere Theaterver- hältnisse, trotz der hübschen Widmungsworte, die Herr Dralle dazu geschrieben hat. — Gutzkow's „Werner" ist, in's Böhmische übersetzt, auf dem prager Theater zur Aufführung gekommen. Ob Gutzkow wohl den Titel seines eignen Stückes aussprechen kann? Er heißt: „8race a «>v6t sust, Mlenlcit s, M^niivIKa." — Ein ehemaliger Unterpräftlt eines Departements und Schriftsteller im Gebiete des Romans, Hippolyte Lormelier wird jetzt Schauspieler am »eeonck tkäutro tranoais. z<