Seiner Hochwohlgeboren dem Herrn Geheimen Oberregierungsrath Dr. Schulz . Mit ungemeinem Interesse laß ich die mir von Ew. Hochwohlgeboren übersandte Schrift des Herrn Professor Purkinje und eile nach dem vertrauensvollen Wunsche Sr. Excellenz des Geheimem Staatsministers Freiherrn v. Altenstein Ihnen meine Gedanken darüber mitzutheilen. Die Tendenz der Schrift ist, ein Terminologium zu entwerfen, nach dem jedes Menschenauge in allen seinen gesunden Lebensverhältnissen als eine subjective und vollkommen in sich abgeschlossene Einheit wie das individuelle Thier bestimmt werden könne. Diese Aufgabe, wenn sie jemals aus objectiven Merkmalen gelöst werden kann, ist eine der schönsten der beobachtenden Physiologie und von um so höherer Dignität, insofern sie auf der Vorstellung ruht, welche das Menschenauge als die vollendetste Erinnerung aller in dem einzelnen Organismus gegebenen physiologischen Besonderungen und gleichsam als Logarithme zur Erkenntniß einer geforderten allgemeinen Grösse betrachtet, wodurch demselben wenigstens der Schein einer thierischen Individualität gesichert ist. Die Materialien zu diesem Zwecke waren grösstentheils bekannt; auch kann ihr Kreis, wie fern das Auge hier blos als Sinn angeschaut werden soll, wohl schwerlich jemals beträchtlich erweitert werden. Jeder genaue Selbstbeobachter, am meisten der Physiolog kennt die lebendigen Verhältnisse seines Auges auf Bestimmtheit und Tenacität des Gesichtes , auf das Sehen in Nähe und Ferne und auf die einfachsten subjectiven Gesichtsphänomene. Wenn aber der Verfasser beabsichtigte, die Kriterien für den Lebenszustand jedes uns äusserlichen Auges in objectiven Merkmalen anzugeben, so halte ich diesen Vorwurf für unerreicht, auch durchaus unerreichbar (abgesehen von dem menschlichen Blick, welcher hier gar nicht in Betracht kommt), nicht wegen Mangel objectiver Merkmale, auch nicht wegen der etwa zeitlichen Unvoll- ständigkeit derselben, sondern wegen ihrer Unzulänglichkeit, welche sie durch keinen nummerischen Wachsthum ablegen werden. In dieser Beziehung sind die von Hr. Prof. Purkinje angegebenen objectiven Erscheinungen in sich zwar sehr richtig und aus dem angestammten Schatze der Erfahrungen zur Physiologie des Auges zu andern Zwecken von der grössten Wichtigkeit, aber grösstentheils von geringerm Werth für den vorliegenden Zweck, überdies bey der Leichtigkeit der subjectiven Erfahrung nicht einmal so sehr noth- wendig. Wenn die angegebenen Mittel in der That zureichend wären, so wäre die Bestimmung eines Menschenauges vermöge derselben eine der schwierigsten langwierigsten und in der Erfahrung nur sehr selten ausführ- baren Untersuchungen, die dennoch im bessten Erfolge zu keinem andern Resultate führen könnte, als welches die subjective Erfahrung des Indi- viduums während des ganzen Lebens mit viel grösserer Bestimmtheit gewinnen kann und wird und in ihrem ganzen Reichthum in wenig Augenblicken dem forschen Physiologen entwickeln kann. Gleichwohl hat Hr. Prof. Purkinje einen grossen Theil rein subjectiver Merkmale in seinen Kreis gezogen. Diese entsprechen dem Begriff einer physiologischen Praxis, welchen sich der Verfasser im Anfang gestellt, ganz und gar nicht. Vielmehr ist gerade das untersuchte Individuum das practische und nur durch Mittheilung seiner subjectiven Erfahrungen dem Urtheil des Physiologen unterworfen. Und diese Art der Diagnostik ist, wie ich schon zu sagen die Ehre hatte, von jeher geübt worden. - Anders ist es mit dem Pathologischen, was der Verfasser auch in seinen Kreis zu ziehen scheint. Es ist die grösste Vollendung des Pathologen und auch des practischen Arztes, daß er aus rein objectiven Merkmalen ohne alle Beyhülfe des Individuums das Leiden in seiner ganzen Bestimmtheit erkenne. Diese Erkenntniß, welche durch Individualisiren und Nachahmung des ganzen Prozesses der krankhaften Entwickelung aus den allgemeinsten Lebensverhältnissen im Gedanken erlangt wird, ist nicht allein die sicherste und würdigste, sondern auch bey dem heutigen Stande der Ophthalmologie nirgend mehr möglich als an dem Auge . Diesen Theil der physiologischen Praxis übt der practische Arzt vielleicht stillschweigend, gar unbewußt vor Allem Andern aus; und es ist in neuern Zeiten von allen Seiten auf dieses physiologische Begrenzen als die vorderste Handlung gedrungen worden. - Man sieht in der That ungern von dem geistreichen Urheber der Beobachtungen über das subjective Sehen so ganz verschiedene in ihrer Trennung sehr wohl erkannte auch ausgeübte Momente in einem gedachten Dritten, der physiologischen Praxis ver- einigt. In einem Gebiete, das zum grossen Theile unbearbeitet, zum grössern Theile mangelhaft bearbeitet ist, wo man mit jedem Gedanken neuen Besitz nimmt, ist nichts so gewöhnlich und auch nothwendig, als daß man hundert vergebene Wege gehe, um von einem höhern und weniger befangenen Standpunct endlich einen lichten Punct zu gewinnen. Die Wege haben auch ihren sparsamen zufälligen aber mehr entlegenen Gewinn. Man verfolgt in der besten Hoffnung mit aller Mühe bis zum Minutiösen und man lenkt am Ende un- willig um, weil der Weg zuletzt blind endigt. Solche Untersuchungen, so wenig objectiven Werth sie für die Gegenwart haben, so gewiß sind sie die Steigen zu der reichsten fruchtbarsten Erndte, sobald man immer nur methodisch vor und rückwärts geht. Ich kann mir nicht verschweigen, daß die von Hr. Prof. Purkinje hier mitgetheilten neuen Erfahrungen meist solche mühsam erspähte Wege mit endlich blinden Ausgängen sind, die nur mit Zwang zu einem physiologischen Zweck aus einer grösseren Excursion vereinigt sind. - An geistvollen Andeutungen fehlt es nirgend. Dahin gehört vorzüglich der Vorschlag zur Bestimmung der Convexität der Augenmedien durch Messung der aus bekannten Entfernungen von ihnen reflectirten Spiegelbilder , durch Micrometer . Doch ist eben diese Bestimmung, wie ich mich hinlänglich überzeugt habe, und wie selbst Purkinje zugeben möchte, zu ihrem Zwecke, wie jede frühr von Andern zur Messung der problematisch verän- derlichen Convexität der Hornhaut projectirte ganz und gar unausführbar. Ebenso interessant als richtig ist die Bestimmung der vierfachen Spiegel- bilder in Hinsicht auf ihre Localität in den Augenmedien. Recht wichtig für die Diagnostik der Augenkrankheiten könnte die Beobachtung einer Erhellung der hintern Augenkammer unter gewissen Bedingungen des reflectirten Lichtes werden, wenn die Erfahrung sich allgemein bestätigte. - Die Bestimmung des individuellen Menschenblickes in den vielfältigsten geistigen Momenten gehört lediglich und durchaus nur der objectiven Diagnostik an. Diesem nämlich werden, in so fern er überhaupt als besonderer erkannt wird, schon seine noch dunkeln objectiven diagnostischen Momente zugegeben; und ich hege die Überzeugung dass es ein Terminologium zur Bestimmung der feinsten und geistigsten Unter- schiede des menschlichen Blickes aus rein objectiven Merkmalen des Auges für sich, abgesehen von aller simultanen Muskularaction ausserhalb der Blickbewegungen, geben müsse. Mit diesem Mittel hatte Hr. Prof. Purkinje gegenwärtig gemäß seiner nur somatisch-physiologischen Absicht nichts zu thun. Und wenn er auch die aufgeführten Momente zum Theil als Mittel dieser Betrachtung ansähe, so würden sie doch kaum ein erheblicher Zusatz zu dem seyn, was er in der Schrift über das subjective Sehen mit wenigen aber geistvollen Worten und wie mit einer Divination reichhaltiger künftiger Untersuchungen in einem unbetretenen Gebiete gesagt hat, indem er von den harmonischen Bewegungen des Auges sprach. Weit weniger Interesse hat der zweite Theil der Schrift, welcher die physiologische Bestimmung der Haut betrachtet. Der grösste Theil der hier aufgeführten Momente ist schon bekannt, auch schon in gleichem Versuch öfter zusammengestellt worden. Seit meinem Abgange von Bonn muß dort eine Dissertation von Dr. Neebe über die physiologische Bestimmung der Haut als Sinn erschienen seyn, die ich vormals zu lesen Gelegenheit hatte und welche die Masse zerstreuter Erfahrungen in einem viel weitern Umfange bearbeitet hat. Die Linien der Tastpapillen an den Fingern und an der Volarfläche der Hand sind auch schon genauer betrachtet. Sie sind der Gegenstand einer besondern Monographie evtl. Schröter, Johann Friedrich: Das menschliche Gefühl oder Organ des Getastes. Leipzig 1814. deren Verfasser mir aber nicht im Gedächtnisse ist. Sömmering hat sie schon sehr genau beschrieben und abgebildet. Ich halte diese Vereinzelungen keineswegs für kleinlich; wenn man sich aber einmal mit ihnen beschäftigt, so müssten sie noch viel genauer und erschöpfend genommen werden . Am wenigsten befriedigen die Abbildungen von Purkinje . Die Figuren sind an jeder durch Handarbeit nicht entstellten Hand viel deutlicher ausgeprägt. Sehr erfreulich dagegen war mir die Beschreibung der vergänglichen lanugo beym menschlichen Fötus in Hinsicht der straligen und consequenten[?] Ausbreitung derselben. Osiander hat zuerst in den Göttingg. Commentar. IV. auf die merkwürdigen Figuren in der Ausbreitung und Stellung der Fötushaare am ganzen Körper aufmerksam gemacht. Ich habe sie am Rhein an menschlichen und Thier fötus öfters untersucht und meine Beobachtungen in einer kleinen Abhandlung niedergelegt, die bey einem guten Freunde zurückgeblieben ist. Die Resultate meiner an verschiedenen Thieren freilich etwas verschiedenen Beobachtungen stimmen nicht ganz mit der sehr genauen Beschreibung von Purkinje an einem sechsmonatlichen Menschenfötus überein. Ich hatte gefunden, daß die Richtung der Haare im Allgemeinen mit der Richtung der aus Gehirn und Rückenmark stralen- förmig ausgehenden Centralnerven parallel ist ; ich hatte sie mit der eben so consequenten aber von von jenen Figuren doch abweichenden straligen Ausbreitung der Leibeshaare bey dem erwachsenen Menschen und einigen Hausthieren verglichen. Die Richtung der Fötushaare schien hauptsächlich an 2 Brennpuncten der ganzen Figur mit den doppelten electrischen Figuren einige Ähnlichkeit zu haben. Die Richtung der Leibeshaare im Erwachsenen schien mehr, ja sehr bestimmt der magnetischen Figur zu gleichen. - Doch legte ich an sich gar keinen Werth auf diese Analogieen und mehr schien mir der Parallelismus mit dem Nervensystem der Beachtung werth. Die Brennpuncte der Figur sind die Brennpuncte einer Ellipse und mit dem Gehirn oder Scheitel und dem Ende des Rücken- marks in der cauda equina gegen die Schamgegend. An der Stelle der Anschwellungen des Rückenmarks verfolgen die Haare die Richtung der von dem Rückenmark zu den Extremitäten gehenden grossen Nervengeflechte. Alle übrigen Stralen gehen mehr und weniger divergirend von der Achse zwischen den Brennpuncten ab. Ihre Convergenz- puncte sind nur gedachte und liegen wie in der magnetischen Figur ausserhalb der Ellipse selbst, zu ihren Seiten. Im Allgemeinen bleibt die Dissertation des Hr. Prof. Purkinje nach meiner Meinung an wissenschaftlichem Interesse weit hinter der früheren Schrift über das subjective Sehen , von der man behaupten kann, daß wie sie selbst zu schönen Resultaten geführt hat, sie zu den frucht- barsten und ausgedehntesten Untersuchungen über die Physiologie der Sinne, wie sie nur von einem Deutschen zu erwarten sind, veranlassen wird. Ich bedaure lebhaft, daß ich nicht hier noch den Hr. Prof. Purkinje kennen gelernt habe, den ich um manche schöne Ergebnisse seiner frühern Untersuchungen wahrhaft beneiden möchte. - Dies waren meine Gedanken, als ich die Schrift aufmerksam mehrmal durchlesen, aufrichtig und nach besster Überzeugung. Ew. Hochwohlgeboren gehorsamster Diener Dr. Müller . Berlin , am 13. Januar 24.