Hochwohlgebohrener Herr Hochverehrter Herr Geheimerrath und Staatsminister!
Ew.
Excellenz verfehle ich nicht ehrerbietigst anzuzeigen, daß wenige Tage nach der Ankunft Ihres hochgeneigten
Schreibens vom
16
ten
v. M.
Z 16. Mai 1822. Goethe an von Henning
, auch das darin angekün- digte Kistchen mit dem entoptischen und sonstigen chromatischen Apparat, vollkom- men unversehrt, an mich gelangt ist. Obschon ich voraussetzen kann daß
Ew.
Excel- lenz selbst ermessen werden mit welcher Gesinnung ich diese höchst erwünschte Gabe in Empfang genommen habe, so fühle ich mich doch gedrungen Hochdenselben noch aus- drücklich meinen aufrichtigsten und lebhaftesten Dank für diesen neuen Beweis gnädigen Wohlwollens abzustatten und damit die Versicherung zu verbinden daß ich meinen guten Willen auch durch entsprechende Leistungen zu bethätigen fort- während auf alle Weise bestrebt seyn werde. - Ich bin den größern Theil dieser Wo- che hindurch in meinem nunmehr ziemlich vollständig eingerichteten Experimentier- zimmer mit chromatischen Versuchen und Proben aller Art, vornämlich aber solchen welche die entoptischen Erscheinungen betreffen, beschäftigt gewesen, wo- bey mir denn der Apparat, dessen Gebrauch ich
Ew.
Excellenz gnädiger Für- sorge verdanke, auf das trefflichste zu statten gekommen ist. Nicht unerwähnt darf ich es dabey lassen, welcher belehrenden und aufmunternden Theilnahme ich mich bey diesem Geschäft von Seiten unsres verehrten Regierungs- bevollmächtigten, Herrn Geheimen-Ober-Regierungsrath
Schultz
, ferner mei- nes theuren Lehrers, des Herrn Professor
Hegel
und eben so des Doc- tor
Förster
, meines lieben und treuen Genossen, zu erfreuen gehabt habe. Die beyden letztern waren, von der Ankunft des mit Ungeduld erwarteten Kist- chens von mir benachrichtigt, ohne Säumen herbey geeilt um das erfreuli- che Geschäft des Auspackens mit mir zu theilen und wir haben hierauf, wohlunterrichtet von dem worum es sich handelt, sogleich bey heiterem Abend- himmel mit der schnell zusammengefügten Maschiene zu experimentieren be- gonnen. Auch das nicht genug zu rühmende, kunstreich getrübte Trinkglas ist denselben Abend noch auf die heiterste Weise eingeweiht worden: nachdem nämlich die einbrechende Nacht dem auf dem halbabgeplatteten und mit einer Galerie umgebenen Dach des Universitätsgebäudes fortgesetztes Experimentie- ren im Freyen ein Ziel gesetzt hatte, so begab ich mich mit Freund
Förster
nach dessen Wohnung, wo wir dann, während uns die auch
Ew.
Ex- cellenz nicht unbekannte
junge Freundin
, unsre frohe Stimmung theilend, den bewunderten Becher credenzte, des hochverehrten, theuren
Meisters
Gesundheit mit dankbarem Herzen ausgebracht haben. ­ Ich bin seitdem mehrfältig, zumahl von jungen Damen, darum an- gegangen worden mich ausführlich darüber auszulassen, was es mit der Farbenlehre, der
Ew.
Excellenz, wie man wisse, ein so anhaltendes Interesse gewidmet, doch eigentlich für eine Bewandtniß habe; - indeß gedenke ich für jetzt wenigstens der Versuchung zu widerstehen außer dem bereits um mich versammelten Auditorio junger Studierender, denen sich auch einige ältere Naturfreunde beygesellt haben, auch noch eine weibliche Zuhörerschaft um mich zu versammeln, um nicht der Farbenlehre
den
bey ernsthaften Leuten den bedenklichen Ruf einer eleganten Wissenschaft zu- zuziehen; späterhin, wenn die Sache sich erst etwas consolidiert hat und ich mehr festen Fuß gefaßt habe, findet sich dann wohl immer Gelegenheit der Wißbegierde der guten Kinder auf eine heitere Weise Genüge zu leisten und die wahre Lehre, so wie es früher bey den Franzosen mit der falschen geschehen,
à
la portée des dames
zu bringen. - Meine öffentlichen Vorlesungen an der
Uni- versität
habe ich am
21
sten
d. M.
, vor einer ansehnlichen Anzahl von Zuhörern be- gonnen und zwar habe ich mich zunächst damit beschäftigt durch einige allgemei- ne Erörterungen über das physikalische Studium, so viel als möglich die zu ei- nem unbefangenen Auffassen der vorzutragenden Lehre erforderliche Stimmung zu begründen. Vor allen Dingen schien es mir erforderlich jenes weit verbreitete Vorurtheil, als sey die Farbenlehre etwas Mathematisches, vor das Forum des gesunden Menschenverstandes zu ziehen und in seiner Nichtigkeit darzustellen. Ich habe mich bey die- ser Erörterung, meinem dermaligen Vorhaben gemäß, alles eigentlich Philosophischen nach Möglichkeit enthalten und mich einer einfachen, populären Argumentation
ad ho- minem
beflissen; wobey ich indeß bemerkt habe, daß während es einerseits al- lerdings schwer ist, gründlich zu philosophieren, es doch
auch
andererseits, zumahl für einen Solchen der nicht an empirische Vorträge gewöhnt ist, keine ganz leichte Sache ist auf das Philosophieren zu verzichten, ohne deshalb in ein schwankendes Hin- und Herreden zu verfallen. Ich habe rücksichtlich der von den heutigen Physikern ein- müthig gegen
Ew.
Excellenz geltend gemachten Behauptung, daß der Inhalt der newtonschen Optik etwas mathematisch Bewiesenes sey, unter Andern jene Stelle in der Vorrede zur
lateinischen
Ubersetzung
der Optik
in Erinnerung gebracht, wor- in zwischen den Funktionen der Mathematiker und der experimentierenden und aus Experimenten folgernden Naturforscher ein sehr bestimmter Unterschied aufgestellt und zu Newtons Ruhm behauptet wird, er habe in
utroque philosophandi genere
(calculieren und experimentieren gilt
ja
den Engländern noch heut zu Tage für gleich- bedeutend mit philosophieren und darum ist ihnen unser Freund
the philosopher par excellence
) bis dahin Unerhörtes geleistet, welcher Behauptung dann die merkwürdige Erläuterung hinzugefügt ist, ein immenses Beyspiel des mathemati- schen Philosophierens sey das Werk:
philosophiae naturalis principia mathematica
, dagegen liefere die
Optik
ein
exemplum posterioris philosophandi generis
indem in diesem Tractat die Phänomene des Lichts und der Farben
clarissimis experimentis, sine ulla omnino hypothesi
(!) auf das einleuchtendste bewiesen und erklärt würden. - Demnächst habe ich mich veranlaßt gesehen dem von
Ew.
Excellenz aufgestellten Paradoxon, daß sich durch Erfahrungen und Versuche eigent- lich nichts beweisen lasse, eine andre, für den mathematisch Gesinnten wohl nicht minder paradoxe Behauptung hinzuzufügen, nämlich
die
, daß in der gesammten Naturwissenschaft (so wenig wie auf dem ethischen Gebiete), selbst die Mechanik und die eigentliche Optik nicht ausgenommen, kein einziges Gesetz, und überhaupt gar nichts, als das Mathematische selbst, d. h. das abstract Quantitative, ma- thematisch zu beweisen ist - wobey ich mich dann weiter dafür erklärt habe, daß ich unter einem mathematisch Gesinnten einen Solchen verstehe der kei- nen andern Unterschied als einen quantitativen und keine andre Bestimmt- heit als eine räumliche oder numerische anerkennt, in welchem Sinne allerdings, nicht nur zugestanden, sondern ausdrücklich behauptet werden muß, daß Newton die Farbenlehre, zum großen Schaden für die Wissenschaft, mit ächt mathematischem Geiste behandelt hat. - Doch ich enthalte mich
Ew.
Excellenz weiter mit Dingen zu unterhalten, die ich wesentlich erst von Ihnen gelernt habe. - In der nächsten Woche werde ich den Anfang da- mit machen, meinen Zuhörern die Farbenphänomene in der von
Ew.
Ex- cellenz genehmigten Ordnung, vorzuführen und ich gedenke dabey so zu verfahren daß, wenn eine Reihe zusammengehöriger Versuche angestellt und der Anschauung eingeprägt worden ist, ich dann immer wieder zur zu- sammenhängenden Erläuterung zurückkehren werde um auf solche Weise die theoretische Übersicht des Ganzen zu erhalten. - Für die mir gnädigst mitgetheilte Erläuterung über den von mir zur Sprache gebrachten prisma- tischen Fall, sage ich
Ew.
Excellenz meinen unterthänigsten Dank, indem ich vorläufig bemerke, daß ich mich überzeugt habe daß ich im Begriff war auf ei- nen Abweg zu gerathen; übrigens muß ich mir, um dieses Schreiben nicht länger aufzuhalten, die Erlaubniß erbitten, die verlangte fernere Zeichnung Hoch- denselben etwas später vorzulegen, wobey dann sogleich eine andere, bereits angefangene, colorierte Zeichnung und Beschreibung eines, wie es mir scheint, sehr bedeutenden entoptischen Phänomens erfolgen soll, welches sich mir ge- stern gezeigt hat, indem ich einen großen über 2
1
/
2
Zoll hohen, langsam abgekühlten Glascubus zwischen die beyden Spiegel brachte und den klein- sten entoptischen Cubus darauf hin und her bewegte. -
Ehrerbietigst verharre ich
Ew.
Excellenz
ganz unterthäniger
Leopold
von Henning
.
Berlin
, den
2
ten
Junius 1822
. (
Friedrichs
straße Nr: 161).