Gotha den 5 ten Sept. 22 Du wirst wohl meinen, liebster Freund, bey mir heiße es: aus den Au- gen, aus dem Sinn - da ich vierzehn Tage habe vergehen lassen ohne Dir weitere Nachricht von mir zu geben; dem ist indeß, - wie Du willst, leider oder (und auch wohl besser) glücklicherweise, keinewegs so. Ich habe die neue Heimath in der alten so wenig vergessen, daß, in der befreundetsten Umgebung, und mehr noch wenn ich allein bin, die unmittelbare Gegenwart mir oft als ein Traum erscheint und es mir in der That nicht leicht wird den gerechten Anforderungen derer die mir hier wohl wolten, mit wachem Bewustseyn zu genügen. Du kannst Dir deshalb vorstellen, wie erwünscht mir die Erschei- nung Deines lieben Briefes war, den ich, bey der Rückkehr von einer kleinen Reise nach Beichlingen und Neuhausen , den Wohnsitzen meines Jugendgenossen Werthern und seiner Mutter , gestern Abend hier vorgefunden habe. Unsre bey- den Festtage, die Ihr auf eine so heitre und würdige Weise gefeyert habt, sind von mir Einsamem zwar einsam, aber übrigens doch mit gleich inniger Empfindung, ja selbst mit Heiter- keit begangen worden. Den 27 sten bin ich mit zweyen meiner Geschwister, die mir bis zu einem Verwandten in der güldenen Aue entgegengereißt waren, hier in der Vaterstadt angekom- men. Wir fuhren beym schönsten Herbstwetter beym alten Kiffhäuser , wo ehedem der große Schwabenkaiser Friedrich Bar- barossa oft zu hausen pflegte, vorüber, sahen dann in der Ferne Kloster Memleben , die Grabstätten Heinrichs des 1 sten und der Ottonen und bestiegen, während unsre Pferde ruhten, die Ruine der Sachsenburg , von wo aus man gleichzeitig die beyden Gränzen des Thüringerlandes , im Norden den Harz und im Sü- den den ThüringerWald , übersieht. Vormals hätte ich wohl unbe- dingt mit meinen Geschwistern in das Lob der schönen Heimath ein- gestimmt und auf das Ansehen unseres Dichters, die sandige Mark mit ihren Musen und Grazien dagegen preisgegeben; allein die Zeiten ändern sich und mit der Zeit gelangt man auch zu besserer Einsicht. So habe ich denn wenigstens im Allgemeinen den Satz geltend gemacht, daß der Geist auch bey geringerer Be- günstigung der Natur sich eine Heimath zu bereiten versteht und übrigens im Stillen meinen Theil noch hinzugedacht. Als ein guter Logiker brachte ich denn auch das alte: ubi bene ibi patria , durch Hinzufügung des minor , bene ubi illa , für mich zur bündigsten Schlußform und Du wirst hoffentlich an dieser philosophischen Übung, rücksichtlich der Wahl des medius terminus nichts auszusetzen haben. Die Schlußfolgerung aus diesen beiden Prämissen lautet „ubi illa ibi patria“, „wo sie ist, ist Heimat", wobei mit sie von Hennings spätere Frau Emilie geb. Krutisch gemeint sein dürfte. Der „terminus medius“ (Mittelbegriff) ist „bene“ (gut). Du magst mich übrigens immerhin ge- legentlich auch mit Blumen und Sternen mein harmloses Spiel treiben lassen; über Verlohrnes und Vergangenes habe ich mich nicht zu beklagen und auch dafür daß ich mich im Fer- nen nicht verliere, ist gesorgt, denn Alles treibt mich mit Gewalt zur Gegenwart, einer Gegenwart deren Unver- gänglichkeit ich mir auf das Entschiedenste bewußt bin. Die Verweisung an das eigne Herz ist bedenklich; wenigstens ge- hört, um die Ruhe zu finden, dazu daß das Herz schon durch Leiden geprüft und berührt sey und daß es den Verlust sei- ner selbst zu ertragen gelernt habe. Mit so manchem An- dern habe ich auch dieß gelernt ohne dadurch ärmer gewor- den zu seyn, und so kann ich es denn allerdings wagen, mich zu mir selbst, als dem Andern meiner selbst zu wenden ohne Furcht, wie die Blumen der Sonne gegenüber, zu verge- hen. - Den 28 sten habe ich damit begonnen unserm lieben Alten mei- nen Glückwunsch Z 28. August 1822. von Henning an Goethe dazubringen; er ist, wie ich in Neuhausen ver- nommen, erst den Abend zuvor aus Böhmen zurückgekehrt und man hat ihn sogleich mit einer Abendmusik begrüßt. Wie gern ich an Eurem Fest in Buchholz Theil genommen hätte, kannst Du Dir leicht vorstellen; Deine Beschreibung hat mich höchlich erfreut und ich zweifle nicht daß auch un- ser Dichter , wenn er wahrnimmt, auf welche heitre und anmuthige Weise unsre Musen und Grazien es sich haben angelegen seyn lassen früheres Unrecht wieder gut zu machen, sich, wozu er ohnehin schon geneigt war, mit unserer lieben Mark und zumahl mit der guten Stadt Berlin völlig versöhnen wird. Überhaupt ist es wohl ent- schieden daß, wie groß auch die Anzahl derer seyn mag die unsern trefflichen Meister lieben und verehren, gleich- viehl nirgends in Teutschland sein Fest mit einem lei- sern und innigern Bewußtseyn seines Werths begangen worden ist als von den mir bekannten Mitgliedern jener kleinen Gemeinde in Buchholz . Auch eine bessere Chorfüh- rerin hätte sich nicht finden können, als die dem Dichter selbst werthe Madonna Laura , der ich es, nächst dem Verdienst das sie sich um meinen Freund erworben hat, immer zum größten Ruhm anrechnen werde daß sie das Vortreffliche so gründlich zu schätzen weiß, ohne sich dabey nach der Weise gelehrter Frauen auf ein weises Critisieren ein- zulassen. Ich erkenne diß Verdienst um so mehr an, da ich früher nicht selten und noch neuerlich die Erfahrung habe ma- chen müssen, wie leicht es geschieht daß edle und gebilde- te Frauen in diesem Fall die zarte Gränzlinie zwi- schen dem Zuwenig und Zuviel überschreiten, und indem sie einerseits Unbedeutendes und Vergängliches mehr als bil- lig gewähren lassen, andererseits sich den Genuß des als wahrhaft und ewig Anerkannten durch unnütze Reflexionen zu trüben und zu verkümmern lassen pflegen . Jener freye und unbefangene Sinn trägt wohl wesentlich dazu bey daß die götheschen Lieder, von der Freundin vorgetragen, sich so gut ausnahmen und wenn etwa sonst unerwünschte Stimmung sich einstellen sollte, so sollte ich meinen, dieselben Lieder müß- ten sich geistig und leiblich als die beste Medicin erweisen. Freylich lehrt auch hier die Erfahrung, daß der Entschluß, das Heilmittel zu gebrauchen, schon eine halbe Genesung voraus- setzt. Nun ich will hoffen und freylich wünschen daß wenn wir uns wiedersehen, es dann unseres Philosophierens über diesen Punkt nicht mehr bedarf. - Diesen Morgen habe ich bereits Antwort von Weimar Z 4. September 1822. Goethe an von Henning erhalten, kurz aber wohlwollend und gütig, wie immer. Über meine kleine Schrift , die ich dem Alten übersendet, schreibt er mir unter Andern: „Ihre Einleitung billige sehr, sie ist erschöpfend, wohlgedacht und wohl geordnet“ Diese Billigung ist mir der allerbeste und erwünschteste Lohn; die Physiker mö- gen nur sagen was sie wollen, oder auch gänzlich schweigen, das soll mir gleich viel gelten und mich auf keine Weise irre machen. Da ich heute und morgen noch zwey meiner Geschwister hier erwarte, welche überhaupt nur ohngefähr acht Tage hier werden verbringen können, so gedenke ich meine Reise nach Weimar erst gegen das Ende der nächsten Woche anzutreten; Göthe schreibt mir ich könne kommen wann ich wolle, je eher, um so lieber, ich möge ihn indeß vorher wissen lassen wann, damit er sich um diese Zeit zu Hau- se halten könne. Gar erwünscht wäre es wenn Du, und besser noch wenn Ihr beyde, noch zum Reisen gelangtet und wir dann in Weimar zusammentreffen könnten. Ich zweifle nicht daß Du das Deinige dazu thun wirst und ich an meinem Theil kann mich, bey der geringen Entfernung zwischen hier und Weimar , auf jeden Fall so einrichten daß ich zu der Zeit dort bin die Dir die gelegenste ist. Für dieses Mal würde ich wohl nur bis zum 17 ten in Weimar blei- ben da ich den 18 ten in Beichlingen zu seyn wünsche um dort mit meinem Freund Werthern den Geburtstag sei- ner Mutter zu begehen. Laß mich nur bey Zeiten wissen was ich hoffen darf und schreibe hierher nach Gotha : ich bin zu Allem bereit und komme Dir mit offenen Armen ent- gegen wann und wohin Du es wünschst. Ich freue mich ge- wiß freylich über das Zusammenseyn mit meinen Geschwistern die sämmtlich mit so vieler Liebe an mir hängen und mich gar nicht wieder aus ihrer Mitte lassen möchten; allein ich sehe nun einmal die Heimath jetzt mit andern Augen an wie sonst und so bin ich denn auch entschlossen, alle wei- tern Pläne aufzugeben, und freudigen Muthes zu Euch zu- rückzukehren. Ich habe früher Thöriges genug gethan und mich eigensinnig waltend im Grunde aber plan- und willen- los in der weiten Welt herumtreiben lassen; es ist nunmehr Zeit vernünftig zu werden und ich ich will mir da- zu wenigstens ein Herz fassen, das Vernünftige und Ge- hörige zu thun, ohne weiter drüber zu grübeln was für mich selbst daraus hervorgehen mag. Obschon die Philoso- phie, wenn ich mit mir mich ins Gleiche zu setzen suche, oft selbst gegen mich Parthei zu nehmen pflegt, so brauchst Du doch nicht zu fürchten daß ich am Ende noch dazu wer- de getrieben worden zu seyn: hang up philosophy So Romeo in Shakespeares Romeo und Julia, 3. Akt, 3. Szene, Vers 57. ­ denn ich weiß nur zu gut, daß der Gegensatz um das es sich das handelt kein leichter ist und nicht umsonst habe ich vom göttlichen Dante erfahren, daß ein Blick der Beatrice es gewesen ist, der ihn ins Paradiso erhoben hat. Lange genug habe ich am Tage nach jenen beyden Terzinen Nicht ermittelt. gesucht, die ich träumend aus dem Munde des hohen Kindes vernom- men zu haben meine und ich überzeuge mich nunmehr wachend daß die Worte die ich suchte, keine andern sind als die welche Du so schön für mich ins Deutsche übertragen hast. Voglio dunque rofarmi[?] in quella lustra – und so nimm mich wieder und laß uns heitern Sinnes auf unsrer ge- meinschaftlichen Bahn mit einander fortschreiten. Hyacinthen und Astern haben wir blühen gesehen und so wollen wir ferner das Ende mit dem Anfang in Eins zusammenzie- hen und des Unvergänglichen uns erfreuen. Unsre Freun- de grüße von mir auf das Freundlichste; Hegel sage wie sehr ich mich über die gute Nachricht Vermutlich über die Genesung der Frau Hegels von einer längeren Krankheit, zu der am 9. Sept. 1822 Georg Friedrich Creuzer gratulierte; vgl. Briefe von und an Hegel II , S. 337. die ich von Dir erhalten freue und daß ich freylich wünsche daß die schönen Septembertage ihm noch zu Gute kommen mögen. Demnächst will ich, bey aller sonstigen Übereinstimmung mit Deiner Frau , wünschen daß der Kopfschmerz, wovon ich seit acht Tagen heimgesucht worden bin, nervopathisch seyn und ihr in Abrechnung gebracht werden mag. Daß sie mich im Ganzen verständ- lich findet ist mir lieb; sie thut wohl daran das Einzelne zu übersehen, denn unser aller Herr sagt: Das Leben im Einzelnen sey oft ungenießbar, ja bedenklich. Auch die beyden schönen Sterne welche an Euerem Horizont aufgegangen sind und deren Anblick mir hier versagt ist, grüße, wenn Du sie erblickst, von mir schweigend wie man die Sterne zu grüßen pflegt.– Das Beste wünschend, mit treuem Herzen Dein LvH .