I. Der Holzknecht und Waldhüter Sepp Harter ging durch den Wald. Ertrat mit schweren, genagelten Schuhen auf, hatte gütige, blaue Augen und einen rötlichen Bart. Auch rauchte er Tabak, und zwar einen so schlechten, daß es dem Juden Abner im Märchen nicht schwer gefallen wäre, seine Spur zu finden. Er führte einen zehnjährigen Knaben und ein siebenjähriges Mädchen an der Hand. Sie schauten mit Inbrunst zu ihm auf, denn er erzählte Geschichten. Wie die Birke eine verzauberte Prinzessin gewesen, und in Trotz und Hochmutsich ihrem Vater nicht habe fügen wollen, bis sie zur Strafe in einen demütigen und ewig sich beugenden Baum verwandelt worden sei. Tetzt warte sie vom Morgen bis zum Abend darauf, daß ihr verziehen werde. Und von der Buche erzählte er, unter der Maria mit dem Jesuskind geruht und die von ihren Nüßlein habe herunterfallen lassen, damit das Kind mit ihnen spiele. Sie sei dafür gesegnet worden, und kein Blitz dürfe einen Menschen treffen, der unter ihr Schutz suche. Er erzählte von den Farnkräutern, die es so zierlich schon vor tausenden von Jahren gegeben, und die man, in Stein gebannt, jetzt noch finden könne. Die hätten Dinge gesehen, von denen sich die Menschen von heutzutage keinen Begriff machen könnten. Martins zarte Wangen färbten sich rot ob dem allem. Lis aber sagte, daß sie das nicht glaube. Es gebe keine steinernen Blätter. Sie nickte gnädig, als Sepp ihr vorschlug, mit ihm in sein Häuschen zu kommen, um ssich solch eine steinerne Pflanze anzusehen. Lis war das Töchterchen der Frau Marei Weber, die Martins Vater, Stefan Born, den Haushalt führte, seit ihm seine Anne-Lise gestorben. Er hatte Marei samt ihrem Töchterchen bei sich aufgenommen und die beiden Kinder waren zusammen aufgewachsen. An ihren Vater erinnerte sich Lis nicht, denn ihre Mutter sprach nie von ihm. Als Lis fünf und Martin acht Jahre alt war, weinte sie, wenn Martin nicht tat, was sie wünschte. Als sie sechs Jahre zählte, lachte sie und erreichte so ihren Willen, und als des großen breiten Schmiedes zarter Junge zwölf Jahre alt war, da hatte er sich schon so daran gewöhnt, Lis nachzugeben, daß er es gar nicht merkte, wenn er es tat. Mutter Marei hatte da tüchtig mitgeholfen. Wenn Lis geweint hatte, waren die Püffe und gelinden Ohrfeigen nur so um Martin herumgeflogen, einerlei, was der Grund der Tränen gewesen. Hatte sie es für gut befunden. ihn beim Schmied zu verklagen, so war die Strafe der Anklage auf dem Fuße gefolgt. Im Haujse Stefan Borns machte man kein langes Federlesen mit den Kindern. Aber ein für allemal kam Lis besser weg als Martin, denn Mutter Marei stand einer Löwin gleich vor ihrem Töchterchen und wehrte verdiente oder gar unverdiente Strafen mit gewichtigen Tatzenschlägen von ihr ab. Martins eigentliche Heimat war bei Sepp, dem Waldhüter. Der war der Vertraute der Kinder in allen Dingen. Erhatte sich ein Häuschen am Waldrand gebaut, das vollgepfropft war mit merkwürdigen Dingen, Mineralien, Holzsammlungen und getrockneten Blumen. Vogelkäfige waren da mit zahmen Staren, Eichhörnchen liefen herum und ließen ihre beerenschwarzen Äuglein neugierig auf jedem Besucher ruhen, haschen ließen sie sich aber nicht. Bücher lagen auf einem Brett, darunter ein lateinisches Wörterbuch und eine Bibel. Darin war der Tod eines jeden Tieres, das Seppje besessen, aufgezeichnet, und der Name mit einem Kreuz versehen. Der Base Marei war der Sepp zu bärtig, zu ssonderbar. Er roch ihr zu sehr nach dem schlechten Tabak, den er rauchte. Aberdie Kinder überließ sie ihm gerne, konnte sie doch derweil fegen und putzen, und sich und ihr Haus ganz in Reinlichkeit untertauchen. Wenn der Sepp des Abends vor seinem Häuschen saß, und an einer seiner Stabellen herumschnitzte, und der Martin saß bei ihm und sang, daß die Vöglein schwiegen und Lis leise auftrat, dann meinte er im Paradieszu sein. „Ich glaube, die Engel singen“, sagte er, wenn Martin schwieg. „Wenn ich doch einmal einen Engel sähe“, sagte Martin. „Ich wollte ihn so lieb haben.“ „Aber nicht lieber als mich“, begehrte Lis. „Ach, Engel hat man ganz anders lieb. Wie den Sonntag, oder wie das, was man denkt. Oder wie die Sterne.“ „Sepp, denk, der Martin hat einmal einen Engel fangen wollen“, erzählte Lis und lachte. Martin wurde langsam rot. „Du mußt nicht lachen,“ bat er und wandte sich an Sepp, damit er seinen Wunsch verstehe. „Ich habe mir das immer gewünscht. Ich dachte, wenn sie doch um mein Bettlein herumstünden und mich hüteten, so könnte ich vielleicht einen von ihnenfesthalten. Alle Abende habe ich meine Arme zum Gitter hinausgesstreckt. Ich wollte den Engel an den Flügeln in mein Bett ziehen und so lieb haben. Oh! Ich dachte, wie weich die Flügel sein müßten und wie süß seine Stimme. Alber ich habe keinen fangen können. Mutter Marei hat einmal die Milch, die ich den Engeln hinstellte, auf meinem Stuhl stehen sehen und hat sie weggenommen. Dasind sie natürlich nie gekommen.“ Es klang wie Wehmut aus der Stimme des kleinen Burschen. „Engel sind schwer zu fangen,“ sagte Sepp. „schwerer noch als Wildtauben.“ ~ Seit Lis zur Schule gegangen,hatte sie nur Einfer mit nach Hause gebracht. Ausgenommen im Betragen. Wenn der Lehrer ihr befahl, stillezusitzen, sagte sie: „Das kann ich nicht, Herr Lehrer“, und er glaubte es ihr. Als jedes Kind sich ein Gärtlein halten durfte, steckte sie einen Sonnenblumenkern in die Erde und sagte zu ihm: „Jetzt wachse!“ und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Aber den ganzen Sommerüber konnte sie, wie Jonas unter der Kürbisstaude, im Schatten einer mächtigen Sonnenblume sitzen. Martin zog sich Winden, weil sie den Schmetterlingen glichen,wenn sie so auf den schwanken Stengeln saßen. Er lernte gern und las, wo er ein Buch erwischen konnte. Schulmeister wollte er werden, das hatte er längst mit Sepp ausgemacht. Solange er denken konnte, hatte der Sepp ihm gepredigt, daß Bildung das schönste sei. Diesem Ziel jagte der Knabe nach. Man konnte nicht behaupten, daß der Schmiedsich über diesen Entschluß besonders gefreut hätte. Auch der Lehrer hatte gemeint, Martin sollte lieber ein Handwerk betreiben, das ihn festhalte und ihm das Träumen austreibe. „Er hat Augen wie ein Luchs“, hatte er gemeint. „Im Wald kennt er jeden Halm, jeden Baum,jeden Vogel und jeden Pilz. Aber das sind brotlose Künste. Nehmt ihn ins Handwerk, Meister Stefan.“ Weil aber des Schmieds versstorbenes Weib, die Anne-Lise, gewünscht, daß ihr Bube Lehrer oder Pfarrer werdensollte, so tat er dem Jungen den Willen. Nörgelte die Muiter Mareiallzuviel an ihm herum, so brummte der Schmied und sah die dicke, rotbackige Frau aus seinen buschigen Augenbrauen heraus grimmig an. „Laßt ihn in Ruh’, Base, er ist aus anderm Holz geschnizt als Ihr und ich.“ Am Sonntag sang Martin in der Kirche. Die Gemeinde sagte auf dem Heimweg: „Des Schmieds Martin kann's. Da fehlt sich nichts.“ Aber anders als in der Kirche klang seine Stimme im Wald. Rein und glücklich. Sepp brachte es nie übers Herz, Holz zu schlagen, oder zu sägen, oder sonst zu lärmen, wenn Martin sang. Dann schwieg auch Lis, und tat Martin zu Gefallen, was er wünschte. Es geschah selten genug, denn das kleine Dirnlein kannte ihre Macht und gebrauchte sie. Sie hatte ja nur das Mäulchen zu verziehen, und Martin tat, was sie wollte. Die Zeit verging. Martin wurde lang und schmal. Seine Stimmeklang beschämend heiser und mißtönend, und er klagte Sepp, daß ihm das Beste fehle, seit er nicht mehr singen könne. Sepp erzählte ihm die Geschichte vom häßlichen jungen Entlein, und meinte, so würde es einmal seiner Stimme ergehen. Lis lachte, wenn Martins Reden klangen, als krähe er, und er wurde rot ob ihrem Spott, kränkte sich und ging seiner Wege. Aber seine Gedanken waren doch bei Lis, und wenn sie vom Spielen kam und ihm erzählte, mit wem sie gelacht, gespielt, im Wald gewesen sei, wer ihr die Aufgaben gemacht, wer ihr einen Kranz gebunden, dann sah er ihr nur vorwurfsvoll in das Gesicht und versteckte sich mehr als vorher, machte lange Märsche und warbei alledem so unglücklich, wie es ein sechzehnjähriger Bursche sein kann. Wenn ihm Jo recht schwer ums Herz war, legte er sich in irgendeinem versteckten Waldwinkel ins Gras, und kreuzte die Arme unter dem Kopf. Wares dann so ganz still um ihn herum, und konnte er das Huschen der Vögel auf den Reisern hören, und das leise Knistern der Tannennadeln, dann nahmen seine Gedanken Form und Reim an, und gingen und kamen ohne seinen Willen, und er mußte ihnen, gleich bunten, kostbaren Schmetterlingen, nachjagen. Es bildete sich ihm Vers um Vers. Ihm unbewußt, ungewollt, sangen die Verse von Lis. Von ihrem braunschwarzen Haar, von ihren Augen, die glänzten, wie zwei sich im Wasser spiegelnde Lichter. Martin wußte es kaum, daß er von ihrer Stirn und ihren Wangen, ihren braunen Händen und ihrem Mundredete, und warsich nicht bewußt, ob er träumend denke oder denkend träume. Esergriff ihn aber dabei eine so große Sehnsucht nach Lis, daß er aufsprang, sie zu suchen. Hatte er sie gefunden, fragte er sie langweilige Dinge, nach ihren Schulaufgaben oder ihrem Gärtchen, das ihr so gleichgültig war, oder ihren Kaninchen, die wohl ihr gehörten, die aber Martin fütterte, sollten sie nicht zugrunde gehen. Von allem aber, was er im Wald geträumt, sagte er ihr kein Wort. Sie hätte ihn auch nur ausgelacht. Nie fiel es Martin ein, das aufzuschreiben, was er sich im Wald gedacht und das ihn so glücklich machte,während er es dachte. Nie redete er Sepp gegenüber davon, und vergaß es selbst, daß beseligende Stunden sein gewesen. ~ Die Zeit war da, Martin sollte seine drei Seminarjahre antreten. Als er kam, um von Sepp Abschied zu nehmen, warf er sich ins Gras und rupite Halmeaus, damit ihm die Tränen nicht kämen. „Bist jetzt ein großer Bursche, Martin, mußtjetzt deinen Packen tragen wie andere auch. Drei Jahre sind bald herum. Und kommst du heim,nachher klingt es dir noch ganz anders im Wald, dann hörst du erst die richtige Musik. Und ich und die Lis . . .“ Jetzt wurde Martin erst recht das Herz schwer. Lis mußte er hier lassee. Sie konnte im Wald herumspringen, und er war nicht dabei. Schlimmer, andere waren dabei. Martin sprang auf. Es wuchs ihm eine wilde Kampfeslusst gegen Trauer und Heimweh. Die sollten ihn in den drei Jahren nicht hindern, vorwärtszukommen, und wenn er wieder da war, sollte Lis nicht mehr über ihn lachen und nicht mehr mit andern herumlaufen, sie sollte allein mit ihm durch den Wald gehen. „Du bist still“, sagte Sepp, der auf einem Baumstamm saß und die gefalteten schweren Hände zwischen den Knien hielt. „Nimmt's dich so mit?“ „Nein. Aber versprich mir, daß du mit Lis von mir redest. Sie soll mich nicht vergessen.“ Sepp riß seine Augen auf und pfiff lange und leise durch die Zähne. „So?“ Er nickte eifrig mit dem Kopf. „Von wem sollte ich mit ihr reden als von dir?“ fragte er. Dann reichte er Martin die Hand. ,Bleib gesund. Und vergiß nicht, mirdas Buch über die Pilze zu schicken.“ Damit drehte er sich um und fing an, Holz, das herumlag, aufzubeigen. Martin ging. Er hätte dem Wald gerne ein Abschiedslied gesungen, aber er ließ es und ging schweigend den Weg entlang, auf dem die Sonnenlichter tanzten. Leb’ wohl, Wald, Schönstes, das es gibt, dachte er. Da kam Lis daher und lachte ihn von weitem an. Schönstes und Liebstes, dachte er schnell, schöner als alles! Aber estat ihm um des Waldeswillen leid, daß er so dachte. Er kam sich treulos vor....... Auf Martins gradbeinigem Tischchen in seiner kahlen Seminarstube standen allezeit Blumen oder Zweige, oder Hölzer, die Sepp geschnitten und poliert hatte, versehen mit Zetteln, die den Standort bezeichneten, die Muttererde und Art der Bäume und Weise. Oft lag ein Brief von Sepp dabei. Von Lis hörte Martin nicht viel. Sepp erzählte hie und da von ihr. Martin wußte nicht, daß der Getreue das nur nach langem Nachdenken tat und sich ernstlich quälte, wie er es anzufangen habe, dem Jungen von Lis zu erzählen, ohne ihm Heimweh zu machen und ohne das zarte Feuer anzufachen, das Sepp in Martins Augenhatte brennen sehen. Konnte er ihm erzählen, wie schön das Dirnlein wurde, wie das Spielihrer anmutigen Glieder sich mit jedem Jahr rundete, wie ihre Augen feurig wurden und schalkhaft zugleich blickten, weil es ahnte, daß alle, die sich seiner freuten, ein Spielball waren in seiner Hand? Langsam und sorgfältig schrieb Sepp. Dennoch tat er oft des Guten zu viel im Lobe Lis’ und mußte streichen und ändern und zuletzt einen neuen Bogen nehmen. Er mühte sich, als notwendiges Gegengewicht von ihren Fehlern zu reden, und berichtete, daß sie sich, seit sie in der französischen Schweiz gewesen und Manieren gelernt habe, nicht mehr wie ein Dorfmädchen benehme. Er berichtete, wie die Mutter Marei sie tadle darob und wie der Schmied sich plagen müsssse mit neuen Kleidern, die das Mädchen ihm abbettle, von Farben, wie kein Mensch sie trüge. Und wie die Schulmädchen über Lis’ Hüte lachten. Aber um der Gerechtigkeit willen müsse Sepp bekennen, daß diese Hüte ihr gut stünden. Sie sehe aus wie eine Stadtdame. Und noch anderes erzählte Sepp. Daß der Schulmeister, der neue, sich angeboten habe, mit Lis Französisch zu treiben, damit sie es nicht vergesse. Sepp sprach es aber deutlich aus, daß er an diesen fadenscheinigen Grund nicht glaube, sondern daß er vermute, daß der Schulmeister, der ein junger und hübscher Mannsei, ihr auf diese französische Weise näher zu kommen trachte. Sepp wußte viel, für einen Waldhüter merkwürdig viel.Aber von der Liebe wußte er rein nichts. Nie war er verliebt gewesen, nie in seinem Leben verlobt oder gar verheiratet. Die Frauen waren ihm so gleichgültig, daß er kaum zu unterscheiden vermochte, ob sie hübsch oder häßtich waren. Es war manch eine den Wiesenweg entlang geschlichen, der zu seinem Häuschen führte, und war wieder weggeschlichen. Aber es gelang keiner, Sepp seiner Einsamkeit abtrünnig zu machen. Es war daher begreiflich, daß er, weil er von der Liebe nichts verstand, auch von der Eifersucht nichts wußte. Erhatte keine Ahnung davon, daß er mit seinen Berichten Martin einen Stachel in die Seele trieb, der bald an nichts anderes dachte als daran, wie Lis mit dem neuen Schulmeister Französisch lernte. Mochte Martin Geometrie oder Naturwissenschaft betreiben, immer sah er den Schulmeister vor sich, wie er Lis die verfluchte Sprache beibrachte. Martin lief so oft er konnte in die Wiesen hinaus. Doch wuchs dort die Sehnsucht nach Lis. Er arbeitete noch mehr als sonst, es wollte auch dasnicht helfen. Alles, was ihn sonst gefreut, trat vor dem einen beängstigenden Gedanken zurück. Die Briefe Sepps erwartete er mit Sehnsucht und Bangen. Er überflog rasch, was etwa vom Wald darin stand und vom Schnitzeln und Sammeln und von den Leuten im Dorf, um endlich da zu landen, wo er Lis’ Namen entdeckte. Nicht einmal singen mocht’ er mehr. Seine Stimmehatte sich groß und klangvoll entwickelt, und seine Lehrer waren längst auf sie aufmerksam geworden. Sie ermunterten ihn, sie bei Cesare Bianchi ausbilden zu lassen, dem berühmtesten Gesanglehrer der Gegenwart, der sich aus der Weltstadt, die seinen Namen groß gemacht, in die Stadt am See zurückgezogen hatte und nur noch wenige Schüler annahm. Martin ließ sich endlich überreden, überwand seine Schüchternheit, fühlte unbewußt, daß ihm in seiner Stimmeeine Hilfe im Werben um Lis erstehen würde, und suchte den Meister auf. Als er das wundervolle, weiße Haus gefunden, das Bianchi bewohnte, wurde Martin vom Diener in das Gartenhaus gewiesen. Es stand in einem wilden, von Blumen und Gestrüpp überwucherten Garten. Das Zimmer mit den beiden Flügeln, in dem der Meister seine Stunden erteilte, lag zu ebener Erde, und die Rosen hingen ihm in die Fenster. Sonnenblumen standen davor. Ein zahmer Star flog ein und aus, unbekümmert seine Spuren zurücklassend. Hielt der Vogel auch den Flügel, an dem der Meister saß, nicht heilig, so sprang Bianchi mitten im Spielen auf und verjagte das Tierlein. Ein zerrissenes grünes Sofa stand an der Wand. Aufeinem kleinen Tisch stand ein silbernes japanisches Teegerät. Musikhefte lagen überall herum. Bücher standen auf einem tannenen Brett der einen Wand entlang. Zwischen Zigaretten und Aschenschalen blühten märchenhafte Orchideen in einem milchweißen, hohen Glas. Als Martin durch den Garten kam, da und dort festgehalten von dornigen Ranken, stand die Tür des Gartenhauses offen. „Herein, wenn Sie zu mir wollen,“ schrie jemand. Martin sah ein kleines, mageres Männchen rauchend auf dem zerschlissenen Sofa liegen. Kohlschwarze glänzende Augen fuhren wie Blitze über Martin hin. Unter der Türe schon begann ein Verhör. „Name?“ „Martin Born.“ „Beruf ?“ „Ich werde Schulmeister.“ Der Meister schnitt eine Grimasse. „Was wollen Sie von mir?“ „Singen lernen.“ „Können Sie etwas?“ „Nein.“ „Gut,“ sagte das kleine Männchen, schnellte von seinem Sofa in die Höhe, warf die Zigarre ins Zimmer und setzte sich an den Flügel. „Singen Sie eine Tonleiter.“ Martin tat es. „Gut. Jetzt das da!“ Bianchi wies mit seinem langen, blutlosen Finger auf ein Musikheft. „Auch gut. Undjetzt hier vom Blatt: Schubert, Röslein auf der Heiden.“ Als Martin das einfache Lied beendet, sprang der Meister auf, packte ihn an der Schulter und schrie mit tiefer und wilder Stimme: „Sie müssen aufs Theater, ich bilde Sie aus. Sind Sie des Teufels, mit einer solchen Stimme Schulmeister werden zu wollen?“ Er schüttelte aufgeregt an Martin herum,riß seine Brille herunter und warf sie auf das löcherige Sofa. Gleich darnach suchte er hastig und zornig nach ihr, denn er sah nichts ohne sie, schüttelte Martin noch einmal, und warf sich dann wieder auf sein grünes Ruhebett. „Sie müssen aufs Theater,“ sagte er jetzt ruhig. „Begehen Sie keine Sünde, Sie Kind.“ Aber Martin lachte und schüttelte den Kopf. „Aber Mensch und Esel, der Sie sind, hören Sie nicht? Ich will Sie bilden. Ich werde Sie empfehlen. Sie können eine Größe werden.“ Martin empfand nicht viel bei dem schönen Wort. Heim wollte er, zu Lis, in den Wald, Schulmeister sein und den Kindern von der Schönheit der Welt erzählen. Er begehrte keine Größe zu werden. Der Meister sprang auf, höhnte und lachte und arbeitete mit Fleiß an Martin herum. . Zehnmal schlug er sich aufs Knie, schwur, daß Martins Kehle Gold enthalte, mehr als alle Gebirge Alaskas, und daß nur ein Narr, wie Martin einer zu sein scheine, diesen Schatz nicht hebe. „Ich könnte es in der Stadt nicht aushalten,“ wandte Martin ein. „Mir sind ja schon die Mauern unseres Seminars ein Gefängnis. Ich passe nicht in die Stadt zwischen die vielen Menschen. Sie würde mich erdrücken.“ Da kreischte der Meister auf. „Was erdrücken! Vergöttern würde sie Sie. Ihnen zu Füßen liegen, anbeten würde sie Sie. Millionen würde sie Ihnen in den Schoß werfen. Und die Damen! Die Damen! Mensch, mehr sageich nicht. Kennen Sie die Damen, Kalb Gottes?“ Martin lächelte. „Lach’ nicht, lach’ nicht, da gibt's nichts zu lachen. Millionen sage ich! Brillanten, Lorbeer, Orden, Equipagen, Ehre, Ruhm, Liebe, Reisen . . .“ „Das ist viel zu viel,“ lachte Martin nun herzlich, denn das, was ihm der Meister mit üppiger Phantasie vorzauberte, konnte nur Scherz sein. Da warf der Hitzige die Musikhefte, diezur Hand waren,hinter den weißen Kachelofen und Martins Huthinterdrein, und grollte und wetterte noch, als der junge Mensch sie mit seinem Stock längst hervorgehäckelt. Der Meister jagte Martin kurzerhand fort. Wenige Tage danach kam ein Brief, groß wie ein Taschentuch, und darin stand, daß der Meister Martin Stunden geben wolle. Umsonst. Zu bezahlen, wenn er Millionär geworden. Der Schüler habe augenblicklich zu erscheinen. Martin zeigte den Brief seinem Direktor, der ihm ernstlich riet, das Anerbieten anzunehmen, es könne ihm auf alle Fälle nützen. Das tat Martin, und als er im Gartenhaus erschien, umarmte und schüttelte ihn der MusJiker unter lauten Begrüßungsrufen. „Ich hab's nicht aushalten können,“ sagte er. „Da liegt eine kostbare Perle im Meer, und keiner hebtsie. Irgendwo träumt Musik, und ich sollte sie nicht erlösen? Aber Mensch, Mensch, ich sage dir, lernst du nicht mit Händen und Füßen, brennt dir das Herz nicht, denkst du nicht Tag und Nacht an das, wasdir Apoll geschenkt . . . ich räche die Musik an dir, denk’ daran! Ich mordedich, ich reiße das Gold aus deiner Kehle und gebe es Würdigen.“ Während er herumlärmte, hatte er den einen Flügel geöffnet, die Hefte, die dort lagen, auf das Löchersofa geworfen und die zartgrünen Vorhänge geschlossen, daß ein feines gedämpftes Licht über dem großen Zimmer lag. Dann fing er an, zu spielen, daß Martins Seele wie von einem goldenen Gitterwerk umsponnen wurde. Was war das? Der kannte ja den Wald und die Sonne und das Wiesengrün, die Einsamkeit und das Heimweh? Martin wurde rot vor Freude. Er wartete gar nicht, bis der Meister geendet. „Ich will alles lernen, was Sie wollen,“ rief er laut und hob ein wenig die Hand,als schwöre er. Der Meister nickte. Als er die langen Hände, die so gar nicht zu seinem sstruppigen Kopf und dem kleinen Körper paßten, von den Tasten hob,stellte er ein Heft vor Martin hin und zeigte mit dem Finger darauf. „Sing“. – Martin wurde Cesare Bianchis Schüler. Es begann nun ein qualvolles Lernenund ein wütendes Lehren. Lob sprühte wie ein Glücksregen über Martin, und Tadel überschüttete ihn wie ein Hagelwetter. Der Meister stand dann vor Zorn blaß, Martin vor Scham rot neben dem Flügel. Und immer übungen, nur übungen. Niemals ein Lied, keine Erholung. „Halunke,“ schrie der kleine Mann, ,so willst du mich bestehlen? Lieder willst du singen? Sing dem Teufel Lieder, nicht mir.“ Und das Gurgeln und Würgen, das Zungendrehen und Lippenspitzen, das Trillern und Atmen, das Turnen mitallen Vokalen, das Hinaufund Hinabsteigen der Skalenleiter, das Lispeln und donnernde Tönen, das Einund Aushauchen nahm seinen Fortgang, und Martin mußte vergessen, daß es Klang und Melodie gab in der Welt. Ein bedenkliches Toben erhob sich, als Martin für die Musik überhaupt keine Zeit mehr hatte, kaum für das Klavier, dem er ebenfalls täglich längere Zeit opferte. Bis tief in die Nacht hinein mußte er für das Examenarbeiten, die Zeit zum Essen fehlte ihm, und der Schlaf wurde in seinen Ansprüchen immer bescheidener. Die Examina kamen schwer gepanzert daher, und Martin wurde in hartem KampfSieger über sie. Er verließ als einer der besten den Saal. Die Abschiedsfeier war würdig und schön. Martin sang. Lautlos saßen die Zuhörer und sahen auf den schmalschultrigen, hellhaarigen und blauäugigen Menschen, dessen jubelnde Stimmealle guten und feinen Saiten in ihren Herzen mitzuklingen zwang. Dankend streckten sich ihm nach der Feier Dutzende von Händen hin, und feuerrot und beschämt von der allgemeinen Aufmerksamkeit ließ er sich die seinen schütteln. . . . Und nun war er wieder daheim.Und wie er es geträumt, ging er wieder Hand in Hand mit Lis durch den Wald. Sie hatte einen dicken Kranz über seine Türe gehängt. Am Fenster stand ein Käfig, den Sepp gebracht, mit einem zahmen Eichhörnchen, das Martin mit seinen fremden Waldaugen ansah und ohne Scheu an seinem Ärmelin die Höhe kletterte. Als Martin und Lis sich wiedergesehen, waren sie beide rot geworden. Gesschmeidig stand das bräunliche Mädchen vor ihm. Die Augen voll Sonne und den lachenden Mund voller Scherzreden ging es einher. Martin gefiel ihr wohl. Sein längliches Gesicht und seine tiefen blauen Augen waren ihr angenehm, er war gut gewachsen und sein Profil vornehm. Lis empfand stark, daß Martin anders warals sie, und gerade das lockte sie. Sie wußte sich auch sein Verstummenrichtig zu deuten, wenn sie ihm lachend in die Augen sah. Doch sollte er auch nicht allzulange schweigen, denn lautlose Anbetung mochte sie nicht. Er ging mit ihr die alten lieben Wege. Sie saß mit ihm auf den moosigen morschen Bänklein, auf denen sie als Kinder mit schwarzen und roten Beeren Apotheke gespielt. Sie suchten den alten Sepp auf. Viel haite Lis sich während Martins Abwesenheit nicht um ihn gekümmert, aber jetzt, da sie bei ihm war, tanzte sie so selbstverständlich in der Hütte herum und beschaute und bewunderte, was Sepp geschnitzt, gesammelt und gefunden, als sei sie erst gestern dagewesen. Endlich aber setzte sie sich auf einen von den Stühlen, an denen Sepp jahrelang gearbeitet, und mit Mühe Farrenkräuter und Mäuschen und Raben in das harte Holz geschnitzt hatte, streckte ihre beweglichen Füße aus und spielte mit dem Eichhörnchen, das sich auf ihre Fußspitze gesezt hatte. Der alte und der junge Freund fanden beide, daß das Mädchen daszierlichste und lieblichste sei, was sie je gesehen, und es schien ihnen beiden, als hätten die Sonnenstrahlen noch nie so golden auf dem Fußboden der Hütte gezittert. Martin ging wie im Traum in der Heimat umher. Er schrieb Vers um Vers,die alle Lis besangen, Lis, Lis. Alles andere schien ihm keine Bedeutung zu haben. Der Vater schalt den Träumer, und Mutter Marei stemmte die Hände in die Seiten und schüttelte offenkundig über ihn den Kopf. Aber Martin merkte es gar nicht. Alle die silbernen Fäden, die ihn an die Kindheit banden, lagen in Lis’ Hand. Das Glück, endlich wieder bei ihr zu sein, sie so gefunden zu haben, wie sie war, überflutete ihn. Daß sie ihn, der von der Arbeit und dem Eingesperrtsein hager und blaß geworden war, um sich duldete, machte ihn dankbar und klein ihr gegenüber. Woer ihren Tritt hörte, sang es in seinem Herzen. Sie begehrte, daß er ihr von seinem Lebenerzähle. Da er von sich und seiner Liebe und von ihr und ihrer Schönheit nicht zu erzählen wagte, begann er mit den Jahren, da er fern von ihr gewesen. Aber wasfragte sie den jungen Lehrern nach, die in rotbraunen Plüschpantoffeln im Seminar herumgeschlichen oder -gerannt waren? Wasden schmalschultrigen Jünglingen, denen Liebeleien und Tändeleien strengstens verboten waren? Wasihrem Jagen nach Wisssen und ihren Mühen und Nöten vor dem Examen? Als aber Martin von der Musik und seinem Meister zu erzählen anfing, horchte sie auf. Sie drehte sich plötzlich nach ihm um undsah ihn an,als hätte sie ihn nie gesehen. Atemlos fragte sie: „Wegen dem bischen Singen verspricht er dir Kutschen und Pferde? O Martin, eher werde ich in einer Kutsche sißzen als du!“ Sie lachte hell heraus. „Schön würdest du aussehen in einer Kutsche“, sagte er ernsthaft. Dann erzählte er weiter. Von seinen übungen, von den Klavierstunden, den Fortschritten, die er schon gemacht habe, und endlich davon, daß der gewiegte Musiker ihn durchaus auf der Bühne haben wolle. „Auf dem Theater, dem richtigen Theater?“ schrie Lis glühend rot. „Ach Martin, ist das wahr? Gelt, du würdest mir jeden Abend Karten schicken, daß ich umsonst hinkönnte? Das Theater ist herrlich, im Welschland war ich oft im Theater. Martin, gib dir doch Mühe. Dentdoch, so dastehen und singen, und unten sitzen alle die vielen Leute und klatschen und werfen Blumen und rufen deinen Namen." Sie hatte glühende Wangen und die Augen sprühten. Sie sah aus wie das Leben. Sie hatte Martin mit. beiden Händen am Arm gefaßt. Ihre warme Hand schien ihm glühend zu sein. Seine Augen begegneten den ihren, und er wurde sich ihrer Macht über ihn bewußt. Ein Wort Seppsfiel ihm ein: „Auch der Freie findet seinen Herrn.“ Aber nur wie ein Nebelstreif glitt es vorüber. „Lis, ich müßte den Wald lasssen und in der Stadt leben zwischen den heißen, grauen Mauern. Und abends, statt auf denWiesen herumzulaufen und unter den Buchen zu liegen und hinauf ins Blaue zu singen, müßte ich vor Tausenden von Menschen stehen und mich anstarren lassen und singen für Geld . . . Lis, bitte, verlange das nicht von mir. Mein Leben wäre ja verpfuscht.“ „Du bist einfach dumm“, sagte Lis ungeduldig und fast ein wenig verächtlich. „So sitz doch ewig in deinem Dorf.“ Undsie drehte sich wirbelnd um undlief auf dem schmalen Feldweg weiter, auf dem sie gingen. Nicht ein einziges Malsah sie sich nach ihm um. Martin setzte sich unter einen Baum undsah ihr nach. Zwischen den bräunenden Kornfeldern ging sie so zierlich und rasch, daß ihm wieder das Herz klopfte. Ihr schwarzes Köpfchen hob sich scharf und schön vom Himmel ab. Die feine Gestalt bückte sich da und dort und steckte sich endlich einen Büschel feuerroter Mohnblumen ins Haar. Martin seufzte. So langeich mich besinnen kann, habeich sie lieb gehabt, sann er. Ich habe in der Welt nur sie lieb. Träumerisch zwitscherten die Vögel vor dem Schlafengehen. Weit in der Ferne wette ein später Mäher seine Sense. Im Gebüsch raschelte es; es mochte ein Fuchs sein, der vorbeigeschlichen. Eine goldäugige Kröte hüpfte schwerfällig über den Weg. Der Wald rüstete sich zum Nachtleben. Martin seufzte tief. Seinen Wald konnte er nicht lassen. Als er ein paar Schritte gemacht, fiel ihm ein, daß er noch Sepp besuchen könnte. Der Waldhüter saß vor seiner Tür und schnitzelte trotz der Dämmerung an einer Stuhllehne. Er zeigte Martin die Arbeit. „Siehst du, Martin, das Schilf am Abend? Wenn der Wind über den Seestreicht. Siehst du, wie es sich biegt?“ „Ja“, sagte Martin zerstreut. Sepp sah auf. „Du hast etwas auf dem Herzen, heraus mit der Sprache“, munterte er Martin auf und lachte ein wenig, um ihm Mut zu machen. Er ging hinein undsetzte sich auf sein Bett. Die knorrigen Hände ließ er hängen. Es war still in der Hütte, und Martin fing an,erst scheu und stolpernd, aber stetig beredter werdend, von Lis zu erzählen. Undzuletzt berichtete er, daß sie so sehr wünsche, daß er in die Stadt gehe und ein Sänger werde. „Oha“, rief Sepp. Martin sprach weiter. Was ein Opernsänger sei, wollte der Alte wissen. Martin schilderte ihn, so gut er es aus eigener Anschauung und aus der Beschreibung des Meisters verstand. „Was, vorne stehen und die Leute ansingen? Und sich biegen und lächeln und dankbar sein, daß sie klatschen? Und Blumen bekommen und Kränze? Martin, du bist doch kein Mädchen, das sich Blumen schenken läßt! Du willst doch kein eitler Fant werden, den man anjubelt und der zuletzt ausgelacht wird! Denk’ ans Ende, Martin! Und denk’ an die hohen Häuser in den Straßen, und daß du eine Stunde lang laufen mußt, um Bäumezu sehen und dasersste beste armselige Pflänzlein. Martin, die Stadtist nichts für dich.“ „Ich weiß es“, sagte Martin. „Aber Lis?" „Lis? Kann sie nicht zufrieden sein, wenn sie einen Burschen bekommt, der sie lieb gehabt hat, seit sie gehen kann?“ „Es ist für Lis nicht genug“, sagte Martin. „Sie ist eine Prinzessin.“ „Das ist sie“, sagte Sepp. „Aber wenn sie dich lieb hat, bist du für sie der Prinz, und hatsie dich nicht lieb, laß sie laufen.“ „Ich kann nicht“, sagte Martin. „Aber Lis paßt nicht aufs Dorf. Sieh sie doch an, schlank und anmutig und reizend wie sie ist. Soll sie Stuben fegen und waschen? Man mußja lachen, wenn man daran denkt. Es wäre ja eine Sünde.“ „Und nimmst du sie nicht, nimmt sie ein anderer, und dann muß sie vielleicht erst recht fegen und waschen. Und wasschadet es ihr eigentlich, wenn sie dich liebt?“ „Du versstehst etwas von der Liebe, du! Und kann die Liebe alles, warum sollte dann diemeinenicht ein Opfer bringen?“ Seppsagte nichts. „Sag' etwas, Sepp.“ „Nein, es nützt doch nichts“, sagte Sepp. Die Dunkelheit war zum Fenster hereingezogen. Ein Waldkauz schrie. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber eine zarte Helle ging ihm voraus. „Gute Nacht“, sagte Martin. „Gute Nacht“, sagte Sepp. Er stand auf und legte die Hände auf Martins Schulter. „Renn’ nicht ins Unglück, Kind!“ „Ins Unglück rennen mit Lis?“ gab Martin zurück. Sepp brummte etwas, und Martin ging langsam am Waldrand entlang. Wie dunkle Schlänglein krochen die Wurzeln über den Weg, leise knisterten die roten Tannennadeln und dufteten harzig und warm vom Spätsommertag. Der Mond stand jetzt am Himmel. Martin ging denselben Weg, den Lis gegangen. Rote Moyhnblumen lagen im Mondlicht. Erhob sie auf und trug sie in der Hand. Dafiel ihm ein, es könnten Mohnblumen sein, die andere gepflückt hatten, und er ließ sie fallen. Bald darnach wurde Martin seine Ernennung zum Lehrer eines der Nachbardörfer zugestellt. Es stand inmitten grüner Wiesen und Obstbäume. Einkleiner See spiegelte den blauen Himmel wider. Dicht standen die Binsen am Ufer. See und Wald und Wiesen und rote Dächer und flachshaarige Schulkinder, was wollte Martin mehr? Das Glück fiel ihm ja in den Schoß. Und zu alledem Lis. Dennsie hatte sich mit ihm verlobt. Er war mit ihr den Wald entlang gegangen und hatte den Arm um ihre Schulter geschlungen. Glücklich sah er auf ihr feines Profil, ihren zarten Hals und auf ihr gerades Näschen herab. Erhatte es endlich gewagt, ihr zu sagen, daß er sie liebe, und sein Herz ertrank beinahe in dem Glück, das ihn überflutete, als sie ihn blinzelnd ansah und sagte, sie glaube, sie liebe ihn auch. „Weißt du es nicht sicher, Lis?“ „Nicht sicher genug“, sagke sie und lachte ein wenig. Daging er lange neben ihr und schwieg und küßte sie nicht, denn sein Glück war so groß, daß er meinte, es entwische ihm, wenn er sich rühre. Aber als der schmale Weg zu Ende war,hatten sie doch beide rote, heiße Wangen und glänzende Augen, und Martin hatte ihre verschlungenen Namen in einen Baum geschnitten, mit bösem Gewissen zwar und auf die Waldseite, damit es Sepp nicht entdecke. Lis’ übermut und Schalkhaftigkeit schillerten in allen Farben. Sie lachte ihre Mutter aus,die bittere Tränen weinte, daß ihre schöne Tochter so wenig ehrgeizig war, einen Dorflehrer heiraten zu wollen. Sie wolle es eben, erklärte Lis Mutter Marei, und das war, solange sie lebte, stets ihr stärkster Grund gewesen. Die Mutter rächte sich, indem sie den Schwiegersohn nicht anders behandelte, als da er noch der „Bub“ gewesen, und erzählte allen Leuten im Dorf, wie viele Freier Lis hätte haben können, wenn sie nur gewollt hätte. Ebenso unzufrieden war der Schmied. Aber aus andern Gründen. Auf einem Abendspaziergang redete er den Sohn daraufhin an. „Martin,“ sagte er, und blieb breitspurig im Weg stehen, „du hättest eine mit linden Händen haben sollen. Eine, wie deine Mutter war. DieLis ist wie eine Seifenblase, bunt, zitternd vor Tanzlust, und dahin und dorthin flimmernd. Aberdaß die standhält, wenn's einmal schief geht, das machst du mir nicht weiß.“ „Es soll nicht schief gehen“, sagte Martin fest. Wiederblieb der Schmied stehen. „Du Tölpel, kannst du Glück und Unglück lenken?“ Er fuhr sich durch sein wuchtiges, kohlschwarzes Haar. „Aber was red’ ich, wenn einer verliebt ist. Lauf halt in dein Schicksal, lauf und sieh zu, daß du nicht zu tief hineinrennst. Die Lis kenneich, die kenne ich.“ „Ich verstehe dich gar nicht, Vater, du hast doch Lis immer gern gehabt“, sagte Martin. „Gern! Gern! Natürlich habe ich sie gern, wer hat sie nicht gern? Aberzu dir paßt sie nicht. Und eines versprich mir in die Hand: erst wirst du Schulmeister und dann erst heiratest du. Laß dir von dem Musiker in der Stadt nicht den Kopf vollmachen. Unsinn ist das alles. Musikanten und Komödianten wenn ihnen das Geld abgeht, was bleibt? Ich hab's schon gehört, daß die Lis hinter dir her ist wegen der Singerei. Das könnte ihr passen, wenn es um sie herum scharwenzelte und dienerte: Aha, die Frau von dem berühmten Sänger, aha, dem großen Sänger seine Frau, und wenn ssie die Lorbeerblätter zum Braten von deinen Kränzen nehmen könnte. Martin, im Grab würde sich die Mutter umdrehen, wenn du unter die Komödianten gingest.“" Er wischte sich mit der verkehrten Hand übers Gesicht. „Ich glaube doch nicht, Vater,“ sagte Martin, „sie wüßte es, daß ich der bliebe, der ich bin.“ Daknurrte der Schmied und sagte nichts mehr. „Versprich mir wenigstens das mit der Schulmeisterei. Erst das Amt, dann die Frau.“ „Das kann ich versprechen“, sagte Martin. „Und in den nächsten Tagen fahre ich mit Lis hin und zeige ihr das Dorf und das Schulhaus undstelle mich dem Gemeinderat vor.“ „Tue das“, sagte der Alte zufrieden. „Vielleicht mag’s ja auch mit dem Wirbelwind besser gehen, als ich fürchte.“ Er stützte sich auf seinen Stock mit dem mächtigen Griff und sah der sinkenden Sonnezu, wie sie langsam hinter dem blauen Bergstreifen, der das Land umsäumte, verschwand. Es ging alles ausgezeichnet, als Martin und Lis sich in ihrem zukünftigen Heimatsort vorstellten. Sie sah zwar auch in ihrem Alltagshutviel zu hübsch aus, um den Eindruck einer gediegenen Lehrersfrau zu erwecken, andererseits nahm sie aber die schmunzelnden Dorfbeherrscher spielend gefangen mit ihrem natürlichen und fröhlichen Wesen. Das Schulhaus barg eine sonnige Lehrerswohnung. Ein Garten mit viel bunten Strohblumen und Geranien, Bienensstöcken und einem Hühnerhaus ließ Martins Gesicht ersstrahlen. Er gelobte sich, sich so viel Glückes wert zu machen, und die Kinder, die ihm anvertraut wurden, lieb zu haben und sie teilnehmen zu lassen an dem schönen, gesunden und dankbaren Leben, dem er entgegenging. Lis war zufrieden. Martins tiefe, heiße und selbstlose Liebe vermochte alles Gute aus ihrem Herzen herauszuholen, und sie gab Martin so viel, daß er oft, blaß vom Erleben, die Augen schließen mußte. Sie hatte mit Feuereifer angefangen, an ihrer Aussteuer zu arbeiten, zu der die Mutter, eigentlich Vater Stefan, Wolle und Leinwand gespendet hatte. Sie nähte ein paar Tage lang. Aberals sie ein paar Tage lang genäht hatte, wurde ihr die Sitzerei langweilig. Sie klopfte der Dorfnäherin an das Fenster und bestellte sie für eine Woche oder zwei. „Sie macht sich, sie macht sich“, sagte der Schmied, wenn er über sich das Ticken der Nähmaschine hörte. Mutter Marei aber wußte, wer da nähte. Sie stellte sich vor Lis und schalt, daß andere ihre Aussteuer fertigmachen müßten. „Ich habe anderes zu tun“, sagte Lis und schnitt sich eine Bluse zurecht, eine Ksunst, die sie in der französischen Schweiz recht gut gelernt hatte. Die Bluse wurde fertig, und eine zweite in Angriff genommen, in der Lis, wie Martin behauptete, noch herziger aussah als in der ersten. Mutter Marei ließ die Näherin auf dem Läublein hinter dem Haus nähen, denn dort störte sie niemand und hörte sie keiner. Und dann mußte Lis kochen und backen und mußte Hüte stecken und Kragen sticken und tausenderlei Dinge treiben. Mit Geschick und merkwürdig viel Geschmack tat sie das. Es wäre wohl nie ein Mensch, der sie in der nahen Stadt von Laden zu Laden eilen sah, auf den Gedanken gekommen, daß er ein Dorfmädchen vor sich habe. Den Fremden, die im Sommer das Dorf besuchten, fiel sie auf durch die Art, wie sie sich kleidete: einfach, geschmackvoll, modisch und doch nur auffallend durch den Reiz ihrer Persönlichkeit. Martin fand sie in jedem Kleid gleich schön, wußte aber nie, wie sie angezogen gewesen, wennsie mit ihm spazieren gegangen, ob blau, grau, grün oder rot. Doch hatte Lis gute Augen und sah wohl, wennsie durchs Dorf ging, daß nicht alle Spaziergänger so wenig Sinn für Kleider hatten wie ihr Martin. Sepp hatte, wie Vater Stefan, das trübe Prophezeien aufgegeben, denn Lis warlieb, fröhlich und anspruchslos, wenn sie ungefähr hatte, was sie wünschte. Von Theater und Stadt war nicht mehr die Rede. Sie überschüttete Martin mit Zärtlichkeiten, und er dankte es ihr durch tiefste Liebe und Hingebung. Als es so weit war, daß Sepp auch seinen zweiten geschnitten Stuhl beendet hatte und dem jungen Paar schenkte, war die Zeit gekommen, daß sie heiraten konnten. Das Unerhörte geschah, daß Sepp auf eine Hochzeit ging in einem neuen braunen Gewand, und das noch Unerhörtere, daß er eine Rede hielt. Eine richtige Rede war es zwar nicht, nur ein paar Worte, und die hörten nur Martin und Lis. „Jetzt kommt's auf euch an,“ sagte er feierlich, „Ob ihr in eine Falle geraten seid, oder ins Paradies. Ist's eine Falle gewesen, so gönnt einander das Beste, damit ihr es aushaltet, ists das Paradies, so gebt acht, daß keines das andere daraus vertreibe.“ „Es ist das Paradies“, sagte Martin. Lis schwieg, aber der Gedanke, sie könnte in eine Falle geraten sein, machte sie lachen. – An Brummbaß und Geigen hatte der Schmied nicht gespart. Er hatte sein Schiffchen am Trockenen, und Martins Mutter wareine reiche Bauerntochter gewesen. Es durfte hoch hergehen. Mutter Marei saß mit feuerroten Backen und einer schwarzen Spitzenhaubeobenan,undregierte mit den Augen die Aufwärterinnen. Roter und weißer Wein wurde geschenkt, Schinken, Braten, Berge von Schmalzgebackenem und Kuchen stachen den Gästen in die Augen. Mit dem Zucekerwerk liebäugelten die geladenen Kinder, die mit Kränzen auf den Flachsköpfen nach der Musik tanzten und hüpften, spielten, lachten und sich weder um das Brautpaar noch um die Gäste kümmerten, bis eines der Kleinen nach dem andern irgendwo hinter dem Ofen, auf einem Sofa, einem Lehnstuhl oder auf dem flachen Boden liegen blieb und glücklich einschlief. Die Alten dehnten die Freude bis zum hellen Morgen aus, hatten vom Essen, Trinken und Fesstfeiern übergenug und suchten endlich müde und schwankend ihre Schlafstätten. Martin und Lis waren in einem Wagen in ein schönes Dörflein gefahren, dem die Geranien vor den Fenstern standen. und das rote Weinlaub über die Müäuerlein hing, und in dem ihre Patin wohnte. Dort wollten sie bleiben. Die Patin hatte ihnen einen wunderbaren langen und dicken Kranz über die Tür gehängt und mit einer Stecknadel einen Bogen Papier festgestectt. Darauf hieß es: Tretet glücklich ein. Ihr sollt sein wie Wein, Je länger im Faß, Um so edleres Naß. Ihr sollt sein wie Brot, Das in Freud schmeckt und Not. Ihr sollt sein wie Salz, Wie Wasser und Schmalz, Ohne das man auf Erden Seines Lebens nicht froh mag werden. Als Martin Lis über die Schwelle führte, tat er ein Gelöbnis im Herzen, daß, wenn er es hindern konnte, Lis' Fuß sich nicht stoßen solle, solange er lebe. Seine Stirne wurde heiß, und seine Augen wurden feucht vor lauter Glück.- - - - - - - - - Die Kinder von Arbach gingen mit Freuden zur Schule. Sie langweilten sich nicht mehr. Sogar die Rechensstunde ~ und das will viel sagen ~ verstand der Lehrer in Freude zu verwandeln. Daging die Frau Eins zur Frau Zwei auf Besuch, und die Frau Drei und Vier waren auch eingeladen, und daß dann vier am Kaffeetisch saßen, war doch selbstverständlich. Und auf der Schiefertafel liefen die Zahlen und Buchstaben so lustig hintereinander her und hatten dicke Bäuchlein wie des Bäckers Jüngster, oder sie marschierten nebeneinander wie Soldaten und hatten Tornister auf dem Rücken, oder sie hatten runde Köpflein, oder es waren welche da, die I zum Beispiel und die V und andere, die warfen ihre Zeichen wie Bälle in die Höhe, und dort mußten sie während der ganzen Stunde bleiben. Wiesollte da eine Rechenstunde nicht lustig sein? Und wer einen Regenwurmzeichnen konnte, oder gar ein Vöglein, oder ein Schifflein, der durfte am Mittwoch mit dem Herrn Lehrer in den Wald, und die Lehrersfrau nahm Zwetschgen und Brot im Körblein mit, und der Lehrer sang ihnen Lieder vor, und sie spielten alle zusammen oh, es warein lustiges Leben. Der Zufriedenste aber von allen war der Lehrer Martin Born selber. Er konnte am Morgen nicht aus dem Fenster sehen, ohne daß ihm von dem Herbstglanz draußen die Augen leuchteten, und abends, wenn er zum Sternenhimmel hinaufsah, wurde ihm noch andächtiger zumut. Die ersten Wochen liebte er Lis mit übergroßem und noch unruhigem Glück, dann,gehalten durch seine Arbeit, mit einem Herzen voll tiefer Zärtlichkeit. Lis füllte sein Herz, die Schule sein Denken aus. Lis’ schwarzes Köpfchen und ihrezierliche Gestalt standen dem Dorf wohl an. Die Bauern schmungelten. Allerdings meinten sie, es komme dem Schulmeister zugut, daß „die Seine“ ihm nicht müsse ernten und heuen helfen und daß Vater Stefan nachhelfe, und die Bäuerinnen schüttelten die Köpfe, wenn Lis auf dem Feldweg, der zum Schulhaus führte, daherkam wie eine Stadtdame. Im ganzen warsie aber beliebt, und es blieben alt und jung bei ihr stehen, um ein wenig zu plaudern. Sie war eben doch schon in der Welt draußen gewesen, konnte französisch, und verstand ihre Hüte und Blusen selbst zu machen. Das vermochte keines der derbhändigen Weiber. An Sonntagen kam etwa Mutter Marei angefahren, das Einspännerlein vollgepackt mit Mehl und Schinken, mit Kaffee und Zucker und einer „Züpfe“, die braun und glänzend aus dem Papier, in das sie eingewickelt war, herausguckte. Oder der Schmied kam, sah sich alle Ecken an und hörte mit scharfen Ohren auf den Glückston in Martins Stimme. Es fiel ihm nichts Ungutes auf. So ließ er denn etwa eine Banknote oder ein Röllelein Silber in Lis’ Arbeitskörblein fallen, denn trotz den Zinsen von dem Geld, das Martins Mutter ihm hinterlassen, war am Ende des Monatsnicht viel übrig. Lis hielt sich ein Mägdlein, und alle Augenblicke fehlte etwas in ihrem jungen Haushalt. So ging Woche um Woche dahin. Der Schnee lag auf den Dächern, und die Meisen kamen undbettelten um Futter, und Lis saß am Fenster und schaute hinaus. Es warabernicht viel zu sehen. Die Stunden wollten nicht so recht vorwärts. Eine wie die andere ging langsam vorüber, eine glich der andern. Lis las nicht besonders gern. Aber sie plauderte gern, und mit wem sollte sie plaudern? Das Schulhaus stand draußen vor dem Dorf, und die Bäuerinnen mochten nicht wie die Störche durch den hohen Schnee stelzen, wenn's auch wunderschön zu gehen war unter den verschneiten Bäumen, von denendie Vögel die roten Beeren pickten. Lis langweilte sich. Als Martin das merkte, kaufte er irgendwo einen Schlitten, schabte und hobelte an ihm herum, hing Glöcklein daran und fuhr Lis in die Winterlandschaft hinaus. Sie hatte aber bald kalte Jüße und meinte, sie sei eigentlich kein Kind mehr, kurz, der Schlitten stand bald aufrecht hinter dem Haus unter dem breiten Dach und schmückte sich nach und nach mit einer hohen Schneehaube. Martin suchte seine Liederbücher hervor und versuchte des Abends mit Lis zu singen. Oder er sang allein, und seine wunderbare Stimme erfüllte das Zimmer mit Macht. Lis hatte aber an der Musik keine besondere Freude, und Martins üben, das er jetzt, da im Garten nichts mehr zu tun war, wieder aufgenommen, warihr lästig. Sepp kam, aber selten und ungern. Er behauptete, er passe nirgends in der Welt hin als in den Wald. Wenn er da war und erzählte, erwachte in Martin das Heimweh, die Sehnsucht nach der Seele des Waldes, die er so oft hatte durch den Wald ziehen hören, und deren leiser Gang ihm vertraut gewesen. Er war schweigsam, so lange Sepp, der nach Tannenharz roch, und dem manchmal ein Eichhorn aus den Rockfalten sah und manchmal ein zahmer Zeisig, da war. Lis neckte Sepp und riet ihm an, selber zu heiraten, er könne dann herausfinden, ob es eine Falle sei, oder ein Paradies. Dabeilachte sie Jo lustig und sah Sepphell in die Augen, daß er zufrieden mit dem, was er gesehen, sich heimwärts trollte. Es kam ein wunderschöner Sonntag heran. Die ganze Welt schien in Blau getaucht, es flimmerte golden und silbern von den Bäumen und Bergen, luftige, klingende Schlitten fuhren auf der Landstraße vorüber, die Pferde mit wehenden Federbüschen und roten Schabracken und die Menschen darin mit Pelzen und fröhlichen Gesichtern. Da geschah es, daß einer dieser Schlitten vor dem Lehrerhaus anhielt, und daß ein kleiner beweglicher Herr ausstieg und die Zügel seinem Kutscher zuwarf, der vom Kopf bis zu den Füßen in weißem Pelz stak wie ein Eisbär. Er war Cesare Bianchi. Er trug einen mardergefütterten Mantel mit Biberkragen. Doch als er später das kostbare Kleidungsstück auszog, feierte Martin ein unerwartetes Wiedersehen mit dem alten, specktigen, in allen Nähten glänzenden Festkleid des Meisters. Im Nu war der Musiker oben, zum größten Erstaunen Martins, der an seinem Schreibtisch gesessen und geschrieben hatte. Sogleich fing Bianchi an zu schelten. „Also da muß mandich suchen, du Höhlenbär“, sagte er, und sah mit funkelnden Augen an Martin hinauf. „Da lebt er, harmlos, als gäbe es keine Musik in der Welt. Der Dachs im Bau, der Maulwurf unter der Erde, der Wurmin der Tiefe des Misthaufens, was wissen sie von Musik? Aberdu kennst sie und du versteckst dich vor ihr wie eine Made im Käse. Blindschleiche, die du bist. Ich schäme mich für dich, und ich habe mich seit meiner Schulzeit nicht mehr schämen müssen. Undankbarbist du, Undankist deine Freude: diesem schwarzen Laster frönst du, du echter Mensch. Mein Lieber“ ~ er schüttelte Martin –~ „Willst du mir wiederkommen oder willst du nicht, nachdem ich dich herangepäppelt, aufgezogen, mit meinem Geist und meiner Kunst genährt und . . .“ „Aber Meister, jetzt siten Sie endlich“, rief Martin, der noch kein Wort hatte sagen können, und dem heiß geworden bei dem Herumrasen und Schelten des Musikers. „Jetzt sollen Sie zuerst meine Frau kennenlernen, dann sollen Sie Kaffee trinken, und dann erst wollen wir von Mufik reden.“ „Rein, nein, nein, nein“, schrie der Musiker. „Keinen Tropfen trinke ich. Keinen Bissen im Hause des Verräters. Er braucht nur zu wollen . . .“ Lis kam herein. Sie hatte den Schlitten vorfahren sehen und riß eine Minute später eine neue Bluse aus dem Schrank, hatte sie eine zweite Minute nachher angezogen und nach der dritten eingeknöpft. Die feinen Schuhe an die Füße — sie hatte schmale Füße — einen Blick in den Spiegel, und schon stand sie vor dem Meister, dessen hundert frühe Fältchen sich gleich einem beruhigten Meer glätteten, als er Lis sah. „Die Frau Gemahlin?“ fragte er und riß die Augen auf. „Meine Frau“, sagte Martin mit einer kleinen, ungeschickten Bewegung und Herzklopfen, von dem er nicht wußte, was es sollte. Bianchi verbeugte sich. Anmutig neigte sich Lis, bot dem Meister mit einer ihr eigenen Armbewegung die Hand und sah ihm, der nicht größer warals sie, frisch in die Augen. „Lieber, Sie haben es weit gebracht“, sagte der Meister voll Respekt. „In der Liebe haben Sie Glück gehabt, muß ich sagen. Jetzt soll der Ruhm einsetzen, das Geld . . . aber vielleicht weiß die kleine Frau da gar nicht, um wases sich handelt? Vielleicht weiß sie nichts von mir ?“ „Oh, gewiß weiß ich von Ihnen“, sagte Lis. „Martin hat mir ja alles erzählt. Alles, vom Theater, und seiner Stimme, und daß der Meister“ — er verbeugte sich ~ „ihm Stunden gab, und noch viel anderes.“ „Die Hauptsache vergessen Sie, kleine Frau. Aber ich verstehe, ich verstehe, die kleine Frau ist auf meiner Seite. Ich merke das, ich fühle das. Die kleine Frau ist klug. Aber dieser Esel da frißt Disteln und könnte Hafer fressen. Entschuldigen Sie, ein Beispiel! Bloß ein Beispiel aus dem Tierreich.“ „Lis, bitte, besorge uns Kaffee“, bat Martin etwas ungeschickt, um den Meister zu unterbrechen. Sie ärgerte sich. Warumsollte sie nun in die Küche, um sich Hände und Kleider zu beschnußzen? Es kam so selten vor, daß ein vernünftiger Mensch in ihrer Stube saß. Martin las auf ihrem Gesichtlein, was sie dachte. „Lis,"sagte er rasch, „bleib da. Ich besorge rasch das Nötige. Unser Mädchen ist ausgegangen,“ fügte er, zu Bianchi gewendet, hinzu, „und ich nehme an, daß Sie sich ebenso gern von meiner Frau als von mir unterhalten lassen.“ „Und ob“, sagte der Meister und rieb sich die Hände. „Wenn Sie gestatten?“ Er setzte sich endlich auf einen der geschnitten Stühle. „Wer hatdas geschnitt? Doch nicht der Mensch da draußen?“ „Der Sepp, der Waldhüter, Martins alter Freund“, sagte Lis. Sie wartete ungeduldig darauf, daß Bianchi von Muik und Martins Singerei anfangen sollte. Aber er betrachtete den Stuhl. „Da ist was drin“, sagte er kopfnickend. „Vielist da drin. Das Holzlebt ja. Das ist ein Künstler, dieser Mensch.“ Da lachte Lis. „Der Sepp, ein Künstler? Ein Waldknecht ist er, ein geschickter und gescheiter, und auf der höheren Schule ist er auch einmal gewesen. Aber dann wurde er arm. Jett kocht er sich alle Tage dieselbe Suppe und wohnt am Waldrand. Ersagt, er hätte in seinem Leben keiner Frau die Hand gegeben außer mir und seiner Mutter.“ „D Esel, o Esel, o gezweigter Esel“, schrie der Meister, sprang vom Stuhl in die Höhe und setzte sich auf einen andern, gewöhnlichen. „Ein Sünder in meinen Augen. Ich will nichts von ihm wissen.“ Bianchi betrachtete nun Lis, als sei sie Kunstwerk. Der Ausdruck seiner Bewunderung war so deutlich, daß Lis errötete. „Sie haben recht, kleine Frau. Siesind sehr schön. Mehr, Sie sind pikant. Das nebenbei. Ganz objektiv gesagt, verstehen Sie?“ Lis nickte, aber sie fand, das sage man einem doch nicht so gerade heraus. Sie wollte ablenken. „Finden Sie denn Martins Stimme so schön?“ „Kleine Frau, Spaß beiseite. Das ist eine Stimme wie ich sie, seit ich etwas vom Singen verstehe, nur wenige Male gehört habe. Raffaële Nardi in Mailand hatte eine solche Stimme. Er starb an der Schwindsucht, nicht viel mehr als zwanzig Jahrealt. Ich habe um ihn getrauert wie um einen Sohn, denn seine Stimme starb mit ihm. Eine Stimme, die zu den Göttern hinauf hätte schweben sollen, um dem Besten geschenkt zu werden. Der andere ~ die andere Stimme ging verloren. Es war meines Sohnes Stimme. Erhatte sie ruiniert. Leichtsinnig. Er ist jetzt Singlehrer in Catania. Ich bin nie mehr zu dem Mörder hingefahren. Ich hätte ihn am Hals packen müsssen und schreien: Wo ist die, die du gemordet?“ Des Meisters Augen funkelten und seine blutlosen Hände umkrallten die Stuhllehne. „Er ist tot für mich.“ Lis fürchtete sich fast. „Aber Martin . . glauben Sie, daß er . . ." Sie war noch ungeschickt im Verbergen von dem, was sie dachte. Auch kam Martin herein. Man sprach von gleichgültigen Dingen. Bald daraufstellte Lis die Tassen auf den Tisch, der Kaffee stand da, frisches Brot, Honig, späte Birnen aus dem Garten. Der Meister machte große Augen, aber er griff zu. Das war neu – Brot und Honig anders, ungewohnt. Dazu die hübsche Person. Er war guter Laune. „Und jetzt, die große Frage. Ich stelle sie zum letzienmal. Ich habe sie wohl überlegt, ich habe sie vorbereitet, ich wünsche keine Antwort, ich warte. Aber, Mensch, der Sie sind ~ da Sie verheiratet sind, duze ich Sie nicht mehr, unterstehen Sie sich nicht, Nein zu sagen. Ich fluche Ihnen, wie ich meinem Sohn geflucht. Musik ist eine Göttin. Gotteslästerung, wer ihre Gebote verletzt. Die große Frage: Herr Martin Born, kommen Sie oder kommen Sie nicht?“ Martin sprang auf und ging auf und ab. Er sah zu Boden, und seine Augen wurden dunkel. „Was kommen Sie, Meister, und stören mein Glück?“ fragte er.. „Was wollen Sie von mir? Wozu brauchen Sie meine Stimme? Wasnütztsie Ihnen?“ Da warf der Meister seine Serviette in den Winkel und schrie: „Ich brauche sie nicht, und du brauchst sie nicht, und niemand braucht sie. Aber, Mensch, versstehst du denn nicht, daß die Kunst sich rächen wird, wenn du sie mißachtest? Begreifst du nicht, daß eine solche eingesargte Stimme bösen Geistern ruft? Begreifst du nicht, daß sie lebendig begraben ist und ans Licht muß, sollen nicht Glücksund Liebesgötter von dir weichen?“ Martin sah den Meister fest an. „Ich bin nicht abergläubisch. Glück und Liebe und die Natur und Arbeit habe ich. Mehr will ich nicht." Da stand der Meister auf und sagte ergriffen und leise: „Martin, begehe keine Sünde. Unter Tausenden du, Hunderttausenden ein Gesegneter du, ein Berufener. Ein Göttersohn. Dir ward sie gegeben. Die Kinder der Musik sollen zu deinen Füßenliegen, und du wirst sie glücklich machen. Du mußt, Martin.“ Er trocknete sich die Augen mit dem Taschentuch. „Ich liebe dich um deiner Stimmewillen. Ich schätze dich, ich bewundere dich.“ Der Meister nahm die Hand Lis’. „Bitten Sie, kleine Frau“, sagte er zitternd. „Die Stimme muß ans Licht.“ „Meister,“ sagte Martin, „ich bitte Sie, lassen Sie mich. Mein Beruf ist hier. Es zieht mich zu den Kindern. Ich kann nützen. Ich habe genug zum Leben. Meine Frau mußnicht darben, sie muß nicht unwürdige Arbeit tun. Lassen Sie mich im Frieden.“ Da stand der Meister auf, nahm seinen Pelzmantel auf den Arm, grüßte nicht und sagte nichts. Sein Gesicht war wie aus Holz geschnitzt, und er hatte Tränen in den Augen. Erging und schlug die Tür zu. Lis und Martinliefen hinter ihm her die Treppe hinunter, aber er sprang in den Schlitten, riß die Pelze über seine Knie und befahl dem Kutscher, zu fahren. Als die Nferde anzogen, schrie er: „Geh zum Teufel, du Esel“, und kauerte sich wie ein Affe in seine Wagenecke. Martin ging schweigend in das Haus zurück, Lis folgte langsam. „Jetzt ist mein schöner Sonntag verdorben“, sagte Martin betrübt, als er am Fenster stand und dem Schlitten nachsah, der, von einer Wolke stäubenden Schnees umgeben, in der Ferne verschwand. „Du hast ihn dir selber verdorben“, sagte Lis. „Hättest du nicht wenigstens hören können, was er wollte? Jetzsitzen wir für ewige Zeiten hier auf dem Dorf.“ Sie stellte sich an das andere Fenster, doch vom Schlitten waren nur noch die blauen Streifen zu sehen, die die Kufen im Schnee zurückgelassen. Es stieg ihr heiß in die Augen, sie mußte die Tränen verschlucken. Wenn Martin ja gesagt hätte? Siesah wieder die jauchzende Mengevorsich, die Kränze, die klatschenden Hände. Sie hörte das Klirren und Klingen des Goldes ihr in den Schoßfallen, sie meinte, mit silbergrauen Rossen zu fahren, in Seide gekleidet zu sein, kostbare Ringe an den Fingern zu haben, neben sich. .“ „Lis,“ fragte Martin, „was denkst du?“ Sie fuhr auf. Sie war ganz verwirrt. Ach ja, sie saß ja im Lehrerhäuschen. Die Geschichte vom Hans Dudeldee fiel ihr ein, die einzige, die ihr Vater Stefan erzählt. Vom Fischer, der endlich mit seiner Frau im Schloß gesessen, dennoch nicht zufrieden war und wieder für alle Zeiten im Fischerhäuschen sitzen mußte, weil er zuviel verlangt hatte. Aber, wollte sie etwas Unrechtes? Sie wollte nur, daß Martin so reich und berühmt und glücklich werden sollte, wie er es verdiente. „Martin,“ sagte sie, „würde dich das nicht sehr glücklich machen, wenn du von Tausenden von Menschen bejubelt und bewundert würdest?“ Martin sann nach. „Ich glaube nicht. Ich glaube, es würde mich weniger freuen, als wenn du mir sagst, daß du mich lieb hast." Er nahm ihre Hand, drückte sie an sein Gesicht und sstreichelte ihr die Haare. „Du Süße, Liebe, gelt, du bist glücklic)k? Gerlt, du brauchst das Getriebe und alles das nicht, was Meister Bianchi uns vormalte? Waswollen wir denn Besseres, als wir haben? Sieh hinaus, wie das Abendgold in den Fensterscheiben flimmert, und sieh, wie unsäglich rein und weich und schneeweiß es über den Bergen liegt, und unser Stübchen, Herz, sieh, was du daraus gemacht hast. Blumen und Glück und Liebe füllen es. Waswillst du mehr?“ „Nichts“, sagte Lis. Aber sie zog ihre Hand aus der Martins, und es blieb in ihrem Herzen ein bitteres, unmutiges Gefühl zurück. Wenn er wollte, könnte ich alles haben, was ich mir wünsche, dachte sie noch, ehe sie einschlie. Unter dem Druck dieses letzten Gedankens wandte sich ihr Gesicht weg von Martin, der, durch ihre Nähe beseligt, die Augen geschlosssen hatte und dachte, daß er sich nun doch endlich einen Engel eingefangen. Der Eindruck, den Meister Bianchis Besuch bei Lis zurückgelassen, verflüchtigte sich wieder. Sie sang und lachte im Haus herum undhielt ihren zierlichen Haushalt in Ordnung. Sie fand etwa einen bunten Topf für ihre Pflanzen, oder sie entdeckte bei irgendeiner Bauernfrau ein Glasgefäß, das so weiß und keusch und fromm aussah, als stamme es aus einer Kirche, oder sie bezog eines der ihr geschenkten Kissen mit Musltern, die sie irgendwo gesehen und mit sicherm Geschmack als schön und eigenartig erkannt hatte. Sie brachte es im Lauf der Zeit dazu, zwischen Zierat und harmonischen Farben zu leben, wie ein Laubenvogel, der sich aus bunten Steinen, Müschelchen, feinem Sand und Gräsern ein kleines Paradies zu schaffen versteht und darin seine Nachkommenschaft begrüßt und aufzieht. Martins Lebenglich einer goldenen Glückskette. Ein Tag war wie der andere durch Liebe und Freude festgefügt. Die Tage glänzten ihm, und die Stunden waren Boten, die eine der andern die Fackel in die Hand drückten. Von Lis ging er zu den Kindern, von den Kindern hinaus in die Felder oder den nahen Wald. Der Laubenvogel darf sein Paradiesgärtlein schmücken für seine Nachkommen, Martin und Lis blieben allein. Die Bauernfrauen fühlten sich nicht veranlaßt, besonders zartfühlend zu sein. Unendlich oft mußte Lis die Frage hören, ob denn der Storch auf dem Schulhaus noch nicht zu nisten gedenke. Sie ärgerte sich. Das ging ja keinen etwas an. Eine eigentliche Sehnsucht nach Kindern hatte sie nicht, wenn sie es auch reizend fand, ihnen weiße Kleid