Meiner Lotte. Einleitung Wenn man von der ästhetisierenden Literaturbetrachtung absieht, so bleiben dem Geschichtsschreiber der Dichtung zwei Wege. Einmal kann er in seiner Darstellung den Nachdruck auf diejenigen Erzeugnisse der Einbildungskraft legen, welche sich der grössten Verbreitung und Beliebtheit erfreuen, und sodann auf diejenigen, welche neue geistige Strömungen in der Weltanschauungsentwicklung zuerst und am vollkommensten zum Ausdruck bringen. Was sind die Lieder einer Zeit? Die in ihr am meisten gesungen werden, an denen sie sich am meisten freut, oder die in ihr entstehen? In der ersten Gruppe treten die Stimmungen und Strebungen der breiten Masse zutage, und wer da untersuchen will, welche geistigen Richtungen zu einer bestimmten Zeit in einem Volke vorwalten, der wird der Lieder, die es in ihr singt, schwerlich entraten können. In der zweiten Gruppe finden die Anschauungen und Gefühle von ein paar einsamen Menschenkindern ihre Gestaltung, die die Fähigkeit haben, im Gedicht auszusprechen, was in ihrem Bewusstsein lebt. Wenn für die Massen ein Lied nicht eher geboren wird als in dem Augenblicke, wo es Volkstümlichkeit erreicht, und wenn somit Schneckenburgers Wacht am Rhein ein Erzeugnis des deutsch-französischen Krieges von 1870 heissen kann, so entsteht doch ein Lied andrerseits in dem Augenblicke, in dem es der Geist des Dichters schafft, und die Wacht am Rhein ist die Schöpfung gewisser Stimmungen und Anschauungen, die 1840 gewisse Kreise des deutschen Volkes beherrschten, und sie würde als geschichtliches Zeugnis für das Erwachen des neuen Vaterlandsgefühles in jenen Tagen genügen, auch wenn Geibel nicht 1845 geschrieben hätte: Durch tiefe Nacht ein Brausen zieht Und beugt die knospenden Reiser, Im Winde klingt ein altes Lied, Das Lied vom deutschen Kaiser! und Storm nicht 1853 dem Weltbürgertum des Revolutionsalters das Wort entgegengesetzt hätte: Kein Mann gedeihet ohne Vaterland. Was von dem einen Gesichtspunkt aus die Lyrik von heute ist, das ist von dem anderen die Lyrik von gestern, und was dieser die Lyrik von heute nennt, das könnte jener nur als Lyrik von morgen bezeichnen. Sicherlich hat die Literaturgeschichte die Betrachtung dessen, was in verschiedenen Zeiten die künstlerische Nahrung der Massen gebildet hat, bisher ganz ungebührlich vernachlässigt. Gründliche Statistiken über die Lieder, die auf Programmen erscheinen und in Konzerten, Salons und einfachen Wohnzimmern gesungen werden, die in billigen Liederbüchern enthalten sind und aus dem Munde marschierender Regimenter durch die Strassen dröhnen, die die Kinderstube jeden Tag hundert Mal hört und von denen das Tagewerk des Arbeiters erzählen kann, deren Weisen von Musikanten geblasen, auf Leierkästen gespielt und von Schusterjungen gepfiffen werden, vermöchten uns wohl ganz überraschende Einblicke in den lyrischen Geschmack unserer Zeit zu geben und die Unterschiede aufzuzeigen, die zwischen der lyrischen Nahrung der verschie- denen Klassen unserer Zeitgenossen bestehen. Da die Wirkung jeder dichterischen Neuschöpfung in weitem Masse von den herrschenden Strebungen und Neigungen oder von der sie aufnehmenden Umwelt abhängt, so hätte eine solche Kenntnis sogar eine gewisse praktische Bedeutung, und dieser Zweig der Literaturgeschichte ist wohl nur deswegen so vernachlässigt worden, weil man der Meinung gewesen ist, die Zeitfolge künstlerischer Wirkungen auf die Massen sei von keinerlei Wichtigkeit für die Kenntnis der Literaturentwicklung und die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Dichtung ende in jedem einzelnen Falle mit dem Zeitpunkte des Erscheinens eines Literaturwerkes in der Öffentlichkeit. Es wäre weder unmöglich noch auch nur schwierig, in einem Bändchen die deutsche Lyrik zusammenzustellen, die sich unter dem lebenden Geschlecht in Deutschland der grössten Beliebtheit erfreut. In einer solchen Sammlung würden Goethes schönste Lieder dicht neben den Couplets der letzten Operette oder vielmehr der Operetten des letzten Vierteljahrhunderts stehen. Fischerin, du kleine fände eine Stelle neben Über allen Gipfeln ist Ruh , und Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst neben Mignons Lied von Italiens ewiger Schönheit: Goethe, Schiller, Wilhelm Müller, Lenau, Heine, Uhland, Geibel, Scheffel sie alle würden darin vertreten sein, und jeder mit mehr als einem Liede; aber ebenso auch Strauss, Offenbach, Millöcker und Nessler. Ihren Sängen würden sich die Reste des älteren Volksliedes anzuschliessen haben, und weiterhin seltsame geschichtliche Erinnerungen wie Prinz Eugenius, der edle Ritter und Kaiser Wilhelm sass ganz heiter . Es ist bedauerlich, dass wir nichts dergleichen besitzen, keine Sammlung in welche die Aufnahme nur durch zahlenmässiges Vorkommen eines Liedes und in keiner Weise durch den Geschmack des Herausgebers bestimmt würde. Aber bei den vielen wichtigen Aufgaben, die der literaturgeschichtlichen Forschung noch harren, ist es kaum verwunderlich. Ein vollständiges Bild von dem Empfinden, Denken und Arbeiten der Zeit vermöchte eine solche Zusammenstellung allerdings nicht zu geben; denn in ihr müsste notwendigerweise die „Lyrik von morgen“ fehlen, d. h. diejenigen Dichtungen, in denen die dichterisch veranlagten grösseren einzelnen Menschen von heute ihre Ideen, Stimmungen und Bestrebungen niederlegen, jene einzelnen, die die geistigen und künstlerischen Führer der Zeit sind und deren Anschauungswelt in vieler Beziehung einen Stand der allgemeinen Überzeugung darstellt, den die Massen mit der nötigen Einschränkung in einem halben Jahrhundert erreichen werden. Gerade für die stärksten Persönlichkeiten und die fortgeschrittensten Geister unter den zeitgenössischen Dichtern wäre kein Platz, und in je bezeichnenderer und schärferer Form ein Poet zu sagen vermöchte, was seiner Zeit vor allen anderen eigen ist, um so weniger dürfte er Aufnahme finden. Alle jene Dinge, Gedanken, Empfindungen, Stoffe, Probleme, die uns am tiefsten ans Herz greifen, in denen wir den Puls unserer Zeit am deutlichsten schlagen hören, wir, die eine Million Gebildete eines Fünfzigmillionenvolkes, müssten grundsätzlich ausgeschlossen bleiben. Allerdings hat es eine Zeit gegeben, in der bei den Menschen die Herde fast alles und der einzelne fast nichts bedeutete aber diese Zeit ist unwiederbringlich vorüber, und wir haben keinen Grund, um ihr Dahinschwinden zu trauern. Trotz des demokratischen Feldgeschreies unserer Tage und des Traumes von der „natürlichen Gleichheit der Menschen“ wächst die Macht und der Einfluss des einzelnen mit reissender Schnelle. Je mehr wir uns der modernen Zeit nähern, ein um so grösserer Fehler ist es, dieses persönliche Element in einer geschichtlichen Betrachtung zu vernachlässigen und statt auf die schöpferischen Geister auf die wiederkäuenden Massen zu schauen. Jenes persönliche Element ist jedoch keineswegs allmächtig. Im Gegenteil ist es durch die Einrichtungen, Sitten, Anschauungen, Ideale, Wünsche und Nöte einer Zeit in sehr enge Grenzen eingeschlossen, und ganz in derselben Weise, wie wir aus dem Vorkommen eines Wortes, wie Eisenbahn, elektrische Maschine, Entwicklungslehre, Sozialdemokratie und Lebensversicherung sofort den Schluss ziehen könnten, das literarische Werk, das sie enthält, müsse dem neunzehnten Jahrhundert angehören, und wie wir seine Entstehungszeit in vielen Fällen noch in viel engere Grenzen einschliessen könnten, so lässt sich auch das Wachsen, Werden und Vergehen von Gedanken, Stimmungen und Bestrebungen, von geistigen Interessen und Bewegungen, von Geschmacksrichtungen und Überzeugungen verfolgen und auf Grund von derlei Beobachtungen ein Lied einer bestimmten Literaturepoche zuteilen, ja seine Entstehungszeit bis auf das Jahrzehent genau feststellen. Hätte sich die Geschichte der allgemeinen Weltanschauung schon zu einer einheitlichen Wissenschaft zusammengeschlossen und wäre die Weltanschauungsgeschichte nur ein wenig reichlicher angebaut, so würden sich solche Zeitbestimmungen noch mit weit grösserer Genauigkeit vornehmen lassen. Unsere Zeit besitzt ihre geistigen Kennmale so gut wie jede andere, und diejenigen poetischen Erzeugnisse, welche sie zeigen und nicht künstliche Gebräue aus Bestandteilen der verschiedensten Zeiten und Weltanschauungen sind, bilden die wahre Dichtung von heute, mögen sie auch selbst den weiteren Kreisen der Gebildeten erst morgen vertraut werden. Es ist eine bekannte Thatsache, dass Übersetzungen von Dichtungen aus einer fremden Sprache selten oder niemals eine Volkstümlichkeit erreichen, wie sie selbst unbedeutenden Werken der eigenen Literatur eines Volkes nicht selten zufällt. Zum Teil mag ja das Fehlen eines einheitlich-ureigenen Stiles daran schuld sein, aber die Hauptursache dafür ist zweifellos, dass das Gesammtbewusstsein eines Volkes sich von dem jedes anderen Volkes unterscheidet und dass somit die Saiten, auf welche die einzelnen Schläge berechnet sind, entweder gar nicht anklingen oder doch einen ganz anderen Ton von sich geben, dass hundert kleine Dinge, Worte, Vorstellungen, Gruppen von Ideen, Ideale, Empfindungen in einem Lande hohe ästhetische Werte sind, in dem anderen jedoch niedrige oder fast neutrale. Die Anschauungen der Menschen unterscheiden sich ja weit weniger in den Punkten, über die sie sich streiten, als in denen, an deren Erörterung sie niemals denken. Jene niemals ausgesprochenen, stillschweigend angenommenen Voraussetzungen des Denkens und Sprechens, mit denen man vielleicht sein ganzes Leben lang niemals ins Gericht geht, können trotzdem im höchsten Masse angreifbar sein. Solche Annahmen gelten vielfach in einem Lande als selbstverständlich, während sie kein Fremder unangefochten lassen würde. Jedes Literaturwerk macht unbewusst von ihnen Gebrauch, auch wenn es ein Roman über eine altassyrische Prinzessin oder ein Drama aus der mittelalterlichen Kirchengeschichte ist. Was von verschiedenen Ländern zu ein und derselben Zeit gilt, gilt in noch höherem Grade von verschiedenen Zeiten innerhalb ein und desselben Volkes. Könnten wir uns magisch in die Zeiten der Freiheitskriege versetzen, so würden wir uns trotz unserer lebendigen Teilnahme für ihre Kämpfer doch unter ihnen sehr wenig heimisch fühlen und wir würden zu ihren Begriffen von Freiheit und Würde, Tugend und Weisheit, Ehre und Liebe jede Stunde den Kopf zu schütteln haben. Und wenn Theodor Körner oder De La Motte Fouqué ein paar Wochen im modernen Berlin zubringen könnten, so würde ihre Begeisterung für das neue Reich wahrscheinlich nicht gerade überschwänglich sein. Der grösste Teil dieser unbewussten Voraussetzungen in der Lyrik hingt davon ab, was ein Volk als lyrische Nahrung zu sich zu nehmen gewöhnt ist, oder von seiner lyrischen Tradition. Die literarische Tradition ist so stark, weil jeder Schriftsteller in der Sprache dasselbe Wortmaterial wie seine Vorgänger benutzen muss, während in den anderen Künsten die Tradition nur in den Methoden der Behandlung eines an sich neutralen Stoffes besteht, seien es nun Farbentöpfe, Marmorblöcke oder die Tonskala. Die Tradition ist vielleicht auf keinem Literaturgebiete stärker als in der Lyrik. In ihr giebt es traditionelle Versmasse und traditionelle Reime, einen traditionellen Rythmus, traditionelle Redensarten und grössere Wortgruppen, eine traditionelle Stiltechnik, traditionelle Gegenstände, traditionelle Stimmungen und traditionelle Gedanken, traditionelle Anschauungen und selbst traditionelle Verse. Es giebt eine Reihe Verse, die drei, vier und fünf Mal in der deutschen Lyrik vorkommen. Liebe und Natur (und nach Geibel ausserdem noch Gott) sollen die ewigen Gegenstände der Lyrik sein, und das ist ja der Grund, warum ernste Menschen einen Band lyrische Gedichte so oft mit verdächtigem Kopfschütteln betrachten. In Deutschland, wo das letzte Jahrhundert eine solche Fülle machtvoller Lyriker hervorgebracht hat, muss die Tradition in der Lyrik noch ganz besonders stark sein. Goethe und Heine haben zweifellos den tiefsten Einfluss auf die Entstehung der modernen lyrischen Tradition ausgeübt, aber Wilhelm Müller, Lenau, Uhland, Geibel, Scheffel haben ebenso ihr Teil dazu beigetragen, und es ist nur natürlich, dass die ungeheure Masse der lyrischen Erzeugnisse in Deutschland heute auf den von ihnen getretenen Pfaden einherschreitet. Aber auch ihre Überlieferung ist nicht allmächtig, und um so geringer ist ihre Macht, je stärker die Persönlichkeit des Dichters ist. In der Auflehnung gegen die Tradition freilich zeigt sich die starke dichterische Individualität nicht, sondern in weit höherem Grade in ihrer Fortbildung. Herwegh hat einmal gesagt: Die Zeit ist die Madonna der Poeten, Die Mater dolorosa , die gebären Den Heiland soll; drum halt die Zeit in Ehren, Du kannst nichts Höheres als sie vertreten. Aber weise Dichterworte finden nicht immer die Beachtung, die sie verdienen. So hat die Mehrzahl der deutschen Lyriker des letzten halben Jahrhunderts es sich keineswegs angelegen sein lassen, den Wünschen und Nöten der Zeit in ihren Dichtungen zum Ausdruck zu verhelfen, sondern hat sich damit begnügt, die Gedanken und Formen ihrer grösseren Vorgänger zu wiederholen. Erst das letzte Vierteljahrhundert, die Zeit des neuen deutschen Reiches, hat eine grössere Anzahl neuer lyrischer Ansätze gebracht, die zwar die Tradition der vorausgehenden Zeit fortpflanzen, zugleich aber der deutschen Dichtung namentlich inhaltlich eine ganze Reihe Gebiete erschlossen und neue Züge einverleibt haben. Diese Ansätze zusammen und ihren Zusammenhang mit den Bestrebungen unserer Zeit aufzuzeigen, ist die Aufgabe des vorliegenden Bändchens gewesen, dessen Titel nach dem Gesagten kaum mehr einer Erklärung bedarf. Es enthält nur Dichtungen aus den Jahren 1869 bis 1895 und beschränkt sich auf solche, die in irgend einer Weise für das geistige Leben unserer Zeit bezeichnend sind. Ob sie aus der Feder von Dichtergreisen oder Dichterjünglingen stammen, hat dabei keinen Unterschied gemacht. Sie alle reihen sich zwanglos unter die drei Titel Modernes Leben , Moderne Liebe und Modernes Denken ein und geben in ihrer Gesammtheit eine Art Miniaturbild der neuen geistigen Strömungen, die während des letzten Menschenalters durch die Gebildeten Deutschlands gegangen sind. Die Modernität in der Lyrik kann je nach den verschiedenen Seiten der lyrischen Tradition eine sehr verschiedene sein, aber im Ganzen lassen sich doch drei Hauptentwicklungsstufen unterscheiden: Der Gegenstand kann ein moderner sein, er kann mittels alter Symbole und Redewendungen von einem modernen Gesichtspunkt behandelt werden, und die Darstellung kann sich in modernen Sinnbildern und Ausdrücken vollziehen. Zwischen diesen drei Entwicklungsstufen sind nun allerhand Kombinationen möglich; die beiden ersten, die beiden letzten, oder die erste und die dritte Stufe können vereinigt sein, nur eine von ihnen oder alle drei können sich finden. Die Schilderung des Elends der niedrigsten Arbeitergruppe ist gewiss ein moderner Gegenstand. Wenn Freiligrath ihn sich in seinem Liede Aus dem schlesischen Gebirge zum Vorwurfe wählt, dann muss er ihn noch an die Rübezahlsage anknüpfen, um ihn überhaupt zum Kunstwerk zu gestalten. Sein dreizehnjähriger Weberknabe, der dem Rübezahl sein Leinwandpäckchen verkaufen will und dabei eine Schilderung der Not daheim giebt, drängt sich ihm mit Notwendigkeit als poetische Fiktion auf. Ähnlich, wenn Theodor Fontane das furchtbare Eisenbahnunglück des Winters 1879 in seiner Brück' am Tay schildert. Ihm müssen die Hexen aus Macbeth noch zur Einkleidung des modernen Stoffes in ein poetisches Gewand herhalten, und ein anderes Ausstattungsstück der modernen Dichtung, der Weihnachtsbaum, den Schottland nicht kennt muss die Wirkung verstärken helfen. Die Tierfabel, die von Baumbach und Otto Ernst ( Die Grille ; und Wahlgeschichten der vorliegenden Sammlung) mit grossem Glück auf moderne Stoffe, die geringen Erträge lyrischer Gedichte und die Tragikomik des Wahlfeldzuges, angewandt worden ist, gehört gleichfalls hierher. Wo es sich um die Darstellung moderner Ideen handelt, da leitete immer die ausgesprochene Tendenzdichtung die Geschichte einer Idee in der Dichtung ein. Erst nach und nach beginnen die neuen Hauptgesichtspunkte für den Dichter zur selbstverständlichen Voraussetzung zu werden. Sie sind es geworden, sobald er es nicht mehr für nötig befindet sie zu erwähnen, sondern sie zur unausgesprochenen Grundlage seines Denkens macht. Die moderne Arbeiterbewegung hatte anfangs mit dem Standpunkte des Sklavenhalters sich abzufinden. Daher zunächst die Betonung des Satzes, der Arbeiter habe gleiche Rechte mit den übrigen Menschen, wie er in der sozialistischen Lyrik von heute noch eine Rolle spielt, und erst dann das Bewusstsein dieser Rechte, kraft dessen die heutige Wirtschaftsordnung angegriffen wird. So geht ein Zeitgegenstand in fest bestimmter Ordnung durch die verschiedenen Stufen der literarischen Behandlung, um, sobald er der Zeit selbstverständlich geworden ist, wieder ganz aus der Lyrik zu verschwinden, so dass man sein Vorhandensein in der Wirklichkeit nur noch aus gelegentlichen Äusserungen erraten kann. Die Tendenzdichtung, die stets am Anfang steht, ist für diejenigen, deren Überzeugung sie zum Ausdruck bringt, deren politische, soziale, religiöse Wünsche sie verkörpert, genau so gut „wahre Poesie“ und stellt genau so gut „das Schöne“ dar, wie nur jemandem, der in den Anschauungen des griechischen Dramas gross geworden ist, Goethes Iphigenie als erhabenes Kunstwerk erscheint. So sind häufig für verschiedene Klassen eines Volkes zu der gleichen Zeit auf verschiedener Entwicklungsstufe stehende Dichtungen die höchsten Kunstwerke. Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik, insonderheit der Unterschied zwischen ihr und der sogenannten romantischen oder sentimentalen Lyrik, die ihr zeitlich unmittelbar vorausgeht, ist einzig vermittels einer Kenntnis der Weltanschauungsentwicklung Europas in den letzten beiden Jahrhunderten zu verstehen. Im allgemeinen ist jene Entwicklung durch zwei geistige Mächte bestimmt, von denen das letzte Jahrhundert noch sehr wenig wusste: die reissenden Fortschritte der Naturwissenschaft und dem Eintreten sozialer Probleme in den Mittelpunkt der allgemeinen Teilnahme. Unter dem Einfluss dieser Mächte ist in der allgemeinen Weltanschauung des begabteren Teiles des Volkes ein Umschwung eingetreten, der häufig unterschätzt wird. Allerdings hat er sich bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert in aller Stille vorbereitet, aber erst in unseren Tagen sind Fragen wie, ob die Erde der Lieblingsstern und der Mensch das Lieblingskind eines Gottes, oder ob die Erde ein ziemlich unbedeutender Planet neben anderen und der Mensch ein Zweig des grossen Säugetierstammbaumes ist, endgiltig entschieden worden. Derartige Veränderungen der Auffassung der eigenen Stellung im Weltall können unmöglich ohne Einfluss auf die ästhetischen Werte der Zeit bleiben, sondern müssen im Gegenteil notwendigerweise zu einer raschen Entwertung jener geistigen Werte führen, welche sich auf den geozentrischen und anthropozentrischen Irrtum stützen. Dasselbe gilt z. B. von der Rolle, die einst die spekulative Philosophie gespielt hat, von der veränderten sozialen Stellung der Frauen, der Art und Weise der modernen Gütererzeugung und Güterverteilung, des modernen Verkehrs und der modernen Bildung. — Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, während noch der Rationalismus in voller Blüte stand und die deutsche Dichtung sich zu einer ihrer höchsten Höhen erhoben hatte, tritt — scheinbar ganz unvermittelt — der Pessimismus in die Literaturen Westeuropas ein. Er breitet sich mit unglaublicher Schnelle aus, erreicht rasch in der romantischen Dichtung einen vorläufigen Gipfelpunkt, setzt sich in Platen, Heine, Lenau fort, um am Ende der sechziger Jahre noch einmal eine Blütezeit zu feiern. Sein Hauptfeld ist die Lyrik und bleibt es auch, als sich der Roman unter Freytags Einfluss modernen Stoffen zuwendet und das Drama sich weiter tapfer mit den ethischen Problemen des achtzehnten Jahrhunderts herumschlägt. Die oberflächliche Psycho- logie des modernen Frankreich meint, alle Kulturvölker Europas seien in eine Niedergangsperiode eingetreten und spricht mit Vorliebe vom fin de siècle als dem Anfang vom Ende. Es ist kaum zu leugnen, dass eine solche décadence im französischen Volke bemerkbar ist, das nicht einmal mehr durch Geburten die Lücken zu füllen vermag, die der Tod in seine Reihen reisst. Aber ein Stichwort wie décadence oder dégénération erklärt nicht nur nichts, sondern führt vielmehr nur allzuleicht zu einer völlig falschen Auffassung der geistigen Konstellation des modernen Europa. Die Frage, ob Optimismus oder Pessimismus „das Wahre“ ist, ist keine Frage der philosophischen Überzeugung, die sich durch Gründe entscheiden liesse, sondern eine Frage der physiologischen Organisation. In wem der Lebensprozess sich mit Leichtigkeit und Schnelle vollzieht, der wird eine „leichte Seele“ haben, wird ein Optimist sein, während der Gallenkranke mit beharrlichen Störungen seiner wichtigsten Lebensfunktionen ein Pessimist sein muss. Keine Philosophie der Welt wird imstande sein, ihn für den Optimismus zu gewinnen. Wenn Kranke, z. B. Schwindsüchtige häufig guten Mutes sind, so ist das kein Einwand gegen diesen Satz, sondern nur ein Beleg dafür, dass, obgleich ihr Körper sich mit Riesenschritten der Auflösung nähert, der Lebensprozess in ihnen ohne Hindernisse und Schmerzen, häufig sogar mit aussergewöhnlicher Geschwindigkeit, vonstatten geht. Aber z. B. bei Schopenhauer, dem missgestalteten, hässlichen Manne mit dem hinfälligen Körper und dem riesigen Kopfe, der gestörten Verdauung und allerhand körperlichen Beschwerden ist der Pessimismus das unvermeidliche Ergebnis der Langsamkeit und Stauung des Lebensprozesses. Er ist der Typus des Menschen mit „schwerer Seele“. Soweit kann man der physiologischen Erklärung des Pessimismus unbedenklich folgen und diese Lehre als Verfalls- und Entartungserscheinung bezeichnen. Gilt aber diese Erklärung, die wahrscheinlich für ausnahmsweise pessimistische Einzelwesen völlig zutrifft, auch für ganze Zeiträume mit mehr oder weniger ausgesprochenen pessimistischen Tendenzen und melancholischen Motiven in der Literatur? Die Geschichte zeigt, dass derartige Tendenzen unter Umständen sehr rasch entstehen können. Die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, ja der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, weiss so gut wie nichts von pessimistischen Neigungen. Die Theodiceenliteratur trägt siegreich darüber hinweg, wo sie als leichte Schatten erscheinen. Das starke, selbstgewisse, gesunde Leben mit seinem übergrossen Reichtum an Kraft, Lust und Wohlbehagen beherrscht die Literatur des ganzen siebzehnten Jahrhunderts, und als dann weichere Stimmungen erscheinen, sind sie doch durchaus nicht pessimistischer Natur. Da setzt plötzlich eine entschieden pessimistische Lyrik ein. Ist von 1740 bis 1770 das deutsche Volk in dem Masse physiologisch verfallen, dass der Pessimismus die Oberhand gewinnen musste, und was waren die Ursachen dieses Verfalls? Was führte seit 1874 das deutsche Volk derartig der Gesundung zu, dass es den Pessimismus siegreich zurückschlug? Ein solcher Wechsel in der Volksgesundheit wäre einzig durch eine plötzliche Stockung und eine ebenso plötzliche Beschleunigung der natürlichen Auslese innerhalb des Volkes zu erklären, durch eine Hemmung und Wiederförderung der sozialen Ausscheidung und Auslese, wie sie dem aufmerksamen Beobachter des sozialen Organismus unmöglich verborgen bleiben könnte wo sie wirklich vorhanden wäre. Aber ganz im Gegenteil setzt am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Beschleunigung der sozialen Auslese ein, indem eine grössere Beweglichkeit in die Bevölkerung kommt und die Anwendung von Maschinerie den einzelnen rascher reich werden und rascher verarmen lässt. In Wirklichkeit ist die Grundlage dieses Pessimismus überhaupt auf völlig anderem Gebiete zu suchen. Schiller, der in derlei Dingen weit mehr ein Kind seiner Zeit war als Goethe, dessen kühner Geist ihr weit voraus eilte, ist vielleicht die beste Brücke zu seiner Erklärung. Wenn wir nicht wüssten, wie Schiller zu seinen elegischen Stimmungen kam, wir könnten es aus seinen eigenen Liedern lernen. Es ist kein Zufall, dass er mit ganzem Herzen am Platonismus hing, der in der deutschen Gesellschaft etwa seit 1700, wo der Gegensatz zwischen dem guten Gotte und dem Teufel im Glauben der Gebildeten durch den Gegensatz zwischen Gott und Welt, Geist und Materie, ersetzt worden war, eine Neubelebung erfahren hatte. Der Dichter, der da in seinen „Idealen“ sang: So willst du treulos von mir scheiden Mit deinen holden Phantasien, Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden, Mit allen unerbittlich fliehn? der die „Götter Griechenlands“ zu schreiben und sich zu dem Paradoxon zu versteigen vermochte: Was unsterblich im Gesang soll leben, Muss im Leben untergehn. — war sich auch bewusst, dass in seiner Zeit etwas dahinschwand, etwas, an das ihm die wahre Poesie unauflöslich geknüpft schien, dass gewisse geistige Werte, obgleich immer noch geschützt durch die Gefühle weiter Kreise, doch durch den Fortschritt des Denkens entwertet worden waren oder doch ihre frühere Alleinherrschaft verloren hatten. Was sollte an ihre Stelle treten? Würde der Verlust jemals ersetzbar sein? Jedenfalls war die Trauer um das verlorene Ideal einstweilen die Empfindung, die sich am stärksten über die Schwelle des Bewusstseins drängte. Ein moderner däni- scher Denker Harald Höffig in seiner Ethik 1887. hat einmal ausgeführt, dass sich Anschauungen weit rascher entwickeln als Gefühle, dass jedoch mindestens auf ethischem Gebiete neugewonnene Anschauungen die Handlungen des Menschen nicht eher beeinflussen, als bis sie in Beziehung zu seiner Gefühlswelt treten. Bis dahin sind sie einzig Ergebnisse des Nachdenkens, stützen sich auf Gründe, haben sich aber noch nicht völlig seiner Weltanschauung eingefügt. Was von den ethischen Anschauungen gilt, gilt auch von demjenigen Teil unserer Weltanschauung, der die Frage beantwortet: wie schaut die Welt aus? was ist die Stellung des Menschen in ihr? was sind seine natürlichen Neigungen und Strebungen? Solange hier neugewonnene Anschauungen noch nicht zu festen hohen Gefühlswerten geworden sind, gelten sie als unpoetisch, als Zerstörer aller poetischen Weltbetrachtung, aller Poesie überhaupt. Die pessimistisch gefärbte Lyrik, die etwa mit dem Jahre 1770 einsetzt, und die Schiller unter dem Namen der sentimentalen Dichtung zum Gegensatz der, „naiven“ Dichtung des Altertums zu stempeln versuchte, jene Dichtung, die man nachmals statt sentimental romantisch nannte und die auch unter dem Namen der Weltschmerzpoesie geht, erhält ihren Kernzug eben von der Entwertung jener alten Ideale und bezeichnet eine flüchtige Episode in der Weltanschauungsentwicklung Westeuropas. Sie ist keineswegs etwas der modernen Zeit Eigentümliches, sie bedeutet keineswegs einen „Gegensatz“ zur griechischen Dichtung, sondern sie ist die natürliche Begleiterscheinung jeder Zersetzung einer Weltanschauung. Ihre Vorbedingung war vorhanden, als Stoizismus und Neuplatonismus den Angriffen des Christentums erlagen, zu dessen Ausbildung beide ihr Teil beigesteuert hatten, und sie herrscht naturgemäss zu einer Zeit, in der das grandiose System der mittelalterlich- priesterlichen Weltanschauung unter den Angriffen des Ra- tionalismus, der Naturwissenschaft und den Anforderungen eines beschleunigten sozialen Lebens zusammenbricht. Ein geistiger Kampf von drei Jahrhunderten hatte besonders auf ethischem Gebiete eine Art Ausgleich zwischen dem mittelalterlichen Christentum und der Welt des südeuropäischen Altertums zustande gebracht, und ersteres war in weitem Umfange durch die letztere umgebildet worden, aber schliesslich diente dieses Kompromiss, dem Lessing und Schiller sich ganz hingaben, und über das Goethe niemals hinausgelangt ist, so sehr er sich auch angestrengt hat, doch nur dazu das riesige Glaubensgebäude zu erschüttern, das das mittelalterliche Kirchentum aufgebaut hatte, und erleichterte somit dem Rationalismus seine Aufgabe. Goethe hat lange genug gelebt, um die beiden Mächte, welche das Werk des Rationalismus fortsetzen sollten, ins Dasein eintreten zu sehen. Er ist zugleich der erste Deutsche gewesen, der die moderne Naturwissenschaft und die moderne soziale Bewegung auf ihre künftige Bedeutung hin abzuschätzen verstanden hat. Auf jenem Felde war es vor allem der Begriff der Entwicklung, den Buffon schon gekannt und den dann Kant und Laplace zunächst auf das Weltall angewandt hatten, was befruchtend und umstürzend wirkte. Auf diesem Felde war es die Beschleunigung des sozialen Lebensprozesses, welche der Anwendung von Maschinerie in grossem Massstabe und der dadurch erfolgten Beschleunigung des Kreislaufes der Daseinsmittel entsprang. Goethe hat versucht, beide Gegenstände dichterisch zu bemeistern. Es ist ihm nicht gelungen; ja es ist nicht zuviel gesagt, dass seine Schöpferkraft an dem Versuche zerbrochen ist, beide Vorwürfe künstlerisch zu gestalten. Vergl. über den ersteren Versuch Wolfgang Kirchbach: Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? Berlin 1888. S.28. Die ganze Welt, welche die naturwissenschaftliche Forschung eröffnet hatte, vermochte er sich wohl forschend zu eigen zu machen, aber sie war für ihn noch nichts „Poetisches“, d.h. noch kein fester, heller, hoher ästhetischer Wert. So sind die Metamorphose der Pflanzen und die Metamorphose der Tiere zwei Lehrvorträge geblieben, welche die Dame, der sie gewidmet waren, schwerlich verstanden hat. Ganz ähnlich war es auf dem sozialen Gebiete. Der Brief Goethes an Schiller vom 29. August 1795 lässt keinen Zweifel daran, dass sein Verfasser den Übergang vom Handwerksbetrieb zum Maschinenbetrieb in Ilmenau deutlich erkannt hatte, ja sich über seine überwältigende Bedeutung klar war. Trotzdem ist Goethes Versuch, in Leonardos Tagebuch in Wilhelm Meisters Wanderjahren ein Bild von dem Leben der Schweizer Spinner- und Weber- Bevölkerung zu zeichnen, als kläglich gescheitert zu betrachten. Es überstieg die Fähigkeiten des Goethealters dieser Aufgabe zu genügen. Es war nicht Altersschwäche, was Goethe daran hinderte, denn 1797 kann man ihn doch nicht gut einen Greis nennen, und auf anderen Gebieten besass er noch lange nach der Abfassung der Geschichte vom nussbraunen Mädchen die Fähigkeit seine Gedanken, soweit sie für ihn hohe ästhetische Werte bedeuteten, klar und schön zum Ausdruck zu bringen. Aber hier liegt eben der Unterschied. Goethe hat wohl das Aufsteigen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung und der modernen Sozialverhältnisse erlebt, aber ihre Einzelheiten bedeuteten noch keine festen Gefühlswerte für sein Bewusstsein, sie erregten in ihm nicht jene beredte Begeisterung wie der Gegensatz zwischen unseren Trieben und unseren sittlichen Überzeugungen im Faust oder wie Iphigeniens humane Ideale. Infolgedessen fehlt ihm ein gewisser Sinn für das Bezeichnende und Unbedeutende, und er sieht sich gezwungen, seiner farblosen Geschichte kritische Bemerkungen über ihren Gegenstand beizugeben. In einem Punkte aber war ihm die neue Weltanschauung, deren Thore die Naturforschung aufgethan hatte, bereits zur heiligen Überzeugung geworden, und das war in ihrer letzten und höchsten Frage, im Monismus . Mochte er auch am Schlusse seines Faust und anderwärts in den Platonismus zurückfallen und in einem schwachen Augenblicke sich zu dem Satze bekennen: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis — er hat an mehr als einer Stelle sein monistisches Glaubensbekenntnis voller Schönheit ausgesprochen. Nicht nur in dem Gespräch Fausts mit Gretchen in Marthens Garten: Wer darf ihn nennen Und wer bekennen: „Ich glaub' ihn,“ sondern auch im Epirrhema und Antepirrehma und in der Sammlung „ Gott, Gemüt, Welt “, in der die Verse stehen: Was wär' ein Gott, der nur von aussen stiesse, Im Kreis das All am Finger laufen liesse! Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So dass was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst. Daher seine Stellung zur Religion: Im Innern ist ein Universum auch; Daher der Völker löblicher Gebrauch, Dass jeglicher das Beste, was er kennt, Er Gott, ja seinen Gott benennt, Ihm Himmel und Erden übergiebt, Ihn fürchtet, und womöglich liebt. Über den dichterischen Spruch aber ist Goethe auch auf diesem Gebiete nicht hinausgekommen. Derselbe soziale Prozess, der die Erwerbsverhältnisse so vollständig umwandelte und die Beziehungen zwischen der herrschenden Klasse und den Beherrschten beinahe auf den Kopf stellte, so dass die arbeitenden Schichten zunächst mit dem Anspruch auf gleiche Rechte auftraten, brachte das um Lohn arbeitende Weib in den Vordergrund, von der die Frühzeit des achtzehnten Jahrhunderts noch so gut wie nichts gewusst hatte. Der immer steigende Individualismus, der in den Tagen der Reformation vor der Bibel Halt gemacht hatte und auch nicht kühn genug gewesen war, an der Stellung zu rütteln, die das mittelalterlich-christliche Dogma dem Weibe zuwies, ging jetzt noch einen guten Schritt weiter. War einst das Weib der Ursprung alles Übels für den Mann und eine cloaca multorum diabolorum gewesen, so ward es jetzt, nachdem begabte Frauen in den höheren Kreisen der Gesellschaft seit einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt hatten, dem Manne ein gutes Stück nähergerückt. Die Gelegenheit einer besseren Bildung trat hinzu, und die Stellung der Frau hob sich verhältnismässig rasch, obwohl das griechische Altertum entschieden gegen eine soziale Gleichheit beider Geschlechter war. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts trat die Sittlichkeit hinsichtlich der Beziehungen der Geschlechter zu einander in der deutschen Dichtung und besonders im Romane in eine neue Periode ein. Das deutsche Drama der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts war gleich dem sozialen Leben der Zeit in seinen Anschauungen über geschlechtliche Sittlichkeit in und ausser der Ehe sehr weitherzig gewesen. Jetzt begann in der Literatur ein seltsamer äusserlicher oder oberflächlicher Formalismus in diesen Dingen vorzuwiegen. Gellerts Roman Leben der Schwedischen Gräfin von G** ist das beste Beispiel dafür, und es ist ein weiterer Beleg für die schnelle Weiterentwicklung ethischer Probleme in der Folgezeit, dass zwischen diesem Roman (1747) und Goethes Wahlverwandt- schaften (1809) nur zwei Generationen liegen. Goethes Roman vertrat zum ersten Male in der Literatur den Satz, dass nur diejenige Ehe sittlich ist, welche sich auf wechselseitige persönliche Geschlechtsliebe gründet, und dass sie unsittlich wird, sobald diese Voraussetzung auf einer Seite verloren geht. Es ist nur natürlich, dass sich ein solcher Umschwung in den sittlichen Idealen einer Zeit in der Lyrik bemerkbar macht, deren ewiger Gegenstand ja die Liebe sein soll. Er muss die Stellung der Geliebten heben, ein neues Ideal weiblicher Schönheit und Liebenswürdigkeit verkünden und zu einer Wiederherstellung der sittlichen Reinheit gesunder Geschlechtsliebe führen, die durch die ethische Theorien des Mittelalters schwer erschüttert worden war. Zunächst gilt es, die intimen Liebesbeziehungen vor dem sittlichen Richterstuhle zu rechtfertigen. Sobald diese Rechtfertigung Gemeingut einer grösseren Menschenzahl geworden ist, erklärt das neue sittliche Bewusstsein die alte Verdammung dieses natürlichen schönen Fühlens und Sehnens selbst für unsittlich. Auf dem langen Wege dieser Entwicklung treten naturgemäss Verzerrungen und Übertreibungen aller Art auf. Das Ideal der „freien Liebe“ als einer allgemeinen geschlechtlichen Vermischung erscheint, und der moderne Roman mit seiner starken Neigung zum Experimentellen gelangt zu Verschrobenheiten wie Gutzkows Wally, die Zweiflerin (1835). „Emanzipation des Fleisches“ ist der Name, den die protestantische Theologie dieser Denkrichtung gegeben hat, und soweit sie sich überhaupt von einem mittelalterlichen Gesichtspunkte aus und in mittelalterlicher Phraseologie bezeichnen lässt, ist diese Benennung nicht übel. Vor der modernen naturwissenschaftlichen Kenntnis hält sie freilich nicht stand; denn diese hält es nicht mehr für richtig, die Denkkraft unseres Hirnes von seiner Fühlkraft und Liebkraft zu trennen und die eine Geist und die andere Fleisch zu nennen. Entweder sind beide Geist oder beide Fleisch, und der natur- wissenschaftliche Monismus, für den die Seele gleichbedeutend mit dem Lebensprozess und folglich ein Bewegungsvorgang und nicht mehr etwas Stoffliches ist, kennt nur noch lebendigen Stoff und nicht mehr eine Zusammensetzung aus „totem Stoff“ und „Geist“. — Die immer wachsende Anzahl durch eigene Arbeit oder ererbtes Vermögen sozial unabhängiger Frauen wirkte in derselben Richtung, und so ward das Ideal des gehorsamen, schwachen und gegen ihren Herren demütigen Mädchens ganz unmerklich einigermassen durch das neue Ideal des starken, frischen und ihrem männlichen Kameraden im Leben treu ergebenen Weibes ersetzt. Die Treue, die vordem nur eine weibliche Tugend gewesen war, erzwungen durch die sozial stärkeren Männer, verwandelte sich jetzt in eine gegenseitige Treue, die den Mann genau so sehr band wie das Weib. Goethes Liebesdichtung bezeichnet eine bemerkenswerte Stufe in diesem Entwicklungsgange. Sie zeigt seine Freiheit von den alten kirchlichen Fesseln in noch reicherem Masse als sein Leben, aber sie hat noch nicht jene neue Stabilität gefunden, die sich auf das persönliche Liebesgefühl des Menschen gründet. Hätte er auch niemals sich zu Anschauungen bekannt wie sie der überschwänglichere Schiller in seiner Würde der Frauen niedergelegt hat, so steht sein weibliches Ideal doch noch stark unter dem Einfluss der Weltanschauung, von der er sich in vielen anderen Punkten freigemacht hat. Auch Heine ist nicht über jenes Ideal und den Sich daran knüpfenden Kreis von Gefühlen hinausgekommen. Sein Empfinden stand vielmehr noch völlig unter der Macht der alten Anschauungen, obgleich sein Verstand ihn m manchen Punkten darüber hinausgeführt hatte. So vermochte er zu gleicher Zeit, die alten Vorwürfe in vollendetster Form zum dichterischen Ausdruck zu bringen und sich über sie lustig zu machen. Aus den neuen ästhetischen Werten, die sich in seinen Tagen vorbereiteten, eine neue Poesie aufzubauen, vermochte er jedoch nicht. So steht er an der Schwelle zweier Zeitalter, nicht ein Pfadfinder gleich Goethe und doch mit fast unbeschränkter Herrschaft über die technischen Mittel der Lyrik der Zeit, die sich eben dem Ende zuneigte und folglich mit einer Ausdrucksfähigkeit ohne Gleichen zu seinen Lebzeiten. Die Stellung der mittelalterlich-christlichen Weltanschauung war durch die Fortschritte der Erkenntnis seit dem fünfzehnten Jahrhundert unwiderruflich erschüttert; die Anschauungswelt des griechisch-römischen Altertums vermochte angesichts der unendlich zusammengesetzteren modernen Lebensbedingungen sich nicht mehr als einziger Leitstern zu behaupten. Wissenschaftliche Entdeckungen von der Bedeutung der Erhaltung der Kraft und der Entwicklungslehre und die Neubelebung von Theorien wie Atomismus und Vererbung begannen die alte mythologische Weltbetrachtung der Zeit zu entfremden. Die alten Gefühlswerte sanken von ihrem Throne, neue hatten sich noch nicht ausgebildet: — was war da natürlicher als dass sich die Lyrik der Zeit der Klage über diese Verluste hingab und bejammerte, dass der Gegenwart alle grossen und erhabenen Züge fehlten? Verlorene Ideale, verlorene Liebe, verlorener Waffenruhm des Vaterlandes, verlorener Glaube, verlorene Hoffnung, verlorenes Glück, verlorene Lebensfreude, verlorene Aussicht auf ein Leben in einem Jenseits — das sind die Vorwürfe der romantischen Lyrik. Es ist eine Lyrik der Entsagung und teilweise der Selbstaufopferung. Schiller eröffnet sie. Noch heute scheint sie uns unauflöslich mit dem verknüpft, was uns für das Schönste und Erhabenste gilt, aber es ist dennoch eine Lyrik des Unterganges, des Endes. Den ersten Schritt über das Reich der Entsagung und die Klage über das unwiederbringlich Verlorene hinaus thut die Lyrik der Befreiungskriege, obgleich auch sie stark mit melancholischen Tönen gesättigt ist. Diesem politischen Sich- aufraffen folgt ein soziales im Jungen Deutschland, dessen Dichtung im Revolutionsjahre 1848 ihren Mittelpunkt hat. Der Kampf der Demokratie gegen den Absolutismus und des Weltbürgertums gegen nationale Schranken erscheint in enger Verbindung mit dem Kampf gegen die enge Fessel der Ehe und der geschlechtlichen. Sittlichkeit überhaupt und mit dem Kampfe gegen das herkömmliche Ansehen der Kirche und jede Art von Dogma. Herwegh steht mit seinen Gedichten eines Lebendigen von 1841 hier voran, aber Heine, Dingelstedt, Freiligrath schreiten in derselben Bahn, und selbst lyrische Sammlungen, die ausserhalb dieses Kreises ihren Ursprung haben, zeigen dieselbe Kritik an dem Bestehenden, meist in Form von Ermahnungen, die politische Sklaverei, die geschlechtlichen Vorurteile und den religiösen Aberglauben aufzugeben. So z. B. Jordans „Schaum“ Leipzig 1846. . Ob Jordan den deutschen Fürsten es vorhält: Denkt ihr daran, Schaum S. 98. Denkt ihr daran, ihr deutschen Fürsten, Wer euch befreit aus tiefer, tiefer Not? Wer half die blutge Schmach vom' Purpur bürsten? Denkt ihr daran und werdet doch nicht rot? ob er eine neue geschlechtliche Sittlichkeit aufstellt: Liebesgedichte romantisch und modern. Nr. 4 in Schaum S. 222-223. Die Mädchen welken farblos hin wie Blüten, Die man im Keller vor dem Licht verschlossen — Man muss ja ihre Sittsamkeit behüten! — Und Tausende verdorren ungenossen, Indes die Männer in bezahlten Freuden Das Mark des künftigen Geschlechts vergeuden. Lässt sich die böse Staarhaut nimmer stechen, Die alte Blindheit, welche sittlich nennt, Was an der Zukunft ist ein schwer Verbrechen, Die weiss den Mord zu einer Tugend brennt? Die Liebe frei, frei wie das Licht der Sonnen, Draus jede Scholle einen Keim empfängt! Frisch auf, die Klöster und Serails gesprengt! oder ob er den Priestern das Wort ins Gesicht schleudert: Dem Freunde R. Gottschall, Schaum S. 106. Es kann nicht früher der Freiheit Licht Den harrenden Völkern tagen, Bis krachend die Kirche zusammenbricht, Vom siegenden Geiste zerschlagen. und jeden Zeitgenossen auffordert: Der Schiffer und der Gott in Schaum S. 129. Wirf Götter und Götzen über Bord, Dann frisch ans Steuer getreten; Errungen nur wird der Freiheitsport, Nicht erbetet und nicht erbeten! es ist auf allen drei Gebieten dieselbe Kritik und dieselbe Auflehnung gegen das Bestehende, was sich zum Worte meldet, und es ist bezeichnend, dass beim. Druck des ersten Gedichtes auf die Verfügung der Zensur hin die Worte: deutsche Fürsten und bürsten ausgelassen werden mussten, und dass der Dichter für den Vortrag des letzten Gedichtes zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt wurde. Zwischen den Dichtungen der Schiller-Goethe-Zeit und denen des Jungen Deutschland gähnt eine ganze Weltanschauungskluft. Die zweite klassische Periode der deutschen Dichtung hatte ihren wesentlichen geistigen Gehalt aus der wohlbekannten Mischung der Ideale des mittelalterlichen Christentums und des griechischen Altertums gefunden, welche die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichnet und unter dem Namen des „Allgemein Menschlichen“ geht, obwohl sie nicht einmal etwas annähernd allgemein Kulturmenschliches darstellt. Ihre Anschauungen über Schuld und Sühne, Entsagung und Selbstüberwindung, Ehre und Würde, Monarchie und Absolutismus, Mord und Krieg haben in den Meisterwerken jener Zeit klassischen Ausdruck gefunden. Schiller schrieb in genauer Übereinstimmung mit den Ideen seines Zeitalters in der Braut von Messina : Das Leben ist der Güter grösstes nicht, Der Übel grösstes aber ist die Schuld. Aber schon Robert Prutz dachte in diesem Punkte anders. In seinem geschichtlichen Schauspiel Moritz von Sachsen steht die Stelle: Das Leben ist des Lebens höchstes Gut, Zu wandeln schon, zu atmen ist ein Glück. Es giebt kein andres Unglück als den Tod, Weil er allein unwiderruflich ist. Dieser Gedanke ist nachmals von Friedrich Nietzsche ein gutes Stück weiter entwickelt worden, indem dieser Denker im Gegensatz zu Schopenhauer alle Spekulationen über den Wert des Lebens für töricht erklärte, aus dem einfachen Grunde, weil ein Standpunkt ausserhalb des Lebens, von dem allein sich die Sache objektiv entscheiden lassen würde, wie nicht erst bewiesen zu werden braucht, unmöglich sei. Schiller hatte in seiner Jungfrau von Orleans den Satz ausgesprochen: Drum soll der Sänger mit dem König gehen, Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen! und Ferdinand Freiligrath sang: Mit dem Volke soll der Dichter gehen, Also les' ich meinen Schiller heut! War es ehedem die Erbweisheit des Feudalstaates gewesen: Zwei Rassen giebts; die eine wird mit Sporen, Mit Sätteln wird die andere geboren. So formuliert von Karl Kösting. Der Weg nach Eden. Leipzig 1884. so machte jetzt die moderne Dichtung Ernst mit dem Rousseauschen Satze, dessen praktische Folgerungen Schiller sicher nicht anerkannt hätte: Die Menschen sind einander gleich geschaffen, Sie sind begabt mit angebornen Rechten! Ebenda. Die Lyrik des Jungen Deutschland ist nicht eine Lyrik des vierten Standes, sondern eine Lyrik des liberalen Bürgertums. Trotz ihrer ausgesprochenen politischen Tendenzen fehlt ihr mit Ausnahme ihrer neuen Eheideale jeder im engeren Sinne soziale Zug. Wenn sich Heine an dem Geschick der schlesischen Weber versucht, so ist ein politisch und religiös radikales Gedicht das Ergebnis, Die Weber in den „Zeitgedichten“. aber kein soziales. Den schwarzen Galafrack, die seidene Weste, Manschetten und Kragen vermochte Heine in die deutsche Lyrik einzuführen, für die soziale Not des deutschen Volkes fand er nicht die Worte. Das lag noch jenseits des Hori- zontes seiner Zeit. Aber die Dichtergruppe, die sich unmittelbar an das Junge Deutschland anschloss, vermochte das bereits. Auch hier steht zunächst die Abneigung gegen die Vorrechte des privilegierten Adels im Vordergrunde, bald erweitert sich aber der Gesichtskreis. Adolf Glassbrenner schreibt sein kleines Gedicht Der Adlige : Dieser Mann mit wichtger Miene, Einen Orden auf der Brust, Trägt die Nase hoch und rümpft sie Über die gemeine Lust. Wie sie plaudern rings und lachen, Er bleibt immer ernst und stumm; Er hat zweiunddreissig Ahnen Und ist ungeheuer dumm. Weiter ist er nichts hinieden; Doch ist sein Verdienst nicht klein: Wenn er selig einst verstorben, Wird er auch ein Ahne sein. Moritz Hartmann findet den rechten Ton für das erste kleine soziale Lied: Ein Regentropfen sprach Zum andern Regentropfen: Möcht' wissen, warum wir An dieses Fenster klopfen. Der andre Tropfen sprach: Hier wohnt ein Kind der Not, Und dem verkünden wir: Es wächst, es wächst das Brot. und Karl Mayer fasst in „Spatz und Spätzin“ die Gedanken der modernen Frau über ihr Schicksal zusammen: Auf dem Dache sitzt der Spatz, Und die Spätzin sitzt daneben, Und er spricht zu seinem Schatz: „Küsse mich, mein holdes Leben! Bald nun wird der Kirschbaum blühn, Frühlingszeit ist so vergnüglich; Ach wie lieb' ich junges Grün Und die Erbsen ganz vorzüglich!“ Spricht die Spätzin: „Teurer Mann, Denken wir der neuen Pflichten, Fangen wir noch heute an, Uns ein Nestchen einzurichten!“ Spricht der Spatz: „Das Nesterbau'n, Eierbrüten, Junge-Füttern Und dem Mann den Kopf zu kraun — Liegt den Weibern ob und Müttern.“ Spricht die Spätzin: „Du Barbar! Soll ich bei der Arbeit schwitzen, Und du willst nur immerdar Zwitschern und herumstipitzen?“ Spricht der Spatz: „Ich will dich hier Mit zwei Worten kurz berichten: Für den Spatz ist das Plaisir, Für die Spätzin sind die Pflichten!“ Hermann von Gilm unternimmt es sogar, die sittliche Forderung der Wahlverwandtschaften lyrisch zu behandeln. Wie Charaktergegensätze zur Lösung eines Liebesverhältnisses führen, das zeigt sein erst nach seinem (1864) erfolgten Tode veröffentlichter kleiner Sang Es musste sein : Deutsche Dichtung, herausgegeben von K.E. Franzos. Bd. VI, S. 320. (April bis September 1889; Oktavausgabe). Dresden 1889. Es musste sein! wir hatten nichts gemeinsam, Du warst kein Epheu, ich kein morscher Turm. Mich trieb es fort, du aber weintest einsam, Du warst die Rose und ich war der Sturm! Es musste sein, ob auch mein Mund erblasste — Du warst kein Adler, ich kein Alpensitz, Du lagst auf deinen Knieen, wo ich hasste, Du warst die Palme und ich war der Blitz. Es musste sein! Was nützt die späte Klage? Begehrlich suchtest du was ich vermied, Du liebtest die Geschichte, ich die Sage, Du warst das Leben und ich war das Lied. Wir fühlten, wenn auch schweigsam, was uns fehle, Trug war dein Frohsinn, Lüge war mein Scherz; Du frugst nach Gold, ich frug nach einer Seele, Du warst der Jude und ich war das Herz. So träum' ich nachts! doch ach! — beim Licht der Sonne Scheint dieser Traum mir frevelhafter Spott, Wie blinde Heiden lästern die Madonne — Du warst ein Himmel , und ich war kein Gott ! Die Revolution von 1848 war, trotzdem in Einzelheiten manches erreicht worden war, doch im Grossen fehlgeschlagen und ebenso der Versuch, unter der Führung Preussens ein neues deutsches Reich aufzurichten. Die religiöse Bewegung der vierziger Jahre, von der man bereits eine neue Reformation erwartet hatte, war völlig im Sande verlaufen, und damit waren alle Aussichten geschwunden, die Verhältnisse der Gegenwart den Idealen der Zeit in Bälde näher zu bringen. Gleichzeitig schwanden die letzten Reste der alten absolutistischen, hierarchischen und humanistischen Ideale aus den Kreisen der Gebildeten. Selbst Hegels Philosophie, die eine Zeit lang als Betäubungsmittel der Vernunft gewirkt hatte, war nicht mehr imstande, der Zeit einen Trost zu bieten. So kam es, dass der Pessimismus eine neue Blütezeit erlebte, diesmal aber ingestalt einer Philosophie. Schon 1819 war ihm in Arthur Schopenhauer ein philosophischer Vertreter erstanden, der eine Reihe Bildungselemente der Zeit durch pessimistische Gedankengänge verknüpfte. Aber erst in den Sechzigern wirkte diese Popularphilosophie auf weitere Kreise. Die neue Welle des theoretischen Pessimismus verkündet sich in der Erscheinung, dass 1859 Die Welt als Wille und Vorstellung neu aufgelegt werden muss. Spielhagen, Raabe, Jensen, Heyse nehmen diese Ideen rasch in ihre Prosadichtungen herüber, und Jensen, Leuthold, Grisebach, Dramnor (Ferdinand von Schmidt) und Ada Christen (Christiane von Neupauer, geb. Friderik) geben ihr Ausdruck in der Lyrik. Eduard Grisebachs anonyme lyrische Sammlung Der Neue Tanhäuser (1869) eröffnet diese ausgesprochen pessimistische Liederdichtung. Sie hat auf die folgende Dichtung einen Einfluss gehabt wie kein anderes Buch seit Heines Buch der Lieder und ist, obwohl ein Jahr vor 1870 erschienen, in der vorliegenden Sammlung vertreten, damit das wichtigste Glied dieser pessimistischen Strömung nicht fehle. In ihr ist Schopenhauers Einfluss nur allzudeutlich erkennbar: Friedberger Kirchhof! mein vergnügtes Wandern Durchs rosige Sein ward hier zur Pilgerfahrt: Hier ruht ein Mann! er war nicht wie die andern, Und eine Thräne rinnt mir in den Bart...... Ein schwarzer Marmor! Schnee und Regenschauer Verlöschten fast der Lettern goldnen Glanz, Den stolzen Namen: Arthur Schopenhauer — Zu Häupten lag ein welker Lorbeerkranz. Gelegentlich zeigt dieser starke Unterton des Schmerzes deutlich seinen Ursprung. Das Gedicht: Leuchtend aus dem Lindengrün beklagt geradezu das Schwinden jener alten Ideale in wehmütiger Stimmung, aber nicht ohne sich zu einer neuen Selbstgenügsamkeit aufzuraffen, die dem Verse Heyses nahekommt : Wer sich am Glauben hält, Dem wankt die Welt; Wer auf sich selber ruht, Steht gut. Hier und da erscheint auch die Trauer über die angeblich ausschliesslich materialistischen Neigungen der Zeit, und schliesslich wird der Pessimismus in seiner grellsten Form nach indischen Vorbildern als das höchste Ideal des Dichters gepriesen. Der Neue Tanhäuser entlehnt dem alten Meister Eckart das Motto: Die Wollust der Kreaturen ist gemenget mit Bitterkeit , legt aber auf die Wollust mindestens ebensoviel Gewicht wie auf die Bitterkeit. Das Jahr 1878 brachte eine neue lyrische Sammlung pessimistischen Charakters und voll hoher dichterischer Schönheit, in der sich theoretische Überzeugung und die trüben Ereignisse eines verfehlten Lebens vereinigten, um der Formenpracht Goethes und Platens einen neuen melancholischen Inhalt zu geben. Sie wurde herausgegeben von Jacob Bächtold, da ihr Dichter Heinrich Leuthold bereits in der Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich schmachtete, wo er dann am 1. Juli 1879 starb. Leutholds Gedichte haben gleich denen Grisebachs einen gewissen litterarischen Einfluss gehabt, obgleich keinen gleich grossen. Als sie erschienen, verebbte die Woge des theoretischen Pessimismus eben, und an seiner Stelle kam eine andere Strömung auf, der soziale Pessimismus, der das Geschick des niedrigeren Teiles der Arbeiterbevölkerung zu seinem Lieblingsgegenstand machte. Trotzdem klingt der philosophische Pessimismus noch geraume Zeit in der deutschen Literatur nach, und noch 1884 schrieb ein begabter Dichter: Karl Kösting. Der Weg nach Eden, Leipzig 1884. Im Keim erstickt wird eine Welt voll Jammer Mit jeder Mädchenleiche; eine Welt Voll Weh wird wach geküsst, wenn in der Kammer Der Brautkranz und mit ihm der Schleier fällt. Die erste Kraftäusserung des deutschen Volkes, in der sich die Neigung zeigte, den Pessimismus zu überwinden, ist der deutsch-französische Krieg von 1870. Die Errichtung des neuen deutschen Reiches im Rausche des Sieges führte zu einer riesigen Verstärkung des Vaterlandsgefühls. Eine neue klassische Periode der deutschen Literatur wurde allgemein erwartet, und die Kriegslieder zahlreicher Dichter galten schon als ihr Anfang. Und doch bewegten sich selbst die besten von ihnen vollständig in dem alten traditionellen Stil und dem mythologischen Gedankenkreise, der die Dichtung der Freiheitskriege auszeichnet. Selbst Geibels „Am dritten September 1870“ ist keine Ausnahme: Nun lasst die Glocken von Turm zu Turm Durchs Land frohlocken im Jubelsturm, Des Flammenstosses Geleucht facht an! Der Herr hat Grosses an uns gethan. Ehre sei Gott in der Höhe! Der Aufschwung des geistigen Lebens Deutschlands und die Umbildung der herrschenden christlich-demokratischen Weltanschauung zum Evangelium der Lebensfreude, des Kraftbewusstseins und der Zukunftsfreudigkeit knüpft sich nicht an ein Ereignis des politischen Lebens, sondern an eine neue geistige Errungenschaft, die· scheinbar von dem, was Völker begeistern kann und sie den Pfad zur Grösse führt, weit abliegt und doch den Anbruch einer neuen Weltanschauungsepoche bedeutet, weil sie gewissermassen die Energie der Lage, die durch die Anhäufung naturwissenschaftlicher Entdeckungen seit dem sechzehnten Jahrhundert geschaffen worden war, in lebendige Kraft übergeführt hat. Im November 1859 war Charles Darwins Werk Über den Ursprung der Arten erschienen, und fast sofort begann es nicht nur die Wissenschaft der Biologie, sondern zugleich auch die Weltanschauung der Gebildeten zu beeinflussen. Das Hagelwetter der Entrüstung, das darüber losbrach, und die Begeisterung, die es auf der anderen Seite weckte, hoben es sofort aus den gewöhnlichen Erscheinungen des Büchermarktes heraus und förderten seine Verbreitung. Was die Hypothesen von Kant und Laplace für das Weltall behaupteten, und was Lyell für die unorganische Welt der Erde nachgewiesen hatte, das war dadurch auch für die organische Natur erwiesen. Der ewige Stillstand, der ewige Kreislauf und die Entartung ursprünglich vollkommener Verhältnisse, sie alle drei mussten dem Begriffe der natürlichen Entwicklung in endlosen Zeiträumen weichen. Durch das Mittel von Huxley's Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur stürzte die neue Erkenntnis den Menschen mit einem Schlage von dem spiritualistischen Sockel, auf den ihn seine Unwissenheit gestellt hatte und machte ihn zum Vetter der höheren Zweige des Säugetierstammbaumes. Erst durch Darwins Theorie bekam das moderne Gebäude der Natur- wissenschaft seinen endgiltigen Stil und die neue Weltanschauung ihren sicheren Mittelpunkt. Seit den Tagen der Entdeckung Amerikas und den Leistungen von Köpernick und Kepler war die Naturwissenschaft damit beschäftigt gewesen, den Dom der mittelalterlichen Mythologie niederzubrechen und an seiner Statt einen neuen Turm aufzubauen. Die Zeit, wo Licht, Farbe, Schall, Blitz, Seele als überirdische Stoffe betrachtet wurden, und Berge, Ströme, menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten, Wünsche und Ideale als ewig und unveränderlich, entschwand langsam, und die Stelle des überirdischen Stoffes begannen gewisse Vorgänge oder Bewegungsformen einzunehmen, und die Stelle der Ewigkeit und Unveränderlichkeit der Begriff der Entwicklung. Ein solcher Umschwung musste notwendigerweise von den schwersten Folgen für die Weiterbildung der Ausdrücke, Gefühle, Wünsche, Bestrebungen, sittlichen Anschauungen, Ideale und selbst Handlungen des Menschen sein, kurz für die Weiterbildung aller der Vorstellungen, die überhaupt einen Gefühlswert für den modernen Menschen besitzen. Gefühlswerte oder ästhetische Werte, d.h. Vorstellungen, die aufs engste an gewisse Gefühle geknüpft sind, sind die Bausteine der Dichtung, und somit können in ihnen keine Veränderungen eintreten, die nicht zugleich auf den Inhalt der Dichtung wirkten, und dies in noch weit stärkerem Masse als der Stil eines Gebäudes von seinem Baumaterial beeinflusst wird. Da Gefühlswerte und Literaturen jedoch sehr konservativ sind und überdies die letzteren ihre eigene geschriebene Überlieferung besitzen — ein Umstand, der immer dazu dient, einen einmal vorhandenen Zustand festzuhalten —, so gehen solche Veränderungen in der Literatur immer noch weit langsamer vonstatten als die Entwertung alter ästhetischer Werte im Bewusstsein der Gebildeten. Trotzdem sind sie unverkennbar. Hatte Schiller in der Braut von Messina noch geschrieben: Die Welt ist fröhlich überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual, und noch Herwegh in den Strophen aus der Fremde den Satz ausgesprochen: Sanft stirbt es einzig sich in der Natur, Das arme Menschenherz muss stückweis brechen, so musste die neue Anschauung, die in der ganzen belebten Natur nichts als einen millionenfachen Kampf ums Dasein sah, die Fröhlichkeit und das sanfte Sterben in der Natur alsbald ins Land der Träume verweisen und die Stellung des Menschen im allgemeinen wie des Dichters im besonderen zur Natur völlig verändern. Eine Dichtung, die es sich zum Ziele machte, das moderne Leben im Lichte der neuen wissenschaftlichen Weltanschauung darzustellen und die neuen ästhetischen Werte der Zeit als ihre Bausteine zu benutzen, die darauf ausging, das Handeln des Menschen an neuen sittlichen Idealen zu messen, die aus jener Entwicklungsanschauung abgeleitet waren, konnte naturgemäss nur langsam emporwachsen und musste in verschiedenen Ländern zu verschiedener Zeit eintreten. Aber es ist gewiss bezeichnend, dass Deutschland das erste Land ist, das eine solche Dichtung hervorgebracht hat. Erst im achtzehnten Jahrhundert ist Köpernicks Theorie unseres Planetensystems, die in England noch Milton in seinem Verlorenen Paradies erörtert und verworfen hatte, ein dauerndes Gut der deutschen Literatur geworden. Erst durch Hallers Vermittlung kamen Dichtung und Naturwissenschaft überhaupt in Berührung. Seit seinen Tagen sind wenigstens gelegentlich naturwissenschaftliche Gegenstände in der Lyrik behandelt worden. Als dann in der Mitte unseres Jahrhunderts zahlreiche Ausgrabungen eine ganze Welt fossiler Reste einer vorweltlichen Fauna und Flora ans Tageslicht brachten und die Gebildeten begannen, für vorgeschichtliche Funde lebendige Teilnahme zu fühlen, da kamen sie auch in die deutsche Lyrik. Josef Viktor von Scheffel war es, der sie 1867 mit vielem Humor in das Studentenlied einführte und zunächst damit auf eine komische Wirkung ausging, die er auch erzielte. Gaudeamus, Lieder aus dem Engeren und Weiteren. Stuttgart 1867. S. 5. Es rauscht in den Schachtelhalmen, Verdächtig leuchtet das Meer, Da schwimmt, eine Thräne im Auge, Ein Ichthyosaurus daher. Ihn jammert der Zeiten Verderbnis, Denn ein sehr bedenklicher Ton War neuerlich eingerissen In der Lyasformation...... Damit war ein erster Schritt zur Einführung des Darwinismus in die deutsche Lyrik gethan. Die Entwicklungslehre selbst hielt im Jahre 1871 ihren Einzug in sie in Wilhelm Jordans lyrischer Sammlung Strophen und Stäbe . In ihr steht das Sonett Kampf heisst das Weltgesetz , das auch in der vorliegenden Sammlung enthalten ist. In ihr steht das Lied An einige Kritiker , Strophen und Stäbe, Frankfurt a.M. 1871. S. 209. in dem er von Darwin sagt: Er hats greiflich klar wie niemand Ausgespürt und aufgezeigt, Wie und welche tausend Pfade Sacht empor das Leben steigt, Ich nur aller Pfade Richtung Aus des Dichters Vogelschau Überblickt, erahnt in ihnen Ziel und Plan im Weltenbau. Wie — so lautet seine Frage — Stärken, steigern Hunger, Tod? Meine: — was erlöset weiter Gott in uns aus Neid und Not? So vom Baum des Lebens pflückten Beide wir dieselbe Frucht: Ihm des Wissens, mir der Weisheit Allerhöchstes ist die Zucht . Der Darwinismus, der aus diesen Versen spricht, ist nicht mehr bloss eine biologische Hypothese oder eine naturwissenschaftliche Theorie, sondern er ist ein Stück neue Weltanschauung. Er ist Naturanschauung und Lebenswissenschaft zu gleicher Zeit, er ist die neue frohe Botschaft der Lebensfreude und des Zukunftsmutes des starken, gesunden Menschen, der stolz ist auf den mühsamen Aufstieg seiner Gattung im Kampf ums Dasein durch Millionen von Jahren. Er ist der Optimismus, der zugleich mit dem neuen erhabenen Ideal der Höherentwicklung der Gattung Mensch heraufkommt. Sechs Jahre später gab derselbe Dichter seinem Volke ein anderes Buch, die reifste Frucht seines Lebens und den höchsten Ausdruck seiner Dichterkraft, seine Andachten . Andachten von Wilhelm Jordan, Frankfurt a.M. 1877. In ihnen umfasst er bereits die neue Weltanschauung mit der ganzen Glut einer heiligen Überzeugung und giebt ihr an vielen Stellen begeisterten Ausdruck. Am Eingang steht noch die Frage: Bist du vielleicht, mein Vers, zum Niedertauchen In dunkle Tiefen als ein Lot zu brauchen? S. 139 der vorliegenden Sammlung. aber schon die ersten Seiten zeigen dass auch die neue Weltansicht ihre Poesie hat. Es ist nicht mehr die Lehre von der Entwicklung und dem Daseinskampf, was der Dichter predigt, sondern diese Dinge sind seinem Denken bereits zu selbstverständlichen Voraussetzungen geworden. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet er Natur und Menschenleben und greift er die noch immer in der Öffentlichkeit herrschende Weltanschauung an. Die Heilslehre der Entwicklung ist ihm gleichsam der Kern einer neuen Religion, und wenn es nach seinen Wünschen ginge, dann müssten die Kirchenreligionen die neue Erkenntnis freudig in sich aufnehmen und sich damit verjüngen. Statt dessen wenden sie ihr Gesicht ab und verlieren immer mehr die Fühlung mit dem Geiste der Zeit. Die Schuld daran trifft ihre amtlichen Vertreter, die Priesterschaft, und mit ihr geht Jordan scharf ins Gericht: Ihr leugnets keck, dass sich das Ewigwahre Dem Menschengeiste weiter offenbare, Und neuer Offenbarung neue Sprüche Sind euch nur Giftgebräu der Teufelsküche. Ihr seid zu stumpf, zu faul, von ihr zu lernen, Was sie von Erde, Sonne, Mond und Sternen, Vom Stufengang des Lebens auf der Bahn Allmäliger Entfaltung dargethan. Ihr predigt fort vom menschenhaften Schöpfer, Seid lieber Thon, geformt von ihm, dem Töpfer, Als Schritt um Schritt mit schwer erkämpften Siegen Vom Wurm empor zum Menschentum gestiegen...... Ihr macht für Heiliges die Herzen kühler; Schon mehr als ihr von Humboldt weiss der Schüler, Und höhnisch thut er mit dem Dunkelmann Der welken Schale lautem Kern in Bann. Ihr Päpstlein mit und ohne Syllabus, Ihr brietet, ging es nur, noch heut den Huss, Und sperrtet alle Wissensmehrer ein — Und ihr wollt heute noch die Lehrer sein? Andachten S. 226-227. Von den Folgen des Schwindens des Gottesglaubens erzählt das Gedicht Nur drei, vier Sterne lugten halberblichen . S. 58 der vorliegenden Sammlung. Während Jordan es noch versucht, mit den Sagen und dem Formenschatz der Kirche Fühlung zu behalten und so wenigstens die Schale des Christentums in die Zukunft hinüberzuretten, tritt ein Jordan vielfach verwandter und von ihm stark beeinflusster Geist dieser ganzen Überlieferungswelt schroff gegenüber und kündet ihr jede Gemeinschaft auf. Wie Jordan einst in seinen philosophischen Jugendarbeiten in der Wigandschen Vierteljahrschrift dem Platonismus und der Hegelei zugleich den Krieg angekündigt hatte, so thut es jetzt Friedrich Nietzsche in seinen philosophischen Schriften, nachdem er den Pessimismus Schopenhauers endgiltig überwunden hat. An Goethes platonisches Faustschlusswort anknüpfend, widmet er diesem Dichter in seinen Liedern des Prinzen Vogelfrei , die er 1887 seiner Fröhlichen Wissenschaft mit auf den Weg gab, ein kleines Hohnlied: Nietzsches Werke Bd. 5. Leipzig 1895. S. 349, unter dem Titel „An Goethe“. Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichnis! Gott, der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis..... Weltrad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Not — nennts der Grollende, Der Narr nennts — Spiel..... Weltspiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: — Das Ewig-Närrische Mischt uns — hinein!..... Auf diesem Boden wächst eine ganze kirchenfreie Poesie auf, die in allen denkbaren Tönen wiederklingt. Bald ist sie streitbar, bald versöhnlich, bald erschüttert sie das Alte, bald baut sie am Neuen. Alte und junge Dichter vereinen sich in ihr. Neben Jordan und Jensen Wer? S. 144 der vorliegenden Sammlung. stehen Adler, S. 151. Backhaus, S. 142. Hartleben, S. 150. Herold S. 149. und zahlreiche andere. Der Abschnitt Modernes Denken dieser Sammlung giebt ein gedrängtes Bild davon. Lebensfreude, Kraft und Logik lehnen sich gegen den alten Anschauungszwang auf. Arno Holz singt begeistert in seinem Buch der Zeit 1886: S. Arno Holz, Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886. S. 253. Der Lenzwind liess die Äste knarren, Vom Dorf herüber klang die Uhr, Ich lag begraben unter Farren Und stammelte: Natur! Natur! In alten Büchern steht geschrieben, Du bist ein Weib, ein schönes Weib; Ich bin ein Mensch und muss dich lieben, Denn diese Erde ist dein Leib! Weh jenem bleichen Nazarener! Er stiess dich kalt von deinem Thron! Ich aber bin so gut wie jener Der Gottheit eingeborner Sohn! leb will nicht mönchisch dich zergeisseln — Her, deinen Freudenthränenwein! Ich will dein Bild in Feuer meisseln Und Vollmensch wie ein Grieche sein! Graf Schack schreibt 1874 im Prolog zu seinen Nächten des Orients : Im Sterben sind die alten Religionen, Nach Licht und Weisheit dürsten die Nationen und B. Johannes Grosse bekennt, dass er aufgezogen ward Buch der Erinnerungen, Strassburg 1895. S. 216. Im Zeitalter, Wo eine mächtige Religion Zum letzten Kampfe schreitet Und an der neuen Noch das Jahrhundert schwanger geht. Jesus von Nazara ward nach der Sage dereinst gefragt, was man thun solle, um im Jenseits selig zu werden, und er gab eine asketische Antwort darauf. Sie befriedigt heute nicht mehr, und Grosse nimmt das Problem von neuem auf: Ebenda. Wie Rückert einst gesungen hatte:“ Wonach ich auf zum Himmel geschaut, Das hab' ich noch alles gefunden auf Erden, so fragt Grosse: Ich stelle wiederum die Frage: Was soll ich thun, dass ich selig werde? Und hebe an die Klage: Warum, warum nicht auf der Erde? Statt der Religion des Todes bedarf die Zeit einer Religion des Lebens. Grosse wirft dem Weisen von Nazara geradezu vor: Ebenda. S. 213-214. Eines hast du nicht begriffen, Der du wohl die Menschen kanntest Und dich selbst, Nicht begriffen Der Menschenschöpfung Wirkungsgewaltige Kraft. Spürtest du, wenn in der Nacht Alles rings so traut verschwiegen, Nur am Himmel sanft und sacht Stern bei Stern ist aufgestiegen, Spürtest du den Zauberschlag, Der geheimnisvoll lebendig, Unvernehmbar an dem Tag Tönt nun rythmisch und beständig?..... Denn die Schöpfung neuer Leben Schreitet machtvoll durch die Runde: Lieb' empfangen, Liebe geben. In der heilgen Schöpfungsstunde. Astarte giebt die Antwort auf die Frage nach der Seligkeit: Und sie singt in heisren Tönen Von der Seligkeit auf Erden: „Heute noch bei einer Schönen Sollst du mit mir selig werden!“ So verkündet der Dichter eine neue Religion der Liebe , In der vorliegenden Sammlung S. 135. die die Menschheit zu einer höheren Stufe emportragen soll. — — Was in Dichtungen dieser Art zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht mehr richtig mit dem Gegensatze Glauben und Unglauben bezeichnen, wie ihn die mittelalterliche Weltanschauung sich dachte, die als drittes Glied im Bunde noch den Aberglauben hinzufügte, sondern hier handelt es sich um einen Streit zwischen Kirchenglauben und Wissenschaftsglauben, zwischen der dualistischen Weltanschauung des Christentums und der monistischen Weltanschauung der Naturwissenschaft, wie sie Ernst Häckel Ernst Häckel. Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers. Bonn 1893. Vierte Auflage. vertritt und wie sie in Dichtungen wie Backhausens Monismus S. 144 dieser Sammlung. oder Jensens Wer? S. 142. scharf hervortritt, in dem letzteren Gedicht im engen Anklang an Fausts poetisches Glaubensbekenntnis bei Goethe. Gerade in Deutschland, wo weder Comtes Positivismus noch Huxleys Agnostizismus irgend welchen Boden gewonnen hat und wo das synthetische Denken fast Nationaleigenschaft ist, tritt nicht nur das Streben nach der Bildung einer einheitlichen, widerspruchslosen Weltanschauung ausgeprägt hervor, sondern auch die ernsteste Arbeit wird nicht gescheut, um zu ihr zu gelangen. Wissenschaftliche Beobachtung und Vergleichung des Beobachteten allein vermögen eine Weltanschauung nicht aufzubauen, sondern dazu ist in ganz hervorragendem Masse induktives Schliessen und der Gebrauch wissenschaftlich geschulter Einbildungskraft nötig. Aber gerade darin liegt auch die Stärke der neuen Überzeugung, dass sie nicht nur ein Haufen beobachteter Thatsachen, sondern in einem Masse eine einheitliche Weltanschauung ist, wie sie z.B. das Christentum kaum in einer Phase seiner Entwicklung dargestellt hat. Seit dem Auftreten von Jordan, Carneri, Radenhausen und Nietzsche beschränkt sie sich nicht mehr auf die theoretische Seite, welche unserer Erkenntnis der Welt dient, sondern ein ethischer Flügel ist dem Gebäude der neuen Weltanschauung angebaut worden. Wäh- rend noch Friedrich Albert Lange nach einem Grundsatz ausschaute, durch den sich der Egoismus überwinden liesse, gründet die Entwicklungsethik ihre Mauern gerade auf diesen Egoismus. Sie unterscheidet allerdings zwischen kurzsichtiger und weitsichtiger Selbstsucht, aber sie betrachtet den Menschen nicht mehr als isoliertes Individuum, oder auch nur als einen Teil eines sozialen Organismus, sondern als ein Glied der menschlichen Gattung, und kommt so zu wesentlich anderen Ergebnissen als Leslie Stephen oder Wilhelm Wundt, Vgl. des Verfassers Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Leipzig 1895. von denen der erste den Hauptnachdruck auf das soziale Gewebe legt, während der zweite den entscheidenden Punkt im Geistesleben der Menschheit findet. Der physiologische Gesichtspunkt steht ihr allenthalben im Vordergrund. Die Natur weiss nichts davon, dass die Glücklichsten irgendwo überlebten, und darum hält das Ideal des Glücksutilitarismus, die unendliche Steigerung des Glückes der grössten Menschenzahl, vor der Naturwissenschaft nicht stand. Es ist ein völlig unnaturwissenschaftliches und unnatürliches Ideal und muss daher notwendigerweise dem anderen Ideal der Höherentwicklung der menschlichen Rasse mittels natürlicher Auslese und natürlicher Ausscheidung weichen. In der darwinistischen Weltanschauung ist kein Raum mehr für ewigen Frieden. Es ist eine ausserordentlich seltene Erscheinung in der Weltanschauungsgeschichte, dass eine Dichtung als erster Vorstoss in ein neues, unbekanntes Gebiet dient. Um zu wirken, muss der Dichter in hohem Masse mit den Gefühlswerten seiner Zeit rechnen und darf sich höchstens ausnahmsweise einmal hinaus auf das Meer dessen wagen, was selbst für die Gebildeten noch jenseits der Zeit liegt. Hier und da geschieht es aber doch, und dann ist er zugleich Führer in der Weltanschauungsentwicklung. Noch ehe die Entwicklungshypothese von Darwin für die organische Natur bewiesen worden war, hatte sich Jordan 1854 an ein paar verstreuten Stellen seiner Dichtung Demiurgos Demiurgos. Ein Mysterium von Wilh. Jordan. Leipzig 1854. mit ihrer Anwendung auf das künftige Geschick der Menschheit beschäftigt: Mit Stiftern, Majoraten, Renten, Erbschaften, Zinszinstestamenten, Legaten, Fonds und Fideicommissen — Wer kann die Namen alle wissen — Bestrebt man sich die Zukunft zu bescheren, Als könne die nur Krüppel noch gebären: Doch niemand denkt daran, die beste aller Sachen, 'nen starken, schönen Leib den Kindern zu vermachen. Demiurgos I. S. 73. und Demiurgos I. S. 75. 's ist hohe Zeit! Das Volk muss sich bekehren Und fernerer Entartung züchtend wehren.... — Dünnbeinige Hämmel, einen edlen Hengst Zu züchten, das versteht man längst: Warum nicht nach dem Grundsatz von Trakehnen Nun endlich auch den Menschenschlag verschönen? Er lässt ein Ideal von Weib erscheinen: Demiurgos I. S. 70. So schön wie einst erblüht das Weib, Wenn künstlerisch die Menschheit ihren Leib Mit jeglichem Geschlechte mehr verschönt Durch Mittel, die sie kennt und doch verhöhnt und gegen Ende des Werkes Demiurgos III. S. 187. spricht der Fürst: Ja wohl, wir wagen den Versuch, Ein neues Glaubensreich zu gründen. Wir widmen unsern Gärtnerfleiss Des Gottesgartens höchsten Früchten Und wollen diesem Erdenkreis Die neue Herrschergattung züchten. Das ist eine Lebensfrage für jedes Volk, denn Demiurgos III. S. 143. Zeiten kommen wo die Völker Alle vor Ermattung sterben, Die erfolglos um den Wuchs der Neuen Herrschergattung werben. In Jordans Doppelepos Die Nibelungen klingt dieselbe Gedankenreihe fast noch deutlicher wieder, nachdem Darwin den Entwicklungsgedanken auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hatte. Das ganze Epos ist auf die Idee der Zucht gestellt, und gipfelt in der Idee, die menschliche Gattung über sich hinaus zu steigern: Wann ein anderer Sigmund in seinem Sohne Den Stärksten erzeugt von den Staubgebornen, Ist das menschliche Mass nicht weiter zu mehren. Doch ein neues Geschlecht, das man anders benennte, Das, mehr als menschlich, die Macht entrisse Den geizigen Göttern, begänne sein Dasein. Sigfridsage 13. Gesang. Bd. 2. S. 28 in der 7. Aufl. der grossen Ausgabe. Brünhild reckt sich zu mehr als menschlichem Denken auf, indem sie sich mit ihrer Todfeindin Krimhild an Sigfrids Leiche versöhnt. 54. Gesang. Bd. 2. S. 377. Gewiss, du hast recht: dass du, die Beraubte, Hier an der Leiche des Heissgeliebten Deine Rechte versöhnt der Räuberin reichest, Auf deren Gebot ihn der Meuchler durchbohrte, Das ist menschenunmöglich. Doch muss es geschehen. Seien wir mehr als nur Menschen! Ins Unermessne Steigre den Stolz diese einzige Stunde. Das Wort Übermensch , mit dem der Erdgeist bei Goethe höhnend Faust bezeichnet, braucht Jordan nicht in diesem Sinne, sondern nur einmal in einer Prosaschrift zur Bezeichnung Homers. Das Kunstgesetz Homers und die Rhapsodik. Frankfurt 1869. S. 17. Aber die Sache bezeichnet Wodan in nicht misszuverstehen der Weise, wenn er sagt Sigfridsage. 1. Gesang Bd. 1. S. 22. : Allmälig zu modeln ein höheres Muster Des Menschengebildes, — das ist nicht verboten, Es gläubig zu pflegen ist heiligste Pflicht. Nur die Edelsten ahnen's, nur endlose Arbeit Von Geschlecht zu Geschlecht vermag sie zu schlagen, Die Brücke zum Ziel durch die Brandung der Zeiten, Im Sturme, der stärkt, indem er zerstört. Doch wer ihn erkannt, den köstlichsten Kampfpreis, Das künftige Heil der Kinder der Erde, Der dien' ihm in Demut und frommer Geduld. In die Lyrik hat Jordan diesen Gegenstand nicht eingeführt, wenn er ihn auch ein paar Mal in seinen Andachten streift. Auch anderen Lyrikern hat er den Stoff nicht direkt an die Hand gegeben. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren steht er, der dichtende Recke mit der überschäumenden Lebenslust, noch ganz allein, während ringsum die Meute des demokratischen Liberalismus und des Pessimismus heult. Er gewinnt sich namentlich durch seine Nibelunge ein grosses Publikum, aber er ist in seinen Ideen seiner Zeit zu weit voraus, um Schule zu machen. Erst um die Mitte der siebziger Jahre bekommt er an einem jungen Universitätsprofessor, der eben von Schopenhauer und Wagner kommt, und durch den Ring des Nibelungen der deutschen Heldensage nahe gebracht worden ist, einen eifrigen Leser und Schüler und wird dadurch das entscheidende Ereignis in der geistigen Entwicklung eines Philosophen, der noch bei Lebzeiten im stärksten Masse auf die Litteratur und vor allem auf die Lyrik gewirkt hat, in der geistigen Entwicklung Friedrich Nietzsches. In den Jahren 1874 und 1876 hatte Friedrich Nietzsche in zwei Unzeitgemässen Betrachtungen Schopenhauer als Erzieher und dessen Gefolgsmann Richard Wagner als den Stern von Baireuth verherrlicht. Es war gerade um die Zeit der letzten Phase des theoretischen Pessimismus, und diese Flugschriften machten ein gewisses Aufsehen. Als er sich dann jedoch ethischen Problemen zuwandte, schrumpfte sein Leserkreis nicht unbeträchtlich zusammen. Der spottende Kritiker und der Pessimist der ewigen Wiederkehr in ihm hatte zuerst von Jordans Nibelungen und dann von seinem Demiurgos einen scharfen Stoss erhalten, der ihn in das entgegengesetzte Lager hinüberwarf, ihn den Kern des Pessimismus im Physiologischen suchen liess und ihn zu einer Reihe Studien auf dem Felde der Weltanschauungsgeschichte veranlasste, als deren reife Früchte er nachmals die Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlichte und eine weitere, den Antichrist schrieb. Erst während der Arbeit an seiner Götzendämmerung wurde er mit Darwin aus eigener Anschauung bekannt, und erst im Antichrist , zu dessen Veröffentlichung er nicht mehr kam, zeitigt diese Lektüre praktische Früchte, indem die natürliche Auslese auf die Menschenwelt angewandt wird. Bis dahin waren Rolphs Biologische Probleme seine Hauptquelle über den Darwinismus gewesen. Die Aufmerksamkeit weiterer Kreise richtete sich erst auf den Einsiedler von Sils-Maria, der unterdessen seine Professur niedergelegt hatte, als unmittelbar nach der Veröffentlichung der Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert , die Kunde kam, er sei von einer schweren Nervenstörung befallen worden, die zu dauerndem Irrsinn und seiner Unterbringung in einer Irrenanstalt führte. Jetzt wandte sich seinen Werken rasch die Teilnahme der Gebildeten zu. Von 1889 an sind die deutschen Zeitschriften voll von Nietzsche; insonderheit die literarischen Monatsschriften wie M. G. Conrads Gesellschaft , München 1885 und 1886, Leipzig 1887 ff. L. M. Kafkas Moderne Dichtung Leipzig, Brünn, Wien 1890. Seit 1891 unter dem Titel Moderne Rundschau. und Brahms und Bölsches Freie Bühne Berlin 1890 und 1891 (Wochenschrift), 1892 und 1893 (Monatsschrift). Seit 1894 unter dem Titel Neue deutsche Rundschau. beschäftigten sich ausführlich mit seinem Leben und seinen Schriften. Hermann Conradis Lieder eines Sünders Leipzig (1887). sind die erste lyrische Sammlung, die Nietzsches Einfluss auf die deutsche Lyrik zeigt. Triumph des Übermenschen nennt sich das Lied, in dem der junge Dichter singt: S. 145. Sterblicher! Sprich mit der Ewigkeit! Sterne geben dir ihr Geleit — Brennen auf deinen Scheitel nieder — Giessen Ströme des Segens aus: Daseinsfreude hebt die Lider — Türmet die Quadern des neuen Baus. Seitdem werden die Spuren, die Nietzsches Werke in den Schöpfungen namentlich jüngerer Dichter gelassen haben, immer deutlicher. Seit 1888 steht die literarische Jugend Deutschlands in weitem Masse unter seinem Bann. Verschiedene Umstände wirken dazu zusammen: die Macht der neuen Ideen, seine leuchtenden Geistesblitze, die künstlerische Vollendung des aphoristischen Stiles seiner späteren Schriften und der Ernst und die Erhabenheit, die er namentlich seinem Hauptwerk Also sprach Zarathustra zu geben wusste, in dem er die neue von Jordan zuerst verkündete Heilslehre von der Höherentwicklung der künftigen Menschheit in ein Prosaepos nach dem Muster des buddhistischen Tripitaka einkleidete und sie dem alten Zarathustra in den Mund legte. Nietzsches Zarathustra hat nichts mit dem Zarathustra zu thun, der einst für den Verfasser des Avesta oder wenigstens von dessen ältestem Teile, der Gâtha s galt. Der Held des Buches ist weder ein Glied der Familie Spitama, noch der Gatte von Fraschaoschtras Tochter Huogvî, sondern ein freies Erzeugnis der Einbildungskraft Nietzsches, wenn auch hie und da kleine Züge aus morgenländischen Heilandssagen benutzt sind. Ob ein junger Dichter dem Philosophen von Basel Sonette widmet Johann Gottfried Oswald, Deutsche Dichtung hrsg. Von Franzos Band XII. Berlin 1890, S. 173. Ich les' es jauchzend, les' es tief bewegt, Was mit demantnem Griffel du geschrieben, ob ein anderer in einer kleinen Novelle das Gastzimmer eines alten Wirtshauses folgendermassen beschreibt: Otto Erich Hartleben. Die Geschichte vom gastfreien Pastor. Freie Bühne. Juli 1893, S. 808. „Es war etwas Besonderes, dieses alte Gastzimmer. Es hatte seine verborgenen Tiefen und gefährlichen Heimlichkeiten wie ein Buch von Friedrich Nietzsche“, oder ob Hermann Conradis Roman Adam Mensch Leipzig 1888. und seine Flugschrift Wilhelm II. und die junge Generation Leipzig 1889. oder ein Pamphlet Leo Bergs Das sexuelle Problem in der modernen Literatur, Zweite Aufl. Berlin 1890. den Einfluss von Nietzsches aphoristischem Stil nur allzu deutlich zeigen — alle diese Züge deuten auf dasselbe hin. Bald genug wirken auch Nietzsches entwicklungsethische Ideen auf die deutsche Lyrik. In dem Kapitel Von Kind und Ehe in Also sprach Zarathustra hatte Nietzsche im engen Anschluss an Brunhilds Worte bei Jordan aus dem neuen sittlichen Ideal die Folgerungen für die moderne Liebe gezogen, und schon 1893 giebt Richard Dehmel diesem neuen Liebesideal Ausdruck in seinem Gedichte Venus Madonna Aber die Liebe. München 1893, p. 216. In der vorliegenden Sammlung S. 98. ; in Jenseits von Gut und Böse (1886) hatte Nietzsche seine Herrenmoral verkündet, und bereits 1895 giebt Johannes Grosse in seinem Buch der Erinnerungen einem ganzen Kapitel die Überschrift Herrenmoral und singt in dem bereits erwähnten Gedichte Religion der Liebe S. 135. der vorliegenden Sammlung. den Preis des neuen Ideals einer Höherentwicklung der Menschengattung, während Fritz Kögel zahlreiche Nietzschesche Gedanken in Verse bringt und damit ein ganzes Bändchen füllt. Gastgaben. Sprüche eines Wanderes Leipzig (o.J.). Vgl. S. 159 und 160 der vorliegenden Sammlung. — — In vielleicht noch stärkerem Masse als die allgemeine Weltanschauung wurden im neunzehnten Jahrhundert die Formen des äusseren Lebens durch allerhand Erfindungen und Entdeckungen fortgebildet. Während sich jedoch die genauere Kenntnis der industriellen Betriebe die durch die Einführung des Maschinenwesens geradezu auf den Kopf gestellt wurden, auf die engeren Kreise derer beschränkte, die in irgend einer Form in ihnen arbeiteten, wurden die neuen Verkehrseinrichtungen Gemeingut des gesammten Volkes, und es ist daher kaum wunderbar, dass sie zuerst Einzug in die Lyrik halten. Während Alberta von Puttkammer in einem schönen Gedichte der alten Post noch eine Thräne nachweint, Da einst die Post fuhr. S. 69 dieser Sammlung. versucht Conrad Ferdinand Meyer bereits der Poesie der Eisenbahn Ausdruck zu verleihen. Aber wie zur Entschuldigung, dass er einen solchen Stoff behandele, hält er es noch für nötig, hinzuzufügen, das sei die Poesie unseres Zeitalters, genau wie Arno Holz in seinem schönsten Grossstadtgedichte bemerkt: Und dennoch, dennoch hab' ich nie vergessen Das goldne Wort: Auch dies ist Poesie. S. 6 dieser Sammlung. Diese neue Eisenbahnlyrik ist zunächst fast rein beschreibend und bedarf noch des Hochgebirges als Hintergrund, zeigt aber bereits deutlich genug, was für Schätze hier noch der Hebung harren: Der Schlange gleich wälzt endlos sich der Zug Durch des Gebirges wildgezackte Schluchten; Wo der Maschine schrilles Pfeifen schlug, Das Echo weckend, an die Felsenbuchten. Und müde vor den Wärterhäusern stehn Die Wächter, schwenkend zum Signal die Fahnen; Die Führer stahlfest, ernst gemessen sehn — Nicht zuckt die Wimper — auf das Rund der Bahnen. Das Wild schrickt auf vom donnerlauten Schall, Des Dampfross Feuerauge grell aufzuckte — Der Zug verschwindet in der Bahnschlucht Fall, Verhallt im Säulengang der Viadukte. Dann Stille rings — die Mitternacht ist da; Raubvögel trägen Flugs sich aufwärts schwingen — Dann geisterhaftes Läuten fern und nah — Im Wind die Telegraphendrähte klingen. Das ist die Poesie der neuen Zeit, Romantik unsrer heissbewegten Tage. Was gilt die Liebe noch? Was gilt das Leid? „Wie komm' ich vorwärts?“ ist der Menschheit Frage. Ein weiterer kleiner Beitrag zu dieser Lyrik steht in Theophil Zollings Aufsatz „Die Poesie der Eisenbahn“ in Gustav Dahms Germania, Deutsche Dichter der Gegenwart. Bild und Wort. Berlin 1891. S. 149. Julius Harts Gedicht Auf der Fahrt nach Berlin S. 8 dieser Sammlung. dringt schon tiefer in seinen Gegenstand ein und giebt im Rahmen einer Eisenbahnfahrt zugleich ein Miniaturbild des Drängens der Bevölkerung nach der Grossstadt und des Daseinskampfes in dieser. Nachdem einmal die Thore der Lyrik aufgethan sind, geht das moderne Leben in hellen Haufen in sie ein. Im Anfang der achziger Jahre erwacht in der literarischen Jugend Deutschlands ganz langsam das Bewusstsein, dass die alten Ideale unaufhaltsam dahinschwinden. Aber statt nach neuen Idealen auszuschauen, versuchen die Dichter in ihren Schriften das Leben abzubilden „wie es ist“. Daher der Ausdruck Realismus. In Wirklichkeit thun sie natürlich nichts Derartiges. Sie sehen das Leben nicht nur durch ihr Temperament an, sondern mindestens ebensosehr durch die Brille überkommener Ideen und beschreiben daher weniger ihre Eindrücke als dass sie ihren Ideen Ausdruck verleihen. Trotzdem führt das Streben, im Gedicht die eigenen Eindrücke in Worten darzustellen, zum umfassenderen Studium des modernen Lebens, der Daseinsbedingungen der Massen und der geistigen Umwelt. Rasch erschliessen sich der Literatur eine ganze Reihe neuer Schauplätze und Stoffe. Der Roman erstreckt sich schnell über Krankheit, Elend, Verbrechen, Kneipenleben, Dirnentum und alle Arten sozialer Eiterbeulen; das Drama behandelt die ethischen Probleme des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer Beziehung zu Heuchelei, krankhaften Lebensverhältnissen, persönlicher Unfähigkeit, erblicher Krankheit und Wahnsinn, und die Lyrik wendet sich allerhand Einzelbeobachtungen aus dem modernen Leben zu, wie sie sich in bunter bezeichnender Fülle aus der immer wachsenden sozialen Differenzierung unter dem Einfluss der Arbeitsteilung ergeben. Die Leiden der untersten Arbeiterklasse, S. 11 Verfallen. ihr Kampf mit Hunger, Frost und Krankheit, S. 12, 13 Die Näherin. Lass gut sein Mutter. der Daseinskampf des einzelnen Weibes, S. 19, 37 Was will sie nur. Den . der Pomp in den Schaufenstern der Grossstädte, S. 27 Vor einem Laden. das ungerechte Urteil des Gerichtes, S. 17 Der Trunkenbold. die wachsende Unzufriedenheit der Arbeitermasse, S. 15 Hört ihr es nicht. der Wahlkampf, S. 21 Wahlgeschichten. das soziale Leben der Reichen mit ihrem müssigen Dilettantismus, S. 24 Die Mittelmässigen. die astronomische Entdeckung, S. 30 Der neue Stern. die Welt der Kinderstube, S. 62, 63 Kindermund. Fitzebutze. das Schicksal des modernen Dichters, S. 40, 43, 49, 51 Phantasus. Ich weiss, ich weiss. Guter Rat. Die Grille. kleine Familienbilder, S. 54 Ja, das möcht’ ich. Tod und Krankheit im Kreise der nächsten Angehörigen, S. 56, 58 Ein Brief kam. Nur drei, vier Sterne. das Eisenbahnunglück, S. 33 Die Brück’ am Tay. alle diese Stoffe werden behandelt, viele von ihnen zum ersten Male in der gesammten Literaturentwicklung, manche in alten, manche in neuen Symbolen, manche noch humoristisch, manche schon bitter ernst. Der Wunsch, den Stoff zu deut- lichem Ausdruck zu bringen, überwiegt nicht selten den Trieb zur Schönheit, und der gewaltig neu andringende Stoff sprengt die alten Weisen. Statt des melodiösen Reimverses tauchen die freien Rythmen auf und damit ergiesst sich der poetische Strom in die Breite über Wiesen und Felder. Der nahe Verkehr der Dichter mit Malern namentlich in Berlin und München giebt den so entstehenden breiten Schilderungen, aus Natur und Menschenleben zum Schaden des dichterischen Gehaltes oft den Charakter einer Farbenstudie, das beschreibende Element drängt sich wie einst bei den Schweizern im vorigen Jahrhundert allzustark in den Vordergrund und beeinträchtigt die Wirkungskraft. Die deutsche realistische Bewegung datiert von 1882. Der mittelbare Anlass war wohl das Durchschlagen von ein paar Dichtungen Ernst von Wildenbruchs um 1880, in denen ein eigentümliches Feuer auf grosse dichterische Kraft zu deuten schien. Die eigentlichen Begründer der Bewegung aber sind die Brüder Heinrich und Julius Hart, die 1882 eine Reihe literarischer Kampfschriften unter dem Namen Kritische Waffengänge Leipzig 1882 bis 1884. Sechs Hefte. zu veröffentlichen begannen. Diese Kundgebung wurde der Anlass dazu, dass sich im Sommer 1883 ein kleiner literarischer Kreis um die beiden Brüder bildete, von denen der ältere durch seine epische, der jüngere durch seine lyrische Begabung hervorragte. Es waren meist Studenten der Universität Berlin, und bald stieg ihre Zahl auf zwanzig. Die Brüder Hart waren die leitenden Geister; aber der Kreis enthielt ausser ihnen noch eine Reihe hochbegabter Lyriker wie Karl Henckell, Hermann Conradi, Arno Holz und Otto Erich Hartleben. Ihrer aller Lieblingsfeld war die Lyrik. Nur Heinrich Hart fühlte sich der Epik ergeben. Ausser Stande, für ihre dichterischen Erzeugnisse einen Verleger zu finden, veröffentlichten sie im Herbste 1884 eine Auswahl aus ihren Dichtungen unter dem Titel Moderne Dichtercharaktere , und sandten sie kostenfrei jedem zu, der darnach Verlangen trug. 1886 folgte dann eine neue Titelauflage unter dem Namen Jungdeutschland . Jungdeutschland. Unter Mitwirkung von Hermann Conradi und Karl Henckell, herausgegeben von Wilhelm Arent. Zweite Auflage. Friedenau (Berlin) und Leipzig. 1886. Das Buch ist noch in weitem Masse dem sozialen Pessimismus gewidmet, den Wilhelm Arent folgendermassen einführt: Ein freudlos erlösungheischend Geschlecht, Des Jahrhunderts verlorene Kinder, So taumeln wir hin! wes Schmerzen sind echt? Wes Lust ist kein Rausch? wer kein Sünder? .... Selbstsucht treibt alle, wilde Gier nach Gold, Unersättlich Sinnengelüste, Keinem einzigen ist Mutter Erde hold — Rings graut nur unendliche Wüste! Im Jahre 1885 gründete Martin Georg Conrad in München eine neue Zeitschrift: Die Gesellschaft. Realistische Monatsschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben , in der er der Lyrik einen breiten Raum widmete. Dasselbe that Karl Emil Franzos in seiner Halbmonatsschrift Deutsche Dichtung , die er 1887 begründete, und L. M. Kafka in seiner Modernen Dichtung, Monatsschrift für Literatur und Kritik , die seit 1890 erschien und 1891 in Moderne Rundschau umgetauft wurde. Seitdem sind diese drei Zeitschriften die Mittelpunkte der lyrischen Dichtung gewesen, die Deutsche Dichtung mehr der der altidealistischen und romantischen Lyrik, die anderen beiden fast ausschliesslich die der impressionistischen oder im Allgemeinen modernen Lyrik. 1891 weckte die Cottasche Verlagsbuchhandlung nach hundertjährigem Schlummer ihren Musen-Almanach Cottascher Musen-Almanach für das Jahr 1891 u.s.w. Herausgegeben von Otto Braun. Stuttgart 1891ff. wieder aus dem Grabe, von dem seitdem unter der Leitung Otto Brauns sechs Jahrgänge erschienen sind, ohne dass er irgendwelche literarische Bedeutung erlangt hätte; denn er vertritt im Wesentlichen die kraft- und saftlose Lyrik der eben absterbenden Generation. Als Gegenstück rief er 1893 den Modernen Musen-Almanach Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893 ff., herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. München (o.J.). hervor, der unter Otto Julius Bierbaums Leitung hie und da einen glücklichen Griff that, obgleich sich gerade in ihm das In-die-Breite-Gehen der freien Rythmen und der Einfluss der Malerart, zu beobachten, störend geltend machen. Von zwei anderen Sammlungen, die literarischen Zwecken dienten, der deutschen Lyrik von 1891 Deutsche Lyrik von 1891. Gesammelt und herausgegeben von C.G. Bruno, Felix Montanus, Franz Servaes. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1892. und der Modernen Lyrik Moderne Lyrik. Eine Sammlung zeitgenössischer Dichtungen. Herausgegeben von Leo Berg und Wilhelm Lilienthal. Berlin 1892. ist die zweite sicherlich die besser redigierte. Von beiden aber heben sich durch ihre Frische, ihren Sinn für glücklichen Humor und ihren entschieden inhaltlich modernen Zug die Mittheilungen der Neuen Klause, Verein zur Pflege deutscher Dichtung Berlin 1893ff. vorteilhaft ab. Ihr Herausgeber ist Cäsar Flaischlen. Die bedeutendsten lyrischen Schöpfungen stehen jedoch nicht in diesen Sammelbänden, sondern in Liederbänden einzelner Dichter. An erster Stelle steht im sozialen Lied Arno Holz mit seinem Buch der Zeit 1886. Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Von Arno Holz. Zürich 1886. Er ruft die deutschen Dichter auf S. 70. : Und dräut auch manche Wolke Euch schwarz am Horizont, O haltet treu zum Volke, Ihr habts noch nie gekonnt! Nach ihm streckt seine Krallen Siebenfach die Not; Der schrecklichste von allen Ist doch der Kampf ums Brot. und er selbst klagt S. 244. : Mein Herz schlägt laut, mein Gewissen schreit: Ein blutiger Frevel ist diese Zeit! Am hölzernen Kreuze verröchelt der Gott! Kindern und Thoren ein seichter Spott; Verlöscht ist am Himmel das letzte Rot, Über die Welt hin schreitet der Tod, Und trunken durch die Gewitternacht klingt Das sündige Lied, das die Nachtigall singt! Er eröffnet das Leben der arbeitenden Klasse der modernen Lyrik, er findet die poetische Seite am Wirken und Leiden des Arbeiterführers S. 163. : Ich seh' ihn Tag für Tag, als wäre nichts geschehn, Still mit dem Glockenschlag an seine Arbeit gehn; Das Halstuch rot wie Blut, von Locken wirr umflogen, Den Calabreserhut tief in die Stirn gezogen...... Johannes Grosse singt das Leben und Treiben der modernen Weltstadt B. Johannes Grosse. Buch der Erinnerungen. Strassburg i.E. 1895, S. 49. : Wie das Leben so voll und so wogend rollt In der Weltstadt hochklopfenden Adern, Wo Wagen an Wagen hinunter rollt Auf sprühenden Pflasterquadern! Von Gesicht zu Gesicht Das Laternenlicht Hüpft flackernd vorüber, Gespenstisch, als läg alles Leben im Fieber. und die Brüder Hart greifen noch tiefer: „..... Nicht wehe den Gerichteten! Ich sage: Wehe den Richtern! Weh allen, die das Schwert Ausstrecken und des Rechtes schwere Wage In schwachen Menschenhänden führen; es zehrt An aller Mark der Sünde flammend Feuer. Ein jeder ist verschuldet jeder That Und trägt auf seiner Seele ungeheuer, Was jeder je an Schuld und Frevel that. Ihr stosst den einen tief hinab in Nacht, Den anderen hebt ihr empor zum Licht: Lehrt ihr die Blinden, was sie sehend macht? Und trocknet ihr der Weinenden Gesicht?“ Eine Reihe hochbegabter Dichter wie der mit dem Augsburger Schillerpreis gekrönte Dichter des Strandgut Reinhold Fuchs, der Mathematiker Richard Dehmel, der pensionierte Offizier Detlev von Liliencron und der Journalist Otto Julius Bierbaum versuchen sich an gleichen Stoffen. Karl Henckell wird der Dichter des Sozialismus und in John Henry Mackay reiht sich ihm ein Anarchist an. Gustav Falke beleuchtet von ähnlichen Gesichtspunkten das Grossstadtelend, während in Alberta von Puttkammers Akkorden und Gesängen (1889) und Offenbarungen (1894) der reine Born eines reichen Innenlebens fliesst. Am schwächsten ist diese Lyrik, wo sie sich an die weiten Massen wendet wie in den Sängen des Sozialismus, am stärksten, wo sie am reinsten individualistisch ist und sich gegen das zurückgebliebene Gesammtbewusstsein auflehnt. Es ist das die Stärke unserer Zeit, die Fulda spottend in dem kleinen Vierzeiler verteidigt: „Freund, lass dir raten!“ Ja, das alte Lied. Am Scheideweg sogar, dem schicksalsvollen, Hätt' Herkules, bevor er sich entschied, Erst alle seine Tanten fragen sollen. Vielleicht die eigentümlichste Blüte dieser sozialen Lyrik ist das Kindergedicht, oder vielmehr das Gedicht, das sich auf den Standpunkt der kindlichen Anschauung stellt. Richard Dehmel ist vielleicht sein grösster Meister, sein Schöpfer aber ist Viktor Blüthgen, der in Frisch vom Storch die Gedanken der Kleinen über das neue Geschwisterchen behandelt: O du reizende Maus! Wie gefällt dir's hier im Haus? Hast du schon den Jakob gesehn? Gelt, die Mama ist wunderschön? Habt wohl tüchtig fliegen müssen? Hat dich der Storch denn nicht gebissen? Guck, die roten Bäckchen und Ohren! Hast unterwegs wohl arg gefroren, In der Luft auf der langen Reise, Immerfort über Schnee und Eise! Ach, die Händchen! du liebe Güte! Damit hieltst du die Zuckerdüte? Am meisten kommt dieser modern-individualistische Zug fraglos in der Lyrik des modernen Liebens zum Ausdruck. Die Überwindung des Schablonenmässigen, das In-den- Vordergrund-Treten des Persönlichen, Persönlichsten, ist ihr bezeichnendstes Merkmal. Die kleinen individuellen Erlebnisse, die eine Liebe von der anderen unterscheiden, sind ihr Gegenstand, und die Verschiedenheit der Liebesverhältnisse in den verschiedenen Ständen wird von dieser Lyrik zuweilen grell beleuchtet. Von der Kinderliebe S. 67 Die Kirche. S. 69 Da einst die Post fuhr. zu der Liebe, die sich in scheuem, fernem Sehnen äussert S. 71, 72 Nacht. Mädchenfrühling. und zur Backfischphilosophie, S. 81 Mädchenlied. zum Tanz im Frühling S. 73, 75 Erste Blüten, erster Mai. Maitanz. und zum heimlichen Suchen und Finden, S. 77, 79 Einen Sommer lang. Festtag. zur allvergessenden Verliebnis unterm Regenschirme S. 80 Versunken. und zu der Annäherung der Liebenden an einander im „du“, S. 85 Bitte. zur Lösung kaum geknüpfter Bande S. 86 Ein Rauschen nur. und zum Ausbruch der heissen begehrenden Leidenschaft, S. 87 Fragment. zur Grossstadtliebschaft S. 88, 102 Feil hat sie. Anna. und zur Studentenliebelei, S. 89 Lore. zum Liebesgeständnis im vornehmen Salon S. 90 Therese hat Besuch. und zum nächtlichen Gespräch aus dem Fenster, S. 92 Jugendliebe. zum Missverstehen und heimlichen Weinen, S. 94 Weil ich nur lächelnd. zum Sträuben des stark persönlich empfindenden Mädchens S. 96 Wann, wo und wie? und zum endlichen Bruche, S. 99, 100 Laub am Boden. Das Mädchen von Rekko. zum treulosen Verlassen S. 106 Reue. und zum freiwilligen Scheiden, S. 108 Neue Bahnen. zum Tode der Geliebten S. 110 Der Maibaum. und zur bedachtsamen Liebesphilosophie, S. 113, 114 Kein Mäschchen. Beruf und Pflichten. zu dem sittlichen Probleme der Ehe S. 115 Mutter und Kind. und zum Lieben am Rande des Verhungerns, S. 116 Idyll. zu trüben Ehetagen S. 118 Ein Erinnern. und zum Bekenntnis zum Unglauben an eine persönliche Unsterblichkeit am Todesbett der Gattin S. 123 Die letzte Frage. — das ist das Reich dieser modernen Liebeslyrik. Wie sich das Mädchen den ersten Kuss von den Lippen wischt, dem sie sich doch nicht entzogen hat, S. 79 Festtag. und wie das starke, auf sich selbst stehende Mädchen dem Gedanken an die Ehe sich kühl gegenüberstellt, und doch innerlich ihm anheimgefallen ist, S. 96 Wann, wo und wie? wie das Mädchen dem Geliebten die Kämpfe zu verbergen sucht, die sie um seinetwillen zu erdulden hat! S. 94 Weil ich nur lächelnd. — Wenn Eduard Grisebach im Neuen Tanhäuser sogar die heisse Umarmung zu nächtlicher Stunde schildert und seinem Verlangen nach Schönheit und Lust gewagten aber kraftvollen Ausdruck verleiht, so dehnt er das Gebiet der Lyrik noch über Goethes Römische Elegien hinaus aus und erschüttert leise die Schranken der Prüderie, wenn ihm die Zeit seine Freiheit auch noch vielfach übel vermerkt. Noch mehr leisten freilich die Dichter, die das Liebesproblem von seiner ethischen Seite anfassen. Schon Theodor Storm hat in seinem Gedicht Elisabeth den Vorwurf des Mädchens behandelt, das auf Drängen der Mutter einen ungeliebten Mann heiratet. Aber was für ein Stammeln ist es noch: Meine Mutter hats gewollt, Den andern ich nehmen sollt.... Aber das Mädchen fügt sich und klagt nur sein Leid. Anders schon bei Hermann Hango in Mutter und Kind . S. 113. Auch hier fügt sich die Tochter, aber mit Trotz, und in dem dunklen Bewusstsein, in ihrem Gefühl eine höhere Sittlichkeit zu vertreten, antwortet sie der Mutter auf ihre Frage, ob sie glücklich sei: „Lass, Mutter, deine Frag'; es ist noch Zeit — Vor Gott bin ich zur Antwort dir bereit.“ Johannes Grosse geht in seinem kraftvollen Gedicht An eine moderne Brynhild noch ein gutes Stück weiter Buch der Erinnerungen. Strassburg 1895. S. 64. im Kampfe gegen die unfreiwillige Ehe: In dir wohnt ein Brynhildengroll, Im Auge dir Brynhildgedanken; Dein Körper ragt so kühn, so voll Und ledig alles Weichlichkranken, Im Busen schwillt dir heisse Kraft, Wie drängend, um ein Kind zu säugen Die ganze Seele — Leidenschaft — Und muss sich vor dem Zwange beugen, Gefesselt an den kranken Mann, Den deine Brust kaum wärmen kann. Du bist ein echt germanisch Weib Von trotzigem Germanenblute; Wie mag es quälen deinen Leib, Wenn er an dem Verhassten ruhte! Wer einmal sah dein üppig Haar Von langen sonnenroten Flechten, Wie du der Lieb' und Ruhe bar Hinirrtest in den Jubelnächten; Sah deines Auges schweren Blick: Der kennt für lange dein Geschick. Man sagt, dein Auge hab', entbrannt, Schon manchmal Schreckliches gebrütet. Man sagt, du hast mit eigner Hand Schon wider deinen Leib gewütet. Dein Geist ist nicht wie andren Weibes — Vielleicht, er hat sich über-sonnen, Wenn er die Zierden seines Leibes Betrogen fühlt' um alle Wonnen, Die jedes Frauenangesicht Mit Glut gerötet, — deines nicht. Du warst zu einer seltnen Frau Geboren, würdig für das Grosse, Verkümmert nun, wie ohne Tau Des Himmels siecht die heisse Rose. Wär dir ein Herz erweckt zur That Und eine Wahlstatt dir geboten, Und wär' ein Siegfried dir genaht, Wie Frühling mit dem Liebesoden, Der Leben haucht und Leben schafft: Dann wär' entfaltet deine Kraft. Und nun? — Wenn deine Nacht beginnt, Betrügt sie dich um deine Liebe; O hättest du ein Kind, ein Kind, Das dir am Busen hängend bliebe; Und nun bist du ein elend Weib, Kaum Weib auf deinem Gattenlager: Dein Leib, dein edler, kühner Leib, Wird bald hinschwinden bleich und hager, Indes unheimlich wächst dein Geist Und alle Fesseln jäh zerreisst. Hier ist der Satz, den schon Goethes Wahlverwandtschaften in Romanform behandelten, zum ersten Male in der Lyrik scharf vertreten. Dass eine Ehe nicht sittlich ist ohne persönliche Geschlechtsliebe, ja ohne die physiologischen Grundlagen, auf die sich jede gesunde Ehe gründet, das er- scheint in der Lyrik wie eine neue Erkenntnis, obgleich es seit Goethes Tagen ein stehendes Romanmotiv und für die Romantiker, für Gustav Freytag und zahlreiche andere Menschen bereits ein Stück Leben geworden ist. Die moderne Lyrik fasst dieses Problem als eine ernste sittliche Frage und behandelt es mit nichts weniger als mit Leichtfertigkeit. In E. Heilborns Ehebrecherin ist es nach dieser Seite hin am reifsten dargestellt: Moderner Musenalmanach auf das Jahr 1893. Herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. München (1893). S. 29. Markt vor Jerusalem und Volksgedränge..... „Die Ehebrecherin! Auf! Steinigt sie!“ „Nein! Nackt ans Kreuz mit ihr!“ „Das Weib muss bluten — Nur nicht gefackelt!“ — Halt! — „Da kommt der Rabbi, Der weise Rabbi kommt, der soll uns predgen!“ „So gieb doch Antwort, Mann von Nazareth, Du bist doch sonst — — Bist seltsam heut befangen!“ Er schweigt und sinnt, der bleiche, hagre Mann, Wehmütig zuckts um seine blassen Lippen, Er schweigt. — „Du willst nicht reden? Gieb uns Rat“ ..... „Wer ohne Sünde unter euch, der werfe Den ersten Stein auf sie.“ Er blickt sie an, Er blickt sie müde an, seufzt und schweiget, Als hätt' er mehr zu sagen..... — — — — — — — — — — — — — — — — — „Franziska, du! Du eines andern Weib —! Hast mir das Leben bettelarm gemacht! Was bleibt mir noch? Ich komme aus der Fremde Und seh', dass du — — Weisst du nicht mehr, Franziska, Den Abend — da im Park — „ich lieb' dich“, sprachst du.“ „Ernst! Hör mich an! Du weisst nicht, kannst nicht wissen — Es ist nicht wahr, dass ich den andern liebe. Dich lieb ich, hörst du? Glaube doch, dich lieb ich!“ „Wie? bist du rasend?“ „Ernst, ich liebe dich!“ — — — — — — — — — — — — — — — — — „Wie lind die Luft! Du hängst in meinem Arme, Wie damals, weisst du noch? so ganz wie damals, Da sich zum ersten Mal die Lippen fanden. Wie damals blickt dein braunes Aug mich an….. Gieb einen Kuss mir, einen! — — Wie du lieb bist..... Jetzt küss' ich dich! Küss dich auf beide Augen.“ Nein lass mich, Ernst. Ich bin — so — überselig — So — müde..... Lass an deiner Brust mich schlafen.“ „So komm! Das Moos ist weich: wir setzen uns. Wie schwül es ist. Siehst du? Kein Blättchen regt sich..... Nein! lege nicht den Kopf auf meine Schulter, Dass mich dein Atem streift. Ich—- ich ertrag's nicht!“ „Warum nicht, Ernst?“ „Weil ich — weil ich dich liebe!“ „Noch immer?“ „Kannst du zweifeln?“ „Böser, Lieber — Dein bin ich.. Lass doch! .... dir gehör' ich... dir....“ — — — — — — — — — — — — — — — — — Sie brauchen Licht, die Blumen allesammt. Sie brauchte viel Licht, meine blasse Blume. Sie haben des Lichtes sie beraubt. Sie haben Mit Steinen sie geworfen, ausgestossen, Geschmäht, gelästert meine blasse Blume. Da senkte sie das Köpfchen — welkte — starb — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Wann? frag' ich, wann soll uns der Heiland kommen, Der es bekennt, vor allem Volk es predigt: „Ich finde keine Schuld an ihr.....!“ Einen weiteren entscheidenden Zug erhält die moderne Liebe und ihre Dichtung durch die Entwicklungsethik, wie schon bei Besprechung des Einflusses Nietzsches erwähnt wurde. Wenn Richard Dehmel in Venus Madonna singt: S. 98 dieser Sammlung. Aus Mannesadel wächst des Weibes Tugend; Er träumt ein Ziel, sie soll es ihm gebären, oder wenn Johannes Grosse sich vernehmen lässt: S. 135 in Religion der Liebe. Schaffe, gewaltige Liebe, Söhne und Töchter Als Väter und Mütter Der edleren Menschheit Als Ahnen der Kinder Fürs neue Walhalla! da hat ein neuer grosser schöpferischer Gedanke in die moderne Liebeslyrik seinen Einzug gehalten, ein Gedanke, der vielleicht dereinst unsere gesammte Lebensweisheit von heute mitumbilden helfen wird. Schon haben die Dichter selbst die Theorie des Realismus überwunden und damit die Dichtung wieder als eine der grossen Weltanschauungsmächte anerkannt. Seit Wilhelm Jordan 1876 in seinen Epischen Briefen schrieb: Epische Briefe von Wilhelm Jordan, Frankfurt a.M. 1876. S. 95 „Ja, auch die Poesie ist eine weltgeschichtliche Macht, und die Lieder Homers haben das Völkergeschick mindestens ebenso wirksam bestimmt wie die Eroberungszüge des grossen Alexander. Aber sie ist eine Macht nicht nur des Heiles, sondern auch des Verderbens. Sie vermag Nationen zu schaffen und aus der Zersplitterung herzustellen; wie denn uns die Möglichkeit, durch Blut und Eisen wieder eine Nation zu werden, erst hergestellt worden war durch die Poesie unseres Lessing, Goethe und Schiller. Aber sie kann Nationen auch vergiften zu unheilbarem Siechtum, wenn sie sich hergiebt zur schminkenden Helferin der Despotie und des geistesknechtenden Priesterdünkels; wie wir auch davon eben jetzt ein Beispiel erleben in dem hoffnungslosen Todeskampfe eines der höchstbegabten Völker, das auch seine Philippe zusammt der Inquisition so gänzlich zu verderben nimmer imstande gewesen wären, wenn nicht seine Lope de Vega und Calderon geholfen hätten, es in den Abgrund des Elends hinunter zu dichten“ Vergl. dazu Andachten, von Wilhelm Jordan, Frankfurt 1877. S. 197. — und seit Friedrich Nietzsche 1889 in seiner Götzendämmerung Nietzsche. Gesammelte Werke Bd.8. S. 135. § 24. donnerte: „ L'art pour l' art . — Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die moralisierende Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral!“ L'art pour l'art heisst: „Der Teufel hole die Moral!“ — Aber selbst noch diese Feindschaft verrät die Übergewalt des Vorurteils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschenverbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l'art jour l'art — ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst — ist. „Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!“ — so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse Wertschätzungen..... Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht beteiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann ? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben ? auf eine Wünschbarkeit von Leben ? — Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehen?“ — seit diese beiden Aussprüche gethan wurden, ist in der Erkenntnis der Stellung, welche der Kunst in der geschichtlichen Entwicklung der Weltanschauung zukommt, mehr als ein Schritt nach vorwärts geschehen, und zum Teil geleitet durch diese neugewonnene Einsicht haben die jüngeren Dichter ihre Aufgabe nicht unwesentlich vertieft. Es ist kein Zufall, dass Deutschland nach der riesigen Kraftprobe von 1870 unerschöpft, mit jährlich einer halben Million Volksstandszuwachs und mit einer vergleichsweise leidlichen sozialen Auslese, zuerst von den Kulturvölkern Europas die grossen geistigen Errungenschaften des Jahrhunderts poetisch zu bemeistern unternommen hat und auf geistigem Gebiete unbestritten die Führung behauptet. Wie das deutsche Denken im Allgemeinen, ist die deutsche Dichtung, und ganz besonders die Lyrik noch stark auf dem Wege nach aufwärts. Und mit ihr das ganze Volk? Seine Dichter erwarten es von ihm. S. LXXIX dieser Sammlung. Aus Heinrich Hart, Vorgesang zu „Lied der Menschheit“ in Jungdeutschland, herausgegeben von W. Arent. Friedenau (Berlin) und Leipzig 1886. S. 178. Alexander Tille . Volk, das ich liebe, Volk, an dessen Kraft Ich glaube, du der Menschheit Blut und Saft, Du grüne Eiche, schwellend von Geäst, Dein Haupt trinkt Himmelsglanz, gen Ost und West Streckst du die Arme, erzgeschmiedet drückt Dein Fuss des Erdreichs Kern, kein Sturmwind rückt Zur Seite dich um einer Spanne Raum, Durch deine Blätter rauscht ein Frühlingstraum, Aus deinem Wipfel klingt es wie Geläut: Es kommt ein Morgen, der die Welt erneut. Heinrich Hart Frühling Schon blökt ins Feld die erste Hammelherde, Der Hof hielt seine letzte Soiree, Und grasgrün überdeckt die alte Erde Coquett ihr weisses Winternegligee. Der Wald rauscht wieder seine Lenzgeschichten, Und mir im Schädel rasselt kreuz und quer Ein ganzer Rattenkönig von Gedichten, Ein Reim- und Rythmenungetüm umher. Wie Gold in meine ärmliche Mansarde Durchs offne Fenster fällt der Sonnenschein, Und graubefrackt lärmt eine Spatzengarde: Ich schnitt es gern in alle Rinden ein! Die Luft weht lau, und eine Linde spreitet Grün über ihr ihr junges Laubpanier, Und vor mir auf dem Tisch liegt ausgebreitet Fein säuberlich ein Bogen Schreibpapier. Denn nicht am Waldrand bin ich aufgewachsen, Und kein Naturkind gab mir das Geleit, Ich seh die Welt sich drehn um ihre Achsen Als Kind der Grossstadt und der neuen Zeit. Tagaus tagein umrollt vom Qualm der Essen, Wars oft mein Herz, das lautauf schlug und schrie, Und dennoch, dennoch hab ich nie vergessen Das goldne Wort: Auch dies ist Poesie! O wie so anders als die Herren singen, Stellt sich der Lenz hier in der Grossstadt ein, Er weiss sich auch noch anders zu verdingen, Als nur als Vogelsang und Vollmondschein. Er heult als Südwind um die morschen Dächer Und wimmert wie ein kranker Komödiant, Bis licht die Sonne ihren goldnen Fächer Durch Wolken lächelnd auseinander spannt. Und Frühling! Frühling! schallts aus allen Kehlen, Der Bettler hörts und weint des Nachts am Quai, Ein süsser Schauer rinnt durch alle Seelen Und durch die Strassen der geschmolzne Schnee. Die Damen tragen wieder lange Schleppen, Zum Schneider eilt nun, wer sichs „leisten“ kann, Die Kinder spielen lärmend auf den Treppen, Und auf den Höfen — singt der Leiermann. Es tritt der Strohhut und der Sonnenknicker Nun wieder in sein angestammtes Recht, Und coquettierend mit dem Nasenzwicker Durchstreift den Park der Promenadenhecht. Das ist so recht die Schmachtzeit für Blondinen, Und ach, so mancher wird das Herzlein schwer, Ein Duft von Veilchen und von Apfelsinen Schwingt wie ein Traum sich übers Häusermeer. Am Arm das Körbchen mit den weissen Glöckchen, Das blonde Haar zerweht vom Frühlingswind, Lehnt bleich und zitternd im verschossnen Röckchen Am Prunkpalast das Proletarierkind. Geschminkte Dämchen und gezierte Stutzer, Doch niemand, der ihm schenkt ein freundlich Wort; Und naht sich abends der Laternenputzer, Dann schleicht es weinend sich ins Dunkel fort. Und macht die Nacht dann ihre stille Runde, Und blitzt es licht durchs dunkle Firmament, Dann ists dieselbe Lenznacht, die zur Stunde Sich lagert um den Busen von Sorrent! Dann ists derselbe Mond, der rings das Pflaster Sacht überdeckt mit seinem goldnen Vliess, Den vor Jahrtausenden schon Zoroaster Als ewgen Herold aller Lenze pries! Auf der Fahrt nach Berlin Vom Westen kam ich, — schwerer Haideduft Umfloss mich noch, vor meinen Augen hoben Sich weisse Birken in die klare Luft, Von lauten Schwärmen Krähenvolks umstoben, Weit, weit die Haide, Hügel gelben Sands, Und binsenüberwachsne Wasserkolke, Fern zieht ein Schäfer in des Sonnenbrands Braunglühndem Reich verträumt mit seinem Volke. Vom Westen kam ich, und mein Geist umspann Weichmütig rasch entschwundne Jugendtage, Wars eine Thräne, die vom Aug mir rann, Klangs von dem Mund wie sehnsuchtsbange Klage? .... Von Westen kam ich, und mein Geist entflog Voran und weit in dunkle Zukunftstunden.... Wohl hob er mächtig sich, sein Flug war hoch, Und Schlachten sah er, Drang und blutge Wunden. Vorbei die Spiele, durch den Nebelschwall Des grauenden Septembermorgens jagen Des Zuges Räder, und vom dumpfen Schall Stöhnt, dröhnt und sausts im engen Eisenwagen.... Zerzauste Wolken, winddurchwühlter Wald Und braune Felsen schiessen wirr vorüber, Dort graut die Havel, und das Wasser schwallt, Die Brücke, hei! dumpf braust der Zug hinüber. Die Fenster auf! Dort drüben liegt Berlin! Dampf wallt empor und Qualm, in schwarzen Schleiern Hängt tief und steif die Wolke drüber hin, Die bleiche Luft drückt schwer und liegt wie bleiern.... Ein Flammenherd darunter — ein Vulkan, Von Millionen Feuerbränden lodernd, .... Ein Paradies, ein süsses Kanaan, — Ein Höllenreich und Schatten bleich vermodernd. Hindonnernd rollt der Zug! Es saust die Luft, Ein andrer rast dumpfrasselnd risch vorüber, Fabriken rauchgeschwärzt, im Wasserduft Glänzt Flamm'' um Flamme, düster, trüb' und trüber, Engbrüstge Häuser, Fenster schmal und klein, Bald braust es dumpf durch dunkle Brückenbogen, Bald blitzt es unter uns wie grauer Wasserschein, Und unter Kähnen wandeln müd die Wogen. Vorbei, vorüber! und ein geller Pfiff! Weiss fliegt der Dampf, .... ein Knirschen an den Schienen! Die Bremse stöhnt laut unter starkem Griff.... Langsamer nun! Es glänzt in Aller Mienen! Glashallen über uns, rings Menschenwirrn, .... Halt! Und „Berlin!“ Hinaus aus engem Wagen! „Berlin!“ „Berlin!“ Nun hoch die junge Stirn, Ins wilde Leben lass dich mächtig tragen! Berlin! Berlin! Die Menge drängt und wallt, Wirst du versinken hier in dunklen Massen.... Und über dich hinschreitend stumm und kalt, Wird niemand deine schwache Hand erfassen? Du suchst — du suchst die Welt in dieser Flut, Suchst glühende Rosen, grüne Lorbeerkronen, .... Schau dort hinaus! ....Die Luft durchquillts wie Blut, Es brennt die Schlacht und niemand wird dich schonen. Schau dort hinaus! Es flammt die Luft und glüht, Horch Geigenton zu Tanz und üppgem Reigen! Schau dort hinaus, der fahle Nebel sprüht, Aus dem Gerippe nackt herniedersteigen.... Zusammen liegt hier Tod und Lebenslust, Und Licht und Nebel in den langen Gassen — — — Nun zeuch hinab, so stolz und selbstbewusst, Welch Spur willst du in diesen Fluten lassen? Verfallen Verfallen steht im Waldesgrund Am Saumweg eine Schmiede, Draus tönt nicht mehr der Hammerschlag Zum arbeitsfrohen Liede. Nicht weit entfernt ragt in die Luft Ein langgestreckt Gebäude, Wo walten im Maschinenraum Berusste Hammerleute. Mit Nägeln aus der Dampffabrik Ward zu der Sarg geschlagen, Der den verarmten Nagelschmied Zugrabe hat getragen. Die Näherin Ich sitz' und zieh geschwind, geschwind, Indes der lange Tag verrinnt, Den Faden durch das bunte Kleid, Und die Gedanken eilen weit. Thränen, was raubt ihr mir das Licht? Flieg, meine Nadel, und raste nicht! Die Sonne lacht zur Arbeit mir, Er sieht sie dort, ich seh sie hier, Ich weiss ja, dass sie uns vereint An keinem einzgen Tag mehr scheint. Thränen, was raubt ihr mir das Licht? Flieg, meine Nadel, und raste nicht! Lass gut sein, Mutter! Ein spärlich Feuer glimmt noch auf dem Herde. Es ist der einzge schwache Schein — ein Licht Wär viel zu teuer. In dem engen Raum, Des Decke du mit deinen Händen greifst, Ist übelriechende, verdorbne Luft. Man hat die Fenster nicht geöffnet, denn Die Wärme muss man halten, ach die teure Wärme! Dort an der Wand, dem Herde gegenüber, Da steht ein schmutzges Bett, und hässlich Stöhnen Kommt von dort her aus einer kranken Brust. Am blinden Fenster, das im Winde klappert, Der draussen durch des Dorfes Gassen fährt, Sitzt eine Frau und strickt. Sie hört das Stöhnen Des Kranken nicht und sieht die Spiele nicht Der Kinder, die zu ihren Füssen kauern. — Sie sitzt und strickt, das Haupt nach vom geneigt... Da plötzlich dröhnt es auf dem schlechten Pflaster: Herangerollt in vornehm schnellem Trab Kommt ein Coupé. Die gnädge Frau steigt aus, Der Diener reisst die Thür der Hütte auf, So dass ein scharfer Luftzug bis ans Bett Des Kranken fährt, und von der Schwelle tritt Ein schönes, junges Weib, die Frau vom Schloss. Mit leisen Schritten kommt sie näher, winkt Der Frau, die sich erhob, und flüsternd fragt sie: „Wie geht es ihm?“ Sie weist zum Bett nach hinten. Ihr offnes, freudenreiches Antlitz glänzt Verklärt vom Gotteshauche reinen Mitleids. „Ach, gnädge Frau, das ist nu schon so lang! Statt dass er für die Kleinen und für mich Arbeitet, muss er selbst erhalten werden, Und besser werden kann er doch nicht wieder, Und wenn er nu man nicht so lange machte...“ Ein rauhes Wimmern unterbricht das Weib, Der Kranke hat sich halb emporgerichtet: „Lass gut sein Mutter...“ und die eine Hand Streckt er wie um Erbarmen flehend aus. Noch einmal ruft er mit gebrochnem Hauch: „Lass gut sein, Mutter....“ und dann sinkt er hin — Und in das Haus der Armen trat der Tod. Hört ihr es nicht?.... Hört ihr es nicht? In meinem Ohre bang Ewig tönt herber dumpfer Trommelklang. In heller Lenznacht in der Nachtigall Verträumtes Lied rauscht schwerer Waffenschall. Der Sommer glüht in dunkler Rosen Duft — Wie Rossestampfen schallt es durch die Luft. Und wenn der Wein im grünen Glase quillt, — Hörst nicht das Schlachtwort, das so blutig schrillt? O Winternacht! Der Sturmwind heulend fährt, Die starrenden Wege leer sein Odem kehrt. Vergebens glüht am Feuerherd der Rost, Stärker als Feuer brennt der kalte Frost. An Haus und Wand und an des Wegs Geleis Fliegt Schnee und knarrt das demantharte Eis. O Winternacht! Durch Eis und fliegenden Schnee Lauter als Sturmgeist schreit ein wildes Weh. In dunklen Scharen drängt es finster an, Mit Beil und Hammer wogt es dumpf heran. Zerlumpte Haufen, wie vom Sturm verwirrt, Das Eisen dröhnt, das blanke Messer klirrt. Das Angesicht, blass wie ein Wintertag, Sagt, wie das Elend gar so fressen mag. Das Auge tief, die Wange hohl und schmal, Auf Stirn und Wang der Krankheit brandges Mal. Parol die Frag: Was für ein seltsam Wesen? Antwort: Vom Elend wollen wir genesen.... Hört ihr es nicht? In meinem Ohre bang Ewig tönt herber dumpfer Trommelklang.... Trunkenbold Ja, lächelt nur und rümpft die Nasen, Nennt Säufer mich und Trunkenbold, Erzählts bei Vettern und bei Basen, Dass ich vom Stuhle sei gerollt, Erzählt es lachend meinetwegen, Dass in der Gosse ich gelegen, Ich bin ein ruinirter Mann — Schnaps her, dass ichs vergessen kann! Was hilfts mir, dass es mir gelungen Durch meiner Hände Eisenkraft, Nachdem ich Jahr und Tag gerungen. Dass Haus und Hof ich mir geschafft? O, könnt ich es doch ganz vergessen, Dass Weib und Kinder ich besessen, O Kinderlachen, Weibeskuss — Schnaps her, weil ichs vergessen muss! Zehn Jahre Zuchthaus — neun gesessen — Neun Jahre öder Kerkersnacht ! Mir ward die Strafe zugemessen, Ein andrer hat die That vollbracht. Herrgott, warum hast du geduldet, Dass ich gebüsst und nichts verschuldet, Dass ich ein kraftgebrochner Mann — Schnaps her, dass ichs vergessen kann! Man liess mich gehn aus meiner Zelle, Entschädigung — nicht einen Deut! Ich trat an meines Hauses Schwelle — Dort wohnt ein andrer langezeit.... Mein Heim zerstört, mein Weib gestorben, Mein Sohn verkommen und verdorben, Die Tochter, davon schweig ich still — Schnaps her, weil ichs vergessen will! Was will sie nur? Im Winkel, wo die armen Sünder ruhn, Da liegt er nun Und schläft den ewgen Schlaf. Er war ein Lump, der Weib und Kinder schlug; Er hats verdient, so hiess es, was ihn traf. Doch dass sein Weib den Jammer um ihn trug Und jetzt noch trägt, was solls? Sie ist nicht klug — Was will sie nur? Sie soll mit ihren Kindern nun hinaus Ins Armenhaus; Man meint ihr wohlzuthun. Sie lehnt es ab. Ein ärmliches Gemach Wird Wohnstatt ihr, kaum gross genug zum Ruhn. Stolz, Bettelstolz, wohnt unter ihrem Dach, So hiess es, als sie spann und wusch am Bach — Was will sie nur? Die Kinder werden fromm und wohlgemut In ihrer Hut; Die Räume werden weit. Nun sind auch gute Freunde wieder nah; Sie warens, sagen sie, zu jeder Zeit. Und wenn sie das nicht früher schon ersah, Wars nur ihr Stolz, ihr alter, hiess es da — Was will sie nur? Sie bleibt verkannt, verlästert und gehetzt, Bleibts bis zuletzt — Es ficht sie gar nicht an. Dem Treue halten, den sie einst geliebt, Ein Leben führen, schlicht und wohlgethan, Ausharren, als ihr armes Glück zerstiebt, Weib sein und Mutter, die ihr Herzblut giebt Das wollt sie nur. Wahlgeschichten I. Der Regierungskandidat Die Hasen wollten sich vertreten lassen Durch einen Abgeordneten beim Jäger; Das sollte den so schwer bedrängten Massen Ein Anwalt sein und ihres Rechtes Träger. Da trat des Jägers Hund in ihren Kreis Und sprach — er liess sich gern herab zu wedeln — : „Wer euch noch einen bessern Anwalt weiss Als mich, der rede frei heraus, ihr Edeln! Des Jägers Ohr, so darf ich schmeicheln mir Besitz' ich ganz, und unverbrüchlich treu Fühl' ich mit euch, wohlweises Mitgetier, Vor unsrem Herrn die gleiche fromme Scheu. Bekannt sind beide Teile mir aufgrund Langjähriger Erfahrung, und beständig War mein Interesse — dafür bin ich Hund! Für Jäger wie für Hasen gleich lebendig....“ Da scholl Hurrah aus tausend Hasenkehlen Und jeder drängte sich, den Hund zu wählen. II. Die freie Wahl Erloschen war des Hundes Wahlmandat. Der Jäger schoss die Hasen tot wie immer. Doch flog ein Etwas durch den Hasenstaat Wie erster schwacher Freiheitsmorgenschimmer. Zur Neuwahl liess der Hund die Hasen laden. Er rief bewegt: „Man juble, man erstaune! Mein Souverän von Blei und Pulvers Gnaden Erwachte heut' in liberaler Laune. Er will, dass jeder frei sein Wahlrecht übe Und ganz nach seiner Überzeugung stimme; Wer frech das Bild der Volksabstimmung trübe, Dem droh' er schwer mit seinem höchsten Grimme. Dies ist sein Wunsch. Doch wünscht der Herrscher auch, Dass ich euch, klug zu wählen, gründlich lehre, Dass ich des Rechts unwürdigen Gebrauch Beleuchte durch der Folgen ganze Schwere — Hört nicht auf Freiheitsphrasen, wüst und hohl Ihr könntet eure Lage noch verschlimmern — Die Wahl ist frei! — Doch was zu eurem Wohl —“ Hier liess der Hund die Zähne freundlich schimmern — Und wunderbar! Bei vorgenommner Wahl Fiel auf den Hund der Stimmen ganze Zahl. III. Die moralische Konsequenz Und wieder Wahl nach abgelaufner Frist! Zur Zeit der Schonung ward sie angesetzt, Da von den Hasen nichts zu holen ist Und sie sich mehren dürfen ungehetzt. Des Jägers Büchse hatte den Etat An feisten Hasen reichlich eingebracht. Er sprach bei sich: „Gelegne Zeit ist da, Dass man zum Scheine Konzessionen macht.“ Da liess der Hund die Wähler sich versammeln: „Der Jäger will“, so rief er durch den Hain, „Ein Hase soll — vernehmts mit Dankesstammeln — In Zukunft euer Deputirter sein. Denn was sein Volk bewegt aus tiefstem Grunde (Der Herrscher nimmt es ernst mit seiner Pflicht!) Vernehmen will ers nun aus Hasenmunde; Ich aber kandidiere diesmal nicht!“ Die Hasen wählten wie aus einem Mund Zu ihrem Abgeordneten — den Hund. Die Mittelmässigen Die Musik ist heutzutage Wohl der Menschheit grösste Plage: Schauervolles wird erreicht, Wenn der Mensch die Geige streicht Oder um die Abendröte Zwecklos bläst auf einer Flöte; Und ich hege die Vermutung, Dass auch der Posaune Tutung Manchem wohl bei Tag und Nacht Keine grosse Freude macht. Dieser schlägt mit viel Gebimbel Grausamlich das Klavezimbel, Jener aber, gnadenlos, Kneift das Cello — Gott ist gross! Seine Langmut ist unendlich, Treibts der Mensch auch noch so schändlich! Andre wieder, wie wir wissen, Sind der Poesie beflissen, Kochen zu der Menschheit Schauer Tag für Tag ihr Herz in Sauer, Wandeln auf geblümter Au; Viele Trauer-, Lust- und Schau- Spiele fliessen zäh wie Leder Aus der öden Dichterfeder, Und es rinnt die trübe Flut Ohne Ende! — Gott ist gut, Dass er solches lässt geschehn, Ohne ins Gericht zu gehn! Andre, zu der Menschheit Qualen, Legen wieder sich aufs Malen Und beschmieren ohne Ende Viele schöne Leinewände Und viel herrliches Papier, Zum Erbarmen ist es schier! Wär mit Rosen und Kamillen Ihre Schwermut nur zu stillen! Nein, sie wagen frech und wild Sich an Gottes Ebenbild, Und sie pinseln und sie kratzen Süsslich, wabblich ihre Fratzen, Dass die liebe Sonne weint, Wenn sie solchen Schund bescheint, Und so reiht sich Bild zu Bilde Unermesslich! — Gott ist milde, Denn er warf noch nie mit Feuer Unter solche Ungeheuer! Doch wenn 'mal ein grosser Geist Sich empor zum Himmel reisst Und vom ewgen Born der Klarheit Niederbringt das Licht der Wahrheit, Muss man sehen diese Ekel, Diese krummgebeinten Teckel, Wie sie ihn herunterreissen Und ihn in die Waden beissen, Denn sie schätzen jeder Frist Nur, was Ihresgleichen ist. Vor einem Laden Auf der Strasse stand ich im Gedränge, Um mich hastete die bunte Menge, Schallten Wagen auf dem Pflaster lärmend, Knallten Peitschen, bellten Hunde schwärmend, Und es war ein Drängen und Getriebe, Und es war ein Laufen und Geschiebe. Aber ganz entrückt dem lauten Leben Stand ich still mit heimlichem Erbeben Vor der schönsten, hellen Fensterscheibe, Dass mir lächelte das Herz im Leibe. Mächtig hoch, krystallgeschliffen blinkte sie, Und verführerisch dem Auge winkte sie. Frauenstrümpfe sah ich zierlich hängen Feingewirkt mit vollen Knieeslängen, Blau und rot und rosig schön gestaltet Und verführerisch von Reiz umwaltet. Ach, da waren seidenbunte Mieder, Wohlgeformt wie edle Mädchenglieder, Frauenhemden, duftig ausgebreitet, Um des Busens Formen zart geweitet, Und es reizten sanft die langen Falten Wie belebte weibliche Gestalten. Auch die bunten Bänder um die Kniechen Lockten schönbemalt und klug verschwiegen, Und erzählten ahnungslos den Augen, Was zu denken nimmer möchte taugen. Ja, sie waren harmlos und geduldig, Ja, sie waren reizend und unschuldig, Diese Frauenwünsche, Mädchenträume, Diese zartdurchbrochnen Röckchensäume, Diese Mieder, üppig wie Gelüste, Jene für die keuschen Mädchenbrüste, Diese holdverborgnen Formendecker, Diese schalkentsprungnen Männernecker! Süsse Mädchen, ach, ihr schönen Frauen, Wie vergnüglich ist das anzuschauen! Wär' ich reich wie Salomo, der Sänger, Krösusreich, ein feiner Rattenfänger, Kauft' ich all die Leibeslust zusammen, Kleidete in rascher Liebe Flammen Mir die schönsten Mädchen, schönsten Frauen, Dass sie sittsam wären anzuschauen. Und dann ging ich fröhlich in die Weite, Lachte, dächt' ich an die Miederbreite, Pfiff ein Liedchen, dächt' ich an die Schlanken, Ja, ich hätte reizende Gedanken! Wenn die lieben Mädchen nun erröten, Will ich zärtlich und voll Unschuld flöten, Wenn die holden Frauen mir verzeihen, Will ich ihnen dieses Liedchen weihen, Ja, ich will von dem, was ich im offnen Laden Auf der Strasse sah, kein Sterbenswort verraten. Der neue Stern Um eine Sonne, welche hundertmal Die unsre überstrahlt und dennoch kaum Ein matter Lichtpunkt irdischen Augen scheint, Im fernsten Weltraum kreist ein Wandelstern, Ein schöner Stern mit himmelhohen Bergen, Mit blauen Meeren, breiten Riesenströmen Und stolzen Städten, die sich in den Wellen Der Meere und der Ströme prächtig spiegeln. Und in den Städten, auf den Fluren regt, Unzählig fast, sich ein Geschlecht von Wesen, Dem unsern ähnlich, aber schöner, grösser An Wuchs und Antlitz wie an Geisteskraft. Das ringt, geniesst, das jubelt und verzweifelt; Das träumt von künftigem Glück und ewigem Ruhm; Das wandelt zuversichtlich auf der Scholle, Der es entspross, die Nahrung ihm gewährt, Die seine Hütten und Paläste trägt.... — — — — — — — — — — — Da kommt ein Tag, an welchem blutigrot Durch fahl Gewölk das Licht vom Himmel bricht, Und bange Schwüle, herz- und hirnbedrückend, Herab sich senkt auf alles, was da lebt. Und nun? — Welch unheilschwangres, dumpfes Rollen Durchdröhnt die Stille? Ha, der Boden schwankt, Die Mauern schüttern, bersten, stürzen ein, Und Bergeshäupter taumeln in die Thäler. Wie Schüttelfrost den Fieberkranken packt, So zuckt durch des Planeten Riesenleib Der innere Krampf; — jäh spaltet sich der Grund Zugleich an hundert Orten; brodelnd steigt Empor der Schwall geschmolzener Gesteine, Weissglühnder Erze, schwefeldampfumwogt, In heisser Lohe Feld und Wald und Triften Begrabend und in Qualm die Meere wandelnd, Verzehrend Hütten, reiche Königsburgen Und hoher Tempel stolze Marmorhallen Samt Kronen, Szeptern, Priestern und Altären. — — — — — — — — — — — Der Denker Schriften und der Künstler Werke, In Asche löst sie auf dieselbe Stunde, Und keine Spur von ihrem Dasein bleibt.... Im weiten Weltraum ungehört verhallt Der Todesschrei von Milliarden Wesen, Und — schweigend rollt ein wüster Feuerball Glutsprühend durch die kalte Himmelsöde Bis langsam er erstarrt zur schwarzen Schlacke. — Drei Jahre später auf der Erde sitzt Ein Astronom in seiner stillen Warte, Den Horizont mit mächtigem Rohre musternd. Da zuckt es wie ein flüchtiger Freudenblitz Mit einmal auf in seinen ernsten Zügen, Und lange blickt er, angestrengten Auges, Auf einen Punkt.... Dann greift er zu dem Stift, Und ruhig schreibt er dieses Telegramm: „Entdeckt soeben ward durchs Teleskop Von mir im Bilde der Andromeda Ein neuer Stern, mattglänzend, zwölfter Grösse.“ ... Die Brück' am Tay (28. Dezember 1879) When shall we three meet again! Macbeth „Wann treffen wir drei wieder zusamm?“ „Um die siebente Stund' am Brückendamm.“ „Am Mittelpfeiler.“ „Ich lösche die Flamm.“ „Ich mit.“ „Ich komme von Norden her.“ „Und ich von Süden.“ „Und ich vom Meer.“ „Hei, das giebt einen Ringelreihn, Und die Brücke muss in den Grund hinein.“ „Und der Zug, der in die Brücke tritt Um die siebente Stund'?“ „Muss mit.“ „Ei, der muss mit.“ „Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand!“ *** Auf der Norderseite das Brückenhaus — Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu, Sehen und warten, ob nicht ein Licht Übers Wasser hin — „Ich komme“ spricht, „Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, Ich, der Edinburger Zug.“ Und der Brückner jetzt: „Ich seh' einen Schein Am anderen Ufer. Das muss er sein. Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum, Unser Johnie kommt und will seinen Baum; Und was noch am Baume von Lichtern ist, Zünd alles an wie zum heiligen Christ, Der will heuer zweimal mit uns sein — Und in elf Minuten ist er herein.“ Und es war der Zug. Am Süderturm Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm, Und Johnie spricht: „Die Brücke noch! Aber was thut es, wir zwingen es doch. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf, Die bleiben Sieger in solchem Kampf, Und wie's auch rast und ringt und rennt, Wir kriegen es unter, das Element. Und unser Stolz ist unsere Brück'; Ich lache, denk' ich an früher zurück, An all den Jammer und all die Not, Mit dem elend alten Schifferbot; Wie manche liebe Christfestnacht Hab' ich im Fährhaus zugebracht, Und sah unsrer Fenster lichten Schein Und zählte, und konnte nicht drüben sein.“ Auf der Norderseite, das Brückenhaus — Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu; Denn wütender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel Erglüht es in niederschiessender Pracht Überm Wasser unten.... Und wieder ist Nacht. *** „Wann treffen wir drei wieder zusamm?“ „Um Mitternacht, am Bergeskamm.“ „Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.“ „Ich komme.“ „Ich mit.“ „Ich nenn' euch die Zahl.“ „Und ich die Namen.“ „Und ich die Qual.“ „Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.“ „Tand, Tand Ist das Gebilde von Menschenhand!“ Den Spöttern Höhnt nicht die tapfren Frauen, Die sich aus eigner Kraft Ihr Lebensschifflein bauen, Weil es kein andrer schafft. Wie sie gerungen haben, Euch ist es nicht bewusst, Es liegt gar viel begraben In einer solchen Brust. Der Jugend ganzes Hoffen Ward still dort eingesargt, — Doch was sie auch betroffen, Sie tragens nicht zu Markt. Auch giebt davon nicht Kunde Der sturmgeprüfte Leib, — Nur aus der Augen Grunde Blickt sehnend noch das Weib! Wer aufwärts will.... Wer aufwärts will, muss Einsicht haben, Mit Umsicht brauchen seine Gaben, Sich keiner Ansicht widersetzen, Die That nach ihrer Aussicht schätzen, Zu steter Nachsicht sich bequemen Und täglich so viel Rücksicht nehmen, Dass er aus Vorsicht ganz und gar Vergisst, was seine Absicht war. Die jubelnd nie.... Die jubelnd nie den überschäumten Becher Gehoben in der heilgen Mitternacht, Und denen nie ein dunkles Mädchenauge Zur Sünde lockend, sprühend zugelacht — Die nie den ernsten Tand der Welt vergassen Und freudig nie dem Strudel sich vertraut — O sie sind klug, sie bringens weit im Leben.... Ich kann nicht sagen, wie mir davor graut! Phantasus I. „Schlag zu, mein Herz, die Flocken treiben Nicht wie im Winter mehr ums Dach! Der Frühling pocht an meine Scheiben, Und tausend Wunder werden wach! Das Licht führt seine goldnen Funken Tagtäglich wieder nun ins Feld, Und mir im Herzen jubelts trunken: O Gott, wie schön ist deine Welt. Wie lieblich nur durchs offne Fenster Der Maiwind mir die Schläfen kühlt! Lebt wohl, ihr grübelnden Gespenster, Die winterlang mein Hirn durchwühlt! Als wär' ich gestern erst genesen, Das Herz ist mir so süss erhellt — So wohl ist mir noch nie gewesen: O Gott, wie schön ist deine Welt! Hervor, hervor aus deiner Hülle, Du liebes Bildchen meiner Fee! O dieser Locken goldne Fülle! O dieses Busens weisser Schnee! Und wölbt sich über deiner Krone Auch purpurrot ein Throngezelt, Dein Herz schlägt doch dem Liedersohne — O Gott, wie schön ist deine Welt! Doch still, mein Herz, was soll dein Pochen? O Tod, du kommst zur rechten Zeit! Das Schwert der Trübsal liegt zerbrochen.... Sei mir gegrüsst, o Ewigkeit! Beim Frühling hab' ich tausendkehlig Ein Lerchengrablied mir bestellt: So sterb' ich jubelnd, sterb' ich selig — O Gott, wie schön war deine Welt!“ II. Und als der Morgen um die Dächer Sein silbergraues Zwielicht spann, Da war der arme, bleiche Schächer Ein stummer und ein stiller Mann. In seines Mantels grauen Falten So lag er da, kalt und entstellt — Fürwahr, er hatte Recht behalten, Sein Reich war nicht von dieser Welt! Ein goldnes Sonnenstäubchen tippte Ihm auf die Stirn von ungefähr, Und seine lieben Manuskripte Verschloss der Armenkommissär. Sein Freund, der Doctor, aber zierte Brutal sich durch das Kämmerlein Und schneuzte sich und constatierte „Verhungert!“ auf dem Totenschein. Drei Fruhlingstage später karrten Ihn Armenklepper vor das Thor! Ich sahs noch, wie sie ihn verscharrten — Die Sonne lachte, doch mich fror! Mich fror, und meine Hände suchten Umsonst zu würgen meinen Schmerz, Und meine bleichen Lippen fluchten.... O Gott, mein Herz! mein armes Herz! So stand ich und vermaledeite Die Welt bis in ihr Nichts hinab: Der goldne Frühling aber schneite Ihm lächelnd Rosen übers Grab. Schon nahten unsichtbaren Zuges Die grossen Geister alter Zeit, Und drüber schwebte leisen Fluges Der Genius der Unsterblichkeit! Ich weiss — ich weiss.... Ich weiss — ich weiss: Nur wie ein Meteor, Der flammend kam, jach sich in Nacht verlor, Werd' ich durch unsre Dichtung streifen! Die Laute rauscht. Es jauchzt wie Sturmgesang, — Wie Südwind kost — es gellt wie Trommelklang Mein Lied und wird in alle Herzen greifen.... Dann bebts jäh aus in schriller Dissonanz.... Die Blüten sind verdorrt, versprüht der Glanz — Es streicht der Abendwind durch die Cypressen... Nur wenge weinen.... Sie verstummen bald. Was ich geträumt: sie geben ihm Gestalt — Ich aber werde bald vergessen.... Mein Blick, nun weide dich zum letzten Mal.... Mein Blick, nun weide dich zum letzten Mal An dieses Frühlings satter Blütenfülle! Voll Inbrunst sauge dieser Sonne Strahl — Mein Herz, sei stille.... Erschweig bewundernd vor dem Werdedrang! Was dich erfüllt, den Winden giebs zum Raube! .... Ob dir der Hoffnung goldnes Sieb zersprang — Dir blieb der Glaube! .... O glaube eine winzge Weile nur, Dass diese Botschaft auch für dich gebracht ward! Umfass noch einmal trunken die Natur, Bevor es Nacht ward! .... Auf meinen Scheitel streut der Frühlingswind Mattweisse Blüten — eine letzte Krönung — — — Ich bin so fromm und heiter wie ein Kind.... Und voll Versöhnung.... Süss duftende Lindenblüte.... Süss duftende Lindenblüte In quellender Juninacht.... Eine Wonne aus meinem Gemüte Ist mir in Sinnen erwacht. Als klänge vor meinen Ohren Leise das Lied vom Glück, Als töne, die lange verloren, Die Jugend leise zurück.... — — — Süss duftende Lindenblüte In quellender Juninacht.... Eine Wonne aus meinem Gemüte Ist mir zu Schmerzen erwacht! Sommerabend O du lieber, linder Sommerabend, Bist so süss wie zarte Frauenhuld, Wenn dein tief geheimer Zauber labend Mich in wunderholde Träume lullt. Bin ich singend über Land gezogen Wohl den ganzen Tag im Sonnenschein Und nun schreit ich durch den Thoresbogen In die altersgraue Stadt hinein. Von den holzgeschnitzten Giebelspitzen Sich schon längst der letzte Schimmer stahl, Nur die hohen Kirchenkreuze blitzen Golden noch im späten Abendstrahl. Kinder auf den Treppensteinen hocken, Spielen Haschen oder Blindekuh, Und dazwischen läuten fromm die Glocken Von den Türmen Feierabendruh. Wer sich abgemüht in Tagesschwüle, Ruht im Schosse seiner Lieben aus; Herzerquickend duftet ihm die Kühle Wie ein frischgepflückter Blumenstrauss. Rollt kein Wagen mehr, es schlägt kein Hammer, Denn der Werkeltag ist längst verrauscht; Lämpchen knistert schon in stiller Kammer, Drin der Nestling Mutters Märchen lauscht. Immer stiller wird es auf den Gassen, Immer heimlicher die Dämmrung winkt, Bis das Giebeldach die silberblassen, Mondgewebten Flimmerstrahlen trinkt. Wo in marktumpflanzten Lindenbäumen Funkenwürmchen hin und wieder fliegt, Wandeln Liebende in süssen Träumen, Hand in Hand und Arm in Arm geschmiegt. Mit den alten, halbverwaschnen Runnen Und dem steingehaunen Reckenbild Steht am Rathauseck der Rolandsbrunnen, Der aus hundert Röhren tönend quillt. Auf bemoostem Rande sitz' ich nieder, Und ich schaue in die Flutenpracht. Und ich lausche auf die Wiegenlieder, Bis mein Herz zur guten Ruh gebracht. Und da hör' ich, wie auf leisen Sohlen Blonde Engel durch die Gassen gehn. Und ich blinzle ab und zu verstohlen, Um die blonden Engel auch zu sehn. O du lieber, linder Sommerabend, Bist so süss wie zarte Frauenhuld, Wenn dein tiefgeheimer Zauber labend Mich in wunderholde Träume lullt! Guter Rat (An einen jungen Dichter) Kannst du auch mit Engelszungen singen, Die Philister bleiben unbewegt, Wenn dich nicht auf ihren breiten Schwingen Zu den Wolken die Reklame trägt. Statt zu plagen dich mit Folianten, Träumend in das Abendrot zu schaun, Lern', o Freund, vom Pillenfabrikanten, Opernsänger oder Zirkusclown! Keinen Deut ja hilft dir alle Rührung, Hilft dir deiner Strophen kühnster Schwung; — Mehr Furore macht schon die Entführung Einer Millionärin, schön und jung. Auch ein Pressskandälchen ist nicht ohne, Ganz besonders, folgt drauf ein Duell; Wunder wirkt oft eine blaue Bohne, Einem Kritikus gebrannt aufs Fell. Doch das Beste bleibt, das höchst Reelle: Trink ein Cyankalifläschchen aus; Spring hinab die Niagarafälle, Oder stirb als Narr im Irrenhaus! Deinen Namen nennen ohne Frage Wird ein jedes Winkelblättchen dann, Und du bist zum mindsten drei der Tage, Was du wolltest: ein berühmter Mann.... Die Grille Jedermann kennt die Geschichte Von der Grille, welche sang Ihre lyrischen Gedichte Einen ganzen Sommer lang, Von der Ämse, die der armen Sängerin die Thüre wies Und sie kalt und ohn Erbarmen Hinterm Zaun verhungern liess. Wie sie dalag, starr und stille, Sprach voll Mitgefühl der Rab: „Arme Grille, lustge Grille, Sankest allzu früh ins Grab. Fristen konntest du dein Leben Noch um einen ganzen Tag, Hättest klüglich du gegeben Deine Lieder in Verlag.“ Auf dem alten jüdischen Friedhof in Prag Sinnend stand ich bei dem Grabe Rabby Löv's, des jüdschen Weisen, Hörte wie im Traum den Führer Seinen toten Ahnherrn preisen. Und warum, so frug ich staunend, All die Juden, gross und kleine, Auf das Grab mit leisem Murmeln Werfen bunte Kieselsteine? Und es wurde mir die Antwort: „Um zu ehren, ist geboten, Dass wir Blumen streun Lebendgen, Steine auf das Grab des Toten.“ Von solch heidnischem Gebrauche Sind wir Christen längst gereinigt, Wir bekränzen stets die Gräber Jener, welche wir gesteinigt. Zeitbilder Züchtiger Minne ritterlich Streben, Ehrbaren Handwerks emsiges Weben, Fromm in Gedanken, Thaten und Wort: Das war der Ahnen Losung und Hort. Lustig gelebt und fröhlich gestorben, Hurtig verthan und langsam erworben, Viele geküsst und keine gefreit: Das ist der Wahlspruch unserer Zeit. Fröhlich gelebt und ehrlich gestorben, Leben gespart und geistig erworben, Eine geküsst und Eine gefreit: Wann wird sie kommen, die goldene Zeit? Ja, das möcht' ich noch erleben Eigentlich ist mir alles gleich, Der eine wird arm, der andre wird reich, Aber mit Bismarck, — was wird das noch geben? Das mit Bismarck, das möcht' ich noch erleben. Eigentlich ist bloss alles so so, Heute traurig, morgen froh, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Ach, es ist nicht viel dahinter. Aber mein Enkel, so viel ist richtig, Wird mit Nächstem vorschulpflichtig, Und in etwa vierzehn Tagen Wird er eine Mappe tragen; Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben — Ja, das möcht ich noch erleben. Eigentlich ist es alles nichts, Heute hälts und morgen brichts, Hin stirbt alles, ganz geringe Wird der Wert der irdschen Dinge, Doch wie tief herabgestimmt Auch das Wünschen Abschied nimmt, Immer klingt es noch daneben: „Ja, das möcht ich noch erleben.“ Ein Brief kam übers Meer zu mir.. Ein Brief kam übers Meer zu mir, Ich kannte wohl der Aufschrift Hand: Viel hundert Briefe hat sie mir Ein Menschenalter durch gesandt. Wie froh das Siegel brach ich stets: Nur immer Liebes stand darin — Heut' aber starr' ich auf die Schrift Wie auf das Haupt der Gorgo hin. Ich weiss, es ist ihr letztes Wort, Kein zweiter Bote folgt ihm nach: Die Mutter schläft den letzten Schlaf Schon manche Nacht und manchen Tag. Vor Wochen kündet' es der Draht Kurz, kalt und grausam wie ein Stahl — Und einen lieben Brief von ihr Ich öffn' ihn heut zum letzten Mal... Des Vaters Augen schloss sie einst, Den meine Augen nicht mehr sahn, Mein Bruder schloss die Augen ihr: Mich hält im Bann der Ozean. Im Heimatstädtchen deckt sie längst Von Eschen überwölbt der Stein; Den Bruder tröstet Weib und Kind: Ich bin allein, allein, allein. Monat' und Tage zählt' ich schon, Zurück zu kehren heimatwärts, Und wie vordem so oft, zu ruhn An meiner treuen Mutter Herz... Gleichgültig seh' ich jetzt das Schiff Nach Deutschland fahren übers Meer Ob hier, ob dort, ist einerlei: Ich habe keine Heimat mehr. Nur drei, vier Sterne.... Nur drei, vier Sterne lugten halb erblichen Aus weisslich angehauchten Wolkenstrichen. Das Frühlicht graute nach der schwersten Nacht, Die wir, mein Weib und ich, in Angst durchwacht. Die heisse Stirn umkühlt' uns Morgenluft, Durchs offne Fenster strömte Blütenduft, Wie Jubel scholl der Drosseln Frühgesang, Indes der Sohn uns mit dem Tode rang. War nun der Fieberkrampf zwei voller Wochen, War seiner Kräfte letzter Rest gebrochen Und nah sein leckes Boot dem finstren Hafen? Wir wusstens nicht — doch lag er eingeschlafen. Vom Bett hinaus gewinkt ins Nebenzimmer Hatt' uns der Arzt, und weder Hoffnungsschimmer Noch ernster Meldung nahgerückte Pflicht Verriet sein eifrig forschend Angesicht. Wenn jetzt mein Kind, so dacht' ich da, verschiede, Dann würd' ich lebenslang im Drosselliede Den leisen Liebesgruss von unsrem Kleinen Aus Grabesnacht empor zu hören meinen. Verhalten schluchzend schmiegte meine Frau Sich an mein Herz. Ihr Blick voll Schmerzenstau Erhob sich dann nach einer Himmelsstelle, Wo grau Gewölk durchschien verwaschne Helle. Obs besser wäre, frug sie mich dann leise, Wenn wir auch droben nach der alten Weise In unsrem Glauben einen Helfer hätten, Der Bitten hört und Macht besitzt zu retten? Ich sprach: „Geliebtes Weib, wir haben ihn Und bitten längst für unsren Knaben ihn. Er hat aus uns, in uns das Kind gewoben, Und weilt in uns, nicht nur auf Sternen droben. „Nicht müssig schrein wir nach dem Wunderthäter Wir handeln als die Kinder unsrer Väter Und der Gebete allerbestes richten An Gott wir mit Erfüllung unsrer Pflichten. „Die Löwin schirmt so tapfer nicht die Jungen Als du, mein Weib, mit Heldenkraft gerungen. Dem Kind zu reissen aus der Krankheit Rachen, Vermochtest du zwei Wochen durchzuwachen. „Hat er genug zu langer Lebensfahrt Von meiner Väter und von deiner Art, Um wohl zu dienen seinem Gottesteile, Dann sei getrost, dann wendet sichs zum Heile. „Doch fiel zu klein ihm aus dies Ahnenerbe, Dann ist es besser, dass er heute sterbe. Dann müssen wir mit Schmerzen ihn bestatten Und weinend dankbar sein, dass wir ihn hatten.“ Geflüstert hatt' ich kaum das letzte Wort, Da zog wie Rauch das Schleierwölkchen fort. In reiner Bläue hoch im Osten stand Der Morgenstern, der Himmelsdiamant. Ob auch die Drosseln ihn erstaunt geschaut? Denn ihr Geschmetter, eben noch so laut, Verstummte plötzlich. Uns zur Seite trat Der wackre Arzt, der leisen Schritts genaht: „Ich gab ihn schon am zweiten Tag verloren. Er wars, obwohl ihm dreifach eingeboren Die Lebkraft scheint — doch solche Mutterpflege Besiegt den Tod. Er ist auf gutem Wege.“ Venus Mater Träume, träume, du mein süsses Leben, Von dem Himmel, der die Blüten bringt; Blumen winken da, die beben Von dem Lied, das deine Mutter singt.... Träume, träume, Knospe meiner Sorgen, Von dem Tage, da die Blume spriesst, Von dem hellen Blütenmorgen, Da dein Seelchen sich der Welt erschliesst.... Träume, träume, Blüte meiner Liebe, Von der stillen, von der heilgen Nacht Da die Blume Seiner Liebe Diese Welt zum Himmel mir gemacht.... Kindermund Grossmütterchen spricht: „Das Bübchen ist tot, Gott nahms aus dem Erdengetümmel, Es leidet hinieden nicht Jammer und Not Und spielt nun mit Engeln im Himmel.“ Die Kinder sind stumm, bis ein Brüderchen fragt: „Und konnt weder gehen noch springen?“ ... „Sie nehmens am Händchen“, wird ihm gesagt, „Wenn sie droben hüpfen und singen.“ Fitzebutze Lieber, ssöner Hampelmann: Deine Detta sieht dich an! Ich bin dhoss und du bist tlein, Willst du Fitzebutze sein? Tomm! Tomm auf Haterns dhossen Tuhl, Flitziputze, Blitzepul, Hater sagt: man weiss es nicht, Wie man deinen Namen spicht. Pst! Pst, sagt Hater, Fitzelpott War einmal ein lieber Dott, Der auf einem Tuhle sass Und sebratne Menssen ass. Hu! Hu, sei dut, ich bin so tlein Und will immer atig sein; Fitzebutze, du bist dhoss, Tleine Detta spasst sa bos! Sa? Sa: ich bin dir wirktlich dut: Willst du einen neuen Hut? Tlinglingling: wer bingt das Band? Tönigin aus Mohrenland! Tnix! Tnix: ich bin Fau Tönigin, Hab zvei Lippen von Zutterrosin! Fitzebutze, sieh mal an, Sieh, wie Detta tanzen tann! Hops! Hopsa, hopsla, hopsala: Tönigin aus Afika! Flitzefutze, Butzebein, Wann soll unse Hochzeit sein? Du — ! Du! mein tleiner lieber Dott! Du? sonst deh ich wieder fot! Ach, du dummer Hampelmann, Siehst sa Detta darnicht an; Marsch! Die Kirche Leuchtend aus dem Lindengrün, Wo die Nachtigallen schlagen, Wieder seh' ich nun das Kreuz Meiner alten Kirche ragen; Und gedenke feuchten Blicks: Ach, es ist schon lange Jahre, Dass auch ich, ein gläubig Kind, Dort gebetet am Altare. Jeden Sonntag bin ich dort Meinem Jugendlieb begegnet, Und der gute Priester hat Uns zusammen eingesegnet. Lang' ists her! Ich hab seitdem Weisheit dieser Welt erworben, Längst in meinem klugen Kopf Ist der liebe Gott gestorben. Wir sind selbst uns Gott genug, Lassen keinen andren gelten, Denn wir sind der Geist des Alls, Denn wir sind das Herz der Welten. In das enge Haus von Stein Wird uns keine Predigt locken, Aber deiner, frommes Lieb, Denk' ich doch beim Klang der Glocken. Und mein Blick umfloret sich, Seh ich, wie in Jugendtagen, Friedlich aus dem Lindengrün Unsre alte Kirche ragen. Da einst die Post fuhr.... Manchmal ist es mir, das träge Rollen Ferner Räder hört' ich in den Feldern; Und doch ist das Tönen längst verschollen Tief in den verlornen Heimatwäldern. Und verschollen ist das Horngeschmetter, Das im freien Wanderglück die Lieder Weithin rief in Licht und dunkle Wetter.... Keiner hebt es aus den Tiefen wieder. Und es träumt in diesen Einsamkeiten Wieder ungeweckt das Weltvergessen, Abseits, in den haidumblühten Weiten Gehn die Tage leblos, ungemessen. — Ach, mir ist, als trüg der schwere Wagen Wieder mich durch Städte, die da schlafen, Und durch fernes Nachtigallenschlagen In das Schloss, da wir zuerst uns trafen.... Und als küssten mich die Tannenzweige, Die von wildem Harz und Würze tropfen.... Atemlos ständst du am Heckensteige, Und dein Knabenherz vernahm' ich klopfen. Und ich spräng' in Jugendhast hernieder — Hinter uns entglitt der träge Wagen — Aus dem Schlosshof brach ein Duft von Flieder — Denn es war in frühen Lenzestagen.... Nacht Der Westwind streichelt die Locken Schauernder Bäume; wie Schnee Fallen die Blütenflocken.... Klänge der Abendglocken Zittern über den See. Oben im Wolkenlosen Kreiset der Sterne Lauf, Und unter Küssen und Kosen Gehen hier unten Rosen, Rosen und Lieder auf. Mädchenfrühling Aprilwind; Alle Knospen sind Schon aufgesprossen, Es spriesst der Grund, Und sein Mund Bleibt so verschlossen? Maisonnenregen; Alle Blumen langen, Stille aufgegangen, Dem Licht entgegen, Dem lieben Licht. Fühlt, fühlt ers nicht?! Erste Blüten, erster Mai Lange schlug das Herz mir dumpf Und in faulen Schlägen, War ein tangbedeckter Sumpf Ohne Wellenregen. Bunte Blumen blühten rings, Und ich ging vorüber; Wissenschaft, die graue Sphinx, Gab mir Nasenstüber. Wissenschaft, die graue Sphinx, Mag der Teufel holen; Euch, ihr Blüheblumen rings, Sei mein Herz befohlen. Sonnevoll ist mein Gemüt, Eine grüne Wiese, Drauf es singt und springt und blüht Wie im Paradiese. Eine Geige klingt in mir, Glockenklar und leise.... „O du allerschönste Zier! ...“ Wundersame Weise. Glück und Glanz und Glorienschein Über allem Leben, Und die ganze Welt ist mein, Mir zu Lehn gegeben. Und mein Herz haucht Liebe aus, Alle Not verendet, Sorge, Sünde, Hass und Graus Sind in Glück gewendet. Dumme, holde Träumerei, Immer kehrst du wieder: Erste Blüten, erster Mai, Schwärmerische Lieder. Maientanz Blütenblätter jagt der Wind Von den jungen Zweigen, Die sich nun im ersten Sturm, Frühlingssturme, neigen. Rosarote Apfelbluht Tanzt mit schneeig weissen Kirschenblüten Ringelreih Hell in Wirbelkreisen. Junge Birken beugen sich Jungferngrün im Winde; Leise wisperts, froh erstaunt, In der alten Linde. Heia, erster Frühlingssturm, Blütenblätterfeger. Sei gegrüsst, Lenzjunker Wind, Allerliebster Jäger! Nicht zum Morde ruft dein Horn, Ruft zu Tanz und Leben, Über deinem Hussahzug Schmetterlinge schweben. Letztes Winterwehtum treibt Dein Hallih von hinnen, Hüte hoch und juhuhu! Maitanz soll beginnen! Wie der Blütenblätterschnee Wolln wir Wirbel drehen, Wies der alte Maienbaum Nimmer noch gesehen. Flöte kichert, Geige singt, Und der Bass brummt bieder, Doch der Lenzwind über uns Hat die schönsten Lieder. Hat die grosse Melodei Helle Sturmlustweise, Nach des Lenzen Pfeife tanzt, Tanzt die frohen Kreise! Einen Sommer lang Zwischen Roggenfeld und Hecken Führt ein schmaler Gang, Süsses, seliges Verstecken Einen Sommer lang. Wenn wir uns von ferne sehen, Zögert sie den Schritt, Rupft ein Hälmchen sich im Gehen, Nimmt ein Blättchen mit. Hat mit Ähren sich das Mieder Unschuldig geschmückt, Sich den Hut verlegen nieder In die Stirn gedrückt. Finster kommt sie langsam näher, Färbt sich rot wie Mohn, Doch ich bin ein feiner Späher, Kenn die Schelmin schon. Noch ein Blick in Weg und Weite, Ruhig liegt die Welt, Und es hat an ihre Seite Mich der Sturm gesellt. Zwischen Roggenfeld und Hecken Führt ein schmaler Gang, Süsses, seliges Verstecken Einen Sommer lang. Festtag! Heut ist ein Festtag, Ellen, ein Freudentag! Weisst du? Den ersten Kuss Raubt' ich dir heut. Ach, warst du böse, Als es — geschehen war; Riebst dir die Lippen wund, Weintest beinah! Sage doch, Ellen: Hast dich doch kaum gewehrt, Als ich dein Köpfchen nahm — Hast mich wohl lieb? Versunken Plätschernd strömt der Regen nieder, Unterm Schirme wandeln wir — Du schaust mich an, ich schau wieder Selig froh ins Auge dir. Ziehen so auf unsern Wegen Still und glücklich, wie bethört, Merkten nicht, dass schon der Regen Lange, lange aufgehört. Mädchenlied Gestern, Mädchen, ward ich weise, Gestern ward ich siebzehn Jahr: — Und dem greulichsten der Greise Gleich' ich nun — doch nicht aufs Haar! Gestern kam mir ein Gedanke — Ein Gedanke? Spott und Hohn! Kam euch jemals ein Gedanke? Ein Gefühlchen eher schon! Selten, dass ein Weib zu denken Wagt, denn alte Weisheit spricht: „Folgen soll das Weib, nicht lenken: Denkt sie, nun dann folgt sie nicht.“ Was sie noch sagt, glaubt' ich nimmer; Wie ein Floh, so springts, so stichts! „Selten denkt das Frauenzimmer, Denkt es aber, taugt es nichts!“ Alter hergebrachter Weisheit Meine schönste Reverenz! Hört jetzt meiner neuen Weisheit Allerneuste Quintessenz! Gestern sprachs in mir, wies immer In mir sprach: nun hört mich an: „Schöner ist das Frauenzimmer, Interessanter ist — der Mann!“ Die müde schon verglühte...... Die müde schon verglühte, Die leise schon verklang, Jach ist sie wieder aufgeflammt In jauchzendem Gesang! Wie Cymbelton, wie Lautenschlag Ward meine Liebe wieder wach, Die müde schon verglühte, Die leise schon verklang..... Und heller tönt ihr Rauschen, Wie junger Frühlingswind, Wenn er im heissen Schöpferdrang Die Welt dem Licht gewinnt! Und das Profetenwort erlässt, Dass nun der Menschheit Osterfest — Ja, heller tönt ihr Rauschen, Wie junger Frühlingswind! Und wie durch Nebelschleier Die Sonne siegreich bricht, Der jungen Flur ein goldnes Band Ums Lockenantlitz flicht: So überglänzt mit Purpurschein Die Liebe nun mein ganzes Sein, Giesst goldne Feuer nieder Und wirbt um neue Lieder..... Und nah' und ferne quellen Blitzende Wellen empor An meinem Lebenshorizont Aus Dunst und Wolkenflor! Gedanken, die mir nie genaht, Und Pfade, die ich nie betrat, Entsteigen verborgenen Gründen Heilige Kraft zu entzünden! Die leise schon verklungen, Die müde schon verglüht: Wild ist sie wieder aufgeflammt, Im Lenzsturm stark erblüht! Und lag ich wieder staubbedeckt, So hab' ich mich nun aufgereckt, Und die Gedanken schweifen Im grossen Weltbegreifen! Bitte Nur: sage „Du“.... ich will ja nie, Nie wieder deine Lippen küssen, Nun wirs gefühlt, so Knie an Knie Gefühlt, dass wir uns lieben müssen. Das Abendrot umfing so brennend Der Eichen hohe Knospenkette; Wir aber sahen nur, uns trennend, Die schwarzen, ragenden Skelette. Und nickten doch von vielen Bäumen Schon Blüten unsrer Liebe zu Und erstes, keusches Grün; so träumen So nicken Kinder.... sage „Du“. Ein Rauschen nur Ein Rauschen nur.... wir liebten uns schon lang, Da sankst du in der Sehnsucht Überschwang An meine Brust; ich wollte küssen dich — Ein Rauschen ging — da flohen du und ich. Der Zufall trieb uns auseinander weit, Wir sahn uns wieder erst nach langer Zeit; Wollt wieder küssen dich — da sprachst du kalt Von strenger Sittenreinheit Allgewalt. O schöne Trügerin! gedenkst du noch An jene Zeit zurück....? was war es doch, Das dir gehemmt das Drängen der Natur? Wars Sittenreinheit? — Nein! — ein Rauschen nur .... Fragment Wir gehen so stumm nebeinander Und haben das Herz doch so voll..... Süss duftet der Oleander Aus deiner Locken Geroll..... Mit ihren schwellenden Armen Klammert die Leidenschaft Sich mir um die Brust..... sie packt mich Mit wilder, dämonischer Kraft..... Ich möchte dich an mich reissen, Dich überströmen mit Glut — Schwelgen in deinen weissen Armen und rauschende Flut Süssbetäubender Minne Schlürfen aus blitzendem Krug..... Und mit seligem Sinne Feiern den süssen Trug....... Feil hat sie Rettig und Rapunzel Feil hat sie Rettig und Rapunzel, Das alte Weib, ich seh' ihr zu, Ich sehe unter ihren Runzeln Die Schönheit, sie war schön wie du. Die Alte bläst ins Kohlenbecken, Es sprühn die Funken, und sie lacht: Die kleinen Flammengeister wecken Erinnrung mancher Liebesnacht. Sie seufzt, ihr rotes Aug wird trüber, Es zittern ihre alten Knie — O Klara, gehn wir rasch vorüber, Sonst denk' ich: Du wirst einst wie sie. Lore Ins Philisterium werd' ich eingeschifft Als Material für künftige Schwiegerväter, Und meid' ich nicht die Poesie wie Gift, So ernt' ich ein Familiengezeter. O Lore! Kind! — Es rauschen die Pandekten — Und du in deiner Sophaecke lachst? O Gott, wenn sie zuhause das entdeckten! Kind, sei doch ernst! Du weisst nicht, was du machst! Fühlst du denn nicht den tiefen Ernst der Lage? Des Lebens Pflichten, Lebens Jus und Muss? — Dass ich mit frischer Kraft ans Werk mich wage, Gieb mir — dann aber still! — noch einen Kuss. Therese hatte Besuch zu empfangen: Therese hatte Besuch zu empfangen: Wir blieben allein mit wonnigem Bangen, Ich war so schüchtern, Elise noch mehr, Wir sprachen kein Wort, wir atmeten schwer. Ich rückte zum Fenster zwei Sammetstühle, Dumpf dröhnte von unten das Strassengewühle, Ich schlug die schweren Gardinen zurück, Wir warfen zerstreut in die Ferne den Blick. Dort lag im reinen Morgenglanz Der silbernen Alpen jungfräulicher Kranz, Es webt um die schweigenden schneeigen Firnen Wie Trauer webt um Menschenstirnen. Darunter blühend ausgespannt Als üppiger Teppich das grünende Land, Zu Füssen uns brauste lustschäumend die Aar, Wir wurden von alledem nichts gewahr. Die lachende, trauernde, schöne Welt Mit Eis und Blumen, mit Wald und Feld, In deinem Blicke liegt sie ja auch: Ich küsse die Welt, ich küsse dein Aug! Ach welch Erröten, Zürnen, Sträuben! Mein Auge flehte dich, zu bleiben, Mit bittenden Händen hielt ich dich fest, Da hast du mich an dein Herz gepresst. Von deinen Armen mein Haupt umschlossen, An deinen Busen hingegossen, Da schwur ich dir zitternd, immer aufs neue, Ewige Liebe, ewige Treue. Jugendliebe Zuweilen dünkt es mich, als hört' Ich eures Hofhunds heiseres Gebelle, Den ich so oft des Nachts aus seinem Schlaf gestört, Wenn ich durchs tauige Gras zur wohlbekannten Stelle Mich schlich, vom süssen Wahn bethört. Wie trieb im Pappelbaum der Wind sein Spiel, Dass Blatt um Blatt gespenstisch rauschte, Wenn ich empor zu deinem Fenster lauschte, Aus dem das Lispelwort der Liebe fiel! Wir lachten, seufzten, lachten wieder; Ein Blumenstrauss, den du am Tag gepflückt, Ein Handschuh, drauf du einen Kuss gedrückt, Flog unversehens in den Kies hernieder. Nach oben schaut' ich unverrückt, Und doch.... ich sah dich nicht, undeutlich nur Hob sich das weisse Nachtkleid aus dem Dunkeln, Derweil hoch überm Dach durch der Augustnacht Funkeln Ein Wetterleuchten um das andre fuhr, — Just wie geheimstes Sehnen sich verrät, Aufblitzt und schweigt und wiederkommt und geht. Wer bringt uns nun in ferner Einsamkeit Ein Stündlein nur zurück aus jener schönen Zeit? Mir ist es just, als seist auch du erwacht, Und sähst hinab zum Garten in die Nacht. Der Hofhund bellt. — Warum? Es regt sich nichts — Nur übers lange Gras im Glanz des Mondenlichts Schwebt elfenhaft vom Säuselwind getragen Ein Traum von Lieb und Glück aus halbverschollnen Tagen. Weil ich nur lächelnd dich gesehn Weil ich nur lächelnd dich gesehn — Glaubst du — ich sehe nie dich weinen? Für jemand, der dich liebt wie ich — Kannst du nur sein — kannst du nicht scheinen. Ich weiss ja, wenn der Abend kommt Und Ruhe wandert durch die Strassen, Lehnst du die Stirn ans Fensterkreuz Und birgst der Mutter dein Erblassen. Ich weiss, dass, wenn du ganz allein, Die Schmerzenslinien sich vertiefen — Mir ist, ich hörte jüngst dich schrein Vor Seelenqual, als alle schliefen. O wende dich nicht zürnend ab — Geh nicht hinweg in Zorn und Spott — Was kann die Liebe denn dafür, Dass sie allwissend ist wie Gott? In den Alpen Ich bin allein..... Die Alpen gähnen Mich an aus trübem Nebelgrau.... Könnt' ich mein Haupt noch einmal lehnen An deinen Busen, schöne Frau! Es braust der Wind, es rauscht die Welle..... Ich aber hab nicht Rast noch Ruh, Es sprudelt meines Lebens Quelle Dem Meere deiner Liebe zu. Wann, wo und wie? Wann du kommst an deiner Wünsche Ziel? Wann und wo und wie? Du fragst gar viel! Ists denn übers Jahr nicht früh genug? Sind zwölf Monde doch dahin im Flug! Wo? — Jenun, wär' ich ein Fels, ein Baum, Sagt' ich: Hier in diesem selben Raum, Doch, ich lob mir die Beweglichkeit, Also: such mich, sind wir erst so weit. Wie ans Ziel du endlich dann gelangst? Ei, ists Ernst, dass Auskunft du verlangst? Nicht durchs Fenster nachts, — am hellen Tag Durch die Thür. Jetzt richte dich danach. Freilich, wenn ich alles recht erwäg, — Sagt' ich: übers Jahr? — die Zeit ist träg. Kennst den Schlupfweg wohl durchs kleinre Thor? Frag' im Dämmern doch noch einmal vor. Mein Ideal Wo ist die Frau, die meine Seele sucht? Das Herz voll Liebe für die Unterdrückten, Das Herz voll Mitleid mit den Notgebückten, Wo ist die Frau, die meine Seele sucht? Die ihre Schwestern in der Tiefe kennt, Die das verlorne Volk des Elends schaute, Der vor dem Jammer dieser Menschen graute, Die ihre Schwestern in der Tiefe kennt. Der selbst im Busen edle Schönheit glüht, Gebildet in des warmen Glückes Milde, Die tief die Welt sich sehnt zum Ebenbilde, Der selbst im Busen ewge Schönheit glüht. Wenn eine wäre so an Liebe reich Für alle, die den Weg der Leiden wandern, Sie wollt' ich wählen mir vor allen andern — Wenn eine wäre so an Liebe reich. Venus Madonna Aus Mannesadel wachst des Weibes Tugend; Er träumt ein Ziel, sie soll es ihm gebären. Des Griechen Schönheitsinbrunst sah die Sphären Beherrscht von Aphroditens Reiz und Jugend; Dem Christen aber ward die Reinheit Wesen, Selbst noch die Mutter will er sich verklären Und beugt sich vor Marias Hochaltären, Die keusch des Sohns, des keuscheren, genesen. Wann kommt die Zeit, dass Männer freier denken Und ihre eigne Welt von Gottessöhnen Hell mit dem Huldbild ihrer Freiheit krönen, Bis alle allen die Erlösung schenken, Die wir uns schenkten, meine Magd und Sonne, Du keusche Venus, reizende Madonne! Laub am Boden Laub am Boden, Laub am Boden Gelb und rot und braun, Dorn und Hagebutt' am Strauche, Leere Nester im Zaun! Sommerende.... Spätoktober — Und ich glaub' es nun doch, Dass wir längst Abschied genommen, Eh Dezember es noch! Sturm am Himmel, ..... Schneegestöber — Frost im Herzen und Hohn! Wie so schön es einst gewesen, O! du bereusts ja schon! Laub am Boden, Laub am Boden Gelb und rot und braun..... Und der nächste Windstoss kehrt es Lachend hinter den Zaun! Das Mädchen von Rekko Dort stand die herrliche Gestalt am Strand; Dem Schleier gleich, der Land und Meer umwob, War der Bizotto, der sie leicht umwand, Ein Duftgewand, Das kecken Spiels die Tramontana hob. Hinzog ein Schiff. Ein Jüngling stand am Mast. Er jubelte und schaute kaum zurück; Es schien, als fühlt' er sich erleichtert fast Von einer Last, Als dächt' er einzig an ein künftig Glück. Sie aber wandte hastig sich, sie kam; Welch schlanker, welch harmonisch schöner Leib! Auf ihrem Antlitz mischten wundersam Sich Zorn und Scham, Halb war sie Kind noch, halb ein blühend Weib. Fern trieb sein Schiff. Vor seinem Auge stand Die reiche Welt, ein täuschend Farbenspiel, Indes hier eine Perl' aus seiner Hand Ihm in den Sand, Vielleicht die einzge seines Lebens, fiel. Es dunkelte; — die Brandung jauchzte wild, Am fremden Strande schritt ich sinnend hin; Mein trotzger Sinn ward weich gestimmt und mild Von diesem Bild; Mir wars, ich säh mein eigen Leben drin. Anna Die Drossel ruft vom Lindenbaum, Die Sonne steigt herauf mit Lust, Lass einmal noch mein blasses Haupt Sich lehnen müd' an deine Brust. Noch einmal lass mich deine Hand Inbrünstig küssen heiss und schwer, — Nicht deinen Mund — nicht deinen Mund! Ich liesse dich sonst nimmermehr. Maimorgenwind lacht heimlich leis Und raunt im grünenden Spalier, Doch wenn der Abend niederfällt, Dann bist du, Heinrich, nicht mehr hier! Nein, nein, dein Mund und Auge lügt: Es weiss dein Herz so gut wie ich, Und wenn du einst auch heimwärts kehrst, Nie wieder schaut mein Auge dich. Sonst logst du nie, ich weiss es wohl, Sprachst niemals von dem goldnen Ring, Du, Heinrich, bist so klug und ich Ein arm unwissend hässlich Ding. Ich wusst' es wohl, ich würde nie Dir dienen treu und still als Frau, — Denn deine Hand ist weich und zart, Und meine ganz von Arbeit rauh. Ich weiss es wohl, wie du dich stolz Verzehrst nach Ruhm und Sonnenschein, — Und in der Reichen helles Schloss, Ich Arme, darf nicht mit hinein! Die Drossel ruft vom Lindenbaum, Die Sonne kommt herauf mit Lust, Lass einmal noch mein blasses Haupt Sich lehnen müd' an deine Brust. Weh, meinen Busen presst und sprengts, Ein Feuer lodert schwül und heiss, Und unter meinem Herzen quillt Und regt es sich und atmet leis. Und fällt hernieder jene Nacht, Und lieg' ich blass und leidenswund, Dann, Heinrich, bist du fern und küsst, — Ach küsst wohl einen schönren Mund. Nun lacht heimlich Maimorgenwind Und raunt im grünenden Spalier, Und wenn der Abend niederfällt, Dann bist du, Heinrich, nicht mehr hier. Und bist du fern, ich will ja nicht, Dass Thränen du um mich vergiesst, Doch denk daran, wie heiss um dich Aus meinem Aug die Thräne fliesst.... O denk zuweilen, wie mich Not Und Unglück packt so rauh und hart, Vergiss es nicht, dass ich aus Liebe Zu dir so sehr unglücklich ward. Und was ich wollte, Lieber du? Ich wollte nur, sei nicht betrübt, Du hast nicht Schuld, ich segne dich, Ich hab dich ja so sehr geliebt! Ich segne dich für jedes Wort, Für jeden Kuss von deinem Mund, Und treff dich nie so harter Schmerz Und furche deine Seele wund! Die Sonne steigt, die Sonne glüht.... Still, armes Herz, die Glocke schlägt, Der Wagen rollt, der Wagen rollt, Der dich auf ewig von mir trägt. Noch einmal lass mich deine Hand Inbrünstig küssen heiss und schwer, Nicht deinen Mund! Nicht deinen Mund! Ich liesse sonst dich nimmermehr. Reue Schwer die Brust von Reu' und Herzeleide: Zieht ein Knabe durch die grüne Haide. „Sonne, lichte Sonne,“ spricht er flehend, „Alles wissend bist du, alles sehend; Gieb mir Kunde von der Magd, der blassen, Die ich einst am Quell im Wald verlassen.“ Sonne spricht: „Ich sah auf meinem Gange Manch verlassnes Weib mit bleicher Wange, Aber die du liessest grambeladen, Sah ich nicht von meinen lichten Pfaden.“ Als der Mond erscheint zur Abendstunde, Fragt der Knabe auch den Mond um Kunde: „Sahst du nicht von deiner Himmelshöhe Jene Eine, die ich liess im Wehe?“ Spricht der Mond: „Wohl sah ich manches arme Weib gequält von übergrossem Harme, Aber jene, die du einst betrogen, Sah ich nicht von meinem Himmelsbogen.“ Leis im Grase flüstern zwei Narzissen: „Weder Mond noch Sonne kann es wissen, Wo sein blasses Liebchen ist zu finden, Doch wir Blumen könntens wohl ihm künden, Die wir in der Erde uns verbergen, Bis der Lenz uns weckt aus unsren Särgen.“ Neue Bahnen Nun ists entschieden, und zurückgewonnen Hast du dich selbst und hast der Lüge Band, Das fest dein wahrheitstrunknes Herz umsponnen, Zertrennt, wenn auch gezittert deine Hand. Mit stolzem Mut willst du dein Schicksal tragen, Dem Dienst der reinen Menschlichkeit dich weihn Und willst des Weibes höchstem Glück entsagen — Hast du die Kraft, dir selber treu zu sein? Wohl ist ein schönres Sein dir nun beschieden, Beglückend wallst du durch das Leben hin Und heilest Wunden, giebst dem Herzen Frieden Und bist den Armen eine Priesterin. Wenn aber einst der Wunsch nach einem Kinde Die Seele dir mit heilger Sehnsuchtspein Verzehrt, gleich einem flammenträchtgen Winde — Hast du die Kraft, dir selber treu zu sein? Und doch — ich weiss, du kannst dir selbst genügen. Ob auch die Menschen, deren Leid du bannst, Dich schnöd verkennen und dein Herz betrügen, Du bist beglückt, wenn du beglücken kannst. Dein Herz, geschwellt vom Hauch mildthätger Liebe, Dein hoher Sinn, den nie gelockt der Schein, Der stets gehasst der Sinne wirre Triebe — Er giebt dir Kraft, dir selber treu zu sein. So folge deinem Stern auf seinen Wegen, Der hehr dich lockt, an andrer Glück zu baun! Der Selbstbeglückung wundersamer Segen Wird auf dein Walten reich herniedertaun. Und dann erkennst du, wie du hättst gelitten In einem liebeleeren, toten Sein, Wenn das verhasste Band du nicht zerschnitten — Und hast die Kraft, dir selber treu zu sein. Der Maibaum Wir liebten uns. Ich sass an deinem Lager Und sah auf deinen todesmatten Mund. Dein Auge suchte mich, ein blasser Frager: Hörst du den Sensenschnitt im Wiesengrund? Um Pfingsten ists. Die Stadt war ausgeflogen In hellen Kleidern und im Frühlingshut, Wir waren um den schönsten Tag betrogen, O Tag, sei gnädig ihrer Fieberglut! Zu deinem Haupte bog, zu deinen Füssen Bog sich ein grünes Birkenbäumchen vor, Sie sollten dich vom heiligen Leben grüssen, Ein letzter Gruss dir sein am schwarzen Thor. Ich hatte gestern sie für dich geschnitten, An einer Stelle, die dir wohlbekannt, Zu der wir ausgelassen oft geschritten, An der wir oft gesessen Hand in Hand. An jenem Ort steht eine alte Weide, Vor Neid und Sonne unsre Schützerin, Da ist es still, und über all die Haide, Am Ginster zittert die Libelle hin. Ein Wasser schwatzt sich selig durchs Gelände, Ein reifer Roggenstrich schliesst ab nach Süd, Da stützt Natur die Stirne in die Hände Und ruht sich aus, von ihrer Arbeit müd. Weisst du den Abend noch, wir sassen lange, Ein nahendes Gewitter hielt uns fest An unsrem Weidenbusch, du fragtest bange, Es klang so zag: Und wenn du mich verlässt? Sieh zu mir auf, beschirmt von Birkenzweigen, Ich war dir treu, wir haben uns geglaubt. Aus Wüsten zieht auf Wolken her das Schweigen, Die Sense sirrt, und sterbend sinkt dein Haupt. Wenn sich zwei Liebste raufen.... Wenn sich zwei Liebste raufen, Ruft nicht die Polizei, Denn eh sie kommt gelaufen, Ist aller Zank vorbei. Und wollet sie nicht scheiden, Und stürzet nicht ins Haus, Sonst werfen euch die beiden Versöhnt zur Thür hinaus. Kein Mäschchen.... Kein Mäschchen darf gesponnen sein Im Liebesnetz vom Faden Pflicht: Die Liebe will gewonnen sein, Geschuldet ists die rechte nicht. Beruf und Pflichten.... Beruf und Pflichten Erwäge bedächtig. Die Lieb' ist mit nichten Zum Glück allmächtig. Mutter und Kind Zu ihrem Kind, zur jungen Gattin, spricht Die Mutter: „Kind, blick mir ins Angesicht; Kind, sag — um meiner Ruhe willen sag — Ist glücklich deines jungen Lebens Tag? Ich weiss, du hast es anders einst gewollt, Als gut dir war, als wahrlich du gesollt; Ich weiss, dein Herz besass zu jener Frist Derselbe nicht, der jetzt dein Gatte ist; Doch sag mir — oft mahnt es mich schwer — Du hast nach jenem keinerlei Begehr? Du liebst den Mann, den ich für dich erwählt — ? S' giebt keine Sehnsucht, keine, die dich quält — ? Du dankst es mir, dass ich zerriss den Bund, Der deinem Glücke nur im Wege stund — ?“ Ihr Kind, die junge Gattin, wendet voll Zu ihr das Aug' und spricht ganz ohne Groll: „Lass, Mutter, deine Frag'; es ist noch Zeit — Vor Gott bin ich zur Antwort dir bereit.“ Idyll Ein breites Bett an nackter Wand, Ein Tisch, ein Schrank, zwei Stühle; Und seidnes Flickwerk, Lappen und Tand Auf Fenstersims und Diele. Gebeugt über Schere und Nadelzeug Mit sinkenden müden Wimpern, So lässt sie ruhlos, fröstelnd, bleich, Die Nähmaschine klimpern. Da tritt er ein. Das Antlitz fahl, Von Arbeit aufgerieben: Er zahlt mit Not, mit Blut und Qual Für nacktes Leben und Lieben. Sie springt empor und sieht ihn an, Halb Wonne, halb Erschrecken; Was sie doch nimmer verbergen kann, Will sie ihm flüsternd entdecken. „Ich werde Mutter“.... und atemlos Horcht sie: was mag er sagen? Wird ihm die Bürde allzu gross, Wird er es, kann er es tragen? Da fasst er sie an.... sie fühlt seinen Kuss Auf fröstelnde Lippen beben, Als segnete ein verzweifelter Gruss Ein keimendes Menschenleben. Ein Erinnern In meinen Wimpern standen Thränen, Als ich heut morgen bin erwacht, Und ein unendlich schweres Sehnen Hat mir der lange Tag gebracht. Ich hörte deine Stimme wieder, Auf meiner Stirn lag deine Hand, Und Leid und Kummer sanken nieder, Als deiner Worte Trost ich fand: Kann jede Stunde Ernte bringen? Geh' in den Wald, nimm Männe mit, Nie soll die Not uns ganz bezwingen, Mut! Frisch ins Feld mit raschem Schritt! Indessen stehe ich am Herde Und passe auf dein Leibgericht, Und denk' an mich, dass stille werde Dein Gram, wenn deine Liebe spricht. Und ich ging fort auf meine Haide, Brach einen Zweig vom Weissdorn ab, Mein Hund bringt auf der magern Weide Zwei Kätnerschafe auf den Trab. Hierher, wirst du! das ist verboten, Wart, Schlingel, kommst du gleich hierher! Und schon mit seinen krummen Pfoten Wühlt emsig er den Sandberg leer. Die Wasserlilie glüht im Graben, Die Sonne zögert aus der Welt, Dicht über mir zieht ein Volk Raben, So dicht, dass mir's ins Auge fällt, Wie letzter Abend ihre Flügel Von unten schillernd überglänzt; Ein Wolkenrot brennt um den Hügel Und hält mit Rosen ihn umkränzt. Und eine Ruhe kommt gezogen, Mein Herz schlägt seinen alten Schlag, Die Unglücksvögel sind verflogen, Mir ahnt ein neuer Thatentag. Da bück' ich mich, und pflück' im Schreiten Aus Feld und Knick mir einen Strauss Und trag ihn, voll von Seligkeiten, Der Liebsten heissen Danks ins Haus. Mein Sterben Ich weiss, wie meine letzte Nacht verblaut. Im Frühling wird es sein zur Vollmondszeit, Wenn alle Wälder hochzeitsjubellaut. Ich sehe mich. Mein weisses Pilgerkleid Umschliesst zum letzten Mal die müde Hülle, Die Locken rieseln nieder haftbefreit Und schmeicheln mir in ihrer dunklen Fülle. Auf sammtnem Sessel ruh' ich hingesunken, Die küssefrohen Lippen glutenmatt, Die Augen wimpernträg und traumestrunken, Das hungergierige Herz gespeist und satt. Ich weiss, wie meine letzte Nacht verblaut. In hoher Kammer sitzt ein junger Dichter, Der träumend in die Vollmondswellen schaut, Und mit der Seele trinkt die weissen Lichter. Er sucht ein Wort, den saitenweichen Reim Auf einen Namen.... Plötzlich lächelt er, Und meine Seele flattert freudig heim. — — — — — — — — — — Ich weiss, wie meine letzte Nacht verblaut. Letzter Wunsch Dass deine Hand auf meiner Stirne liegt, Wenn mich das Sterben in der Wiege wiegt, Die leis hinüber ins Vergessen schaukelt, Von schwarzen Schmetterlingen schwer umgaukelt, Ein letzter Blick in deine braunen Sonnen: Vorüber strömen alle unsre Wonnen In einer bittersüssen Letztsekunde; Ein letzter Kuss von deinem warmen Munde, Ein letztes Wort von dir, so liebeweich: Dann hab' ich, eh' ich tot, das Himmelreich, Und tauche selig in den grossen Frieden: Der Erde holdestes war mir beschieden. Die letzte Frage Im Sterben liegt sie — auf den fahlen Lippen, Die kaum gelernt, am Freudenkelch zu nippen, Ein sanftes Lächeln, draus der Friede spricht. Es schimmert feucht in ihren Augensternen Verklärter Abglanz aus geweihten Fernen, Des Todes Hauch vergeistigt ihr Gesicht. Sie schaut mich an, den letzten Lebensfunken Bewusst vergeudend, heiss und wonnetrunken, Wie sie's im kurzen Rausch des Glücks gethan. Ich neige mich, tief traurig, ohne Klage, Da plötzlich schauert mir ins Ohr die Frage: „Ist nicht das Leben nach dem Tod ein Wahn?!“ Ich fahr' empor, die Seele schmerzzerrissen, Da richtet sie sich auf in ihren Kissen: „Die Wahrheit sprich: Giebt es ein Wiedersehn?“ Sie rüttelt mich mit krampfgeschlossnen Händen. „Du sollst dich nicht durch eine Lüge schänden.... Sprichs freudig aus — und freudig will ich gehn!“ Weh! mit mir selber ring' ich nun vergebens..... „Ich glaube an den Tod des Einzellebens, Doch webt sein Wesen stets im Ganzen fort.“ — Sie sinkt zurück — ein Lächeln auf den Lippen, Die kaum gelernt, am Freudenkelch zu nippen, Und ein vom Tod gebanntes Segenswort. Zeitgedanken Maschinenlärm.... einförmig dumpfes Dröhnen, Dabei die Habgier träumt, die dunkle Pein, Das Ohr geneigt dem immer einen Tönen: Gold — und die grosse, weite Welt ist mein! Die Rader rollen und die Essen lohen, Vertausendfacht regt sich die Menschenkraft, Und die da beten, beten zu der hohen, Der allgewaltgen Wissenschaft. Sie hat dem Himmel seinen Gott entrungen Und jene dunklen Räume kühn erhellt, Hat triumfierend seinen Thron erschwungen, Mit ihren Wundern überhäuft die Welt. Doch wie, den heissen Fieberdurst zu stillen, Sie voller strömt die reiche Gnadenflut, Tost neuer Kampf, und neue Thränen quillen Und höher lodert neue Glut. Denn wie ein Feeenreich in grauen Weiten Schaun trunken sie ein höchstes Erdenglück; Das wolkenlose mutig zu erstreiten, Halt keine Macht die Rasenden zurück. Allein es ist Morganas schöne Lüge, Umsonst die Jagd, umsonst die wilde Glut.... Sieh, wie im Schoss der Einfalt und Genüge Das Heissbegehrte lächelnd ruht! Beherzigung Nur wirken und nicht denken: Fort alles, was uns quält! Musst selbst den Wert dir schenken, Den dir das All verhehlt — Im Kampfe wacker liegen, Nicht hinterm Ofen faul! Gebratne Tauben fliegen Dem Troddel nur ins Maul. Lass Träumern und Schlaraffen Den Philosophendunst — Selbst eine Welt zu schaffen, Das ist die echte Kunst! Wir brauchen keinen Retter, Der unsre Ketten bricht: Sind wir erst selber Götter, Brauchen den Gott wir nicht! Und drangen wir als Meister In feurigem Bemühn Zum schaffenden Geist der Geister Empor gigantenkühn, Dann grüsst er seine Riesen Mit doppelter Lieb und Lust, Weil er den Weg nicht gewiesen: Weil wir ihn selbst gewusst! Die Jünger der Zeit Was steht ihr staunend und verwundert, Dass auch den schönheitsfrohen Geist Das vielgeschäftige Jahrhundert In seine Taumelbahnen reisst? Ob wir die Eisenrosse zügeln, Den Funken im Metall beflügeln, Ob rüstig schaffend unsre Hand Als Brücke zwischen Nationen, Ob sie sich nah, ob ferne wohnen, Das Netz des Handels webt und spannt — Ob wir mit Meissel oder Feder Die Arbeit thun — es schafft ein jeder Das was er soll, das was er kann! In jedem lebt ein hohes Streben: Dem Geist der Zeit sich hinzugeben Mit ganzer Kraft, ein ganzer Mann! Uns ruft die Zeit mit ernstem Munde: Den Kampf des Lebens meidet nicht! Gebietrisch mahnt uns jede Stunde Ans heilige Gebot der Pflicht . Zertrümmert ruhn die Götterbilder; Der Glaube starb, ein neuer wilder Gesang umbraust das Ohr der Zeit: Nicht frommes Ahnen, gläubges Wähnen, Nicht Mönchsgebet und Martyrthränen, Die Arbeit ists, die euch befreit! Die Menschheit ringt mit tausend Qualen; Sie lechzt, bedeckt mit Wundenmalen, Nach Lösung aus der langen Haft. Nennt ihr ein Jammerthal die Erde, So sorget, dass es besser werde Durch eurer eignen Hände Kraft! Die Zeit ist hin, da auf die Erde Aus heitren Höhn der Dichter sah; Jetzt trägt auch er des Kampfs Beschwerde Im grossen Welt-Olympia. Wohl webt in seinen Zaubertönen Noch jetzt das Reich des Ewig-Schönen, Doch in den Wolken wohnt es nicht; Der Zeit Akkorde festzuhalten, Und, was er hörte, zu gestalten, Und auf dem Pfad zum ewgen Licht Der Völker Seelen hinzuleiten, Erregt er jetzt den Sturm der Saiten Und was er singt, er hats gelebt . Er stritt ihn mit, den Streit der Helden; Drum darf er auch den Brüdern melden Was über Streit und Leid erhebt . So werfen wir mit starken Armen Uns in den Strudel kühn hinein. Uns treibt die Pflicht und das Erbarmen, Und jeder Mann soll Kämpfer sein. Wohl mag es tausend Jahre dauern, Bis auf den umgestürzten Mauern Der Selbstsucht und der Heuchelei Die neuen Tempel sich erheben, Umfassend alles Menschenleben; Drum strömt zum Kampfe all herbei: Ist jedes Herz auch nur ein Funken, Und jeder Geist, von Hoffnung trunken, Ein Tropfen nur im Ozean — Doch geht der hohe Ruf an alle: Treu kämpfe, siege oder falle Auf Ewgem zugekehrter Bahn! Dann..... Wenn aus der langen, finstren Glaubensnacht Mit ihren fürchterlichen Schreckensthaten Die Menschheit endlich zur Vernunft erwacht, Empfänglich für des freien Geistes Saaten; Wenn die Erkenntnis jedes Herz durchglüht, Dass nicht aus eines Himmels Truggestalten, Nicht aus der Lüge Samen Glück erblüht, Aus Händeregen — nicht aus Händefalten; Wenn niemand mehr nach einem Jenseits spannt, Im Wahne, dort die Sorgen zu verwinden; Wenn jeder frohen Mutes sich ermannt, Im Dienst des Ganzen sich zurecht zu finden; Dann wird im Kreis von Werden und Vergehn Nicht einer mehr die höchste Pflicht versäumen, Dann wird die Menschheit auf der Höhe stehn, Von der die besten ihrer Geister träumen. Religion der Liebe Schaffe, gewaltige Liebe, Söhne und Töchter Als Vater und Mütter Der edleren Menschheit, Als Ahnen der Kinder Fürs neue Walhalla! Durch die Liebe, Die Menschen zeugt, Befreit sich die Menschheit. Diese Lehre Wird deine Lehre Zertrümmern, Nazarener! Das neue Jerusalem Kommt nicht vom Himmel; Es wird gebaut Aus ungezählten Leibern Gewaltiger Menschen, Mit Schweiss verkittet, Und darin soll wohnen Der Liebe Geschlecht. Noch Jahrtausende vielleicht Wird der Kampf der Gedanken brennen, Eh dass ein Walhalla steigt, Das noch kann kein Mensch erkennen, Eh der Geist sich ausgesöhnt Mit dem Leibe, mit der Erde Und in reiner Wahrheit tönt: Frieden, Frieden auf der Erde! Ewige Wahrheit Vor Zeiten — es ist lange her, Hiess blau das Blut und rot das Meer Und schwarz der Schnee und weiss das Gras; Doch mit der Zeit verlor sich das: Das Blut hiess weiss und rot der Schnee Und blau das Gras und schwarz die See, Und heute sagen wir wohlgemut: Blau ist das Meer und rot das Blut; Doch regelmässig steinigte man Den Kerl, der die neue Auffassung begann. Ich kanns mir heute nicht versagen, Ich will mein Leben auch mal wagen; Ich sags euch Leuten ins Gesicht: Die Wahrheit wisst ihr alle nicht. Das Meer ist weiss, der Schnee ist blau Und grün das Blut und rot die Au, Und wird Jan Hagel dasselbe meinen, Thäts wieder not, es zu verneinen, Und euer sacrum palladium Kreist wie ein Wetterhahn ewig um. Kampf heisst das Weltgesetz Kampf heisst das Weltgesetz. Aus ihren Bahnen Einander zerren wollen selbst die Sterne; Denn jeder wirkt in unermessne Ferne, Und seine Zugkraft wirbt um Unterthanen. Die Pflanze kämpft. Sie will die ganze Erde Erobernd überziehn mit ihren Kindern; Doch jede wills und jede hilft verhindern, Dass alles Land zur öden Haide werde. Der Hirsch beweist in tödlichem Gefecht, Dass er der Stärkste sei; dann darf er werben. Des Schwächlings Bildung soll sich nicht vererben, Und schöne Stärke nur ist Daseinsrecht. Es kämpft was lebt, denn Kraft ist Kampfesfrucht; Durch Kampf betreibt Natur das Werk der Zucht. Bist du vielleicht.... Bist du vielleicht, mein Vers, zum Niedertauchen In dunkle Tiefen als ein Lot zu brauchen, Das aus der Nacht vom Urgrund aller Dinge Herauf ans Licht ein haftend Körnlein bringe? Ein Sandkorn schon verrät ja, recht beschaut, Welch Felsgebirg' es weiland mit erbaut, Und Ahnung sieht erneut gen Himmel ragen, Was Luft gemürbt und Flut zu Malm zerschlagen. Zertrümmert scheint, zermalmt zu losem Staube Des Menschenglückes Grundbaufels, der Glaube. Der scharfe Blick der Forschung der Natur Bekennt sich blind für eine Gottesspur. Doch ob auch sie von Kräften nur und Stoffen Zu reden weiss, — ein Sehnen und ein Hoffen In unsrer Brust wird ewig mehr verlangen Und giebt sich nie an ihren Spruch gefangen. Wer hat nun recht? Die strenge Richterin, Oder in uns die Gottesdichterin? Erschlossen denn schon Wage und Retorte In Psyches Heiligtum die letzte Pforte? Ist das den Sinnen Unerlängliche Nicht doch in uns das Unvergängliche? Zu schauen drum versuche du, mein Lied, Was Lupe nicht noch Himmelsfernrohr sieht. Wo Finsternis am äussersten Gestade Dem Forscher sagt: hier enden deine Pfade, Will ich getrost versuchen, ob die Schwinge Der Phantasie nicht dennoch weiter dringe. Auch dort noch, wo vor hoffnungsloser Schranke Sich schwindlig fühlt und umkehrt der Gedanke, Ruft laut der Wunsch des Herzens: weiter, weiter! Und zimmert sich im Traum die Himmelsleiter. Und wenn auch ihm die Welt da draussen stumm bleibt, Die Antwort schuldig auf ihr letzt Warum bleibt, — Vielleicht wird drinnen ihm die rechte Spur hell, Und zeigt ihn selbst als Tropfen aus dem Urquell. Dann horcht er auf: nicht mehr nur stumme Fehde Ist die Natur; nun hat sie plötzlich Rede: „Umsonst nach Frieden lechzt in mir der Wille: In deiner Andacht gieb ihm Gottesstille“. Monismus Von Stern zu Stern auf goldnen Brücken Schwebt durch das All der Weltengeist Und um das All im All zu schmücken, Er flammend um sich selber kreist. Von Ewigkeit hat er gewaltet, Doch ewig neu sind Kraft und Glanz; Denn was er schafft, das nie veraltet, Es schwingt sich fort im Zirkeltanz. Nach festen, ewigen Gesetzen Hat er vollführt der Schöpfung Plan, Er selber kann sie nicht verletzen Auf seiner grossen Wandelbahn. Was er zertrümmert, baut er wieder, Nichts hemmt den wundervollen Lauf; Denn was da lebt, das sinket nieder, Doch was da sank, blüht wieder auf. Kein Wesen geht im All verloren: Was war und ist, lebt allezeit; Verwandelt wird es, neu geboren, Und werden wirds in Ewigkeit. Wer? Wer bist du, Der den Schwalbenflug durch die Lüfte leitet, Der im Wolkenzug, der im Winde schreitet? Der im Meere schwillt, im Blitze sprüht, Der im Keime quillt, in der Sonne glüht — Wer bist du? Wer bist du, Der zusammenbewegt die toten Atome, Der sie geregt zu lebendigem Strome? Der das Wundernetz des Lebens spann Und ihm Gesetz und Ordnung ersann — Wer bist du? Was bist du, Der dennoch die Welt seiner Kunsterkenntnis Mit Mängeln entstellt, dass kein Verständnis Die Triebkraft fasst, die ungezähmt In wilder Hast sich wechselnd lähmt — Was bist du? Wer bist du, Der das Menschengemüt vom Staub gehoben, Mit Liebe durchglüht, in Sehnsucht gewoben? Der ihm mit Licht die Stirn erhellt Und ihm die Pflicht zum Halt bestellt — Wer bist du? Wer bist du? Der Leiden ohne Zahl ihr Wirken gestattet, Mit Jammer und Qual das Leben umschattet? Der zum Gebot den Mord verkehrt, Dass sich vom Tod das Leben nährt — Was bist du? Ewige Macht, Du wechselnde Flut, nach unsrem Benennen Grausam und gut — wer will dich erkennen? Ob sie Natur dich heissen, ob Gott, Ein Bekennen ists nur, ein Wort, ein Spott Unserer Blindheit. Richard Wagner I. An Richard Wagner Der du an jeder Fessel krankst, Friedloser, unbefreiter Geist, Siegreicher stets und doch gebundener, Verekelt mehr und mehr, zerschundener, Bis du aus jedem Balsam Gift dir trankst —, Weh! dass auch du am Kreuze niedersankst, Auch du! Auch du — ein Überwundener! Vor diesem Schauspiel steh' ich lang, Gefängnis atmend, Gram und Groll und Gruft, Dazwischen Weihrauchwolken, Kirchenduft, Mir fremd, mir schauerlich und bang. Die Narrenkappe werf' ich tanzend in die Luft, Denn ich entsprang. II. Parsifal — Ist das noch deutsch? — Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen? Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen? Deutsch ist dies Priester-Händespreizen, Dies weihrauchdüftelnde Sinnereizen? Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln, Dies ungewisse Bimbambaumeln? Dies Nonnenäugeln, Aveglockenbimmeln? Dies ganze falsch verzückte Himmelüberhimmeln? — Ist das noch deutsch? — Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: — Denn, was ihr hört, ist Rom, — Roms Glaube ohne Worte! Glauben und Wissen Weil unerquicklich-leer das kurze Leben, Hat sich dem Wahn die Menschheit hingegeben, Es winke ewger Lohn im Himmel dort Den Frommen, die der irdschen Qual entrinnen. „Und zöge man vor uns den Schleier fort — Wir würden an Gewissheit nichts gewinnen.“ Die Priester sagtens, und die Zeiten flohn, Der alte Glaube stieg herab vom Thron; Die Philosophen kündeten das Wort: „Zu ewgem Tode gehen wir von hinnen — Und zöge man vor uns den Schleier fort — Wir würden an Gewissheit nichts gewinnen.“ Im Himmel „Dein Himmel ist ein blauer Irrtum bloss, Ein Ungeheuer, schwarz, erbarmungslos, Der Welten Raum, wo Urgewalten tollen, Durch Todesfrost die Feuerkugeln rollen. Es wird der Stern des Sternes Flammenraub Aufsprühend fliegt der Meteore Staub, In Nebel muss die Sonne dort zerstieben — Und wo bist du mit deinem Traum geblieben! Es zwingt Gesetz die Nadeln zum Krystall, Es zwingt Gesetz die Sonnenheer' im All, Die ewig jung dem Sonnensturz entglühen, Wie Blumen jung aus Blumenmoder blühen. Und spielend so in seinem ewgen Sein Mischt diesen Staub zu immer neuem Schein Ein dunkler Wille, ein verhüllter Sinn — “ So bin ich ja im Himmel mitten drin! Erschlafft im Schlafe kindischen Glaubens.... Erschlafft im Schlafe kindischen Glaubens, hast Du lang genug jetzt, duldendes Volk, geruht. Ermanne dich — und deiner Ketten Rostige Reife, sie müssen brechen! Nicht länger betend winselt in leere Luft, Auf dieser Erde wirkt und erschafft das Heil! Verlacht der Pfaffen schnöde Lüge, Die da vertröstet aufs bessere Jenseits! Fort mit dem Trugbild ewiger Seligkeit, Das aus dem Leben, drin es zu leben galt, Euch thatenlose, freudelose, Lockt in die schweigende Nacht des Todes! Das jüngste Gericht Hoch in Wolken wohnt das Gericht, Laute Trompeten schmettern, Und die Toten steigen ans Licht Aus den Gräbern und Brettern. Ehern fällt der erhabene Spruch Unter Donnerschlägen, Alle Sündigen trifft der Fluch, Alle Guten der Segen. Furchtbar stürzt der Verdammten Chor, Rächende Teufel im Rücken, Und die Beglückten steigen empor, Freude ganz und Entzücken. Gläubig seh' ich das Glück, die Pein, Kann nur den Zweifel nicht meiden: Können die Seligen selig sein, Wenn die drüben so leiden? Zweifel Und sollte dennoch einst ergehen Streng über uns ein Weltgericht, Und müssten schauernd wir gestehen: Es ist ein Gott; wir glaubtens nicht — Und früg der Herr in heilgem Grimme, Von Donner hehr umtönt das Haupt, Des Todes Schrecken in der Stimme: Was hast du nicht an mich geglaubt? — Dann riefe ich, ob auch ein Grauen Die tiefste Seele mir bewegt: Du hast zum kindlichen Vertrauen Den Zweifel mir ins Herz gelegt. Ich sucht' ihn nicht. Mein erstes Denken War rein, verklärt von Gotteslieb. Warum darein den Zweifel senken, Den Tod für jeden frommen Trieb? Wohl fühl' ich stets, was ich verloren, Was ich verlor an deiner Huld. Vernichte mich! Mit mir geboren, Wars mein Geschick, — nicht meine Schuld. Mahnende Stimmen Rufts dich um die Mitte tiefer Nacht Oftmals nicht vom leisen Schlaf empor? Bald ein Ton, der grell im Schmerze lacht, Weinend bald wie ferner Büsserchor? Wie Dämonenlust, wie Märzensturm, Wie zerrissner Glockenklang vom Turm Und dann grässlich wie der Höllenhund, Wimmerts aus der Erde letztem Grund..... Manchmal wie absondres Weinen klingts, Wie ein Kind auf irren Wegen klagt; Und dann wieder fern aus Höhen singts, Wie aus Morgenwolken, eh' es tagt..... Und dann brausts, wie stolzer Ströme Gang, Der vom Tauschnee murrend wächst und schwillt, Und vertönt dann wieder zart und bang, Wie das Harzgetropf aus Stämmen quillt..... Plötzlich auch durchbricht die Mitternacht Wie ein selger Schrei aus Wonnequal, Wie ein Frühgestorbner wohl gelacht Einst, zum letzten und zum hellsten Mal. Das sind Stimmen schöner Leidenschaft, Die nicht schlafen, die nicht schlafen kann — Geister aller unerweckten Kraft, Aller Sehnsucht, die da ringt im Bann. Das ist klagende Begeisterung, Die gebrochen ward in ihrem Schwung. Das ist Liebe, die du nie gesagt, Traum von Küssen, die du nie geküsst, Das ist Sehnsucht, die du nie geklagt, Scheues, zartes Seligkeitsgelüst..... Das sind Thaten, die du nur gewollt, Überkühner Mut, der schnell versaust, Freiheitsdrängen, das den Ketten grollt, Streben, das im Werdedrang verbraust.... Alles was Gedanke blieb und Traum, Und was nie geboren ward zur That, Was nun fragend irrt im Weltenraum, Und zum Leben Brücke sucht und Pfad. — — — — — — Ward es wohl im grossen Sphärensang, Der da mitternachts durch Sterne kreist, Götterweckruf, der uns reuebang Hin zu einst versäumten Thaten reisst? — — — — — — — — — — Draussen quillt aus gütgen Himmeln Tau, Und der Wind streift keimendes Geländ — Und, von allen Höhen nächteblau, Ists, als ob ein Jaspislicht entbrennt..... — — — — — — — — — Alles Leben ist vom Schlaf gesäumt, Und nur kurze Tage bist du wach; — Merk, dass deine Seel' es nicht verträumt, Wenn der Morgen rührt an dein Gemach! — Nach dem Regen Regen hing an Blättern noch und Garben, Als die Sonne stand in Mittagshöhn. „Perlen, die ihr spielt in allen Farben“, Frug ich, „warum funkelt ihr so schön?“ „Weil wir holden Blumen zugeflogen“, Sprachen einge, „nicht dem trüben Kot.“ „Weil wir gestern noch dahingezogen“, Riefen andre stolz, „als Abendrot.“ „Weil der Iris wir zu nahe kamen“, Klang es leis am fernen Horizont, Und zu Füssen mir: „Ich war der Rahmen, Den du Hof nennst, um den Silbermond.“ Eine glänzte matt, schon fast verglommen, Eine glänzte hell, noch im Entstehn; Diese sprach: „Weil wir vom Himmel kommen“, Jene sprach: „Weil wir zum Himmel gehn.“ Spruchartiges I. Der Einsiedler spricht Gedanken haben ? Gut! sie haben mich zum Herrn. Doch sich Gedanken machen , — das verlernt' ich gern! Wer sich Gedanken macht; — den haben sie . Und dienen will ich nun und nie. II. Wer viel einst zu verkünden hat, Schweigt viel in sich hinein. Wer einst den Blitz zu zünden hat, Muss lange — Wolke sein. III. Alle ewigen Quellbronnen Quellen ewig hinan: Gott selbst — hat er je begonnen? Gott selbst — fängt er immer an? IV. So sprach ein Weib voll Schüchternheit Zu mir im Morgenschein: „Bist du schon selig vor Nüchternheit, Wie selig wirst du — trunken sein?“ V. Der Fromme spricht Gott liebt uns, weil er uns erschuf! — „Der Mensch schuf Gott“ — sagt drauf ihr Feinen. Und soll nicht lieben, was er schuf? Solls gar, weil er es schuf, verneinen? Das hinkt, das trägt des Teufels Huf. VI. Wählerischer Geschmack Wenn man frei mich wählen liesse Wählt ich gern ein Plätzchen mir Mitten drin im Paradiese: Gerner noch — vor seiner Thür! VII. Probe des Stolzes Du sagst deinem Stolze viel zu Lobe: Als Herrscher stolz sein ist keine Probe; Doch ob der Stolz gefestigt und echt ist, Das zeigt sich erst, wenn der Stolze ein Knecht ist. VIII. Schonung Immer muss ichs von neuem vernehmen Vom Hüten und Schonen das weichliche Wort! Wenn doch endlich die rauhen Stürme kämen Und fegten, was Schonung not hat, fort! IX. Fortbauen Soll alles, was du hast und bist, verderben? Bleibt nichts von deinem Sein und Sieg zurück? Bau über dich hinaus und lass dem Erben Gesundheit, Stärke, Selbstbeherrschung, Glück. X. Anders gesagt Und willst du deine Leiden nicht vererben, So gieb was stark in dir und schaffend strebt; Du kannst im Leibestode willig sterben, So lang ein Werk, ein Wort nur weiterlebt.