Die Japaner. Wanderungen durch das geistige, soziale und religiöse Leben des japanischen Volkes. Von Carl Munzinger. Berlin. Druck und Verlag von A. Haack. 1898. Die Japaner. Wanderungen durch das geistige, soziale und religiöse Leben des japanischen Volkes. Von Carl Munzinger. Berlin. Druck und Verlag von A. Haack. 1898. Vorwort. Die nachfolgenden „Wanderungen“ wollen dazu beitragen, ein wirkliches Verständnis des japanischen Volkes herbeizu- führen. Das Buch ist ein Versuch, ein Gesamtbild der japanischen Geisteskultur zu zeichnen und das „Yamato- damashii“ d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners auch in seinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe sofort ge- geben ist, so besteht doch kein Grund, vor ihrer Lösung zu- rückzuschrecken. In Ostasien, wo die ganze geistig-sittliche Erziehung seit Jahrtausenden auf die ausgeprägte Heraus- bildung der Volksindividualität unter Vernachlässigung der Einzelindividualität hinausging, sind Charakter und Eigenart der Völker an sich schon viel deutlicher erkennbar als bei den Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte bessere Gelegen- heit bieten, diese Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf eines Missionars. Dieser mein Beruf hat mich veranlaßt, die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, sondern zu studieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der Litteratur und Geschichte des Volkes bekannt zu machen. Er hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen der Bevölkerung, vom Minister bis zum Bettelmann, gebracht und hat mir das schwer zugängliche Innere des japanischen Hauses und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur, Philosophie und Theologie war ich in der Lage, die Gedanken- bildung des Japaners unmittelbar zu beobachten, und in meiner seelsorgerlichen Thätigkeit durfte ich Blicke in Herzens- tiefen thun, welche dem europäischen Kaufmann und Lehrer zumeist verschlossen sind. Es dürfte also einem Buche wie diesem zur Empfehlung gereichen, einen Missionar zum Ver- fasser zu haben. Auf das religiöse Leben, vorab auf die christliche Mission, ist mit besonderer Ausführlichkeit eingegangen; und so sehr sich das Buch auch an das allgemeine Interesse eines jeden Gebildeten wendet, so wage ich es doch, Missionskreisen gegenüber für dasselbe den Anspruch zu erheben, daß es ein Missionsbuch ist. Denn ein inneres Verständnis für die Mission läßt sich nur dann gewinnen, wenn dieselbe im Zu- sammenhang mit der gesamten Geisteskultur dargestellt wird. Daß meine „Wanderungen“ immer zu unbestritten rich- tigen Zielen führen, maße ich mir nicht an. Der Ausführung einer so schwierigen Aufgabe kleben naturgemäß Mängel an, welche der freundlichen Nachsicht des Lesers bedürfen. Wenn aber diejenigen, welche an den „Wanderungen“ teilnehmen, dem Buche die Anerkennung zollen, daß es mit Erfolg be- müht ist, sich auf dem rechten Wege zu halten, so werde ich dafür aufrichtig dankbar sein. Sausenheim , Pfalz, im September 1898. Carl Munzinger. Inhalt. Seite I. Die äußere Lebensführung eines Missionars in Japan 1 II. Die Sprache 25 III. Geistesleben und Erziehungswesen 62 IV. Temperament und Gefühlsleben 96 V. Familienleben und Sittenlehre 127 VI. Nationales und politisches Leben 156 VII. Religiöses Leben: Shintoismus 186 VIII. Der Buddhismus 217 IX. Die Entwicklung der evangelisch-christlichen Mission 260 X. Die Einzelbekehrung 302 XI. Die Gemeinde, ihre Qualität und ihr inneres Ge- triebe 334 XII. Die Volksbekehrung 380 I. Die äußere Lebensführung eines Missionars in Japan. W as ist ein Missionar? Unter der heißen Sonne Afrikas wandert im Wüstenstaube einsam ein bärtiger Mann. Aus der Ferne winken die Hütten eines Negerdorfes, im Schatten liegen die Bewohner. Dahin richtet der Mann seine Schritte. Man bemerkt ihn, sein weißes Gesicht erregt die Neugier, das ganze Dorf kommt in Bewegung. Auf einem freien Platze macht der weiße Mann halt, jung und alt strömt dahin zusammen, und er fängt an zu predigen. Er bleibt die Nacht über da, vielleicht, wenn man ihm freundlich begegnet, auch noch ein paar Tage länger; dann aber schüttelt er den Staub von seinen Füßen und beginnt aufs neue seine Wanderung. Unterwegs überholt er eine Karawane. Er ist froh, sich anschließen zu dürfen; denn zur Rechten haust ein räuberischer Volksstamm und zur Linken ist man nicht sicher vor den Tieren der Wild- nis. Er benutzt die Gelegenheit, um seinen Begleitern von Jesus zu erzählen, und bei seinem Abschied be- schenkt er sie mit christlichen Traktaten. Das ist so ungefähr das Bild, welches man immer noch in weiten Kreisen bei einem Missionar im Auge hat: Ein Mann, welcher, beständiger Lebensgefahr aus- gesetzt, gequält von Hunger und Durst, geplagt von Wind und Wetter, bedroht von menschlichen Feinden, 1 von wilden Tieren und giftigen Schlangen, von Fieber und Cholera, ruhelos wandert von einem Ort zum andern, um mühselig hier und dort ein Samenkorn zu säen, von dem er doch nicht weiß, ob nicht der Wüstensturm es verwehen, ob es nicht an der Wüstensonne vergehen wird. Mit diesem Bild, wie es vielleicht noch zu Li- vingstones Zeiten als typisch gelten durfte, hat der moderne Missionar kaum noch entfernte Ähnlichkeit. Auch für den Missionar sind heute die äußeren Lebensverhält- nisse mehr oder weniger geordnete geworden fast auf allen Missionsgebieten. In Japan wohl am meisten. Dort ist der äußere Lebensrahmen sehr wenig verschie- den von dem unsrigen hier. Vor allem ist es schon nichts weniger als ein un- wirtliches Land, nach welchem der Missionar hier geschickt wird. Mit dem Volk, welchem es hier zu wohnen ver- gönnt ist, kann es Gott wahrlich nicht böse gemeint haben. Nippon Das beste Buch über „Japan“ ist von dem deutschen Pro- fessor J. J. Rein. Ohne dieses Buch ist eine gründliche Kennt- nis Japans schlechterdings unmöglich. Nippon oder Nihon ist zusammengesetzt aus nichi (ni) = Sonne, Tag und hon = Ursprung. Die angewandte Schreibweise japanischer Namen und Wörter ist die allgemein übliche. Die Aussprache der Vokale ist die kon- tinentale bezw. deutsche (ausgenommen ist ei = ee, z. B. Geisha = Geesha ), die der Konsonanten die englische, d. h. ch = tsch (nichi = nitschi); j = dsch (Fuji = Fudschi); sh = sch (Heishi = Heeschi); y = i, am Anfang der Silbe = j (Tokyo = Tokio; aber yama = jama); z = ds (Zen = Dsen). Die Silben werden gleichmäßig betont; man merke aber Tṓky̆ṓ, nicht Tŏkȳ́ŏ; Ṓsăkắ, nicht Ŏsáka. , d. h. Sonnenaufgang, nennt der Japaner mit Stolz sein Land, und wer es kennt, der weiß, daß der Name trefflich gewählt ist; der wundert sich nicht mehr, warum die nationale Religion des Shintoismus die Sonne als die höchste Gottheit bezeichnet. Es ist ein Sonnenland in des Wortes schönster Bedeutung. Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht, wird schon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau- menbäume, und Ende März entfaltet der Kirschbaum seinen wunderbar schönen Blütenschmuck. Vom Früh- ling bis tief in den Winter sind Wald und Feld in einen Garten verwandelt. In allen Farben schimmern die Blumen. Was in Deutschland mühsam in Treib- häusern gezüchtet wird, wächst hier wild. Manchmal wenn ich im Walde spazieren ging, blieb mein Blick sinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erst als ich in Japan die Lilien auf dem Felde sah, lernte ich das Jesuswort recht verstehen: „Schauet die Lilien auf dem Felde an; ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als dersel- ben eine“. Dazwischen wiegen sich die Schmetterlinge und all das bunte Leben, welches sich in unserer hei- mischen Natur regt, findet sich auch hier. In den Zweigen der Waldbäume vergnügen sich Affen in ihren Kletterkünsten, und Hase und Truthahn entfliehen vor dem Nahen des menschlichen Schrittes. Keine Gefahr wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig an Zahl sind die giftigen Schlangen, und der wilde Bär hat sich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder des Nordens. Anmutig und friedlich ist das Leben der Tiere. Und über all dem wölbt sich schwarzgrün das schützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan- strebende, majestätische Ceder. Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen ist Japan ein schönes Land; nicht großartig zwar 1* wie die Schweiz, sondern mehr romantisch und lieb- lich wie die Ufer des Rheins. Grüne Thäler, von Flüssen durchzogen, wechseln ab mit romanti- schen Gebirgslandschaften, und zwischen dunkeln Bergen eingeschlossen liegen herrliche Seen. Hunderte von Fuß hoch stürzen sich rauschende Wasserfälle herab, um als friedlich murmelnde Bäche weiter zu wandern. Von allen Seiten des Landes erglänzt weit hinaus das ewige Meer. Der größte Stolz des Japaners aber ist der Fujinoyama, der in dem Herzen des Landes mitten aus der Ebene heraus, nur wenig niedriger als der Montblanc, majestätisch sich erhebt und mit seiner schnee- bedeckten Kuppel weit hinausschaut als ein treuer Hüter über Land und Meer. Aber mit dem Schönen lieblich vereint ist das Nützliche. Die japanische Erde ist nicht nur schön, sie ist auch fruchtbar. Zwar sind die Gaben, welche sie beschert, meist ganz anderer Natur als in Deutschland Eine musterhafte Darstellung der landwirtschaftlichen Ver- hältnisse giebt der deutsche Gelehrte Prof. Dr. M. Fesca in einem umfangreichen, im Auftrag der japanischen Regierung herausge- gebenen Buche: „Beiträge zur Kenntnis der japanischen Land- wirtschaft“. . An Obst bringt sie verhältnismäßig wenig hervor, am meisten noch Orangen, Kaki und Feigen. Äpfel und Birnen gedeihen nur auf der Nordinsel Yezo, und auch hier nicht zum besten, die Kirschen blühen zwar, tragen aber keine Früchte, und die Weintraube hat man ver- gebens versucht anzupflanzen. Um so reicher aber ver- gilt die Reisernte dem Landmann seine Mühe. Der Reis bildet weitaus das Hauptprodukt, neben welchem andere Getreidearten wie Hafer, Gerste und Weizen bedeutend zurückstehen. Die Kartoffel wird nur sehr spärlich gebaut. Dagegen gedeiht der Thee prächtig, und auch Tabak wird nicht wenig gepflanzt. In manchen Gegenden sieht man große Maulbeerpflanzungen zur Nahrung für den Seidenwurm; denn die Seidenindustrie bildet einen Haupterwerbszweig. Der Ertrag der Baumwolle ist nicht unbedeutend. An Nutzholz ist Überfluß. Sehr brauchbar ist der Bambus. Wiesen und Kleefelder giebt es so gut wie nicht. Viehzucht wird fast gar nicht getrieben. Der Grund und Boden ist klein parzelliert, so daß man weder zur Bewirt- schaftung der Felder noch zum Nachhausebringen der Ernte der Zugtiere bedarf. An den Ufern der See hat der Fischer sein lohnendes Tagewerk, da die Gewässer reichlich bevölkert sind. Die Jagd wird mehr aus Lieb- haberei denn als Erwerbszweig betrieben. Auch aus dem Innern der Erde werden Schätze gehoben; es giebt Kohlenbergwerke und Kupferminen, doch ist das Land arm an edeln Metallen. Warme Mineral- und Schwefel- quellen finden sich in Menge, und von den Kranken des Landes werden sie fleißig besucht. In der Ebene reiht sich Dorf an Dorf und an den Ufern der See liegen blühende Städte. Fürwahr ein reich gesegnetes Land, das seine 40 Millionen Einwohner wohl zu ernähren weiß. Auch das Klima ist nicht schlecht. Zwar ist der Sommer etwas zu heiß, nicht minder heiß als unter dem Äquator, so daß man gern die leichtesten weißen Kleider anzieht, die man auftreiben kann; und auch der Winter ist nicht ganz nach unserm Geschmack, da er zwar nicht viel Eis und noch weniger Schnee bringt, wohl aber beständige, Mark und Bein durchdringende, schnei- dende Nordwinde vom nördlichen Eismeer und den Steppen Sibiriens her, so daß einem ein Pelzmantel hier ebenso gute Dienste thun würde wie in dem eisigen Rußland. Aber welches andere Missionsfeld bietet denn überhaupt die gesundheitsfördernde Abwechslung zwischen Sommer und Winter und welcher Missionar möchte die paar Unannehmlichkeiten nicht gerne mit in Kauf nehmen! An Regen hat Japan keinen Mangel. Es regnet wohl doppelt und dreifach soviel als in Deutschland, besonders in der Regenzeit im Juni und Juli. Da ist die Luft so von Feuchtigkeit geschwängert, daß das Salz zerfließt und alles Lederzeug, Stiefel und Handschuhe, sich binnen weniger Stunden mit Schimmel überzieht. Die schönste Zeit ist der Herbst, wo bei milder Luft der Himmel monatelang rein und klar ist. Da erscheint Japan so recht als das Sonnenland, von solch hellem Licht überflutet, wie es in unserer Heimat fast undenkbar ist. So ist also Japan ein gesundes Land. Der Auf- enthalt daselbst bekommt dem Europäer prächtig, solange er maßvoll lebt und im Genuß alkoholischer Getränke nicht ausschweifend ist. Zwar sind epidemische Krank- heiten nicht selten; aber von Jahr zu Jahr nehmen sie an Gefährlichkeit ab, da die Regierung durch die um- sichtigsten hygienischen Maßregeln erfolgreich gegen sie ankämpft. Wenn ein Missionar in China, welchem die Aufreibung der Arbeit und die Unbill des Klimas die Gesundheit zerstört haben, sich erholen will, so geht er nach Japan, und unter den Tausenden von Reisenden, welche alljährlich nach seinen freundlichen Gestaden kom- men, ist nicht einer, der nicht entzückt wäre von seiner Lieblichkeit und Anmut. Aus mehr als einem begeister- ten Hymnus heraus hört man’s hindurchklingen: Hier ist gut sein, hier möcht’ ich mir Hütten bauen! Freilich, wo so viel Licht ist, da kann es auch an Schatten nicht ganz fehlen. Und Japan hat seine Schattenseiten. Das japanische Meer ist stürmisch. Der Reisende, welcher von Europa herkommt, hat in der Regel in den japanischen Gewässern seine schlechteste Fahrt. An Fischerkähnen und großen Schiffen fordert das Ungetüm alljährlich große Opfer. Manchmal auch wälzt es sich über weite Strecken des Landes und schwemmt Häuser und Felder hinweg. So ergoß sich Ende 1896 eine Flutwelle weit hinein in das Land und verschlang ganze Dörfer und Städte in ihren Wassern und bereitete 27 Tausend Menschen ein nasses Grab. Was am Abend zuvor noch ein blühendes Paradies gewesen, lag am nächsten Morgen da als das Tohuwabohu eines wüsten Leichenfeldes. Unheim- lich nicht allein zur See, sondern auch für die Be- wohner des Landes sind die Taifune, jene schrecklichen Stürme, welche durch furchtbare Gewalt Schiffen und Häusern gleich gefährlich werden. Ein betäubendes Heulen erfüllt die Lüfte und alle Gewalten der Hölle scheinen losgelassen. Deutschland wird es noch lange nicht verschmerzen, daß unser Kanonenboot Iltis in einem solchen Taifun seinen Untergang fand. Als die traurige Kunde von dem Verluste des mir wohlbe- kannten Schiffes kam, gedachte ich mit Wehmut der Erzählungen unserer wackeren Seeleute, wie sie sich freuten, wenn sie auf dieser Nußschale von einem Schiff sich wieder einmal glücklich durch die Wellen zwischen China und Japan hindurch gearbeitet hatten, und wie sie besorgten Herzens zu neuer Fahrt sich anschickten. Nun hat sich ihr trauriges Geschick erfüllt. Nicht minder schlimm sind die Vulkane. Japan ist das Land der Vulkane. Bei einer Statistik der Vulkane der Erde steht Japan mit obenan. Jahr- zehntelang ruhen sie und wiegen die Umwohner in Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die unheilbringende Kraft rastlos weiter, bis sie endlich, wenn man es am wenigsten vermutet, zum verheerenden Ausbruch kommt. Erdbeben sind sehr häufig. Im Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins statt, bei welchem 10 000 Menschenleben vernichtet und über 100 000 Häuser in Schutt und Asche gelegt wurden. Weitaus die meisten Erdbeben sind gänzlich harmlos, aber sie rufen ein lästiges Gefühl der Unsicherheit her- vor. Der Gedanke drängt sich gar zu leicht auf: Noch ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus und mein Leben könnte es geschehen sein. Es giebt wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen Erdbeben werden. Ich selbst machte mir jahrelang blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres 1894. Damals schickte mich der Arzt, ein deutscher Professor der Medizin an der Universität zu Tokyo, wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in einem Raum der Eisenbahn und lag lang ausgestreckt auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck — und ich lag am Boden. Der Wagen schwankte bedenklich hin und her, so daß ich nicht anders meinte, als daß es sich um eine Entgleisung handele. Auf der nächsten Station aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben gewesen sei. An einer Stelle, die wir gerade passiert hatten, war der Schienenstrang entzwei gerissen, in Tokyo und Yokohama waren eine Anzahl Häuser zusammengefallen, unter anderen war auch das deutsche Gesandtschaftsgebäude zerstört worden. Eine Woche später mußte ich, am Typhus erkrankt, in das deutsche Marinelazarett nach Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter- halten wird, ist ursprünglich eingerichtet für kranke deutsche Seesoldaten in Ostasien, doch finden in ihm auch private Kranke gegen Bezahlung Aufnahme. An der Spitze steht ein Marinestabsarzt; ein deutscher Lazarettinspektor und zwei deutsche Lazarettgehilfen sind ihm beigegeben. An dem Gebäude waren infolge des vorerwähnten Erdbebens die Kamine eingefallen, und es war unheimlich genug zu hören, wie dieselben nun wieder ausgebessert wurden. Da, in einer Nacht um elf Uhr, kam wieder ein ziemlich starkes Erdbeben. Alle Kranke, soweit sie nur noch kriechen konnten, machten sich flugs aus ihren Betten und so rasch wie möglich hinaus in das Freie. Ich aber konnte weder gehen noch kriechen, hilflos preisgegeben der rücksichts- losen Naturgewalt lag ich da. Zwar ging alles gnädig ab, aber von Stund an war ich nervös gegen Erd- beben. Man sieht, ein Erdbeben ist gerade kein Spaß, aber wer einmal in Japan gewesen ist, der möchte auch gern eines erlebt haben. So ging es auch einem Marinepfarrer, welcher vor einigen Jahren mit einem deutschen Geschwader nach Yokohama kam. Sein Sehnen nach einem Erdbeben sollte bald gestillt wer- den. Eines Sonntags vertrat er den deutschen Geist- lichen in unserer evangelischen Gemeinde zu Tokyo. Eine stattliche Persönlichkeit, groß und stark, welcher der Lebensmut aus den Augen leuchtete, der man es ansah, daß schon mancher Sturm über sie hin- weggebraust war! Mit kräftiger Stimme hob er an, und es paßte trefflich zu dem ganzen Mann, als er die tapferen Worte sprach: „Der Christ fürchtet sich nicht, ob auch Berge weichen und Hügel hinfallen“. Da mit einem Mal, mitten in der Predigt drin, be- gann es unter seinen Füßen dumpf zu rollen, die Erde erbebte, die Wände wankten und die Fensterscheiben klirrten — und mit dem Mute des eben noch so tapferen Pfarrers war es vorbei, mit fliegendem Talar stürzte er herab von der Kanzel dem Ausgang zu. In Deutsch- land mag der Prediger ruhig die kühnsten Worte in den Mund nehmen; er darf beruhigt sein, daß sein Mut auf solche Weise nicht auf die Probe gestellt wird. In Japan aber darf er nicht vergessen, daß er sich auf vulkanischem Boden befindet. Das sind nun freilich Dinge, die sich bei allem Humor doch gefährlich genug anhören. Die Erfahrung aber lehrt, daß sie in Wirklichkeit so gefährlich nicht sind. Thatsächlich habe ich von keinem einzigen Europäer gehört, der bei einem Erdbeben um das Leben ge- kommen wäre. Der Missionar darf also ohne große Angst hinübergehen und darf fest überzeugt sein, daß ihm mit Bezug auf das Land ein köstliches Los ge- fallen ist, so köstlich wie es ihm auf keinem andern Missionsfeld geworden wäre. Aber noch manche andere große Annehmlichkeiten findet er hier. Der Missionar in Japan hat seinen festen Wohnsitz. Das ist ja heute so ziemlich überall so, und wenn uns von Missionaren in China erzählt wird, daß sie all- jährlich monatelang auf Missionsreisen unterwegs sind, so klingt das uns modernen Missionsleuten wie eine Geschichte aus längst entschwundener Zeit. Der wan- dernde Missionar hat sich überlebt, hat sich im Lauf der Zeiten als eine unzweckmäßige Einrichtung heraus- gestellt. Schon bei dem Vorbild aller christlichen Send- boten, dem Apostel Paulus, hat man darauf hingewiesen, daß die Gemeinden, welche er gewissermaßen auf der Durchreise gründete, späterhin nicht mehr erwähnt werden. Man hat vermutet, daß die christliche Grundlage doch zu schwach war, um auf die Dauer stand zu halten; und wenn es schon der eindrucksvollen geistesmächtigen Persönlichkeit des Paulus schwer war, in wenigen Tagen nachhaltige Bekehrungen zu bewerkstelligen, so ist das anderen Missionaren geradezu unmöglich. Die Unhalt- barkeit dieser Methode hat sich vollends erwiesen in der Jesuitenmission des Franziskus Xaver. Sein brennen- der Missionseifer, der ihn von einem Ort zum andern trieb, seine schallende Missionsparole „amplius amplius“ („weiter, weiter“) ist an ihm selbst und seinen Nach- folgern durch den radikalen Zusammenbruch seines Werkes fürchterlich zu schanden geworden. Die Sauer- teigsbedeutung des Christentums hatte man überhaupt nicht gekannt und seine Senfkornnatur war gründlich miß- verstanden worden. Heute ist das anders. Nicht in die Weite geht heute der Missionsweg, sondern in die Tiefe, nicht vielen etwas bieten ist das nächste Ziel, sondern einzelnen alles bieten. Darum schweift der Missionar heute nicht in die Weite, vielmehr bleibt er an einem und demselben Ort, um an einzelnen intensiv zu arbeiten. Nicht als ob das einseitig gehandhabt werden sollte, als ob der Missionar an einen und denselben Ort ge- bannt wäre. Vielmehr darf und soll er ab und zu seine kleinen Missionsreisen unternehmen. Auch in Japan. Und hieran wurde er auch durch die bis jetzt bestehende, aber binnen kurzem außer Kraft tretende Bestimmung nicht gehindert, daß das Innere des Landes dem Fremden verschlossen sei. Zu körperlicher Erholung und zu wissenschaftlichen Untersuchungen hat die japanische Regierung stets Pässe an irgend einen Ort des Landes ausgestellt, sie hat das aber auch dann gethan, wenn es sich offenkundig um missionarische Zwecke, um Propa- ganda- oder Inspektionsreisen handelte. Und ruhig darf der Missionar seine Reise antreten. Keine mensch- lichen Feinde bedrohen ihn. In der letzten verlorenen Hütte in dem abgeschiedensten Winkel des Gebirges legt er sich des Abends getrost zum Schlummer nieder, sein Haupt ist ebenso sicher wie das des Fürsten von Schwaben, des Grafen Eberhard im Bart, im Schoße seiner treuen Unterthanen. Daß das deutsche Reich jemals in die Lage kommen sollte, ermordeter Missionare willen kriegerische Expeditionen nach Japan zu schicken, ist nach menschlicher Voraussicht vollständig ausgeschlossen. Zwischen Japan und China ist in dieser, wie noch in so mancher andern Beziehung ein himmelweiter Unter- schied. Nur zwei oder dreimal ist es mir begegnet, daß ich auf der Straße etwas unsanft angestoßen wurde, was ich mir gegenüber einer überlegenen Anzahl — und nur dann konnte es vorkommen — stets ruhig gefallen ließ. Immer waren es junge Bursche , die mit beiden Füßen noch in ihren Flegeljahren standen; dem richtigen, ausgereiften Japaner ist jede Roheit ein Greuel. Um der Leute willen dürfte also der Missionar ohne Sorge im Lande umherreisen, selbst in Zeiten, wo die Wogen politischer Erregung hoch gehen; um der Sache willen wird es aber stets als Grundsatz gelten müssen: Der Missionar hat seinen festen Wohnsitz. Er hat sogar in der Regel sein europäisch gebautes Haus. Und das ist gut so. Ich selbst wohnte während der ersten Zeit in einem Hause rein japanischer Bauart. Die japanischen Häuser sind aus Holz, die Böden sind mit dicken Strohmatten belegt, die Stelle des Glases an den Fenstern vertritt transparentes Papier. Sie sind infolgedessen das beste Brennmaterial, das man sich denken mag. In der That sind Riesenbrände in Tokyo nicht selten, so daß man die Feuersbrunst die Blume von Yeddo So hieß Tokyo vor 1868. Tokyo = östliche Hauptstadt, im Gegensatz zu Saikyo (Kyoto) = westliche Hauptstadt. genannt hat. Früher rechnete man, daß Tokyo durchschnittlich in sieben Jahren einmal voll- ständig abbrenne. Heute ist das durch eine muster- giltige Feuerwehr bedeutend besser geworden. Immer- hin habe ich noch im Jahre 1892 am ersten Ostertag innerhalb von zwölf Stunden mehr denn fünftausend Häuser abbrennen sehen. Ich kam damals an der Brandstätte vorbei, und in demselben Tempo, wie ich ging, schlängelte sich neben mir hin an einem Bambus- zaun entlang die Flamme. Richtige Thüren mit Schlössern wie bei uns giebt es am japanischen Hause nicht. Es sind Schiebethüren, die aber nicht luftdicht schließen. Überall sind Risse und Lücken, durch welche der Wind schneidend hindurchbläst. Ich habe es in dem japanischen Haus auf Kosten meiner Gesundheit erfahren müssen, daß es besser ist, der Missionar wohnt in einem solid gebauten europäischen Wohnhause. Das braucht nun freilich nicht übertrieben zu werden, wie die reichen amerikanischen Missionsgesellschaften das allzu leicht thun. Sind auch die Wohnungen der ameri- kanischen Missionare im Innern einfach und keineswegs übertrieben gehalten, in ihrem sehr schmuck gehaltenen Äußern sehen sich die villenartigen Gebäude, zumal neben den einstöckigen Hütten der Japaner, wie kleine Paläste an und fordern die Kritik und den Vorwurf der Üppig- keit geradezu heraus. Vielleicht wäre ein etwas bescheideneres Aussehen mehr am Platz, und man hätte gut gethan, beizeiten des Sprichwortes zu gedenken: Wer an die Straße baut, muß sich meistern lassen. Mit diesen Missionshäusern können sich die beiden Wohnungen der deutschen Missionare nicht messen. Hat doch ihr Bau zusammen nicht mehr als zwölftausend Mark erfordert. Das Innere der Häuser weist europäische Ein- richtungen auf. Mit japanischer Möblierung käme man nicht weit. Zwar wird bei uns zu Lande viel von japanischen Zimmereinrichtungen gefabelt. Wenn man aber in ein japanisches Zimmer hineintritt, so sieht man sich erstaunt um. Nach unsern Vorstellungen hatte man viel erwartet. Was man aber da vor sich sieht, übertrifft auch die kühnsten Erwartungen. Da ist in einer Nische ein lang herabhängendes, auf Seide ge- maltes Bild, Kakemono genannt, und darunter etwa noch eine Bronzevase, sonst aber im ganzen Zimmer nichts, aber auch gar nichts: Kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett, kein Schrank, kein Spiegel, ja selbst nicht einmal ein Ofen. Der Missionar muß sich also euro- päische Möbel anschaffen. Die Einrichtung seines Hauses sieht auf den ersten Blick fast elegant aus. Man braucht aber nicht einmal scharf hinzusehen, um zu bemerken, daß es eine sehr schäbige Eleganz ist, die ganze Ein- richtung um ein paar hundert Mark auf Auktionen wegziehender Europäer zusammengekauft; aber man weiß sich’s damit wohnlich, heimisch und bequem zu machen. Man verbindet mit dem Begriff des Missionars gewöhnlich den des Asketen. Wenn man das Wort Missionar hört, so wacht selbst in dem evangelischen Christen das alte Mönchsideal auf. Man will ihn nicht haben wie einen andern Menschen, man mutet ihm Entbehrungen aller Art zu und erwartet von ihm wo- möglich, daß er sich zu derselben niedrigen Stufe der Lebensführung herabläßt, auf welcher die Eingeborenen stehen. Das aber ist ein ganz falscher Asketismus, wenn durch denselben die Schaffenskraft, die man auf dem Missionsfeld im vollen Umfang nötig hat, ver- mindert oder gar gebrochen wird. Um seiner Berufs- arbeit willen müssen dem christlichen Sendboten äußere Sorgen und Entbehrungen fern gehalten werden. Er bezieht darum auch ein anständiges Gehalt. Der ameri- kanische Missionar erhält in der Regel 1500 Dollars in Gold jährlich, der deutsche verheiratete früher nur um ein Geringes, jetzt um ein Bedeutendes, der unver- heiratete dagegen um ein sehr Bedeutendes weniger. Er hat dadurch seinen auskömmlichen Lebensunterhalt, große Ersparnisse machen und Reichtümer anhäufen will er ja nicht. Ja wenn er japanisch essen und sich japanisch kleiden würde, dann würde er kaum die halben Aus- gaben haben. Das ist aber nicht der Fall. Auch mit Bezug auf Nahrung und Kleidung braucht er seinen europäischen Gewohnheiten nicht zu entsagen. In China kleidet sich der Missionar wie der Chinese, er trägt sogar einen Zopf wie er. Er meint, das thun zu müssen; hat doch die Erfahrung gezeigt, daß der unbe- zopfte Missionar noch größere Schwierigkeiten und Vor- urteile wider sich hat wie der bezopfte. Die europäischen Kaufleute schelten freilich nicht wenig, daß man durch solches Gebahren die eigene Kultur gegenüber den Chinesen herabwürdige und den ohnehin unleidlichen Nationaldünkel der Söhne des Himmels noch mehr fördere. In Japan ist von einer solchen Akkommodation keine Rede. Jeder Japaner würde es peinlich empfinden, wollte sich der Missionar japanisch kleiden, und der Gebildete gewöhnt sich selbst immer mehr an unsere Kleidung. Nicht anders ist es mit dem Essen. Japanisch essen könnte der Missionar nur auf Kosten seiner körper- lichen Kraft und Gesundheit. Denn bei der japanischen Mahlzeit fehlt all das, was wir in erster Linie für nötig halten; da ist kein Fleisch, kein Brot, keine Kartoffeln, keine Milch, keine Butter. Warum der Japaner kein Fleisch, wenigstens kein Rind- und Schweinefleisch ißt, weiß er selbst nicht mehr zu erklären, und wenn er bei einem europäischen Mahl in die Lage kommt, Fleisch zu sich zu nehmen, so thut er es anstands- los. Ursprünglich aber ist es zurückzuführen auf den Buddhismus, welcher verbot, Tiere zu töten, und das um so mehr, als nach seiner Lehre von der Seelen- wanderung die Seelen der Abgeschiedenen leicht in Tiere übergegangen sein können. Der Hauptbestandteil der japanischen Mahlzeit ist der Reis Der unvermögende Bauer zieht es freilich vor, seinen Reis um gutes Geld zu verkaufen, um sich mit Weizen und Gerste ( mugi ) zu begnügen. , und wie wir von Morgen-, Mittag- und Abendessen sprechen, so der Japaner von Morgen-, Mittag- und Abendreis. Neben dem Reis sind es eine suppenartige Fisch- und Muschel- brühe, roher und gebratener Fisch, Seetiere und See- gewächse aller Art, zuweilen auch ein wenig Huhn oder Wildbret, einige Arten von Gemüse, Schwämme, junge Bambuswurzeln, eingemachte Rüben, eine Art süßer Kartoffel, als Dessert Bohnenkuchen und andere Süßig- keiten und zum Schluß Thee, welche die gewöhnlichen Speisen bilden. Mitunter trinkt man auch über das Essen ein Fläschchen Sak é , ein aus Reis gebranntes alkoholisches Getränk von sherryähnlichem scharfem Ge- schmack, und nach dem Essen raucht man sein Pfeifchen und zwar Mann und Frau, junge Mädchen und alte Großmütterchen. Der Kuchen ist sehr schwer, die Gemüse sind nur halb gar gekocht, die allzu reichlich gebrauchte Shoyusauce giebt den Speisen einen eigen- artig strengen Geschmack oder ein allzu starker Beisatz von Knoblauch macht sie widerlich süßlich. Ich habe noch nie einen Europäer getroffen, welchem das japanische Essen wirklich gemundet hätte, und wer zu einem japanischen Mahl eingeladen war, mußte sich nachher auf europäische Art satt essen, wenn er nicht in weiser Voraussicht das schon zuvor besorgt hatte. Da ich verhältnismäßig oft auf das Land kam, so war ich auch oft in der Lage, japanisch essen zu müssen; ich habe mir infolgedessen eine große Fertigkeit in der Handhabung der Eßstäbchen angeeignet, welche dort die Stelle von Löffel, Gabel und Messer vertreten. Wenn man aber zu längerem Aufenthalt auf das Land geht, unterläßt man es nie, seinen Koch mitzunehmen und sich von ihm europäisch kochen zu lassen. Denn jeder Fremde hat dort seinen Koch. Das sieht zwar luxuriös aus, ist aber eine einfache Notwendigkeit. Die Löhne sind übrigens so gering, daß ein Koch keine große Ausgabe bedeutet. Ich war zuerst bei meinem Kollegen S. in Kost gegangen. Eines Abends sagte ich meinem Wagenzieher, daß ich am nächsten Tag eine eigene Haushaltung beginne und daß er mein Koch werde. Das war für ihn eine bedeutende Be- förderung und mit Freuden ging er darauf ein. Auf mein Befragen erklärte er mir, daß er zwar noch nie selbst gekocht habe, daß er aber schon manchmal am Herd gesessen sei, wenn der Koch von Herrn S. das Essen bereitete. Und siehe da, vom nächsten Tag an kochte er mir. Verwöhnt wurde man dabei nicht, aber es ging. Außer seinem Koch hat der Missionar in der Regel noch einen Wagenzieher. Auf Schusters Rappen käme 2 man in einer Riesenstadt wie Tokyo, welche an Ein- wohnerzahl nicht ganz so groß wie Berlin, an Umfang aber so groß als London ist, nicht weit. Man würde dabei viel zu viel Zeit verlieren. Man macht es also wie der Japaner auch. Man setzt sich in einen kleinen Handwagen, Jinriksha genannt, und läßt sich von einem Mann, welcher Kutscher und Pferd in einer Person ist, ziehen. Die Japaner sind die besten Schnellläufer der Welt. In stundenlangem, ununterbrochenem Trab brin- gen sie einen schneller an das Ziel, als ein Droschken- gaul das könnte. Die Sache kommt einem anfänglich wenig menschenwürdig vor und ist es auch nicht. Dort aber ist es eine selbstverständliche Sache und niemand, der Jinrikshamann am wenigsten, findet etwas dabei. Es ist eine ebenso bequeme als billige Art der Beför- derung und da durch Abschaffung dieser Institution mit einem Schlag Hunderttausende von Menschen brot- los würden, so ist ein Ende derselben zumal bei dem mangelnden Ersatz durch Zugtiere nicht abzusehen. Die äußere Lebensführung des Missionars in Japan ist dieselbe wie die der andern dort ansässigen Europäer. Die Abendländer, welche vorerst nur nach Tausenden und noch bei weitem nicht nach Zehntausenden zählen, haben ihren Wohnsitz vornehmlich in den Hafenstädten. In Tokyo giebt es etwa dreißig selbständige männliche Deutsche, die fast alle in japanischen Regierungsstellungen sind, die meisten als Professoren. Es ist eine deutsche Gelehrtenkolonie, wie sie wohl innerhalb des Deutsch- tums auf der ganzen Erde einzig dasteht. In sie kommt der deutsche Missionar hinein und auch mitbe- zug darauf ist sein Los ein beneidenswertes. Es fehlt ihm nicht an geistiger Anregung und da die Deutschen unter sich gesellig verkehren, — Wirtshausleben giebt es nicht —, so verbringt er durchschnittlich wenigstens einen Abend in der Woche im Kreise deutscher Gemütlichkeit. Unsere Landsleute haben sich zu einem wissenschaftlichen Verein für Natur- und Völkerkunde Ostasiens zusammen- geschlossen, welcher allmonatlich eine Sitzung abhält, wo Wissenschaft und Geselligkeit gleicher Weise gepflegt werden. Besondere Freude erregte es immer, wenn deutsche Kriegsschiffe in Yokohama vor Anker gingen. Zwar waren es meist alte Schiffe oder kleine Kanonen- boote, auf die man nicht sehr stolz sein konnte, so schmuck und blitzblank sie auch gehalten waren. Um so mehr thaten wir uns etwas zu gut auf unsere wackeren Blau- jacken. So stramm und schneidig wie sie sahen die der anderen Nationen denn doch nicht aus! Gern folgte man der Einladung an Bord eines Schiffes, man freute sich wieder einmal deutschen Boden zu betreten und an der Seite des wettergebräunten Kapitäns und im Kreise immer fröhlicher Lieutenants plauderte es sich am Tische der Offiziersmesse gar behaglich. Es ist also trotz der riesenhaften Entfernung einer vierzigtägigen See- fahrt keine Verbannung, in der man sich im fernen Osten befindet, und manchmal klingen einem der Mutter- sprache süße Laute freundlich in Ohr und Herz. Das ist das Leben eines deutschen Missionars in Japan. So wäre denn nach all dem Japan das begehrens- werteste Missionsfeld der Welt! Ein herrliches Land, ein freundliches Volk, europäische Wohnung, Kleidung und Nahrung, ein auskömmliches Gehalt, die Freuden der Geselligkeit: das ist ja alles, was das Herz begehren mag! Da ist ja der japanische Missionar gar kein rechter Missionar mehr! Da geht ja der ganze Nimbus, als ob er etwas Besonderes sei, von ihm weg! Nun, etwas 2* Besonderes will der japanische Missionar nicht sein. In England ist man es freilich gewöhnt, den Glorien- schein um das Haupt der Missionare zu weben, sie sind die Heroen der Nation, rechte Übermenschen. In Deutschland dagegen braucht sich der christliche Sendbote nicht gerade über Vergötterung zu beklagen. Hier schaut man eher etwas auf ihn herab, wenn man nicht gar ihm feindselig gegenübersteht. Aber herabsetzen lasse ich den japanischen Missionar doch nicht. Der Posten eines christlichen Sendboten ist überall auf der ganzen Erde ein ungemein schwieriger, und daß er das ist, liegt nicht sowohl in äußeren Verhältnissen als in inneren Gründen. Mögen ihm auch die Annehmlichkeiten und der Komfort des Lebens zu Genüge zur Verfügung stehen, so ist das doch nur der äußere Lebensrahmen, der mit dem, was der Missionar ist und schafft, im letzten Grunde wenig zu thun hat. Darauf kommt es an, was innerhalb dieses Rahmens ist. Der Kaufmann lebt im Auslande und macht seine Geschäfte mit den Eingeborenen, und wenn es ihm gelingt, so ist er seines Lebens froh und er fühlt sich wohl im fremden Land und tief drinnen regt sich, was er bewußt nicht zugeben möchte: ubi bene, ibi patria. Der deutsche Lehrer in der Fremde geht in seine Schule und erteilt seinen Sprachunterricht oder hält seine Vorlesungen, und wenn er damit fertig ist, so hat er seine Schuldigkeit an den Fremden gethan und er geht nachhause und gehört nun sich selbst und lebt sich selbst. Dem Missionar aber schlagen wenige Stunden, da er sich selbst gehört und sich selbst leben kann; sein ganzes Leben bedeutet ein fast ununter- brochenes Sichhingeben. Er hat an Seelen zu arbeiten und wenn er das auch nur mit einigem Erfolg thun will, so muß er tief innerlich eingehen auf das Seelen- leben des Volkes sowohl wie des einzelnen. Die äußere Akkommodation mag ihm erspart bleiben, aber geistig und seelisch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apostel Paulus, der diesen weisen Missionsgrundsatz zuerst auf- gestellt hat, war das nicht so schwer wie für den heutigen Missionar. In den Wänden seines Heimathauses sog er die jüdische, auf den Straßen seiner Heimatstadt die griechische Lebensluft ein. Beide Weltanschauungen, nicht bloß die des orthodoxen Judentums, sondern auch die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere sich dessen nicht einmal bewußt war. Der Missionar aber, welcher sich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes antipodischen Boden. Das geistige Wesen des Japaners ist von dem unsrigen durchaus verschieden, nach seinem geschichtlichen Werden sowohl als nach seinem ursprüng- lichen Wesen, nach seinen formalen Erscheinungsweisen nicht minder als nach seinem materialen Inhalt. Dieses Geisteslebens völlig Herr zu werden, sowohl in theo- retischer Aneignung als in praktischer Anwendung, ist für den Weißen eine Unmöglichkeit, sintemalen er nicht aus seiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf ihn aber von dem ernsten Versuche nicht abhalten, in inniger Hingabe an den Volkscharakter denselben wenigstens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch- dringen. Das ist die eine ungeheure Schwierigkeit des Missionsberufs. Die Lösung dieser Aufgabe nimmt Jahre in Anspruch; und darum ist es auch kein leeres Gerede, wenn man sagt, daß die rechte Wirksamkeit für einen Missionar erst nach mehrjähriger Arbeit beginne, und mit Recht dringen unsere Missionsgesellschaften darauf, daß der Missionsberuf Lebensberuf sein solle. Der Missionar, welchem es aus irgend welchen Ursachen nicht vergönnt war, dieser Forderung zu genügen, empfindet, wenn anders er ehrlich gegen sich selbst ist, die Berechtigung dieser Forderung selbst am schmerz- lichsten. Das gilt auch von dem Verfasser selbst. Von Anfang 1890 war er während 5½ Jahren in Japan thätig. Zerrüttete Gesundheitsverhältnisse nötigten ihn zur Erholung in der Heimat und haben es ihm nicht wieder gestattet, wie er gewollt, nach Japan zurückzukehren. Aber innerlich konnte er sich nicht so rasch von dort losreißen, im Geiste unternahm er noch manche Wan- derung in das eigenartig anziehende Leben dort drüben und so entstanden in der friedlichen Stille einer kleinen pfälzischen Dorf- pfarre diese Skizzen — zwischen Ähren und Reben. Die Schilderungen beruhen auf eigenen Anschauungen. An wenigen Stellen sind Bücher zurate gezogen worden, weshalb die Litteraturangaben beschränkt sind. Auf dem Missionsfeld ist es keine leere Phrase, von der streitenden Kirche zu sprechen. Der Missionar draußen steht im Felde, er ist ein Kämpfer, ein Krieger. Der Preis, um den er kämpft, sind Menschenseelen. Bei diesem Ringen um Seelen aber besteht die Gefahr, daß auch das Seelenleben des Kämpfers nicht bloß an- geregt, sondern aufgerieben wird. Was die Kräfte christlicher Sendboten in Japan verzehrt und ihre Gesundheit vor der Zeit bricht, sind nicht äußere Ein- flüsse; das ist vielmehr die Schwere der inneren Er- fahrungen. Es giebt gegenwärtig kein Schlachtfeld, wo die Geister heftiger aufeinander stoßen, kein Missions- feld, wo der Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Aufklärung und Religion, zwischen Heidentum und Christentum so heiß tobt und so leidenschaftlich geführt wird wie in Japan. Es giebt kein Gebiet, wo so viele Hoffnungen verheißungsvoll winken und so viele Ent- täuschungen des Kämpfers harren. Jeder Tag bringt neue Siege, jeder Tag bringt neue Niederlagen. Von einem Extrem geht es in das andere, rasch, unvermittelt. Wo man vor zehn Jahren davon redete, daß Japan in einem Vierteljahrhundert christlich sein werde, da ist man heute geneigt, an jedem auch bescheidenen Erfolg zu verzweifeln. Der Wind der Volksgunst wechselt wie der Wind draußen. Man weiß nie recht, woran man ist. Wo man glaubte, eine Schanze im Sturm erobert zu haben, wird man plötzlich wieder zurückgeworfen; wo man völlig sich in Sicherheit wiegte, kehrt uner- wartet der böse Geist siebenfach zurück; und umgekehrt, wo man meinte, schon weichen zu müssen, bleibt man mit einem Mal unverhofft siegreich. Ein beständig wogender Kampf, ohne Ruh, ohne Rast, wo jede Stunde neue Freuden und neue Leiden, jede Minute neue Überraschungen bringen kann. Eine fast ununterbrochene Aufregung, mehr als sonst irgendwo, und darum trage ich kein Bedenken, den Posten eines Missionars in Japan den schwersten von allen zu nennen. Mehr als sonstwo muß der Missionar in Japan eine ungemeine Spann- kraft besitzen, er muß den Gummimännchen gleichen, die man oft als Spielzeug in Schaufenstern ausgestellt sieht, welche, wenn man sie umwirft, sofort von selbst wieder aufstehen. Wer im Sturm erobern will, wer mit dem ungestümen Geist eines Franziskus Xaver an das Werk geht, wer nicht zufrieden ist, Schritt für Schritt, nein Zoll für Zoll in stiller, bescheidener, müh- seliger Arbeit voranzukommen, ist auf dem japanischen Missionsfeld, und auf jedem andern auch, nicht an seinem Platz. Es sind gewöhnlich feurige Seelen, die es hineintreibt in den Kampf der Geister; aber die Stillen taugen mehr als die Feurigen. Manch ein Missionar ist hinübergezogen in das fremde Land, getragen von stürmender Begeisterung und freudigem Schaffensmut, die Segel geschwellt von stolzen Hoffnungen; manch einer kehrte zur Heimat zurück mit zerfetzten Segeln, ein gebrochener Mann. Was sein Name versprach, das Land des Sonnenaufgangs hat es ihm nicht gehalten. Es ist allein der stille Helden- mut einer nie ermüdenden Geduld, der schließlich den Siegespreis davon trägt. Es war ein glücklicher Gedanke, die Mission mit dem Menschensohn, d. h. dem leidenden Heiland, zu vergleichen. Der Missionsweg ist heute noch, wie zu des Apostels Paulus Zeiten, rauh und hart; es ist der Kreuzesweg nach Golgatha; wer aber das Kreuz trägt, den schmückt auch eine Dornenkrone. Was den Missionar allein aufrecht hält unter der Last seines Kreuzes, ist die erbarmende Jesusliebe zu der armen heidnischen Menschheit und die in Gott gegründete gläubige Hoff- nung auf den endlichen Sieg. Per crucem ad lucem! II. Die Sprache. Vergl. des Verfassers „Psychologie der japanischen Sprache“ in den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Heft 53, Asher, Berlin 1894. D ie japanische Sprache gehört zu der altaischen Gruppe. Sie ist für den Europäer eine der schwierigsten der Erde. Zwar das Küchen- und Kuli-Pidjin-Japanisch, welches die europäische Hausfrau ihrer Dienerin gegen- über spricht oder der europäische Herr dem Taglöhner gegenüber, ist sehr einfach. Aber um die Sprache gründlich zu erlernen, bedarf es jahrelanger Studien. Und auch dem Japaner selbst kostet es bis zu ihrer Beherrschung, soweit von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, unendlich viel Aufwand an Zeit und Mühe. Wenn das japanische Kind zur Schule kommt, lernt es zunächst lesen und schreiben nach dem japa- nischen Kanasystem; und wie man bei uns die deutsche und die lateinische Schreibweise hat, so unterscheidet man dort zwischen Katakana und Hirakana. Das Kana ist eine Silbenschrift, d. h. jedes Zeichen bedeutet eine Silbe. Einzelne Buchstaben oder vielmehr Kon- sonanten wie f, m, t giebt es nicht, sondern nur Silben wie fu, mi, ta. Dabei sind einige unserer gebräuch- lichsten Laute wie ti, tu, si, we, wu, fa, fi, fe, fo ꝛc. dem Japaner gänzlich unbekannt. Am sonderbarsten ist, daß er l und r — oder, wie er es ausdrückt, das lange und das kurze r — nicht von einander zu unter- scheiden vermag. Dadurch kommen die unglaublichsten Dinge vor. Statt Glas sagt er Gras, statt bekümmern bekümmeln und statt ankleiden ankreiden; aus einem Rudel Rehe macht er ein Luder Lehe und Leben und Reben sind ihm völlig eins. Ich korrigierte einmal einen Aufsatz, in welchem ein junger Student einen Spaziergang beschrieb. Da stand unter anderm zu lesen: „Der flöhliche Hund (statt „der fröhliche Hund!“) lief neben mir her“. Im ganzen neigt sich die Aus- sprache etwas mehr zu r als zu l, genau umgekehrt wie im Chinesischen, wo r und l auch in einem Laut zusammenfallen, der aber mehr nach l hin ausgesprochen wird. Die Zeichen, besonders die des Katakana, sind von einer fast stenographischen Einfachheit, so daß es sich bei einiger Übung rascher mit ihnen schreiben läßt als mit unserer Schrift. Ihre Zahl beläuft sich auf ungefähr zweihundert, und wenn man zum Lesen und Schreiben nicht mehr nötig hätte als sie, so wäre die Arbeit kaum größer als für unsere deutschen Kinder mit den großen und kleinen Buchstaben des deutschen und lateinischen Alphabets. Aber — und hier liegt die Schwierigkeit — die japanischen Zeichen werden mehr oder weniger nur als Lückenbüßer gebraucht, und ob man auch die Kanaschrift noch so gut beherrscht, so kann man doch noch nicht eine einzige Zeitung damit lesen. Nur einzelne Bücher, vorzüglich solche, welche für Frauen bestimmt sind, sind in reinem Kana geschrieben, darunter auch christliche Gesang- und Andachtsbücher, und auch zur Lektüre der Bibel kann man zur Not mit Kana auskommen. Im übrigen reicht aber das Kana selbst für die be- scheidensten Ansprüche nicht aus. Es ist notwendig, eine gewisse Kenntnis der chinesischen Schrift sich an- zueignen. Im Chinesischen wird jedes Wort durch ein besonderes Zeichen ausgedrückt. Es giebt also etwa so viele verschiedene Zeichen, als die Sprache Worte hat, d. h. viele tausende. Auch der einfache Mann in Japan braucht seine tausend bis fünfzehnhundert Zeichen, während dem Gebildeten drei bis sechstausend bekannt sein dürften. Aber nicht genug damit, zu jedem Zeichen müssen auch wenigstens zwei verschiedene Worte bezw. Aus- sprachen gelernt werden, ja mitunter sogar noch mehr. Ein und derselbe Begriff lautet in der Schriftsprache ganz anders als in der Umgangssprache. So ist für das Zeichen für „Berg“ neben dem Wort „yama“ der gesprochenen Sprache noch das Wort „san“ für die Schriftsprache zu merken; das Zeichen für „Markt“ wird „ichiba“ gesprochen und „shijo“ gelesen und der gut japanische Name „Hajime“ wird in der Schrift- sprache mit „Ryo“ wiedergegeben. Es ist also in ge- wissem Sinn eine fast völlig neue Sprache, welche das japanische Kind in der Schriftsprache zu erlernen hat. Die Schriftsprache ist ein gekünsteltes System auf chinesischer Grundlage. Nur in der Umgangssprache haben wir die eigentlich japanische Sprache, nur in ihr spiegelt sich die ganze japanische Denkweise rein und unverfälscht wieder. Darum ist ethnologisch nur die Umgangssprache von Interesse. Gewisse und nicht unrichtige Bemerkungen bezüg- lich des Charakters der Umgangssprache können auch von dem schon gemacht werden, welcher selbst gar kein Japanisch versteht, wenn sich ihm eine Gelegenheit bietet, das Japanische mit dem ihm gegenüberstehenden Deutschen rein äußerlich zu vergleichen, z. B. bei einer deutschen Rede mit sich anschließender japanischer Über- setzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden, woher es denn komme, daß der Übersetzer fast die doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa- nische Sprache scheine breiter zu sein als die deutsche. Diese Bemerkung ist zutreffend. Das Denken des Japaners fühlt sich mit der Art und Weise, in welcher wir unsere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be- friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichst großer Anschaulichkeit und sieht sich darum veranlaßt, ein etwa vorliegendes englisches oder deutsches Original nach dieser Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre von japanischen Vorträgen von Abendländern kam es vor, daß ich durch die Bemerkung „Seiyō-kusai“ („das riecht nach Europa“) unterbrochen wurde. Auf meine Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz sei, das Japanische bedürfe noch einiger Erweiterungen, um die Handlung lebendiger und den Fortschritt an- schaulicher zu machen. Der Europäer ist mit dem Ge- danken zufrieden; nicht so der Japaner: durch Auge und Ohr, durch Geruch und Geschmack und Gefühl treten die Vorstellungen als empirische Realitäten in seinen Geist ein. Er denkt mit seinen fünf Sinnen, und der Ausdruck dieses Denkens, das ist die Sprache, steht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung. Die konkrete Wirklichkeit ist ihre Lebensluft. Daher ist die japanische Rede, sei sie öffentlich, sei sie Unterhaltungsrede, sehr beweglich. Phantasie, Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantasie be- zeichnen würden, sondern im Sinne einer Fertigkeit, nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anschaulich zu illustrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße. Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er stets einen konkreten Gegenstand zu finden, um einen Ge- danken anschaulich zu machen. Erzählungen, an welchen die japanische Nation zum Teil durch chinesische Erb- schaft sehr reich ist, finden oft und passende Verwendung als Illustrationen. Häufige Anspielungen und halb ausgeführte oder auch nur angedeutete Bilder, welche der Rede manchmal gradezu den Charakter des Brillanten verleihen, tragen zur Lebendigkeit nicht wenig bei. Sprichwörter, meist scharf und schlagend, aus dem Volk hervorgegangen und bei allen Kulturvölkern in der Volkssprache noch mehr daheim als bei den Gebildeten, werden mit Vorliebe verwendet und sind noch Gemein- gut des ganzen Volkes. Weitaus die meisten Illustra- tionen aber sind der nächsten Umgebung entlehnt, nahe- liegende Dinge aus dem alltäglichen Leben, darum aber, wenn recht verwertet, einleuchtend und packend, besonders förderlich dem Witz, welcher sich in der derben drastischen Realistik, wo sich die Gegenstände scharf und grell abheben, am wohlsten fühlt. Neben dem äußerst beliebten und stets belachten, aber für unsern Geschmack meist faden Spielen mit Worten oder Wortspiel, bei welchem die japanische, wie überhaupt ostasiatische Vorliebe für die Form im Gegensatz zu dem Gedanken recht auffällig zu Tage tritt, wird gerade auf diesem Gebiete geistreiche Witzigkeit und Witzelei häufig erzielt: wie denn die Japaner im amüsanten Gerede Meister sind. Aus der Poesie der Natur und des Menschenlebens wird in der Umgangssprache wenig illustriert. In- folge dessen bleibt der Ausdruck trotz aller Beweglich- keit prosaisch. Als sinnliche Malerei ist der Ausdruck ähnlich dem aller Natur- und der Natur noch nahestehen- den Stände der Kulturvölker, wie wir ihn vorzüglich in dem Kindheitsalter der Völker finden, so in den uralten Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeschicht- lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch ermangelt die japanische Realistik wesentlich der sanften Sinnigkeit und glühenden Phantasie der Semiten, wie auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen. Sie schwingt sich nicht auf zu reinen Gebilden der Phantasie, den Boden der Wirklichkeit verliert sie nicht unter den Füßen. Sie verliert sich darum nicht in phantastisch unsinnigen Phrasen, wird aber auch nicht voll gerecht dem Gedankenzug in des Menschen Brust, welcher über diese Erde hinausdrängt. Der Grieche sah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm Empfinden verursachen, besitzen selbst Empfindung; der Semite sah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher Persönlichkeiten; und dieses Leben, welches das Auge des Geistes sah, spiegelte sich wieder in der Sprache. Für den Japaner aber ist die ganze Natur ein Me- chanismus, eine gut gehende, aber tote Maschine und diese Anschauung findet sich als Prosa in seiner Sprache wieder. Die Sprache hat sich eben mehr unter dem Einfluß der nüchternen chinesischen Anschauung als unter dem des naturpersonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo- mit aber nicht gesagt sein soll, daß die mechanische Weltanschauung dem Japaner rein anerzogen ist; ohne Zweifel war in ihm von vorn herein eine starke Nei- gung nach dieser Richtung hin vorhanden. Mit Recht rühmt man dem Japaner einen sympathischen Zug für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der mechanischen Weltbetrachtung keineswegs in Widerspruch steht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt, noch auch die Thatsache, daß die meisten Japaner, soweit sie einigermaßen Bildung besitzen, auch Gedichte machen, haben es vermocht, ihrer Umgangssprache einen poetischen Charakter zu verleihen. Die japanische Beredsamkeit besteht daher wesent- lich in der Fertigkeit des „shaberu“, ein Wort mit welchem der Europäer unwillkürlich den Begriff des „Schwätzens“ verbindet, ohne daß es sich jedoch voll mit diesem Be- griff deckt. Etwas mehr bedeutet „shaberu“ denn doch und „unterhaltend und fließend reden“ dürfte der Be- deutung des Wortes wohl nahe kommen. Eine gute Rede muß fließen, wie der Vortrag eines „hanashika“ (Erzähler), jener so ausgeprägt japanischen Erscheinung, die der innersten Natur der japanischen Sprache ent- spricht. Der Vokalreichtum der Worte macht die Sprache leicht und fließend, beraubt sie der Schwere, Wucht und Feierlichkeit, welche der deutschen Sprache in so hohem Maße eignen, während das Harte, Stählerne und Ein- förmige des Klanges ihr die Tiefe und Innigkeit an- derer vokalreichen Sprachen, wie z. B. der romanischen, nimmt. Die Rede gleicht dem Bach mit ungehindert guter Strömung, nicht dem Strom mit seiner geheimnis- vollen Tiefe, noch auch dem Waldbach mit seiner idyl- lischen Poesie. Manche japanische Rede hat mich lebhaft an die Predigt eines Landpfarrers erinnert, freilich nicht an die nicht seltene Spezies, welche mit unfehlbarer Sicher- heit dem müden Landmann die Augen zudrückt zu süßem, friedlichem Schlummer, sondern vielmehr an die entgegen- gesetzte Art, wo eine dem Verständnis und Interessen- kreis des Bauern angepaßte anschauliche und drastische Darstellung à la Abraham a Santa Clara sich paart mit nicht allzu dick und nicht allzu tief gesäten Gedanken. Es ist eine bekannte Thatsache, daß die Japaner bis zu sechs und acht Stunden Vorträge anhören können, ohne zu ermüden oder einzuschlafen. Nach dem, was wir hörten, kann uns dieses nicht mehr wunderbar er- scheinen. Es ist die lebendige Anschaulichkeit der Rede, welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis- mäßig langsame und wenig Geistesarbeit erfordernde Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung schützt. Ich war einmal so unvorsichtig, einem Japaner gegenüber zu bemerken, daß eine japanische Predigt für mich leichter sei als eine deutsche, da man nicht so viele Gedanken brauche; eine japanische Predigt, welche eben dieselben Gedanken enthalten solle, wie eine zuvor ent- worfene deutsche, sei unmöglich, da sie kein Ende nehme. Gefallen hat ihm diese Äußerung nicht, aber um so wahrer ist sie gewesen. Für den Europäer, welcher japanifch sprechen soll, bieten sich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es nicht versteht, sich in den Geist der japanischen Sprache zu versetzen, so redet er leicht abstrakt und langweilig oder aber unverständlich. Andrerseits liegt die Gefahr vor, sich in die Breite zu verlieren; für den, der die Sprache nicht voll beherrscht, liegt der bequeme Gebrauch von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver- führerisch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg- lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeschmackt in einem nicht sehr geschickten Munde. Wir geben hier ein Bei- spiel einer Ausdrucksweise, welche zwar nicht das Extrem des japanischen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in derselben Weise gebraucht werden kann und gebraucht worden ist, welche aber doch ein Bild der japanischen Art bietet. Ein Missionar hielt einen Vortrag über die Allgemeinheit des Bösen und zur Illustration be- merkte er: „Wie sieht es wohl in Tokyo aus? Wenn wir die Dächer aller Häuser in Tokyo abhöben, so daß von oben gesehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe, und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen über die Stadt, in jedes Haus hineinschauend, was würden wir da alles Schlechte sehen“; und nun folgt eine eingehende Beschreibung dieses Schlechten. Das Bild wurde aus europäischem Munde scharf getadelt. „Wozu erst Häuser abdecken und sich Flügel wachsen lassen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus- thür kann? Das ist höchst albern. Geht hinein in die Häuser und sehet! würde genügt haben“. Gut! Gewiß aber ist, daß der Missionar sich im Geist der japanischen Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, selbst in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners für japanische Ohren gut geklungen haben würden. Schon der Anfang des Gesprächs sowohl als auch der Rede pflegt auf Kosten des Gedankens breit zu sein. Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängstlich ver- meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem Besuch sofort mit seinem wirklichen Anliegen heraus- zukommen oder bei einer Rede mit dem ersten Wort in medias res zu gehen, ist beides unjapanisch. Die Menge von Redensarten, welche dem Japaner über das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge zur Verfügung stehen, rufen manchmal unsere Ver- wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das alles? und sind geneigt, es auf die Etiquette als den Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette ist, geben wir zu; daß es nur Etiquette ist, weisen wir zurück; es ist dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro- päischer Freund nach einer japanischen Versammlung etwas verwundert zu mir sagte: „Heute fingen alle Reden mit „konnichi“ (heute), „koko“ (hier) oder 3 „watakushi“ (ich) an“, fand ich das nur natürlich. Der Redende hat das Bedürfnis, sich zuerst einen festen Punkt in Raum oder Zeit, d. h. in der sinnlichen Welt, zu schaffen, oder er vergewissert sich seines eigenen Ich, auf daß er mit dem eigentlichen Inhalt seiner Rede nicht sozusagen in der Luft schwebe. Auch innerhalb der Rede selbst, sobald ein neuer Begriff auftaucht oder ein neuer Gegenstand erörtert werden soll, bedient sich der Japaner einleitender oder veranschaulichender Phrasen. Am unmittelbarsten zeigt sich der Charakter des Japanischen als Anschauungssprache in dem Reichtum an onomatopoetischen Wörtern, oder besser an Natur- lauten. Denn nicht solche Sprachteile sind darunter zu verstehen, welche wie unser „zischen, krächzen“ ꝛc. selbständige Wörter bilden. Dieselben werden in der Regel sehr rasch und in Nachahmung von Naturlauten nicht sehr artikuliert gesprochen, so daß sie etwas schwer zu verstehen sind. Der Europäer, welcher nicht jedes einzelne japanische Wort zu unterscheiden vermag, läßt sie sich leicht entgehen und hat keine Ahnung von ihrer außerordentlichen Häufigkeit; und zwar finden sich die- selben nicht nur im Gespräch, sondern auch im Vortrag. Man begnügt sich nicht damit, zu konstatieren, daß der Donner rollt; um den Eindruck auf das Gefühl recht lebhaft zu machen, fügt man das Geräusch hinzu, wie der Donner rollt ( „gorogoro“ bei dem dumpfen Rollen des fernen, „gachigachi“ bei den scharfen Schlägen des nahen Gewitters). Man ist nicht damit zufrieden, zu sagen, daß die Sonnenstrahlen auf dem Tau flimmern, man drückt das prickelnde Gefühl, das beim Anschauen in den Nerven entsteht, sinnlich im Wort aus ( „pikapika“ ). Es ist der Versuch einer Nachbildung der Wirklich- keit auf dem Gebiete des Hörens etwas Ähnliches, wie auf dem des Sehens diejenigen chinesischen Zeichen, welche einfach Bilder, Photographien der entsprechen- den Dinge sind; nennen wir es Gehörsideographie. Man fühlt sich hier noch näher dem Ursprung der Sprache, wie sie sich aus dem unmittelbaren Ausdruck der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von Außengeräuschen entwickelt hat. Wir Europäer haben uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf Grund einer zu ergänzenden sinnlichen Erfahrung zu statuieren; Völker, welche der Natur nahe stehen, haben mehr das Bedürfnis, die sinnliche Erfahrung selbst that- sächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über- gang finden wir in den ländlichen Dialekten unserer deutschen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis- mäßig noch stark vertreten ist, während er aus der gebildeten Sprache faktisch verschwunden ist. Was nicht im Einklang mit der sinnlichen Erfahrung ist, ist dem Sprachbewußtsein des Japaners mehr oder weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abstrakten Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieselben wirklich thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das geringste Bedenken. Anders der Japaner. Daher sind in der japanischen Sprache abstrakte Begriffe an und für sich schon viel seltener als bei uns. Die japanische Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte ( uta, shi ); für den abstrakten Begriff der Poesie hat sie kein Wort. Sie lebt im einzelnen und besonderen, die Zusammen- fassung des einzelnen zum allgemeinen ist nicht vollzogen. Auch auf Kosten eines großen Umwegs vermeidet der Japaner abstrakten Gedankenausdruck, wenn er dadurch denselben konkret und anschaulich wiedergeben kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt, weil er das täglich sieht; daß aber die Geschichte uns 3* etwas lehrt, begreift er nicht, weil er die Geschichte nicht sinnlich wahrnimmt. Anstatt: „Die Geschichte lehrt uns“ sagt er darum: „Wenn wir die Geschichte unter- suchen, so lernen wir“ ( rekishi wo shirabemasureba, … wakarimasu ). Nehmen wir ein anderes Beispiel: „Die Erfahrung zeigt, daß das Gute belohnt und das Böse bestraft wird“. Wie die Erfahrung, die doch weder Mund noch Finger hat, etwas zeigen soll, begreift der Japaner nicht. Noch versteht er, wie man das Gute belohnen kann, da es doch keine Hand hat, mit welcher die Belohnung in Empfang zu nehmen, oder wie man das Böse bestrafen kann, da es doch nicht hand- greiflich ist wie ein Mörder oder Dieb, den man in das Gefängnis steckt. Er ändert darum den Satz völlig um; den abstrakten Begriff „Erfahrung“ macht er konkret, an Stelle von „das Gute“ und „das Böse“ setzt er die guten und die bösen Menschen, so daß der Satz lautet: „Wenn wir den Zustand dieser Welt betrachten, so wissen wir, daß die Guten Lohn und die Bösen Strafen erhalten“ ( kono yo no sama wo mimasureba, yoi hito wa yoi mukui wo uru warui hito wa batsu wo ukeru to iu koto ga wakarimasu ). So betrachtet sich der Japaner die Einzelfälle und die Einzelwesen, und macht diese zum unmittelbaren Untergrund seines Urteils. In dieser konkreten Sinnlichkeit, und nur in ihr, besitzt er unan- tastbare Wahrheit. Wir sprechen von dem Hauch der Freiheit, dem Schwert der Gerechtigkeit und dem Zahn der Zeit. Für den Japaner sind solche Allegorien der barste Unsinn. Wir sagen: „Die Arznei hat mich gerettet“; „der Schuß hat ihn getötet“; der Japaner aber kann sich leblose Dinge wie „Arznei“ und „Schuß“ nicht thätig vorstellen und sagt darum: „Durch die Arznei wurde ich gerettet“ und „von der Gewehrkugel getroffen starb er“. Es ist eine ungeheure Kluft, welche durch diese Eigentümlichkeit zwischen dem europäischen und dem japanischen Gedanken- ausdruck geschaffen wird. Kein Wunder, wenn es mit- unter die größten Schwierigkeiten macht, christliche Ge- dankengänge in dieser von Personifikation völlig ent- blößten Sprache wiederzugeben; kein Wunder auch, wenn bei dem japanischen Mangel einer lebendigen Ideen- welt mancher japanische Prediger zu deutschen oder, ge- wöhnlicher, englischen Worten greift, die sich im Zu- sammenhang einer japanischen Predigt allerdings seltsam genug ausnehmen. Eine konkrete Ausdrucksweise, wie die erwähnte, erscheint dem „common sense“ , dem gemeinen Verstand, leicht als die allein berechtigte. Für den „common sense“ ist einzige Realität das Einzelding, der Begriff ist nur ein „nomen“ , keine „res“ , kein „ens“ . Wie sich die Sache aber vom Standpunkt einer tieferen Weltanschau- ung aus verhält, ist eine andere Frage, auf welche hier freilich nicht eingegangen werden kann. Es genüge zu bemerken, daß die japanische Ausdrucksweise die anschau- lichere und lebhaftere, die indogermanische, ganz unab- hängig davon, ob sie wahr oder falsch ist, die tiefere und konzisere ist, ohne doch dem Schwung der Rede Eintrag zu thun. Als ein entschiedener Mangel erscheint uns die japanische Ausdrucksweise bei der Personifizierung der Ideale und idealen Lebensgüter, welcher wir ein gut Teil der Schönheit unserer Sprache verdanken. Für den Japaner ist das Ideal ein nackter Begriff. Kunst und Wissenschaft, Weisheit und Schönheit, Geist und Gemüt, welche dank unserer indogermanischen Ent- wicklung für uns lebendige Realitäten sind, sind für ihn tot. Daß der schöpferische Geist des Ariers in den Be- griffswörtern seiner Sprache gleichsam lebendige produk- tive Wesen schafft, die nicht mechanisch zusammengefügt, sondern mit innerer Lebenskraft begabt sind, daß er sei- nen Hauptwörtern ein Geschlecht beilegt und sie dadurch bezeichnend belebt, beweist, daß seine Auffassung eine geistige ist. Daß der Geist des Ostasiaten für lebendige schaffende Begriffe kein Verständnis zeigt, daß die Dinge, geschlechtslos, für ihn tot sind, beweist, daß seine Auf- fassung eine sinnliche ist. Auffallend für uns und doch im Zusammenhang des Ganzen natürlich ist der Charakter des Unpersönlichen in der japanischen Sprache. Sie zeigt nicht nur Züge des Unpersönlichen im einzelnen auf, vielmehr zieht sich das Unpersönliche durch die ganze Sprache hindurch als eines ihrer bezeichnendsten Merkmale. Auffallend tritt das zu Tage in der möglichsten Vermeidung persönlicher Fürwörter. Es hat stark den Anschein, als existiere im Japanischen das persönliche Fürwort nicht um seiner selbst willen, als sei es nicht dazu vorhanden, die Person des „ich“, „du“ oder „er“ zu bestimmen, sondern als existiere es nur als ein Hilfsmittel zur Vermeidung von Unklarheiten des Sinnes. Überall da, wo das persön- liche Fürwort sich von selbst ergiebt, wird es ausgelassen. „Kinō Ueno ye mairimashita“ heißt je nachdem: „Ich, er oder sie ging, wir oder sie gingen gestern nach Ueno“. Nur die zweite Person ist durch die dabei verwendete Höflichkeitsform ( „o ide ni narimashita“ anstatt „mai- rimashita“ ) klar erkennbar. Eine beständige Wiederho- lung der Fürwörter, auch der possessiven, wie in unseren Sprachen klingt dem japanischen Ohr lächerlich. Aber nicht bloß da, wo es sich um ein persönliches Fürwort als Subjekt handelt, fehlt dasselbe; selbst auch in Fällen, wo ein Satzteil mit „ga“ oder „wa“, welche gewöhnlich als Subjektspartikeln betrachtet werden, vor- handen ist, geht dem Japaner das Bewußtsein eines Subjekts in unserm Sinne ab, so daß im Grunde jeder Satz unpersönlich ist. Was ist der Grund? Man sollte doch meinen, daß dem wahrnehmenden Geist · die Dinge als solche am nächsten liegen. Das Dingwort sollte also das Wesentlichste der Sprache sein, womit denn auch zugleich dem Subjekt, das ja in der Regel mit einem Dingwort identisch ist, eine leitende Stelle ange- wiesen würde. Eine solche Voraussetzung ist nicht unbedingt zuzu- geben. Ebensowohl wie das Ding ist die Handlung Gegenstand der Wahrnehmung. Neben der Eleatischen Philosophie des Seins und der Ruhe giebt es eine Heraklitische des Werdens und der Bewegung; beide aber liegen auf dem Gebiete der Wahrnehmung; die Bewegung geht noch keineswegs über dieselbe hinaus. Ja, psychologische Beobachtung von Kindern wird sogar zeigen, daß die Bewegung, die Thätigkeit, die Handlung den primitiven Geist am meisten fesselt. Das wogende Meer erregt die Aufmerksamkeit des Kindes in höherem Grade als der unbewegliche Berg; das laufende Pferd betrachtet es mit größerem Interesse als das schönste Pferd in Ruhe. So steht denn im Japanischen das Verbum als der Ausdruck der Bewegung im Mittel- punkt der Anschauung und im Mittelpunkt der Sprache. Wenn diese Bevorzugung dann auch dem Prädikat im weiteren Sinne wie z. B. hoch sein, rot sein ꝛc. zu teil wird, so liegt das nur in der Kon- sequenz des Gesagten. Denn was an einem Berg dem primitiven Geist zuerst auffällt, ist natürlich nicht, daß da ein Berg ist, sondern daß da etwas Hohes ist, also sein Hochsein, sein Attribut; Berg ist erst abstrahiert das Hochsein ist unmittelbar für die Wahrnehmung vor- handen. Was die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Licht lenkt, ist der rote Glanz. Gegenüber der Handlung selbst tritt der Handelnde, gegenüber dem Attribut das Ding in den Hintergrund. Daher die Subjektslosigkeit und folglich Unpersönlichkeit der japanischen Aus- drucksweise. Mit der konkreten Darstellungsweise scheint die Subjektslosigkeit nicht im Einklang zu stehen. Von unserm europäischen Bewußtsein aus empfinden wir einen Satz ohne Subjekt als etwas Totes und Abstraktes. Es wäre aber gänzlich verfehlt, dieses Urteil auf die japanische Sprache anzuwenden. Für den Indogermanen ist das Subjekt — das Substantiv — selbst etwas Lebendiges, Thätiges und Bewegliches; denn es hat Leben im Geschlecht und Bewegung in der Flexion. Fehlt es, so vermissen wir naturgemäß ein gut Teil Leben und Bewegung. Im Japanischen aber ist das Substantiv etwas Totes und Ruhendes. Das Geschlecht ist ihm fremd, sogar so sehr, daß es auch da, wo es empirisch vorhanden ist, das heißt in der Tierwelt (die Menschenwelt allein ist ausgenommen), doch möglichst vermieden wird. Eine Flexion hat das Substantiv nicht. Starr und steif bleibt es unverändert dasselbe. Ganz anders dagegen das Verbum mit seiner außer- ordentlichen Mannigfaltigkeit der Flexion. Das Verbum ist das Prinzip des, wenn auch seelenlosen, mechanischen, Lebens und der Bewegung im japanischen Satz. Mag auch das Subjekt fehlen oder mag es eine untergeordnete Stellung haben, die Beweglichkeit und Anschaulichkeit der Sprache wird dadurch nicht berührt. Die japanische Sprache als Sprache der empirischen Anschauung ist also zugleich auch unpersönlich. Wahrneh- mung und Unpersönlichkeit gehören viel mehr zusammen, als wir oft zu denken geneigt sind. Finden wir sie doch in enger Gemeinschaft zusammen in dem Kind! Das Kind, noch nicht zu vollem Selbstbewußtsein erwachsen, steht ganz innerhalb der Wahrnehmung; und gerade das Kind ist es, welches sich besonders unpersönlich aus- drückt. Das Kind spricht von sich in der dritten Person und redet einen andern in der dritten Person an. Für das Kind ist alles und jeder weder ich noch du, sondern etwas Neutrales, ein Daseiendes, ein Ding, gleichwie der Japaner das Wort „mono“ (Ding) von Sachen und Personen gleicherweise gebraucht. Wenn also der Japaner unpersönlich, subjektslos denkt und spricht, so hat das seine Ursache darin, daß sein Stand- punkt der der empirischen Anschauung ist. Mir ist es zweifellos, daß die Entwicklung der japanischen Sprache von dem Verbum bezw. von dem Prädikat ausging. Das Verbum nimmt in ihr die erste Stelle ein. Ein Studium der Sprache, welches mit dem Verbum beginnt, ist darum das Naturgemäße, und weil es das Naturgemäße ist, auch das Empfehlenswerte. Jeder, der Japanisch studiert hat, weiß: Wer das Verbum beherrscht, und nur wer das Verbum beherrscht, meistert die Sprache. Die Methode, welche mit dem Substantiv beginnt und dann erst noch das Adjektiv, das Zahlwort und Fürwort bringt, ehe sie zum Verbum kommt, ist sehr anfechtbar. Im besonderen wieder ist es an- gebracht, mit reinen Anschauungssätzen zu beginnen und nicht mit der Eintrichterung einzelner Worte. Denn das einzelne Wort ist abstrakt, der Wahrnehmungssatz spiegelt die konkrete Wirklichkeit wieder. Für jeden Menschen steht die Wahrnehmung im Vordergrund, sie bildet die Grundlage des Denkens und folglich auch der Sprache. Mehr aber noch, erkennbarer und sichtbarer jedenfalls, als in andern Sprachen, spielt sie in der japanischen eine große Rolle. Also mache man den Wahrnehmungssatz zur Grundlage! Und zwar beginne man mit Dingen des alltäglichen Lebens, da dieselben für den Japaner von großer Bedeutung sind. Aber auch der einzelne Wahrnehmungssatz ist noch nicht konkret genug. Er bleibt abstrakt, so lange er nicht in einem ihm entsprechenden Zusammenhang steht. Die Wirklichkeit des Lebens äußert sich als eine zu- sammenhängende, wenigstens successive Wahrnehmung. Eine Übung wie: „Der Lehrer lehrt; Hannibal besiegte die Römer; die Katze fängt Mäuse“ schlägt der Wirk- lichkeit des Lebens höhnend ins Gesicht. So wie die Wirklichkeit des Lebens sich vollzieht, darnach richtet sich die Sprache beim Kind, darnach sollte sie sich auch beim Studium richten. Die japanische Sprache verträgt keine gekünstelte und abstrakte Methode. Denn sie selbst ist ursprünglich. Sie ist der genaue Ausdruck des inneren Eindrucks und darum an Schärfe und Deutlichkeit unseren durch die Grammatik abgeschliffenen Sprachen vielfach überlegen. Im Japanischen hat sich die Kunst lediglich nur der geschriebenen Sprache zugewendet; die gesprochene wuchs auf wild und ohne Zucht, hat sich dadurch aber ihre Natürlichkeit bis heute noch bewahrt und damit ihre Stärke und Schwäche zugleich. Um einen richtigen Begriff von der erwähnten Ur- sprünglichkeit, der Übereinstimmung von Grammatik und Logik zu bekommen, ist es eigentlich nötig, dieses ganze Kapitel in Betracht zu ziehen. Hier seien nur noch einige wenige Beispiele dafür angeführt. Angenommen es tritt jemand in sein Zimmer und sieht, daß jemand anderes darin war, so fragt er: „Wer war in diesem Zimmer?“ Der Japaner aber fragt: „Kono heya ni haitta no wa dare desu?“ wörtlich: „Der in dieses Zimmer Eingetretene ist wer?“ In unserem deutschen Satz ist „wer“ grammatisch das Subjekt, „war (ist ein- getreten)“ ist das Prädikat. Dieses stimmt aber mit dem Sinn des Satzes keineswegs überein, d. h. es ist unlogisch. Logisch ist weder „wer“ das Subjekt, noch „ist eingetreten“ das Prädikat. Um das logische Ver- hältnis herauszubringen, brauchen wir nur zu fragen: „Um wen oder was handelt es sich?“ Um wen handelt es sich also hier für den Fragenden? Doch um den, der das Zimmer betreten hat; ihn will er wissen; und um was handelt es sich weiter? Darum, wer er ist. Also ist logisch „der in das Zimmer Eingetretene“ das Subjekt und „ist wer?“ ist das Prädikat. Dieses logische Verhältnis bringt der japanische Satz klar und scharf zum Ausdruck. Ebenso verhält es sich z. B mit dem Satz: „Wenige Menschen thun das Gute“. Soll etwa von „wenige Menschen“ etwas ausgesagt werden? Keineswegs. Viel- mehr soll von Gutes thuenden Menschen etwas konstatiert werden, und zwar, daß ihrer wenige sind. Also sagt der Japaner ganz richtig: „Das Gute thuen(de) Menschen sind wenige“ ( zen wo nasu hito ga sukunai ). Nehmen wir den Satz: „Das japanische Parlament zählt 300 Mitglieder“. Dieser Satz giebt den logischen Sinn ganz unrichtig wieder. „Der japanische Reichs- tag“ ist Subjekt, „zählt“ ist Prädikat, und „300 Mit- glieder“ ist Objekt. Was ist aber die Hauptsache? Um was handelt es sich? Um den „japanischen Reichs- tag?“, um „zählt?“, um „300 Mitglieder?“ Nein, es handelt sich um „die Zahl der japanischen Parlaments- mitglieder“; die soll festgestellt werden, so daß es sich dann weiter darum handelt, festzustellen, wie viele es sind. Dieses logische Verhältnis drückt der Japaner auch grammatisch im Satz aus, indem er sagt: „Die Zahl der japanischen Reichstagmitglieder ist 300“ ( Nippon no kok’kwaigin [no kazu] wa sambyakunin desu ). Wie scharf die japanischen Glieder sich hervorheben, wo die deutschen farblos neben einander stehen! Zwar ist es ja auch unserer Sprache noch möglich, sich in Übereinstimmung mit der Logik auszudrücken, oft aber nicht, ohne dem Satz bedeutenden Zwang anzuthun und das Sprachgefühl des Hörers zu verletzen. Es ist nicht eine bestimmte Art von Sätzen, um die es sich hier handelt, und für das ganze Gebiet der Sprache müssen wir darum die Notwendigkeit betonen, unsere Sprachen erst logisch umzubilden, ehe man in das Japanische übersetzt. Eine wörtliche japanische Übersetzung eines mit der scharsen Logik des natürlichen Menschenverstandes zurecht geformten Satzes wird in der Regel richtig sein. Man hat also die Sätze in Übereinstimmung mit dem wirklichen Verhältnis ihres Inhalts zu übersetzen auf Grund des Prinzips, daß sich der Japaner in strenger Übereinstimmung mit der inneren und äußeren Situation ausdrückt. Diesem Prinzip, welchem die Abwesenheit einer ausgebildeten Grammatik unmittelbar zur Seite steht, entspricht die außerordentliche Mannigfaltigkeit der ja- panischen Ausdrucksweise. Das gleicht der regellosen, bunten Verwirrung eines natürlichen Gartens, wo das einzelne noch nicht beschnitten ist mit dem Messer des Gärtners und von seiner Hand noch nicht in zwängende Beete eingeschlossen ist. Das wächst natürlich, gemäß innerer Notwendigkeit und äußerer Freiheit. An unsere Gebundenheit gewöhnt können wir es kaum begreifen, daß der Japaner, ohne irgendwie seiner Sprache Zwang anzuthun, ein Sätzchen von sechs Worten einige Dutzend Mal variieren kann. Ich will mich mit einer kleinen Probe begnügen, indem ich einige Variationen des Satzes: „Dieses Zeichen ist gut geschrieben“ gebe. kono ji wa yoku kaite aru kono ji ga yoku kaite aru kono ji no kakikata wa ii kono ji no kakikata ga ii kono ji wa kakikata ga ii kono ji wa kakikata wa ii kono ji ga kakikata wa ii kono ji wa yoi kakikata desu kono ji wa kakikata no yoi ji desu kono ji ga kakikata no yoi ji desu kono ji no kakikata wa yoi kakikata desu kono ji no kakikata ga yoi kakikata desu Die Zahl dieser Variationen ließe sich durch kleine Veränderungen bis auf sechzig bringen. Das sieht nun allerdings wie Spielerei aus und der Unkundige ist versucht, ungläubig zu lächeln. Und doch klingen alle diese Formen dem japanischen Ohr natürlich, darum weil sie direkte Ausdrücke einzelner Vorstellungen sind. Ein jedes Ding und ein jeder Vorgang läßt sich von verschiedenen Seiten betrachten, und die Vorstellungs- bilder im Geist sind mehr oder weniger verschieden je nach der Art der Betrachtung. Die Fähigkeit, diese verschiedenen Nuancierungen auch möglichst direkt und getreu wiederzugeben, hat sich die japanische Sprache mehr bewahrt als die unsrigen, während man sie andrer- seits wegen Mangels an festen Formen von dem Vor- wurf einer gewissen Zerfahrenheit nicht freisprechen kann. Wie übrigens der Japaner denselben Vorgang je nach der Auffassungsweise verschieden ausdrückt, so hat er auch für ein und dasselbe Ding je nach seiner Er- scheinungsform verschiedene Worte. Für uns ist Reis gleich Reis, ob er auf dem Felde wächst oder auf dem Speicher lagert oder in der Schüssel dampft. Nicht so für den Japaner. Für ihn sind das lauter verschiedene Dinge, die er auch verschieden bezeichnet. Der Reis auf dem Feld heißt „ine“, der Reis auf dem Speicher d. h. der ungekochte „kome“, der gekochte Reis, wenn ich ihn selbst esse, „meshi“, wenn ihn aber eine zweite Person ißt d. h. in der Höflichkeitssprache „gozen“ , und wenn ihn ein Kind ißt, „mama“ . „Ich esse „ine“ “ würde dem Japaner so lächerlich klingen, wie wenn man von einem Menschen sagte, daß er Gras esse. Es ist die Bestimmtheit der Anschauung, welche daraus hervorleuchtet und, so indirekt die Art des Japaners im Verkehr ist, so direkt und bestimmt ist er im einzelnen Ausdruck. Wir sagen: „Der Vater bringt den Kindern stets Reisegeschenke mit“. Dem Japaner ist dieses „stets“ zu unbestimmt und allgemein. Der Japaner löst auf, wo der Deutsche zusammenfaßt, ver- einzelt, wo der Deutsche verallgemeinert, individualisiert, wo wir generalisieren. Der Japaner denkt logisch, „stets“ das ist doch wohl „jedesmal“, wenn er zurückkehrt, und übersetzt folgerichtig: „Otottsan ga maido kodomo ni miyage wo motte mairimasu“ . Im Anfang meines japanischen Aufenthalts ist es mir oft begegnet, daß ich Schüler, die mich besuchten, fragte: „Nani gakkō ye irasshaimasu ka?“ wörtlich: „Welche Schule besuchen Sie?“ Nun würde der deutsche Knabe auf eine solche Frage sofort seine Antwort geben; hier aber wurde ich auf meine Frage gewöhnlich groß angeschaut und in dem weitgeöffneten Auge stand deut- lich zu lesen: „Ich habe Sie nicht verstanden? Was meinen Sie?“ Die deutsche Frage mit „welche“ oder „was für eine“ ist zu abstrakt und unbestimmt. Der Japaner fragt: „Doko no gakkō ye irasshaimasu ka?“ oder „nan to iu gakkō ye irrasshaimasu ka?“; er fragt also ganz bestimmt nach dem Ort oder nach dem Namen der Schule. So würde man auch nicht fragen: „Aus welcher Gegend sind Sie? Welches ist Ihre Heimat?“, sondern ganz bestimmt: „Wo ist Ihr Land?“ „Anata wa doko no kuni desu ka?“ oder „O kuni wa doko de gozaimasu ka?“ Wie mit dem Ort, so inbezug auf die Zeit. So würde eine wörtliche Übersetzung von: „Welches ist das Geburtsjahr Luthers?“ japanisch unverständlich sein. Der Japaner will direkt wissen, um welchen Gegenstand es sich handelt, und da es sich hier nicht um irgend ein unbestimmtes „welches“ dreht, sondern ganz klar und deutlich um eine Zeitbestimmung, so gebraucht er nicht das unbestimmte Fragepronomen, sondern das bestimmte Zeitpronomen; er sagt also: „Luther wa itsu umaremashita ka?“ oder noch logischer: „Luther no umareta toshi wa itsu desu ka?“ Der Unterschied der deutschen und japanischen Aus- drucksweise ist nicht auf räumliche und zeitliche Ver- hältnisse beschränkt. Nehmen wir ein Beispiel, welches auf einem ganz andern Gebiet liegt, z. B.: „Was ist Herr Mayeda?“ Die wörtliche Übersetzung: „Maye- dasan wa nan desu ka?“ würde nicht verstanden werden. Der Japaner sagt: „Was thut (treibt) Herr Mayeda?“ „Mayedasan wa nani wo suru hito desu ka?“ Bei dem Unterricht mit Kindern gilt bei uns in Europa der katechetische Grundsatz, die Fragen, dem Verständnis des Kindes angepaßt, so präzis als möglich zu stellen, und gerade auf solche Dinge wird der junge Lehrer oft hingewiesen. In Japan noch durch die Sprache des ganzen Volkes, in Europa durch die Sprache der Kinder- schule — hier wie dort genau dasselbe! In Japan geborene Kinder europäischer Eltern lernen das Japanische eher und leichter als ihre Mutter- sprache; auch in Europa geborene und vor dem zehnten Lebensjahr nach Japan gekommene Kinder eignen sich das Japanische fabelhaft rasch und korrekt an und bedienen sich mit Vorliebe einer Sprache, welche ihren Eltern als der Inbegriff alles Schwierigen erscheint. Worin hat das seinen Grund? Man führt es gewöhn- lich darauf zurück, daß die japanischen Wörter leichter und gefälliger in der Aussprache sind als die unsrigen; man vergleiche nur uma für Pferd, ume für Pflaume, tabi für Strumpf. Ohne Zweifel ist dieser Grund nicht zu unterschätzen. Der tiefere Grund aber, welcher auch praktisch mindestens ebenso schwer wiegt, ist in dem Um- stand zu suchen, daß die japanische Ausdrucksweise dem kindlichen Geist homogen ist und dem Fassungsvermögen und der Anschauungsweise eines Kindes weit mehr ent- spricht als unsere zur Mannesreife entwickelten Sprachen. Entsprechend dem sonstigen konkreten und beweg- lichen Charakter seiner Sprache hat der Japaner durch- weg eine Vorliebe für das Aktivum. Denn das Aktivum bedeutet Thätigkeit und Beweglichkeit und verdient darum stets den Vorzug vor dem Passivum, welches Leiden, Unthätigkeit, Ruhe ausdrückt, Qualitäten, welche für einen Geist, der sich vom Beweglichen am meisten fesseln läßt, keinerlei Anziehung besitzen. Wo irgend möglich wird darum das Passiv vermieden. „Dieses Haus wurde voriges Jahr gebaut“, übersetzt man aktivisch: „Dieses Haus haben (sie) voriges Jahr gebaut“ „kono iye wa kyonen tateta“ . Im Lateinischen würde in Fällen wie „im Senat wurde beschlossen“ stets die passive Konstruktion eintreten; im Deutschen oder Englischen tritt sie gewöhnlich, aber nicht ausschließlich ein; und im Japanischen tritt sie möglichst überhaupt nicht ein. Der gebildete Deutsche empfindet den Unter- schied, ob er sich aktivisch oder passivisch ausdrückt, kaum irgendwie; der deutsche Bauer dagegen empfindet ihn; auch er wird stets das Aktiv vorziehen. „Im Reichstag wurde beschlossen“ klingt ihm unbequem; „im Reichstag haben sie beschlossen“, „voriges Jahr haben sie hier ein Haus gebaut“, ist ihm das Geläufigere. Und so ist es im Japanischen durch die Sprache des ganzen Volkes hindurch. Daß diese Ausdrucksweise die konkretere und anschaulichere ist, ist unbedingt zuzugeben. Von hohem Interesse ist das Fehlen der Futur- formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem Futur I und einem Futur II reden, so beruht das auf einer falschen Auffassung der unbestimmten oder dis- junktiven Präsens- und Präteritumsformen. Eine solche Auffassung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus- druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus- druck einer Unbestimmtheit ist, so daß mitunter unser Futur mit der japanischen Unbestimmtheitsform wieder- zugeben ist. Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, ist unschwer zu beantworten. Gegenwart und Vergangenheit schließen erfahrungsgemäße Wirklichkeit in sich. Die Gegenwart lebt unmittelbar in der Welt der Wirklichkeit; sie ist daher besonders bevorzugt, indem oft sogar deutsche Perfekta in ihr ausgedrückt werden, wenn ein Mißver- 4 ständnis nicht zu befürchten ist; dies gilt insbesondere von negativen Antworten auf vorhergehende Fragen. Die Vergangenheit hat es mit Erinnerungsbildern einer objektiv erfahrenen Wirklichkeit zu thun. Beide, Gegen- wart und Vergangenheit, haben realen festen Boden unter sich, und wenn eine der beiden fehlte, so würde das dem Geist der japanischen Sprache durchaus widersprechen. Die Zukunft dagegen hat es mit Nichtwirklichem zu thun; die Zukunft ist ein unbekanntes dunkles Land, wo der Fuß keinen festen Halt zum Stehen findet, wo die Hand anstatt greifbarer Wirklichkeit verfließenden Nebel zu fassen bekommt und das Auge nichts klar und deutlich zu erkennen vermag. Wenn es dem konkreten, realen Sinn des Japaners widerstrebt, sich in einem solchen Lande heimisch zu machen, so können wir uns darüber nicht groß wundern, da es mit seinen übrigen Neigungen durchaus im Einklang steht. Etwas, was er als wirklich kennt, kann er negieren und er thut es im Negativum. Wo aber von vornherein nichts der Art vorhanden ist wie bei der Zukunft, fehlt ihm der Ausdruck. Hier tritt nun vermöge seiner Auffassung und überhaupt nach der Auffassung des primitiven Geistes, welcher die Zukunft als etwas Unbestimmtes, Fließendes und Ungewisses erfaßt, die Form der Un- bestimmtheit oder disjunktive Form oft da ein, wo wir in unsern Sprachen das Futurum setzen. Daß das Futurum dem Naturmenschen mit seinem konkreten Sinn überhaupt ferne liegt, sehen wir noch sehr klar und deutlich in unsern Dialekten, besonders bei der länd- lichen Bevölkerung, deren Ausdrucksweise mit der japa- nischen in der Sache große Ähnlichkeit hat. Denn bei bestimmter Zukunft gebraucht der Bauer stets die Form der Gegenwart, wie der Japaner seinerseits thun muß ; wendet aber der Bauer wirklich die Futurform an, so meint er dieselbe nicht als Futur, sondern als Wahr- scheinlichkeitsform. Mit dem Fehlen des Futurs steht im engen Zu- sammenhang, daß dem Japaner die Begriffe der Hoff- nung, der Befürchtung, des Wunsches und der Erwartung in unserm Sinne fremd sind. Und warum? Zum guten Teil darum, weil jene Begriffe der Zukunft angehören, die er doch nicht kennt. Freilich geht es nicht soweit, als kenne der Japaner z. B. die Furcht überhaupt nicht, als habe er das Gruseln noch nicht gelernt, wie jener Mann im Märchen. Wenn von dem „sich fürchten“ vor wirklich vorliegenden Gefahren die Rede ist, wie daß das Kind den Hund fürchtet oder das Schaf den Wolf, so ist der Ausdruck leicht möglich. Wenn es sich aber um Befürchtungen betreffs zukünftig etwa eintretender Ereignisse handelt, so versagt die Sprache. Freilich spielt dabei noch ein anderer für den Cha- rakter der Sprache bemerkenswerter Faktor mit. Es ist das das Hintantreten der sogenannten subjektiven Sprache hinter die objektive, ein weiterer Beweis für eine noch nicht sehr entwickelte Stufe des Selbstbewußtseins gegen- über dem Außenbewußtsein. Der Japaner sagt auch nicht halb so oft, „ich denke, ich vermute, ich glaube“ ꝛc., wie wir zu thun pflegen. Das beliebte „to omoimasu“, welches der Europäer für „ich denke, daß“ gebraucht, hört man im Munde des Japaners sehr wenig. Er bedient sich in solchen Fällen der unbestimmten oder disjunktiven Form. „Ich denke, er kommt“ ist eher „kuru darō“ als „kuru to omou“ . Die Verba der sub- jektiven Sprache haben im Japanischen keinen so abge- schwächten Charakter wie in unsern Sprachen; sie sind gehaltvoller und haben mehr Individualität. 4* Eigentümlich ist die japanische Wiedergabe unseres Sollens, Müssens und Dürfens. Sollen, Müssen und Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für sie voll entsprechende Worte, so müßte er ebensogut ein ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, so fehlt ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen. Er muß umschreiben, so daß das deutsche „muß thun“ durch „seneba ikenai“, wörtlich: „Wenn man nicht thut, geht’s nicht“ wiederzugeben ist. „Wie soll man’s machen“ ist „dō shitara yokarō ka“ wörtlich: „Wenn man es wie gethan hat, ist es gut?“ Der deutsche Satz enthält eine ethische Forderung, wie sie in dem Wort „soll“ auch etymologisch noch klar zum Vorschein kommt, da „soll“ gemeinsamen Stammes mit „Schuld“ ist; man vergleiche nur das englische „should“ gleich „sollte“, wo die Ver- wandtschaft mit Schuld sofort einleuchtet. „Du sollst“ ist also „du schuldest“. Der Japaner aber setzt einfach einen Urteilssatz beruhend auf dem Grunde der Er- fahrung, aus welchem die ethische Forderung nicht er- sichtlich ist. Es ist ohne Zweifel charakteristisch, daß in den einzigen Formen des Verbums, wo das ethische Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat, dasselbe beim japanischen Ausdruck überhaupt nicht vor- handen ist. Der japanische Ausdruck klingt utilitaristisch. Eine der interessantesten Formen des Verbums ist das Negativum. Der Japaner hat kein entsprechendes Wort für „nicht“. Ebenso wenig kennt die Sprache negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie „niemand, kein, nichts, nirgends, niemals“ ꝛc. haben kein japanisches Äquivalent. In der That sind für den wahrnehmenden Geist solche Vorstellungen Unmöglich- keiten. Ein „niemand“, „nirgends“ oder „niemals“ ist ein Unding, das es nicht giebt. Eine derartige Negation ist nur dem Denken möglich, welches von den Dingen schlechthin zu abstrahieren weiß, also dem über die Wahrnehmung hinausliegenden Denken. Der Japaner verbindet die Negation mit dem Ver- bum, das heißt mit demjenigen Sprachteil, durch den allein Veränderungen des Seins sich ausdrücken lassen. Die Bildung des Negativums ist psychologisch un- schwer nachzukonstruieren. Nehmen wir den Satz: „Ame ga furanai“, „es regnet nicht“. Ehe dieser negative Satz gesprochen wurde, war im Geist isoliert schon das positive Bild des Regnens, der Gedanke an Regnen vorhanden, veranlaßt durch eine vorhergehende Frage: „Regnet es?“ oder durch die Erinnerung an das gestrige schlechte Wetter oder durch die Beobachtung eines be- deckten Himmels ꝛc. Indem dann dieses positive Bild des Geistes in Vergleichung zu der thatsächlichen Wirk- lichkeit gebracht wird, findet man, daß dasselbe in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist und sagt dann: „Furanai“, „regnen — nicht vorhanden“. Das Negativ ist also die Angabe, daß ein positives Bild des Geistes in der Welt der Wirklichkeit keine Bestätigung findet. Der Umstand, daß ein eigenes Wort für unser „nicht“ nicht existiert, impliziert schon, daß für den Japaner die Negation überhaupt nichts Selbständiges ist. Sie verschmilzt mit dem Zeitwort, mit welchem sie sich verbindet, zu einem einzigen Begriff. Dieser Begriff aber hat im Japanischen in gewissem Sinne positive Bedeutung, in Übereinstimmung damit, daß für die Geistesstufe der Wahrnehmung überhaupt nur das Po- sitive existiert. Die positive Natur des negativen Verbums fällt sofort auf bei der Beantwortung negativer Fragen. Auf eine negativ gestellte Frage antwortet der Japaner po- sitiv, wo wir negativ antworten würden. Auf die Frage: „Kaze ga fukanai ka?“ (weht nicht Wind?) giebt der Japaner zur Antwort: „Hai, fukanai“, „ja, er weht nicht“ oder „hai, so desu“, „ja so ist’s“, wo wir mit „nein“ antworten würden. Doch hat der Japaner von seinem Standpunkt aus völlig Recht, und dieses leuchtet sofort ein, wenn wir den Satz so wiedergeben, wie ihn der Japaner empfindet. Die wörtlichste und korrekteste Übersetzung von „kaze ga fukanai ka?“ ist: „(ist) Nicht- wehen des Windes?“ Die logisch richtige Antwort darauf zur Bezeichnung dessen, daß kein Wind weht, ist: „Ja, es ist Nichtwehen“ oder einfach: „Ja, es ist“ (nämlich Nichtwehen). Die letzten Zweifel an der Richtigkeit des japanischen Ausdrucks werden schwinden, wenn wir das Wort „Nichtwehen“ durch „Stille“ er- setzen. Auf die Frage: „Ist Windstille?“ erfolgt notwendig die Antwort: „Ja“, wenn die Frage bestätigt werden soll. Sobald man sich davon frei gemacht hat, in dem japanischen „fukanai“ unser „wehen“ und unser „nicht“ als zwei getrennte Begriffe zu sehen, ist man über diese Schwierigkeit hinaus. Was den Anfänger am meisten verwirrt, ist der antipodische Charakter der japanischen Sprache. Eine wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen dünkt uns auf den ersten Blick der reinste Unsinn zu sein. Über den Satz: „Kangae no nai hanashi wo suru yori wa damatte iru hō ga ii to omou“ (wörtlich: „Gedan- ken von nicht sein Reden machen als was betrifft schweigend sein Seite die gut daß glaube) bedarf es erst einigen Nachdenkens, bis es einem einfällt, daß man es ja mit einem Antipodenvolk zu thun habe, und daß darum vielleicht auch der Satz selbst und in dem Satz so ziemlich alle Redeteile auf den Kopf gestellt werden müssen, ehe man die Bedeutung des Satzes in gutem Deutsch erfahren kann: „Ich halte Schweigen für besser als gedankenloses Reden“. Der Japaner denkt und spricht umgekehrt wie wir. „Die Ohren der Katze“ (1, 2, 3, 4) wird in seinem Munde gerade umgekehrt „Katze der Ohren die“ „neko no mimi wa“ (4, 3, 2, 1); „auf dem Tische“ (1, 2, 3) wird umgekehrt „Tisch dem auf“ „tsukue no ue“ (3, 2, 1). Der Genitiv kommt stets vor dem Hauptwort, von dem er abhängig ist, das indirekte Objekt vor dem direkten, das Adverb vor dem Prädikat. Präpositionen werden zu Postpositionen, Kon- junktionen treten hinter den durch sie bestimmten Satz, das Hilfszeitwort hinter das Zeitwort. Die Wort- stellung ist genau bestimmt. Versehen klingen dem japanischen Ohr komisch. Das Wichtigste kommt immer hinten nach, die letzte Stelle im Satz ist von größter Bedeutung und gehört darum dem Verbum. Ehe das Verbum kommt, weiß man nicht, woran man ist, der Satz nimmt die Aufmerksamkeit in Anspruch bis zum letzten Wort, da bis zum letzten Wort das in der Schwebe bleibt, um was es sich eigentlich handelt. Wer sich einigermaßen mit der japanischen Wort- stellung vertraut gemacht hat, kann nicht umhin, ihre Vorzüglichkeit tief zu empfinden. Es ist ein harmonischer Aufbau, welchen man vor sich hat. Der letzte Teil, zumal das Verbum, erscheint wie ein Feldherr, welcher hinter den wohlaufgestellten Truppen steht und von dort aus alles übersieht und leitet, während in andern Sprachen oft alles durcheinander zu gehen scheint und eine eigentliche kontrollierende Macht nicht vorhanden ist. Genau dasselbe Prinzip, welches die Wortstellung beherrscht, macht sich auch in der Satzstellung geltend; das Nebensächliche kommt voran, der Hauptsatz steht immer am Ende. „Besuchen Sie mich manchmal, wenn Sie nach Tokyo kommen“ muß notwendig wiedergegeben werden: „Wenn Sie nach Tokyo kommen, besuchen Sie mich manchmal“ „Tokio ye oide nasattara, toki-doki irasshai“ . „Er sagte, er werde kommen, wenn das Wetter gut sei“ (1, 2, 3) wird umgekehrt: „Wenn das Wetter gut sei, werde er kommen, sagte er“ (3, 2, 1), „tenki ga yokereba, kuru to itta“ . So muß ein deutscher Satz mit drei oder vier Nebensätzen im Japanischen oft geradezu auf den Kopf gestellt werden, und ich kannte Japaner, bei denen es Prinzip war, bei Übersetzungen aus dem Deutschen von hinten anzufangen. Es ist bewundernswert, wie streng der Japaner das Verhältnis der Koordination und Subordination durchführt. Wir sagen ruhig: „Gestern war ich krank und ging nicht zur Schule“. Wir koordinieren. Dem Japaner geht das wider das Gefühl. In strikter Über- einstimmung mit dem wirklichen Verhältnis subordiniert er den ersten Satz, nur der zweite erscheint als selb- ständig, also: „Wegen Kranksein ging ich gestern nicht zur Schule“, „byōki de kinō gakkō ye mairimasen deshita“ . „Es regnet und die Wege sind schlecht“ wird: „Infolge Regnens sind die Wege schlecht“, „ame ga futte michi ga warui“ . Auch hier ist die japanische Sprache in unbedingter Harmonie mit der Logik des natürlichen Verstandes, welcher alles so sieht, wie es wirklich erscheint, das Nebensächliche als Nebensächliches setzt und dem Gegen- stand den Hauptplatz zuweist, dem er gebührt. Der Europäer wird nur dann richtig japanisch konstruieren, wenn er streng logisch d. h. in strenger Übereinstimmung mit den Verhältnissen denkt. Durch die Tendenz, die Neben- und Hauptsache in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, sind kurze Sätze von vornherein beschränkt. Kurze Sätze sind überall da häufig, wo Nebeneinanderstellung, Koordination statt- findet. Dieses ist im Japanischen aber nicht der Fall. Der Japaner bildet daher Satzgefüge und zwar, ent- sprechend dem gegenseitigen Verhältnis der einzelnen Glieder, oft von außerordentlicher Länge. Als ich es einmal fertig gebracht hatte, eine ganze anderthalbseitige Geschichte in einem einzigen Satz zu erzählen, fand ich Gnade vor meinem japanischen Lehrer. Ein großes Kreuz für den Europäer bildet die Höflichkeitssprache. Zwar haben ja auch wir Deutsche unser redlich Teil an diesem Kreuz zu tragen, aber im Vergleich zu dem Japanischen sind unsere Höflichkeits- phrasen harmloser Natur. In unsere Sprachen über- setzt, klingt die japanische Höflichkeit höchst lächerlich und geschraubt. Warum man von so einem gewöhnlichen Ding wie von den Füßen als von „geehrten und er- habenen Füßen“ spricht, ist gewiß nicht einzusehen. Die Höflichkeitssprache hat zum Teil ihr eigenes Vokabularium und zwingt dem Verbum andere und neue Formen auf. Für das Sprechen ist sie von außerordentlicher Wich- tigkeit, da sich ohne Kenntnis derselben nicht einmal ein einfaches Gespräch führen läßt. Falsch aber wäre es, von ihr einen Schluß auf den inneren Charakter der Sprache zu machen. Dieselbe ist nichts weiter als eine bis ins kleinste kunstvoll ausgebildete Etiquette auf dem Gebiet des Sprechens. Sie ist also nicht etwas Ursprüng- liches sondern Kunst; sie gehört nicht zur Natur der Sprache selbst, sondern wurde von außen eingetragen. Sie ist in eminentem Sinn das Element, in welchem der Japaner seine Sprache, die er sonst gar nicht bear- beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht sowohl psychologisch als vielmehr geschichtlich verstehen müssen. Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgesehen von Feinfühlichkeit, nicht in besonderen Gemütsverhältnissen des Japaners, sondern in äußeren Kulturzuständen. Den strikten Standesunterschieden früherer Zeiten verdankt die Höflichkeitssprache ihre heutige Blüte. Wo die Standesunterschiede verschwinden und das Individuali- tätsbewußtsein mehr zum Vorschein kommt, da wird der Mensch, seines Ich bewußt, persönlich, da entschwindet der Höflichkeitssprache der Boden. Und wie sie sich darum in England und Amerika, wo man „ich“ mit einem großen und „Sie“ mit einem kleinen Anfangs- buchstaben schreibt, am wenigsten findet, so wird sie auch in Japan bei der raschen Entwicklung des Individua- lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver- loren haben. — Das also ist die japanische Umgangssprache. Nicht durch das ganze Volk hin wird sie in ihrer ursprünglichen Reinheit gesprochen. Vielmehr ist die Rede des Gebil- deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverständ- lichkeit mit chinesischen Wörtern und aus der Schrift- sprache entlehnten Redeformen durchsetzt. Nur die ge- schriebene Sprache hat sich bisher einer wissenschaftlichen Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf die Sprache des Volkes mit Verachtung herabschauten. Und doch hat die Umgangssprache allein Aussicht, die Sprache der Zukunft zu sein. Freilich muß sie dazu eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift- sprache herübernehmen. Doch kann das ohne große Schwierigkeiten geschehen. Schwieriger ist die Aufgabe, die grammatische und logische Form der Sprache über die Wahrnehmungsstufe hinaus zu entwickeln. Denn in ihrer jetzigen Form ist sie nicht imstande, die euro päische Kultur zum Ausdruck zu bringen. Von großer Tragweite ist dabei auch die Änderung des chinesischen Schriftsystems. Die Versuche, das jetzige Schriftsystem durch „Kana“, die leichte japanische Silben- schrift, oder „Romaji“, die lateinische Schrift, zu ersetzen, sind vorläufig als gescheitert zu betrachten. Das Interesse für die Kana- und Romajibewegung, welches in den achtziger Jahren sehr rege war, ist heute tot, und das ist ein Beweis dafür, daß die Volksseele selbst einer Abänderung widerstrebte. Das Problem der Abänderung der Schrift ist darum so außerordentlich schwierig, weil die Schrift, so wenig wie die Sprache, etwas rein Mechanisches und Äußer- liches ist, welches man leicht wechseln könnte wie ein Kleid; vielmehr ist es ein psychologisches Problem, um welches es sich dabei handelt. Unsere Schrift ist durchaus abstrakt; unsere Zeichen als solche sagen dem Betrachten- den nichts. Im Chinesischen dagegen ist das Schrift- zeichen konkret; das Zeichen spricht direkt zu dem Be- trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff ist unmittel- bar in dem Zeichen enthalten. Im Chinesischen wird nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be- treffenden Dinge dargeboten, so daß der Betrachtende sinnlich erfaßt, was wir verstandesmäßig zu begreifen gezwungen sind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß, Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder dieser Gegenstände. In andern Fällen enthält das chinesische Zeichen ganze Definitionen, wo unsere ent- sprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres Sinnes geben; so schreibt man drei Bäume für Wald, zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün und Jahre für Jüngling, Punkt über dem Strich für oben, Punkt unter dem Strich für unten, Berg, auf und ab für Paß i. e. Bergpaß. Auch kul- turhistorisch sind manche Zeichen von großer Bedeu- tung. So schreibt man für Himmel eins und groß, also das große Eine und das stimmt genau mit der alten chinesischen Naturreligion überein, die den Himmel als höchste Gottheit verehrte. Drei Frauen unter einem Dach bedeutet Zank, Hader, Eifersucht und das Zeichen läßt mit Bestimmtheit darauf schließen, daß die alten Chinesen Polygamisten waren; eine Frau unter einem Dach dagegen bedeutet Stille, Ruhe, Friede; also haben schon die alten Chinesen gewußt, daß, wer Ruhe im Hause haben wolle, nur eine Frau sich anschaffen dürfe. Man wird verstehen, daß die chinesische Schrift neben großer Umständlichkeit auch außerordentliche Bequemlich- keiten bietet, vor allem aber, daß ein Geist, welcher geneigt ist, mehr als wir unmittelbar auf der Grund- lage der sinnlichen Anschauung zu denken, freiwillig nicht auf ein seiner Denkweise so entsprechendes System ver- zichtet, und daß er nicht eher davon abgehen wird, als bis eine eiserne Notwendigkeit ihn dazu zwingt. In- wieweit aber da die völlige Unmöglichkeit, für die Un- masse neu eindringender Worte und Begriffe chinesische Charaktere zu schaffen, den jetzigen Stand des Schrift- systems beeinflussen wird, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls wird man sich dem Bewußtsein jener Unmög- lichkeit nicht lange mehr verschließen können. Gerade je komplizierter man gegenwärtig noch die Schriftsprache gestaltet durch das Bemühen, die neue Kultur in chinesische Zeichen zu pressen, um so elementarer wird das Bewußt- sein von der Unmöglichkeit einst hervorbrechen. Auch diese Sorte neuen Weines verträgt keine Füllung in alte Schläuche, und die Freiheit, welche das innerste Wesen unserer Kultur ausmacht, wird es trotzig ver- weigern, sich auf die Dauer die Zwangsjacke des chine- sischen Zeichens, des Prinzipes der unveränderlichen Be- stimmtheit und Stagnierung, anlegen zu lassen. Nur eine Zeitlang wird der griechische Pegasus sich bequemen, als chinesischer Ackergaul im Zwang des Geschirres zu dienen; und je früher dem neuen Besitzer die Augen aufgehen, desto besser für ihn. Eine glückliche Lösung seines Sprachproblems wäre Japan im Interesse seiner künftigen Kultur von Herzen zu gönnen. III. Geistesleben und Erziehungswesen. W enn am Abend die Sonne hinter unsern deutschen Bergen hinabsinkt, reibt sich in Japan mancher gähnend die Augen und wickelt sich schlaftrunken aus den auf den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten des Stillen Oceans und bald erglänzt die schneebedeckte Kuppel des majestätischen Fujinoyama in den goldenen Strahlen der Morgensonne. Wenn es hier Nacht ist, ist es dort Tag. Die Japaner sind unsere Antipoden, unsere Gegenfüßler. Sie sind aber unsere Antipoden nicht bloß räumlich, sondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die sich bei uns ganz von selbst verstehen, die wir uns gar nicht anders denken können, als wie sie nun einmal sind, sind dort geradezu auf den Kopf gestellt. Mache ich mit einem Japaner einen Spaziergang, so läßt er mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts; denn die Herzseite, die linke, ist in Japan die Ehren- seite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er sich in Galakleidung steckt, so bemerken wir mit Erstaunen, daß er zuerst den langen Mantel, kimono genannt, anzieht und darnach die Hose oder hakama oben drüber. Schauen wir bei dem Neubau eines Hauses zu, so nimmt es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus gelegt ist, die Zimmerleute einstweilen schon das Dach zusammensetzen, wenn auch nur vorläufig, sozusagen zum Anprobieren. Macht man in einem japanischen Hause Besuch, so ist das erste nicht den Hut abzunehmen, sondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht schwarze, sind die Zeichen der Trauer, und bei einem Leichenbegängnis wird fast mehr gelacht als geweint. Sehen wir hinein in das Geistesleben des Japaners, so zeigt sich uns hier dasselbe antipodische Verhältnis. Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechanischen Äußerungen des Geisteslebens, z. B. auf Lesen und Schreiben, bestätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch an, daß man nicht vorn auf der ersten Seite beginnt, sondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links nach rechts liest und schreibt, sondern von rechts nach links. Das ist im Hebräischen und Arabischen auch nicht anders. Was uns vielmehr am meisten auffällt, ist der Umstand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin liest und schreibt, sondern senkrecht von oben nach unten. Es ist ja freilich alles, wie man es gewohnt ist; der Japaner findet unsere Art des Schreibens zum Lachen sonderbar. Kanimoji, Krabbenschrift, nennt er in seiner anschaulichen Art mit witzigem Spott unsere Schreib- weise, weil sie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen unsere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig vor wie uns seine Schlitzaugen, und mancher japanische Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des deutschen Professors, bei dem er in Dienst steht, zwei- felnd den Kopf schütteln in dem stillen Gedanken: Je gelehrter, je verkehrter. Aber auch im innern Leben des Geistes liegt das gegensätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen sind hier und dort verschieden. Die Untersuchung über die Sprache hat uns den japanischen Geist schon in leichten Umrissen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge- sunder Geist, welcher mit scharfen, lebhaften Sinnen noch inmitten der konkreten Anschauung und des naiven Empfindens steht, in das Gebiet des abstrakten Denkens aber nur schüchterne Blicke gethan hat. Es scheint, als seien die Kanäle, durch welche unser Denken geht, dort überhaupt nicht vorhanden oder doch wenigstens nicht ausgebaut. Während wir, psychologisch betrachtet, auf der Stufe des Begriffs stehen, ist der Japaner über die Stufe der Wahrnehmung und Anschauung kaum hinaus- gekommen. Dafür ist er aber auf diesem Gebiet voll und ganz zu Hause. Thatsächlich übertrifft er uns in allen Vorzügen der Wahrnehmungsstufe. Er hat scharfe Sinne, geschickte Hände, eine rasche und sichere Auffassungsgabe. Er ist Meister auf dem Gebiet der praktischen Wirklich- keit. Besonders geschickt ist er in technischen Fertigkeiten. In Osaka, dem Centrum der japanischen Industrie, wo mit jedem neuen Jahr neue Schlote in die Lüfte empor- ragen, fertigt man Maschinen schwerster Konstruktion; in seinen Werkstätten werden Kanonen gegossen und auf den Werften von Nagasaki baut man Kriegsschiffe. Die Münze in Osaka gilt als eine der besten der Welt. In vielen Zweigen der Technik und Industrie hat es Japan ver- standen, Europa seinen vielhundertjährigen Vorsprung in drei Jahrzehnten abzugewinnen und mit ihm in gleicher Linie zu marschieren. Der fähige Schüler thut es heute seinem Meister, bei dem er in die Lehre ging, in vielen Dingen gleich. Breit ergoß sich der Strom der abend- ländischen Industrie in das Land, und nicht lange wird es dauern, so strömt er zurück, um mit der Flut seiner Produkte den Weltmarkt zu überschwemmen. Mit kin- discher Freude hat man zuerst das erwachende Leben drüben betrachtet, die Freude beginnt der Besorgnis zu weichen. Schon vertreibt die japanische Konkurrenz die englische Weberei vom Orient und vielleicht bald schon werden japanische Produkte dieser Art auf dem Markte von London zum Verkauf ausgeboten. Der Traum eines Japaners, daß die Schweiz die Industrie der Uhrmacherei und Flandern die der Spitzenfabrikation teilweise an Japan abzutreten haben, mag seiner Erfüllung nicht zu ferne sein. Je feiner die Arbeit und je komplizierter, desto besser paßt sie für den Japaner. Aber auch an unser Wissen hat er sich gemacht, und auch das nicht ohne großen Erfolg. Was einfach über- nommen werden kann, was man sozusagen nur aus- wendig zu lernen braucht, eignet er sich mit spielender Leichtigkeit an. Er besitzt ein besseres mechanisches Ge- dächtnis als wir. Ganz besonders auffällig ist das bei der Erlernung von Sprachen. Es giebt Europäer, und sie sind nicht etwa Ausnahmen sondern Regel, die ein jahrzehnt und länger in Japan ansässig sind und die sich heute nur notdürftig verständlich machen können, die also über das Küchen- und Kulijapanisch nie hinaus- gekommen sind. Kommt man aber nach Yokohama oder Tokyo und redet einen gut gekleideten Japaner auf englisch an, so ist es wahrscheinlich, daß er englisch ant- wortet. An einen Studenten, der durch eine besondere Tracht als solcher gekennzeichnet ist, darf man sich ruhig in deutscher Sprache wenden; wahrscheinlich wird er sie verstehen. Deutsche Professoren unterrichten ihre Stu- denten mittels der deutschen, einige auch mittels der englischen Sprache. In der theologischen Schule unserer Mission geschieht der Unterricht in deutscher oder eng- lischer Sprache und auch bei der Aufnahme von Zög- lingen in die theologischen Seminare der Amerikaner ist die erste Bedingung die Kenntnis des Englischen, so zwar daß sie einem Vortrag zu folgen im stande sind. 5 Die fremden Professoren sind mit ihren eingeborenen Schülern sehr zufrieden. In dem Kopfe eines japa- nischen Studenten ist eine Unmenge von Wissen auf- gespeichert. Der japanische Student ist fleißiger als der deutsche, eine Beobachtung, die sich schon an den auf deutschen Universitäten studierenden Japanern machen läßt. Der größte Feind des Studiums ist ihm unbe- kannt: Das Kneipen; mehr als für dieses begeistert er sich allmählich für den Sport: Rudern, Lawntennis, Fußball. Und das ist gut so. Denn er bedarf der körperlichen Erholung sehr dringend. Geistige Arbeit setzt ihm sehr stark zu, und viele kommen durch Über- arbeitung so herunter, daß sie nach dem Examen zu weiterer angestrengter Arbeit unfähig sind. Infolgedessen giebt es nicht wenige europäische Beobachter, welche behaupten, die Japaner lernten nur bis zum Examen und nur für das Examen, nicht aber für das Leben. Der Japaner ist scharfsinnig, er ist das, was man landläufig mit gescheit bezeichnet. Seine Fassungsgabe ist rasch und sicher. Die Geduld des Lehrers stellt er auf keine allzuharte Probe. Würden deutsche und ja- panische Kinder zusammen unterrichtet, so würden in den ersten Jahren und voraussichtlich die ganze Elementar- schule hindurch die deutschen zurückstehen. Japanische Kinder bewältigen dasselbe Pensum in kürzerer Zeit. Später aber dürfte sich das Verhältnis anders gestalten. Der Japaner ist zufrieden, sich etwas angeeignet zu haben, und ohne weiteres speichert er es auf bei all dem andern, was er in der großen Schatzkammer seines Gedächtnisses angesammelt hat. Daran, daß er es noch einmal durch die Mühle seines eigenen Denkens schickt, denkt er nicht. Das einmal Erfaßte auch geistig zu verarbeiten und innerlich zu verdauen und so zu seinem eigensten und innerlichsten Eigentum zu machen, ist nicht seine Sache. Er übernimmt die Resultate, aber den weiten Weg, der zu diesen Resultaten führt, erspart er sich. Quantitativ ist sein Geistesleben dem unsrigen überlegen, qualitativ steht es hinter dem unsrigen zurück. Der Japaner hat Talent, er hat großes Talent; aber er hat wenig Genie. Er hat Talent, denn er versteht es, mit dargebotenen Mitteln zu arbeiten und zwar vorzüglich zu arbeiten; aber er hat wenig Genie; denn er versteht es nicht, in den Kern und das Wesen der Dinge zu dringen, um aus der Tiefe heraus sich selbst immer wieder auf das Neue zu gebären und neue reiche Schätze zu heben. Der Japaner ist nicht original. Der Mangel an Originalität fällt überall auf. In deutschen Zeitungen stand vor nicht langer Zeit eine Geschichte zu lesen, deren unge- fährer Inhalt folgendermaßen war: Zwei Japaner hielten sich etwa ein Jahr lang in einer Textilfabrik in Sachsen auf, welche große Ausfuhr nach Japan hat. Nachdem sie die Geheimnisse der Fabrik genau ausge- kundschaftet und studiert hatten, kehrten sie in ihre Hei- mat zurück und hier, wo man vor der Nemesis des unlauteren Wettbetriebs sicher ist, gründeten sie selbst eine Fabrik, in welcher sie die Artikel jenes deutschen Geschäftes nachmachten. Nun sind die japanischen Ar- beitslöhne sehr niedrig, wohl immer noch um das Dreifache niedriger als bei uns. Infolgedessen konnten sie sehr billig arbeiten und schlugen die deutsche Firma bald aus dem Felde. In der Verlegenheit und um wieder neuen Absatz zu gewinnen, traf die deutsche Fabrik neue Einrichtungen, arbeitete nach veränderten Systemen und schuf neue Fabrikate. Damit erwarb sie sich denn auch wieder einen neuen Markt, und jetzt kamen jene Japaner in Verlegenheit. Sie schrieben 5* daher einen verbindlichen Brief an den deutschen Fabri- kanten, worin sie sich hübsch bedankten für all das, was er sie gelehrt habe; jetzt aber seien sie in einer großen Verlegenheit; er möge doch so freundlich sein, ihnen seine neuen Pläne und Einrichtungen mitzuteilen. Für die volle Wahrheit dieser Geschichte stehe ich nicht ein. Aber so abenteuerlich sie klingt, sie könnte recht wohl wahr sein. Die Sache ist ganz japanisch. Sie ist nicht bloß charakteristisch für ihren Spür- und Spioniersinn, sondern auch für ihre scheinbar harmlose naive Unge- niertheit; vor allem aber ist sie dafür bezeichnend, daß die Japaner nachahmen, und zwar geschickt nachahmen, daß sie aber nicht originell sind. Was sie haben, haben sie durch das Ausland. Ihre alte Kultur erhielten sie von China, ja teilweise sogar von dem heutzutage völlig verrohten Korea. Daher kam die Religion des gemeinen Volkes, der Buddhismus; daher kam die Religion der oberen Kasten, der Kon- fuzianismus. Daher kam ihre Sittlichkeit; die japanische Sprache hat ursprünglich sehr wenig Worte, um sittliche Begriffe auszudrücken. Alles muß durch chinesische Worte wiedergegeben werden, sowie bei uns viele wissenschaft- liche Begriffe durch lateinische und griechische Fremd- wörter ausgedrückt werden, wogegen unsere ethischen Begriffsausdrücke zu den echtesten Bestandteilen der deutschen Sprache gehören. Von China erhielten sie ferner ihre gebräuchliche Schrift, und selbst der Ursprung der Silbenschrift Kana scheint nicht rein japanisch zu sein. Von China kam ferner Poesie, Musik, Malerei und plastische Kunst. Ebensoviel wie damals von den Chinesen übernehmen sie heute von den Abendländern. Sie entwickeln nicht nur Geschick in der Nachahmung unserer Industrieerzeugnisse, sie naschen nicht allein an den Früchten unserer Wissenschaft; auch das Staats- wesen, das Gerichtswesen, das Militärwesen, das Schul- wesen, die ganze Staatsmaschine nehmen sie von Europa hinüber, und — es ist erstaunlich — die Maschine geht. In all dem haben sich die Japaner von jeher als hervorragend gelehrig erwiesen. Die meisten Völker haben sich selbst gegen die Segnungen einer neuen Kultur hart- näckig verschlossen, bis ihnen dieselben schließlich auf- gezwungen wurden; dafür ist China das klassische, aber bei weitem nicht vereinzelte Beispiel; die Japaner aber haben sich von jeher für das Bessere zugänglich erwiesen. Haben sie auch selbst keine großen, originalen Gedanken gehabt, so hatten sie für dieselben doch immer ein weites Herz und soweit sie nach ihrer, allerdings stark beschrän- kenden, geistigen Veranlagung dazu imstande waren, haben sie versucht, sich dieselben anzueignen. Sklavische Nachahmer und Nachbeter sind sie nie gewesen. Was sie übernahmen, war auch bald japanisch. Sie haben es immer in harmonischen Einklang mit der Umge- bung gebracht. Es ist nicht so, als hätte man die Kinder einer fremden Welt einfach in japanische Kleider gesteckt; sie haben vielmehr japanische Gesichtszüge be- kommen. Der Japaner ist bei allem Mangel an Origi- nalität doch eine sehr ausgeprägte Individualität, welche auf die Dauer das Fremde als Fremdes nicht erträgt. So hat er allerdings nicht zu japanisieren verstanden, wie wir das palästinensisch-griechisch-römische Christen- tum germanisiert haben, wo kein einziger Wahrheits- punkt verloren ging und jeder einzelne durchleuchtet ward von dem besonderen Licht deutschen Geistes. Das Japani- sieren ist ein radikaler Prozeß, dabei sehr wenig gebogen, aber vieles gebrochen wird, dabei man beständig das Messer in der Hand hat, um all das hinwegzuschneiden, was nicht paßt, was nicht kongenial erscheint. Es ist darum trotz allem und allem ein mehr oder weniger mechanischer Prozeß, es sind mehr Akkommodationen als tiefinnerliche Assimilationen. Daß sie in der Übernahme des Fremden nicht kritiklos sind, ist damit schon aus- gesprochen. Ein anderes Volk wäre durch all das Neue, wie es sich den Japanern in den letzten Jahren auf- gedrängt hat, vollständig verwirrt worden; es hätte schließ- lich mit stumpfen Sinnen in völliger Lethargie sich alles aufdrängen lassen. Die Japaner aber haben selten die nüchterne Urteilskraft verloren, sie haben mit scharfem Blick das Brauchbare von dem Unbrauchbaren unter- schieden, und im großen und ganzen, soweit es sich um den Mechanismus unserer Kultur handelt, muß ihnen zugestanden werden, daß sie der Mahnung entsprochen haben: Prüfet alles und behaltet das Beste. Aber frei- lich, es handelte sich für den Japaner immer nur um die mechanische Kultur und darum kann auch mehr oder weniger nur von einem mechanischen Prozeß der Akkom- modation die Rede sein. Aber die Kultur hat noch eine andere Seite. Dem Mechanismus der äußeren Kultur liegt der Organismus der Geisteskultur zu Grunde. Und hier haben die Japaner die Assimilation zwar versucht, aber da sie dieselbe nicht geistesverwandt fanden, vor- läufig nicht durchzuführen vermocht, soweit man nicht gar mit dem ernstlichen Gedanken ihrer Durchführung gebrochen hat. Das rein Geistige ist eben nicht die Sache des auf der Anschauungsstufe stehenden Japaners. Es ist auf- fallend, wie wenig Interesse für metaphysische und ethische Fragen er hat. Weder seine Geschichte noch seine her- vorstechendsten Neigungen zeigen eine Tendenz zum Idea- lismus. Er liebt das Wirkliche und Greifbare. Er kann es nicht verstehen, wie man sich über psychologische und dogmatische Fragen ereifern kann. Für die feinen Unterschiede religiöser Anschauungen hat er weder theore- tisches noch praktisches Verständnis. Der Reiz, den der gebildete Geist des Abendländers in der Welt der Phantasie und Romantik findet, ist für seinen Geist ein unver- ständliches Rätsel. Der Zauber, den Probleme oder Spekulationen an sich auf den Abendländer ausüben, ganz gleichgültig, ob daraus praktischer Nutzen springt oder nicht, existiert für ihn nicht. An der Universität in Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutscher Lehrer auch ein Professor der Philosophie, ein Idealist durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade die deutsche Philosophie in Japan heimisch zu machen, weil die Deutschen über die ganze Erde hin in dem Rufe eines Volkes von Philosophen stehen; aber es will nicht recht gelingen. Viel lieber gehen sie in die Schule bei den praktischen Engländern. Die Namen Herbert Spencer und J. Stuart Mill sind auch dem halbwüchsigen Symnasiasten bekannt. Die Philosophie des Materialis- mus ist die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt- anschauung, soweit von Weltanschauung überhaupt die Rede sein kann bei einem Volk, welches niemals die Welt als Ganzes anschaut, sondern immer nur die Dinge der Welt im einzelnen, ist materialistisch. Der Japaner hat ein Sprichwort: „Ju-nin to-hara“ („zehn Menschen, zehn Bäuche“), im Sinne völlig unserm: „So viel Köpfe, so viel Sinne“ entsprechend. Nun ist auch uns eine gewisse Beziehung zwischen Magen- und Geistesthätig- keit nicht ganz fremd und das lateinische Wort: „Plenus venter non studet libenter“ („ein voller Bauch studiert nicht gern“) ist uns sattsam bekannt. Gleichwohl muß es uns als ein wahrhaft klassisches Bild einer materia- listischen Weltauffassung auffallen, wenn der Japaner den Sitz der Verstandesthätigkeit nicht im Kopfe, sondern im Bauche sucht. Ich hatte mir einmal auf Wunsch von etwa zehn jungen Medizinern, zur Hälfte Christen, die Mühe gemacht, in einer Reihe von Vorträgen das Recht der idealistischen Weltanschauung gegenüber der materialistischen darzuthun. Als ich zu Ende war, wollte ich mich von dem Erfolg überzeugen. Und worin bestand derselbe? Darin, daß einer der begabtesten mir sagte, daß er zwar als Christ gern an die idealistische Welt- anschauung glaube, daß aber für sein Denken die materia- listische nach wie vor die wirklich vernunftgemäße sei. Und die andern waren mit ihm einig. Was der Japaner sieht, das ist; alles andere ist nicht. Er hat nicht viel von der glühenden Phantasie der Semiten, noch von der tiefen Sinnigkeit und Innigkeit der Indogermanen, noch von der süßen Träumerei und unpraktischen Schwärmerei der Deutschen. Es wäre verkehrt, den Japaner geistlos zu nennen; denn das wäre irreleitend; aber vergeistigt, durchgeistigt ist er nicht. Vielmehr leidet sein Geistesleben an einem gewissen Mechanismus. Es verläuft mehr oder weniger maschi- nenmäßig, während das unsrige in hohem Grade orga- nisch ist. Es ist bezeichnend, daß das Rechnen, das doch nach unserer Meinung eine bedeutende Geistesthätigkeit verlangt, mittels des soroban, der Rechenmaschine, aus- geführt wird. Soll der Japaner einmal im Kopf rechnen, so sieht es schlecht aus. Ebenso ist es charakteristisch, wie das Lesen erlernt wird. Der Lehrer sagt zwei, drei Worte vor, die Schüler sprechen sie nach, so geht es weiter, und es wird dann alles so oft wiederholt, bis die Schüler das Lesestück rein mechanisch auswendig können. Ich hatte manchmal Veranlassung, dem Unter- richt in einer Elementarschule beizuwohnen. Da habe ich denn öfter gesehen, wie die Schüler ein Lesestück völlig richtig ablasen oder vielmehr aufsagten, während sie doch mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ- lich lernen sie aber auf diese mechanische Weise doch lesen. Thun wir nun einen Blick in die Geistesmächte des Japaners, so finden wir hier bestätigt, was vorstehend gesagt wurde. Der Konfuzianismus, der von den höheren Kreisen begünstigt ist, ist ein zwar sittlich hochstehendes, aber trockenes und nüchternes Mo- ralsystem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geistes- flug. Er ist nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken oder gar einer himmelan strebenden Schwärmerei, viel- mehr ist er die Schöpfung eines hervorragend prak- tischen Geistes, welcher ganz auf dem Boden der kon- kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung steht. Ein solches System paßt zu dem Japaner. Der Bud- dhismus, sowie er ursprünglich von dem erleuchteten Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefsinnigsten, was je gedacht worden ist. Es ist eine Philosophie, und noch dazu eine mystische Philosophie, welche nur der sich aneignen kann, der sie innerlich durchdenkt und durchfühlt. Man sucht aber nach dieser Art Buddhismus dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas zum greifbaren, grobsinnlichen, konkreten Götzendienst verdichtet, hat sie so umgestaltet und beschnitten, wie es seiner sinnlichen Veranlagung entsprach. Das ein- zig Originale, was die Japaner auf diesem Gebiet hervorbrachten, ist der Shintoismus. Wenn man aber seiner Mythologie nachgeht, so ist man erstaunt über den Mangel an sittlichen Gedanken und an poetischer Phan- tasie. Das gemütvolle Volkslied des Deutschen, des Russen, des Engländers sucht man hier vergebens. Der Gesang ist nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge- mütliche Gesellschaft einmal einen Chor anstimmt, giebt es nicht. Der Gesang wird nur berufsmäßig ausge- übt. Ich will nicht sagen, daß in dem Gesang kein Gemüt liegt; aber jedenfalls ist es für den Abendländer sehr schwer, aus diesen Tönen Gemüt herauszuhören. Die Poesie, ganz abgesehen davon, daß sie gleich der Musik nicht original ist, besitzt weder besondere Tiefe noch Innig- keit. Es giebt Übersetzungen japanischer Gedichte in das Deutsche und Englische, die sich sehr angenehm lesen. Man sagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß die Übersetzung schöner sei als das Original. Dabei macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl gerecht geworden ist — denn es handelt sich weder um Rhythmus noch um Reim —, findet seine Bewunderer. Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas geleistet hat, ist das Märchen; und daß es einen sehr großen Schatz äußerst treffender Sprichwörter hat, die sich mitunter mit den unsrigen geradezu decken, ist nur im Einklang mit seinem ganzen Geistesleben. Denn die Heimat des Sprichworts ist weder die Phantasie noch die Poesie noch die Spekulation, sondern die nüch- terne praktische Wirklichkeit. Aber steht denn damit nicht im Widerspruch, daß der Japaner eine hohe Achtung vor der Wissenschaft hat, und, wie ja schon die Zahl der japanischen Studierenden in Deutschland beweist, auch selbstthätig für die Wissenschaft eintritt? Gewiß ist das ein schöner und idealer Charakter- zug, daß ihm das Wissen höher steht als etwa das Geld, aber für die idealistische Natur des japanischen Geistes beweist er noch nichts. Es sind in den letzten Jahren auf wissenschaftlichem Gebiet Erfolge erzielt worden, welche das Abendland in Erstaunen setzten. Aber — und darauf kommt es an — diese Erfolge waren die Resultate eines ungewöhnlichen Scharfsinns, nicht aber eines tiefsinnigen Denkens. Subtile Erfin- dungen zu machen, dazu sind die Japaner veranlagt, aber ein Volk von Philosophen werden sie nicht. Ihre seitherigen Erfolge lagen dementsprechend nicht auf dem Gebiet der reinen Geisteswissenschaften, sondern auf dem der empirischen Wissenschaften, und daß sie da etwas leisten, ist nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten. Wenn unsere Ärzte von den geradezu musterhaften anatomischen Präparaten japanischer Mediziner sprechen, wenn unsere Chemiker und Bakteriologen die feinen Analysen ihrer japanischen Schüler rühmend hervorheben, so wundere ich mich darüber nicht im geringsten. Das Experimentieren ist ihre Sache. Was dazu notwendig ist, besitzen sie im höchsten Grade. Es ist nicht zufällig, daß in Japan die fähigsten Gymnasiasten sich der Me- dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigsten Kräfte aufzuweisen hat; ebenso ist die sichere und gedie- gene Arbeit der Militärärzte im japanisch-chinesischen Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin ist nicht eine reine Geisteswissenschaft; sie ist mehr eine Kunst als eine Wissenschaft; ihr Gebiet reicht weit in das Sinnliche, in die Wahrnehmungsstufe hinein, und dort ist der Japaner zu Hause. Das Ästhetische in dem weiten Kant’schen Sinne des Wortes ist sein Feld und infolgedessen ist es ganz na- türlich, daß er auch für das Ästhetische in der engeren landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten Sinn besitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine ästhetische bezeichnet werden. Eine gütige Fee hat ihm den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt schöne Formen und giebt sich mit Gefühl an dieselben hin. Er hat ein ausgesprochenes Verständnis für die Schönheiten seiner wunderbaren Natur. Wenn im Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirschen blühen, wenn Ende Oktober die Knospen der Astern sich erschließen und ihre schmalen Blätter sonnenstrahlenförmig entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor dem Sterben sich blutig rot färbt wie der Abendhimmel, wenn die Sonne hinabsinkt; wenn im Winter die Erde in ihr weißes Schneekleid sich hüllt, was allerdings selten genug vorkommt: dann strömt jung und alt hinaus, um sich des schönen Anblicks zu freuen. Die beiden großen Gesellschaften, welche der Kaiser alljährlich zu geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten- schaft und die Elite der europäischen Gesellschaft ein- geladen werden, finden bezeichnender Weise in den kaiser- lichen Gärten statt und zwar zur Zeit der Kirsch- und der Chrysanthemumblüte. Gern verweilen sie eine Stunde oder zwei angesichts eines sprühenden Wasserfalls und die Zweige einer Fichte, regungslos über die stillen Fluten eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen sie mit Entzücken. In der Dämmerung des Abends gehen sie hin nach einem lauschigen Plätzchen, um dem Gesang der unguisu, der Nachtigall, zu lauschen, und beim Grauen des Tages, wenn der hototogisu, der Kuckuck, seinen eintönig melan- cholischen Ruf hören läßt, zieht es sie hinaus nach dem Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten seines Landes, und wer Zeit und Geld hat, scheut auch die weiteste Reise nicht, sie zu genießen. Es giebt Psycho- logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchste Entwicklung des Geistes bezeichnen, und wenn man sieht, wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh- rend der Bauer gleichgültig und stumpf daran vorüber- geht, ist man versucht, dem zuzustimmen. In Japan aber ist der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der besseren Klassen, hier ist er angeboren, und der Tag- löhner besitzt ihn ebenso wie der Professor. Es verging kein Frühling und kein Herbst, wo nicht mein Koch sich für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit seinen Kindern zur Blütenschau nach Ueno oder Dangosaka zu gehen. Die großen Volksfeste sind Naturfeste, und in Gottes freier Natur werden sie gefeiert. Da strömen sie hinaus zu Tausenden, und es ist ein ästhetisch schöner, ein malerischer Anblick, die schneeig und rosig blühenden Bäume gegen den tiefblauen Himmel sich abheben zu sehen und unter ihnen lustwandelnd eine frohbewegte Menge, Männer und Frauen in festtäglicher Stimmung, lächelnd und schwatzend, und von ihnen geführt die Kinder in ihren bunten Kleidern. Auf japanischen Volksfesten wird ebenso viel Natur gekneipt als auf deutschen Bier. Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut seinen Augen weh. Darum ist ihm aller Schmutz ein Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am Körper alles blitzblank ist. Die meisten Japaner, auch Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und so peinlich wird darauf gehalten, als sei es eine religiöse Pflicht, nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt man in einem Gasthaus ein, so ist das erste, was einem angeboten wird, ein Bad, und die bedienende N ē san mag wohl im stillen manchmal wenig schmeichelhafte Vergleiche ziehen, wenn der Ijinsan, der Herr Europäer, in seiner Bequemlichkeit auf das Bad verzichtet. Pein- lich sucht man sich Hautausschläge fern zu halten, man hat einen natürlichen Ekel davor, und der Aussatz, der immer noch vereinzelt vorkommt, ist mehr im Sinne der Unreinheit verabscheut, denn als Krankheit bemitleidet. Seine Kleider hält der Japaner peinlich sauber. Leute in zerrissener und verlumpter Kleidung sieht man in Japan weit weniger als bei uns. Mag sein, daß er im Sommer nicht viel mehr anhat als ein paar Bein- kleider, die nur die äußerste Blöße bedecken; aber diese wenigstens sind sauber in Ordnung gehalten. Der Schmutz der Straße ist von dem Innern des Hauses peinlich fern gehalten; wer in das Haus tritt, muß zuvor auf dem Flur die Schuhe ausziehen. Das würde auch der peinlichsten deutschen Hausfrau schwer fallen, im japa- nischen Zimmer ein Spinngewebe zu entdecken, und der aus Strohgeflechten bestehende Stubenboden ist so ein- ladend sauber, daß man auch, selbst wenn einem kein Unterkissen angeboten wird, in der feinsten Kleidung sich unbedenklich darauf setzen darf. Alles macht den Eindruck des ästhetisch Schönen. Das japanische Essen mag für uns nicht besonders gut schmecken, dafür aber sieht es schön und appetitlich aus. Nirgends wird mit größerem Anstand gegessen. Die Eßstäbchen werden in den Theehäusern nur einmal ge- braucht, und unsere Art des Essens hält der Japaner für unästhetisch, weil man sich dabei Messer und Gabeln bedient, die vielleicht eine Viertelstunde zuvor ein anderer im Munde hatte. Jede Bewegung, jede Verbeugung ist abgerundet und frei von allem Eckigen, vollendet in ihrer Art. Hastige Bewegungen vermeidet man. Wollten sich bei uns die Handwerker und Arbeiter im schmutzigen Arbeitskittel, wenn sie sich auf der Straße begegnen, mehrmals tief vor einander verbeugen fast bis zur Erde hin und dann mit abgezogenen Hüten zum Austausch höflicher Redensarten bei einander stehen bleiben, um sich endlich wieder mit nicht weniger tiefen und zahlreichen Verneigungen von einander zu trennen, so würde man das einfach lächerlich finden. Wer es in Japan sieht, vergißt über dem ästhetischen Anblick die Lächerlichkeit. Es darf ein Deutscher sich auf dem Parketboden noch so sehr zu Hause fühlen, so gewandt ist er doch nicht, daß er nicht noch einen japanischen Taglöhner um seine Kunst, sich zu verbeugen, beneiden dürfte, und auf die wirklich graziöse Art, wie die Ja- panerin, auch die niedrig geborene, sich bewegt, dürfte jede deutsche Salondame stolz sein. Auf Etikette und Anstand wird viel gehalten von Kind auf, und in der Schule sind, für die Mädchen wenigstens, besondere Unterrichtsstunden dafür eingeführt. Die ganze Erziehung der japanischen Frauenwelt ist bis vor kurzem eine vorzugsweise ästhetische gewesen: Etwas Lesen, Schreiben und Rechnen wohl, mehr aber als das Unterricht in den schönen Künsten, im Blumenbinden, der Dichtkunst, der Malerei, und vor allem der Musik; das intellektuelle Moment kommt erst in zweiter Linie und das Ethische soll durch das Ästhetische erzielt wer- den. Tausend Jahre bevor Schiller seine Betrachtungen über die ästhetische Erziehung schrieb, war dieselbe in Japan schon in Übung. Es ist demnach eine ganz ver- kehrte Anschauung, als seien die heidnischen Völker im gegenseitigen Verkehr roh und ungeschliffen, eine An- schauung, die man sich aus einer Vergleichung ländlich einfacher und städtisch formeller Höflichkeit zurecht ge- macht hat. England und Amerika, wo das Sprichwort: „Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land“ in keiner Weise mehr zutrifft, sind der Be- weis dafür, daß die förmliche, aber ästhetische Höflich- keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranschreitet. Wer aber gesehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer und Ostasiaten sich begrüßen, weiß, daß Europens über- tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht. Der Japaner entstellt auch sein Gesicht nicht durch Leidenschaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen Begleiterscheinungen von Gesichtsverzerrungen und un- harmonischen Bewegungen widerstreben seinem ästhe- tischen Sinn. Der Europäer, der sich seinen Gefühlen blind überläßt, sei es des Zornes oder des Schmerzes oder der Lust, gilt ihm als innerlich roh und ungesittet. Das lebhafte Minen- und Gestenspiel von Franzosen und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abscheu. Ein liebenswürdiges Lächeln umspielt im Verkehr mit dem Nächsten seine Lippen, aber lautes, zwergfell- erschütterndes Lachen, ebenso wie lautes Schreien wider- strebt seinem feinen Gefühl und ist das ausschließliche Vorrecht von Kellnerinnen und Geisha, die eben jenseits der Grenze des Anstandes liegen. Der Japaner liebt das Harmonische nicht nur in seiner Umgebung sondern auch an sich selbst. Die Trunksucht mit all ihrer ab- stoßenden Häßlichkeit ist in Japan ein wenig verbreitetes Laster. In Bezug auf geistige Getränke sind sie nüchtern und mäßig. Ein Wirtshausleben in unserm Sinne, wo man zu bestimmten Stunden am Stammtisch zu einem Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei sich trifft, wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die so- genannten Theehäuser sind Gasthäuser zum Herbergen von Fremden oder zu kurzer Rast für Ausflügler, und das Getränk, das man dort in der Regel zu sich nimmt, ist wirklich Thee. Sie sind also nicht nur „sogenannte“ Theehäuser, vielmehr führen sie ihren Namen mit Recht. Rohe Krawalle, wie sie bei uns nur allzu häufig vor- kommen, zumal als Nachspiele der Gemütlichkeit beim Alkoholgenuß, giebt es in Japan fast gar nicht. Auch rohes Schimpfen ist selten und Fluchen ist ganz unbe- kannt; und dieses nicht nur bei den besseren Klassen, sondern bis in die untersten Schichten des Volkes hinab. Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verschiedenen Richtungen daherkommen, durch Unachtsamkeit heftig gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an- genehmes Gefühl, und wenn es sich um europäische Arbeiter handelte, so würden sie ihren Schmerzen durch Handgreiflichkeiten oder zum mindesten durch Schimpfen und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen sich die beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und sich mit nackten Armen und Beinen gegenüberstehen, eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten einander höflichst um Entschuldigung. Es ist eine Wohl- erzogenheit sondergleichen, eine wohlthuende Harmonie, die durch das ganze Volk hindurchgeht. So ist das Ästhetische eine das ganze Leben tief durchdringende Macht, eine Macht, welche thatsächlich die Richtschnur der gesamten äußeren und zum Teil auch der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un- bedenklich behaupten, daß das Ästhetische vielfach höher geschätzt wird als das Ethische, daß Etikette und feine Form in den populären Anschauungen weiter Kreise über der Sittlichkeit stehen. Daß eine so grundlegende Macht sich auch produktiv geltend macht, ist selbstverständlich. Die Kunst beginnt hier eigentlich schon mit dem Handwerk. Denn auch der Handwerker ist in gewissem 6 Sinne ein Künstler, wie umgekehrt der Künstler wieder ein Handwerker ist. Es ist schwer, hier die Scheidelinie zu ziehen. Was der Japaner als Handwerker, Kunst- handwerker und Künstler zu leisten im stande ist, das zu erkennen braucht man heute nicht mehr nach Japan zu gehen, das läßt sich auch in unserer Heimat an so manchem Stück japanischer Kunst ersehen. Aber so hoch- entwickelt diese Kunst auch ist, so wunderbar fein bei aller scheinbaren Einfachheit die Ausführung ist, so bewegt sich der Künstler doch immer auf dem Gebiet des Realen, nicht des Idealen. Das Höchste in der Kunst ist das Objektive, die Natur. Der den Regeln der Kunst entsprechende Garten ist der naturgetreue Garten. Bei uns zwängt der Gärtner alles in Beete ein, streng nach den Regeln der Symmetrie. In den japanischen Gärten ist nichts in Beete gebracht, alles liegt bunt durcheinander und doch wieder harmonisch neben einander wie in der Natur. Der japanische Garten ist das Bild einer vollständigen Landschaft mit Seen und Bächen und Wasserfällen, mit Bergen und Thälern und Bäumen; natürlich alles, auch die künstlich so gezogenen Bäume, en miniature; und das, was wir in einem Garten am ehesten suchen würden, nämlich die Blumen, tritt in dem japanischen Garten, genau wie in einer Landschaft draußen auch, sehr in den Hinter- grund. Die Natur ist die große Lehrmeisterin, bei welcher die Japaner in die Schule gehen. Die Gegenstände japanischer Malerei sind fast aus- schließlich aus der Natur, Flora und Fauna, entnommen. Ein kleiner Zweig blühender Pflaumenknospen oder ein Trio fliegender Kraniche ist ein Motiv, für welches sich auch der größte Maler begeistern kann. Und bewunderns- wert ist es, mit welcher, nur durch Liebe zu seinem Gegenstand erreichbaren, Meisterschaft er sich seiner Auf- gabe entledigt: Der gemalte Zweig scheint von dem Zauber und Duft der Natur nichts eingebüßt zu haben. Auch das Trivialste erscheint nicht trivial; immer ist es durchweht von dem poetischen Hauch der Natur. Man hat gesagt, ein japanisches Bild sei ein Gedicht. Ja, es ist ein Gedicht, so gewiß, als über der Frühlings- landschaft der Hauch der Poesie liegt; es ist ein Gedicht, weil und soweit es Natur ist. Aber da, wo das wirk- lich Ideale recht zum Ausdruck kommt, hört die japa- nische Malerei auf. Die Welt der Ideale ist ihr un- bekannt, die persönliche Darstellung von Freiheit und Recht, von Wahrheit und Liebe, von Glaube und Hoff- nung ist ihr ebenso unmöglich wie der Poesie. Und wie man in den Gedichten mit ihren 31 Silben in fünf Zeilen vergeblich nach großen Gedanken sucht, so auch auf den Gemälden. Der japanische Geist ist nicht auf das Große, sondern auf das Kleine und Feine hin veranlagt. Das geistigste Wesen der Schöpfung bildet keinen Gegenstand der Malerei. Des Dichters Ausspruch, daß der Mensch das höchste Studium der Menschheit sei, ist der japanischen Kunst, ist dem Geistesleben des Japaners überhaupt fremd. Wo sich die Malerei doch an den Menschen heranmacht, da wird es entweder ein geistloses Porträt oder eine Karikatur. Sein Karikieren aber ist das stille Eingeständnis, daß er hier an den Grenzen seines Könnens angelangt ist; ein Eingeständnis, das uns in humoristischer Art zum Lachen bringen und über es selbst hinwegtäuschen soll, das aber nichts desto weniger in seinem ganzen melancholischen Ernst bestehen bleibt. Die japanische Malerei, die unsere Künstler noch manches gelehrt hat, darf vielleicht als die höchste Voll- kommenheit des Realismus bezeichnet werden, eine Voll- 6* kommenheit, die auch den ideal angelegten Menschen innerlich zu befriedigen im stande ist. Sie darf aber auch die letzte Konsequenz des Realismus genannt werden in- sofern, als sie in übertriebener Neigung zur Karikatur die häßliche Schattenseite zeigt, zu welcher die nicht ideal befruchtete Kunst schließlich hinabsinkt. Wir können unsere Betrachtungen über das japa- nische Geistesleben nicht schließen, ohne wenigstens in Kürze auf das Erziehungswesen der Vergangenheit und der Gegenwart einzugehen. Seitdem in vorgeschichtlicher Zeit die Japaner mit der chinesischen Schrift bekannt geworden sind, insbesondere aber, seitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C. ein eingehenderes Studium der chinesischen Klassiker an- geregt hatte, ist die hohe Wertschätzung des Wissens nicht wieder ausgestorben, und Konfuzius und Buddha waren gleicherweise bemüht, dieselbe lebendig zu erhalten. Seit einem Jahrtausend hat es der Jüngling im Unterrichte lernen müssen: „Scharre tausend Stücke Goldes zu- sammen, sie sind nicht so viel wert als ein Tag Lernens“; „Schätze, die man im Schreine sammelt, gehen zu Grunde; aber Schätze, die man im Kopfe sammelt, verfallen nicht“. Der Gang der Geistesbildung war in Japan der- selbe wie überall: von oben nach unten — verschieden von dem Gang der Religion. Jesus von Nazareth war ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenso wie die Gefühlslyrik der Poesie, ist in der Seele des Volkes, in dem Herzen der Menschheit geboren. Und wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, so ist die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die Geistesbildung aber kommt von oben; sie entspringt aus dem Kopf, der den obersten Teil des Körpers ausmacht, und die Geschichte zeigt, daß sie allmählich von oben nach unten hinabdringt. Das ist der Prozeß in Europa gewesen, das war er auch in Japan. In den ersten Jahrhunderten nach dem Eindringen der chinesischen Kultur waren die unteren Klassen des japanischen Volkes vollständig von jeder Bildung ausgeschlossen. Dem Staat war es nicht sowohl um allgemeine Aufklärung, als vielmehr um Schaffung eines tüchtigen Beamtenstandes zu thun. Eine Volksschule gab es also damals in Japan so wenig wie in Deutschland. Vielmehr war die erste Schule, welche um das Jahr 668 gegründet wurde, eine Hochschule Vergl. J. Bolljahn, Japanisches Schulwesen (Druck und Verlag von A. Haack, Berlin). Eine eingehende Darstellung, die ich warm empfehle. Der Verfasser ist seit einem Jahrzehnt als Lehrer der deutschen und englischen Sprache und Litteratur in Tokyo thätig und als gründlicher Kenner des japanischen Unter- richtswesens bekannt. . Die Fächer, welche auf derselben gelehrt wurden, waren: Chinesische Klassiker und zwar, obliga- torisch für alle Studenten, besonders Kokyo (= Hiaoking „Kanon der Pietät“) und Rongo (= Lüngü „Sprüche des Konfuzius über Moral, Politik ꝛc.“), ferner Medizin, Astrologie und Musik. Nach dem Muster dieser Hoch- schule wurden auch in den Distriktshauptstädten des Landes Lehranstalten errichtet, und es ist wiederum ein treffender Beweis für die japanische Achtung vor dem Wissen, daß die Gouverneure der Provinzen selbst ver- pflichtet waren, an diesen Schulen zu unterrichten, so- weit ihre litterarischen Kenntnisse dazu ausreichten. Die Zahl der Besucher war entsprechend dem Bedarf an Beamten, Ärzten und Lehrern eine beschränkte. Wer bei dem Schlußexamen zum dritten Male durchfiel, wurde nicht wieder zugelassen. Wer nicht wenigstens drei klassische Bücher anstandslos lesen und erklären konnte, erhielt die Qualifikation zum Beamten nicht. Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf- nahme erhielten Beamtensöhne den Vorzug. So ent- standen gewissermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es ist überhaupt eine japanische Eigentümlichkeit, daß nicht bloß Handwerk und Ackerbau, sondern auch Dichtkunst und Malerei, Lehramt, Medizin und klassische Gelehr- samkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, so daß man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und Gelehrten zu thun hat, sondern mit Dichter-, Künstler- und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der technischen Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, ist zweifellos; aber ebenso sicher ist, daß man der Kunst und Wissen- schaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte, indem man die freien Töchter des Himmels in das be- engende Geschirr des Handwerks spannte. Etwas allgemeiner wurde die Bildung erst seit dem zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus festen Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus ist ein aristokratisches System, welches sich in seinen philo- sophischen Partien nur an die höheren Klassen wendet; der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten nach Buddha herausgestaltet wurde, ist eine echte Volks- religion, durch und durch demokratisch, für die breiten Massen des Volkes. Für diese hat er von jeher ge- arbeitet und unter ihnen ist er heute noch eine Macht. Der Buddhismus muß als der Vater der japanischen Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver- breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein. Der Buddhismus bemächtigte sich der ganzen Bildung und über dem Auswendiglernen buddhistischer Sutra wurde die klassische chinesische Gelehrsamkeit vernach- lässigt. So herrschten in der ersten Hälfte unseres Jahr- tausends in Europa und Japan die gleichen Verhält- nisse, nur daß es hier buddhistische, dort aber katholische Mönche waren, welche die Lehrstühle als ihr ausschließ- liches Herrschaftsgebiet besetzt hielten. Aber wie kurz vor der Reformation in Europa der Umschwung eintrat, wie die Kuttenmänner durch die Humanisten verdrängt wurden, so strömte hundert Jahre später auch in Japan die Flut zurück. Durch den Ein- fluß des Schoguns Iyeyasu wurden die Mönche aus allen staatlichen Schulen verdrängt und die konfuzianisti- schen Gelehrten traten wieder in ihre Rechte ein. Sie sind die Erzieher der heutigen maßgebenden Kreise, die durch und durch von der religionslosen utilitaristischen Moral des Konfuzius durchdrungen sind, auch dann wenn sie etwa den Namen des Meisters schnöde ver- leugnen. Den Buddhisten dagegen blieb nichts weiter übrig als private Lehrthätigkeit. Sie beschränkten die- selbe fast ganz auf das gewöhnliche Volk und legten in ihren Tempelschulen, in welchen sie die Kinder aller Stände in den Elementarfächern unterrichteten, den Grund zu den eigentlichen Volksschulen der Gegenwart. Es giebt in der Geschichte des japanischen Unter- richtswesens Stellen, wo man sich förmlich von moderner Luft angeweht fühlt, wenn z. B. schon aus der frühesten Zeit von der Gründung von Bibliotheken und der Schaf- fung von Stipendien berichtet wird. Die Methode des Unterrichts dagegen war recht altertümlich. Der Lehrer redete und der Schüler hielt bescheiden den Mund. Der Unterricht bestand im Dozieren. Die chinesischen Zeichen wurden in der Weise gelehrt, daß die Schüler zuerst mit der Aussprache, dann mit der Bedeutung und zum Schlusse mit der Schreibweise bekannt gemacht wurden. Diese famose Methode geht den buddhistischen Priestern heute noch nach. Die Aussprache der Zeichen haben sie gelernt, so daß sie ihre heiligen Bücher zu lesen wissen, aber über diese erste Stufe sind sie nicht hinausgekommen; ein Verständnis des Gelesenen ist in seltenen Fällen zu finden. Fibeln und Lesebücher, an deren Hand man stufenweise, Schritt für Schritt voranschreitet, gab es in Japan bis vor ein paar Jahrzehnten ebensowenig wie in Deutschland vor Melanchthons Zeiten. Gleich wurden den Schülern die klassischen Schriften vorgelegt. Es ist das nicht zum wenigsten ein Grund der Frühreife und Selbstüberhebung auch noch der heutigen japanischen Jugend, wenn auch das System unterdessen geändert wurde. Auch zeigt sich die Fortentwicklung der alten Gewohnheit noch darin, daß man noch heute einen Jungen, der Deutsch lernen will, nur mit Mühe davon abbringen kann, Schillers Gedichte oder Lessings sehr beliebte Minna von Barnhelm als erstes Unterrichts- buch in die Hand zu nehmen. Daß eine solche Methode für eine neue Zeit nicht mehr brauchbar war, versteht sich von selbst. Und die neue Zeit kam. Schon seit dem 17. Jahrhundert war die höhere Bildung von europäischen Einflüssen nicht mehr frei ge- blieben. Die Holländer, welche Rolle sie sonst auch gespielt haben mögen, haben das eine große Verdienst, daß sie die Japaner mit den Grundsätzen der Medizin und der Naturwissenschaften bekannt machten und durch Einführung einer kunstgerechten Anatomie die mit der Medizin verbundenen mancherlei abergläubischen Vor- stellungen beseitigten. Der Verkehr mit den Holländern zwang die Regierung auch, zum Zwecke der Verständi- gung mit ihnen einige ihrer Unterthanen Holländisch lernen zu lassen, und wenn auch Unbefugten das Studium der fremden Sprache bei Todesstrafe untersagt war, — ein Verbot, welchem mehr als einer zum Opfer fiel —, so fanden sich doch immer mehr lernbegierige Jünglinge, welche in aller Heimlichkeit es wagten, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. So groß war die Wertschätzung des Wissens, daß in dem letzten Jahrzehnt des Schogunats, als sich schon einige Europäer in den Hafenstädten an- gesiedelt hatten, Jünglinge aus der stolzen Kaste der Samurai den Schimpf nicht scheuten, bei den „fremden Barbaren“ in Dienst zu gehen, nur um die Sprache zu erlernen. Andere, darunter die jetzigen beiden größten Staatsmänner Ito und Inouye und der sog. „Apostel Japans“ Nishima, waren auch damit noch nicht zu- frieden; während auf dem Verlassen des Landes die Todesstrafe stand, schmuggelten sie sich an Bord fremder Schiffe nach dem Ausland. Das waren untrügliche Wetterzeichen der Zeit; das Alte lag im Sterben, der gährende Most sprengte die alten Schläuche. Wenn man die neue Periode Meiji d. h. die er- leuchtete genannt hat, so verdient sie ihren Namen nicht zum wenigsten wegen ihrer Verdienste um die Volks- aufklärung. Heute ist die Schulbildung Gemeingut des ganzen japanischen Volkes. Eingeleitet wurde das neue Zeitalter der Schule durch einen kaiserlichen Erlaß vom Jahre 1872, welcher charakteristisch genug ist, um hier einen Platz zu finden: „Alles Wissen“, heißt es da, „sowohl das, welches man im alltäglichen Leben braucht, als auch das, was erforderlich ist, um Offiziere, Ärzte, Landwirte, Handwerker und Kaufleute zu bilden, wird durch Lernen erworben. Obgleich nun das Lernen un- bedingt erforderlich ist, um erfolgreich im Leben wirken zu können, so erachtete man es doch bisher für das gewöhnliche Volk als überflüssig, und auch in den höheren Studien wurden meistens nur zwecklose Diskursionen und wertlose Aufsatzübungen gepflegt, die wenig praktischen Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut und Mißgeschick im Leben. Darum muß der Unter- richt so erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine unwissende Familie und in keiner Familie ein unwissen- des Glied gefunden werde“. (Bolljahn.) Das ganze Volksschulwesen steht unter staatlicher Kontrolle. Die Schulen sind Gemeindeanstalten; doch giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksschulen. Die Lehrer sind auf Seminarien vorgebildet; falls sie ein Seminar nicht besucht haben, müssen sie ihre Be- fähigung durch eine Prüfung nachweisen. Der Schul- zwang, der übrigens in der Praxis nicht strenge durch- geführt ist, ist auf vier Jahre beschränkt; aber die meisten Kinder besuchen den Unterricht aus freien Stücken länger. Die Grenzen der Schulzeit bilden das sechste und das vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskosten werden zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer- gehälter sind sehr gering. Die Unterrichtsgegenstände sind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht ersetzt wer- den soll, so ziemlich dieselben wie bei uns. Auch der deutsche Kindergarten ist eingeführt und mit großem Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der besuchenden Kinder ist in den Städten eine sehr große. Bemerkens- wert ist, daß man, wie in England und andern Ländern, auch in weiten Kreisen des japanischen Volkes das Wort Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht körperlich und geistig zurückgebliebener Kinder ist Für- sorge getroffen. Bei den Jahresschlußübungen der Blin- den- und Taubstummenanstalt in Tokyo habe ich mich davon überzeugen können, welch’ bewundernswerte Re- sultate hier erzielt werden. Auch das höhere Schulwesen wurde in dem neuen Zeitalter der Aufklärung einer gründlichen Revision unterworfen. Der alte konfuzianische Gelehrte, welcher eine immer größere Seltenheit wird, und der moderne japanische Professor der Universität stehen sich wie Men- schen aus zwei völlig verschiedenen Welten gegenüber. Es giebt heute keine Fachschulen in Europa, die man nicht auch in Japan besäße. Von den bedeutendsten Re- gierungsschulen seien hier nur einige erwähnt: Gymna- sien niederer und höherer Ordnung, Realschulen, Lehrer- bildungsanstalten, technische Schulen, die Kunstschule, die Adelsschule, die Marineakademie, die Kadettenanstalt, die Kriegsschule und die Musikakademie für europäische und chinesische Musik. Weitaus die meisten sind in Tokyo, dem Mittelpunkt der japanischen Bildung. Hier befindet sich denn auch die Krone der Schulen, die Universität. Zwar ist neuerdings noch eine zweite Hoch- schule in Kyoto eröffnet worden, doch ist dieselbe vor- erst noch in der Entwicklung begriffen. Die Universität zu Tokyo hat ungefähr tausend Schüler. In ihrer äuße- ren Einrichtung ist sie nach amerikanischem „College“- System organisiert. Sie zerfällt in sechs Fakultäten: Rechtswissenschaft, Litteratur (Philologie, Philosophie, Geschichte ꝛc.), Naturwissenschaften, Technik, Medizin und Landwirtschaft. Eine theologische Fakultät giebt es nicht. Die medizinische Abteilung steht ganz, die littera- rische, rechtswissenschaftliche und landwirtschaftliche teil- weise unter deutschem Einfluß. Nicht nur, daß in den letzten Jahrzehnten beständig acht bis zwölf deutsche Professoren hier unterrichteten; auch die japanischen Lehrer haben meistens in Deutschland studiert. Wie ein deutscher Professor berichtete, hat der französische Gesandte in Tokyo, der, sebst ein Gelehrter, vor einiger Zeit die Universität besichtigte, zum Schluß bemerkt: „Alles sehr schön, aber — zu sehr deutsch!“ Aber trotz dieser Bemerkung bin ich nicht ganz damit einverstanden: „Alles sehr schön!“ Gewiß darf Japan auf die Organisation seines Schulwesens im allgemeinen, und auf die Universität im besonderen stolz sein. Aber mit Bezug auf den inneren Geist ist doch noch manches auszusetzen. In früheren Jahren kannte man nur ein humanistisches Studium; die Klassiker allein wurden zum Gegenstand des Studiums gemacht. Man hatte dabei nicht nur die Verstandesbildung, sondern mehr als das, die Charakterbildung im Auge. Heute ist das vielfach in sein Gegenteil umgeschlagen. Das Wissen ist das Ziel des Unterrichtes, nicht die Erziehung. Der Geist der japanischen Schule ist einseitig realistisch. Zwar bei der Universität, den Regierungsgymnasien und den Lehrerbildungsanstalten ist es verhältnismäßig noch am besten; zumal in den Gymnasien wird viel humanisti- scher Stoff verarbeitet. Aber der Geist, welcher die Fachschulen und das ganze Privatschulwesen beherrscht, ist ganz und gar realistisch und formalistisch. Die Zahl der Privatschulen ist Legion. Es giebt ihrer eine große Menge von den besteingerichteten „Colleges“ an bis zu den primitivsten Elementarschulen. An der Spitze steht die „Keiogijuku“, das nach ame- rikanischem Gymnasial- bezw. College -Stil eingerichte Institut Fukuzawas. Fukuzawa gilt als die Seele des modernen gebildeten Japans und zweifellos ist er als der geistige Vater der Hälfte der japanischen Politiker anzusehen. Fukuzawa hat es stets verschmäht, ein po- litisches Amt, auch das des Unterrichtsministers, zu bekleiden, und doch ist die unglückselige Verquickung von Politik und Erziehung auch bei ihm stark bemerkbar. Als Pädagog hat er sich natürlich auch mit den reli- giösen Problemen beschäftigt, und er besonders war es, welcher in der Mitte der achtziger Jahre das Christen- tum als Staatsreligion empfahl, weil Japan dadurch Gleichberechtigung mit den Westmächten erziele. Seine Schülerzahl beträgt zu jeder Zeit viele Hunderte und als politisch bemerkenswert mag angeführt sein, daß nach dem Ende des chinesischen Krieges auch hundert Koreaner in die Schule eintraten, mit dem Hauptzweck, die japanische Sprache zu erlernen. Dicht hinter Fukuzawas Schule kommen einige Missionsinstitute; als erstes die Doshisha in Kyoto und auf nur wenig niedrigerer Rangstufe die Meiji Gaku-in der Vereinigten Presbyterianer in Tokyo. Früher war eine der bedeutendsten Privatschulen die deutsche Vereins- oder Rechtsschule, Doitsu Kyokwai Gakko genannt. Damals unterrichteten neben einander fünf deutsche Lehrer an derselben, von welchen zwei humanistische und drei rechts- und staatswissenschaftliche Disziplinen lehrten. Leider hat ihr die Regierung vor einigen Jahren die staatliche Subvention entzogen, die deutschen Lehrer mußten entlassen werden, und neuer- dings ist die einst blühende Anstalt nur noch als Sprach- schule von einiger Bedeutung. Sprachschulen giebt es in großer Zahl. Am stärksten ist das Englische vertreten als die Verkehrssprache, während die deutsche Sprache als die wissenschaftliche gleich hinterdrein kommt. Es giebt aber auch franzö- sische, holländische, russische, koreanische, italienische und spanische Sprachschulen. Ich glaube nicht zu hoch zu greifen, wenn ich ihre Zahl in Tokyo allein auf etwa hundert schätze. Die meisten sind freilich auch darnach! Überhaupt ist das pädagogische Manchestertum, das ganze ausgebreitete Privatschulwesen für Japan ein be- klagenswerter Übelstand. Es sind zwar in diesen An- stalten auch tüchtige Schüler zu finden, aber zu einem großen Teil ist es doch minderwertiges Material, welches, für Regierungsschulen zu gering, hier immer noch mit offenen Armen angenommen wird. Der Besuch einer Privatschule berechtigt zu keinem öffentlichen Amt, und so entsteht ein großes halbgebildetes Proletariat und damit ein unzufriedenes, nörgelndes Element in dem Volksganzen. Das können doch unmöglich gesunde Zustände sein, wenn bei einer staatlichen Prüfung zur Qualifikation für das höhere Justizfach ein paar hundert junge Leute aus Privatrechtsschulen das Examen mit- machen, während doch von vornherein feststeht, daß entsprechend dem Bedarf nur sechsunddreißig bestehen können! Auch die Disziplin wird durch das Privatschul- wesen in einer Weise untergraben, welche sich allmählich als recht bedenklich herausstellt. Hier haben sich nicht die Schüler nach den Lehrern, sondern die Lehrer nach den Schülern zu richten. Geschieht das nicht, so treten die Schüler aus. Sie riskieren ja nichts dabei. Sie finden immer wieder ihre Unterkunft in einer Konkurrenz- schule, welche sie mit Freuden und ohne jede Nachfrage nach ihrem sittlichen Charakter aufnimmt. Die Trinität, zu welcher der junge Samurai in früheren Jahren ehr- furchtsvoll aufschaute, waren Vater, Fürst und Lehrer, und er konnte in die größte Verlegenheit gebracht wer- den, wenn man ihn fragte: „Wen würdest du zuerst retten, wenn die drei zusammen in das Wasser fielen und daran wären, zu ertrinken“? Damals war das Wort des Lehrers ein religiöses Orakel. Heute ist die Autorität und Ehrfurcht vollständig untergraben. Schul- streike sind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt eines schönen Morgens in die Schule, und von den fünfzig Schülern der Klasse ist keiner erschienen. Oft kann man davon hören, daß sie ihren Willen durch- setzen, sei es, daß es sich um eine von ihnen beantragte Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, sei es, daß man sich irgend einem ihrer Wünsche nicht will- fährig zeigte. Nicht selten schreiben die Schüler vor, was der Lehrer unterrichten soll, und wenn sie es nach ein paar Wochen überdrüssig sind, so befehlen sie wieder etwas anderes. Lehrer in Japan zu sein, ist keine Kleinigkeit, wenigstens keine Leichtigkeit. Unter dem Beispiel der Privatschulen lernen es auch die Lehrer der Staatsanstalten, nach der Pfeife der Schüler zu tanzen. Dem heutigen japanischen Schüler kann man bei all seinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig- keit nicht ersparen. Der Mangel des religiösen und humanistischen Unterrichts macht sich bedenklich bemerk- bar. Zu spät erkennen die Meister, was für Geister sie sich großgezogen haben. Dem japanischen Studenten wird genug für seinen Verstand, aber zu wenig zur Bildung seines Charakters geboten. Das Wohl des Volkes erheischt mit apodiktischer Notwendigkeit einen folgerichtigen Ausbau des staatlichen und eine ent- schiedene Beschränkung des privaten Unterrichtswesens. IV. Temperament und Gefühlsleben. E s ist eine bekannte Erscheinung, daß Land und Leute, Natur und Mensch im innigsten Zusammenhang mit einander stehen. Wie der Mensch dem Grund und Bo- den den Stempel seines Geistes aufdrückt, so wird sein Cha- rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt. Die Haide des Nordens ist nicht ohne Anteil an dem sinnigen, phlegmatischen Temperament ihrer Bewohner, und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein mit dem freien, starken, trotzigen Charakter ihrer ra- genden Berge. Die Erfahrung bestätigt, daß die äuße- ren Gliedmaßen der Amerikaner, besonders Hände und Füße, allmählich, von Geschlecht zu Geschlecht, lang und schmal werden wie die der Indianer. Es ist der Ein- fluß des Bodens, der solches schafft. Wenn aber irgendwo ein Volk mit seinem Lande innig verwachsen ist, so ist es das Volk der Japaner. Die Leute sind das genaue geistige Widerspiel des Bodens, der sie trägt. Gleichwie das Land mit seinen Schön- heiten und seinen Schrecken ein doppeltes Ansehen hat, so hat auch das Volk ein Janusgesicht. Wie die Schön- heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober- flächliche Blick sie sehen und würdigen muß, so ist das erste, was an dem Volke auffällt, seine Sauberkeit, Freundlichkeit und scheinbare kindliche Harmlosigkeit, all die anmutenden Züge einer ästhetischen Lebensführung, wie sie im vorigen Kapitel beschrieben wurden. Und wie die Schrecken der Natur in ihrer Vollkraft der Zerstörung sich nur dem langjährigen Residenten zeigen, so offenbart sich ihm auch der Japaner im Lauf der Zeit als ein ganz anderer, als der er zu Anfang schien. Dieses Doppelgesicht an Land und Leuten erklärt die Verschiedenheit der Urteile über die Japaner, Urteile, welche sich oft geradezu widersprechen. Die alten Resi- denten haben auch in die Nachtseiten Japans und seiner Bewohner hineinzuschauen Gelegenheit gehabt, und über dem Bösen, das sie hinter der freundlichen Außen- seite des Volkes sehen, vergessen sie oft das Gute, das sie doch auch haben, und werden einseitig in ihrem Urteil. Die Reisenden aber, welche nach kurzem Auf- enthalt im Lande wieder in die Heimat zurückkehren, haben nur die ästhetisch schöne Oberfläche von Land und Leuten gesehen und wissen dann zu Hause nicht genug zu erzählen von dieser schönen Natur und ihren sym- pathischen Menschen; und da die populären Werke über Japan, die ihren Weg in unser Volk gefunden haben, fast durchweg von Leuten dieser Klasse herrühren, so hat man lange Zeit in Europa an das Märchen von Japan als einem Land von schönen Blumen und einem Volk von harmlosen, liebenswürdigen Kindern geglaubt. Aber wahrlich, der Japaner ist weit mehr als das, ja in seinem Herzen ist er ganz etwas anderes. Darüber sollte der japanisch-chinesische Krieg endlich Klarheit geschaffen haben. Der Japaner würde sich selbst be- dauern, wenn er nicht mehr wäre, als was er scheint. Ein Spielzeug, eine Puppe, ein Kind, wie er von vielen Europäern aufgefaßt wird, will er nicht sein. Jeder Japaner ist ein Rätsel. Vor der Öffentlich- keit spielt er seine Rolle, und er spielt sie vorzüglich; 7 hinter den Kulissen aber ist er ein anderer. Er ist Meister in der Verstellungskunst und besitzt eine außer- ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künst- lich anerzogene Selbstbeherrschung. Es ist unmöglich, ihm vom Gesicht abzulesen, was er im tiefsten Herzen sinnt. Auch in Worten verrät er sich nicht. Er ist zurückhaltend, nicht mitteilsam, er ist verschlossen, nicht offen. Ein japanischer Gelehrter bezeichnet als eine nationale Tugend seiner Landsleute, daß sie offen und geradeaus seien. Diese Behauptung ist nur ein Beweis mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menschen nichts schwerer ist, als sich selbst erkennen, oder, wie der Japaner selbst in einem treffenden Sprichwort es aus- drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms ist es dunkel. Der Japaner ist nichts weniger als das. Er ist in seiner Verfahrungsweise indirekt. Kaum irgend- wo spielt die Zwischengängerei eine solche Rolle wie hier, nicht bloß in Heiratsgeschichten, sondern in allen möglichen Dingen. Seine Urteile sind nicht gerade- heraus, sondern umschreibend, seine Fragen gehen nicht direkt auf die Sache los, sondern hinten herum. Will ein Student erfahren, ob sein deutscher Professor der Geschichte im nächsten Jahr nach Ablauf seines Kontrakts nach Deutschland zurückkehrt, so fragt er nicht geradezu: „Kehren Sie nächstes Jahr in Ihre Heimat zurück?“ sondern vielmehr: „Kommt übers Jahr noch ein deutscher Geschichtsprofessor?“ Je nach der Antwort konstruiert er sich’s dann selbst, ob der Professor bald geht oder noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage, einen Lehrer für unsere Freischule engagieren zu müssen. Ich übertrug die Regelung der Sache einem meiner Studenten, nachdem ich ihn vorher instruiert hatte. Binnen kurzer Zeit kam er mit der Nachricht, daß die Sache erledigt sei. Ich fragte ihn, wie er denn mit dem neuen Lehrer einig geworden sei. „Nun“, sagte er, „ich ging zu ihm hin und fragte ihn: Wenn Sie eine Schule hätten und müßten einen Lehrer anstellen, was würden Sie dem wohl für ein Gehalt geben? Darauf besann er sich ein wenig und nannte dann eine Summe, und ich bat ihn darauf, um diese Summe als Lehrer bei uns einzutreten“. Der Japaner spricht mit dem gleichgültigsten Gesicht über die gleichgültigsten Dinge von der Welt, so daß man sich fast verwundern möchte über die inhaltslose Unterhaltung. Wenn er sich aber empfiehlt, weiß er, was er hatte wissen wollen, und der harmlose Europäer ist der Gefoppte. Er ist der geborene Diplomat, wie das vom Ostasiaten überhaupt gilt, und die Vertreter der europäischen Mächte dürfen all ihren Witz zusammenhalten, um nicht unbewußt die Spielbälle der japanischen Staatsmänner zu werden. Die euro- päische Macht, welche ihren Gesandtschaftsposten in Tokyo als eine Art Sinekure betrachtet und an mittelmäßige Kräfte vergiebt, ist übel beraten. Die neuen Verträge, welche Japan mit den europäischen Mächten auf der Grundlage politischer Gleichberechtigung abgeschlossen hat, sind ein diplomatisches Meisterstück, welches dem fähig- sten europäischen Staatsmanne zur Ehre gereicht hätte. Die Maske eines unschuldigen, harmlosen Kindes ist dem Japaner zur zweiten Natur geworden. Oft aber ist es ein von ihm beabsichtigter Schein, und dann wird er zum Heuchler. Im Verkehr mit dem Europäer ist er stets freundlich. Auch wenn er gerechten Grund zum Zorn hat, bleibt er ruhig, gleichmütig, liebenswürdig. Aber Thatsache ist, daß er eher Abneigung als Liebe gegen den Fremden im Herzen trägt. Wenn sie unter sich sind, zumal in der Presse, die nur von sehr wenigen 7* Europäern gelesen werden kann, kommt die verborgene Abneigung zum Vorschein. Hinter der Maske birgt sich in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit Reineke Fuchs ist mitunter eine auffallende. Gerade wenn er am liebenswürdigsten thut, schmiedet er im geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas erreichen will, giebt er Geschenke. Nirgends wird soviel verschenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih- nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte stehende Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie nett sahen sie aus und wie lieblich durchströmte ihr Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme solcher Geschenke, ohne es zu wissen, die Erlaubnis ge- geben hat, sich anpumpen oder auf irgend eine andere Weise über den Löffel barbieren zu lassen. Ich möchte nicht mißverstanden sein: Ich habe sehr viele Geschenke erhalten, die in der freundlichsten Absicht ohne jede eigen- nützigen Hintergedanken gegeben worden sind. Aber im großen Verkehr werden die Völker stets klug daran thun, das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona ferentes; auf gut Deutsch: Wenn der Japaner dir etwas schenkt, so nimm dich in acht. Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf gemacht; man hat gesagt, die Lüge werde nicht einmal als ein sittlicher Makel betrachtet und empfunden, selbst der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung der Lüge als eines moralischen Defektes. Japanischer- seits hat man dagegen erwidert, gerade der Umstand, daß kein entsprechender Ausdruck für Lüge vorhanden sei, sei ein Beweis dafür, daß dieses Laster in Japan überhaupt nicht existiere, daß es den Japanern fremd sei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner ist im Lügen ebensowenig offen und geradeaus wie im Sagen der Wahrheit. Eine dreiste, freche Lüge geht ihm ebenso wider den Strich, wie eine rücksichtslose, ehrliche Wahrheit. Wohl aber ist zu bedenken, ob nicht das ganze System des falschen Scheins eine einzige große Lüge und Verlogenheit ist. Freilich der ganze scharfe Maßstab unserer Sittlichkeit darf an die japa- nische Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen- wärtige Geschlecht ist für dieselbe wenig verantwortlich zu machen. Sie hat sich zu ihrer heutigen Ausprägung herausgestaltet durch die Verhältnisse der Feudalzeit, da das Volk rücksichtslos dem Druck von oben ausgesetzt war, da einer den andern mißtrauisch beobachtete und das Spionieren großgezogen wurde. Man sollte daher die Verlogenheit eher eine schlechte Sitte als einen bösen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich die Hoffnung, daß das, was durch die Geschichte ent- wickelt wurde, auch durch die Geschichte wieder vernichtet wird, daß der japanische Charakter, welcher in den Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen werde. Hier ist eine Aufgabe, würdig des Christentums, die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem die Sünde vergangener Tage sie behaftete. Ihr Tem- perament als solches mag unveränderlich bleiben, weil es angeboren ist; dieser eine Zug aber, weil nachweis- lich geschichtlich bedingt, kann ein anderes Ansehen ge- winnen. Wenn es doch sichtbar zu Tage tritt, daß selbst das Land sich verändert, warum sollen nicht auch die Leute entwicklungsfähig sein? Auch Vulkane brennen aus und werden zu freundlichen, friedlichen Bergen; warum sollte das Volk ewig verurteilt sein, das zu bleiben, was es gegenwärtig ist? Aber freilich, einstweilen zeigt sich auch in diesem Punkte des Systems des falschen Scheins noch die Natur des Vulkans. Nach außen anmutig, ruhig, harm- los; im Innern aber schafft’s und gährt’s, rastlos, un- unterbrochen, bis es zu gelegener Zeit zum Ausbruch kommt. Die Zeit aber, wann das sein wird, weiß niemand. Denn der Japaner ist unberechenbar, wie die Vulkane des Landes. Er ist durch und durch Sanguiniker. Er besitzt alle Tugenden und alle Mängel des sanguinischen Temperaments. Er ist leicht empfänglich für alles, rasch sich begeisternd, mit großem Interesse für alles Mögliche; aber auch ebenso oberflächlich, flatterhaft und wankelmütig. So schwerfällig der Chinese ist, so leicht beweglich der Japaner. Feurig wie Petrus treten sie für etwas ein, wankelmütig wie Petrus verleugnen sie ihre Sache. Sind die Gallier rerum novarum cu- pidi, so sind die Japaner rerum novarum cupidissimi. Ein französicher Gelehrter hat es verwunderlich gefunden, daß die Charakterzeichnung, welche Cäsar von den alten Galliern giebt, auf die heutigen Franzosen noch genau zutrifft. Was aber würde der alte Cäsar selbst dazu sagen, daß seine damalige Zeichnung Zug für Zug auch auf die heutigen Japaner paßt. Ritterlicher Sinn, Großmut, Ehrgefühl, Liebe zu den Waffen, Neigung für das Glänzende, Leichtfertigkeit, Parlierkunst, Phrasen- haftigkeit, und was Cäsar sonst anführt, gilt hier wie dort. Wenn er schreibt: „Die Gallier lieben die Um- wälzung; sie lassen sich leicht durch falsche Gerüchte zu Aktionen treiben, die sie nachher bereuen, und zu Ent- scheidungen über die wichtigsten Dinge; sie sind immer bereit zum Krieg auch ohne Ursache . . . .“, so könnte das Subjekt dieser Sätze ebensowohl der Japaner sein. Dieselben Leute, deren Land nach seiner ganzen Lage als das England Asiens bezeichnet wird, hat man nicht mit Unrecht die Franzosen des Ostens genannt. Sie sind es, nur mit dem Unterschied, daß sie Selbstbe- herrschung üben und nach ihrem Sprichwort: „Ein rasches Wort, einmal aus dem Munde, bringen vier Pferde nicht wieder zurück“, das Herz nicht auf der Zunge tragen, was bei ihrem Temperament nicht leicht ist und nur durch rigorose Dressur erreicht werden konnte. Rasch ist der Wechsel. Wie die Vulkane des Landes Jahrzehnte lang ruhen, um dann mit einem Mal aus- zubrechen, wie mitten aus der größten Ruhe urplötzlich ein schrecklicher Taifun sich erhebt, so mag am politischen oder sozialen Horizont am Abend zuvor noch alles ruhig sein, am nächsten Morgen aber befindet sich das ganze Volk in Bewegung und Aufruhr. Das ist nicht ein ruhig dahinfließender Strom, das ist vielmehr wie Ebbe und Flut des japanischen Meeres. Es fehlen die Über- gänge, es fehlt die ruhige Entwicklung. Die Japaner sind bekannt als Schlangen- und Kautschukmenschen im Sinne ausgezeichneter Akrobaten und Jongleure, sie sind aber auch Schlangenmenschen im geistigen Sinn, biegsam und geschmeidig, ein Volk, welchem ein festes gerades Rückgrat fehlt. Alles nehmen sie leicht. Nicht als ob sie es zuvor nicht überlegten; aber mehr als das Sprichwort: „Erst wäg’s, dann wag’s“ gilt ihnen das andere: „Frisch gewagt ist halb gewon- nen“. Sie besitzen eine leichtgeschürzte Energie und einen frischmutigen Unternehmungsgeist. Bei größeren Unternehmungen in Deutschland bedarf es erst geraumer Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der Gedanke an die Einführung einer elektrischen Straßen- beleuchtung zum erstenmal auftaucht, so mag noch mancher Tropfen Wasser den Rhein hinabfließen, ehe der Plan zur schließlichen Ausführung kommt. In Japan geht so etwas über Nacht. Eines schönen Tages kommt man von einer dreiwöchentlichen Reise zurück und sieht eine elektrische Straßenbahn durch die Straße gezogen. Oder man schaut zum Fenster hinaus und bemerkt mit Erstaunen den Schornstein einer Fabrik vor sich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So- zialdemokratie auf japanischen Boden verpflanzt, nicht etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür bestände, sondern damit man selbst das Neueste zu besitzen sich sagen darf. Schon ist eine japanische Dampferlinie nach Antwerpen eröffnet, und an das große Problem der Gold- und Silberwährung, über welchem die alte und die neue Welt sich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die neueste Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der Geschichte getreten ist, frischmutig die Hand an. Japan ist das Land der Überraschungen. Es ist unmöglich, hier den Propheten zu spielen. Wie über- raschend kam der japanisch-chinesische Krieg! Kurz zu- vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht, ausgenommen die japanische Regierung selbst; und zwar nicht bloß unter den Laien, sondern auch unter den Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutsch- land das ostasiatische Geschwader aufgelöst, um die deutsche Vertretung unter den vierhundert Millionen Menschen Ostasiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren, unterdessen marode gewordenen Wolf zu überlassen. Ein solches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen erklärlich, war an und für sich schon gewagt; es wäre aber geradezu unverantwortlich gewesen, wenn damals irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal verstanden, die Welt zu überraschen. Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo hinwandeln sieht, alle Hast vermeidend, langsam und bedächtig, als hätten sie Zeit im Überfluß, allem Anschein nach in harmloser Gedankenlosigkeit, eine lebendige Illustration zu dem Dichterwort: „Und nichts zu suchen, das war mein Sinn“; wer sie beobachtet bei ihren Kirschblütenfesten, zufrieden und heiter, als gehe sie die ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an, der ist versucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des japanischen Lebens, welche meinen, daß diese Betrachtungs- weise die richtige sei; wenn sich im großen Getriebe heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geschäftig- keit bemerkbar mache, so sei das eher die Folge einer gewissen Nervosität, als eines angeborenen Temperaments. Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja- paner bei all dem Neuen, das in der jüngsten Ver- gangenheit auf sie einstürmte, nervös geworden wären. Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr- zehnten erlebt hat, ist dem unglücklichen Provinzbewohner zu vergleichen, der sich für ein paar Wochen in der Großstadt vergnügen will und von seinen dortigen Freunden erbarmungslos von einem Museum zum andern, von einer Gemäldegallerie zur andern geschleppt wird. Dazu gehören eiserne Nerven. Der Japaner hat aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe seine Nerven derartig gestählt, daß er trotz seines prickelnden Temperaments den Eindruck eines Menschen ohne Nerven macht. Nervosität ist es nicht, was die heutige un- ruhige Geschäftigkeit verursacht. Wohl ist in den Jahr- hunderten zuvor von dieser Geschäftigkeit nichts zu bemerken. Aber das ist leicht erklärlich. Das Land war von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen, die Leute hatten keine Bedürfnisse, jede selbständige That wurde verhindert: Was blieb da anderes übrig als ein Leben in Beschaulichkeit? Zu thun gab es auch beim besten Willen nicht mehr als nötig war, das Leben zu fristen; und das besorgte bei einiger Nachhilfe der fruchtbare Boden reichlich genug. Da blieb denn immer noch das Vernünftigste, was man thun konnte, auf seinen Strohmatten zu liegen und zu schlafen oder hinauszu- gehen und in ruhiger Heiterkeit die Natur anzuschwärmen. Sobald aber die eiserne Faust, die die Volksseele dar- niederhielt, gewichen war, schnellte die Seele elastisch empor, um noch ein ganz anderes Angesicht als ein beschauliches zu offenbaren. Der Wechsel auf allen Gebieten des Lebens, das Interesse für das Neue in allen Schichten der Bevölkerung ist zu radikal, als daß hier nicht die Wahrheit des japanischen Temperaments liegen sollte. Die äußere Ruhe des Japaners ist noch eine Nachwirkung der Gewöhnung aus der alten Zeit des Schlafes, die innere Geschäftigkeit aber im ganzen öffentlichen Leben ist das Wahre. Die Ruhe der Feudal- zeit war künstlich, die Bewegung der Jetztzeit ist das Natürliche. Der Japaner wird nie aufhören, sich der heiteren Seiten des Lebens zu freuen; nennt man doch das sanguinische Temperament das genießende! Aber geschäftig thätig wird er dabei bleiben. Das sehen wir bestätigt bei einem Blick auf die japanische Geschichte im ganzen. Wo immer sich Gelegen- heit zu Neuem geboten hat, da hat man dieselbe begierig benützt. Auch die japanische Geschichte ist eine Geschichte von Überraschungen. Auch hier trat immer das ein, was man am wenigsten erwartete. Auch hier ging es nicht in ruhiger stetiger Entwicklung vorwärts, sondern vielmehr sprunghaft. Ganz stetig geht ja wohl keine Entwicklung geistiger Kräfte. Denn der Geist liebt die Schablone nicht. Geradlinig aufsteigend, ohne Krüm- mungen, ist auch unsere Geschichte nicht verlaufen. Die Völkerwanderung, die Reformation und die Wiederauf- richtung des Deutschen Reiches sind Höhepunkte, wo mit einem Mal in gewaltigem Anstoß die Linie steil nach oben stieg. Aber die Perioden, die auf diese Ereignisse folgten, haben doch weiter gearbeitet, stetig und ununter- brochen, haben keinen Rückschritt noch Stillstand geduldet, haben selbst in der vielverschrieenen Zeit des dunkeln Mittelalters aufwärts geführt, wenn auch nur in lang- samer, ruhiger Entwicklung. Anders die Epochen der japanischen Geschichte. Das ist kein allmähliches Auf- steigen, das sind vielmehr drei vereinzelte Berge, von denen jeder folgende am Rande einer vorgelegenen großen Ebene auf der Höhe des andern sich erhebt. Merkwürdigerweise fallen die drei Epochen, welche in Übereinstimmung mit dem japanischen Mangel an Originalität stets durch Anstöße von außen veranlaßt wurden, nämlich durch die Berührung mit der chinesisch- buddhistischen, mit der mittelalterlich-katholischen und mit der modern-protestantischen Kultur, zeitlich mit den großen Epochen der deutschen Geschichte zusammen. Zur Zeit der Völkerwanderung ist es gewesen, als die chinesische Kultur, als deren Bannerträger zuerst Kon- fuzius, dann Buddha erschien, teils direkt, teils über Korea in Japan eindrang und in raschem Siegeslauf ein Volk roher, unwissender Barbaren in ein Kultur- volk umwandelte. Kaum aber war die Wandlung ge- schehen, als völliger Stillstand eintrat. Statt weiter zu arbeiten und sich zu einer höheren Stufe der Kultur emporzuarbeiten, war man zufrieden mit dem, was man bekommen hatte. Man paßte es dem Bestehenden an, weiter geschah nichts. Japan ruhte aus auf seinen Lorbeeren, die es billig genug erworben hatte; der Hof sank in Weichlichkeit und das Volk in geistigen Schlaf. Der Mikado wurde zum Schattenbild, welt- liche Herrscher, Schogune genannt, führten an seiner Statt die Zügel der Regierung. Unter beständigen Kämpfen verschiedener Adelsfamilien um das Schogunat verflossen die Jahrhunderte; und als das 16. Jahrhundert heraufdämmerte, da war die Frucht eines halben Jahr- tausends gleich Null. Da, mit einem Mal, schien ein neues Zeitalter anzubrechen, die zweite Epoche der japanischen Geschichte begann. Wie zuvor mit der chinesischen, so kam Japan jetzt in Berührung mit der europäischen Kultur. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem der Portugiese Mendez Pinto kurz zuvor Japan „entdeckt“ hatte, er- schienen die Jesuiten und Franziskaner im Land. Von mehreren Daimio (Fürsten) und dem Schogun Nobunaga begünstigt, war ihr Erfolg beispiellos. Nach Verlauf von wenigen Jahrzehnten zählten ihre Anhänger nach Hunderttausenden. In raschem Siegeslauf schien die europäisch-christliche Kultur Herr zu werden über die asiatisch-buddhistische. Da verbündete sich mit dieser ein gewaltiger Mann, Iyeyasu, trotz Saigo, dem Helden der Revolution von 1868, der größte Mann der japa- nischen Geschichte, der Begründer der letzten Schogun- dynastie der Tokugawa. Mit eiserner Faust wurden die neuen Gedanken unterdrückt. Durch lange und ent- setzliche Martern gereizt erhoben sich die Anhänger der neuen Lehre unter Iyeyasus Enkel Iyemitsu zum Ent- scheidungskampf. Auf der Halbinsel Schiobara kam es im Jahre 1637 zum letzten Kampf. Die katholische Idee unterlag. Das Christentum wurde bei Todes- strafe verboten, kein Europäer durfte hinfort das Innere des Landes betreten, kein Japaner das Land verlassen. Nur den Holländern ward es erlaubt, jährlich einmal zum Austausch von Waren auf der Insel Deshima bei Nagasaki zu landen. Das Land war abgeschlossen, die gespannten Muskeln erschlafften, das Alte ward vergessen und das Volk fiel wieder in seinen Schlaf. Nun schlief es ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrhunderte hindurch. Endlich im Jahre 1854 erschien der amerikanische Admiral Perry am Eingang der Bay von Tokyo und verlangte im Namen der Vereinigten Staaten einen Handesvertrag. Man wollte nicht auf ihn hören, man gedachte weiter zu schlafen. Da ließ Perry seine Kanonen spielen, und als der nie zuvor gehörte Donner der großen Geschütze durch das Land hallte, erwachten die Schläfer vom Schlaf: Die dritte Epoche der japanischen Geschichte war da. Wenn man die Geschichte Japans betrachtet, wird man lebhaft erinnert an das Märchen vom Dornröschen. Wie in diesem mit einem Schlag alle Bewegung in Ruhe, alles Leben in Schlaf sich wandelte, so auch dort; und wie im Märchen mit einem Schlag das Leben von neuem erwachte aus tiefem, totenstillem Schlaf, so in Japans Geschichte. Jedesmal war es wie der gewaltige Ausbruch eines Vulkans, der vorher geruht; und jedesmal war es, wie wenn die vulkanische Glut plötzlich in sich selbst zurücksinkt. Und diese Erfahrung läßt sich auf allen Gebieten machen. Nirgends ruhiges Fortschreiten, überall Sprünge, das Fallen von einem Extrem in das andere. Während vor dreißig Jahren der Absolutismus die einzige poli- tische Anschauung war, die man kannte, ist heute das ganze Volk angesteckt von den Gedanken der Demokratie. Während man damals noch auf die Autorität des Buddha und Konfuzius schwor, ist man es heute gewöhnt, ihrer zu spotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht zu den Füßen seiner Lehrer saß und ihren Worten lauschte als einer höheren Offenbarung, wird heute der Lehrer von dem Schüler gemeistert. Bekennt sich heute einer zu der orthodoxesten Form des Christentums, wie er es von dem engherzigsten amerikanischen Missionar erhalten hat, morgen ist er vielleicht ein Atheist. Es ist ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil des radikalen und unsteten Charakters zurückzuführen sein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit des Sklaven, die ihm soeben geschenkte Freiheit recht zu benützen. Aber im wesentlichen ist sie begründet in der Eigentümlichkeit des japanischen Denkens. Seiner Form nach ist dieses Denken impulsiv d. h. stoßweise, vulkanisch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja- paner nicht; und so ausdauernd er in der langwierigsten technischen oder experimentierenden Arbeit ist, ein stetiges ruhiges Durchdenken einer Sache ist ihm zuwider. Die deutschen Professoren haben stets Klage zu führen, wie schwer es ist, den Studenten den Begriff der Ent- wicklung und Kausalität, diese Grundlage alles wissen- schaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber ist es so schwer? Weil die Form des japanischen Denkens nicht die der ruhigen, langsamen Entwicklung, nicht die des klaren, logischen Folgerns und der kausalen Ge- dankenverbindung ist, sondern die des Impulses, des plötzlichen Erfassens. Das japanische Wissen ist mehr divinatorischer als logischer Natur. Und so kommen wir auch hier wieder zu demselben Ergebnis wie bei der Betrachtung des Geisteslebens: Der Japaner ist mehr ästhetisch als gedankentief veranlagt. Das Temperament ist die Grundlage des Charakters, und einige in der sanguinischen Natur des Japaners begründete Charakterzüge sind so hervorstechend, daß sie selbst bei einem bescheidenen Anspruch auf an- nähernde Vollständigkeit hier nicht übergangen werden dürfen. Übertragen wir die Form des Denkens in das Ethische und betrachten sie auf die Wirkungen hin, wie sie sich im Verkehr mit dem Nebenmenschen aus ihr ergeben, so wird uns die sprunghafte, impulsive Art dieses Denkens, das ganze ungefestigte Naturell zur Unzuverlässigkeit. In der That kann der Vorwurf der Unzuverlässigkeit dem Japaner nicht erspart bleiben, und es ist ein schwerer sittlicher Tadel, der damit aus- gesprochen wird. Es werden in dieser Beziehung häufig Vergleiche zwischen Japanern und Chinesen angestellt, welche in den europäischen Handelskreisen Ostasiens immer zu Ungunsten der ersteren ausfallen. Der Chinese ist Phlegmatiker, und darum besitzt er die Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens- würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm fremd ist; was er aber einmal ergriffen hat, hält er fest, und von seiner einmal gemachten Zusage geht er nicht ab. Der frühere Leiter der größten englischen Bank in Yokohama hat ausgesprochen, daß er auf der ganzen Welt niemand kenne, dem er eher vertraue als dem chinesischen Kaufmann und Bankier; seine Bank habe in fünfundzwanzig Jahren Geschäfte mit Chinesen in der Höhe von Hunderten von Millionen Dollars gemacht; aber niemals habe er einen betrügerischen Chinesen gefunden. Dagegen herrscht über die Unzu- verlässigkeit des japanischen Kaufmanns nur eine Stimme der Klage. Er bestellt bei einer fremden Firma, und wenn die Ware kommt, so nimmt er sie nicht ab, oder er sucht trotz vorheriger Vereinbarung den Preis herab- zudrücken. Er hat beständige Ausflüchte, und selbst durch einen schriftlichen Kontrakt fühlt er sich nicht gebunden. In den großen fremden Handelshäusern in Yokohama und Kobe sind die gewöhnlichen Arbeiter Japaner, als Aufseher an der Spitze aber stehen Chinesen. Man hat die geschäftliche Unzuverlässigkeit des Japaners geschichtlich erklären wollen. In der Feudalzeit waren Handel und Geldgeschäfte die ausschließliche Domäne der unteren Kasten, während der Gelehrten- und der Kriegerstand darauf als auf gemeine Beschäftigungen mit Verachtung herabsahen. Von früh auf war es ihnen eingeimpft worden als ein unantastbarer Grund- satz der Moral: „Geld ist das letzte, darnach ein Mensch trachten sollte; Reichtum ist der Feind der Weisheit“. Da konnte es nicht ausbleiben, daß der kaufmännische Stand moralisch herabsank, und daß der Handel nur ausgeübt wurde von solchen, die auf Ehre nicht viel hielten. Zweifellos trägt das an dem gegenwärtigen Stand der Dinge einen Hauptteil der Schuld. Wenn im Verkehr mit den Handelsvölkern des Westens der Handel erst einmal seine rechte Würdigung erfährt, — und man ist jetzt schon auf dem besten Wege dazu —, so werden sich ihm auch sittlich hochstehende Kreise zu- wenden, und allmählich wird das Geschäftsgebahren wesentlich umgestaltet. Auch werden die Japaner, klug wie sie sind, bald selbst einsehen, daß man in diesem Stande mit Ehrlichkeit und reeller Behandlung weiter kommt als mit vermeintlicher Schlauheit; einen Weg aber, der sie vorwärts bringt, zögern sie nie zu betreten. Immerhin tragen sie in ihrem sanguinischen Tempera- ment eine stete Versuchung zur Unzuverlässigkeit mit sich, so daß es bei ihnen wohl noch gute Weile hat, bis es in vollem Sinne heißen darf: Ein Mann, ein Wort. Um so mehr steht zu hoffen, daß sie sich die gleich- falls auf ihrem Naturell beruhenden Tugenden der Empfänglichkeit und Eindrucksfähigkeit in dem gegen- wärtigen vollen Maße bewahren werden. Sind sie doch die Hauptquellen ihrer sympathischen Züge einer ästhe- tischen Lebensführung. Sie verstehen es, sich liebevoll an etwas hinzugeben; aber sie sind gleicherweise bedacht, sich nicht zu verlieren und sich selbst zu behaupten. Sie haben Stolz und Selbstbewußtsein, sie werfen sich nicht weg. Wie sie ästhetisch äußerlich auf sich halten, so auch innerlich. Servilität und kriechende Unterwürfigkeit ist ihnen fremd und kann ihnen nur von dem angedichtet werden, der ihre Höflichkeit mißversteht. Sklavischer Sinn mit all seinen unschönen Begleiterscheinungen eignet ihnen nicht. Sie wissen, was sie sind und was sie können, sie wissen es manchmal nur zu sehr. Sie verfallen darum leicht in Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Großmannssucht. Der Japaner möchte mehr scheinen, als er ist. Kaum hat der Knabe seinen Einzug in die höhere Schule gehalten, so muß auch eine Brille her, damit er ein gelehrtes Ansehen gewinnt. Ein Kneifer würde ihm freilich noch besser gefallen, aber für den ist die japanische Nase leider nicht gewachsen. Ein echter 8 Sanguiniker wie er ist, frägt er bei seinem Thun und Handeln nicht so sehr nach den ewigen Gesetzen der Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt sich zum Teil aus seinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt bestehen und den Vergleich mit Europa aushalten zu können. Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten Kreuzes und die menschliche Behandlung der Kriegs- gefangenen, sind weniger auf einen tiefen sittlichen Kern zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was würde Europa dazu sagen, wenn wir es anders machten! Man muß vorsichtig sein, ihm solches als moralisches Verdienst anzurechnen: Es ist in vielen Fällen nichts anderes als Tünche, schöner Anstrich, um die Augen der Beschauer zu bestechen oder — um es anders auszu- drücken — Sand, den man den Leuten in die Augen streut. So lange es sich um praktisch Nützliches handelt, glaube ich an seinen Ernst; darüber hinaus aber bin ich mißtrauisch. Und wenn schon der ganzen modernen Kultur Japans etwas Maschinenhaftes anklebt, so ist dieses vollends nichts weiter als offenbare äußerliche Anpassung. Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrscht ihn. Er ist eher verschwenderisch als habsüchtig. In Geldsachen besitzt er eine hervorragende Noblesse. Der Diebstahl, wenn er natürlicherweise auch vorkommt, ist doch seiner Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver- schlossen, selbst kleinere Geldbeträge; nie ist mir etwas abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor Wegleihen soll man sich hüten. Der Materialismus, mit welchem sein Geistesleben behaftet ist, äußert sich nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch nur nach einem genußreichen Leben. Mammonsanbeter sind sie nicht, und auch den Bauch haben sie nicht zu ihrem Gott gemacht. Und wenn ich hier noch einmal auf das Sprichwort: „Zehn Menschen, zehn Bäuche“ zurückkommen darf, so sei es dieses Mal in dem Sinne, daß sie zwar den Bauch als den Sitz der Verstandes- thätigkeit, nicht aber als das Reservoir kullinarischer Genüsse betrachten. Nach Ruhm geht des Japaners Streben. Wenn auch seine gesunden Sinne ihm sagen, daß sein Vater- land hinter mancher andern Macht zurücksteht, sein Ehrgeiz redet ihm ein, daß Japan doch die erste Nation der Welt sei. Ich habe einen Studenten der Theologie gekannt, der von Lessing nichts wußte, als was er hier und dort in englischen Büchern über ihn gelesen hatte: Er schrieb ein Buch über Lessing. Gekauft hat es niemand, er aber hatte die Genugthuung, sich gedruckt zu sehen. Wie überall so auch hier: In inniger Ver- bindung mit der Eitelkeit der Mangel an Tiefe, die Oberflächlichkeit. Ich kannte einen andern, der in der deutschen Rechtsschule durchgefallen war und dann vor- übergehend, durch Vermittlung eines Gönners, An- stellung auf dem Hauptpostamt gefunden hatte; eines Tages teilte er mir mit, daß er gegenwärtig in Päda- gogik mache und Lesebücher für alle Klassen der Volks- schule schreibe. Ein dritter Bekannter, ein junger Mann, der nicht einmal eine fremde Sprache kannte, gab eine Zeitschrift heraus, welche den Unterricht der Ch ū gakk ō , des Progymnasiums, ersetzen und die Abonnenten nach einer Reihe von Jahren auf die Höhe der Bildung eines Abiturienten bringen sollte, die er meiner Ansicht nach aber selbst nicht besaß. Was die Leute dazu treibt, ist die Großmannssucht. Man will sich einen 8* Namen machen, man will glänzen. Es ist die „Gloire“ des Franzosen, die sich bei den Franzosen des Ostens nicht minder ausgeprägt wiederfindet. Die Eitelkeit ist an und für sich eine der harm- losesten Untugenden. Der Eitle macht sich lächerlich, aber dem andern schadet er nicht. Sobald aber die Eitelkeit in ein praktisches Verhältnis zum Nächsten tritt, wird sie sehr bitter. Der Selbstvergrößerung ent- spricht als ihr Gegenstück die Verkleinerung des andern. Ich habe von einem jungen Mann erzählt, daß er ein Buch über Lessing schrieb. Was er schrieb, war alles abgeschrieben. In seinem Buch aber verrät er davon nichts. Er selbst will groß erscheinen, seine Vorlagen aber verleugnet er. Er möchte alles selbst gethan haben, das Verdienst des andern sucht er für sich zu übersehen, für dritte zu verdecken. Es ist ihm eine peinliche Empfindung, sich jemand verpflichtet zu wissen. Er wird zu dem, was man im besten Sinne undankbar nennt. Das Wort für Dank trägt er unendlich viel auf seinen Lippen, aber die Sache ist seinem Herzen nicht so vertraut. Seine Dankbarkeit ist eine formelle Ceremonie, nicht so sehr eine Sache des Herzens; und der gebräuchliche Ausdruck für Danksagen: „Rei wo iu“ bedeutet eigentlich: „Der Etikette genügen“. Es ist eine durchgehende Klage, daß man die fremden Beamten und Lehrer ausnutze bis auf das letzte, um sie dann gleich ausgepreßten Citronen acht- los beiseite zu werfen. Man benutzt sie, solange man noch etwas von ihnen lernen kann; aber die Aner- kennung versagt man ihnen. von manchem, was Europa heute an Japan abgiebt, wird schon die kommende Generation behaupten, daß dasselbe ursprünglich japa- nisch sei. In einer großen Versammlung von Japanern und Europäern hörte ich eine Rede aus dem Munde eines hervorragenden japanischen Christen, welche als ein mustergiltiger Beleg für diese Charaktereigenschaft betrachtet werden darf. Unter den Fremden in Japan ist diese Eigenschaft allgemein bekannt, aber diese Aus- führungen haben sie doch noch überrascht. Sagte doch der Redner den anwesenden Missionaren mit dürren Worten nichts Geringeres, als daß die großen Gedanken des Christentums schon von alters her im japanischen Volk gelebt hätten; und die fremden Gelehrten, die sich immer wieder darüber beklagen, daß ihre Studenten die wissenschaftliche Methode nicht begreifen wollen, be- kamen zu hören, daß diese selbige Methode nicht ein abendländischer Importartikel, sondern ein echt japa- nisches Erbstück sei. Das ist eine bombastische Weise, die nicht weniger als eine tiefgehende Schwäche der Selbsterkenntnis beweist. Es ist ja freilich möglich, daß der fremde Be- obachter hier zu scharf urteilt. Es ist nicht unwahr- scheinlich, daß der Japaner gerade dem Fremden gegen- über, eben weil er sich innerlich ihm noch unterlegen fühlt und für seine Unabhängigkeit fürchtet, aus einem gewissen trotzigen Selbständigkeitsgefühl heraus äußerlich um so mehr aus sich zu machen sucht. Dann wäre es nicht viel mehr als eine zeitweilige Überspannung des Bestrebens nach Selbstbehauptung, die sich je mehr verlieren müßte, je mehr er sich mit dem Abendländer auf gleiche Stufe gehoben weiß. Mit dem eben erwähnten mangelhaften Gefühl der Dankbarkeit stehen wir schon mitten in dem Gefühls- leben des Japaners und im Grunde haben wir das ganze Wesen seines Gefühlslebens damit schon vorweg genommen. Alles was eitel ist, ist aufgeblasen und hohl; was aber hohl ist — und wäre es im übrigen selbst aus edlem Stoff, was ich von dem Japaner immerhin behaupte — schwimmt auf der Oberfläche. Wie sein Geistesleben, so leidet auch sein Gefühlsleben an einem Mangel an Tiefe, an einer gewissen Ober- flächlichkeit. Zwar lassen sich manche Anzeichen von scheinbarer Gefühllosigkeit geschichtlich erklären. Wenn sie die größten körperlichen Schmerzen aushalten, ohne eine Miene zu verziehen, so ist das zweifellos zurückzuführen auf eine Gewöhnung von alters her. Hat doch die Feigheit immer als eine verachtungswürdige Schwäche gegolten. Stoischer Gleichmut wurde von jeher von ihnen gepriesen, und während die Ruhe, mit welcher Sokrates den Giftbecher trank, als etwas Selbstverständ- liches angesehen wird, besteht ein Hauptanstoß, welchen man an der Person Jesu nimmt, darin, daß er sich in Gethsemane menschlich weich und schwach gezeigt habe. Wenn sie Geld und Vermögen in einem Umfang ver- lieren, daß es manchen Abendländer an den Rand der Verzweiflung bringen würde, und wenn sie solche Ver- luste mit stoischem Gleichmut hinnehmen, so findet das seine Erklärung in der vorerwähnten Nichtachtung ma- terieller Schätze. Und wenn sie ohne Furcht und Grauen dem Tode entgegen sehen, so ist auch dafür ein Grund vorhanden in ihrem Skeptizismus, der weder an Hölle noch an Fegfeuer glaubt. Wenn sie aber auch bei dem Tode ihrer Lieben augenscheinlich keine Trauer zeigen, wenn mein Diener mit lachendem Gesicht, strahlend in mein Zimmer tritt, um mir den Tod seiner Mutter anzuzeigen und um zwei Tage Urlaub zur Beerdigung zu bitten, so stehen wir hier um so mehr vor einem Rätsel, als die Familienangehörigen im Leben ungemein enge mit einander verbunden sind. Was wunder, wenn manche Europäer, und selbst gute Kenner des japanischen Volkes der Ansicht sind, daß sie fast jedes Gefühles bar sind. Gleichwohl geht dieses Urteil entschieden zu weit. Der Japaner ist durch Frau Etikette Schau- spieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte, so bin ich überzeugt, daß er dann gerade erst recht Ge- fühl heucheln würde. Wenn er aber mit seinem Gesicht lacht, so mag er sehr wohl mit seinem Herzen weinen. Thatsächlich habe ich manche gesehen, die mir mit lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er- zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über die Wangen rannen. Die scheinbare Gleichgiltigkeit ist zu einem guten Teil eben nur scheinbar, verdeckt durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an mir selbst bei schweren Verlusten, die mich betroffen hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken die Erfahrung machen müssen, daß die japanische Art auch auf mich ansteckend wirkte, während es mir doch im innersten Herzen wahrlich nicht so zu Mute war. Gleichwohl steht es dem sorgfältigen Beobachter aus tausend kleinen Zügen und feinen Empfindungen, die sich durch Beispiele schwer belegen lassen, fest, daß ihr Gefühl nicht so tief ist wie das unsrige, daß sie ein Gefühls- und Gemütsleben in unserm Sinn über- haupt nicht führen. Schon die ganze ästhetische Er- ziehung mit ihrer Wertschätzung des Harmonischen, Heiteren und Sonnigen ist nicht darauf angelegt, sie irgendwie für den düsteren Ernst des Lebens empfäng- lich zu machen. Elastisch, wie Naturell und Erziehung sie geschaffen haben, gehen sie mit einem leichten: „Shikata ga nai“, „Es läßt sich nichts machen“, über das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über. An Stelle des echten Gefühls aber, welches als unversiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit lebendig ist, finden sich merkwürdigerweise nicht selten momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und rasch wieder gehen. Sie sind nicht sowohl wahres Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, sentimentale Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach sind sie als akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar sind es sehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragischen Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im japanisch-chinesischen Krieg kam es manchmal vor, daß der oder jener sich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als Schande, die sie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891 beging ein auf Yezo stationierter Offizier im Angesichte der Gräber seiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufschlitzen). Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe seiner That auseinandersetzte, und ordnete an, daß der- selbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geschickt werden sollte. Diesem Brief zufolge hatte der Offizier mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan in große Gefahr bringen werde. Da er sich aber sagte, daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört werden würden, so beschloß er, sich zu töten, da aus dem Grabe heraus seine Stimme ernster und eindring- licher an die Herzen seiner Landsleute dringen werde. Dieser ganze Vorgang ist durch und durch japanisch. Als der russische Thronfolger durch einen Fanatiker ver- wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert Kilometer weit nach Kioto gereist, stellte sich vor den alten Kaiserpalast und nahm sich selbst das Leben, um, wie sie sagte, eine Sühne zu bringen für das Verbrechen der Nation. Mehr als eine japanische Mutter, deren Sohn sich der verhaßten Jesuslehre zuwandte, kam auf den Gedanken des Selbstmords, um damit den Schimpf auszuwischen, den der Sohn auf die Familie gebracht hat. Ich stand einmal mit einem christlichen Japaner vor einem Bilde, welches darstellte, wie einige zwanzig junge Samurai, d. h. Männer aus dem Kriegerstand, die in einer Schlacht mitgekämpft hatten, in der ihre Partei ge- schlagen wurde, Selbstmord durch Harakiri begingen. Ich sagte meinem Begleiter, daß in einem solchen Falle bei uns zu Lande die jungen Leute am Leben geblieben wären, um das nächste Mal um so feuriger zu kämpfen und ihre frühere Niederlage durch die That wieder gut zu machen oder, wenn es sein müßte, einen ehrlichen Soldatentod in offener Feldschlacht zu finden. Der Mann war Christ, aber er war auch Japaner, der stolz war, daß auch seine Ahnen der Kriegerkaste einst ange- hört, und als solcher blieb er dabei, daß die That jener nicht allein großartiger und erhabener, — denn darüber ließe sich ja vom ästhetisch-dramatischen Standpunkt aus streiten — sondern auch sittlich besser und edler gewesen sei. Die Wertschätzung des eigenen Lebens, wie sie dem Europäer eigen ist und dem Christen zur Pflicht gemacht wird, kennt der Japaner nicht. Der Selbstmord gilt ihm nicht als unmoralisch, vielmehr haben Romantik und Sentimentalität eine Art von Heiligenschein um den Selbstmord gewoben. Der Ge- danke, welcher zu allen Zeiten in vielen Köpfen gespukt hat, daß Schande mit dem eigenen Blut abgewischt werde, und daß Sünde mit dem Leben bezahlt d. h. gut gemacht werden könne, ist dem japanischen Volk ein Glaubenssatz, der zu einem strengen Ehrencodex führte und das Harakiri als vielgeübten Brauch zur Folge hatte. Bei den Japanern war das so selbstverständlich, daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten von einem, nach der herrschenden Ansicht oder nach des Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des Bauchaufschlitzens zurückzuhalten. Das sind Fälle einer auffallenden Sentimentalität, die fast immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und falschen Vorstellungen von Ehre zusammenhängen. In Zeiten großer Erregung werden dieselben epidemisch, wie eine ansteckende Krankheit, um dann wieder wie diese für lange Zeit ganz zu verschwinden. In diesem Zeitalter der praktischen Wirklichkeit freilich, in welches Japan jetzt eingetreten ist, dürfte es dieser krankhaften Erscheinung genau so gehen wie auch den epidemischen Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende schaffende Menschengeist drängt sie zurück. Da die eben erwähnten sentimentalen Erscheinungen nicht normal, sondern krankhaft, nicht dauernd, sondern zeitlich sind, so läßt sich aus ihnen auf eine besondere Gefühlsstärke nicht schließen. Mit viel mehr Recht könnte man von einer gewissen Gefühlshärte sprechen. Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieselbe selten. Das Betragen ist tadellos. Wären die Japaner Kinder, so dürfte man sie in vollem Sinne Musterkinder nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit ist wirklich mustergiltig. Mancher deutsche Familienvater weiß sie nicht einmal im eigenen Hause zu schaffen; hier umfaßt sie ein ganzes Volk. Aber bei den sogenannten muster- haften Menschen findet man es häufig, daß die Form auf Kosten des Herzens, der formelle Takt auf Kosten des Herzenstaktes geht. So zeigt sich auch hier, daß das starre Einzwängen in die Etikette manchen zarten Trieb des Herzens und Gemüts an der Entfaltung hinderte, so daß er elend verkümmern mußte. So groß die Bereitwilligkeit des Japaners ist, in ritterlichem Sinn für die Sache des Unterdrückten einzustehen, so habe ich doch ein warmherziges Mitleid mit den Müh- seligen und Beladenen der Menschheit selten gefun- den. Dagegen kann er recht hart sein. Kann doch darüber kein Zweifel bestehen, daß die Japaner wäh- rend des chinesischen Krieges einige Male sehr grausam verfuhren. Charakteristisch für die in ihrem Innern zurückgebliebenen Spuren eines hartherzigen Barbaris- mus sind auch die von Chinesenblut triefenden Kriegs- bilder, welche Kulturbilder eigentümlicher Art sind, ferner abgeschnittene blutige Chinesenköpfe, in Papp- deckel nachgemacht, welche Kindern zum Spielzeug dienten, und anderes mehr. Ich habe des öftern christliche Ja- paner gefragt, ob sie nicht Mitleid mit den chinesischen Kriegsgefangenen hätten; ich erhielt von denselben stets zur Antwort, daß sie die Gefangenen mit Neugier und Stolz betrachteten, aber nicht mit Mitleid. Wer sich die Mühe nimmt, sich einmal für ein paar Stunden an den Kudanhügel im Centrum von Tokyo hinzustellen und die Jinriksha zu beobachten, wird da- bei eine interessante Entdeckung machen. Während näm- lich die Europäer sämtlich am Fuße des Hügels aus- steigen oder noch einen zweiten Mann zum Drücken enga- gieren, lassen sich die Japaner mit sehr wenigen Aus- nahmen von ihrem einzigen Kuli hinaufziehen; ja häufig genug sieht man zwei wohlgenährte Soldaten in einer Jinriksha, von nur einem Mann gezogen, hinauffahren. Ich bin im Gebirge auf sehr holprigen und steil auf- steigenden Wegen Jinriksha begegnet, dabei der arme Wagenzieher kaum von der Stelle kam und in Schweiß förmlich aufgelöst war, so daß ich aus Mitleid mit ihm manchmal selbst Hand anlegte zur großen Verwunde- rung des Japaners, der in der Jinriksha saß. Aber aussteigen — daran dachte er nicht. Er hatte ja Zeit, und der Kuli wurde bezahlt; da war alles in schönster Ordnung! Man ist geneigt zu glauben, der Buddhismus habe die Menschen Ostasiens gutherzig gemacht. Denn der Buddhismus predigt nicht allein Liebe zu den Menschen, sondern auch zu der unvernünftigen Kreatur. Ausdrück- lich verbietet er, Tiere zu töten, und thatsächlich soll es heute noch buddhistische Priester geben, die nicht einmal einen Mosquito, diesen schrecklichsten Schrecken der heißen Sommernächte, töten. So hütet sich der Japaner wohl, zum Mörder an jungen Hunden oder Katzen zu werden, die man doch bei uns unbedenklich in das Wasser wirft, wenn sie etwa überzählig sind. Aber er kann sie doch nicht alle aufziehen! Es laufen ohnedies auf den Straßen von Tokyo schon so viele Hunde umher, daß von Zeit zu Zeit Kuli ausgeschickt werden, um mit ihnen aufzuräumen. Wie befreit man sich von ihnen? Man setzt sie aus und überliefert sie dadurch ruhigen Gewissens einem langsamen, qualvollen Tod; denn man tötet sie ja nicht und hat damit dem Gesetz bis zum letzten Buchstaben Genüge gethan. Ich kam einmal auf einem Spaziergang mit einer deutschen Dame an einigen solcher Tierchen vorbei, welche jämmer- lich winselten. Sie dauerten uns; die Dame nahm ihr Taschentuch und wickelte sie hinein und wir nahmen sie mit nach meiner Wohnung. Hier übergab ich sie meinem Koch mit der Weisung, sie sofort zu ertränken. Nach einiger Zeit kam ich auf den Hof, da sah ich sie vor der Wohnung des Koches umherkollern. Als ich diesen zur Rede stellte, gab er mir zur Antwort, er wolle sie nicht töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen und sie holen. Auch die Behandlung der Pferde ist eine schlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reisen will, so thut man gut daran, sich zuvor den Sattel aufdecken zu lassen. Nicht selten sieht man darunter das rohe Fleisch. Alles in allem dürften in den Ländern des Buddhismus Tierschutzvereine zum wenigsten ebenso gut angebracht sein als in denen des Christentums. Es versteht sich von selbst, daß das vorstehende Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leisten ist, über welchen sich alle einzelnen Individuen schlagen lassen. Es ist ein Volkscharakter, und als solcher muß er verstanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen Strichen das Gesamtbild zusammen, so ist leicht zu er- sehen, daß der Japaner eine in sich geschlossene Per- sönlichkeit ist. Sprache und Geistesleben, Temperament und Gefühlsleben — alles gehört harmonisch zusammen; ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem Ganzen. Der Japaner ist von uns zwar sehr ver- schieden, aber er ist doch wieder ein Mensch wie andere Menschen auch. Er ist kein Engel, und niemand wird dem Dichter Motoori glauben, wenn er in seiner Be- geisterung singt: „Shikishima no Yamato-gokoro wo Hito towaba, Asa-hi ni niou Yama-zakura-bana“ „Möcht’ jemand gern von dir erfahren, Was Japans echte Söhne sind, Zeig’ auf die wilde Kirschenblüte, Die in der Morgensonne duftet.“ Aber ebensowenig ist es wahr, daß der Japaner ausschließlich den finsteren Mächten gleicht, welche unter der Oberfläche seines Landes thätig sind. Licht und Schatten verteilen sich: Neben hellem Lichte tiefe Schatten — wie in der Natur des Landes, so in der Seele des Volkes. V. Familienleben und Sittenlehre. W er den Engländer nur von Deutschland aus kennt, ist versucht, an das Märchen zu glauben, daß über dem Kanal drüben dreißig Millionen spleenbe- hafteter Menschen umherlaufen. Wer ihn auf der Straße von London sieht oder in seiner „Office“ in der „City“ aufsucht, gewinnt dagegen den Eindruck als von einem sehr klugen, aber rücksichtslos ener- gischen und vielleicht abstoßenden Geschäftsmann. Wem es aber vergönnt war, ihn in seinem Hause zu be- obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch germanischen Gemüts an, und der Engländer wird ihm sympathisch. Ein Mann sieht anders aus im Gesell- schaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und anders im Hauskleid in dem trauten Kreis seiner Familie; und so lange wir einen Menschen nicht im Neglig é e gesehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit seines Hauses, wo er sich gehen läßt, und wo auch das — es sei gut oder böse — zum Vorschein kommt, was er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen von Dritten sorgfältig verbirgt, so lange kennen wir ihn nur erst von einer Seite. Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von Menschen und Volk notwendig ist, in die Familie ein- zukehren, so ist das in Japan der Fall. Nirgends hat man der Familie größere Bedeutung beigemessen, nir- gends ist sie so sehr die Grundlage aller bestehenden Ordnung, nirgends so sehr das Fundament der Sitt- lichkeit und Tugend. Hier hat Konfuzius sein Meister- stück gemacht. Er hat gezeigt, daß auch eine rein moralische Idee, nur wenig unterstützt durch den Ahnen- kult des Shintoismus, sich in hohem Grade wirksam erweisen mag. Freilich diese Idee ist keine abstrakte, sondern die konkreteste, die es geben kann. Konfuzius hat erkannt, daß das Blut der beste Gemeinschaftskitt ist, und daß Leute, in deren Adern dasselbe Blut fließt, schon von Natur und darum auch moralisch zusammen- gehören. In diesem Satz liegt das Geheimnis seines Erfolges. Die logische Folgerung aus diesem Satz ist sein Familiensystem mit der Tugend der Kindesliebe „kō“ als Grund und Krone; und sein nationales System mit der Tugend des Patriotismus und der Loyalität „chū“ ist nichts weiter als der natürliche folgerichtige Ausbau des „kō“ . Wenn nun die Familie die Grundlage der mensch- lichen Gesellschaftsordnung ist, so ist die Erhaltung der Familie die erste Pflicht. Im Prinzipe steht es fest, daß jeder männliche Japaner heiraten muß. Jung- gesellen, wie sie sich bei uns allmählich zu einem förm- lichen Stand herausbilden, giebt es so gut wie nicht, und da die Natur in Bezug auf die Verteilung der Geschlechter weise Vorsorge getroffen hat, so ist auch das Altjungferntum etwas Unbekanntes. Der Japaner kennt keinen größeren Stolz, als Vater zu sein, die Japanerin kein höheres Gebot, als Mutter zu werden. Die Fortpflanzung der Familie ist der einzige Zweck der Heirat, und wo infolge von Kinderlosigkeit der Ehe dieser Zweck nicht erreicht wird, da liegt es in der Natur der Sache, daß damit auch ein vollgenügender Grund zur Ehescheidung gegeben ist. Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung spielen alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle. Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenso wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine bestimmte Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be- sondere Mitgift, etwa gar ihr entsprechendes Teil von dem elterlichen Vermögen, erhält sie nicht, da der älteste Sohn als „Stammhalter“ Haupterbe ist. Liebesheiraten sind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver- hältnis eingehen mit dem Zweck, sich zu verheiraten, kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal vorkommt, so findet es scharfe Verurteilung. Mir sind zwei Fälle von Verlöbnissen aus Liebe bekannt geworden, und zwar aus mir vertrauten christlichen Kreisen; in dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten zu versöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem andern aber scheiterte die Verehelichung an dem unbe- siegbaren Widerstand der einen Familie. Die Be- stimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern und des Familienrats. Die Hauptsache ist nicht, daß die beiden künftigen Ehegatten, sondern daß die Familien zu einander passen. Der Japaner hält streng auf Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anspruch auf Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden Familien mit einander verlobt waren; da stellte sich heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des Aussatzes gestorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück. Die Wahl einer passenden Familie ist darum eine sehr wichtige Aufgabe. Dieselbe fällt, wie überhaupt 9 die ganze Heirat, dem Vermittler (Nak ō do) anheim Vergl. Naomi Tamura, Warum heiraten wir? Übersetzt von Frau Pfarrer Auguste Bickel geb. Diercks, früher Missionarin des Allg. Ev. Prot. Missionsvereins. Das Büchlein hat eine interessante Vorgeschichte. Tamura wurde seiner Zeit durch die Generalsynode der Ichiky ō kwai (Vereinigte Presbyterianer) aus der Kirche ausgestoßen, weil er durch sein Buch Japan vor dem Ausland herabgesetzt habe. Es ist das ein Zeichen der schon erwähnten japanischen Empfindlichkeit. Denn nach seinem objektiven Inhalt giebt das höchst anschaulich geschriebene und flott übersetzte Büchlein eine richtige Darstellung. Das einzige, was etwa aus- zusetzen wäre, ist, daß der Verfasser sich zu sehr für die ameri- kanischen Sitten begeistert, auch da, wo ich für meine Person die japanischen entschieden vorziehen würde. . Der Vermittler ist nicht etwa ein gewerbsmäßiger Kuppler; vielmehr ist sein Amt eine freiwillige Leistung, und es gilt als eine große Ehre und hervorragende Vertrauens- stellung, von einer Familie als Nak ō do bestellt zu werden. Prozente bezieht der Nak ō do nicht; dagegen ist es Ehren- sache, ihn nach Abschluß der Ehe reichlich zu beschenken. Wenn ein Vater seine Tochter verheiraten möchte, so bittet er einen gesellschaftlich auf gleicher Stufe stehen- den Freund, das Amt des Vermittlers zu übernehmen. Derselbe hält nun Ausschau, und wenn er eine ent- spechende Partie gefunden hat, so macht er seinem Auf- traggeber Mitteilung. Ist derselbe einverstanden, so erfolgt die Anfrage bei dem Vater des jungen Mannes. Bis jetzt wissen die beiden jungen Leute noch nicht, was hinter ihrem Rücken vorgeht. Eines Tages macht man ihnen Mitteilung, und da man eine Widerrede nicht erwartet, so zeigt man ihnen zugleich an, daß an einem bestimmten Tage das „Miai“ (die Begegnung) statthaben solle. Das ist die einzige Gelegenheit vor der Hochzeit, bei welcher Bräutigam und Braut sich sehen. Daß man dem „Miai“ nicht gleichgültig entgegensieht, ist natürlich. Wer würde da nicht erregt sein? An wem würde nicht zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem „Hangen und Bangen in schwebender Pein“, wenn ihm gesagt wird: „Übermorgen sollst du zum erstenmal — und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit — deinen künftigen Reisegefährten durch das Leben sehen?“ Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem ersten Falle macht der junge Mann einen Besuch im Hause seiner Zukünftigen. Bei dieser Gelegenheit serviert die Braut den Thee, d. h. sie kommt durch eine Schiebe- thüre des Nebenzimmers, stellt ein Täßchen Thee vor ihren zukünftigen Gatten, verbeugt sich tief vor ihm und entfernt sich wieder durch die Schiebethüre. Das Ganze dauert höchstens eine halbe Minute. Gesprochen wird nichts. Etwas weniger aufregend ist die Begegnung auf der Brücke, die zweite Art des „Miai“. Zu verab- redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, sich anzusehen; aber gesprochen wird auch hier nichts. Da ist die dritte Art des „Miai“, die Begegnung in dem Theater, doch noch die ausgiebigste. Das japanische Theater dauert von früh morgens bis spät in die Nacht hinein. Dabei wird gegessen und geplaudert, und Braut und Bräutigam haben wenigstens etwas Gelegenheit, sich kennen zu lernen. Freilich, wirklich befriedigend ist auch das nicht. Die Etikette gebietet strenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu- mal hat sich möglichst schweigend zu verhalten, und dem Jüngling ist unsere europäische Sitte des Kurmachens gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann vollends keine Rede sein, denn der Japaner küßt über- haupt nicht, und da in Japan die Mädchen sich sehr 9* stark pudern und ihre Lippen mit goldroter Farbe be- malen, so können wir es ihm nicht verdenken, wenn er das Küssen ekelhaft nennt. Nach dem „Miai“ werden die jungen Leute befragt, ob sie gegen die Verheiratung etwas einzuwenden haben. Das ist aber nur in seltenen Fällen zu finden; denn in Japan ist man es nicht gewohnt, gegenüber den Eltern eine eigene Meinung zu haben. Jetzt tauscht man gegenseitig Geschenke aus, und der Tag der Hochzeit wird festgesetzt. Dabei ist man vorsichtig, ja nicht einen Unglückstag zu wählen, gerade wie bei uns auch. In Bezug auf Unglückstage ist der gewöhnliche Japaner sehr abergläubisch. Ich erinnere mich, daß ein mit einer Japanerin verheirateter Abend- länder, welcher mit seiner Frau nach seiner Heimat zurückkehren wollte, monatelang nicht loskommen konnte, da seine Frau bei jedem Abgang eines Schiffes den Einwand erhob, es sei ein Unglückstag. An dem be- stimmten Tage versammelt sich die Hochzeitsgesellschaft in einem Gasthause oder in der Wohnung des Bräuti- gams. Der Ehrenplatz des besten Zimmers ist mit glückverheißender Fichte, Bambus und Pflaumenblüte geschmückt. Davor nimmt das Brautpaar Platz. Unter feierlicher Stille kredenzt man ihm nach einander drei Schälchen Sak é (Reisbranntwein), die es gemeinschaftlich trinkt zum Zeichen, daß sie Freud und Leid treulich mit einander teilen wollen. Damit sind sie Mann und Frau ge- worden. An einem der nächsten Tage macht man von der vollzogenen Trauung Mitteilung an die Bezirksbehörde, damit in die Register der neue Name der jungen Frau eingetragen werde, und alles ist nun in schönster Ordnung! Doch nein! Nun beginnt eine böse Zeit. Wenn es bei uns schon nicht immer wahr ist, daß die Flitter- wochen die schönsten sind, da in dem engen Neben- einander die Charaktere der Neuvermählten aufeinander- stoßen, so ist das in Japan, wo es zuvor an jeder Gelegenheit fehlte, sich aneinander abzuschleifen, noch viel mehr der Fall. Zumal die Lage der jungen Frau, die sich plötzlich in eine ganz fremde Umgebung versetzt sieht und ängstlich bestrebt sein muß, ihrem Manne und — was noch schwerer ist — ihren Schwiegereltern zu gefallen, ist keineswegs beneidenswert. Was Wunder, wenn sie bei ihrem ersten Besuch in ihrer elterlichen Wohnung, welcher der Sitte gemäß am dritten oder siebenten Tage stattfindet, oft nicht wieder oder doch nur schwer zu bewegen ist, in das Haus ihres Mannes zurückzukehren! Was Wunder auch, wenn bei einer so wenig individuellen Art der Eheschließung sich das Zusammenleben häufig als unmöglich erweist, so daß es schließlich zur Ehescheidung kommt! Dazu haben Konfuzius und seine Nachtreter die Ehescheidung gar zu leicht gemacht. Während sie der Frau ein Recht, sich scheiden zu lassen, überhaupt nicht zugestehen, mag der Mann ganz nach Belieben eine Trennung herbeiführen. Zwar hat er nach den Gesetzen der Moral — um bürgerliches Recht handelt es sich dabei überhaupt nicht — nur um sieben Ursachen willen Gewalt, seine Frau zu entlassen, nämlich wegen Un- gehorsams, Kinderlosigkeit, Ehebruch, Eifersucht, Aus- satzes und anderer unheilbarer Krankheit, Klatscherei und Hanges zum Stehlen. Aber das heißt ja doch nichts anderes, als das arme Weib auf Gnade und Ungnade in die Hand des Gatten, und zwar des gewissen- losen nicht minder als des wohlmeinenden, zu geben. Daß es hier Leute giebt, wie es deren in der ganzen Welt geben würde, welche von einem solchen bequemen Rechte Gebrauch machen, ist nicht mehr als menschliche Art. Gleichwohl — und das verdient hervorgehoben zu werden — ist in den besseren Ständen des Volkes die Ehescheidung verhältnismäßig selten. Trotz der loseren moralischen Grundsätze hat man hier eine eben- so große Scheu vor dem Skandal wie im christlichen Deutschland. Um dieses Skandals willen liegt es im Interesse der Familie, die allzusehr erleichterte Scheidung durch die Familienpolizei zu erschweren. Eine große Gewissenhaftigkeit ist dabei unverkennbar. Alles wird versucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn aber alles vergebens ist, so tritt als höchste Instanz der Familienrat zusammen, um den Urteilsspruch zu fällen. Es ist ein Familiengericht, welchem sich jedes Glied der Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier spielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer Hand setzt man sich hin und schreibt den Scheidebrief, der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen besteht. Da- her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks- brief gilt und von abergläubischen Leuten peinlich ver- mieden wird. Auf diesen Brief hin wird der Name der Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöscht, und alles ist wie zuvor. Lange pflegt es aber nicht zu dauern, so hat der Mann wieder eine andere Frau, und thatsächlich giebt es Männer, von welchen sich mit einer kleinen Text- änderung eines biblischen Wortes sagen läßt: „Fünf Frauen hast du gehabt; und die du nun hast, das ist nicht deine Frau“. Daß unter diesen Umständen die christ- lichen Kirchen auf die Ehescheidung überhaupt, ganz ohne Rücksicht auf die Gründe, die Ausstoßung aus der Gemeinde als Strafe gesetzt haben, kann ihnen nur zur Ehre gereichen. Wenn man bedenkt, wie leicht die Scheidung ge- macht ist, so darf man sich nicht wundern, daß bis zur Zeit immer noch stark ein Viertel aller Ehen der Trennung unterworfen ist. An und für sich wäre das freilich ein erschreckender Prozentsatz; aber es ist zweifel- los, daß sich das Verhältnis durch das neue bürger- liche Gesetzbuch und besonders unter der Einwirkung der Moral und Religion des Westens stetig besser ge- stalten wird. Insbesondere sind Ehescheidungen selten, wenn einmal Kinder vorhanden sind. Im ganzen wäre es unrecht, um dieser Dinge willen über das Volk den Stab zu brechen. Im Gegenteil muß ihm zum Lobe nachgesagt werden, daß es in seinen tüchtigen bürger- lichen Elementen den durch die konfuzianische Moral gebotenen Versuchungen erfolgreich widerstanden hat. Der sittliche Kern des Volkes hat sich besser erwiesen als seine seichte Moral. In der Praxis der Ehescheidung ist die Stellung von Mann und Frau schon gegeben. Der Mann ist der alleinige Herr des Hauses. Er ist der Patriarch, dessen Wort allein Geltung hat, und der für sein Thun und Lassen niemand, seiner Frau erst gar nicht, ver- antwortlich ist. In dem gut bürgerlichen japanischen Hause giebt es nicht erst ein Wortgezänk, wenn der Mann irgend wohin will. Auch ein Gatte, der seine Frau lieb hat, spricht zu ihr nicht in dem Ton und der Weise, wie der Europäer das thut, und von seiner Zuneigung legt er öffentlich nichts an den Tag. Er ist kurz angebunden, wie es einer Untergebenen gegen- über die Sitte erheischt. Derselbe Mann, welcher jeden Fremden mit ausgezeichneter Höflichkeit behandelt, hat für seine Frau kein bißchen Galanterie übrig. Auch der Gebildete spricht von seiner Gattin als von seiner „dummen Frau“ ( gusai ). Der Mann ist der Himmel, die Frau die Erde; der Mann ist die Sonne, die Frau aber soll ihre einzige Ehre in dem auf ihr ruhenden Abglanz der Sonne sehen, sie soll sich bescheiden mit dem stillen Schein des Mondes. Demzufolge ist die Stellung der japanischen Frau entschieden eine niedrige. Gleichwohl darf man nicht etwa meinen, der japanische Ehemann sei gemeinhin ein brutaler Wüterich, dem es Vergnügen mache, seine tyrannischen Gelüste an seiner armen Frau auszulassen. Auch hier ist es wie überall: Es giebt rohe und wohl- meinende Männer. Die fünfundzwanzig Frauen von hundert, deren Ehen geschieden werden, haben ja wohl von vornherein Nieten in der großen Lotterie des Glückes gezogen. Damit ist aber zugleich mit den unglücklichen Ehen stark aufgeräumt, und wenn die Bestimmungen des Konfuzius über Ehescheidung einen Vorzug haben, so ist es der, daß sie ein vortreffliches Sieb bilden. Unter den übrigen Ehen giebt es nicht weniger als bei uns, die als normal glückliche bezeichnet werden dürfen. Wenn auch Gatte und Gattin ohne Liebe in die Ehe treten, so ist doch das Wesen der Frau in der Regel derart, daß ihr Mann sie lieb gewinnt. Und wenn sie auch als erste Magd des Mannes ihren Platz vorzüglich in der Küche und in der Kinderstube hat, so weiß sie doch nicht selten ein Plätzchen im Herzen des Gatten zu finden. Nach meiner Kenntnis des japanischen Familienlebens ist es theore- tisch richtig, aber praktisch meistens falsch, von der Japanerin schlechthin als von einer Sklavin zu reden. Auf die niederen Klassen des Volkes, wo der Kampf um das Dasein die Unterschiede aufhebt und alle gleich- macht, trifft es durchaus nicht zu. Aber auch für die guten Bürgerkreise, die den Kern des Volkes ausmachen und eine Ehre darein setzen, die Hüter der alten Ordnung und Sitte zu sein, darf es nur cum grano salis gesagt und verstanden werden. Unter den vielen Einwänden, welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er- hoben werden, ist mir — es mag ja zufällig sein — nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: „Hier ist nicht Mann noch Weib“. Niemals hat man in Japan die Frau so tief erniedrigt wie in den Ländern des Islam, und wenn man auch zwischen den beiden Geschlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat, so hat man sie doch niemals gegen die Außenwelt ab- gesperrt. Wohl ist es wahr: Als Mädchen hat sie dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und Witwe dem ältesten Sohne Gehorsam zu leisten. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak- tisch-ethischen Leben diesen Gehorsam nicht als sklavische Dienstbarkeit verstehen dürfte, sondern vielmehr als still sich bescheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu gunsten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes darauf zu verzichten, sich selbst geltend zu machen. Das ist es, was der Mann von ihr verlangt. Trotz dieser Milderung ist die Stellung der Frau aber doch nicht die, wie sie sich in einem Kulturstaat gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden geschichtlichen Übergang gezwungen würde, unter solchen Bedingungen in die Ehe zu treten, so wäre der baldige Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Ordnung die not- wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie sie jetzt ist, weiß sich in bewundernswerter Selbstverleugnung und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden, so daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meist seine Bitterkeit verliert. Ihr Gehorsam ist in der Regel ein freudiger und kein gezwungener, wobei sie sich selten unglücklich fühlt. Eine japanische Frau findet die Mahnung des Apostels Paulus für selbstverständlich: „Die Weiber seien unterthan ihren Männern, als dem Herrn; denn der Mann ist des Weibes Haupt“. Daß sie in der Stille ihres Herzens hinzufügen mag: „Doch was darüber ist, das ist vom Übel“; daß sie nämlich nur mit Seufzen des konfuzianischen Zusatzes gedenkt: „Die Weiber seien unterthan ihrem Schwiegervater und besonders ihrer Schwiegermutter!“ wird ihnen niemand verdenken. Die junge Frau folgt immer ihrem Manne in dessen elterliches Haus, und das Zusammenleben mit den Schwiegereltern wird in unzähligen Fällen zur Veranlassung der Ehescheidung. Denn zwischen Mann und Frau soll niemand treten, und die beiden sollen ein Fleisch und ein Herz sein. Es bedarf keiner besonderen sittlichen Empfindungen, um einzusehen, daß mit Bezug auf die Stellung des weiblichen Geschlechts in Japan dem Christentum eine ebenso zarte, als dankbare Aufgabe gestellt ist. Bis jetzt müssen vorzugsweise die Amerikaner als diejenigen bezeichnet werden, welche in das japanische Familien- leben reformierend einzugreifen versuchen. Wenn aber in diesem von den Gedanken der Frauenemanzipation tief durchdrungenen Volke Millionen das oben erwähnte Wort des Apostels geradezu auf den Kopf stellen, so ist es doch noch, zumal unter den eigentümlichen Ver- hältnissen Japans, sehr zweifelhaft, wer mehr auf dem Holzwege ist, sie oder die Japaner. Eine Umfrage unter den Fremden in Japan würde überraschende Antworten zu Tage bringen. Den meisten erscheint die sich bescheidende Zurückhaltung der Japanerin als etwas ungemein Anziehendes, und dieses gewiß nicht lediglich aus dem selbstsüchtigen Trieb, allein die Herren der Schöpfung zu sein. Vielmehr meinen sie, daß eine ge- wisse passive Zurückhaltung des Weibes das natürliche Verhältnis gegenüber dem Manne ausmache, geboren aus der Erkenntnis, daß der Mann das kraftvolle, mutige, energische und gebende Element ist, die Frau aber von Natur das leidende, empfangende und still sich bescheidende. Es ist etwas überaus Zartes, Sanftes und Be- scheidenes in dem gewinnenden Wesen der Japanerin. Alles Sichvordrängen, alle unweibliche Energie ist ihr fremd. Männliche Emanzipationsgelüste liegen ihr, der man von früh auf die Ehe als einzigen und schönsten Beruf des Weibes hingestellt hat, völlig fern. Alles, was den Eindruck des sanften Frauencharakters stören könnte, ist durch die Erziehung sorgfältig ausgemerzt — freilich auf Kosten der Individualität. Ohne eine solche systematische Erziehung der Frau könnte von leid- lich guten ehelichen Verhältnissen keine Rede sein. Es verlohnt sich wohl der Mühe, einen kurzen Auszug aus dem klassischen Werke für Frauenerziehung Vergl. „Onna Daigaku“ von dem Morallehrer Kaibara, übersetzt von B. H. Chamberlain. Siehe dessen „Things Ja- panese“, ein Buch, welches sich ebenso sehr durch reichen Inhalt als durch gesundes Urteil ausgezeichnet und selbst für den alten Residenten und guten Kenner Japans als Nachschlagebuch unent- behrlich ist. hier wieder- zugeben. Da heißt es: „Köstlicher als ein schönes Ge- sicht ist für ein Weib ein tugendsames Herz. Eines bösartigen Weibes Sinn ist immer aufgeregt; es schaut wild, läßt seinen Ärger an andere aus, ihre Worte sind keifend und ihr Ton ist roh. Wenn es spricht, setzt es sich über andere, hechelt sie durch, bläht sich im Hochmut auf, spottet über Abwesende und lacht sie aus. All das ist nicht in Übereinstimmung mit dem, was sich einer Frau geziemt. Die einzigen Eigenschaften, welche ihr gut anstehen, sind Sanftmut, Gehorsam, Keuschheit, Milde und Ruhe. In China nennt man die Heirat Rückkehr; denn eine Frau muß ihres Mannes Haus als ihre wahre Heimat betrachten, und wenn sie heiratet, so ist das eine Rückkehr dahin, wo sie in Wahrheit zu Hause ist. Wie ärmlich auch immer des Gatten Haushalt ist, sie soll ihn nie darüber zur Rede stellen. Ihre einzige große lebenslängliche Pflicht ist Gehorsam. Wenn ihr Gatte ungehörig oder schlecht handelt, so soll sie mit ruhigem Gesicht vor ihn hin- treten und mit sanfter und freundlicher Stimme ihm Vorhaltungen machen. Wenn er ärgerlich wird und auf die Mahnungen nicht hören will, soll sie eine Zeit- lang warten, um erst dann wieder die Sache zur Sprache zu bringen, wenn sich sein Herz beruhigt hat. Niemals trete die Frau mit scharfen Zügen und schneidender Stimme gegen den Gatten auf. Eine Frau sollte immer auf den Beinen sein und streng auf ihr eigenes Be- tragen achthaben. Morgens muß sie früh aufstehen und abends spät zu Bette gehen; unter Mittag soll sie nicht ruhen. Nimmer soll sie müde werden zu weben, zu spinnen und zu nähen. Sie soll nicht viel Sak é trinken, und zu Tempeln und andern Orten, wo große Massen zusammenkommen, soll sie nur selten gehen, bis sie vierzig Jahre alt geworden ist. In ihrer Eigen- schaft als Gattin muß sie ihres Mannes Haushalt in guter Ordnung halten. Unnötige Ausgaben meide sie, und mit Bezug auf Speise und Kleidung halte sie es so, wie es mit der gesellschaftlichen Stellung ihres Gatten im Einklang steht. Luxus und protzenhaftes Wesen soll sie streng vermeiden. Stets soll sie der Schranken zwischen den beiden Geschlechtern eingedenk sein, und unter keinen Umständen soll sie mit einem jungen Manne in Korrespondenz treten. Mit ihrem Können und Wissen sowohl als in der Farbe und dem Muster ihres Kleides soll sie bescheidene Zurückhaltung üben. Es ist nicht recht von ihr, sich auffällig zu machen, damit andere sie bemerken sollen. Nur das sollte sie thun, was sich ziemt. Die fünf schlimmsten Krankheiten, an denen der weibliche Sinn leidet, sind: Ungelehrigkeit, Unzufrieden- heit, Klatschsucht, Eifersucht und Einfältigkeit. Die schlimmste von allen und die Mutter der vier anderen ist die Einfältigkeit. Eine Frau sollte sie heilen durch Selbstprüfung und strafende Selbsterkenntnis“. Es giebt Vorschriften, welche nur dazu gegeben zu sein scheinen, um übertreten zu werden. Bei diesen aber ist es anders. Genau nach diesen Lehren wurde das japanische Mädchen erzogen. Was hier als das Ideal einer japanischen Frau aufgestellt wird, ist in der Japanerin Wirklichkeit geworden. Eine solche Persönlichkeit konnte nicht durch eine intellektuelle, sondern nur durch eine ästhetische Erziehung geschaffen werden. Diese ästhetische Erziehung hat es fertig ge- bracht, um die Person der Japanerin eine vollkommene Harmonie zu weben und der vollendeten Hausfrau Martha noch etwas von dem Duft der Maria zu geben. Wer könnte blind sein gegen die Mängel einer solchen Frau? Liegt es doch auf der Hand, daß unter diesen Umständen ihr Gesichtskreis gar zu sehr beschränkt und ihre Interessen allzusehr eingeengt werden. Muß es doch völlig klar sein, daß bei einer solchen Abhängig- keit von dem Gatten die eigene Initiative bis zur voll- ständigen Passivität zusammenschrumpft, ja, daß schließ- lich die Frau sich auch die Mühe des selbständigen Nach- denkens erspart und das Verständnis für alle höheren und schwierigen Fragen und das Streben nach den höchsten Idealen des Lebens verlieren muß. Und auch das ist unvermeidlich, daß bei einer schablonenhaften Erziehung, dabei man alle über einen Leisten schlägt, der Japanerin etwas Puppen- und Automatenhaftes anklebt auf Kosten der Individualität. Es ist infolge- dessen dem Europäer im allgemeinen nicht anzuraten, sich mit einer Japanerin zu verheiraten. Denn so glücklich er sich vielleicht im Anfange fühlen würde, das tiefere Verständnis für all das, was ihn bewegt, würde er bald vermissen. Geradeso wie es einer Abend- länderin nicht anzuraten ist, sich mit einem Japaner zu verheiraten, wenn auch unter den vielen derartigen Ehen, die mir bekannt sind, einige als recht glücklich bezeichnet werden dürfen. Aber trotz aller Mängel verbleiben der Japanerin sehr sympathische Züge. Der Kern ist gut, und manche Züge sind in solch anmutiger Schöne kaum irgend sonstwo wieder zu finden. Ich wüßte kein Volk, auf dessen Frauen sich mit größerem Recht die Worte Goethes anwenden ließen: „Willst du genau erfahren, was sich ziemt, So frage nur bei edeln Frauen an; Denn ihnen ist am meisten dran gelegen, Daß alles wohl sich zieme, was geschieht. Die Schicklichkeit umgiebt mit einer Mauer Das zarte, leichtverletzliche Geschlecht. Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie, Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nichts. Und wirst du die Geschlechter beide fragen: Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.“ Ich habe einmal in einer christlichen Ethik gelesen, daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die natürliche Tugend der Frau die Sanftmut sei. Wenn man nach Japan urteilen darf, so ist das eine un- zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel sagt: „Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen“, so ist auch dieses in vielen japanischen Häusern, wo die Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut sich die ihr gebührende Stellung als der gute Geist des Hauses erobert hat, schöne Wahrheit geworden. Ja, ihre Stellung mag unter Umständen noch eine ganz andere werden. Ein Sprichwort sagt: „Wenn im Haus die Henne kräht, Bald das Haus in Trümmer geht“. Und so bezeichnend dieses Sprichwort ist für die stille Zurückhaltung, deren sich die Frau befleißigen soll, so deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle spielt. Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japanischen Familien- und Frauenlebens malen will, sieht sich wohl oder übel genötigt, auch zu düsteren Farben zu greifen. Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erstaunt sind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, so viel Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers zu finden, im Gegensatz zu den Chinesen, welche stets dezent gekleidet sind. Ich habe nicht wenig Reisende getroffen, welche darüber in moralische Entrüstung aus- brachen. Sie hätten sich nicht so zu ereifern brauchen. Für den Japaner ist das harmlos. In seinem Kopf steigen dabei keine sündhaften Bilder auf, wie in manches Abendländers verdorbener Phantasie. Für den sinnlichen Reiz der Nudität sind die Augen dieser Naturkinder noch nicht aufgethan. Aber leider entspricht der ästhe- tischen Lichtseite des Naturkindes immer auch eine ethische Schattenseite. Der Japaner giebt seinen natürlich sinn- lichen Trieben allzusehr nach. Thatsächlich sind in Japan der Unsittlichkeit im engeren Sinne des Wortes Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im christlichen Europa. Das Prostitutionswesen ist ungemein aus- gedehnt. In Tokyo ist ein ganzer großer Stadtteil, und zwar bezeichnender Weise der schönsten einer, dem Dienst der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, so ist es in allen Städten des Landes. Selbst in einer kleinen Stadt von nur fünftausend Einwohnern habe ich neben einander drei Häuser der Unzucht gesehen. Ein guter Teil der Theehausmädchen ist nichts weiter als Freuden- mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten Geisha ist keineswegs die beste. Das alles ist wahr. Aber zum richtigen Verständnis ist es notwendig zu wissen, daß die Japaner in diesem einen Punkt ein Naturvolk geblieben sind; und dieser Umstand macht das unsittliche Treiben in Japan weniger sündhaft als in christlichen Landen. Selbst feinfühlige Naturen empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als schlecht, wie der Christ das thut. Es ist eine gewisse Naivetät, wie sie ästhetisch veranlagten Menschen manchmal eigen ist, die ihre Beurteilung derartiger Dinge bestimmt. Das Bewußtsein des Unerlaubten ist äußerst schwach, auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreisen. Frei- lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängstlich gehütet, und seine fleckenlose Reinheit steht, für die Klasse nicht allein, sondern für das einzelne Individuum, über jeden Zweifel erhaben. Es sind vielmehr die untersten und ärmsten Schichten der Bevölkerung, aus welchen sich das große Heer der Freudenmädchen zusammensetzt. Hier empfinden es die Eltern selten als Unrecht, ihre Töchter zu diesem Gewerbe zu bestimmen, noch sieht man die Mädchen besonders darum an. Schriftsteller, welche diesen Punkt des japanischen Lebens besonders aus- führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen innerlich nicht so verdorben seien wie ihre europäischen Genossinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht so sehr die Ertötung der ganzen moralischen Persönlichkeit zur Folge habe wie bei uns. Und in der That, sobald sie in die Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres Standes nicht schwer fällt, kann sich der Mann auf die Treue seiner Gattin verlassen; dann kennt sie kein höheres Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr- liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von seiten der Frau ist ein Ehescheidungsgrund. Aber so selbstverständlich es im Prinzip ist, daß der Mann auch in der Ehe freie Hand behält, so ist doch der Ehebruch der Frau eine äußerst seltene Erscheinung. Zu jedem japanischen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die modernen französischen Ehebruchsromane würden sich in Japan aus Mangel an Untergrund nicht schreiben lassen. Vor der Thüre des japanischen Hauses macht die Un- sittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des Hauses aufwachsen, ist rein und lauter. Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen- schaft versagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption ist überaus gebräuchlich. Ist sie doch das letzte Mittel, um eine Familie vor dem gefürchtetsten aller Schicksale, vor dem Aussterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind ist immer männlichen Geschlechts. Denn in jedem Hause muß ein Stammhalter sein. Wo er fehlt, wo 10 einer Familie nur Töchter geboren wurden, wird einer angenommen unter der Bedingung, daß er die Tochter des Hauses oder eine der Töchter heiratet. In solchem Falle gelten die Kinder oft schon von Kindesbeinen an als verlobt. Wo der Stammhalter eine solche Rolle spielt, ist die Freude, welche die Geburt eines Sohnes hervorruft, wohl begreiflich. Da strömen die Glieder der Familie bis in die weitläufigsten Verzweigungen herbei, um ihrer Freude bei dem frohen Ereignis Aus- druck zu verleihen. Daß man sich bei der Geburt eines Mädchens in seinen frohen Gefühlen zurückhaltender zeigt, liegt bei diesem Familiensystem in der Natur der Sache. Wozu soll sich die Familie freuen über ein Menschenkind, welches doch einmal aus der Familie hinausheiratet und darum für dieselbe wertlos ist? Gleichwohl muß es den Eltern zum Lobe nachgesagt werden, daß auch die Behandlung dieser Menschen zweiter Ordnung eine liebevolle und zärtliche ist. Zwar weist die Etikette den Söhnen, vorab dem ältesten, eine bevorzugte Rangstellung im Hause zu; aber das kleine Mädchen weiß sich oft genug zu Vaters Liebling zu machen. Ich kenne viele Europäer, die für die Japaner wenig übrig haben; ich kenne keine Abendländer, die nicht bezaubert wären von Japans Kindern. Es ist die sonnige Natur des Landes, die in ihnen Leben gewinnt. Die Mädchen heißen mit Namen „Blume, Aster, Frühling, Fichte, Schnee, Bambus ꝛc.“, und sie entsprechen diesen Namen vollkommen. Heiterkeit und Frohsinn lachen einem entgegen aus den Kinderaugen, die Knaben sind frank und frei in dem Ausdruck ihrer intelligenten Gesichtszüge, an den Mädchen aber ist alles Anstand, Grazie und sanfte Anmut. Japan ist das Paradies der Kinder. Selten, um nicht zu sagen nie, erhalten die Kinder Schläge. Und doch ist die Ungezogenheit dort keine größere, ja mich will es bedünken, als sei sie geringer als bei uns. Als wirksameres Erziehungsmittel denn die Rute betrachtet man die Einwirkung auf des Kindes Herz. Schon mit der Muttermilch saugt das Kind die eine große Lehre des Konfuzius ein, welche sich in ihrer Fassung merkwürdig mit dem Mosesgebot berührt: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“ Auch das „kō“ (gewöhnlicher „kōkō“ ) des Konfuzius ist nicht eine Liebe, dabei das Kind sich auf gleiche Stufe mit seinen Eltern erhoben weiß, um darnach vielleicht frech den Eltern über den Kopf zu wachsen; es ist vielmehr mit der Liebe, besonders dem Vater gegenüber, ein gut Stück Ehrfurcht und daher auch Furcht verbunden. Die Übertragung von „kōkō“ mit „kindlicher Pietät“ ( filial piety ) dürfte daher der Sache vollkommen entsprechen. Der Geist der Liebe wird infolgedessen sofort auch zu einem Geist der Zucht, der das Kind vom unrechten Wege abhält und es zum Guten leitet. Es ist der in- stinktive Trieb, den Eltern zu gefallen und ihnen allen Schmerz zu ersparen, was die Kinder gut sein läßt. Die in der Liebe gewurzelte Scheu vor den Eltern ist sowohl die theoretische Grundlage des ethischen Systems als auch die praktische Richtschnur des sittlichen Han- delns, in demselben Sinne, wie es in der Ethik des Christentums die in der Liebe zu Gott gewurzelte Got- tesfurcht ist. Es sind keine ewigen und unwandelbaren Gesetze, wie die zehn Gebote oder die Sittenlehre der Bergpredigt, vielmehr sind es Einzelmahnungen im An- schluß an Einzelfälle. Und wenn in diesem kasualen Charakter die absolute Unzulänglichkeit des ganzen Systems gegeben ist, so liegt doch hier auch seine Stärke; 10* denn derartige Gebote sind immer lebendig und per- sönlich. Das Wort des Vaters ist wie ein religiöses Gebot und fordert unbedingten Gehorsam. Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet ist, desto fruchtbarer ist der Boden, auf welchen die Mah- nungen des Vaters fallen, desto größer die Wahrschein- lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch praktische Übung, sondern auch durch theoretische Aner- ziehung. In der That wird biblische Geschichte, Kate- chismus und Psalter dem japanischen Kinde durch ein Buch ersetzt, welches nur die Pietät zum Gegenstand hat. Dasselbe ist, wie das ganze System, chinesischen Ursprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher Pietät, welche so charakteristisch sind, daß wir uns nicht versagen können, einige derselben im Auszug hier wieder- zugeben Vergl. Chamberlain „Things Japanese“, und für die sämtlichen 24 Geschichten Anderson „Catalogue of Japanese and Chinese Paintings“. Eine japanische Nachahmung der 24 chine- sischen Fälle erfreut sich geringerer Popularität. . Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine böse, grausame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge als Hirse bekam. Er aber ließ sich durch nichts irre machen, streng an dem Gebot zu halten: „Du sollst deine Mutter ehren!“ Nun hatte die Frau eine be- sondere Vorliebe für Fisch. Eines Tages überkam sie auch einmal wieder die Lust, Fisch zu essen. Es war aber Winter und das Wasser des Teiches war hart gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch. Wie er nun verzweiflungsvoll dastand, kam ihm plötz- lich ein erleuchtender Gedanke. Er zog seine Kleider aus und legte sich nackt auf das Eis hin, um dieses durch die Wärme seines Körpers zu erweichen. Da durchströmte ihn plötzlich eine starke Glut, das Eis zerschmolz, und es entstand ein Loch. Alsbald erschienen an dem Loch zwei prächtige Karpfen, um Atem zu schöpfen. Die ergriff der Knabe und brachte sie nach Hause. Eine andere Geschichte erzählt von einem Manne, welcher in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Er hatte einen alten Vater und einen jungen Sohn, und beide hatte er sehr lieb. Er hätte sich glücklich preisen dürfen, wenn nicht trotz aller fleißigen Arbeit Schmalhans be- ständig Küchenmeister bei ihm gewesen wäre. Hungrig setzte man sich zum Essen, und hungrig stand man wieder auf. Darüber grämte sich der arme Mann gar sehr, und um seines alten Vaters willen machte er sich nicht wenig Gewissensskrupel. „Sieh“, so dachte er, „wenn ich mit meinem Vater allein wäre, könnte ich meiner Kindespflicht ihm gegenüber genügen. Ich will mich daran machen und meinen lieben Sohn lebendig be- graben“. Mit großen Schmerzen ging er an die trau- rige Arbeit. Er grub ein Loch, darin das Kind be- graben werden sollte; aber, o Wunder! plötzlich stieß er auf etwas hartes, und da er es herauszog, war es ein Gefäß voll von Goldstücken. Nun war die Tugend des pietätvollen Sohnes reichlich belohnt; aus dem armen Mann war ein reicher geworden, die Not hatte ein Ende, und sie lebten alle glücklich zusammen weiter. Bekanntlich gehören zu den größten Plagen der wärmeren Zone die Mosquitos, Insekten, welche auch den Anwohnern des Rheins als sogenannte Rhein- schnaken wohlbekannt sind. Wer in einer warmen Sommernacht ohne Schutznetz zu Bette geht, muß eine dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig schlaflose Nacht verbringen soll. Nun lebte einmal ein Elternpaar, welches einen noch sehr jungen Sohn mit einer besonders zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbissen für die sehr wählerischen und feinschmeckenden Blutsauger. Mit großer Bekümmernis sah der zarte Knabe, wie seine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge- peinigt wurden, und in seinem liebenden Herzen reifte der Entschluß, ihnen zu helfen. Hinfort bestand er darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und seine Eltern verschonen sollten. Der drolligste in der Gesellschaft der vierundzwanzig Tugendhelden ist unzweifelhaft R ō raischi. R ō raischi war ein gutes Kind von siebenzig Jahren. Seine hoch- betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr als neunzig Lebensjahre hatten sie gesehen. R ō raischi hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres hohen Alters bewußt, traurig werden und sich wegen des nahenden Todes grämen. Um ihnen diesen Kummer zu benehmen und sie über ihr Alter hinwegzutäuschen, zog R ō raischi Kinderkleider an, und gleich einem Baby spielte er auf dem Fußboden. Da das seine Eltern sahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters; sie lächelten sich glückselig an und freuten sich in dem Gedanken, daß sie als glückliche Besitzer eines so kind- lichen Sohnes immerhin noch nicht so alt sein könnten. „Nun, da hat man ja in Japan köstlichen Stoff zum Lachen“, denkt wohl der europäische Leser. Durchaus nicht. Die kleinen Japaner hören diese Geschichten, die natürlich noch schön eingekleidet und aufgeputzt sind, mit dem größten Ernst, und das Volk liest sie mit der größten Andacht, sowie man bei uns die Geschichten der Heiligen Schrift liest. In manchem Herzen reift dabei in heiliger Begeisterung der feste Entschluß: „Solch ein gutes Kind will ich auch werden“. Am bezeichnendsten von allen oben erzählten Ge- schichten ist wohl die zweite. Dieselbe erinnert sehr stark an die Opferung des Isaak. Da ist thatsächlich nur ein ethischer Unterschied: Während Isaak um Gottes willen geopfert werden sollte, soll hier dasselbe um des Vaters willen geschehen. Was Juden und Christen Gott ist, sind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes Gebot: „Du sollst keine andern Götter neben ihnen haben“. Der jüdisch-christliche Gedanke: „Es soll ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen“, stößt in Japan auf entschiedenen Widerspruch: Die Eltern stehen über der Gattin. Das Evangelium erzählt, wie „Jesus zu einem andern Manne sprach: Folge mir nach. Der sprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be- graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes“. Diese Geschichte hat für den Japaner einen bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denselben zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer und immer wieder darauf zurück: „Ja, aber so steht es da! Und wie es da steht, ist es eine Pietätlosigkeit im Munde Jesu!“ Selbst mit dem Tode hat die Pietät ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert sie über das Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt- lichkeit eingehalten, an vorgeschriebenen Tagen wird das Grab des Verstorbenen besucht, und sorgfältig bringt man den Geistern der Abgeschiedenen die gebührenden Opfer dar. Das Sprichwort: „Über dem Grabe wächst bald Gras“, hat in Japan keine Stätte. Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht werden. Um die Eltern in der Not zu unterstützen, hat schon manches Mädchen das Haus heimlich ver- lassen und sich in ein Freudenhaus verkauft; und die japanische Art der Romantik preist diese pietätvollen Töchter als Muster der Tugendhaftigkeit. Einer meiner Studenten erzählte mir, daß sein ältester Bruder in einer Schlacht gegen den großen Saigo schwer ver- wundet worden sei. Seine Wunden waren zwar nicht tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger Krüppel bleiben. Diesen Kummer mußte er seinen Eltern unter allen Umständen ersparen. Er beschloß, Selbstmord zu begehen. Auf dieser Erde taugte er ja doch zu nichts mehr, und die christliche Lehre, daß die Menschenseele einen unendlichen Wert in sich selbst habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus wußte er eher das Gegenteil. So schlitzte er sich denn kurzer Hand den Bauch auf. Im deutschen Volksmund heißt es: „Eher ernährt ein Vater sieben Kinder, als sieben Kinder einen Vater“. Das ließe sich den Japanern nicht nachsagen. Es kommt gar nicht darauf an, in welcher Weise die Eltern an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder versäumt haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder- licher Müßiggänger gewesen sein, der die Seinen darben ließ: Wenn seine Kinder herangewachsen sind, so ver- steht es sich ganz von selbst, daß sie durch ihrer Hände Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt sich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das Leben kürzer als wir, und während die Bibel die Grenzen des Lebens auf siebenzig und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes- alter von zwanzig bis vierzig, das Greisenalter von vierzig bis sechzig Jahre. Wohl wird die Zukunft bei dem Wachsen der Ansprüche und Lebensbedürfnisse eine radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe- jahre bedeutend hinausschieben; aber bislang pflegten sich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und sich von ihnen ernähren zu lassen. Ob sie Vermögen haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob sie noch kräftig genug sind, zu arbeiten und sich selbst durchzubringen, das ist ganz gleichgültig. Das Los des „Go-Inkyosama“ ist aber auch gar zu verlockend. Man führt ein Leben in beschaulicher Muße und überläßt die Sorgen den andern. Auch die Frau sieht dann noch behagliche Tage, die schönsten ihres Lebens. Von den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra- gen, und bei jedermann sind sie geehrt und geachtet. Denn hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren!“ Es sind aber nicht die Eltern allein, welche man zu unterstützen gewohnt ist. Bei dem ausgeprägten Familiensinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl und Wehe aller Familienglieder. Insbesondere ist der älteste Sohn nicht umsonst auch der alleinige Erbe. Im Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger derselben als Bettler auf der Straße umherliefe. So lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von einem Familienkommunismus zu reden. Auch das Adoptionssystem ist ein vortreffliches Mittel, der Ver- armung zu steuern. Viele Sprossen verarmter Familien oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption Unterkunft und gute Versorgung. Japan zeichnet sich nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meisten Häusern des Landes wäre es unmöglich, mit ihren jähr- lichen Einkünften unter den teuren europäischen Ver- hältnissen überhaupt zu bestehen. Und doch giebt es kaum ein Land, wo es so wenig wirkliche Armut im Sinne des Hungerleidens und der Entbehrung giebt als hier. Und wenn es schon ausgesprochen wurde, daß auf den Straßen von Japan weit weniger Betrunkenheit zu sehen ist als bei uns, so ist das andere nicht minder wahr, daß Bettler, Vagabunden und Leute in ärmlicher, verlumpter Kleidung in Japan in geringerer Zahl zu finden sind als selbst in Deutschland oder England, von Italien und Spanien vollends gar nicht zu reden. Wer könnte seine Augen verschließen gegen diese schönen Züge des Lebens? Und all das hat ein einziger Mann vollbracht, Konfuzius; hat es fertig gebracht aus ureigener Kraft. Niemand hat ihm geholfen; den Shintoismus hat er in etwas ins Schlepptau genommen; Buddha aber hat kein Teil daran; in Japan existiert die Moral für sich, losgelöst von der Religion. Die Familie, welche Konfuzius gestaltet hat, ist in einzelnen Zügen geradezu mustergültig; aber Charaktere für das Leben in dem ganzen großen Reichtum seiner Erschei- nungen hat er nicht zu schaffen verstanden. Ist es doch eine auffallende Thatsache, daß dieselben Japaner als Knaben jedermann sympathisch, als Männer aber vielen unsympathisch sind! Ist es doch gar nicht zu leugnen, daß die heutige Jugend, welche das beste versprach, so lange sie im Elternhause war, verroht, wenn sie, los- gelöst von der Familie, in das Leben hineingestellt wird. In der Familie ruhen die starken Wurzeln ihrer Kraft. Aber der Fonds, welchen sie im Elternhause gesammelt, reicht wohl aus für den friedlichen Kreis der Familie, versagt aber in dem brausenden Meere des Lebens. Die Basis des Systems erweist sich als viel zu eng. Die Gemeinschaft des Blutes und die Blutsverwandt- schaft läßt sich über die Nation hinaus nicht ausdehnen; ein Band, das die ganze Menschheit umschlingt, läßt sich auf diese Weise nicht schaffen, und die Menschlich- keit, die Humanität im höchsten Sinn des Wortes, hat in solcher Ethik keinen Platz, so human diese Ethik auch auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Konfuzianismus ist ein System für patriarchalische Zu- stände, wie sie in der Zeit des Feudalismus in Japan herrschten. Mit dem Tage aber, mit welchem sich das patriarchalische System überlebt hat, mit welchem Japan aus der patriarchalischen Enge der Familie, des Clans und der Nation in den Weltverkehr eingetreten ist, hat sich auch der Konfuzianismus überlebt. Wer wollte es den Besten des Volkes übel nehmen, wenn sie sich nicht trennen wollen von dem Manne, welcher seit tausend Jahren der treueste Freund ihres häuslichen Herdes gewesen ist? Wer will es ihnen verargen, wenn sie von ganzem Herzen dem Manne, welcher ihr Lehrmeister in der Pietät gewesen ist, selber die Pietät wahren wollen? Und doch ist all ihr Ringen vergebens. Von allen Mächten, die Japans Kultur seither gestaltet und erhalten haben, ist der Konfuzianismus als ethisches System die erste, die von dem Strom der Zeit hinweg- geschwemmt wird. Der Boden, auf welchem er steht, ist jetzt schon durch und durch unterwühlt. Und wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, so wird das meiste dessen, was hier als Familienleben und Sittenlehre geschildert wurde, in wenigen Jahrzehnten nur noch als kulturgeschichtliche Studie von Interesse sein. VI. Nationales und politisches Leben. A uf Yezo, der nördlichsten der vier großen ja- panischen Inseln, wohnen die „haarigen“ Aino. Sie nähren sich hauptsächlich von Jagd und Fischerei und kennzeichnen sich schon dadurch als ein auf niedriger Kulturstufe stehendes Volk. Sie sind kleine, gedrungene, kräftig gebaute Leute von harmloser, guter Gemütsart. Der Mann mit seinem dichten, wallenden Haupt- und Barthaar, welches nie mit dem Schermesser in Berührung gekommen ist, macht den Eindruck eines Patriarchen. Aber der strotzende Schmutz seiner Behausung, seiner Kleidung und seines wasserscheuen Körpers, seine ganze tierische Lebensweise, seine ungezügelte Gier nach Brannt- wein und seine unverkennbare geistige Beschränktheit, die sich allen Bildungsversuchen bis jetzt mit Erfolg widersetzt hat, stehen mit seinem ehrwürdigen Aussehen wenig im Einklang. Von den Ainofrauen darf man nicht als von dem schönen Geschlechte reden. Sie sind Muster von Häßlichkeit, und das Tättowieren ihrer Oberlippe, welches ihnen von Ferne das Ansehen giebt, als trügen sie flotte Schnurrbärtchen, trägt zu ihrer Verschönerung wenig bei. Die Aino sind eifrige Bären- jäger; und während von den Bewohnern der südjapa- nischen Liukiu-Inseln, welche sich von Kiuschiu aus halb- mondförmig auf Formosa hin erstrecken, berichtet wird, daß sie die jungen Schweine wie ihre eigenen Kinder behandeln, ist von den Bewohnern der Nordinsel be- kannt, daß ihre Frauen eingefangene Bärenjungen an ihrer eigenen Brust säugen. Der Bär ist ihnen eine Art Gottheit, die man anbetet. Gleichwohl töten sie ihn, wo immer sie können, und auch das Fleisch der mit menschlicher Muttermilch aufgezogenen lassen sie sich schließlich gut schmecken. Die Aino sind, vielleicht mit einem andern, längst ausgestorbenen Volksstamm zusammen, die ursprünglichen Bewohner der japanischen Inseln, welche von den von Südwesten hereindringenden Eroberern Schritt für Schritt zurückgedrängt wurden und endlich auf Yezo ihre letzte Zuflucht fanden. Früher waren sie ein großes Volk, heute sind kaum noch fünfzehntausend von ihnen übrig geblieben. Unterdrückung und Alkohol, diese beiden entarteten Kinder der großen Völkermutter Kultur, haben ihr Zerstörungswerk vortrefflich verstanden und das ihrige dazu gethan, einen ehemals zahlreichen Volks- stamm auf den Aussterbeetat zu setzen. Heute schon ist ein Aino in Tokyo eine Seltenheit, die man begafft, wie man ein seltenes Exemplar in einem zoologischen Garten betrachtet; und auch die christliche Mission, die sich seit zwei Jahrzehnten ihrer lebhaft angenommen hat, wird es schwerlich verhindern können, daß man in absehbarer Zeit dem letzten Vollblutaino sein Grab gräbt. Die Japaner sind also keine Ureinwohner. Woher sie gekommen sind, darüber hat die Wissenschaft ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Ein frommer Schotte meinte ihnen einen Gefallen zu erweisen, indem er sie als die Nachkommen der in der assyrischen Gefangen- schaft spurlos verschwundenen zehn Stämme von Israel erklärte. Andere bestreiten die rein mongolische Ab- stammung und sprechen von einem Mischvolk aus Ma- laien und Mongolen. Das Wahrscheinlichste ist aber, daß sie Mongolen sind, welche in vorgeschichtlicher Zeit in zwei Zügen zweier verschiedener Völkerschaften aus Centralasien über Korea nach Japan kamen und sich nach und nach das Land unterwarfen Vergl. Dr. Bälz „Die körperlichen Eigenschaften der Ja- paner.“ . Wie dem aber auch sein möge, heute sind die Japaner eine im höchsten Sinne des Wortes einheitliche Nation, einheitlicher als irgend ein anderes Volk, und mit ihrem Land sind sie in zwei Jahrtausenden so vollständig verwachsen, daß sie ein hundertfaches Recht darauf haben, es Vater- land zu nennen. Und es bedeutet etwas im japanischen Mund, das Wort honkoku, d. i. Vaterland; nein, es bedeutet nicht etwas, es bedeutet alles. Das Vater- land und die Vaterlandsliebe ist die allein beherrschende Idee, ist das große Ideal, welches sich das Volk durch alle Umwälzungen hindurch immer wieder als höchstes und vielleicht einziges gerettet hat. Die Japaner ge- hören allzumal zusammen. Noch ist es erst dreißig Jahre her, seitdem Japan centralisiert ist. Zuvor herrschten im Land die Daimio als mehr oder weniger selbständige Fürsten, ähnlich wie in Deutschland die Fürsten der Einzelstaaten. Ihre Unterthanen waren ihnen mit Leib und Seele ergeben, und heute noch schauen sie in tiefster Ehrfurcht zu ihnen empor. Seitdem aber im Jahre 1868 die Daimio zu gunsten des Kaisers sich ihrer Selbständigkeit freiwillig begaben, ist sowohl bei ihnen als auch bei ihren früheren Unterthanen auch nicht der leiseste Schimmer eines dem großen Ganzen feindlich entgegenstehenden Partikularis- mus zu finden. Heute giebt es nur eines: Dai Nippon, d. i. Großjapan. Ganz Japan ist wie eine einzige Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als seien sie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze besteht und groß und mächtig ist. Nicht nur der Partikularis- mus, sondern auch der Individualismus hat in Japan keine Stätte. Das Japanertum, welches in der Person des Kaisers sichtbare Gestalt gewinnt, steht in dem Mittelpunkte des Lebens. Der Patriotismus ist Krone und Grund aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das Wanken geraten sind, allen Ernstes der Vorschlag ge- macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner- tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National- religion Shintoismus ist die Pflege des vaterländischen Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut freudig geopfert werden. Japan ist kein reiches Land, aber die Mittel zum chinesischen Krieg wurden ein- stimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein- fallen sollte, Gelder zur Verstärkung des Heeres oder der Flotte zu verweigern, so würde das Volk einmütig dagegen aufstehen. Um des Vaterlandes willen ist jedes Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, ist recht. Wäre der chinesische Krieg ganz und gar an den Haaren herbeigezogen gewesen, das Volk, von den Buddhisten bis zu den Christen, hätte ihn doch für einen gerechten erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbsterkenntnis auf. Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und Mord werden in seinem Dienst geheiligt. Macchiavellis Grundsätze, wie er sie in seinem jesuitenwürdigen Buche „El Principe“ entwickelt hat, sind hier zur That ge- worden. Im Jahre 1889 wurde der damalige Unter- richtsminister Mori, der starke ausländische Sympathien hatte und unter anderm den allerdings etwas verrückten Vorschlag gemacht hatte, die schwere japanische Sprache durch die englische Weltsprache zu ersetzen, von einem fanatischen Patrioten ermordet. Mori hatte beim Be- treten des berühmten Shintotempels Daijing ū in der Provinz Ise die Mahnung nicht beachtet: „Ziehe deine Schuhe aus; denn der Ort, darauf du stehest, ist heiliges Land“, und in dem Innern des Tempels hatte er mit seinem Spazierstocke den Vorhang vor dem Aller- heiligsten zurückgeschlagen. Das war in den Augen des Volkes eine Mißachtung der geheiligten vater- ländischen Sitte, die nach der Empfindung patriotischer Zeloten nur durch Blut gesühnt werden konnte. Um nicht in die Hände der Polizei zu fallen, entleibte sich der Mörder unmittelbar nach seiner That. Das Grab Moris, der trotz einiger Schrullen einer der verdienst- vollsten japanischen Staatsmänner war, lag vom ersten Tage an verlassen. Zu der Ruhestätte des Mörders aber wallfahrteten jährlich Tausende guter Japaner, bedeckten das Grab mit Blumen, zündeten Weihrauch- kerzen an, schmückten es mit Preisgedichten und fühlten sich glücklich, ein paar Krumen geweihter Erde von demselben mit nach Hause zu nehmen. Der Fanatiker des Japanertums ist zum Märtyrer des Japanertums, zum Nationalheiligen geworden. Der Japaner ist geneigt nicht nur zum politischen Chauvinismus, sondern zum politischen Fanatismus. Politische Attentate sind daher keine Seltenheit. Als solche müssen auch die Mordanfälle auf den chinesischen Friedensgesandten Li Hung Chang im März 1895 und auf den damaligen russischen Thronfolger und jetzigen Zaren Nikolaus im Frühjahr 1891 bezeichnet werden. Es ist mir noch in lebhafter Erinnerung, wie ich eines Vormittags von der Schule nach Hause kam und in meinem Vorzimmer mehrere junge japanische Freunde fand, die bleich und aufgeregt mich erwartet hatten. Vor ihnen lag ein Extrablatt, und ehe ich sie nur fragen konnte, was denn geschehen sei, teilten sie mir in furcht- barer Erregtheit mit, der russische Thronfolger, der Gast des Kaisers, sei bei Otsu auf einer Spazierfahrt von Kioto nach dem Biwasee verwundet worden. „Ein Ver- rückter hat’s gethan“, schrieben die Zeitungen „ein Ver- rückter hat’s gethan“, sagte auch ich zu einem deutschen Freund, den ich am Nachmittag traf. Und was erhielt ich von diesem zur Antwort? „Ich habe heute Mittag mit meinem Koch über die Sache geredet“, sagte er. „Derselbe meinte: Einen russischen Spion zu töten, der gekommen sei, das Land auszukundschaften, sei nicht mehr als recht; er hätte es gerade so gemacht.“ Später überzeugte ich mich davon, daß Tausende im Lande so dachten, und Tausende sahen in dem irregeleiteten Po- lizisten, der nachher zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wurde, unterdessen aber gestorben sein soll, einen verehrungswürdigen nationalen Märtyrer. Die That hatte nichts zu thun mit Geschichten zum Teil recht abenteuerlicher Natur, welche die geschäftige Fama damals verbreitete; sie war aus politischem Fanatismus entsprungen. Und dasselbe gilt von dem Mordversuch auf Li Hung Chang. Die Hauptschuld an derartigen Vorkommnissen trägt die Presse. Das Zeitungswesen ist noch sehr neuen Datums. Die erste Zeitung wurde im Jahre 1872 von einem Engländer in Tokyo herausgegeben. Heute aber sind es wohl gegen tausend Zeitungen, 11 Zeitschriften und andere Publikationen dieser Art, welche in Japan veröffentlicht und von dem leselustigen und neuigkeitssüchtigen Volk gierig verschlungen werden. Aus den Kinderschuhen ist also die Presse rasch heraus- gewachsen; dagegen darf man dreist behaupten, daß sie noch tief in ihren Flegeljahren steckt, und man kann es der Regierung nicht verdenken, wenn sie von ihrem Recht der Censur jeder Zeit reichlich Gebrauch gemacht hat; manchmal allerdings erst, wenn es zu spät war. Einen wesentlichen Bestandteil ihrer Aufgabe erblickt die Presse darin, den patriotischen Fanatismus zum lodernden Feuer zu entfachen, dessen Flammen natur- gemäß mit Vorliebe nach den Fremden züngeln. Die Parole, welche bei Gelegenheit der Verkündigung der Konstitution im Jahre 1889 in das Volk geworfen wurde, und welche wohl für lange Zeit nicht wieder zur Ruhe kommen wird: „Japan für die Japaner“, wobei natürlich im stillen zu ergänzen ist: „Und gegen die Fremden“, hat durch die Presse eifrige Förderung gefunden und eine das ganze Volk tief durchdringende Bedeutung gewonnen. Die Presse hat einen ungeheuren Einfluß, und sie trägt das ihre dazu bei, die Politik in Japan heimisch zu machen und heimisch zu erhalten. Diese spielt dort eine ähnliche centrale Rolle wie im alten Griechenland, und der weise Plato müßte an einem Volke wie die Japaner seine helle Freude haben. Wenn irgendwo in einem modernen Staat, so wäre hier das rechte Versuchsfeld für ihn. Um der Politik willen verlassen Professoren ihre Katheder und christliche Prediger ihre Kanzeln. Am Volksganzen zu arbeiten ist das höchste Ideal. Zu einer Zeit, wo ich in das innere Leben der Japaner noch wenig hineingeschaut hatte, fragte ich einen jungen Mann, einen Christen, was er werden wolle. „Ein großer Staatsmann wie Ito“, war die verblüffende Antwort. Japans Staatsmänner von heute haben sich fast alle aus einfachen Samuraiverhältnissen emporgeschwungen; warum, so denken die jungen Leute, soll das uns nicht auch gelingen? Mein christlicher Freund ist heute Evangelist in einer Stadt Central- japans. Er hat einen schweren, aber schönen Wirkungs- kreis; er hat ein auskömmliches Gehalt, und Frau und Kind schaffen ihm eine schöne Häuslichkeit. Er braucht heute seinen stolzen Plänen nicht mehr nachzuweinen und darf froh sein, daß ihm das Los so lieblich ge- fallen ist. Denn nicht allen wird es so gut; viele fühlen sich berufen, aber wenige nur sind auserwählt. Weit- aus die meisten sinken zu sogenannten Soshi herab, zu politischen Parteigängern, welche im Dienste einer Persönlichkeit oder einer Partei oder der Regierung selbst die Politik mit Faustschlägen, Knütteln und Schwertern machen. Die Soshi sind eine japanische Eigentümlichkeit, verkrachte Existenzen, die nichts zu verlieren haben. In gewissem Sinne dürfen sie die Anarchisten Japans genannt werden. Die Fremden thun gut daran, ihnen aus dem Wege zu gehen. Ihre Ausrottung ist bis heute noch nicht gelungen. Es giebt freilich nicht wenige Leute, welche behaupten, es sei der Regierung nicht ernst mit ihrer Vernichtung, da sie selbst manchmal in die Lage komme, sich ihrer zu bedienen. Die Soshi sind auch die Demagogen, welche die Politik in die Massen hineintragen. Die politische Agitation ist bedeutender als in unsern Landen. Im Lohndienst der Parteien ziehen die Soshi im Lande umher zu politischen Versammlungen, und auch an dem 11* abgelegensten Örtchen gehen sie nicht vorüber. Ich hielt mich einmal zur Zeit des Hochsommers teils zu Sprachstudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen Fischerdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhistischen Priester war ich persönlich bekannt geworden. Eines Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächsten Dorfe, einem verlorenen Neste von ungefähr dreihundert Seelen, zu gehen: Dort finde eine politische Vortragsversamm- lung der radikalen Partei statt. Ich ging mit ihm. In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor des Ortes. In Japan sitzt ein Doktor in jedem Ort; dieser war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut hätte, denn seine Heilmethode war noch die alte chine- sische mit einem bißchen holländischer Anatomie. Der Doktor war gerade bei dem Abendessen und hatte — was eine Ausnahme ist — dem Sak é , dem Reisschnaps, etwas reichlich zugesprochen. Er lud uns ein mitzu- essen, aber der Reis mit rohem Fisch und übelriechen- den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver- lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Sak é; denn ganz abschlagen darf man nicht, da man sonst beleidigt. Schließlich kamen wir verspätet zum Ver- sammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, spär- lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war schon dicht besetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder- zulassen. Die Bauern schauten mich verwundert an; denn daß ein Fremder eine japanische politische Ver- sammlung besucht, ist selbst in Tokyo unerhört, geschweige denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei Soshi von Yokohama, hatten sechs Themata bekannt gegeben, über welche sie im ganzen etwa zweiundeine- halbe Stunde lang sprachen. Der jüngere, ein Bursche von zwanzig und einigen Jahren, sah sich durch meine Anwesenheit veranlaßt, recht ausfällig zu werden. „Da bekurt man überall die Fremden“, meinte er. „Da heißt es geehrter Herr Barbar hinten und geehrter Herr Barbar vorn. Da macht man die tiefsten Ver- beugungen vor den Herren aus dem Westen. Aber wahrlich, freie Bürger von Großjapan haben das nicht nötig! Ist nicht Großjapan die größte Nation der Welt?“ Ich gestehe es gern, mir war nicht wohl dabei zu Mute. Die Bauern aber empfanden solche Reden als eine große Unhöflichkeit gegen mich, schüttelten miß- billigend die Köpfe und sahen mich dann freundlich lächelnd an. Der Doktor aber, der mich als seinen Gast betrachtete, war über solche Roheit tief ergrimmt, und der genossene Sak é that noch ein Übriges, sein Blut in Wallung zu bringen. Die Versammlung nahte sich zum Ende, da sprang er auf und fing mit den beiden Soshi Händel an, da sie des Kaisers geheiligte Person angegriffen hätten. Ich hatte die Vorträge genau verfolgt und wußte, daß das nicht der Fall war. Dem Doktor aber war es nur um einen Vorwand zu thun, und was er wollte, gelang ihm: Überraschend schnell sah ich eng verschlungen ein paar Gestalten am Boden sich wälzen und aufeinander losschlagen — das erste und einzige Mal, daß ich in Japan eine solche Skandalscene sah. Jetzt ward es mir unheimlich. Das Abenteuerliche der ganzen Situation — ein christlicher Missionar an der Seite eines buddhistischen Priesters unter dem Schutze eines angetrunkenen Quacksalbers in einem Bauerndorf im Innern Japans in einer von Soshi berufenen politischen Versammlung! — kam mir scharf und unbehaglich zum Bewußtsein. Rasch sprang ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelassen. Zum Glück fand ich sie leicht und lief nun, was ich konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war stockdunkel, und der Weg war schlecht. Da hörte ich plötzlich jemand hinter mir rufen: „Kimi, kimi“, „Kolleg, Kolleg“! Es war mein buddhistischer Stief- kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unserm Dorfe zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte- ristisch ist, hinzufügen, daß der Doktor am nächsten Nachmittag mit zerknirschter Miene zu mir kam und mich höflichst um Entschuldigung für seine „Roheit“ bat. Auch mein geistlicher Nachbar war mitgekommen, und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war, so fing er sofort zu renommieren an, er habe mich am Abend zuvor gerettet! Der Japaner ist früh reif. Bei keinem Volk der Erde trifft das Wort mehr zu: „Schnellfertig ist die Jugend mit dem Wort“. Seine Frühreife und Schnell- fertigkeit äußert sich auf allen Gebieten des Lebens und des Wissens, nirgends aber so sehr wie auf dem Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen Ernstes zu politisieren an. Große Staatsmänner wie Ōkuma sind Inhaber von Schulen, in welchen sie den politischen Sinn direkt und indirekt geflissentlich fördern, um sich aus dem jungen Geschlecht Anhänger groß zu ziehen. Kein Land hat solche Scharen politisierender Burschen aufzuweisen wie Japan. Da sind Leute, die als Zeitungsschreiber, Politiker und Redner einen Ruf haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung gelesen, und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorstellungen. Wenn man sie aber zufällig einmal kennen lernt, so sieht man zu seinem Erstaunen junge Leute, unter deren Nase ein noch unbestimmbarer Flaum dunkel auf die Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet. Der deutsche Jüngling wagt es kaum, politische Ansichten zu haben; der japanische aber ist kühn genug, die seinigen zum Gegenstand öffentlicher Reden oder großer Leit- artikel zu machen, und mit dem größten Ernst, wie ihn nur eine ungeheure Selbstschätzung erzeugen kann, weiß- haarigen Staatsmännern Vorlesungen über auswärtige Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des deutschen Reichstags gesessen, und was mir bei dem Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder ganzer Kahlköpfe. Ich saß auch auf der Tribüne des japanischen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich hier vergeblich umgesehen. So finden wir hier und da Dinge im politischen Leben, die wir als Mängel und Auswüchse bezeichnen müssen. Aber wie dem auch sein mag, der politisch- patriotische Sinn als solcher bleibt bestehen, ein Gemeinsinn, wie er sich unter den Völkern der Erde kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be- gegnen hier wiederum dem beherrschenden Einfluß des Konfuzius, welcher, neben dem Familiensinn „kō“ und aus ihm patriarchalisch herauswachsend, den Gemeinsinn „chū“ als zweites, in seinen Wirkungen geradezu reli- giöses Dogma aufstellte. Im Besitze dieser Tugend sind die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu- kunft sein. Japan ist eine konstitutionelle Monarchie in dem- selben Sinne wie Preußen. Thatsächlich liegt der ja- panischen Verfassung die preußische zu Grunde. Es hat ein Abgeordnetenhaus und ein Herrenhaus. Es ist heute keine Militärdespotie mehr wie noch vor dreißig und einigen Jahren unter der Herrschaft der Schogune. Wobei man sich aber die Zeit des Feudalismus nicht schlechthin als eine Schreckensherrschaft vorstellen darf. Die Schogune, von dem ersten, Yoritomo, bis zu dem letzten, Tokugawa Hitotsubaschi, waren allzeit bemüht, das Land in Ruhe und Ordnung zu regieren, und den meisten ist es gelungen. Wie das deutsche Mittelalter besondere Tugenden hervorgebracht hat, so hat der ja- panische Feudalismus die Tugenden der Vasallentreue und Ritterlichkeit zu hoher Blüte entwickelt. Also auch die sieben Jahrhunderte des Schogunats hatten ihren Idealismus. Ob die Tugenden des Feudalismus in der neuen Zeit standhalten werden? „Neu Regiment bringt neue Menschen auf, Und früheres Verdienst veraltet schnell.“ Niemand sehnt sich heute nach dem Feudalismus zurück, selbst nicht der jetzt noch lebende letzte der Scho- gune, der in der Provinzialstadt Shizuoka als fried- licher Privatmann einem beschaulichen Leben obliegt. Der heutige Japaner hat ein ungemein starkes Gefühl für das, was jener Zeit fehlte, was aber das Haupt- merkmal eines civilisierten Staates ausmacht: Gleiches Recht für alle. Noch bestand das Kastenwesen, und während die Angehörigen des Kriegerstandes, die Sa- murai, in vielen Dingen über dem Gesetze standen, waren die Glieder der verworfenen Kaste der Eta, die japanischen Paria, thatsächlich rechtlos. Daß die ganze höhere Bildung der Feudalzeit ein ausschließliches Vor- recht des Samuraistandes war, wurde schon erwähnt. Schon äußerlich durch das Tragen von zwei Schwertern ausgezeichnet, besaß der Samurai eine Ausnahmestellung, wie sie in dem Sprichwort trefflich gekennzeichnet wird: „Wie die Kirschblüte die Krone der Blumen, so ist der Samurai die Krone der Menschen“. In früheren Zeiten konnte es wohl vorkommen, das ein Samurai an einem verborgenen Ort sich aufstellte, um an harmlos dahin- wandelnden Leuten aus dem Volk sein neues Schwert zu probieren, ob es auch scharf genug sei, um mit einem Streich einen Menschen durchzuschneiden. Damals gehörte es auch nicht zu den Seltenheiten, daß der Herrscher einem mißliebig gewordenen Hofmann oder Samurai ein Schwert, und zwar je nach dem Rang sogar ein sehr kostbares Schwert, zusandte, damit er mittels desselben Harakiri begehen sollte. Einen Aus- weg gab es dabei nicht, und der Verurteilte selbst suchte auch keinen, so daß die Geschichte von dem japanischen Edelmann, welcher mit einem solchen brillantenbesetzten Schwert nach Paris entfloh, wo ihn der Verkauf der Waffe in die Lage versetzte, herrlich und in Freuden leben zu können, als eine schöne Legende bezeichnet werden muß. Diese mehr als zweifelhafte Romantik hat jetzt ein Ende. Heute giebt es keine Rechtlosen im Staate mehr. Die Kasten sind seit 1871 aufgehoben, und jeder- mann genießt den Schutz des Gesetzes. Verbrechen wider das Leben sind kaum so häufig als in unserem christlichen Deutschland, und während der ganzen Dauer meines japanischen Aufenthalts habe ich nie eine Waffe besessen. An der Spitze des Staats steht der Kaiser. Der Name Mikado, welcher merkwürdigerweise mit der Be- zeichnung der höchsten Gewalt in der Türkei zusammen- trifft — Mikado bedeutet „Hohe Pforte“ —, ist längst veraltet. Der Japaner nennt seinen Kaiser tennō, „Himm- lischer König“ oder tenchi, „Sohn des Himmels.“ Ist er doch nach der Mythologie ein Nachkomme der Sonnengöttin. Das Herrscherhaus ist nachweisbar das älteste unter den regierenden Fürstengeschlechtern der Erde. Denn wenn auch sein Ursprung von dem Götter- sohn Jimmu Tenn ō , welcher um das Jahr 660 v. Chr. als erster den Thron bestiegen haben soll, eine Sage ist, und wenn auch die Zählung des gegewärtigen Kaisers als des 121. auf dem Thron nicht ganz stimmen mag, so hat doch die Dynastie nachweisbar schon zu der Zeit bestanden, wo das sagenumwobene Altertum erkennbar in das Licht der Geschichte tritt, also mindestens seit dem fünften Jahrhundert nach Christus. Wollte der japanische Kronprinz sich seine Frau aus einem euro- päischen Fürstenhause holen, — und im Volke sprach man oft davon, wenn auch im Grunde nicht entfernt daran zu denken ist —, so müßte es sich jede Prinzessin zur hohen Ehre anrechnen, ihren Platz zu finden in der ältesten Ahnengallerie der Welt und unter die Zahl dieser schlitzäugigen Götter und Göttinnen aufgenommen zu werden. In Wirklichkeit aber vermochte sich die Dynastie nur dadurch zu erhalten, daß fortwährend mangels erbberechtigter Nachkommenschaft Adoptionen stattfanden, und daß der Kaiser stets eine größere An- zahl von Frauen hatte. Der jetzige Herrscher besitzt deren zwölf, und der Kronprinz ist nicht ein Sohn der wirklichen Kaiserin, sondern einer kaiserlichen Nebenfrau. Doch haben die Gesetzgeber dem Geiste des Kulturfort- schrittes insofern Rechnung getragen, als in Zukunft die Erbfolge an die legitime männliche Nachkommenschaft von Kaiser und Kaiserin geknüpft ist. Die weltliche Machtstellung des Kaisers entspricht heute so wenig wie in der Vergangenheit seiner gött- lichen Abstammung. In der Zeit als Karl Martell den letzten Merovinger in das Kloster schickte, um selbst die Zügel der Regierung in seine kräftige Hand zu nehmen, setzte der japanische Generalissimus den Kaiser gefangen hinter die Wände seines Palastes in Kyoto, um selbst die Macht der Regierung an sich zu reißen. Vorläufig blieb dieser Zustand provisorisch, bis ihn Yoritomo zu einem gesetzlichen machte. Man redete dem Volke ein, der Kaiser sei zu hehr und heilig, um sich selbst mit den Geschäften der Regierung zu befassen und sein heiliges Angesicht dem gemeinen Volke zu zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiser formell seine Bestätigung ein; aber das war eine dem kaisertreuen Volk gegenüber gespielte Farce und weiter nichts. Unterdessen blieb der Sohn des Himmels in der Gefangenschaft, während im Lande nacheinander die Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und als die beiden bedeutendsten die der H ō j ō und der Tokugawa herrschten. Erst mit der Restauration von 1867/68 öffneten sich ihm die Thore des Schlosses, der Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji begann. Aber auch jetzt noch lebte er in strenger Abgeschieden- heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber immer noch im geschlossenen Wagen Bei seinen Ausfahrten müssen in allen Straßen, durch welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato „Holzschiebeläden“ vorgemacht werden, da es „despektierlich“ wäre, wenn ein Unterthan auf den Erhabenen „herabschaute“. , und die Polizei sorgte dafür, daß ihn möglichst wenige profane Augen erspähten. Aber diese Verfahrungsweise erwies sich auf die Dauer als unhaltbar. Dem Kaiser war jede Ge- legenheit genommen, auf sein Volk einen persönlichen Einfluß auszuüben und den Herzen seiner Unterthanen näher zu treten. Der durch die Berührungen mit Eng- land und Amerika wach gerufene demokratische Geist wurde immer stärker, das monarchische Bewußtsein wurde mehr und mehr geschwächt. Über manchen japanischen Jünglings Angesicht sah ich schon ein recht skeptisches Lächeln gleiten, wenn von dem Kaiser die Rede war. Prozesse, welche in der alten Welt Jahr- hunderte brauchten, sah man hier innerhalb eines Jahr- zehntes wie auf einer Schaubühne vor den eigenen Augen sich abwickeln. Im Anfang der neunziger Jahre hatte es das Ansehen, als steure Japan mit Riesen- geschwindigkeit einer Republik nach dem Muster der südamerikanischen entgegen. Da brach gerade zur rechten Zeit der Krieg mit China aus, und diese Gelegenheit benutzten die japanischen Staatsmänner, um die Mon- archie wieder auf festen Grund zu stellen. Sie veran- laßten den Kaiser, nach dem Hauptquartier zu gehen, und nun erschienen täglich Notizen in den Zeitungen über die anspruchslose Lebensweise des Kaisers, der alle Entbehrungen seiner Soldaten zu teilen wünsche, über seine hingebende Aufopferung und anderes mehr. Der Kaiser erschien mit einem Male als der treubesorgte Vater seiner Unterthanen, und mit einem Schlag wurde er populär. Bei seiner Rückkehr aus dem Hauptquartier geschah es zum erstenmal, daß er im offenen Wagen durch die Straßen von Tokyo fuhr im Angesichte seines getreuen Volkes. Wozu die Idee des Mikadotums sich unkräftig erwiesen hatte, der Person des Herrschers war es gelungen: Nun lebt er wieder in den Herzen seiner Unterthanen. Wohl huldigen die herrschenden Parteien nach wie vor englisch-demokratischen Tendenzen; aber noch viel weniger, als in England Gefahr für den Thron besteht, denkt man in Japan daran, den Kaiser abzusetzen. Man darf sich nicht dem Glauben hingeben, daß der Kaiser selbst der Urheber der gewaltigen Reformen der letzten Jahrzehnte sei. Bei einem Herrscher, der gleich Dutzenden seiner Vorgänger nur auf einen Schatten- kaiser hin erzogen ist, ist das kaum zu erwarten. Was in europäischen Zeitungen manchmal geschrieben steht über die hohe Intelligenz und Weisheit des japanischen Kaiserpaares, muß mit Vorsicht aufgenommen werden. Der Kaiser ist kein Wilhelm I. und die Kaiserin, wenn sie auch einige einunddreißigsilbige, von dem Volk ge- bührend bewunderte Gedichte gemacht hat und hier und da die adelige Mädchenschule und die Versammlungen des Roten Kreuzes mit ihrem Besuche beehrt, ist doch keine Königin Luise. Die Wahrheit dürfte sein, daß die japanischen Staatsmänner, Ito und Inouye, Yama- gata, Matsukata und Itagaki, welche sich wirklich durch Weisheit auszeichnen, die Person des Kaisers als Schild benutzen, wenn auch durchaus nicht mißbrauchen, um unter demselben ihre eigenen hohen und weitsichtigen Pläne durchzuführen. Diese haben mit Hilfe der fremden Ratgeber, deren Werk nicht unterschätzt werden darf, das neue Japan geschaffen und den modernen japanischen Staat gemacht. Diese beiden Faktoren zusammen haben die europäische Staatsmaschine nach Japan hinübergebracht. Zwar ein lebendiger Organismus, der aus dem Innersten des Volkes geboren ist und durch seine innersten Überzeugungen getragen wird, ist die Maschine noch nicht geworden. Sie ist Maschine geblieben; aber — und das ist vorläufig die Hauptsache — sie geht und hat nun Zeit genug, in das Innere des Volkes hinein- zuwachsen. Die europäischen Ratgeber bei der japanischen Regierung versichern, daß es in der Verwaltung viel sauberer und reinlicher zugehe als beispielsweise in den Vereinigten Staaten Amerikas und in den romanischen Staaten Europas, von dem kranken Mann am Goldenen Horn nicht zu reden. Die Finanzwirtschaft Vergl. Rathgens gediegene Arbeit: Japans Volkswirt- schaft und Staatshaushalt. braucht das Tageslicht nicht zu scheuen. Zwar giebt es auch hier Minister, welche im Amte reich geworden sind. Aber direkte Verun- treuungen und systematische Ausbeutung können der Regierung nicht entfernt vorgeworfen werden. Die Finanzverwaltung ist äußerst sparsam, und wenn auch die neue Zeit mit ihren großen Anforderungen besonders von seiten des Militarismus große Opfer erfordert, so sind die Beamten dabei die letzten, die sich zurückstellen. Das Beispiel, welches der Kaiser auf den Rat seiner Minister vor einigen Jahren gab, indem er die von dem Parlament zum Bau von Kriegsschiffen verweigerten Mittel dadurch beschaffte, daß er bis zur Deckung der Kosten ein Zehntel sämtlicher Beamtengehälter, von seiner eigenen Civilliste beginnend, bis hinab zu den Polizeidienern, abziehen ließ, dürfte in der Geschichte der Neuzeit einzig dastehen. Am meisten durch Steuern belastet ist der Grund und Boden. Das ist um so mehr zu bedauern, als der Bauernstand in keineswegs glän- zenden Verhältnissen lebt. Der Zinsfuß ist außer- ordentlich hoch. Unter zehn bis fünfzehn Prozent be- kommt der Bauer kein Darlehen. Kleine Schulden wachsen daher sehr rasch an, und die Folge ist, daß durch eine einzige Mißernte Hunderte von bäuerlichen Existen- zen trotz der kärglichsten Genügsamkeit im Verlaufe weniger Jahre verderben. Im Bauernstand aber steckt die physische Kraft des Volkes, und die Regierung wird gut thun, alle Mittel anzuwenden, um diesen Stand vor dem Ruin zu bewahren Vergl. L. Lönholm „Japans moderne Civilisation“, ein Büchlein, welches in gedrängter Kürze eine treffliche Übersicht über Japans äußere Kulturfortschritte giebt. . Der Richterstand zeichnet sich durch große Unbestech- lichkeit aus. Das Beamtentum ist im allgemeinen zu- verlässig. Es setzt sich fast ausschließlich aus Gliedern ehemaliger Samuraifamilien zusammen, die eben doch gemäß ihrer jahrhundertelangen Erziehung der Kern und die Seele des Volkes und so auch die treibende Kraft des modernen Japans sind. Mit dem Beginn der Restauration aus ihren alten Dienstverhältnissen als Gefolgsleute der Daimyo entlassen und gewisser- maßen als Bettler auf die Straße geworfen, haben sie sich bewundernswert in die neuen Verhältnisse hinein- gefunden; und wenn es früher im Sprichwort von ihnen hieß: „Die Seele des Samurai ist sein Schwert“, so haben sie heute das Schwert mit der Feder oder viel- mehr, da man in Japan nicht mit Federn schreibt, mit dem Pinsel vertauscht und sind ebenso wackere Beamte und Gelehrten geworden, wie sie früher Krieger gewesen sind. Nur allmählich ziehen sich auch die Söhne der andern Kasten in Beamtenstellungen nach. Als ein Mangel muß es bezeichnet werden, daß der amerikanische Usus der Stellenbesetzung noch in weitem Umfange besteht. Die Restauration wurde haupt- sächlich durch die Fürsten und Soldaten der Provinzen Satsuma und Choshu durchgesetzt, und seitdem betrachten diese beiden hochbegabten Clans die Verwaltung des neuen Reichs als ein Gebiet, auf welches sie die erste Anwartschaft haben. Die meisten hervorragenden Stel- lungen befinden sich immer noch in den Händen von Satsuma- und Choshuleuten. Das bildet aber einen Hauptanstoß für das Parlament, das mit der Regierung auf Kriegsfuß steht. Von der radikalen Fortschritts- partei „Kaischin-to“, an deren Spitze Graf Ōkuma steht, ist es nicht zu viel gesagt, daß sie Opposition um der Opposition willen macht. Dagegen sind die beiden andern großen Parteien, die gemäßigt liberale „Ji ū -to“ unter Graf Itagakis Führung und die kon- servative „Kokumin-Kyokwai“ unter Viscount Shina- gawa, je nach der Zusammensetzung des Ministeriums für dieses zu haben Gegenwärtig ist Graf Okuma Ministerpräsident, was wohl das Ende der Clanherrschaft bedeutet. . Die Clanherrschaft ist nicht der einzige strittige Punkt zwischen Regierung und Abge- ordnetenhaus. Der Hauptkampf geht um die Par- lamentsherrschaft, welche das Abgeordnetenhaus an- strebt. Die Minister sollen nicht mehr, wie bisher, dem Kaiser allein verantwortlich sein, sondern dem Parlament. Wenn es auf den Reichstag ankäme, so würde auch das jetzige beschränkte Wahlrecht, bei welchem nur wenig über ein Prozent der Gesamtbe- völkerung zur Stimmabgabe berechtigt ist, in ein allge- meines Wahlrecht umgeändert werden. Die Aufgabe der Regierung gegenüber dem Parlament kann nach deutschen Begriffen nur die sein, zu zügeln. Das Parlament besteht aus dreihundert Mitgliedern, welche jährlich je 800 Yen d. h. etwa 1800 Mark Diäten erhalten. Als es im Jahre 1890 zum ersten Male ein- berufen wurde, sagten ihm viele Ausländer eine kurze Lebensdauer voraus. Es war in einem der ersten Monate seines Bestehens, als mich mein Kollege S., der sich Eintrittskarten verschafft hatte, einlud, mit ihm einer Sitzung beizuwohnen. Ich kannte mich damals noch nicht gut aus, und S. übernahm die Führung. Wir fuhren in unsern Jinriksha eine halbe Stunde lang durch die Straßen von Tokyo und kamen schließlich an einen großen Häuserkomplex, der in vollen Flammen stand. Der Anblick machte schon damals keinen Eindruck mehr auf mich, da ich große Brände schon einige Male gesehen hatte. Wir fuhren um die Brand- stätte herum, und allmählich merkte ich, daß wir uns wieder auf dem Heimwege befanden. Ich fragte S. nach der Ursache. „Nun“, sagte er, „das Parlament brennt ja eben ab“. So war es. Die radikalen Parteien beschuldigten die Regierung, dieselbe habe die Gebäude anstecken lassen, um die sie kompromittierenden Akten los zu werden. Die Regierung aber gab die Beschuldigung zurück. Bei diesem allgemeinen Durch- einander sah es in der That aus, als sei der Versuch einer konstitutionellen Regierung als gescheitert zu be- trachten, zumal als das Parlament mehrmals nach ein- ander aufgelöst und jedesmal unter bedeutender Nach- hilfe der Knüttel und Fäuste der Soshi wieder gewählt worden war. Daß aber trotzdem die Verfassung damals nicht auseinander fiel, ist dem sehr starken Mechanismus der Staatsmaschine zu verdanken, wie ihn ein groß- artiges Organisationstalent in einander gefügt hatte. Die Japaner sind organisatorisch hervorragend veranlagt. Wenn der letzte Krieg mit China auch nach vieler Leute Ansicht die rechte Feuerprobe für Japan noch nicht gewesen ist, so steht doch eines seitdem fest: Die vortreffliche Organisation, das In- und Miteinander- arbeiten aller großen und kleinen Räder der japanischen Maschine. Auch im kleinen und kleinsten ist das orga- 12 nisatorische Geschick unverkennbar. Die Siegesfeste während des chinesischen Krieges waren in der Regel von sehr kurzer Hand vorbereitet, und doch nahmen sie stets einen gelungenen Verlauf. Auch auf kirchlichem Gebiet, in der Verwaltung einzelner christlicher Ge- meinden und ganzer Kirchen, zeigt sich ihr großes Geschick. Bei diesem ihrem organisatorischen Talent ist es nicht zu verwundern, daß sie auf dem Gebiete des Verkehrswesens Ausgezeichnetes leisten. Ihre Dampfer- linien stehen auf der Höhe der Zeit und werden auch von europäischen Passagieren mit Vorliebe benutzt. Ein Netz von Eisenbahnen zieht sich allmählich über das ganze Land, und da die Japaner ein reiselustiges Volk sind, so rentieren sie trotz sehr mäßiger Fahrpreise sehr gut, wenn auch mit Bezug auf Geschwindigkeit noch vieles zu wünschen übrig bleibt. Wir Deutsche sind stolz auf Post und Telegraph; in Japan war ich damit in keiner Weise schlechter bedient, und hatte es zudem wohl noch um die Hälfte billiger. In Tokyo kam der Postbote an manchen Tagen z. B. an Neujahr, wo alle Welt sich zu beglückwünschen pflegt, wohl zehnmal in mein Haus, und selbst im Innern des Landes, sieben Stunden von der nächsten Eisenbahnstation entfernt, erhielt ich zweimal täglich meine Post. Die Beför- derung ist eine rasche, und selten habe ich einen Brief- träger im Schritt gehen sehen; immer ist er in eiligem Laufen begriffen. Ich erledigte aus dem Innern des Landes wochenlang meine Korrespondenz, auch nach dem Ausland, und nie — während meines ganzen japa- nischen Aufenthaltes — ist mir ein Brief verloren ge- gangen. Ich schickte einmal an Neujahr eine Gratu- lationskarte an einen Japaner, aber unter ungenauer Adresse. Ende Februar erhielt ich den Brief zurück, beklebt mit zweiunddreißig Zettelchen. Die Postver- waltung hatte sich die Mühe genommen, den Brief an zweiunddreißig Adressen zu schicken. Die Arbeitskräfte sind billig, sodaß der japanische Generalpostmeister nicht so zu sparen braucht wie der deutsche. In dem Staatswesen ist nichts vergessen, was bei uns zur öffentlichen Wohlfahrt gerechnet wird. Das Polizeiwesen, um welches sich deutsche Ratgeber verdient gemacht haben, darf als mustergiltig bezeichnet werden. Selbst der Fremde, der nach Japan kommt, vielleicht in dem Gedanken, hier noch uncivilisierte Verhältnisse an- zutreffen, fühlt sich beruhigt, wenn er die Polizisten sieht, schmuck und sauber gekleidet, freundlich und ent- gegenkommend in dem Bewußtsein, daß sie die Diener und nicht die Herren der Gesellschaft sind. Die Feuer- polizei darf sich auch großstädtischen europäischen Ein- richtungen dieser Art getrost an die Seite stellen. Wenn die Feuerwehr in Tokyo auch nicht zu jeder Zeit auf- geschirrte Pferde bereitstehen hat, so ist sie mit ihren selbstgezogenen Spritzen doch nicht weniger prompt zur Stelle. Auch die Gesundheitspolizei vervollkommnet sich mehr und mehr. Um der Gesundheit der Bewohner willen scheut der Staat auch die größten Summen nicht. Für Krankenhäuser ist gut gesorgt. Ich hatte eine Schutzbefohlene, eine Ausländerin, die bald nach ihrer Ankunft in Japan, von schwerer Geisteskrankheit be- fallen, in die städtische Anstalt für Irrsinnige in Tokyo untergebracht worden war. Ich kam infolgedessen oft dahin, und wenn auch in Anbetracht der japanischen Lebensweise die Anstalt kein wünschenswerter Aufent- halt für mein Mündel war, so daß ich Sorge trug, daß sie in die Heimat verbracht wurde, so machte das, 12* was ich dort sah und hörte, doch stets den besten Ein- druck auf mich. Der Chefarzt hatte in Deutschland studiert und stand auf der Höhe der Wissenschaft. Die Geschäftsführung war, ohne umständlich zu sein, äußerst prompt. Die mustergiltige Organisation von Heer und Flotte ist durch den japanisch-chinesischen Krieg genugsam be- kannt geworden. Wohl haben sie auch ihre fremden Ratgeber gehabt, aber ebensoviel als sie hat der mili- tärische Geist des alten Japan gethan. Darin hat die neue Zeit keine Änderung hervorgebracht: Das Kriegs- wesen ist das Steckenpferd des modernen Japan ge- blieben, für welches ihm kein Geld zuviel ist. Als Soldaten sind sie mutig und ausdauernd. Tapfer im Kampf und tollkühn in der Gefahr, gehen sie ohne Furcht dem Tode entgegen. Wenige Völker haben so viele wirkliche Helden aufzuweisen wie die Japaner. So klein sie sind und so schwächlich sie aussehen, so sind sie doch zäh im Ertragen von Beschwerden. Europa wird gut daran thun, mit ihnen als mit ebenbürtigen Gegnern zu rechnen. Die Japaner wollen glänzen und eine glänzende Rolle in der Politik der Völker, im Leben der Nationen zu spielen, ist ihr feuriges Streben. Vor wenigen Jahren hat der Staatsmann Graf Okuma den Aus- spruch gethan, daß in der Mitte des zwanzigsten Jahr- hunderts Japan auf den Steppen Centralasiens gegen Europa um die Weltherrschaft kämpfen werde. Das war ein großes Wort gelassen ausgesprochen, und wenn es so ernst zu nehmen wäre, als es erst gemeint war, dann thäten wir gut daran, das bekannte Bild unseres Kaisers und die Worte, die er darunter setzte: „Ihr Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter“, nicht bloß in dem feinen Sinne zu verstehen, in welchem Bild und Unterschrift ein gutes Recht haben, sondern in einem gröberen und recht handgreiflichen Sinne. Aber freilich, niemand wird sich durch diesen Ausbruch einer schier unglaublichen Großmannssucht im Ernst bange machen lassen; und doch ist er nicht bedeutungs- los; eines zeigt er mit Bestimmtheit: Sie haben Pläne und zwar große Pläne. Skrupulös werden sie in der Verfolgung ihrer Pläne nicht sein. Bei dem chinesischen Kriege stellte es sich heraus, daß ihnen in Korea und Nordchina jeder Weg und Steg bekannt war. Wer Gelegenheit hatte, die Generalstabskarten des Kriegs- schauplatzes zu sehen, war im höchsten Grade erstaunt. Jahre zuvor hatten ihre Späher, darunter Offiziere, in chinesischer Kleidung China durchstreift, und zwar mit solcher Gewandtheit, daß erst nach Ausbruch des Krie- ges einer oder zwei ertappt wurden. Im Falle eines Krieges mit Rußland werden die Steppen Ostsibiriens den Japanern mindestens ebenso gut bekannt sein als den Russen. Von Manila und den Philippinen haben sie sicher die genauesten Karten. Aus idealen Gründen, etwa um geographische Studien zu machen, thun sie das nicht, sondern vielmehr aus weittragenden politischen Gesichtspunkten. Mit der kulturellen Führung Ostasiens werden sie schwerlich zufrieden sein. Daß Japan jemals die Beute einer fremden Macht werden könnte, ist undenkbar. Im Vergleich zu den Kämpfen, welche durch die Landung fremder Truppen in Japan hervorgerufen würden, würden die Aufstände Polens, die Guerillakriege in Spanien und die Unab- hängigkeitskämpfe auf Cuba reines Kinderspiel sein. Eher würde der letzte Japaner sein Blut verspritzen, ehe der geheiligte Boden von Yamato einer fremden Macht in die Hände fiele. Japan ist als Staat eine große Macht, gefährlich als Feind, begehrenswert als Bundesgenosse. Es ist demnach ein moderner Staat, mit dem wir es hier zu thun haben. Und darum ist es auch recht und billig, daß man ihm durch den Abschluß neuer Verträge auf der Grundlage der Gleichberechtigung als modernen Staat anerkannt hat. Es ist ein großes Unrecht, Japan als Staat unter die anderen asiatischen Mächte einzureihen. Insbesondere dürfte man Japan und China als Völker und Staaten nicht zusammen in einem Atemzug aussprechen, ausgenommen gegensätzlich. Als einzelner mag der Chinese dem Japaner in manchem überlegen sein, aber als Völker spotten die beiden jeden Vergleiches. Der Chinese hat wohl eine Heimat, und er hat ein sehr starkes Gefühl für dieselbe. Aber ein Vaterland hat er nicht. Das chinesische Reich ist ein Konglomerat aus mehreren unter sich verschiedenen Völkern, und nicht einmal der chinesische Zopf, das gleiche fortschrittfeindliche Temperament, ist im stande, die verschiedenen Elemente zusammenzubinden. Auf dem Throne sitzt eine Dynastie, mit welcher der größte Teil des Volkes keine Beziehung hat, die sich vielmehr auf dem Wege der Gewalt aufdrängte. Da verliert der alte Spruch: „Für König und Vaterland“ vollständig seine Bedeutung, und dafür sein Blut und Leben ein- zusetzen, das kann Konfuzius unmöglich gewollt haben. Anders der Japaner. Ein einziges Beispiel soll das illustrieren. Es war im Oktober 1894, also während des chinesischen Krieges, als mich eine Missionsreise nach Osaka führte. Als ich eines Morgens aus meinem halb europäischen, halb japanischen Gasthaus heraustrat, fand ich die Straßen dicht besetzt mit Menschen, so daß an ein Durchkommen kaum zu denken war. Ich fragte einen Polizisten, was denn los sei. Derselbe gab mir in höflicher Weise den Bescheid, daß ein Trupp chinesischer Kriegsgefangener vom Bahnhof her erwartet werde. In der Schlacht von Pingyang waren ungefähr tausend Chinesen ge- fangen worden, welche man jetzt auf die größten Städte Japans verteilte. Nach Osaka kamen ungefähr ein hundert und sechzig. Selbstverständlich war auch ich neugierig, die Gefangenen, die ersten in Japan, zu sehen. Ich stellte mich daher gleichfalls neben der Straße auf, der einzige Europäer unter Tausenden von Eingeborenen, in einer politisch hoch erregten Zeit; aber nicht das geringste kam vor, höchstens, daß man mich neugierig betrachtete. Als ich etwa eine Stunde gewartet hatte, sah ich aus der Ferne den Zug herankommen. Voran und zu beiden Seiten japanische Infanterie mit ge- fälltem Gewehr, in ihrem Äußern fast genau wie preußische Soldaten; hinterher japanische Kavallerie, diese in Uniformen nach französischer Art. Dazwischen die Gefangenen. Es war ein erbarmungswürdiger Anblick. Leute von fünfzehn bis zu sechzig Jahren, halbe Kinder und Greise mit grauen Haaren, schlecht genährt, schlecht gekleidet. Einige verhüllten mit der Hand das Gesicht, andere schauten finster zu Boden; nur wenige wagten es, sich umzuschauen. Es war ihnen bang um das Herz. Sie glaubten, sie würden hierher gebracht, um zur Belustigung des Volkes eines grau- samen Todes sterben zu müssen, wie ja die Chinesen ihrerseits japanische Gefangene kurzer Hand töteten. Daß es ihnen in der Gefangenschaft gut gehen sollte, den meisten wohl besser als je zuvor in ihrem Leben, das ahnten sie damals noch nicht. Den Eindruck von Soldaten machten sie nicht. Ich glaube — und viele sind derselben Ansicht —, daß es überhaupt keine Sol- daten waren, sondern gewöhnliche Arbeiter, denen man im letzten Augenblick noch Flinten in die Hand ge- geben hatte, und dazu noch Flinten, die nicht los- gingen. Ich habe darüber nach dem Feldzug aus dem Munde japanischer Offiziere die unglaublichsten Dinge gehört, so z. B., daß das ganze japanische Heer laut auflachte, wenn wieder einmal eine Kanonen- kugel aus dem chinesischen Lager geflogen kam; denn man wußte im voraus, daß sie nicht platzen werde: Sie war nicht mit Pulver, sondern mit Lehm gefüllt; das Geld für das Pulver aber war in die Taschen der Beamten, der Mandarinen geflossen. Das war Kano- nenfutter für die Japaner, gefährliche Feinde waren sie nicht. Wie sie nun vorbeizogen, voran die Kranken und Verwundeten auf Tragbahren oder in Jinriksha, hinterher die Gesunden zu Fuß, die meisten ohne Zopf, weil ihnen derselbe von den Japanern teils aus Über- mut, teils aus Reinlichkeitsgründen abgeschnitten worden war, standen die Japaner neben am Wege und be- trachteten sie sich mit sichtbarem Stolz, aber ernst und ruhig. In diesem Bild haben wir das Bild Ostasiens. Auf der einen Seite das Volk der Chinesen, stumpf und phlegmatisch, als einzelne tüchtig und wohl wert, daß man an ihnen arbeite, als Ganzes und Staat verlumpt und verrottet bis in das innerste Mark, als Soldaten und Patrioten Nullen und weiter nichts, ein Volk, welches als Volk in greisenhaftem Niedergange begriffen ist. Auf der andern Seite das Volk der Japaner, ernst und ruhig im stolzen Bewußtsein seiner Kraft, als Sol- daten stramm, schneidig und wohl diszipliniert, ein Volk, welches als Volk in jugendkräftigem Aufschwung begriffen, noch einer bedeutenden Zukunft entgegengeht. Wenn die Japaner berufen sind, auf irgend einem Ge- biet eine führende Rolle zu spielen, so ist es auf dem Gebiet der Politik. Und wenn menschliche Voraussicht im Plane der Vorsehung noch etwas gilt, so wird noch in fernen Zeiten an Nippons schönen Gestaden stolz die japanische Flagge wehen, die glutrote Sonne im weißen Feld, und noch ebenso laut und begeistert wie heute wird von seinen freien Söhnen der Ruf erschallen: „Dai Nippon ban-zai“, „Lang lebe Japan!“ VII. Religiöses Leben: Shintoismus. E s ist von jeher unter den in Japan ansässigen Fremden eine viel erörterte Streitfrage gewesen, ob die Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt seien. Die Frage wird verschieden beantwortet. Während ihnen die Missionare entschieden eine hohe religiöse Veran- lagung zuerkennen, viele sogar in höherem Maße, als wir sie besitzen, sind die nichtgeistlichen Europäer — Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen fast jeden religiösen Sinn abzusprechen. Den Missionaren macht man dabei den Vorwurf, sie müßten natürlich so sprechen, wenn anders sie sich nicht selbst den Ast absägen wollten, auf welchem sie sitzen. Die Missionare aber erheben die Gegenklage, die andern verstünden nichts von der Sache, da sie nur mit einem sehr kleinen und beschränkten Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweise mit Ange- hörigen der allerdings atheistischen Samuraiklasse in Berührung kämen, während ihnen die Masse des Volkes vollständig fremd sei. Sicher ist, daß sich die Frage nicht dadurch ent- scheiden läßt, daß man auf die Zahl der Priester und Tempel im Lande verweist. In einer rein geistigen Sache wie die Religiosität ist die Statistik, zumal wenn sie sich thatsächlich auf Priester und Tempel beschränken müßte, von sehr zweifelhaftem Werte. Die religiöse Veranlagung des Japaners läßt sich nur im Zusammen- hang mit seinem gesamten Geistesleben bestimmen. Nach dem, was dort (III.) gesagt worden ist, kann für uns kein Zweifel bestehen. Der Japaner ist gewiß religiös, so gewiß, als die Religion in dem Geistesleben eines jeden Volkes einen Bestandteil und zwar einen Haupt- bestandteil bildet; aber für die Geisteshöhen und -tiefen der Religion ist er weit weniger empfänglich als der Arier. Der Japaner ist eine Marthanatur, geschäftig, geschickt, praktisch, wohl auch etwas äußerlich; aber er ist nicht sehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens- wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt der greifbaren Wirklichkeit steht ihm über der inneren Welt der Herzensideale, das praktisch-sittliche Leben über der Mystik. Das Ziel des Japaners ist nicht, den Menschen zu sich selbst in Harmonie zu setzen, sondern das Verhältnis des Menschen zu seinem Neben- menschen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum Herrscher, des Freundes zum Freunde genau zu be- stimmen. Der Japaner ist in hohem Grade eine ethische, in schwächerem eine religiöse Persönlichkeit. Es giebt kaum ein zweites Volk, wo sich die Ethik so sehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar nicht erst infolge eines langen geschichtlichen Prozesses, sondern von altersher. Das System des Konfuzius, welches seit seiner Einführung in den ersten Jahr- hunderten unserer Zeitrechnung unter Zugrundelegung der Pietät und Loyalität die gesamten sittlichen Lebens- verhältnisse der Japaner gestaltet hat, steht der Religion gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be- kämpfte, aber sie ist ihm gleichgültig. Auf der andern Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, fast ausschließlich auf das Gebiet des Glaubens und Empfindens beschränkt, und eine ethische Bedeutung haben sie eigentlich nur insoweit gewonnen, als sie sich zu Verbreitern der konfuzianischen Tugendlehre hergaben. In Japan umfaßt die Religion nicht in gleicher Weise die Gebiete des Denkens, Fühlens und Wollens; denn das Gebiet des Wollens nimmt fast ausschließlich die religionslose Moral für sich in Anspruch. Die Frage- stellung: Sind die Japaner Konfuzianer oder Buddhisten? ist darum verkehrt. Der Japaner kann ethisch Kon- fuzianer und religiös Buddhist, also beides zu gleicher Zeit sein. Die gewöhnliche Formel, daß die gebildeten Japaner Konfuzianer, die ungebildeten aber Buddhisten seien, ist auch nur teilweise richtig. Vielmehr ist Kon- fuzius, nach seiner ethischen Seite wenigstens, Gemein- gut des ganzen Volkes, so daß — ethisch betrachtet — alle Japaner bis zum heutigen Tag als Konfuzianer bezeichnet werden müssen. Freilich, das ist wahr, daß der Samuraistand vermöge seiner Bildung zum Hüter der konfuzianischen Ethik berufen war, während im besonderen die Tugend der Loyalität und damit die Staatsidee für ihn als eigentliche Kriegerkaste eine ganz andere und höhere Bedeutung gewann als für das gemeine Volk. Aber man darf doch eigentlich von Konfuzius nur nach seiner philosophisch-agnostischen Seite behaupten, daß er ausschließlich den oberen Stän- den angehöre. Für sie ist er nicht nur der Lehrer der Ethik, sondern auch der der Philosophie geworden; seine religiösen Anschauungen sind auch die ihrigen. Wie der chinesische Weise, so sind auch sie, die Männer wenigstens, religionslos. Nicht als ob sie noch mit besonderem Stolz an Konfuzius hingen, oder als ob die alten chinesischen Lehrer je wieder Aussicht hätten, die modernisierten Katheder zu besetzen; man hat den Versuch vor noch nicht vielen Jahren gemacht, und die altmodischen Herren nahmen sich komisch genug aus vor Klassen von frischen Jünglingen, deren Köpfe mit den neuesten naturwissenschaftlichen Problemen beschäftigt waren. Der Versuch scheiterte kläglich. Als wissen- schaftliches System ist der Konfuzianismus überwunden, aber als Weltanschauung wirkt er fort. Und ob man sich heute auch mit Vorliebe auf europäische Autoritäten beruft und die Schlagwörter des modernen Materialis- mus im Munde führt, so ist ihm doch das gebildete Japan nach wie vor unterworfen. Es ist der Stand- punkt der Halbbildung, welche jede Religion als Aber- glauben belächelt und in der Verachtung der Religion den Erweis wahrer Bildung erblickt. Der Thatsache, daß die europäischen Völker religiös sind, steht man skeptisch gegenüber. Man erblickt darin eine Mache der Regierungen, welchen die Religion und ihre Priester einen bequemen und wirksamen Polizeistock böten. Europäer und Chinesen mögen sich am Gängelband herumführen lassen, aber eine Nation von der sittlichen Kraft wie die japanische braucht sich solche Zuchtruten nicht aufzubinden. Geistreiche moderne Theorien und plumpe bäuer- liche Absurditäten, beides bekommt man als Urteile des gebildeten Japan über Religion zu hören. Ganz im Sinne des modernisierten Konfuzianismus lautet eine Äußerung, welche der hochangesehene frühere Rektor der Universität Kato, welcher sich auf seine deutsche philosophische Belesenheit nicht wenig zu gute thut, erst kürzlich gemacht hat. „Die Auswahl einer Religion“, so sagt er, „welche der Zeit, in der wir leben, entspricht, ist eine Aufgabe, welche nur Philosophen lösen können. Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er gewisse Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber solchen Glauben halte ich für geistige Sklaverei, welche gelehrte Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie groß auch der Wunsch sein möge, eine Religion zu wählen, die Aufgabe ist unmöglich. Was wir aus- wählen, wird Philosophie und nicht Religion sein.“ Mit Recht fügt Dr. Christlieb, welchem diese Mitteilung zu verdanken ist (Z. M. R. XII, 20), hinzu: „Kato ver- tritt die typische Halbbildung mit ihrem rückständigen Hochmut auf die Philosophie, von der sie freilich nur „leviores gustus“ genossen hat. Aber solche Anschau- ungen sind thatsächlich weit verbreitet“. Selbst Ito, der weitsichtigste Staatsmann Japans, der sich mit Vorliebe den japanischen Bismarck nennen hört, hat sich über Religion höchst abfällig geäußert. „Ich be- trachte“, sagte er, „die Religion als ganz unnötig für das Leben eines Volkes. Wissenschaft steht hoch über dem Aberglauben, und was ist jede Religion, sei es Buddhismus, sei es Christentum, anderes als Aber- glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum und Atheismus, die in Japan fast allgemein herrscht, durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr für die Nation.“ Und das ist derselbe Ito, welcher auf einer Gesandtschaftsreise im Jahre 1883 „aus Ge- sprächen mit Fürst Bismarck und Kaiser Wilhelm I. gelernt haben soll, daß das Christentum nicht eine rein menschliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß und Macht, sondern eine Realität in den Herzen der Menschen sei, welche einen Einfluß von unberechenbarem Wert auf den einzelnen und das Volk übe, und welcher dem Mikado empfohlen habe, es zu studieren und seine Einführung zu begünstigen“. Die neuerliche Auslassung Itos zeigt deutlich genug, wie tief ihm jene Erkenntnis gegangen sein mag. Denn seine Äußerung klingt doch etwas anders als die Worte Wilhelms I. : „Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben“. Wenn aber das am grünen Holz geschieht, was will am dürren werden? Was kann bei solchen Vorbildern Gutes herauskommen? Die Urteile Katos und Itos werden von allen Gebildeten, soweit sie nicht dem Christentum anheim gefallen sind, Wort für Wort unterschrieben. Wer aber Itos etwas unklare Äußerung so verstehen wollte, als ob das ganze Volk fast durchweg religionslos sei, wäre übel beraten. Vielmehr ist die Volksseele niemals willens gewesen und ist es heute noch nicht, sich mit den philosophischen Brocken abspeisen zu lassen, die von der Gebildeten Tischen fallen. Für sie sind das Steine und jede Speise, die ihr die Religionen bieten, und wäre sie auch nichts weiter als Träber, ist ihr lieber als das. Der Kleinbürger, der Handwerker, der Bauer und der Arbeiter und das ganze große Heer der Frauen sind immer religiös gewesen bis zum heutigen Tag, wenn sich auch ihre Religiosität entsprechend ihrer Ver- anlagung und dem Gehalt ihrer Religionen dürftig genug äußert. Japan hat zwei Religionen, den Shintoismus und den Buddhismus. Der Shintoismus ist die eigentlich nationale Religion, der Buddhismus ist von außen hereingetragen. Gleichwohl ist im Lauf der Zeit der Buddhismus aufs innigste mit dem Volk verwachsen, und wenn man den Japaner fragt, zu welcher Religion er sich rechne, so wird die Antwort fast immer lauten: „Ich bin Buddhist“. Shintoismus und Buddhismus haben sich schon im Lauf der Geschichte mannigfach innerlich beeinflußt, und im Volksbewußtsein stehen sie sich so nahe, daß man eben sowohl zu dem buddhistischen Götzen „hotoke“ als zu dem shintoistischen Gott „kami“ betet, daß man ebenso gut zu dem buddhistischen Tempel „o tera“ wie zu dem shintoistischen „o miya“ geht. Warum aber der Buddhismus bestimmenden Einfluß vor dem Shintoismus gewonnen hat, erklärt sich daraus, daß in ihm viel mehr religiöser Gehalt steckt als im Shintoismus. Der Shintoismus ( shin = Gott, tō = Weg, Lehre) ist mit der Mythologie und Geschichte Japans auf das engste verknüpft Zur Bezeichnung ihres Gottes haben die Christen nach einigem Schwanken die shintoistische Terminologie übernommen. Für Christen und Shintoisten heißt also Gott für die Umgangs- sprache „kami“, in Zusammensetzungen nach der chinesischen Aus- sprache „shin“ z. B. shin-gaku Theologie. Der buddhistische „hotoke“ bedeutet ein Götzenbild, so daß der Ausdruck für den geistigen Gott der Christen nicht zu gebrauchen war. . Die ältesten Geschichtswerke, das im Jahre 712 verfaßte Kojiki (Erzählung alter Geschichten) und das um 720 entstandene Nihongi (japanische Geschichte) sind zugleich auch die religiösen Urkunden des Shinto. Ehe die Geschichte der Menschheit ihren Anfang nahm, spielte sich schon eine vieltausendjährige Geschichte im Reiche der Götter ab. Wie in den Systemen der Gnostiker löste ein Göttergeschlecht das andere ab, bis als letzte der göttlichen Geburten das Geschwisterpaar Izanagi und Izanami in das Dasein trat, die sich mit einander vermählten. Eines Tages saßen die beiden auf der Himmelsbrücke und schauten hinab in das wogende Meer. Da tauchte Izanagi von ungefähr seine Lanze in die Fluten. Als er sie zurückzog, fielen die Tropfen von der Lanze, und wo einer hinfiel, ent- stand eine Insel. So wurden die tausend Inseln des japanischen Reiches geschaffen. Onogoro-shima im ja- panischen Binnenmeer bei Awaji, die erste der also entstandenen Inseln erkor sich das Götterpaar zum Wohnsitz. Söhne und Töchter wurden ihm geboren, aber bei der Geburt des Feuergottes verlor Izanami ihr Leben. In heißer Sehnsucht nach seiner verlorenen Gemahlin stieg Izanagi, dem griechischen Orpheus gleich, in die Unterwelt hinab. An den Thoren des Hades angelangt, beschwor er sie, wieder mit ihm zurück- zukehren. Gern willigte sie ein, bat ihn aber, noch ein wenig zu warten, damit sie sich mit den andern Göttern berate. Da es ihm zu lang währte, über- mannte ihn die Ungeduld. Er brach einen Zahn aus seinem Haarkamm und zündete ihn an, um Licht zu haben in der Dunkelheit der Unterwelt. So ging er hinein und fand sie auch bald, aber schon hatte die Verwesung ihr Werk begonnen, und betrübt und an- gewidert kehrte er, verfolgt von den acht Donner- göttern, an die Oberwelt zurück. Um sich rein zu waschen von der Unreinheit des Todes und der Verwesung, beschloß er, im Flusse zu baden. Als er seine Kleider am Ufer niederlegte, wurde plötzlich aus jedem Stücke eine Gottheit geboren, und aus allen seinen Gliedern sprangen ihm Söhne und Töchter heraus. Aus seinem linken Auge kam Amaterasu, aus seinem rechten Tsuki no kami und aus seiner Nase Susano. Unter diese drei verteilte er sein Reich. Seine Lieblingstochter Amaterasu (die Himmelerleuchtende) machte er zur Herrin der Sonne, die ebenfalls weibliche Tsuki no kami erhob er zur Göttin des Mondes, und dem wilden Susano übergab er die Herrschaft über das Meer. 13 Susano aber, welcher meinte, bei der Teilung zu kurz gekommen zu sein, grollte seiner bevorzugten Schwester Amaterasu. Unter dem Vorwande, sie besuchen zu wollen, stieg er einst auf und stürmte hinauf nach dem Himmel. Wütend durchbrach er das Dach der heiligen Webehalle, darinnen die Göttin die Kleider der Götter weben ließ, daß Amaterasu, empört ob solcher Gewaltthat, mit den ihrigen entfloh. Sie schloß sich in eine Höhle ein und wälzte einen großen Stein davor. Nun aber war große Not. Das Licht war gegangen und auf Himmel und Erde lag tiefe Finsternis. Da hielten ihre Gefährtinnen einen Rat, wie sie sie mit List wieder herausbekämen. Sie machten eine Schnur von kostbaren Edelsteinen und fertigten einen glänzenden Spiegel. Eine Gottheit fing an zu tanzen, und die andern lachten und jauchzten. Als nun Amaterasu drinnen in der Höhle den Reigen hörte, wurde sie neugierig und lüftete ein klein wenig den Stein. Da brachten die Götter, um sie zu locken, die Edelsteinschnur an die Spalte und hielten ihr den Spiegel vor ihre Augen. Da sah sie ein wunderschönes Angesicht und voll Begierde, die holde Unbekannte noch deutlicher zu sehen, rückte sie den Stein noch weiter weg. Da aber griffen die ihrigen zu, schoben den Stein ganz beiseite und zogen ihre Herrin im Triumph aus der Höhle heraus. Susano wurde überwältigt und aus dem Palast des Himmels hinausgeworfen. Zur Erde zurückgekehrt, kam Susano nach der Pro- vinz Izumo. Da sah er einen alten Mann und eine Frau mit einem jungen Mädchen, die saßen zusammen und weinten. Er fragte sie, warum sie so traurig seien? Der alte Mann aber sprach: „Einst hatten wir acht Töchter. Aber in jedem Jahr kam eine achtköpfige Schlange und verschlang eine von ihnen. So haben wir sieben verloren, und jetzt ist die Zeit da, da sie wieder kommen wird, um auch unsere letzte Tochter zu holen“. Als Susano das hörte, fragte er den alten Mann: „Willst du mir deine Tochter zum Weibe geben, wenn ich sie von der Schlange errette?“ Als nun der Alte mit Freuden zusagte, befahl ihm der Gott, starken Sake (Reisbranntwein) zu brauen. Als der Sake fertig war, füllten sie ihn in acht Krüge und stellten dieselben hin. Kaum war das gethan, als die Schlange auch schon erschien. Als sie den Sake roch, steckte sie in jeden Krug einen Kopf und trank den Sake aus. Dann legte sie sich, berauscht wie sie war, nieder zum Schlafen. Da ergriff der Gott sein Schwert und hieb die Schlange in Stücke. Als er an den Schwanz kam, stieß er auf etwas Hartes und als er nachschaute, fand er ein großes kostbares Schwert, welches er herausnahm. Darnach baute sich Susano einen Palast, in welchem er mit seiner Gattin glücklich und zufrieden lebte, und Söhne und Töchter wurden ihm geboren. Als sich aber die Menschen, oder vielmehr die „Erdgötter“ auf der Erde vermehrten, beschloß Ama- terasu, ihren Enkel Ninigi hinabzusenden, daß er über sie herrsche. Bei seinem Abschied vom Himmel übergab sie ihm die Edelsteinschnur und den Spiegel, womit die Götter sie einst aus der Höhle gelockt hatten, und das Schwert, das Susano im Schwanz der Schlange ge- funden hatte Die drei Kleinodien Spiegel, Schwert und Edelstein, deren symbolische Bedeutung bis heute noch nicht klar nachgewiesen werden konnte (der Spiegel ist vermutlich das Abbild der Sonne und das Sinnbild der Reinheit, die ja im Shintoismus ganz besondere Bedeutung hat, während das Schwert wohl die Herrschergewalt darstellt und so mit den Tugenden der Loyalität . Sie befahl ihm an, den Spiegel als 13* ihren eigenen Geist zu betrachten und ihm dieselbe Ver- ehrung entgegenzubringen wie ihr selbst. Nachdem Ninigi dieses versprochen, verließ er die himmlischen Ge- filde und kam auf dem Gipfel des Takachio in Tsukushi auf der Insel Kyushiu zur Erde herab. Dort baute er sich einen Palast und vermählte sich. Ninigis Enkel, bekannt unter seinem posthumen Namen Jimmu Tenn ō , war es vorbehalten, der eigent- liche Gründer des japanischen Reiches zu werden. An der Spitze seines Stammes verließ er Kyushiu und drang in die Hauptinsel Hondo ein. Teils durch Verträge, teils durch Gewalt unterwarf er die Bewohner und machte sich das Land bis über Osaka hinaus unterthan. Darauf baute er sich einen Palast in Kashiwara (Nara) in der Provinz Yamato, von wo aus er regierte. Das geschah im Jahre 660 vor Christus, und von da an rechnen die Japaner das Bestehen des Reiches und die Thron- besteigung ihres Herrscherhauses. Es ist zweifellos, daß in diesen sagenhaften Ge- schichten ein historischer Kern steckt. In Susano und Ninigi erkennen wir die Stammväter des japanischen Volkes, welche in uralter Zeit mit ihren Völkerschaften vom Festland her in Izumo und Kyushiu einwander- ten. Wir haben es hier mit dunkeln historischen Er- innerungen zu thun, die mit den Ansichten moderner in Beziehung steht), bilden bis heute die Insignien des Reiches und die Embleme des Shintoismus. Sie sollen im Kashiko-dokoro, der shintoistischen Hauskapelle des Kaisers, nach anderer Angabe in dem Daijingu in Ise aufbewahrt sein. Dagegen erzählt Rein, daß ihm auf dem Gipfel des Takachio ein offenbar uraltes, großes Schwert gezeigt worden sei, welches die Legende als das Schwert Ninigis bezeichnet. Es ist aus Bronze mit Kupferzusatz, ist 1,30 m lang, 0,23 m im Umfang und im Griff 0,54 m dick. Forscher zu sehr übereinstimmen und durch den Blick auf die Karte zu wahrscheinlich gemacht werden, als daß sie reine Gebilde der Phantasie sein könnten. Auch die allmähliche Eroberung des Landes vom Südwesten ist geschichtlich. Wenn man aber in jedem Punkte der mythologischen Erzählung geschichtliche Wahrheiten suchen will, so ge- rät man auf Abwege. Vielmehr tragen dieselben zu einem Teil unverkennbar einen rein religiösen Charakter. Wie deutlich erkennbar ist in dem Zwiespalt Amaterasus und Susanos die kindlich poetische Darstellung des Gewitters! Aus den Wogen des Meeres tauchen die Nebel und steigen hinauf nach dem leuchtenden Himmel. Dort ballen sie sich zu schwarzen Wolken drohend zu- sammen, und die Sonne verliert ihren Schein und ver- schwindet, und es wird dunkel auf der Erde. Wütend tobt am Himmel das Gewitter, und in bangen Sorgen schauen die Menschen der entschwundenen Sonne nach. Aber siehe da, auf einmal scheint ein Strahl durch den Wolkenschleier und spiegelt sich wieder in der reinen glatten Fläche des Meeres. Und nun zerreißen die Wolken weiter und weiter und strahlender denn zuvor kommt die „Himmelerleuchtende“ aus dunkler Verborgen- heit hervor. Der Regen aber fällt zur Erde zurück, und er, der sich zuvor wild und ungestüm gebahrte, wird auf der Erde ein freundlicher Wohlthäter. So stimmt Punkt für Punkt, und der Tanz und Reigen der niederen Götter vor der Höhle der entflohenen Sonne mit der Absicht, sie wieder hervorzulocken, — eine Erzählung, welche bestimmt auf eine alte religiöse Sitte dieser Art zurückzuführen ist, — deckt sich so auffallend mit den religiösen Übungen gewisser Völkerschaften bei Sonnen- finsternis, Gewitter ꝛc., daß man versucht ist, diese Dinge auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückzu- führen. Der Shintoismus ist also ursprünglich eine Natur- religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die oberste Gottheit ist. Aber die Naturreligion wird zur Ahnenverehrung, da durch die Abstammung von der Sonne die japanischen Kaiser und durch die Abstam- mung von Susano und anderen niederen Gottheiten auch das ganze japanische Volk göttlichen Geschlechts ist. Heute ist der Shintoismus das zweite mehr als das erste. Zwar finden auch die personifizierten Natur- gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der Fruchtbarkeit, der Pest ꝛc., noch ihre Verehrung und in der ackerbauenden Bevölkerung, die sich zu jeder Zeit von der Natur abhängig fühlt, finden sie einen starken Rückhalt. Der Donnergott Kaminari ist heute noch so gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari ist allzeit viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amaterasu oder, wie sie in der religiösen Sprache heißt, Tensho Daijin schaut mancher in Andacht auf. Wenn man des Morgens früh über die Straße geht, kann man wohl sehen, wie einer oder der andere sich der auf- gehenden Sonne gegenüber verneigt und sie mit Hände- klatschen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch- sommer auf den Gipfel des Fujisan steigt, so erblickt man Dutzende von Pilgern, welche sich auch die weiteste Reise nicht verdrießen lassen, um der Sonne an diesem ihr besonders geweihten Ort ihre Verehrung dar- zubringen. Aber es ist doch wesentlich nur draußen in der Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen in den Häusern sowohl als auch im öffentlichen Leben ist der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die schönste Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erst mit der Stunde seines Todes. Denn durch den Tod wird der Sterbliche unsterblich und der Mensch ein Gott. Vor kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz- gehäusen, Tamashiro genannt, Wohnung bereitet ist, verehrt man sie und bringt ihnen aus Reis, Fisch, Sake ꝛc. bestehende Speiseopfer dar; doch verbinden sich damit mehr Gedanken der Pietät als der Religiosität, und fast will es scheinen, als wäre die Erhaltung dieser Sitte mehr dem Konfuzianismus als dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich spielen diese Familiengeister im öffentlichen religiösen Leben keine Rolle. Öffentliche Götter sind neben den Naturgottheiten nur die Geister der kaiserlichen Ahnen und bedeutender Persönlichkeiten. In unsere Verhältnisse übertragen würde nicht nur Kaiser Wilhelm I. , sondern, falls es dem späteren Kaiser so gefallen hätte, auch Moltke und Bismarck unter die Götter versetzt sein. So ist z. B. Ojin Tenno, der Sohn der kriegerischen Kaiserin Jingo, welche die ersten Feldzüge nach Korea unternahm (um die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter werden von dem Kaiser, dem Nachkommen und Stell- vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiser selbst wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klassen längst nicht mehr an das Märchen von seiner Gottessohnschaft glauben, so schweigen sie sich doch klugerweise darüber aus. Erst vor wenigen Jahren ist es geschehen, daß ein Professor der Universität, welcher die wissenschaftlich begründete These aufstellte, der Shintoismus sei ur- sprünglich eine reine Naturreligion, welchen der Ahnen- kultus später als ein fremdes Reis aufgepfropft worden sei, seine Stelle verlor, weil mit dieser Behauptung auch die göttliche Abstammung des Kaisers fallen mußte. Der Kaiser ist der Vermittler zwischen dem Volk und der Gottheit, der Hohepriester des japanischen Volkes. Tag für Tag betet er zu den Geistern seiner Ahnen für des Volkes Wohl, und an gewissen Tagen und bei großen Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenschaft die Pflicht, sich an den shintoistischen Gebetsceremonien zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus sehr wohl die japanische Hofreligion nennen. Ich hielt mich während der Juli- und August- monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit, zusammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeschiedenen Priesterdorf Mitake Vergl. auch Schmiedel, Kultur- und Missionsbilder aus Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897. auf. Ich wohnte selbst im Hause des Oberpriesters, der, wie seine Kollegen auch, gegen den christlichen Missionar nicht das geringste Bedenken hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man mit der Eisenbahn vier Stationen weiter nach Westen, dann geht es in sechsstündigem Marsch durch die heiße Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana- lisiert, das Wasser für die Millionenstadt Tokyo liefert, und in weiteren zwei Stunden durch einen schönen Wald steil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg aufgestelltes Torii an, daß man sich einem Shintotempel nähert. Das Torii ist das Eingangsthor des o miya und besteht aus zwei senkrechten Holzpfeilern mit einem oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach das Torii aussieht, so charakteristisch ist es. Wie ich mich auf späteren Spaziergängen überzeugte, sind auf allen Zugängen zum Tempel in ähnlicher Entfernung solche Torii angebracht, die somit das Gebiet des Kami umgrenzen. Am Fuße des letzten kurzen Aufstiegs, auf welchem der Tempel steht, kommt man wieder durch ein hochragendes Torii und nach weiteren drei Minuten steht man vor dem o miya. Das o miya oder yashiro liegt in einem prächtigen Parkwald von uralten Krypto- merien, deren eine ich und meine zwei Studenten mit noch einem vierten nicht zu umspannen vermochten, und die stimmungsvolle Umgebung, welche nicht bloß diesem, sondern fast allen Shintotempeln und auch den Heilig- tümern des Buddhismus eigen ist, macht auf den Be- sucher unwillkürlich Eindruck. In dieser Beziehung könnte das Christentum von dem Heidentum lernen. Während man hier die Natur zu Hilfe nimmt, zieht man im Christentum mehr die Kunst zu Rate; die Kunst aber weist der Shintoismus von vornherein zurück. Der Bau des Tempels ist von mehr als puritanischer Einfachheit, jeder äußere Schmuck ist verpönt. Der echte o miya ist aus reinem Naturholz, Stein und Erz darf zu seinem Bau nicht verwendet werden. Der Mitaketempel ist freilich, wie fast alle anderen Shinto- tempel auch, rotbraun angestrichen, was auf den Ein- fluß des Buddhismus zurückzuführen ist. Auf eine solche Beeinflussung deuten auch zwei buddhistische Götzen, die in kurzer Entfernung vor dem Tempel angebracht sind Schmiedel hat auf dem Friedhof zu Mitake die interessante Beobachtung gemacht, daß bis zum Jahre 1874 alle Toten buddhistisch beerdigt wurden. Ihre Grabsteine sind oft mit buddhistischen Heiligenbildern, Bischöfen mit dem Krummstab geziert. Vor allem aber ist an Stelle ihres eigentlichen Namens stets ihr himmlischer Name gesetzt. Vom Jahre 1874, mit der . Der Tempel ist geteilt in das Haiden, wo die Priester dem Kami ihre Verehrung zollen, und in das Honden, in welchem der Gott seine Wohnung hat, und das stets verschlossen gehalten wird; letzteres ist oft von ersterem getrennt als ein hinter diesem stehender kleinerer Tempel- bau. Kahl und schmucklos wie das Äußere ist auch das Innere. Götzenbilder giebt es nicht; denn der Shintoist denkt sich seinen Gott als Geist oder vielmehr, da ihm eine unkörperliche Vorstellung doch nicht möglich ist, als Gespenst. Die Gegenstände im Innern sind leicht aufgezählt. Da ist eine große Trommel, welche von Zeit zu Zeit gerührt wird, da ist ferner auf einer Art von Altar ein Metallspiegel, welcher zwar buddhi- stischen Ursprungs sein soll, aber in dem o miya zweifel- los — die Priester können nämlich selbst darüber keine Auskunft geben — das Symbol der Reinheit sein soll, da sind ferner in der Regel einige jener kleinen Holz- gehäuse (Tamashiro) als Wohnungen für die Geister und, was zunächst am meisten auffällt, zickzackförmig geschnittene, herabhängende weiße Papierstreifen („Go- hei“), über deren Bedeutung vollends keine Klarheit herrscht. In dem Haiden versehen des Tags über drei Priester („Kannushi“) den Dienst. Die Priester sind, im Gegensatz zu den Buddhapriestern, verheiratet, und das ganze Dorf Mitake besteht ausschließlich aus Priester- familien. Das Amt erbt vom Vater auf den Sohn, doch ist ein Zwang durchaus nicht vorhanden; es steht jedem frei, sich einen andern Beruf zu wählen. Ihre von der Regierung angeordneten Neueinführung des Staats- shintoismus, ändert sich das mit einem Schlage. Alle buddhistischen Abzeichen verschwinden, die Toten führen auch im Grabe ihre Namen weiter. Bildung ist nicht weit her. Der Oberpriester, ein noch ganz junger Mann, der Amt und Rang von seinem Vater übernommen hat, muß den Nachweis liefern, daß er die alten Ritualgebete und das Kojiki lesen kann, von den übrigen wird keine besondere Bildung verlangt. Gehalt beziehen sie nicht; doch werden ihnen von den Gläubigen, die in der ganzen Gegend zerstreut wohnen, und deren Zahl sich auf zweihunderttausend belaufen soll, kleine Gaben an Reis und andern Früchten und zuweilen auch an Geld gebracht. Dabei könnten sie freilich verhungern, zumal sie auch noch den Kami mit ernähren müssen und den Tempel zu unterhalten haben. Sie haben daher ihre Zuflucht zu dem Ackerbau ge- nommen. Im gewöhnlichen Leben sind sie weiter nichts als Bauern, von denen sie sich weder sozial, noch geistig, noch sittlich im geringsten unterscheiden. Wenn dann alle vierzehn Tage wieder einmal die Reihe zum Tempel- dienst an sie kommt, ziehen sie den Bauernkittel aus und legen die Priestertracht, weite Hose ( hakama ), Überwurf und hohe schwarze Kappe, an und gehen früh morgens zum Tempel hinauf. Das wichtigste Geschäft, welches sie dort zu besorgen haben, ist die Bereitung des Opfers für den Gott. Das Opfer besteht aus den- selben Speisen, welche gewöhnliche Sterbliche auch essen, und auch der Sake ist nicht vergessen. Man nimmt an, daß der Gott den Geist aus der Speise heraus- genießt; damit aber auch die Materie nicht verloren geht, so lassen sich die Priester dieselbe als Mahlzeit gut schmecken, und da man neben andern guten Dingen auch an Sake um des Gottes willen nicht sparen darf, so habe ich sie manchmal des Abends in recht heiterer Stimmung vom Tempeldienst zurückkehren sehen. Die Vorstellungen, welche der Shintoismus von Göttern und Geistern hat, sind von kindlicher Naivetät. Man denkt sie sich nach Art von Menschen. Darum bringt man ihnen Opfer dar, darum sucht man sie durch Tänze und Prozessionen zu unterhalten; darum auch muß man durch starkes Geräusch, Trommelwirbel und Schellen- geklingel, — viel Spektakel ist immer das Kennzeichen niedrig stehender Kulte — ihre Aufmerksamkeit zu er- wecken suchen; denn es wäre ja möglich, daß sie wie die Götter Homers gerade zufällig über Land gegangen wären oder ein Schläfchen hielten. So wurde ich während der Zeit meines Aufenthaltes regelmäßig zwischen fünf und sechs Uhr morgens geweckt; dann war die Zeit des Morgengebets für den Priester ge- kommen, und um dem Kami die Ohren für dasselbe zu öffnen, klopfte er erst tüchtig auf seiner großen Trommel herum. Auch wenn sich Pilger zum o miya nähern, ist das erste, daß die dienstthuenden Priester den Kami durch lauten Trommelwirbel davon in Kenntnis setzen, daß ihm wieder einmal eine Ehre widerfahren soll. Zu gewöhnlichen Zeiten passiert ihm das selten genug. Sind doch selbst Wochen darüber hingegangen, bis Beter kamen, und auch dann waren es nicht mehr als zwei oder drei. Dagegen pilgern sie im Frühling an einigen bestimmten Wallfahrtstagen zu Hunderten und Tausenden hinauf, lassen sich als Gegenleistung für ihre kleinen Gaben einen Tag oder zwei in den Priesterhäusern bewirten und ziehen dann, nachdem sie alle im Umgrenzungsgebiet des Kami gelegenen kleinen Schreine und heiligen Plätze besucht haben, wieder in die Ebene hinab mit dem frohen Bewußtsein, für ein Jahr wieder einmal ihrer religiösen Pflicht gegenüber dem Kami genügt zu haben. Für besondere Zeiten aber müssen es schon besondere Gründe sein, die sie zum o miya hinaufführen. Ist der Pilger am o miya angelangt, so zieht er seine Sandalen oder Holzschuhe ( geta ) aus und steigt die Treppen empor. Auf einer oben befindlichen Platt- form vor dem Haiden bleibt er stehen, denn in den Tempel hineinzugehen ist ihm nicht erlaubt. Es ist kein unrichtiger Vergleich, wenn man diese Plattform den Vorhof, das Haiden das Heilige und das Honden das Allerheiligste nennt, wie sich denn auch mit Bezug auf Speiseopfer, Reinigungen, Hohepriesteramt, Tempel- dienst, geistige Gottesvorstellung ꝛc. Berührungen mit der alten israelitischen Religion finden lassen. Bei den Tempeln, wo keine wachehabenden Priester sind, die den Gott auf den Gläubigen aufmerksam machen, ist eine Schelle angebracht, die der Gläubige zieht, oder ein Gong, das er anschlägt. Darnach verneigt er sich, klatscht in die Hände und bleibt eine Viertelminute wie in tiefer Ehrerbietung und Andacht stehen. Darnach ein abermaliges Händeklatschen und der ganze Gottes- dienst ist zu Ende. Mit Worten betet er dabei nicht; es kommt ihm nur darauf an, durch seinen Be- such und den Erweis seiner Ehrerbietung die Gunst der Gottheit zu gewinnen. Länger als eine halbe Minute währt der Gottesdienst nicht, und eine andere Art des Gottesdienstes, etwa mit Predigt und Liturgie, ist dem Shintoisten nicht bekannt. Predigten werden nicht ge- halten, und im allgemeinen ist der Gläubige zufrieden, daß der Kaiser und die Priester für ihn beten. Das ist ja doch unendlich viel wirksamer als alle Verehrung eines einfachen Mannes, der vor dem Angesichte des Kami wenig gilt. Welches sind nun die Anliegen, derentwegen die Pilger vor der Gottheit erscheinen? Mitunter sind es Krankheiten, zuweilen auch Heirats- und andere Schmerzen, in weitaus den meisten Fällen aber sind es Erntesorgen. Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um neuen Erntesegen. Auch bei den paar Pilgern im Sommer waren es Witterungssorgen, die ihnen am Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem Berge die halbe Zeit im Nebel saßen und Feuchtigkeit im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne heiß auf die Felder nieder und trocknete sie aus. Da machte sich denn der eine oder andere in der Angst seines Herzens auf zum „Amagoi“ (Bittgang um Regen) bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demselben seine Aufwartung gemacht hatte, so ging er wohl noch durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Wasserfall Nanataki, der in sieben Gefällen zwischen dem undurch- dringlichen Gestrüpp des Waldes sich brausend herab- stürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen Teich sich zu sammeln, ehe er als munterer Bergbach weiterfließt. Bei diesem Teich sind einige Miniatur- tempelchen angebracht und in den Felsen sind Inschriften zum Preise der Gottheit eingehauen. Hier läßt sich der Pilger auf seine Kniee nieder, zieht ein kleines Bambusgefäß heraus und füllt dasselbe mit dem Wasser des Teiches. Nachdem er es gut verkapselt, tritt er den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und durch die Ebene hin ohne Rast bis zur Gemarkung seines Heimatdorfes. Hätte er sich aber nur ein einziges Mal verweilt, so wäre alle Mühe umsonst gewesen. Leider ist sie aber auch so manchmal vergebens, und wenn es nun gar zu arg mit der Trockenheit wird, so holen die Priester den großen Drachenkopf, die Maske der Gottheit, hervor, um in festlichem Umzug ein feierliches „Amagoi“ nach dem Wasserfall zu unter- nehmen, wo man durch Untertauchen des Drachenkopfes den Gott fühlbar an das nasse Element erinnert. Dieser ebenso nachdrücklichen als ehrenden Prozedur, so glaubt man, kann der Kami gewiß nicht widerstehen. Wie Schmiedel berichtet, sind aber „die Priester nicht allein Wettermacher für den einzelnen Fall, sondern auch Propheten der im Jahr zu erwartenden Frucht- barkeit. Im Frühjahr findet nämlich folgende Ceremonie statt. Ein Priester nimmt im Beisein anderer den Schenkelknochen eines Hochwilds, legt ihn auf ein Stück Papier und zeichnet ihn darauf ab, teilt dann das Nachbild auf dem Papier in so viel gleiche Teile ein, als Getreidearten auf dem Gebiet wachsen, das zum Mitaketempel gehört, und merkt die Reihenfolge der- selben an. Nun wird der Knochen ins Feuer gehalten, bis er eine Anzahl Risse bekommt. Man legt ihn darauf wieder auf das Papier und liest an der Anzahl der Risse ab, wie vielfältig die einzelnen Getreidearten in diesem Jahre tragen werden“. So rufen die Priester Kabbalismus und Zauberei zu ihrer Hilfe, und um ihrer Stellung willen thun sie gut daran; denn es ist sonst nichts, was ihrer Stellung Halt verleiht. Gottesdienste halten sie nicht. Seelsorge ist ihnen gänzlich unbekannt. Selbst bei Beerdigungen werden sie selten, die Mitakepriester nie, in Anspruch genommen, da man die Toten in der Regel buddhistisch beerdigen läßt. Jugendunterricht kümmert sie nicht. In den weltlichen Fächern sind die wenigsten unter ihnen, die Landpriester vollends nicht genugsam be- schlagen, und Religionsunterricht können sie schon darum nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre nicht besitzt. In dieser Beziehung giebt es keine ödere und geistlosere religiöse Urkunde als das Kojiki. Es ist ja wohl wahr, daß der Shintoismus staatserhaltend wirkt, insofern er eine starke Stütze der Monarchie ist, auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen die Vergangenheit geweckt; doch sind auch dieses nur indirekte Wirkungen des Systems, aber keine ausdrück- lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen einer Sittenlehre damit zu erklären versucht, daß man sagte, die Japaner seien von Natur so gut, daß sie sittlicher Vorschriften nicht bedürften; infolgedessen darf man die shintoistische Sittlichkeit als ein Sichausleben der eigenen Natur bezeichnen. Das ist heute teilweise anders geworden. Der Kampf um die Existenz zwingt auch den Shintoismus zu Kompromissen mit den An- forderungen der Gegenwart, und so hat er sich bequemt, auch kurze Broschüren moralischen Inhalts herauszu- geben. Dieselben sind aber nichts weiter als Abklatsch aus dem Konfuzianismus, mit welchem er sich gegen- wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat. Je mehr aber der Shintoismus die Moral des Herzens und Lebens vernachlässigt hat, desto mehr Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im besondern auf Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern, so giebt es auch hier gewisse Dinge, welche, wie Ge- burt und Tod, verunreinigen. Diese Verunreinigung wird durch Abwaschung des Körpers mit Wasser wieder gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach seiner Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Priester zum Tempel geht, hat er sich einer Reinigung zu unter- ziehen. Während gewöhnliche Besucher das Haiden des Tempels nicht betreten, ist das mir und meinen beiden christlichen Schülern einmal gestattet worden, da wir den Wunsch ausgesprochen hatten, die Schätze des Tem- pels — ein paar sehr alte Schwerter nebst Rüstung ꝛc. — zu besichtigen. Wir traten in das Haiden und ließen uns in japanischer Weise auf dem mit Matten belegten Boden nieder. Darnach kam der Oberpriester in feierlicher Amtstracht an uns heran und bestrich uns mit einem Wedel von „Gohei“ an einem Zweige des heiligen Sakakibaumes Kopf und Körper. Diese Reini- gung ( „harai“ ) war symbolischer Art, und es ist wohl anzunehmen, daß sich ursprünglich auch der Gedanke einer inneren Reinigung damit verband, vielleicht daß es eine Art Exorcismus, die Austreibung böser Geister wie bei Besessenen sein sollte. Der Priester weiß es selbst nicht genau. Mehr noch erinnert die große Reinigung, das sogen. „O harai“, daran, daß auch dem Shintoismus eine beschränkte sittliche Reinigung von Sündhaftigkeit nicht unbekannt ist Vergl. Dr. H. Weiperts hochinteressanten Aufsatz: „Das Shintogebet der Großen Reinigung“ in den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft ꝛc. Heft 58. Vergl. auch Dr. A. Florenz’ Übersetzung und Kommentar des Nihougi, eine rechte deutsche Gelehrtenarbeit. . Das „O harai“ ist eine Entsühnung des ganzen Volkes, welche jährlich zweimal, am letzten Juni und am letzten Dezember, in allen öffentlichen Shintotempeln des Landes in Anwesenheit der Bezirks- beamten vorgenommen wird. Eine Gemeinde ist dabei nicht anwesend, das Volk hat nichts damit zu thun, und von einer μετάνοια, von Buße und Besserung, ist darum keine Rede dabei. Die Entsühnung findet statt für alle Übertretungen wider den Reisbau, für alle Arten von Verunreinigungen einschließlich ekelhafter Krankheit wie Aussatz, für Körperverletzung und Leichen- 14 schändung, für Blutschande und Sodomiterei, für Tötung fremder Tiere und Behexung, also für Sünden, die mit leiblicher Befleckung enge Berührung haben. Die feineren, aber nicht minder verderblichen Sünden bleiben uner- wähnt. Als ein wahrhaft klassisches Beispiel japa- nischer Höflichkeit darf es bezeichnet werden, daß in dem dabei verlesenen Gebet dem Volke diese Sünden nicht geradehin auf den Kopf zugesagt werden, sondern daß von ihnen als von „wohl nur durch Achtlosigkeit begangenen Sünden“ geredet wird Man vergleiche dazu auch die von A. B. Mitford ( „Tales of Old Japan“ ) mitgeteilten buddhistischen Predigten, wo der Prediger auch in vollendeter Höflichkeit, aber mit feiner Ironie sagt: „Ich will damit nicht gesagt haben, daß es solche schlechte Leute auch hier unter euch giebt; aber dennoch findet man viele derselben z. B. in den Winkelgassen von China und Indien“. . Außer dem „O harai“ sind es noch einige wenige Feste, die in den Tempeln nach einer kaiserlichen Verordnung modernen Datums zu feiern sind Vergl. Spinner: „Moderner Shintoismus“ Z. M. R. V, 1 ff. . Doch handelt es sich dabei mehr um eine bureaukratische Einrichtung als um popu- läre Religion. Ich habe mich auf Mitake vergeblich bemüht her- auszubringen, wer die Gottheit ist, die man dort ver- ehrt. Der Shintoismus hat eine Unmenge von Göttern. Das Kojiki spricht von achthundert Myriaden d. h. von acht Millionen, und da sind die bösen Götter noch nicht einmal dabei; und seit den Zeiten des Kojiki ist die Zahl noch größer geworden. Man denkt sich eben den Himmel in derselben Weise bevölkert wie die Erde. Die gewöhnlichen Götter, die selbst nur Diener der höheren sind, sind für die religiöse Verehrung belanglos. Die in Mitake verehrte Gottheit ist als eine mit der Landwirtschaft befaßte Naturgottheit gedacht, aber in unklarer Weise; ich habe im Rayon des Berges einen Schrein gefunden, der einem berühmten uralten Lokal- helden gewidmet ist, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Verehrung ursprünglich ihm gegolten hat. Später ist der Lokalhero mit einer Naturgottheit in eins zu- sammengeschmolzen. Die Umrisse der meisten Gottheiten sind schattenhaft und verschwommen. Gleichwie im Volk der Name des Kaisers unbekannt ist, so daß man ihn nur mit seinem Titel „Tenn ō “ nennt, so kennt man den Gott von Mitake nur als „Kami“. Ein Priester fabelte mir vor, daß er in Gestalt eines weißen Wolfes er- scheine. Tierkultus und Tieraberglaube sind im Shin- toismus nicht wenig ausgeprägt. Der Fuchs als Bote und Diener des populären Reisgottes Inari genießt eine ganz besondere Verehrung. Mit den Zauber- künsten von Fuchs, tanuki (Viverrenhund) und Katze beschäftigt sich die Volksphantasie in hohem Grade; es knüpfen sich an sie eine Menge von Fabeln und Mär- chen, die dort vom gewöhnlichen Volk mit demselben Andachtsschauer angehört werden, wie bei uns ähnliche Geschichten von den Kindern. In Japan haben die Katzen anstatt der Schwänze nur kleine Stummel wie etwa die Ziege. Als Grund dafür ließ ich mir erzählen, daß man den Sitz der Zauberkraft der Katze hauptsächlich im Schwanz gesehen habe. Man habe ihr darum in alten Zeiten den Schwanz immer abgehauen, bis er schließlich von selbst ausblieb. Ob unsere Biologen sich damit einverstanden erklären können, weiß ich nicht. Eine unserer gefördertsten Christinnen teilte mir einst mit, daß auf Surugadai ein Fuchs eingefangen worden sei, welcher weissage; eine ihrer Freundinnen sei dort ge- wesen, ihn zu hören. Ich erklärte die Sache für Schwindel. Darauf entgegnete sie nach einigem Be- 14* sinnen: „Das mit dem Weissagen, das mag wohl Schwindel sein; aber daß es Füchse giebt, die sprechen, ist eine bekannte Thatsache“. Erst als bald darauf hinter dem Fuchs ein bauchredender Shintopriester ent- deckt wurde, kam sie von ihrem Aberglauben zurück. Besessenheit und zwar so, daß man sich von einem Fuchs, seltener von einem anderen Tier, besessen wähnt, ist eine nicht seltene Frucht solchen Aberglaubens. Dr. Bälz, deutscher Professor der Medizin an der kaiserlichen Universität zu Tokyo, hat selbst solche Fälle in Behandlung gehabt. In einem Teile von Izumo giebt es ganze Familien, die als fuchsbesessen gelten, und eheliche Verbindungen und nähere Berührungen mit ihnen werden ebenso ängstlich vermieden wie mit Aussatz behafteten Familien. Fuchs, tanuki und Katze haben die Macht, sich in Menschengestalt zu wandeln, um ihr Hexenwerk zu verrichten, während umgekehrt die bösen Geister oft die Gestalt von Tieren annehmen. Die Furcht vor diesen Zaubertieren ist daher groß im Volk. Dagegen giebt es auch einige, welche eine gute symbolische Bedeutung haben; so bedeuten Schildkröte und Kranich langes Leben. Auch die Pflanzenwelt liefert Material genug zu anmutender Symbolik, die aber auch gar leicht zum Aberglauben wird. Zweige des heiligen Sakakibaumes dürfen bei keiner shintoistischen Ritualhandlung fehlen, und bei Begräbnissen nach dem shintoistischen Ritus wird von jedem Leidtragenden unter tiefer Verneigung gegen den Toten ein Sakakizweig als Opfer niedergelegt. An Neujahr wird der Eingang in das Haus mit Bambus, dem lang aufschießenden, und mit Fichte, der immer- grünen, den Symbolen langen Lebens, geschmückt, und für ein Ehepaar, dessen Hochzeit nicht unter Bambus, Fichte und Pflaumenblüte stattgefunden hat, ist wenig Gutes zu erwarten. So stehen die japanischen Volks- sitten mit ihren oft sehr sympathischen Zügen in enger Beziehung zum Shintoismus. Schade nur, daß man aus der ganzen peinlich skrupulösen Art, mit der man sie handhabt, den Aberglauben herausmerkt. Wenn man aber in unserm Volke noch Züge eines ähnlichen Aberglaubens findet, so ist in Analogie mit Japan die Quelle davon unschwer zu entdecken: Es ist die alte heidnische Religion. Als die Urahnen des Volkes vom Festland nach Japan einwanderten, brachten sie den Shintoismus schon mit. Die Ähnlichkeit mit dem altchinesischen Animis- mus weist das zur Genüge nach. Bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, d. h. bis zum Auftreten des Buddhismus in Japan, war der Shintoismus die einzige Religion. Das Staatswesen war damals so enge mit ihm verknüpft, daß man sehr wohl von einer Theokratie sprechen kann. Das Leben des japanischen Volkes war nur die Fortsetzung des Lebens seiner gött- lichen Ahnen, ein Gott beherrschte das Volk als Mikado, Religion und Staat fielen in eins zusammen. Sobald aber der Buddhismus Ernst machte, war es mit der Herrlichkeit des Shinto vorbei; der öde Kult war dieser Macht mit ihrer äußeren Pracht, ihrem religiösen Ernst und ihrer sittlichen Tiefe nicht gewachsen. Und als der neue Glaube vollends weitherzig genug war, auch die Götter des Shintoismus in sein System zu übernehmen, da nahm man vom Kaiser bis zum Bettler keinen Anstand mehr, sich dem Neuen zuzuwenden. Nun trat für den Shintoismus eine Zeit ein, da man nur noch von einem Vegetieren desselben sprechen darf. Er spaltete sich in eine Anzahl von Sekten, die einen zählen deren fünf, die andern zehn, ihre Zahl ist schwankend; aber sie bestehen heute noch, wenn auch ihre Unter- scheidungslehren dem Volk und zum großen Teil wohl auch den Priestern unbekannt sind. Nur am Hofe und in den berühmten Tempeln zu Ise und Izumo wurde der ursprüngliche Shinto noch einigermaßen bewahrt. Die meisten yashiro im Lande wurden durch buddhistische Priester bedient, die natürlich nichts Eiligeres zu thun hatten, als durch ornamentales Beiwerk und durch Ein- führung buddhistischer Ceremonien die Einfachheit des alten Kultes zu zerstören; daher findet man außer dem Tempel der Sonnengöttin Tensho Daijin in Ise und dem des Erdbeherrschers Okuninushi in Izumo bis heute kaum noch einen, der seine ursprüngliche reine Form bewahrt hätte. Auf diese Weise entstand eine Mischung des alten und des neuen Glaubens, welcher unter dem Namen Ryobu-Shinto bekannt ist. Um das Jahr 1700 aber sollte sich das Verhältnis zwischen den beiden Religionen anders gestalten. Die Zeit der freiwilligen und friedlichen Unterwerfung von Shinto nahm ein Ende, die Periode des Wiederauf- lebens des reinen Shinto brach an „Revival of Pure Shinto“ by Ernest Satow in den „Trans- actions of the Asiatic Society of Japan“, vol. III App. . Es wurde plötz- lich Mode, die altjapanischen Urkunden des Kojiki, Nihongi ꝛc. zu studieren, und unter den Gebildeten brach eine förmliche Begeisterung aus für alles, was altjapanisch hieß. Die großen Gelehrten Motoori in der zweiten Hälfte des achtzehnten und Hirata in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die be- rühmten Kommentatoren des Shintoismus, verhalfen der Bewegung vollends zum Sieg. Der Shintoismus als nationales Element konnte dabei nur gewinnen, der Buddhismus als fremde Religion nur verlieren. Die Bewegung blieb natürlich keine rein religiöse und litterarische; infolge der Verbindung des Shintoismus mit dem Kaiserhaus nahm sie bald einen politischen Charakter an und wendete sich gegen das kaiserfeind- liche Shogunat, welches den Buddhismus auf Kosten des Shinto in jeder Weise begünstigt hatte. „Der Sohn des Himmels“, der Mikado, wider den Shogun, das wurde die Losung des Tages, die Losung, welche in der Restauration von 1868 den Sieg errang. Nun wurde der Shintoismus alleinige Staatsreligion, und eine Art Ministerium für geistliche Angelegenheiten (Ky ō bush ō ) wurde für ihn eingerichtet. Eine Anzahl buddhistischer tera wurden in miya verwandelt, die Ryobu-Shintotempel wurden von allem buddhistischen Beiwerk „gereinigt“, wobei wahre Prachtstücke japanischer Architektur und Ornamentik zu Grunde gingen. Ein neues Ceremoniell für feierlich zu begehende Feste ( matsuri ) wurde herausgegeben, und damals war es auch, wo die Bestimmung getroffen wurde, daß das große O harai, welches zuvor unregelmäßig stattgefunden hatte, zweimal im Jahr unter staatlicher Aufsicht vor- genommen werden müsse. Es waren rein äußere Stützen, wie sie in der Amtsstube fabriziert werden, womit man dem greisenhaften System wieder auf die Beine helfen wollte; von religiöser und sittlicher Reform war da- gegen wenig und nichts bemerkbar. Unter dem Hochdruck der Staatsgunst schien der Shintoismus in der That eine Zeitlang das Feld zu behalten. In Wirklichkeit aber war das nur trügerischer Schein. Zwar der Staatsshintoismus besteht noch, wenn auch nicht mehr als Staatsreligion, und wenn auch das geistliche Ministerium in Wegfall gekommen ist und nur noch wenige Tempel aus Staatsmitteln unterhalten werden. Aber die eigentliche Volksreligion blieb der im Volk gewurzelte Buddhismus, neben welchem man dem Shintoismus insoweit huldigt, wie das bei der Darstellung des volkstümlichen Shintoismus beschrieben wurde. Neuerdings ist dem Shintoismus noch einmal eine Chance geworden und zwar nicht von staatlicher, sondern von ethischer Seite. Der Kampf wider das Christentum nötigt die alten Mächte zum Zusammengehen, und selbst alte aufgeklärte Konfuzianisten sehen keine andere Mög- lichkeit des Sieges, als daß sie sich mit dem früher verachteten shintoistischen Aberglauben verbinden. In einem sogen. „Neushintoismus“ soll die Verehrung der alten Götter wieder aufleben, und damit die neue Religion auch inneren Halt und Gehalt besitzt, so wird ihr die altjapanische Tugendlehre auf dem Grunde der Pietät und Loyalität eingefügt. Die Idee hat großen Anklang gefunden. Bei einem Feste, welches vor Jahresfrist unter dieser Parole bei den Isetempeln stattfand, sollen eine Viertelmillion Menschen aus allen Teilen des Landes zugegen gewesen sein. Gleichwohl ist es ein Verzweif- lungsakt, und die ihn in Scene gesetzt haben, glauben selbst nicht an die Shintogötter. Die altjapanische Bewegung mag dadurch für eine Weile gestärkt werden, der Shintoismus wird dabei nicht wieder lebendig gemacht; er wird sterben, ob er auch in einzelnen Äuße- rungen seines Aberglaubens noch die Jahrhunderte überdauern wird. VIII. Der Buddhismus. W enige Meilen südwestlich von Yokohama liegt Kamakura. Im Mittelalter war es die blühende Resi- denz der Shogune, deren Einwohnerzahl auf über eine Million geschätzt wurde, heute ist es ein elendes Fischer- dorf. Unter den wenigen Zeugen einer längst ent- schwundenen Pracht befindet sich eine Riesenstatue des Buddha Buddha = der Erkennende; Sakiyamuni = der Weise aus dem Geschlecht der Sakiya; Gautama = der Entsagende. . Dieselbe wurde um das Jahr 1250 aus Kupferbronze gefertigt. Mehr als einmal bin ich in ihrem Innern in die Höhe gestiegen und habe durch das Auge des erleuchteten Weisen hinausgeschaut in die Weite. Eines Tages kam ich mit einem deutschen theologisch- belletristischen Schriftsteller dahin, um ihm den Daibutsu ( dai = groß, Butsu = Buddha) von Kamakura zu zeigen. Am Eingang des Tempelgrundes ist eine Tafel angebracht, auf welcher in englischer Sprache geschrieben steht: „Fremdling, mit Ehrfurcht betrete diesen Ort!“ Gerade als wir an dieser Tafel vorübergingen, kam uns der Daibutsu zu Gesicht. Mein Begleiter hatte bei seinem Anblick nichts Eiligeres zu thun als auszurufen: „Welch ein Scheusal!“ Nun ist der Daibutsu für unsern Geschmack allerdings nicht das Ideal der Schönheit; aber die Worte wirkten doch verletzend, und als un- mittelbar darauf eine Herde von Wagenziehern auf uns losstürmte und unter den Zeichen ausgelassenster Freude meinen Begleiter mit einem lauten „Daibutsu, Daibutsu“ begrüßten, konnte ich mich eines kleinen Lächelns der Genugthuung nicht erwehren. Der Landsmann schaute mich fragend an, aber ich konnte ihm doch nicht wohl verraten, daß „Daibutsu“ nicht nur „Großer Buddha“, sondern auch „großes Ding“ bedeute und als eine nicht sehr respektvolle Bezeichnung für „stattliche“ Leute ge- braucht werde. Die Kuli hatten sich kindisch gefreut, wieder einmal eine gute Gelegenheit zu einem ihrer so sehr beliebten Wortspiele zu haben. Bei diesem Besuch wollte es mir nicht gelingen, in Stimmung zu kommen. Ich hatte schon manchmal dort gestanden, aber mit anderen Gefühlen als mit denen des Abscheus. Die unendliche Sanftmut und die wahrhaft erschütternde Resignation in diesem ruhigen, leidenschaftslosen, frauenhaft weichen Angesicht war nie ohne Eindruck auf mich geblieben, und immer wieder ging mir’s dabei wie die unsagbar traurige Weise eines melancholischen Klageliedes durch den Sinn: „Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen, Sei nicht in Leid darüber; es ist nichts. Und hast du einer Welt Besitz gewonnen, Sei nicht erfreut darüber; es ist nichts. Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen; Geh an der Welt vorüber; es ist nichts“. Niemals habe ich mich dort erbaut und gehoben gefühlt wie in einer christlichen Kirche, wehmütig be- wegt ging ich jedesmal davon, und doch zog es mich immer wieder hin. Befriedigt war ich nie, denn das habe ich stets deutlich empfunden: „Diese stumme Resignation ist nur ein Scheinfriede; das kann das Ende nicht sein!“; und gerade aus dieser hoffnungslosen Entsagung tönte mir lauter als aus den leidenschaft- lichsten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf entgegen: „Ich elender Mensch, wer wird mich erretten von dem Leibe dieses Todes?“ Es ist kein Heiland, der da herabschaut; denn sein zur Erde gesenktes Auge hat keinen Blick für den Himmel und sein streng ge- schlossener Mund öffnet sich nicht zu dem Siegesruf: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ Aber es ist ein Mensch, der den Jammer der Welt, das Elend der leidenden Menschheit in weichem, warmen Herzen wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es ist die Majestät des Leidens, die in ihm verkörpert ist, es ist der Apostel der Entsagung, den wir da vor uns haben. Dieselben Töne, welche der Prediger Salomos in mächtig ergreifenden Akkorden anschlägt und die im Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton seiner Verkündigung. Leben ist Leiden, lehrt der indische Weise, und wer vom Leiden befreit sein will, muß auf das Leben verzichten. Die Phänomena des Daseins, das Sein und Werden der Welt sind nicht Wahrheit, son- dern Schein. Alle Freuden und Genüsse des Lebens sind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be- friedigen will noch kann, vielmehr den unglückseligen Menschen, der wahnumfangen sich ihr hingiebt, in das Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entsagen die Kraft hat, wer den Schleier der trügerischen „Maya“ (Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt — das Nichts, das doch mehr ist als das Nichts. Wer am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das Hoffen, sondern das Entsagen, nicht das Wünschen, son- dern das Stillsichbescheiden, nicht das Thun, sondern das Lassen, nicht das Streben und Kämpfen, sondern das sinnende Sichversenken, mit einem Wort: Die Ertötung der „Begierde“ im Menschen ist es, was selig macht. Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem Leben abgeschlossen hat, dem können Welt und Leben nichts mehr anhaben, er ist über sie erhaben, er hat den Frieden. Wem aber das eigene „ich“ noch etwas wert ist, der bleibt zu seinem eigenen Fluch gebannt an dieses „ich“, und ob er auch stürbe, so kann die Seele doch nicht sterben, weil sie nicht sterben will; sie geht in einen andern Körper über, sei es eines Menschen, sei es eines Tieres, sei es gar noch eines niedrigeren Wesens. Erst wer in einer langen Reihe von Seelen- wanderungen gelernt hat, die Eigenlust und Selbstsucht des „ich“ zurückzudämmen und zu vernichten, der soll wie der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgensonne aufgesogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich der ewigen Ruhe. Zwischen dem Kagayashiki, dem Gehöfte der kaiser- lichen Universität, und dem Uenopark, in welchem der prächtige Tempel des Gongensama, des vergöttlichten Iyeyasu steht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge- nannt. Derselbe ist über und über mit Lotusblättern besät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages Lärm und Geräusch noch nicht laut geworden ist, an diesen Teich kommt und sieht die breiten Blätter der heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten Wasser liegen, dann überkommt die empfindende Seele wohl selbst ein Zustand wie eines wunschlosen Friedens, dann versteht sie, was Nirwana bedeuten soll: Es ist weder Leben noch Tod, es ist ein dämmerndes Träumen, das melancholische Vergessen des Grabes und das süße Glück des im Schlafe lächelnden Kindes. Wer es ge- sehen hat, weiß, daß der Buddhismus kein treffenderes Symbol seines Nirwana finden konnte, als das ruhende Lotusblatt auf dem unbewegten Gewässer. Buddha kennt weder Gott noch Erlöser. Da ist niemand, der dem armen Menschen beisteht, zum Nir- wana kommt er nur aus eigner Kraft. Daß er es aber vermag, das hat Buddha an seinem eigenen Beispiel gezeigt. Er, der doch auch nichts war als ein Sterb- licher, und der durch nicht weniger als fünfhundert fünfzig Transmigrationen hindurch gegangen war, ehe er in das Nirwana einging, ist Wegweiser für seine Nachfolger geworden. Die Moral des Buddhismus ist entsprechend der ganzen Lehre eine negative. Das mosaische „du sollst nicht“ charakterisiert auch diese Sittenlehre, und das Grundgebot lautet: „Du sollst deiner ‚Begierde‘ nicht nachgeben“. Dieses Gebot wurde spezialisiert in die fünf sogen. Hauptgebote: 1. Du sollst nicht stehlen; 2. du sollst nicht lügen; 3. du sollst nicht unmäßig sein; 4. du sollst nicht töten; 5. du sollst nicht ehebrechen. Aber auf dieser breiten Grundlage schuf der Buddhis- mus später ein dem milden Geiste seines Stifters ent- sprechendes hochstehendes Moralsystem, und es muß ihm zum Ruhm nachgesagt werden, daß er nicht nur die groben Sünden strenge verbot, sondern auch großes Gewicht auf die Bekämpfung der feineren Sünden wie Stolz, Trotz, Ungeduld, Zorn, Neid, Habsucht legte. Die Wiedergeburt soll die genaue Frucht der vorher- gehenden Thaten sein. „Was der Mensch säet, das wird er ernten“, das ist das Gesetz, das mit unerbitt- licher, durch keine Gnade gemilderter Strenge durch die sittliche Welt hindurchgeht und Sünde und Strafe wie Ursache und Wirkung in regelrechter Folge miteinander unlöslich verkettet. Aus Gutem wird Gutes geboren und aus Bösem Böses; der Bettler, der gute Thaten gethan, kann als Fürst wiederum das Licht der Welt erblicken, während der grausame Machthaber über Mil- lionen in einem neuen Dasein als ein gehetztes Wild des Feldes die Schuld seiner früheren Sünden bezahlt. Daß auch ein Christ für diese Lehren Sympathie haben kann, ist begreiflich; denn das warme Herz und der sittliche Ernst in ihnen sind unverkennbar. Daß man sich aber auch für den modernen Buddhismus erwärmen kann, oder daß gar Christen zu ihm über- treten, wie es in einigen wenigen Fällen vorgekommen ist, ist unverständlich; denn es ist ein System des Hum- bugs, dem sie sich gesellen. In Japan ganz und gar so. In dem modernen japanischen Buddhismus ist die soeben geschilderte Lehre nur noch dunkel erkennbar. Der Japaner hätte auch nach seiner ganzen Veranlagung schwerlich etwas damit anzufangen gewußt. An Stelle des ursprünglichen Atheismus trat ein ganzes Heer von Göttern und Götzen; der anfängliche Pessimismus ist einem dem alltäglichen Leben angepaßten vulgären Optimismus gewichen; die Sittenlehre ist zwar nicht ohne veredelnde Wirkung auf das Volk geblieben, ist aber gegenüber der konfuzianischen Moral nie recht zur Geltung ge- kommen; die Lehre von der Seelenwanderung wurde zwar theoretisch beibehalten, ist aber praktisch nicht von sehr großer Bedeutung; das nebelhafte, verschwommene Nirwana wurde durch einen greifbaren Himmel mit Amida Buddha als König ersetzt, während in der neu geschaffenen Hölle der gefürchtete Emma-sama (der Brahmagott Yama ) als strenger Richter die Bösen quält. Doch sind auch durch Himmel und Hölle die Gedanken an das eigene zukünftige Leben bei den Japanern nicht besonders geweckt worden. Der Bud- dhismus, der seiner ganzen Lehre nach ursprünglich eine tiefsinnige Philosophie war, ist somit im höchsten Grade vulgär geworden, und so gerade paßte er den Japanern. Aber es ist doch nicht etwa so, als hätten ihn die Japaner allein gerade für sich so zugemodelt. Zwar die letzte Politur haben sie diesem exoterischen Bud- dhismus gegeben; aber echt hatten sie die Lehre Saki- yamunis schon seit alten Zeiten nicht besessen, und nur wenige Auserwählte haben etwas darum gewußt. Als der Buddhismus etwa um dieselbe Zeit, wo Paulus das Christentum über die Grenzen Palästinas hinaus- trug, durch eine chinesische Gesandtschaft aus Indien nach China kam, hatte er schon viel von seinem eigent- lichen Wesen eingebüßt, und in den folgenden Jahr- hunderten thaten die Chinesen das ihrige dazu, um ihn vollends zu entstellen. So kam er schließlich nach Japan. Es war im Jahre 551 n. Chr., als der König von Kudara, einer der drei Provinzen Koreas, dem Kaiser Kimmei ein Bildnis des Shaka, wie Sakiyamuni ja- panisch heißt, und einige buddhistische Bücher über- sandte. Die neue Religion soll auf Kimmei, welcher das Geschenk dankbar annahm, einen großen Eindruck gemacht haben, und er gab das Buddhabild seinem Premierminister Iname zur Aufbewahrung. Dieser stellte es in einem ihm gehörigen Hause auf und machte dieses Haus zum ersten Buddhatempel in Japan. Bald darauf aber brach eine Seuche aus, und es gelang den Feinden der neuen Religion, dem fremden Gott die Schuld daran aufzubürden. Das Bildnis wurde in das Meer geworfen und der Tempel zerstört. Das war das Ende des ersten Auftretens des Buddhismus, das so hoffnungsvoll begonnen hatte. Bald aber sollte es anders kommen. In Sh ō toku Taishi, einem der weisesten Fürsten, die je die Geschicke des Landes lenkten, erstand drei Jahrzehnte später dem Buddhismus ein mächtiger Freund und Beschützer. Im Jahre 587 erbaute er den großen Tenn ō ji zu Naniwa ( Ō saka), wo das nach der Legende auf wunderbare Weise wieder zurückgewonnene Buddhabild aufbewahrt wird bis zum heutigen Tag. Sh ō toku Taishi wird als der Vater des japanischen Buddhismus verehrt. Auf seinen Antrieb erklärte sich die Kaiserin Suiko offen für den Buddhismus, und die oberen Schichten des Volkes folgten nach. Die folgenden Kaiser blieben der neuen Religion treu, und die mächtigen Tempel in Nara, der damaligen Residenz, legen heute noch beredtes Zeugnis für ihren Glaubenseifer ab. Gelehrte wurden nach China ge- schickt, die unter buddhistischen Priestern studierten, und als eifrige Apostel Shakas kamen sie wieder. Aber noch war der Buddhismus nicht Herr im Lande. Wohl blieb seine Prachtentfaltung und die sinnliche Natur seines Gottesdienstes nicht ohne Ein- druck auf das Volk, und die Lehre von der Seelen- wanderung sowie die Herrlichkeit des buddhistischen Himmels gaben der Einbildungskraft desselben reiche Anregung; aber es widerstrebte ihm doch, seinen alten Göttern einfach den Abschied zu geben. In diesem Widerstreit fand der fromme Buddhapriester K ū kai, bekannter unter seinem posthumen Ehrennamen K ō b ō Daishi, der nicht lange zuvor aus China zurückgekehrt war, eine treffliche Auskunft, dieselbe Auskunft, welche der Buddhismus schon gegenüber den Göttern des Brahma erfolgreich angewandt hatte. Er erklärte alle Shintokami für Bodhisattva d. h. für Erscheinungen des Buddha und reihte dieselben der buddhistischen Götterwelt ein. In dem heiteren Himmelsgott Amida verehrte man von nun an den populären Ojin Tenn ō , den shintoistischen Kriegsgott Hachiman, während Ama- terasu als Dainichi Riorai göttliche Verehrung fand. Nun konnte man auch als Bekenner des neuen Glaubens dem alten treu bleiben. K ō b ō Daishi, dem man auch die Erfindung der Silbenschrift Kana zuschreibt, ließ sich auf dem Koyasan ( san = Berg) in der Provinz Kii nieder, wo er ein jetzt noch berühmtes Kloster erbaute. Er ist der Begründer der einflußreichen Shingonsekte, welche er aus China mit herübergebracht hatte. Die- selbe ist gegenwärtig numerisch die zweitstärkste in Japan. Gleichzeitig mit ihm war ein anderer, nicht minder bedeutender Gelehrter aus China zurückgekehrt, Saijo mit Namen. Ihm wurde auf seinen Wunsch von dem ihm wohlgewogenen Kwammon Tenn ō der Hieizan, ein Berg bei Ky ō to, zur Ansiedelung überlassen. Hier er- richtete er ein Kloster, welches in der Folge noch ebenso berüchtigt als berühmt werden sollte. Er war ein Anhänger der chinesischen Tendaisekte, welche durch ihn auf japanischen Boden verpflanzt für die nächsten Jahr- hunderte die Führung des Buddhismus im Lande übernahm. Durch K ō b ō Daishi und Saij ō war der Sieg des Buddhismus in Japan vollendet worden, ohne daß es irgend welches besonderen Kampfes bedurft hätte. Seit der Zeit, d. h. seit dem Anfang des 9. Jahrhunderts, hatten die sog. acht Sekten des Buddhismus („Hassh ū “), welche sämtlich aus China herübergekommen waren, 15 festen Fuß im Lande gefaßt Ihre Namen sind: Sanron, H ō sh ō , Kegon, Ritsu, Jojitsu, Gusha, Shingon und Tendai. Die beiden letztgenannten sind die einzig überlebenden. . Nun aber sollte es sich auch hier zeigen, daß nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Die folgenden Jahr- hunderte sahen keine Gelehrten wie K ū kai und Saij ō . Wie in der Christenheit nach Konstantin, so erwiesen sich auch hier Verwilderung und Verweichlichung als die Feinde echten religiösen Lebens. Bigotte Kaiser und Fürsten begünstigten den neuen Emporkömmling, bis ihnen derselbe über die Köpfe wuchs. Die prächtigen Pagoden, Tempel und Glocken von Ky ō to, welche bis zu dem heutigen Tage die ganze Stadt zu einem einzigen großartigen Monument des Buddhismus machen, sind in jener Zeit entstanden. Die Priester waren bald nicht mehr zufrieden, dem Volke den Weg zum Himmel zu weisen, auch auf der Erde, im weltlichen Staat, wollten sie eine Rolle spielen. Die Geschichte des Christentums wiederholte sich hier. Wie die streitbaren Mönche von Theben die Straßen von Alexandria unsicher machten und die Regierung des Landes nach ihrem Willen zu lenken suchten, so wimmelte es auf den Straßen von Ky ō to bald von den derbfäustigen Bonzen des Hieizan. Das Mönchtum fing an, ein Staat im Staate zu werden, und die Sachlage wird trefflich gekennzeichnet durch den Ausspruch eines der damaligen Kaiser: „Zwei Dinge sind außer dem Bereich meiner Macht: Das Wasser des Kamo und die Bergbonzen“. Erst gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts kam wieder ein frischer Hauch in das religiöse Leben. Yoritomo gelang es, die weltlichen Gelüste der Priester einzudämmen und ihr Interesse für Religion und Wissen wieder wachzurufen. Das Erscheinen einer Reihe be- deutender Lehrer, gleich ausgezeichnet durch Gelehrsam- keit und Glaubenseifer, war die Folge. Es geschieht mit einem gewissen Recht, wenn man das dreizehnte Jahrhundert das Reformationszeitalter des japanischen Buddhismus nennt. Die gänzliche Veräußerlichung des Kultus veran- laßte die Nachfolger Yoritomos, die Shogune der H ō j ō dynastie, um die Wende des zwölften und drei- zehnten Jahrhunderts die Zensekte aus China einzu- führen. Die Zensekte ist die eigentlich philosophische Sekte des Buddhismus, die mit ihrer scharfen Be- tonung der Meditation sich der ursprünglichen Lehre des Weisen am nächsten zu stellen sucht und im strikten Gegensatz gegen das Ceremonienwesen der übrigen Sekten steht. Es ist der Zensekte gelungen, sich bedeutenden Boden zu verschaffen, wenngleich es mit ihrem esote- rischen Charakter heute nicht mehr so weit her ist. Die Zensekte war die letzte, welche nicht auf japanischem Boden erwachsen war. Gleichzeitig mit ihrer Einführung begannen sich auch in der einheimischen Priesterschaft selbst originale Gedanken geltend zu machen — das erste und das letzemal in der Ge- schichte des japanischen Buddhismus. Um das Jahr 1207 gründete der Priester Genku, mit seinem posthumen Heiligennamen H ō nen genannt, die Sekte J ō d ō („Reines Land“). Seine Hauptlehre ist, daß der Weg zum „reinen Land“ das Anrufen des Buddhanamens sei. Sie wird darum auch Nen-Butsu, die Sekte der Buddha- anrufung, genannt. Die Formel „Namu Amida Butsu“, „ich vertraue auf Amida Butsu“, wurde von H ō nen seinen Gläubigen gegeben. Man war aber mit dem bloßen Aussprechen der Formel nicht zufrieden; man sang die- 15* selbe in flehenden Tönen, klingelte dazu mit Handschellen und begleitete diese Gebetsceremonie oft mit Tanz. Durch die Anrufungsformel hat die J ō d ō sekte dem religiösen Leben ein ganz neues Moment eingefügt, das ihm bis heute im höchsten Grade verblieben ist. Die Gebetsformel geht dem modernen Buddhisten über alles. Wo immer er anbetet, im Tempel, vor dem hotoke, gebraucht er seine Formel. Sie ist ihm wie ein Zauberspruch, der auch verschlossene Thüren öffnet und das Herz des hotoke in Wohlwollen ihm zuneigt. Sie ist in Wirklichkeit das einzige Gebet der meisten Be- kenner des Buddhismus, deren ganzes Gebetsleben in dem Hersagen des Zauberspruches aufgeht. Die Gebetsformel hat eine allgemeine Verbreitung erlangt durch die Shin- oder Montosekte, eine Tochter der J ō d ō , die aber ihre Mutter bald überragte und bis zum heutigen Tag an Einfluß und Zahl ihrer Bekenner unbestritten den ersten Platz behauptet. Ihr Begründer ist H ō nens größerer Schüler Shinran. Die Shin-sh ū ( shū -Sekte) hat man den protestantischen Zweig des japanischen Buddhismus genannt. Nicht ohne ein ge- wisses Recht. Wie Luther, so verwarf auch Shinran die äußeren Werke wie Fasten, Wallfahrten und Re- liquienverehrung. Er widersprach dem Mönchtum und der Ehelosigkeit der Priester. Er verheiratete sich selbst und den Priestern seiner Sekte ist es gestattet, dasselbe zu thun. Verwirft er auch die Meditation, so hat er doch seiner Sekte philosophische Neigungen eingeimpft. Mehr aber noch hat er versucht, aus dem Schutt eines veräußerlichten Rituals die hochstehende Sittenlehre seiner Religion hervorzugraben. Aber freilich, schon mit Bezug auf die Grundlage dieser Moral stand er, der selbst den Priestern die Freude und Genüsse des Daseins gönnte und in mancher Beziehung doch auch wieder zur Verweltlichung des Buddhismus beitrug, im Gegensatz zu Shaka: Die Lehre von der Weltentsagung paßte ihm nicht. Die einfache Anrufung Amidas war auch für ihn die Hauptsache. Nicht äußeres Werk, sondern die vertrauensvolle Hingabe an Amida Butsu, dessen Anbetung von allen Göttern allein vonnöten ist, macht selig. Es klingt wie aus einer monotheistischen Erlösungsreligion heraus, wie das stammelnde Be- kenntnis der Wahrheit im Munde eines unmündigen Kindes. In der That sind heute noch gegenüber Amida die übrigen hotoke in den Tempeln der Shin-sh ū in den Hintergrund geschoben, wenn nicht gar völlig hin- ausgedrängt. Aber ein Monotheismus ist es doch nicht, nicht einmal ein Henotheismus, in dem Bewußtsein der modernen Shinsh ū leute noch weniger als in dem des Stifters. Der gewöhnliche Shinsh ū gläubige zollt gern auch anderen hotoke seine Verehrung, und das äußerliche Ritual, das Shinran bekämpfte, hat auch über ihn wieder volle Gewalt. Die Priester sind sich der Sekten- unterschiede mehr oder weniger bewußt, aber von dem Volke gilt das nur in sehr bescheidenem Maße. Noch vorsichtiger als mit Bezug auf den angeblichen Monotheismus der Shinsh ū gilt es ihrem „evangelischen“ Charakter gegenüber zu sein. Die vertrauensvolle Hin- gabe an Amida fällt dem gemeinen Volk — inwieweit es wohl auch bei dem Stifter der Fall gewesen sein mag? — zusammen mit dem Spruch: „Namu Amida Butsu“, „ich vertraue auf Amida Buddha“, und als eine Art Zauberspruch gebraucht und in der Regel in vielfacher Wiederholung hintereinander gesprochen, wird diese ganze „vertrauensvolle Hingabe“ schließlich zum äußerlichen Lippenwerk und Zauberwahn. Kluge Shin- priester sagen, man brauche ihnen den evangelisch-pro- testantischen Glauben nicht mehr zu bringen, sie be- säßen denselben schon; aber klarer als alle theoretischen Erörterungen beweist ein Blick auf das praktische religiöse Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen- teil der Fall ist. Immerhin bleibt die Shinsh ū , in welcher der Geist ihres Gründers doch noch nicht ganz erstorben ist, die sympathischste der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues Gegenstück bildet die Nichirensekte, auch Hokke genannt. Ihr Gründer Rench ō oder, wie sein Heiligennamen lautet, Nichiren, ist ein jüngerer Zeitgenosse Shinrans. Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der Religiosität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob sie sich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be- fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge- funden, daß nicht „Namu Amida Butsu“ die rechte Formel sei, sondern eine andere, die er in einem bis dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: „Namu myō hōren gekyō“ („Ich vertraue auf die Sutra vom geheimnisvollen Gesetz des weißen Lotus“). In diesen Worten ist das Heil beschlossen; nur durch sie kommt man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern der andern Sekten; sie müssen samt ihren Meistern zur Hölle fahren. Es ist der Geist eines fanatischen Glaubens- eifers und einer starren Orthodoxie, der Nichiren beseelt. Niemals und nirgends in der Geschichte des Buddhismus ist der Buchstabe so betont worden, wie von ihm. Un- duldsam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf seine Fahne geschrieben. Seine Schüler haben unter Trommel- wirbel und mit der Gebetsformel als Schlachtruf die Tempel anderer Sekten erstürmt und dem Erdboden gleichgemacht; ja, selbst vor Mordthaten schreckten sie nicht zurück. Der Feldherr Kato Kyomasa, der um das Jahr 1600 mit brennendem Eifer und beispielloser Grausamkeit den Vernichtungskampf gegen das Christen- tum führte, gehörte dieser Sekte an. Der Geist, mit welcher ihr Stifter sie erfüllte, ist dieser Sekte treu ge- glieben bis zum heutigen Tag, und erst der Kampf gegen den gemeinsamen Feind, das Christentum, konnte sie bewegen, ihrer verhaßten Rivalin Shinshu die Hand zum Bunde zu reichen. Nichiren ist die ausgeprägteste religiöse Persönlichkeit, welche Japan hervorgebracht hat. Hundertmal war er in Lebensgefahr, einmal befand sich sein Kopf schon unter dem Beil des Henkers, und nur durch ein Wunder, so erzählt die Legende, wurde er gerettet. Aber nichts konnte ihn bewegen, vom Kampfe abzustehen. Mit Nichiren hatte die religiöse Bewegung ihren Höhepunkt erreicht Mit Nichiren war die Sektenbildung abgeschlossen, nach- dem sie kaum fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte. Was weiter entstand, sind nur unselbständige Zweige der Hauptstämme. Um diese noch einmal aufzuzählen, und zwar nicht sowohl nach der Zahl ihrer Tempel als nach ihrem wirklichen Einfluß auf das Volk, so haben wir: 1. Shin, 2. Nichiren, 3. Zen, 4. Jodo, 5. Shingon, 6. Tendai. Shingon, Tendai und Zen kamen aus China, Jodo, Shin und Nichiren sind japanischen Ursprungs. , aber nicht um nun langsam wieder herabzusinken, sondern um mit einem Schlage zum Still- stand zu kommen. Eben noch feurige Glut und im nächsten Augenblick erstarrte Lava. Dieselbe impulsive Art, die sich so manchmal in der japanischen Geschichte offenbart und die sich in dem einzelnen Japaner mikro- kosmisch widerspiegelt, finden wir auch hier. Die Folgezeit, welche wieder an die früheren Zustände an- knüpfte, war der Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts nicht würdig. Der Buddhismus entwickelte keine be- sondere Kraft, und als in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Jesuiten ihren Einzug hielten, waren die geistigen Waffen der Bonzen stumpf und wirkungslos geworden. In dieser Ohnmacht des Buddhismus hat man einen wichtigen Grund der raschen Ausbreitung des jesuitischen Christentums zu suchen. Aber wenn auch die Mönche geistige Waffen nicht besaßen, so führten sie doch das weltliche Schwert nach wie vor. Wie ehedem, so machten sie auch jetzt wieder den welt- lichen Herrschern zu schaffen, und als sich die Mönche des Hieizan mit Nobunagas Feinden wider diesen ver- bündeten, nahm Nobunaga das als eine willkommene Gelegenheit, gründlich mit ihnen aufzuräumen. Er überfiel sie, und Tausende sollen in einem furchtbaren Blutbad ihr Leben verloren haben. Seitdem war ihre politische Macht gebrochen, und die gewaltige Faust des Iyeyasu, die sich erdrückend auf das Christentum legte, sorgte dafür, daß auch das Mönchtum nicht wieder weltliche Gelüste anwandelten. Auch die Sphäre der höheren Bildung entzog er dem- selben, doch setzte er es voll in seine religiösen Rechte ein und erwies sich mitsamt seinen Nachfolgern als treuer Sohn und Beschützer des Buddhismus. Die Tokugawa bekannten sich zu der Jodosekte, welche unter ihnen ihre höchste Blüte erreichte. Inzwischen hatte mit dem Wiederaufbau des reinen Shinto die Reaktion gegen den Buddhismus eingesetzt und gerade seine Beziehungen zum Shogunat sollten ihm zum Verderben werden. Die wuchtigen Schläge, unter denen der Shogunenthron im Jahre 1868 zu- sammenbrach, trafen auch dessen getreuen Bundesgenossen und Schützling. Dem Buddhismus wurde der Charakter einer Staatsreligion genommen, die öffentlichen Unter- stützungen wurden ihm entzogen, eine große Anzahl von Tempeln geraubt, und ein beträchtlicher Teil seiner Güter verstaatlicht. Die Religion des Buddhismus ist Privatsache geworden, und kein Julianus der Zukunft könnte das je wieder verändern. Von einer Lehrentwicklung ist in der ganzen langen Geschichte des japanischen Buddhismus, mit einziger Ausnahme des 13. Jahrhunderts, nichts zu finden. Man hat es hier zu aller Zeit mit einem Buddhismus der Praxis, nicht aber der lehrhaften Theorie zu thun. Manchmal, wenn eine Gesellschaft von Europäern bei- sammen saß — gebildete Japaner sind überhaupt über derartige Dinge erhaben —, kam die Rede darauf, was eigentlich japanischer Buddhismus sei. Niemand aber wußte eine Antwort zu geben. Man weiß, daß er als kanonisch das Mahay â na, japanisch Daij ō , das „Große Vehikel“ des nordischen Buddhismus, anerkennt. Aber in Wirklichkeit giebt es, abgesehen von den wenigen und verschwommenen Unterscheidungslehren der einzelnen Sekten, keine lehrhaften Formeln, in denen sich das Wesen des praktischen Buddhismus ausdrücken ließe. Die Katechismen, die jetzt herausgegeben werden, sind nichts weiter als Täuschung; denn sie sind auf Grund von Shakas ursprünglicher Lehre verfaßt und entsprechen der gegenwärtigen Wirklichkeit keines- wegs. Einem Teil der Priester mögen diese Lehren nicht gerade unbekannt sein; würde man aber einem gutgläubigen Laien einen solchen Katechismus zeigen, er würde ihm völlig fremd sein. Theologie hat man trotz der religiösen Bewegung des 13. Jahrhunderts so gut wie gar nicht gekannt. Man hat sich nicht einmal die Mühe genommen, die Heiligen Schriften in die Landessprache zu übersetzen. Die Priester be- nutzen chinesische oder in „Bonji“, einem verballhorni- sierten Sanskrit, geschriebene Ausgaben, das Volk benutzt überhaupt keine. Ein paar nicht einmal bedeutende Interpretationen, ein paar Schriften hervorragender Reformatoren, das ist so ziemlich alles, was auf theolo- gischem Gebiet geschehen ist. Ich hatte selbst eine treffliche Gelegenheit, mich davon zu überzeugen. Eines Tages wurde mir Besuch angekündigt von D. Ernst Faber in Shanghai, gleich- falls Missionar des Allg. Ev.-Prot. Missionsvereins, der seit mehr als drei Jahrzehnten in China thätig ist und als einer der bedeutendsten Sinologen (Kenner der chinesischen Klassiker) der Gegenwart sich um die Er- forschung der chinesischen Religions- und Moralsysteme die höchsten Verdienste erworben hat. Er schrieb dabei, daß er nachforschen wolle, ob und inwieweit die Japaner den Konfuzianismus und den Buddhismus verarbeitet hätten. Ich selbst traf so gut als möglich die Vorberei- tungen, setzte mich mit den besten Kennern des Buddhismus in Verbindung, und als D. Faber kam, führte ich ihnen den- selben zu. Seine Ausbeute war aber äußerst gering. Die Japaner haben eben den Buddhismus ebenso wenig verar- beitet wie den Konfuzianismus. Wohin aber eine Religion ohne Theologie kommt, dafür haben wir in dem japa- nischen Buddhismus noch ein besseres und schlagenderes Beispiel als in dem Katholizismus Spaniens. Losgelöst von wissenschaftlicher Betrachtung, lediglich der rohen Popularisierung preisgegeben, verliert sich jede Religion notwendig in grobsinnlichen Aberglauben. Die Theologie ist die treue und selbstlose Magd, die mit der Schaufel in der Hand neben den reinen Quellen der Religion steht und den Schutt und Unrat, der in dem achtlosen Getriebe des Alltags massenhaft darauf herunterfällt, sorgsam wegschaufelt und die Quellen in krystallheller Klarheit immer aufs neue wieder bloßlegt. Bei dem Buddhismus sind diese Quellen gänzlich verschüttet, und wer das buddhistische Treiben der Gegenwart in Japan mit eigenen Augen gesehen hat, der weiß, daß jene Buddhapriester eine glückliche Stunde der Selbster- kenntnis hatten, als sie erklärten, wenn Shaka heute wieder zur Erde käme, würde er in dem heutigen Zerr- bild des Buddhismus seine Lehre nicht wieder erkennen. Wenn es schon von allen Religionen gilt, daß sie von der Höhe ihrer Stifter bedeutend herabsanken, so gilt das vielleicht von keiner so sehr wie von dem Buddhismus. Eine wahrheitsgetreue Schilderung des japanischen Buddhismus klingt geradezu lächerlich. Wenn man in einen recht populären „tera“ eintritt, wie z. B. in den Asakusatempel in Tokyo, so sieht man vor lauter Götzen- bildern keinen Tempel mehr. Da stehen sie, eines neben dem andern, eines grotesker als das andere. Im An- fang als ich hinüber kam, dachte ich idealistisch hoch auch noch vom Götzendienst. Die Heiden, so meinte ich, beten doch gewiß nicht zu dem Holz oder Stein oder Metall, daraus der Götze gefertigt ist; sie beten vielmehr den Geist an, den sie dahinter sich denken. Mir schwebte dabei dunkel etwas vor wie von der Anbetung des un- bekannten Gottes. Es hat mir leid genug gethan, als ich bald schon von dieser Ansicht zurückkommen mußte. Es ist ein ganz stumpfsinniges, gedankenloses Anbeten der Materie, das sie verrichten; an einen Geist, der da- hinter steht, denken sie nicht. Man urteilt in weiten Kreisen der Christenheit ziemlich harmlos über den Götzendienst. „Laßt sie doch; es schadet ja nichts; die Götzen sind ja tot und können ihnen nichts Böses thun“. Ob das wirklich so ist, ob sie ihnen wirklich nichts Böses thun? Dann könnte es ja schließlich keinen so großen Unterschied machen, ob man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar zu Tage. Der tiefste Grund, aus dem heraus das innerste Wesen eines Volkes geboren wird, ist doch wohl seine Religion; und die höchsten Ziele, denen ein Volk zustrebt, werden ihm doch wohl durch seine Religion gewiesen. Wohl ist es bis zu einem gewissen Grade wahr, daß ein Volk sich seine Religion macht; aber ebenso wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach seinem inneren Wesen erst durch seine Religion gemacht wird. Ein Volk ist so wie die Religion, aus der es heraus- wächst; ein Volk wird schließlich ähnlich den Idealen, die seine Religion ihm weist. Ist eine Religion eine geistige, so wird sie allmählich das Wesen eines Menschen und Volkes vergeistigen. Wir hätten uns nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geistes- kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel einen Gott hätten, der Geist ist. Und solange ein Volk den geistigen Gott nicht kennt, solange wird ihm jeder höhere Geistesflug schwer, wenn nicht unmöglich sein. Es mag Fortschritte im Materiellen machen, aber die Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen, und auf eine hohe Stufe des Geistes wird es sich nicht erheben. Denn solange es noch zu Götzen aus Holz, Stein und Erz betet, bleibt es mit seinem ganzen Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die sinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann ein Mensch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn nicht seine Ideale im Ewigen und Unvergänglichen gewurzelt sind. Und darum sage ich: Die Götzen, die scheinbar so harmlos dumm grinsend in die Welt hineinschauen, sie sind die bösen Geister der Heiden, sie hängen sich mit ihrer ganzen materiellen Schwere an die Seelen der Heiden, daß sie den Flug nach oben nicht thun können. Die Götzen schaffen immer auf das Neue wieder die materielle Weltanschauung der Heiden und halten sie fest in geistiger Beschränktheit und sitt- licher Verkommenheit. Was kann aus einem Volke werden, dessen höchste Ideale in diesen Götzen verkörpert sind! Da erklärt sich leicht, warum die Heilige Schrift so sehr gegen den Götzendienst eifert, warum der Apostel Paulus von den Götzen nicht nur als von toten und nichtseienden (1. Kor. 8, 4), sondern auch als von Dämonen, d. h. bösen Geistern und Göttern redet (1. Kor. 10, 20). Die Götzen, wenn sie gleich schwach und armselig sind (Gal. 4, 9), sind die Urheber des ganzen geistigen Elendes der Heidenwelt und die wich- tigste Erkenntnis, die es für diese giebt, heißt: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“. Gegenüber diesem Einen sind alle äußeren Ge- brechen des Heidentums, wie die Witwenverbrennungen in Indien, die Kinderaussetzung in China und selbst der Kannibalismus der Südseeinsulaner, nur Neben- sachen. Sie sind nur die Folgen der Götzenverehrung, und wenn sie auch zu ihrer Zeit treffliche Illustrationen abgeben, so ist doch nicht auf sie, sondern auf die geistige Not des Götzendienstes das Hauptgewicht zu legen. Es ist eine Erfahrung, die durch die Urteile vieler und nicht der schlechtesten Laien bestätigt wird, daß gerade die Missionskreise in dieser Beziehung manches gefehlt haben. Man konnte sich in grobsinnlicher, massiver, nicht selten auch übertriebener Ausmalung heidnischer Greuel vielfach nicht genug thun; man kommt damit dem Sinnenkitzel und Gruselbedürfnis der niedrigen Instinkte entgegen, aber den feineren Geschmack und die besseren Empfindungen stößt man ab. Unter den Tausenden von buddhistischen Göttern ist am schlechtesten eigentlich Buddha selbst weggekommen. Zwar hat man es nicht unterlassen können, ihn, den Atheisten, der von keiner Gottheit wissen wollte, theo- retisch zu dem obersten der Götter zu erheben, aber praktisch ist er so gut wie zur Ruhe gesetzt. Ihm ist es gegangen wie unserm Herrgott bei einem Teil seines christlichen Volkes. Den großen Gott im Himmel droben, der so unendlich heilig und erhaben über der sündigen Welt thront, konnte man nicht begreifen und erfassen, man fühlte sich ihm fremd und fern, und gern ist man etwas tiefer herabgestiegen zu solchen, die der Menschheit näher stehen, zu der freundlichen Himmels- königin Maria und zu den Heiligen. So war auch der „Erleuchtete“ dem Volke zu hoch, man konnte ihn nicht verstehen, und so hält man sich denn lieber an Götter gewöhnlicheren Schlags. In dem Vordergrund steht der freundliche Himmels- könig Amida, der nach chinesischem Vorbild auch in Japan ganz die Stelle Buddhas eingenommen hat. Keine Gebetsformel wird so oft gesprochen als die: „Namu Amida Butsu“. Die eigentlichen Penaten oder Hausgötter sind die sieben Glücksgötter, nämlich die Götter des Ruhms, der Liebe, der Gescheitheit, des Reichtums, der Nahrungsmittel, der Zufriedenheit und des langen Lebens. Besonders beliebt sind, dem Ge- schmack der Menge entsprechend, Daikoku, der Gott des Reichtums mit einem vollgefüllten Sack auf dem Rücken, und Ebisu, der Gott der Nahrungsmittel, mit einem Fisch auf dem Arm; das Geld und der Magen spielen bei der Durchschnittsmenschheit halt doch die erste Rolle. Ihre grotesken Figuren sind in den meisten Häusern zu finden, und in den Häusern der Europäer sieht man sie vielfach unter den Nippsachen. Bei populären Tempeln sieht man schon am Ein- gangsthor zu beiden Seiten der Thüröffnung hinter einem Gitterwerk zwei große Holzfiguren, die Bildnisse riesenhafter Männer. Sie sind dargestellt wie im Kampf mit irgend einem unsichtbaren Feind, die Muskeln ihres Körpers treten straff hervor, und ihre Gesichtszüge sind verzerrt. Sie verdienen im besten Sinne des Wortes greulich genannt zu werden, und könnten eigentlich die Leute eher vom Eintritt in den Tempel abschrecken als zu demselben anlocken. Bei solchem Aussehen ist es schwer zu begreifen, wie sie zu dem schönen Namen Niō-sama, d. h. ehrwürdige Könige, kommen, und die weniger respektvolle Bezeichnung „rote und grüne Teufel“ (nach der Farbe ihres Anstrichs) erscheint zu- treffender. Nach einer gelehrten Theorie sind es die in den Buddhismus übernommenen Hindugötter Brahma und Narayana Vergl. Rein „Japan“. Reins Darstellung des japanischen Buddhismus gehört zu dem Besten, was über diesen Gegenstand geschrieben wurde. , also mit die höchsten Götter des Brah- manismus, die gegenüber der unendlichen Erhabenheit eines Buddha gerade noch für gut genug befunden wurden, um als Tempelwächter die bösen Geister abzu- wehren. Bei näherem Hinschauen bemerkt man, daß die Leiber dieser Riesen über und über mit kleinen runden Papierklümpchen bedeckt sind. Wenn nämlich jemand ein Anliegen hat, so schreibt er dasselbe auf ein Stück Papier, verkaut dieses im Munde, ballt es zu einem Klümpchen zusammen und speit es dem Ni ō an. Bleibt es hängen, so wird die Bitte erhört, fällt es aber ab, so findet sie keine Gewährung und der Bittgänger mag dann ein anderes Mittel versuchen, um zu seinem Ziele zu kommen. Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht minder gewöhnlicher Art sind, und gerade sie erfreuen sich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von Asakusa besucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf, welcher schon durch sein abgenutztes Äußere beweist, daß er in großer Gunst bei dem Volke steht. Hände und Füße und andere Körperteile des Götzen sind fast vollständig durchgescheuert, die Nase ist so sehr abge- rieben, daß sie nicht mehr nach außen, sondern nach innen sich erstreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott ist der Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte Doktor Eisenbart, die Leute kuriert nach seiner Art. Wenn nämlich jemand eine Nasenkrankheit hat oder an irgend einem anderen Glied leidet, so reibt er mit der Hand den entsprechenden Körperteil des hotoke, und der Wunderdoktor Binzuru sorgt für das Weitere. Den Ehrenplatz im Asakusatempel nimmt eine Gottheit edlerer Art ein, welche als die sympathischste Erscheinung der japanischen Götterwelt bezeichnet werden darf. Es ist die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon genannt. Von ihr wird erzählt, daß sie, als sie die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es verschmähte, in das Nirwana, den Zustand seligen Ver- gessens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen, wo sie die flehenden Bitten und Angstrufe der armen Menschen hören konnte, um ihnen beistehen zu können in ihrer Not. Sie wird zuweilen dargestellt mit meh- reren Köpfen, fast immer aber mit einer großen Anzahl, eigentlich tausend, Händen. Das sieht sich zwar sonder- bar genug an; aber es ist doch ein schöner Zug, welchen das Heidentum hier aufweist: Die Göttin der Barm- herzigkeit streckt den auf dem flutenden Ocean des Lebens treibenden Menschen tausend Hände entgegen, um sie an das rettende Ufer zu bringen. Der praktische Buddhismus geht in der Götzen- anbetung nicht auf; der ganze Apparat von Aberglauben, welcher sich an andern Orten als eine unvermeidliche Beigabe des Heidentums erweist, findet sich auch hier. Mancher, der dem Gotte seine Verehrung bezeugt hat, geht darnach zum Priester hin, um sich ein „ō fuda“ zu kaufen. Das ō fuda (fuda = Karte; ō ist Respekts- partikel) ist ein Kärtchen, auf welchem in der heiligen Bonjischrift geheimnisvolle Charaktere gemalt sind, während unten zur Beglaubigung das große Siegel des Tempels angebracht ist. Das ō fuda enthält einen Zauber, und zwar kann man einen Zauber bekommen gegen alles Mögliche und noch einiges mehr, je nach Wunsch. Das eine hilft gegen Cholera, das andere gegen die Pocken, ein drittes bringt Glück in den Haus- halt, ein anderes verhilft zu langem Leben und wieder eines bannt die gefürchteten „oni“ , die bösen Geister, vom Hause, solange es in demselben aufbewahrt wird, gleichwie nach christlichem Aberglauben der Teufel kehrt macht vor der Hausthür, auf welcher ein Kreuz ge- zeichnet ist. Es giebt große und kleine, billige und teuere ō fuda. Von den ō fuda bis zu Amuletten aller Art ist nur ein kleiner Schritt — überall und so auch hier. 16 Und wie man es auch in höher stehenden Religionen fertig gebracht hat, heiliges Wasser und heilige Erde zu verkaufen, welche für das gemeine Volk sofort zu Zaubermitteln werden, so macht man auch hier mit heiligem Wasser, heiligem Sand und anderem mehr gute Geschäfte. Besonders sind es die alten Sekten Tendai und Shingon, welche diese Auswüchse des Aber- glaubens kultivieren, und wenn es auch kaum noch einen Priester giebt, der selbst an die Zauberkraft des ō fuda glaubt, so ist doch auch hier das tröstliche Bewußtsein „pecunia non olet“ stärker als alle etwaigen Gewissens- skrupel. Immer aber sind es kleine Anliegen und alltägliche Sorgen, welche die Gläubigen auf dem Herzen haben, sowohl bei den ō fuda und Amuletten als bei der An- betung der Götzen. Daß der hotoke auch in den großen Nöten des Lebens, in der Angst des Gewissens und in der Nacht des Todes helfen könne, dazu hält man ihn entweder für unvermögend, oder aber man läßt sich von derartigen Gedanken überhaupt das Herz nicht viel be- schweren. Ist es doch eine gemeine Erfahrung, daß Leute, die auf einer niedrigen Stufe der Geisteskultur stehen, sich von den kleinen Sorgen des Daseins weit mehr bedrückt fühlen als von den großen geistigen Feinden der Menschheit. Und doch kann auch einem Heiden das Gewissen schlagen, oder, daß ich es besser sage, auch ein Heide fürchtet zuweilen, für begangenes Unrecht von der Gottheit bestraft zu werden; und da das Fegefeuer für den Heiden eine ebensowenig tröstliche Aussicht ist wie für den Katholiken, so macht er es gerade wie der Katholik zu Tetzels Zeiten: Er geht zum Priester und kauft sich ein ō fuda, diesmal einen richtigen Ablaßzettel, der gegen diese oder jene Geld- oder Gebetsleistung Ablaß der Sündenstrafe verbürgt; oder aber, wenn er noch etwas mehr thun will, ein opus supererogativum, unternimmt er eine Wallfahrt. Überhaupt ist die Ähnlichkeit zwischen modernem Buddhismus und römischem Katholizismus (der russisch- griechische übrigens nicht ausgeschlossen) eine ganz auf- fallende. Und zwar nicht nur in äußeren Dingen. Denn die Lehren von der Verehrung der Heiligen, von Himmel und Hölle, von einem künftigen Gericht, vom Fegefeuer, vom Ablaß, vom verdienstlichen Werk beziehen sich nicht auf Außendinge, sondern auf den Kern der religiösen Lehrauffassung. Freilich viel frappanter ist die Ähnlichkeit in Bezug auf Organisation und Formen. Die hierarchische Ordnung ist im Buddhismus eine ganz ähnliche wie im Katholizismus. Auch hier läßt sich von Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten und Priestern reden, und der buddhistische Bischof hat seinen Hirten- oder Krummstab so gut wie der katholische. Auch hier nimmt der Klerus eine esoterische Stellung über dem „Volk“ ein, und die besondere höhere Sittlichkeit für die Eingeweihten bezw. Geistlichen, welche der Katho- lizismus erst im Laufe der Zeit einschmuggelte, wurde von dem Buddhismus schon von Anfang an gelehrt. Auch hier ist darum der geistliche Stand auch äußerlich gekennzeichnet. Der Bonze (jap. „bōzu“ ) hat sein Priestergewand wie der katholische Geistliche, und beide Bekleidungen sehen sich noch dazu recht ähnlich. Die gewöhnliche Tracht ist von schwarzgrauer Farbe; bei feierlichen Amtshandlungen aber vertauscht man dieses einfache Kleid mit einem farbenprächtigen Gewand, welches wiederum stark an die katholische Amtstracht erinnert. Dasselbe ist je nach der Ansehnlichkeit und dem Reichtum des Tempels mitunter sehr kostbar, und 16* prächtige Seiden- und Goldstickereien sind keine Selten- heit. Es ist ein prunkvolles Schauspiel, bei hervor- ragenden Beerdigungen oder sonst einer besonderen Feierlichkeit Dutzende von Priestern bei einander zu sehen, in Gewändern eines prächtiger als das andere, und wenn in eintönig singendem Ton die Litaneien und Responsorien ertönen und die anbetenden Ver- neigungen der knieenden Priester erfolgen und die Weihrauchkessel geschwenkt werden, daß einem der eigen- tümliche und so wohlbekannte Geruch in die Nase steigt, so gehört keine übergroße Phantasie dazu, um sich in einen katholischen Gottesdienst oder in eine Ritualkirche Englands versetzt zu fühlen. Auch der Bonze hat die Tonsur, nur daß er sich nicht mit einer kleinen kahlen Stelle auf dem Hinter- haupt begnügt, sondern den ganzen Kopf glatt rasiert. Auch für den Bonzen gilt das Gebot der Ehelosigkeit — mit einziger Ausnahme der Shinsekte. Das Mönch- tum existiert hier wie dort, und hier wie dort besteht neben dem Cölibatsgelübde auch das der freiwilligen Armut. Hier wie dort leben die Mönche bald in Klöstern zusammen, bald als Einsiedler in Klausen. Bei beiden hat das Fasten eine bedeutungsvolle Stelle, und strenger Asketismus und Quietismus blüht neben Üppigkeit und Lüderlichkeit. Da sind kaum irgend welche Auswüchse, die sich nicht bei den einen genau so fänden wie bei den andern, und wenn auch nicht der welt- freundliche japanische, so hat doch der weltflüchtige in- dische Buddhismus genau dasselbe Kuriosum aufzuweisen wie das christliche Mönchtum Ägyptens: Ich meine die Styliten, jene merkwürdigen Heiligen, welche, abgeschieden von der Welt, ihr sündiges Wesen auf Säulen (Pyra- miden ꝛc.) verbüßen. Giebt es auch Nonnen in Japan nicht sehr viele, so fehlen sie doch keineswegs, und wer sich auch nur kurze Zeit im Lande aufhält, dem kann auch die eigentümliche Erscheinung der Bettelmönche nicht entgangen sein. Mit großen Hüten, die sich wie umgekehrt auf den Kopf gestülpte riesige Schüsseln aus- nehmen, in mönchischer Tracht, gehen sie, die nimmer ruhende Schelle in der Hand, von Haus zu Haus und nehmen, unter fortwährendem eintönigem Ableiern ihrer Bitte, die aus der kleinsten Kupfermünze bestehenden Gaben in Empfang, und bei keinem Hause gehen sie leer aus. Der Rosenkranz, der bei den Katholiken eine so große Rolle spielt, ist bei den Buddhisten nicht weniger im Gebrauch. Ich habe mir in Osaka in der Nähe eines tera einen Rosenkranz gekauft, welchen ein Pro- testant, der nicht ganz genau in die Geheimnisse dieser Art eingeweiht ist, nimmermehr von einem katholischen unterscheiden könnte. Vor kurzem erst erhielt ich einen „an das Pfarramt“ gerichteten Brief aus Japan. Als ich ihn öffnete, fiel mir eine Photographie entgegen, zwei knieende Japaner mit Rosenkränzen in den Händen. Ich konnte mir gar nicht erklären, wie diese frommen Buddhagläubigen dazu kamen, mich mit ihrem Bilde zu beehren. Erst als ich das Begleitschreiben las, in welchem ein „apostolischer“ Missionar davon redete, die Jungfrau Maria habe ihm offenbart, daß einige fromme Personen große Geldsummen zum Bau einer großen Kirche in der Stadt Kumamoto zu spenden gewillt seien, und daß man jetzt auf der Suche nach diesen Personen sei, erkannte ich zu meiner eigenen Überraschung, daß das ja japanische katholische Evangelisten sein sollten. Der Brief war irrtümlich an das protestantische statt an das katholische Pfarramt gekommen. Der Rosen- kranz ist hier wie dort ein Beweis, welches Gewicht auf die Quantität gelegt wird. Die Shingon- und Tendai- sekten aber ziehen von dieser Grundlage aus die letzte Konsequenz: Um es zu einer möglichst großen Menge von Gebeten zu bringen, gebrauchen sie die Gebets- maschine (rimbō) , welche im übrigen von den buddhi- stischen Sekten Japans verworfen wird. Die Reliquienverehrung ist im Buddhismus nicht minder ausgeprägt wie im Katholizismus, und es ist höchst wahrscheinlich, daß die ersten buddhistischen Tempel (Pagoden) lediglich zur Aufbewahrung von Reliquien dien- ten, bis dann allmählich das Heer der Götzen seinen Einzug in ihnen hielt. Wie der gläubige Katholik gern eine Wallfahrt unternimmt, um an den heiligen Stätten zu beten, wo die sichtbaren Erinnerungen an die Heiligen aufbewahrt werden, so giebt es auch in Japan eine Anzahl von Heiligtümern, zu welchen alljährlich Tausende und Abertausende von Pilgern Wallfahrten unternehmen, zuweilen aus den entferntesten Gegenden des Landes. Die katholischen Heiligenbilder sehen den buddhistischen und auch den hotoke, soweit sie nicht phantastisch-grotesker Art sind, nicht unähnlich. Beide haben in auffallendster Weise den Heiligenschein gemeinsam, und wer die Himmelskönigin Kwannon sieht, die sich neben dem Buddha am meisten die indischen Züge bewahrt hat, kann sich des Gedankens an das Bild der Himmels- königin Maria nicht entschlagen. Feierliche und prunk- volle Prozessionen sind dem Buddhismus nicht unbekannt, und von den Ritualgebeten der Priester versteht der buddhistische Laie genau so viel wie der katholische, nämlich nichts, weil für beide Religionen die Kirchen- sprache eine andere ist als die Landessprache. Zu suchen braucht man nicht nach Ähnlichkeiten, sie drängen sich auf Schritt und Tritt auf. Was Wunder, wenn die ersten katholischen Missionare in China ihren Sinnen nicht trauen wollten, als sie solches sahen, was Wunder, wenn der bekannte Pater Huc keine andere Erklärung dafür wußte, als daß es eine Mache des Teufels sei! Schade nur, daß sich die skeptischen Gelehrten mit dieser deus — oder vielmehr diabolus — ex machina- Erklärung nicht zufrieden geben wollen; sie brauchten sich dann nicht weiter die Köpfe zu zerbrechen. Noch ist keine Erklärung gefunden, auf welche sich die Forscher einigen könnten. Noch schwebt die Frage: Ist das Christentum abhängig vom Buddhismus? oder hat der Buddhismus vom Christentum entlehnt? oder haben sich beide gegenseitig ausgeholfen? Für das erste spricht der Umstand, daß der Buddhismus um 600 Jahre älter ist als das Christentum. Gleichwohl ist eine Abhängig- keit vom Buddhismus durchaus nicht anzunehmen. Hätten derartige intime Berührungen zwischen den beiden Religionen stattgefunden, so hätte uns das bei der umfangreichen und eingehenden christlichen Litteratur der ersten Jahrhunderte nicht unbekannt bleiben können. So aber ist von dem Buddhismus oder überhaupt einer indischen oder chinesischen Religion in den christlichen Schriften weder dem Namen noch der Sache nach irgend eine Spur zu finden. So hätte also wohl der Buddhis- mus aus dem Christentum geschöpft? Man weist darauf hin, daß nestorianische Missionare im vierten und fünften Jahrhundert nach China kamen; von ihnen könnte der Buddhismus alles das übernommen haben. Berühmte Forscher wie Eitel glauben hier die Erklärung suchen zu müssen. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob jene nestorianischen Missionare selbst schon im Besitze dieser Eigentümlichkeiten gewesen sind, und ebenso unwahr- scheinlich ist, daß der tausend Jahre alte Buddhismus bis dahin all dieser Formen bar gewesen sein soll. Es muß also eine dritte Erklärung geben. Natürlich die psychologische! Es ist gewiß zuzugeben, daß aus dem Geist der beiden Religionen und den vulgären Instinkten der religiösen Masse heraus „zufällig“ und unabhängig von einander ähnliche Formen geboren werden konnten, und wenn die Ähnlichkeit allgemeiner Natur wäre, so brauchte man nach einer andern Erklärung nicht weiter zu suchen. Wo sie sich aber so auf das einzelne und einzelnste erstreckt wie hier, genügt die psychologische Erklärung nicht. Wer mit eigenen Augen hineingeschaut hat, glaubt an die „Zufälligkeit“ der Ähnlichkeit nicht mehr; gegenüber diesen exakten Thatsachen ist ihm nur mit einer exakten d. h. geschichtlichen Erklärung gedient. Und zwar glaube ich, — ohne daß ich es freilich im einzelnen Falle beweisen könnte —, daß Buddhismus und Christentum aus den gleichen, von altersher bestehen- den Quellen geschöpft haben. Wie der jüdisch-christ- liche Himmel mitsamt der Hölle erst seit den Zeiten des babylonischen Exils unter persischem Einfluß be- völkert wurde, so mögen bei der Ausgestaltung von Himmel und Hölle im Buddhismus die gleichen Einflüsse nach Osten hin wirksam gewesen sein. Und wenn die esoterische Stellung der Priesterschaft mitsamt den Idealen des Mönchtums wohl kaum eine christliche Neuschöpfung ist, sondern schon in dem ägyptischen Heidentum vor- gebildet war, so kann ebendasselbe schon um sechshundert Jahre früher auf der durch Alexander den Großen ge- schlagenen Brücke den Weg nach Indien gefunden haben. Um also eine historische These in eine mathematische Formel zu kleiden, so meine ich, daß die beiden Größen des Buddhismus und des Christentums darum und in- soweit unter sich gleich sind, als sie dritte Größen zur gemeinsamen Grundlage haben. Wie die katholischen Kirchen so zeigen auch die buddhistischen Tempel das Bestreben, den Sinnen An- regung zu bieten. Da ist nichts von der puritanischen Einfachheit der miya, und wo die Mittel zu gediegener Prachtentfaltung fehlen — und das ist so ziemlich bei allen Dorftempeln der Fall —, sucht man sich durch Schein und Flitterwerk, durch bunte Farben und Fähnchen zu helfen. Die großen Tempel dagegen, allen voran die von Nikk ō , strotzen oft von Gold und edlem Metall, und wer die besten Stücke japanischer Kunst kennen lernen will, muß zu ihnen gehen. Teils offen vor aller Augen, teils in Schreinen findet sich hier nicht selten ein großer Reichtum an kunstvoller Bronze und Por- zellan, sowie die herrlichsten Seiden- und Goldstickereien und die feinsten Gemälde. Leider hat es in den letzten Jahrzehnten gewissenlose Priester genug gegeben, welche solche Perlen der Kunst an Europäer und Amerikaner verkauften; die bittere Not, welche seit der Säkulari- sierung bei den Bonzen eingezogen ist, hat freilich die Versuchung dazu allzu nahe gelegt. Trotz alledem sind an dem tera die Formen des miya noch klar erkennbar, nur daß diese Formen ornamentalisch ausgestaltet sind. Selbst das torii hat der Buddhismus übernommen, aber er hat aus den einfachen Balken ein stilvolles Eingangs- thor gemacht. Zwischen diesem und dem Hauptgebäude befinden sich bei jedem ansehnlicheren Tempel den Ver- bindungsweg entlang steinerne oder bronzene Laternen, die jedoch nur zum Zierrat, nicht zum praktischen Ge- brauch dienen. Außerdem stehen neben den bedeutendsten tera des Landes fünf- bis siebenstöckige Pagoden bis zu 200 Fuß hoch, die auch nichts weiter als Zierstücke sind, und die zur Seite des Tempels nur wenige Fuß über der Erde aufgehängte Glocke, welche mittels eines schwebenden Holzbalkens angeschlagen wird, zeichnet sich in der Regel durch einen wunderbar reinen und sym- pathischen Ton aus. Nicht wenige tera, und gerade die schönsten unter ihnen, werden zu gottesdienstlichen Zwecken so gut wie gar nicht gebraucht. Sie sind Weihgeschenke an die hotoke, keine Stätten der Andacht; und den großen T ō sh ō gu in Nikk ō , der dem als Gongen-sama vergött- lichten Iyeyasu geweiht ist, möchte ich eher eine Ge- dächtnishalle, denn einen Götzentempel nennen. Dagegen erfreuen sich andere tera im höchsten Grade des religiösen Zuspruchs des andächtigen Volks. Einen Sonntag oder auch sonst einen bestimmten Tag oder bestimmte Stunden zu gemeinsamer Andacht kennt der Buddhismus nicht. Der Gläubige geht zum Tempel, je nachdem er etwas auf dem Herzen hat, zu jeder Tageszeit, ja selbst bei Nacht. Bei den kleinen Tempeln, etwa auf dem Dorf, ist der Besuch spärlich; da könnte man sich stunden- lang, mitunter selbst tagelang hinstellen, ohne daß ein Beter zu sehen wäre; aber sind es auch durchschnittlich recht wenige Besucher an einem Tage, so kommen die Woche hindurch doch schließlich so viele zusammen, als am Sonntag in mancher christlichen Kirche in Deutsch- land zu sehen sind. In den populären Tempeln in den großen Städten dagegen geht es beständig aus und ein wie in einem Wirtshaus bei einer Kirchweihe. Und in der That wird man an eine Kirchweihe oder einen Jahrmarkt schon beim Näherkommen an den tera er- innert. Da sind vor dem Tempel entlang dem Zu- gangsweg eine Reihe von Kaufbuden, wo man neben Rosenkränzen, Räuchervasen, Kerzen (die man vor den Götzen als Opfer anzündet), und kultischen Gegenständen aller Art auch Kinderspielzeug und anderes mehr haben kann. Da sind Gaukler und Akrobaten, die die festliche Menge mit ihren Künsten erfreuen, uud man hat Mühe, sich durch das Getümmel hindurchzuarbeiten. Am Tempel angekommen sieht man sie eintreten, zumeist ältere Frauen. In dem Vorraum (haiden) vor dem Gitter, das sie von dem Heiligen (honden) trennt, in welchem die hotoke aufgestellt sind und die Priester im Chor ihre Gebete verrichten, an denen das Volk aber weder aktiven noch passiven Anteil nimmt, stellen oder knieen sie sich hin, in Ehrfurcht legen sie die Handflächen flach aufeinander, verneigen sich tief mit der Stirn bis zum Boden und murmeln ein paarmal ihre Gebetsformel vor sich hin. Nachdem sie noch eine kleine Weile an- dächtig den hotoke betrachtet haben, stehen sie auf, werfen eine kleine Kupfermünze in den Opferkasten, soweit sie das nicht schon zu Anfang gethan haben, und gehen davon; vielleicht um dem durch kein Gitterwerk abgeschlossenen Binzuru-sama oder einem andern Lieb- ling noch einen Besuch abzustatten, vielleicht um in das festliche Getriebe draußen zurückzukehren. Auch der ge- wöhnliche buddhistische Gottesdienst dauert nicht mehr als eine bis zwei Minuten. Die Bonzen sind nicht ganz so unbeschäftigt wie ihre Shintokollegen. Ihre Hauptarbeit ist freilich auf den Tempeldienst beschränkt. Seelsorge treiben auch sie nicht. Auch hier giebt es keine zusammengehörigen Gemeinden und kein Gemeindeleben. Bei der Geburt und Eheschließung haben sie nichts zu thun. Dagegen braucht man sie beim Tode. Von Mitake aus kam ich einst in ein benachbartes d. h. etwa drei Stunden ent- ferntes Dorf und kehrte mit meinen beiden Studenten in ein Theehaus ein. Als wir uns in einem uns an- gewiesenen Zimmer niedergelassen hatten, hörten wir nebenan eine eintönig leiernde Stimme, ab und zu unterbrochen von dem keuchenden Husten eines Mannes. Dort lag der Wirt des Theehauses totkrank und vor drei Tagen hatte man, wie uns die „N ē san“ (bedienen- des Theemädchen, eigentlich „ältere Schwester“) erzählte, einen „Yamabushi“ (Bergmönch) gerufen, um aus den heiligen Schriften Gebete zu verlesen. Über eine Stunde hielten wir uns dort auf, und während der ganzen Zeit hörten wir ununterbrochen die eintönige Stimme des Yamabushi und zuweilen das Husten des Sterbenden. Ein Jahr später kam ich wieder dahin und erkundigte mich dabei nach dem „Teishu“ (Wirt). „Der ist vor Jahresfrist gestorben“, hieß es. Die Beerdigung weit- aus der meisten Toten, die übrigens in Japan bei ebenso guten als billigen Verhältnissen zu einem großen Teil verbrannt werden, geschieht fast immer nach bud- dhistischem Ritual. Selbst derjenige, welcher in seinem Leben von dem Buddhismus nichts wissen wollte, wird im Tode noch ein Buddhist. Einige Priester sind sogar so eifrig, daß sie predigen. Die Predigt ist im Buddhismus von altersher nicht unbekannt, aber eine große Rolle hat sie nie gespielt. Die Predigten, die heute, freilich keineswegs allgemein und regelmäßig, gehalten werden, haben nicht viele Zuhörer, trotzdem das Gesagte nach Form und Inhalt oft Treffliches bietet. Am meisten thun in dieser Be- ziehung die Priester der Nichirensekte, welche als die eifrigsten und thätigsten, und die der Shinsekte, welche als die gebildetsten und modernsten Bonzen gelten. Unter ihnen haben in unserer Zeit nicht wenige ver- sucht, das Christentum mit den Waffen moderner Wissen- schaft zu bekämpfen. Auch die Shingon-, Tendai- und Zenpriester stehen bei dem Volk im Rufe der Gelehr- samkeit. Ihm macht es gewaltigen Eindruck, daß die Bonzen dieser Sekten die geheimnisvollen Bonjizeichen zu entziffern verstehen. In Wirklichkeit aber ist es mit der Gelehrsamkeit nicht weit her. Die Bonzen lesen eben in der Regel nur dem Laut nach, ohne den Sinn oder auch nur die einzelnen Worte zu verstehen, gerade wie wenn bei uns jemand, dem von der hebräischen Sprache nichts weiter bekannt ist als die Buchstaben, das Alte Testament im Urtext liest. Im ganzen sind die Priester als unwissend zu be- zeichnen. Eine papageimäßige Abrichtung, das ist so ziemlich alles. Was sie zu arbeiten haben, ist nicht so viel, daß sie nicht noch sehr viel Zeit fänden, — nicht etwa sich weiter zu bilden, sondern auf ihren Stroh- matten zu liegen und zu schlafen. Und es ist gut, wenn sie das thun, damit sie nicht auf andere, recht böse Abwege geraten. Denn die Sittlichkeit der Bonzen erfreut sich keines guten Rufes. Der Bonze ist vielfach zum Gespött geworden, und „bōzu“ ist nicht selten ein Schimpfwort. Als einer unserer theologischen Schüler zum Besuch in seine Heimat kam, riefen ihm die Kinder auf der Straße zum Zeichen der Verachtung „Yasob ō zu“ (Jesusbonze) nach. Die Verachtung galt dabei ebenso sehr dem Bonzen als dem Jesusjünger. Es ist keine Ehre, Buddhapriester zu sein, und selbst ein armer Bauer und Kuli sieht es nicht gern, wenn sein Sohn ein Priester wird. Ich habe einmal Gelegenheit gehabt, einen sehr genau kennen zu lernen. Ich hielt mich damals auf dem Land auf und wohnte neben dem Tempel des Dorfes. Mit dem Bonzen stand ich in freundnachbar- lichem Verkehr; denn persönlich sind die wenigsten Buddhapriester Fanatiker, wenn sie auch jetzt gegen die christliche Mission scharf Front machen. Mein Nachbar war bald so vertraut, daß er mich mit „kimi“ (Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch- licher Mensch, sprach in eitler Selbstüberhebung über die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver- ständen, spottete über das religiöse Leben der Leute als über einen Aberglauben und meinte, selbst allein des Lebens Rätsel gelöst zu haben. Er gehörte nämlich zur Zensekte, welche durch Betonung der Meditation dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn er auch selbst nie nach Vorschrift meditierte, so war ihm doch die unvergohrene „Philosophie“, die er in seinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches Studium zusammengebraut hatte, alleinige Wahrheit. Worin diese bestand, hat er mir freilich nie verraten; sein ganzes sehr lebhaftes Gespräch war ein fortwährendes Räsonnieren und Kritisieren der Beschränktheit anderer. Er besuchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei- mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben, der ihn verstehe und zu würdigen wisse. Bald ließ er alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm auch folgende Geschichte, die zwar nicht ästhetisch schön, aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteristisch klingt. „Mein Nachbar“, sagte er, „ist noch sehr beschränkt und abergläubisch. Vor noch nicht langer Zeit hatte er einen Schüler, den er zum Priesteramt erzog Die wenigsten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet, obgleich dieselben keineswegs fehlen; die meisten gehen bei dem Vorsteher eines Tempels in die Lehre. . Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor bereitete er noch seinem hotoke das Opfer, (welches auch hier wie im Schintoismus aus der alltäglichen Speise des Volks besteht), und nachdem er den Lehr- ling ermahnt hatte, gut auf alles zu achten, ging er davon. Kaum aber war er aus den Augen, da setzte sich der Lehrling nieder und aß das Opfer auf. Mit einem Rest von Reis aber beschmierte er dem Götzen den Mund. Am Abend kam der Herr ermüdet von seinem Gange zurück und wollte sich nun in Ruhe das Opfer gut schmecken lassen, das er am Morgen dem hotoke vorgesetzt hatte. Als er aber dem Lehrling befahl, dasselbe zu bringen, erklärte dieser, es sei nicht mehr da, der Götze habe es aufgegessen. Der Priester lachte: „Mein hotoke hat noch nie etwas gegessen, und er kann auch nichts essen“. Statt jeglicher Antwort führte ihn der Lehrling zu dem Götzen hin und zeigte ihm die Reisspuren an seinem Mund. Der Priester wollte erst seinen Augen nicht trauen, dann aber geriet er in Zorn, wütend faßte er den hotoke am Kopf und schrie: „So! gegeben hast du mir noch nie etwas und nun fängst du auch noch an zu essen!“ Sprachs und warf ihn zu Boden. Für wahr habe ich die Geschichte nie gehalten. Es war eben Geflunker von seiten meines Nachbars wie sein übriges Geschwätz auch; aber es ist doch bezeichnend im Munde eines Priesters, und die Bezeichnung frivol ist wohl noch gelind für dasselbe. Wie tief ihm übrigens sein Freidenkertum, mit dem er beständig prahlte, ging, davon konnte ich mich jeden Abend über- zeugen. Denn wenn er sich gegen zehn Uhr von mir verabschiedete, hörte ich jedesmal kurz darauf ein drei- maliges Händeklatschen: Mein Priester verrichtete vor seinem hotoke eine letzte Andacht. Inwieweit eine Priesterschaft, die sich trotz alles zur Schau getragenen Ernstes beim Begegnen mit einem innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im stande ist, eine sinkende Religion zu stützen, ist leicht zu ermessen. Und doch, so sehr das Volk seine Bonzen zu verspotten gewohnt ist, so hat es doch wieder eine gewisse Scheu vor ihnen. Es ist dasselbe Verhältnis wie im Katho- lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals machte man sich über die Priesterschaft lustig, und doch beherrschten die Priester den Geist des Volks. Darum erscheint es ausgeschlossen, daß trotz dieser verkommenen Gesellschaft der Buddhismus rasch seiner Auflösung entgegen geht. Zwar ist er seit der Be- schneidung seiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl seiner Tempel und Bonzen Die Zahl der Bonzen beläuft sich auf rund 200,000, wo- von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000. zurückgegangen. Aber es sind doch feste Ketten, mit denen die Zauberei (und darauf läuft ja doch der praktische Buddhismus hinaus) das Volk gefangen hält. In Ky ō to sah ich zwei neue Tempel, die sogen. Hongwanjitempel Die Hongwanjitempel sind die Haupttempel oder Kathe- dralen der Shinsekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer zwei, nämlich einen Higashi (östlich) = und einen Nishi (westlich) = Hongwanji. . Die alten waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge- baut worden. Ihre Herstellungskosten beliefen sich auf ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über- raschend kurzer Zeit zusammengekommen. Von weit her waren die armen Leute aus dem niederen Volk gekommen, um persönlich ihre Beiträge zu bringen. Ich sah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen, welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen Hauses herbeizuschleppen. Die Seile bildeten große Haufen. Diese sämtlichen Seile waren aus Frauen- haaren. Wie viele tausend Frauen mögen da wohl ihr Haar geopfert haben! Die japanischen Frauen be- trachten ihr Haar als ihren Hauptschmuck, aber willig haben sie sich dieses Schmuckes beraubt, um ihrer Re- ligion willen thaten sie es gern. Wo noch so viel Operfreudigkeit zu finden ist, da darf man nicht daran denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen überwunden sei, so verächtlich er auch scheinen mag. Religionen, die Jahrtausende gelebt, brauchen Jahr- hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der Buddhismus aus den Centren der Kultur längst sich hat flüchten müssen, werden draußen bei den „pagani“ (Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera stehen, und dort wird das „Namu Amida Butsu“ noch nicht verklungen sein. Und doch, sterben wird der Buddhismus. Wohl macht man jetzt verzweifelte Versuche, dem greisenhaften, geistlosen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der Konkurrenzkampf mit dem Christentum hat den Buddhis- mus zu praktischer Arbeit gestachelt. Er verbreitet Broschüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl zum Teil geschickt redigierter Wochen- und Monats- schriften heraus, sucht sich mit Krankenpflege zu be- schäftigen, treibt hier und da Seelsorge in Gefängnissen, baut Waisenhäuser und Rettungsanstalten und anderes mehr. Wie der Kathliozismus durch den Protestantismus, so hat der Buddhismus durch das Christentum eine Reihe neuer Impulse erhalten. Ja, man machte sogar den Versuch, ihn hinsichtlich seiner Lehre zu reformieren und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Versuch ging 17 aber von Leuten aus, die wie der Philosoph Inouye Tetsushiro ein religiöses Interesse durchaus nicht haben; er ist seither gescheitert und wird auch in der Zukunft kein besseres Los haben. Man wird in der christlichen Welt gut thun, den Berichten aus Ostasien über „kräftige und erfolgreiche Reformversuche“ des Buddhis- mus kein großes Gewicht beizulegen. Solche Berichte sind meist weiter nichts als kluge Mache. Manchmal erfuhr ich von solchen Reformbewegungen in Japan erst durch meine deutschen Zeitungen. Als ich mich aber im Lande da und dort darnach erkundigte, wußte kein Mensch etwas davon, oder es stellte sich als eine Auf- bauschung einer harmlosen und unbedeutenden Sache heraus. In seiner Ratlosigkeit wandte sich der Buddhismus um Hilfe nach den Ländern des Westens, wo, wie man seinen Priestern erzählte, die Lehre Shakas jährlich an Sympathie und selbst an Anhang gewinne. Sein Hilfe- ruf schien nicht vergeblich sein zu sollen. Im Spätjahr 1888 erschien der amerikanische Theosoph Oberst Olkott in Japan mit der ausgesprochenen Absicht, dem bedrängten Buddhismus wieder aufzuhelfen. Unter ungeheurem Jubel begann er seine Vorträge; aber die Freude begann bald einer bitteren Enttäuschung zu weichen; es war ein anderer Geist als der des japanischen Buddhismus, der aus der Olkottschen Theosophie heraussprach. Ol- kott brach seine Vorträge plötzlich ab und zog sich nach Ceylon zurück. Sein Auftreten war ein Mißerfolg, der dem Buddhismus keineswegs Vorteile brachte. Also alles vergebens! Wohl hat der Buddhismus nach dem Plane der Vorsehung eine Mission in der Vergangenheit gehabt, aber diese Mission ist heute er- füllt. Es wäre ungerecht, seine Verdienste um Japan nicht anzuerkennen. Er ist der Hauptträger der chine- sischen Kultur gewesen, er hat die Japaner mit Kunst und Wissenschaft bekannt gemacht und hat die vordem barbarischen Sitten gemildert. Er war durch tausend Jahre der Lehrer des Volks, und er ist dieser seiner Aufgabe selbst in höherem Grade gerecht geworden als der Katholizismus in Europa. Es muß ihm zum Ruhme nachgesagt werden, daß er gerade auch den niederen Klassen die Bildung zugänglich gemacht hat. Er hat den nüchternen Konfuzianismus und den dürftigen Shintoismus religiös ergänzt und das Bedürfnis der Volksseele nach höheren Gütern, im besonderen die Sehnsucht nach Erlösung wachgehalten. Er hat die alte Zeit erfüllt, — aber in die neue paßt er nicht mehr hinein. Das Licht, welches ehedem Asien erleuchtete, ist gar trübe geworden und gegenüber der leuchtenden Sonne, welche jetzt über Japan heraufzieht, verschwindet es völlig. Jetzt erst soll Japan in Wahrheit das werden, was sein Name verheißungsvoll sagt: Das Land des Sonnenaufgangs. Jetzt erst ertönt auch über seinen Gefilden der Adventsruf: „Die Nacht ist vorüber, und der Tag ist herbeigekommen!“ Der Morgenstern ver- blaßt vor dem hellen Gestirn des Tages, und wenn wir auch gerne anerkennen, daß Buddha ein Vorläufer Christi war, so gilt doch heute auch für ihn das Wort, welches das Evangelium Johannes, Jesu größten Weg- bahner, sprechen läßt: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen!“ 17* IX. Die Entwicklung der evangelisch-christlichen Mission Dem aufmerksamen Leser kann es nicht entgangen sein, daß es dem Verfasser in allen seinen Ausführungen mehr um eine Untersuchung des geistigen Wesens und des inneren Getriebes als um eine Beschreibung der äußeren Erscheinungen zu thun ist. Auch bei der Darstellung der christlichen Mission in Japan wird er sich wesentlich von diesem Gesichtspunkte leiten lassen. Zwar lassen sich der Vollständigkeit halber die äußeren Ereignisse hier nicht übergehen. Doch glaubt er schon darum nicht auf jede Einzelheit eingehen zu sollen, weil in H. Ritters „Dreißig Jahre protestantischer Mission in Japan“ (Berlin, A. Haack, 1890) schon eine eingehende und erschöpfende Dar- stellung vorliegt; und zwar in solch vorbildlicher Weise, daß jeder Versuch, eine andere Beschreibung desselben Gegenstandes zu liefern, nur eine Verschlechterung bedeuten kann. Haben doch selbst amerikanische Pioniermissionare, voran der bekannte Kongre- gationalist Greene, für eine englische Geschichte der japanischen Mission in neidloser Anerkennung nichts besseres zu thun gewußt, als Ritters Buch fast wörtlich in das Englische zu übersetzen. In dieser Form wird es mit einem von Dr. Christlieb veranlaßten Anhang, welcher von Missionaren der verschiedensten Gesellschaften geschrieben ist und die Ereignisse bis auf die Gegenwart fortführt, . F ast überall, wo durch die weltliche Macht ein fremdes Land der Kultur eröffnet wurde, ist es über Leichen gegangen. Es giebt wenige Pfadfinder, die nicht versucht hätten, durch Entfaltung aller ihrer Macht- mittel und durch den Gebrauch einer eisengepanzerten Faust und roher Gewalt die Eingeborenen in Furcht zu versetzen, um sie durch die Furcht ihrem Willen zu beugen. Aber der amerikanische Commodore Perry, welcher im Jahre 1853 und, als sich das Bakufu d. i. die Shogunatsregierung ein Jahr Bedenkzeit ausbedungen hatte, zum zweitenmal im Jahre 1854 in der Bay von Tokyo erschien, um einen Handelsvertrag mit Japan ab- zuschließen, hat einen andern Weg eingeschlagen. Nicht durch Feuer und Schwert und nicht durch Erregung der Furcht suchte er zum Ziele zu kommen und ist zum Ziele gelangt, sondern durch die Macht seiner wahrhaft christlichen Persönlichkeit und durch die Weckung von Achtung und Bewunderung. Das rechnen ihm die Japaner heute noch hoch an, und das hat der Kultur und dem Christentum eine offene Thür ge- schaffen, daß Perry bei all seiner Entschiedenheit und Bestimmtheit „nicht mit barschem Kommandoruf, son- dern mit Doxologien die Gestade von Japan bombar- dierte“. Und wenn wir seiner eigenen Erzählung lauschen, so hat er seine schwierige und delikate Auf- gabe ausgeführt als ein rechter Missionar unter be- ständigem Aufblick zu dem Lenker der Völker. Gewiß, auch mit roher Gewalt hätte sich die Eröffnung des binnen kurzem erscheinen; — ein glänzendes Ehrenzeugnis für den Bienenfleiß und Forschersinn eines deutschen „liberalen“ Theologen, dessen Werk nun die Grundlage geworden ist, auf welcher Missionare aller Schattierungen in gemeinsamer geistiger Zusammenarbeit ihre geistliche Zusammengehörigkeit bekunden. Auch die Ausführungen dieses IX. Kapitels haben bis 1890 Ritters Werk zur wesentlichen Unterlage. Die Aufgabe, die ich mir neu gestellt habe, ist lediglich die Ergänzung Ritters nach der inneren und geistigen Seite des japanischen Missionsgetriebes, womit aber nicht gesagt sein soll, daß der früh verblichene geistvolle Vorkämpfer des Allg. evang.-prot. Missions- vereins diese Seite unberücksichtigt gelassen habe. Landes erzwingen lassen. Dann aber wären von vorn- herein die ohnehin sehr zurückhaltenden Japaner noch mißtrauischer geworden, eine unbesiegbare Abneigung des Volkes gegen die abendländische Kultur wäre ge- schaffen worden, und die Thür zu den Herzen wäre auf unabsehbare Zeit hinaus verschlossen geblieben. Darum ist es billig, bei einer Geschichte der christlichen Mission in Japan unter dem Ausdruck innigen Dankes diesen Mann an die Spitze zu stellen, sozusagen als den ersten evangelischen Missionar, der den Boden Japans be- treten hat. Der Abschluß des Handelsvertrags durch Perry bedeutete nicht auch die sofortige Erschließung des Landes. Erst von dem Jahre 1859 an wurde den Fremden das Recht der Niederlassung zunächst in Kanagawa-Yokohama, Nagasaki, Hakodate und Yedo (Tokyo), bald darauf auch in Niigata, Hyogo-Kobe und Osaka zugestanden. Sofort waren auch schon vier amerikanische Missions- gesellschaften zur Stelle, deren Sendboten fast alle in Yokohama ihren Wohnsitz nahmen. Es waren durchweg auserlesene Männer. Unter allen hervorragend der kürzlich verstorbene Missionar Verbeck (Dutch Reformed Church D. R. C.). Es giebt kaum eine andere missionarische Persönlichkeit, deren Segensspuren man in allen Teilen des Landes so häufig begegnet. Und nicht nur als Missionar, auch als Lehrer hat er Vorzügliches geleistet. Er war der Erzieher einer Reihe von Jünglingen, die später zu den höchsten Staatsämtern gelangten. Er gewann das Ver- trauen der Regierung in solchem Grade, daß er 1869 zum Lehrer an der Hochschule in Tokyo (Kaisei Gakko) berufen wurde und einen wesentlichen Einfluß auf die Ausgestaltung der heutigen Universität gewann. Neben ihm steht der als Missionar und Arzt gleich bedeutende Dr. Hepburn (American Presbyterian Church A. P. C.), welcher durch seine bahnbrechenden Arbeiten in der Sprachforschung zum eigentlichen Waffenschmied der japanischen Mission geworden ist. Durch seine frühere Thätigkeit in China wurde ihm das Studium des Japanischen bedeutend erleichtert, und schon im Jahre 1867 gab er ein japanisch-englisches Wörterbuch heraus, welches bis heute seinesgleichen nicht gefunden hat. Auch die Missionare S. R. Brown und J. H. Ballagh (D. R. C.) und der spätere Bischof Williams (American Episcopal Church A. E. C.) verdienen, von der Nach- welt in dankbarer Erinnerung behalten zu werden. Selten ist eine große und schwere Sache tüchtigeren Kräften anvertraut worden. Freilich, wer die Missionsstatistik, die für ober- flächliche Geister leider nur allzu leicht zur Betrügerin wird, zur Grundlage seines Urteils machen wollte, könnte über diese Männer verächtlich die Nase rümpfen. Haben sie es doch (aus den ursprünglichen sechs war bald ein Dutzend und mehr geworden) innerhalb eines ganzen Jahrzehnts nur auf sechs Getaufte gebracht! Fünf volle Jahre waren sie am Werk, bis es J. H. Ballagh in Yokohama vergönnt war, an seinem Lehrer des Japanischen Yano Riu, der freilich als Sterbender irdisches Gericht nicht mehr zu fürchten hatte, die Erst- lingstaufe zu vollziehen. Und doch verzagte das kleine Häuflein nicht; denn auch in dieser schweren Zeit offen- barte ihnen der Herr seine Nähe, und durch wunder- bare Erweisungen wußte er sie geduldig in Trübsal und fröhlich in Hoffnung zu machen. Hierfür nur ein Beispiel. Es war im Jahre 1854, als in dem Hafen von Nagasaki ein englisches Geschwader einlief. Um eine Landung zu verhindern, wurde ein japanisches Heer auf- geboten, dessen Oberbefehlshaber Wakasa-no-kami, der Karo (erste Berater) des Daimyo von Hizen war. Eines Tages, als Wakasa am Ufer entlang ging, sah er auf dem Wasser ein kleines Buch schwimmen, das er sich aneignete. Es war, wie ihm ein holländischer Dolmetscher erklärte, ein englisches Neues Testament. Als Wakasa erfuhr, daß in Shangai dasselbe Buch in chinesischer Schrift zu haben sei, ließ er sich ein Exemplar kommen und nahm es mit in seine Heimat. Hier machte er sich im Verein mit seinem Bruder Ayabe und drei Freunden an das Studium des seltsamen Buches, das diese suchenden Seelen bald mächtig anzog. Die Jahre kamen und gingen, aber das Interesse der fünf Männer an dem Buche ging nicht. Da geschah es, daß im Jahre 1862 einer derselben nach Nagasaki kam. Dort traf er den Missionar Verbeck, welcher ihm christlichen Unterricht erteilte. Als Wasaka das erfuhr, benutzte er die Gelegenheit, um sich über so manche unverstandene Stelle seines Testaments Klarheit zu verschaffen. Da ihn sein Amt an Ort und Stelle festhielt, ließ er jede Woche einen Boten die zweitägige Reise zu Verbeck machen und erhielt so mit seinen Gefährten auf brief- lichem Weg „par distance“ einen regelrechten Bibel- unterricht. Endlich im Jahre 1866 machten sich Wakasa und sein Bruder Ayabe auf nach Nagasaki. Dort er- hielten sie noch einmal mündlichen Unterricht, und am Pfingstfest wurden sie durch Verbeck getauft — die nächsten Christen nach Yano und für eine Zeitlang wieder die einzigen. Wakasa starb als treuer Christ. Aber sein Christengeist starb nicht in seiner Familie. 1880 ließ sich eine Tochter von ihm mitsamt ihrem Gatten und einer treuen Dienerin taufen. Die beiden ersten sind Mitglieder einer Gemeinde der Nippon Kristo Kyokwai (Kirche Christi in Japan, presbyt.) in Tokyo, die Magd aber ward zu einer rechten Missionarin: Ihrem brennen- den Glaubenseifer ist die Gründung einer Christen- gemeinde zu Saga zu verdanken. Eine Enkelin Wakasas ist ebenfalls Christin, und im Jahre 1890 trat ein Enkel von ihm in die Doshisha, die christliche Hoch- schule der Kongregationalisten zu Kyoto ein. Wer möchte da nicht die wunderbaren Wege Gottes preisen, dessen Fuß gehet wie auf dunkeln Wassern, wer lernt da nicht aufs neue wieder glauben an das Wort des Herrn: „Gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und wachsend, also soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein. Es soll nicht wieder zu mir herkommen, sondern thun, was mir gefällt, und soll ihm gelingen, dazu ich es sende“. Aber neben solch seligen Erfahrungen sollten den Missionaren die schwersten Prüfungen nicht erspart bleiben. Wenn auch das politisch uninteressierte Volk keineswegs den Abendländern feindlich gegenüberstand, so sah doch der Samuraistand in der Anwesenheit der „fremden Barbaren“ eine nationale Schmach. Ihr Zorn richtete sich gleicherweise gegen die Regierung des Shogunats, welche die „schimpflichen“ Verträge abge- schlossen hatte, wie gegen die Fremden selbst. Plötzlich begann man sich des lange vergessenen Kaisers zu Kyoto zu erinnern, von ihm erhoffte man die Rettung: „Jo-i“ (fort mit den Fremden) und „Son-ō“ (Ehre dem Kaiser) wurden die Losungsworte des Tages. Der Premierminister Jikamon no kami, dem man die Haupt- schuld an dem Abschluß der Verträge beimaß, wurde ermordet, und auch mancher Europäer fiel dem Fremden- haß der Samurai zum Opfer. Daß die Missionare alle diesem Geschick entrannen, verdankten sie nächst dem Schutze Gottes nur ihrem feinen Taktgefühl, das es peinlich vermied, bei den empfindlichen Japanern Anstoß zu erregen. Aber dessen mußten sie sich doch immer bewußt bleiben: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“. Die alten Gesetze gegen das Christen- tum bestanden noch, und schärfer denn je wurden sie jetzt dem Volke wieder eingeprägt. Wenn die Missionare über die Straße gingen, konnten sie an den Ecken mit eigenen Augen den Erlaß angeschlagen sehen, wonach die böse Sekte der Christen bei Todesstrafe verboten war. Man fürchtete für sein Leben, mied die Missionare und lehnte religiöse Gespräche ängstlich ab. Unter solchen Umständen war an eine öffentliche Wirksamkeit nicht zu denken. Es blieb den Sendboten nichts übrig, als in Geduld abzuwarten. Aber gerade die Ruhe, zu welcher sie wider Willen gezwungen waren, erwies sich als eine weise Fügung im Plane der Vor- sehung. Denn so verblieb ihnen Zeit und Muße zu der ebenso notwendigen als schweren Arbeit, sich die Werkzeuge zum Bau des Gottesreichs zu fertigen und die Waffen zu schmieden zum späteren Kampf. Sie er- lernten die Sprache, sie machten sich mit Sitte und Eigenart des Volks bekannt, sie begannen selbst schon einige Teile der Heiligen Schrift in die Landessprache zu übersetzen. Im übrigen mußten sie es als eine be- sondere Gnade betrachten, wenn sie hier und da für ihre religiösen Lehren Gehör bei ihrem Lehrer des Ja- panischen oder bei ihren Dienstboten, zuweilen wohl auch bei solchen fanden, die englischen Sprachunter- richt bei ihnen nahmen. Und auch diese zogen sich meist wieder zurück, wenn sie sahen, daß es den Behörden mit der Anwendung der Gesetze gegen das Christentum blutiger Ernst war. Die katholische Kirche sollte das zuerst erfahren. Im Jahre 1867 wurde in dem Dorfe Urakami, nicht fern von Nagasaki, eine Christengemeinde von mehr als dreitausend Seelen entdeckt, die sich trotz aller Ver- folgungen aus der Jesuitenmission des sechzehnten Jahr- hunderts in tiefster Heimlichkeit erhalten hatte. Zwar war von Christi Geist kaum noch etwas übrig geblieben, der Name der Jungfrau Maria war ihnen geläufig geblieben, und das Kreuzeszeichen, welchem sie magische Wirkungen zuschrieben, beteten sie an. Die Mitglieder der Gemeinde wurden gefangen genommen und büßten ihr Verbrechen in den Bergwerken in schwerer Zwangs- arbeit, wo die meisten elend verdarben und starben. Bald darauf wendete sich das Strafgericht auch gegen die japanischen Lehrer protestantischer Missionare. Einer derselben schmachtete zweiundeinhalb Jahre im Zucht- haus. Ein anderer war nicht einmal Christ, aber man hatte in seiner Wohnung eine Übersetzung aus dem Neuen Testament gefunden, und das genügte, ihn mit seiner Frau in das Gefängnis zu bringen. Aber gerade das hatte zur Folge, daß er nun zum Christentum sich bekannte. Er starb im Elend des Kerkers, und doch ist er selig gestorben. Seine Frau, die später gleichfalls zum Christentum übertrat, mußte noch weiter im Ge- fängnis verbleiben. Endlich im Jahre 1873, dem Beginn einer neuen Missionsepoche, schlug für die christlichen Märtyrer die Stunde der Befreiung. Schon geraume Weile zuvor machten sich die ersten Anzeichen einer beginnenden Toleranz bemerkbar. Zwar hatte die Revolutions- bewegung von 1868 die Feindschaft wider die Abend- länder auf ihrem Programm stehen. Aber bald schon erkannte man, daß die neue Periode Meiji (die er- leuchtete) nicht im Kampf wider die moderne Kultur, sondern nur im Bunde mit ihr ihrem Namen Ehre machen könne. Dazu erwarben sich, wie überall so auch hier, die Christen gerade durch ihr Märtyrertum viele Sympathien. Viele Gebildete nahmen sich großmütig und ritterlich der Sache der Bedrückten an und sahen in ihrer Maßregelung eine grausame und unwürdige Barbarei. Die Stimmen für Duldung wurden immer allgemeiner und drangen zu den Ohren der Behörden. Man ließ allmählich den Verkauf christlicher Bücher und Traktate stillschweigend zu, man benutzte die Missionare als Lehrer, und selbst gegenüber der religiösen Propa- ganda derselben begann man ein Auge zuzudrücken. So konnte es geschehen, daß schon im Jahre 1872 zu einer Zeit, wo die Gesetze wider das Christentum noch bestanden, die erste Christengemeinde zu Yokohama ent- stand. Sie zählte ursprünglich nur neun Mitglieder, ihr Stifter ist Ballagh (D. R.). Heute ist die Kaigan Kyokwai (Strandkirche), wie man sie nach ihrer Lage nannte, die stärkste Gemeinde Japans. Einmal in aufsteigender Linie begriffen wuchs die Stimmung für das Christentum mit großer Schnellig- keit. Im Jahre 1871 hatte die Regierung unter Führung Iwakuras, des Ministers des Auswärtigen, eine Gesandtschaft nach Amerika und Europa geschickt, welche eine Revision der Handelsverträge anstreben und gleichzeitig die Kultur des Abendlandes studieren sollte. Dieselbe hatte täglich Gelegenheit, das Christentum, welches in Japan so unscheinbar auftrat, in den Län- dern seiner Heimat als eine große Macht kennen zu lernen, und in ihren Berichten nach Hause machten sie daraus kein Hehl. Nicht lange nachdem die Gesandten Berlin verlassen hatten, fragte man bei Prof. Gneist daselbst an, was er von einer etwaigen Annahme des Christentums durch Japan halte, (wobei man sich allerdings lediglich von politischen Utilitätsgründen leiten ließ). Gneist gab darauf die einzig richtige Antwort, daß sich dasselbe nicht wie eine Staats verfassung einfach in ein anderes Land hinüber pflanzen lasse, und auf diese Antwort hin legte man den aben- teuerlichen Gedanken einstweilen beiseite. Im Jahre 1873 kehrte Iwakuras Gesandtschaft zurück, und nun begann eine gründliche Reformation des Staatswesens nach europäischen Mustern, welche naturgemäß auch dem Christentum zu gute kam. Schon in demselben Jahre, sogar noch einige Monate vor Iwakuras Heimkehr, wurden die Strafgesetze gegen die Christen von den öffentlichen Anschlagbrettern entfernt. Im gleichen Jahre ließ man den chinesischen Kalender fallen und setzte den gregorianischen an seine Stelle, und drei Jahre später (1876) hob man die Gesetze gegen das Christentum auch formell auf und führte den Sonntag als Ruhetag für die Beamtenschaft, die Schulen und das Militär ein. Daß sich solche Umwälzungen nicht ohne Wider- spruch und Kampf vollzogen, versteht sich von selbst. Der Geist Altjapans, vorzüglich durch den Samurai- stand vertreten, leistete heftigen, aber vergeblichen Widerstand. Rasch nacheinander brachen Aufstände aus, die aber blutig niedergeschlagen wurden. Der letzte war der von Kagoshima unter der Führung des gewaltigen Saigo, des populärsten Helden im modernen Japan, der im Jahre 1868 das neue Reich mit Blut und Eisen zusammengeschmiedet hatte und jetzt den Hammer erhob, um dasselbe Reich, das er auf die Ab- wege der fremden Barbaren geraten wähnte, wieder zu vernichten. Saigo, der patriotischste Sohn seines Lan- des, fiel als Rebell (1877) — eine wahrhaft tragische Persönlichleit. Damit war der Sieg der westlichen Kultur entschieden, und die vorher feindseligen Samurai wurden von nun an ihre eifrigsten Förderer. Mit diesem Sieg der Kulturfreunde war auch die Entscheidung für die Zulassung des Christentums ge- fallen. Dasselbe Christentum, welches bisher nur im Verborgenen sich geregt, war nun in den freien Kon- kurrenzkampf eingetreten. Für die Missionare war Leben und Arbeit eine Lust geworden. Ihre Reihen hatten sich bedeutend verstärkt, so daß am Schlusse des Jahres 1882 nicht weniger als achtzehn Gesellschaften, dreizehn amerikanische und fünf englische, mit 145 männlichen und weiblichen Arbeitern in Thätigkeit waren. Eine dieser Gesellschaften verdient ganz besondere Erwähnung. Es ist die Missionsgesellschaft der Amerika- nischen Kongregationalisten (A. B. C.). Schon im Jahre 1869 hatte sie ihren ersten Missionar D. C. Greene entsandt, einen Mann, welcher durch seine wahrhaft evangelische Gesinnung und feinen Herzenstakt großes Vertrauen gewann und hinsichtlich seiner Verdienste, mögen dieselben auch nicht so sehr an die Öffentlichkeit getreten sein, unmittelbar neben Verbeck und Hepburn zu nennen ist. Von noch größerer Bedeutung aber sollte für diese Gesellschaft die Entsendung des Japaners J. H. Nishima werden. Nishima war ge- boren zu Anaka in der Provinz Kozuke am 14. Januar 1843. Schon früh erlernte er die holländische Sprache, und später eignete er sich im Verkehr mit Fremden auch die englische an. Als Dolmetscher in fortwähren- der Berührung mit den Abendländern gewann er bald eine große Vorliebe für die westliche Kultur, und es ergriff ihn die Sehnsucht, dieselbe in ihrer Heimat kennen zu lernen. Noch aber war auf das Verlassen des Landes die Todesstrafe gesetzt. Da benutzte der Jüngling die Gelegenheit, von Hakodate aus, wo er unter anderm auch dem russischen Bischof Nikolai ja- panischen Unterricht erteilt hatte, an Bord eines nach Shanghai gehenden fremden Schiffes sein Vaterland heimlich zu verlassen. Nach mancherlei Irrfahrten kam er nach Boston, wo ihn der Rheder Alpheus Hardie, ein treues Mitglied der Kongregationalisten und ein eifriger Freund der Mission, in sein Haus aufnahm. Hier fand er den Heiland, der ihm zwar schon nicht ganz fremd gewesen ist. Hardie verschaffte ihm eine gediegene Bildung, und da Nishima wünschte, einmal als Missionar nach seinem Vaterlande zurückzukehren, so ließ er ihn Theologie studieren. Da kam im Jahre 1871 Iwakuras Gesandtschaft nach Amerika, und Nishima wurde aufgefordert, dieselbe als Dolmetscher zu begleiten. Nachdem er für seine heimliche Flucht aus seinem Vater- lande ausdrücklich begnadigt worden war, übernahm er das angetragene Amt. Nun knüpfte er enge Beziehungen zu den Gliedern der Gesandtschaft, wie Ito, Inouye und Okubo, die ihm später sehr zu statten kamen. Nach der Rückkehr der Gesandtschaft stellte er sich dem Ame- rican Board A. B. C. (Kongreg.) zur Entsendung nach Japan. Ende 1874 kam er daselbst an, und nachdem er seine bejahrten Eltern in Anaka besucht hatte, machte er sich sofort an die Aufgabe, die er sich gestellt: Die Gründung einer theologischen Hochschule. Beweggrund war der Gedanke, daß Japan durch die Japaner evan- gelisiert werden müsse, und daß japanische Geistliche darum das erste Erfordernis seien. Unterstützt durch reichliche Spenden aus Amerika und Japan, wo selbst auch seine heidnischen Freunde, hohe Staatsbeamte und Minister, große Beiträge leisteten, gelang ihm sein Werk in überraschend kurzer Zeit: Am 29. Oktober 1875 schon konnte die Doshisha (Vereinigung zu gleichem Zweck) in Kyoto eröffnet werden. Bald blühte sie mächtig auf, in den folgenden 15 Jahren trat eine Abteilung zu der andern hinzu, und heute fehlt nur noch eine medizinische Abteilung, um die Doshisha zu einer vollständigen Hochschule etwa im Sinne mancher amerikanischen (nicht aber einer deutschen oder auch der japanischen Universität) zu erheben. Während die Gründung der Doshisha noch im Gange war, hatte Gott auch schon für ein glänzendes Schülermaterial für dieselbe gesorgt. Im Jahre 1871 gründete der Daimyo von Higo eine Schule für euro- päisches Wissen in Kumamoto und berief als Lehrer an dieselbe Kapitain Janes, welcher zuvor Hauptmann in der Armee der Vereinigten Staaten gewesen war. Janes und seine Frau waren überaus fromme und eifrige Christen. Gleichwohl unterrichtete er seine Schüler drei Jahre lang, ohne vom Christentum ein Wort zu sprechen. Nachdem aber die Schüler Vertrauen zu ihm gewonnen hatten, lud er sie eines Tages ein, zum Bibelunterricht nach seinem Hause zu kommen. Der Neugierde halber gingen sie hin, konnten aber der Lektüre der Heiligen Schrift durchaus keinen Geschmack abgewinnen. Gleichwohl thaten sie ihrem verehrten Lehrer den Gefallen, allsonntäglich wiederzukommen, und als ein Jahr vergangen war, kamen viele nicht mehr nur aus Höflichkeit, sondern aus wirklichem Interesse. Nun begann Janes auch noch zu predigen, und bald wurden die Schüler so bewegt, daß vierzig von ihnen sich zum Christentum bekannten. Im Anfang 1876 loderte die Glaubensglut zu hellen Flammen auf. Die christlichen Schüler zogen auf einen Hügel in der Nähe der Stadt und schlossen unter Schwüren der Treue einen Bund. Aber die Nachricht davon verbreitete sich rasch, und nun begann eine regelrechte Verfolgung. Die meisten Väter holten ihre Söhne heim, durch Drohungen und Bitten suchte man sie zum Abfall zu bewegen. Manche waren drei und vier Monate lang eingesperrt und er- litten eine grausame Behandlung. Eine Mutter war nur schwer davon abzubringen, Harakiri zu begehen, um das Verbrechen ihres Sohnes zu sühnen. Aber nur wenige verleugneten ihren Glauben, die andern blieben treu, ob sie gleich, von Vater und Mutter verflucht, aus ihrem Elternhaus verstoßen wurden. Im Herbste 1876 mußte Kapitain Janes, dessen Leben mehr als einmal in Gefahr war, Kumamoto verlassen; seine treuen Schüler aber bezogen die kurz zuvor gegründete Doshisha. Kein Wunder, daß mit solchen Schülern und mit einem Nishima an der Spitze der Ruf der Doshisha bald über das ganze Land hin verbreitet war. Kein Wunder auch, daß die übrigen Missionsgesellschaften sehr bald mit ähnlichen Gründungen nachfolgten. Die nächsten waren die Presbyterianer, die sich im Jahre 1877 mit den ihnen verwandten Gesellschaften, unter welchen be- sonders die Dutch Reformed Church (D. R. C.) hervorragt, zu einer gemeinsamen Kirche unter dem Namen Nippon Kristo Ichi Kyokwai (Vereinigte Kirche Christi in Japan) zusammengeschlossen hatten. Noch in demselben Jahre eröffneten sie die Theological Union School, welche sich später zu der blühenden Meiji Gaku-in entwickelte. Auch 18 sie besteht aus einem allgemeinen Kursus für weltliches Wissen und aus einer theologischen Abteilung. Die Spezial- Colleges fehlen ihr, sie steht in dem Range eines Gymnasiums, vielleicht etwas tiefer. Dagegen steht sie als theologisches Erziehungsinstitut hinter der Doshisha kaum zurück, was wesentlich den tüchtigen missionarischen Kräften der D. R. C. zu verdanken ist. Nicht so bedeutend, aber in ähnlichem Stil gehalten wie die Meiji Gaku-in sind die Schulen der Methodisten und die der vereinigten Episkopalen. Alle diese Schulen sind, mit Ausnahme der Doshisha, in Tokyo. Haben sich nun auf diesem Gebiete die alten Gesell- schaften von den später gekommenen Kongregationalisten den Rang ablaufen lassen, so hatten sie dafür die Füh- rung in dem Mädchenschulwesen und der Frauenmission. Die Bedeutung der Frauenmission war von den ersten Sendboten sofort erkannt worden. Nachdem schon die Missionarsfrauen von Anfang an sich mit Eifer dieser Aufgabe hingegeben hatten, sandte im Jahre 1869 die D. R. C., deren Bedeutung auf allen Gebieten nicht hoch genug angeschlagen werden kann, die erste Missionarin von Beruf, Miß Kidder. Dieselbe nahm ihren Wohn- sitz in Yokohama, und schon im folgenden Jahre gründete sie auf Veranlassung des weitsichtigen und toleranten Gouverneurs Oye eine Mädchenschule, welche später als „lsaac Ferris Seminary“ eine große Bedeutung ge- winnen sollte. Nicht minder segensreich wirkte das nur zwei Jahre später ebenfalls in Yokohama eröffnete „Mission Home“, welches die 1871 ausgesandten Missio- narinnen der Woman’s Union Missionary Society ins Leben rief. Ihnen reihten sich dann im Laufe der Zeit eine große Anzahl ähnlicher Institute an, beson- dere Kurse zur Ausbildung von Evangelistinnen (Bible- women) , welche im Missionsdienst in großer Zahl Ver- wendung finden, wurden ihnen angefügt, und thatsäch- lich giebt es Gesellschaften, wo, wie bei den Kongrega- tionalisten und Methodisten, die Zahl der Missiona- rinnen, d. h. Lehrerinnen, die der männlichen Sendboten überwiegt. Auch die japanischen Christen erkannten bald die Wichtigkeit dieser Bestrebungen, denen beson- ders in dem Presbyterianer Iwamoto, dem Heraus- geber der Jogaku Zasshi (Zeitschrift für Frauenbildung) und Inhaber einer großen Mädchenschule zu Tokyo, ein vortrefflicher Vertreter erstand. Daß die Gewin- nung der Frauen anfangs nur eine spärliche war, er- klärt sich aus der sozialen Stellung der Frau voll- kommen (vergl. Kap. V ). Wenn aber der Zuwachs des weiblichen Elements in den Gemeinden ein derart stetiger war, daß im Jahre 1882 der Prozentsatz 26, fünf Jahre später 37 und heute über 40 Prozent be- trägt, so darf man daraus einen Schluß auf die un- gemeine Kraftentfaltung ziehen, die man der Frauen- mission zuwendete. Der mündlichen Verkündigung traten schon von Anfang an zwei andere Arten zur Seite, nämlich die durch die That, welche hauptsächlich in der medizinischen Mission mit einer Reihe von Ärzten und christlichen Hospitälern ihren Ausdruck fand, und die durch das gedruckte Wort. Schon in den sechziger Jahren, wo eine mündliche Verkündigung fast ganz ausgeschlossen war, hatte man Heilige Schriften und andere Druck- werke in Menge von China eingeführt und manche gute Erfolge damit erzielt. So habe ich noch vor wenigen Jahren in den Händen japanischer Christen den chine- sischen Kommentar zum Lukasevangelium von D. Ernst Faber, dem bekannten Missionar des Allgem. evang.- 18* prot. Missions-Vereins, gefunden. Nachdem die Missio- nare der japanischen Sprache völlig Herr geworden waren, machten sie sich selbst daran, solche Schriften herauszugeben. Frühe auch schon ging man daran, christliche Zeitungen zu veröffentlichen. Schon 1876 erschien die „Wochenschau“ (Shichi Ichi Zappo) , welche später von der heute noch sehr einflußreichen „Christ- lichen Zeitung“ (Kristokyo Shimbun) abgelöst wurde, und 1882 wurde die als wissenschaftlich-theologische und apologetische Wochenschrift hochangesehene Rikugozasshi ins Leben gerufen. Beide Veröffentlichungen gingen von dem American Board aus bezw. von japanischen Christen der Kumiai Kyokwai, wie sich die Kirche der Kongregationalisten in Japan nannte ( kumiai = Kon- gregation, Gemeinde) Dr. L. Busse in seiner hochinteressanten Abhandlung „Streifzüge durch die japanische ethische Litteratur der Gegen- wart“ in den Mittlg. d. deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Heft 50, zählt bis 1892 27 christliche Wochen- und Monatsschriften auf. Dabei sind die rein lokalen nicht mitgezählt; auch wurden seitdem wieder einige gegründet. . Weitaus das wichtigste aber, was auf dem Gebiet der christlichen Litteratur geschah, war die Übersetzung des Neuen Testamentes. Im Jahre 1872 fand in Yokohama eine gemeinschaftliche Missions- konferenz statt, welche am 20. September eine Kom- mission zur Übersetzung des Neuen Testaments ein- setzte. Die hervorragendsten Mitglieder derselben waren Hepburn, Brown und Greene und die Japaner Okuno, Matsuyama und Takahashi. Das große Werk war im Jahre 1880 vollendet. Der Verbreitung von Bibeln und christlichen Schriften nahmen sich drei Bibel- und zwei Traktatgesellschaften an, welche alle schon im Jahre 1882 zur Stelle waren. Als 1883 die große Missionskonferenz zu Osaka zusammentrat, da wußte man: Die Vorarbeiten sind gethan, der Missionsapparat ist fertig gestellt, das Missionsnetz ist bereit; nun konnte man an der Schwelle des dritten Abschnittes (1883—1890) mit dem fertigen Netz an einen fröhlichen Fischzug denken. Nicht als ob bei einer geschichtlichen Entwicklung die Scheidelinien der einzelnen Perioden so haarscharf gezogen werden könnten. Vielmehr wurde auch in dem folgenden Abschnitt noch manche Masche in das Missions- netz gewoben. Jetzt erst wurde die Doshisha eigentlich zur Hochschule ausgebaut, auch jetzt noch wurde eine Reihe von Schulen neu errichtet und die meisten christ- lichen Zeitschriften traten in dieser Periode ins Leben. Auch die Bibelübersetzung wurde jetzt erst vollendet, indem im Jahre 1888 auch das Alte Testament in japanischer Sprache erschien. Die Seele dieser Über- setzung war neben Dr. Hepburn der gelehrte Verbeck, der selbst die Psalmen in klassisch schöner Weise über- setzte. Die japanische Bibel ist ein Werk, auf welches die evangelische Mission stolz sein darf. So wirkte die Missionsaufgabe der vorigen Periode auch jetzt noch nach, gleichwie umgekehrt die eigentliche Arbeit dieses neuen Zeitabschnitts schon in der vorigen Epoche begonnen hatte. Ich meine die eigentliche Be- kehrungsarbeit. Am Ende des Jahres 1882, wo 18 Ge- sellschaften mit 145 männlichen und weiblichen Arbeitern, ohne die japanischen Hilfskräfte, in Thätigkeit standen, betrug die Zahl der Bekehrten bereits 4367 in 93 or- ganisierten Gemeinden. Gewiß ein gewaltiger Fort- schritt! Und doch sollte es bald schon dahin kommen, daß sich der Zuwachs eines Jahres auf so viel und mehr belief als der Gewinn dieses ganzen Jahrzehnts. Jetzt erst, wo der Missionsapparat im ganzen fertig war, hatte man die Hände frei zu ausgedehnter Pro- pagandaarbeit. Dazu hatte sich die Stimmung für das Christentum von Jahr zu Jahr gehoben, und Ende der achtziger Jahre erreichte dieselbe eine Höhe, daß man von einer Christianisierung des ganzen Volkes in fünfundzwanzig Jahren zu fabeln begann. Die Gewaltthätigkeiten gegen die Christen verloren sich mehr und mehr und selbst Beamte durften ungehindert zum Christentum über- treten. Schon 1881 hatte der Kaiser die Einführung einer konstitutionellen Verfassung in Aussicht gestellt, und als 1883 Ito, welcher zum Studium des euro- päischen Verfassungswesens den Westen bereist hatte, nach Japan zurückkehrte, war er von der Notwendigkeit einer durch die Verfassung verbürgten unbedingten Religionsfreiheit überzeugt, und die übrigen Glieder der Regierung dachten nicht anders. Als 1888 Nishima einen Aufruf zu Geldbeiträgen erließ, um mittels der- selben die Doshisha zu dem Range einer, wie er aus- drücklich bemerkte, christlichen Universität zu erheben, erhielt er aus heidnischen und religionslosen Regierungs- und Finanzkreisen große Summen. Thatsächlich sind die damals gesammelten 70000 Yen (1 Yen = 2—2,50 Mk.) nur zu einem sehr kleinen Teile von den fast durchweg unbemittelten Christen aufgebracht worden. Auch zu andern christlichen Schulen und Werken christlicher Liebes- thätigkeit wurden von hohen Beamten und Kaufleuten nicht selten große Beiträge geleistet. In der guten Gesellschaft wurde es Mode, seine Töchter in die Missionsschulen zu schicken, und der Professor Toyama, der selbst vom Christentum nichts wissen wollte, empfahl in Aufsehen erregenden Artikeln die Mädchenerziehung auf christlicher Grundlage. Die einflußreichsten Männer des Landes, so der bekannte Pädagog und Politiker Fukuzawa und der Führer der großen liberalen Partei Graf Itagaki traten offen für Annahme des Christen- tums ein. Sie selbst standen ihm freilich fern; sie hofften, ein christliches Japan werde durch neue Ver- träge Gleichberechtigung mit den westlichen Nationen erlangen. Politische Beweggründe, welche sich auf die Dauer und für die Zukunft notwendig als verderblich für das Christentum herausstellen mußten, erwiesen sich einstweilen noch als mächtige Motoren einer christen- freundlichen Stimmung. So wurde die Zeitströmung vorerst den Missionaren zum mächtigen Bundesgenossen. Aber auch ihre eigene Heeresmacht war bedeutend gewachsen. Neue Gesell- schaften traten in die Arbeit ein, darunter der Allg. evang.-protest. Missionsverein Der Allg. evang.-protest. Missionsverein wurde, nachdem er schon im Jahre 1883 durch vertrauliche Versammlungen seiner ersten Mitglieder vorbereitet und ins Leben gerufen war, auf der konstituierenden Versammlung zu Weimar am 4. Juni 1884 begründet. Se. Königl. Hoheit Karl Alexander, Großherzog von Sachsen-Weimar, übernahm das Protektorat und ist seitdem allezeit in hochherziger Weise für die Bestrebungen des Vereins eingetreten. Der geistige Vater des Vereins ist Pfarrer D. Ernst Buß in Glarus, der Verfasser der von der Haager Gesellschaft gekrönten Preisschrift über „Die christliche Mission, ihre prinzipielle Berech- tigung und praktische Durchführung“ (1876). Buß übernahm den Vorsitz, bis ihn eine schwere Erkrankung 1893 zum Rücktritt nötigte. Sein Nachfolger wurde Prediger Dr. Theodor Arndt in Berlin. Der Verein steht in weitherziger evangelischer Ge- sinnung einzig auf dem Boden des Evangeliums Jesu Christi. Dieses Bekenntnis ist auch bei der Wirksamkeit seiner Missionare in Japan und China, den einzigen Arbeitsgebieten des Vereins, von grundlegender Bedeutung. Als erster Missionar wurde im als einziger Vertreter des missionsfreundlichen Deutschland (1885), ferner die Unitarier (1888) und die Universalisten (1890). Dazu waren die fünf großen Gruppen der Kongregationalisten, der Presbyterianer, der Episkopalen, der Methodisten und der Baptisten durch Zuzug neuer Missionare und zum Teil auch ganzer Zweiggesellschaften bedeutend Sommer 1885 der Schweizer Pfarrer Wilfried Spinner von Dynhard (Kanton Zürich) ausgesandt. Derselbe vereinigte 1885 die evangelischen Deutschen in Tokyo und Yokohama zu Ge- meinden, gründete 1887 eine heidenchristliche Gemeinde im Stadt- teil Hongo in Tokyo, schuf im Verein mit dem 1887 entsandten zweiten Missionar Otto Schmiedel die Theologische Schule (Shinkyo Shingakko) und gab seit Oktober 1889 gleichfalls mit diesem die theologisch-apologetische Zeitschrift Shinri (Wahrheit) heraus. Auch die Bildung der meisten, Seite 316 erwähnten, Institute fällt in diese Zeit. Als der Verfasser dieses Werks im Februar 1890 als der dritte Sendbote in Tokyo eintraf, war die Zeit der Neuschaffungen zu Ende. Die Hochflut der Reaktion hatte eingesetzt, es konnte sich nur noch um die Erhaltung des Bestehen- den handeln. Die ersten Sendboten, einschließlich der 1889 ent- sandten Missionarin Frl. Auguste Diercks, sahen sich infolge schlechter Gesundheitsverhältnisse genötigt, nach fünf bis sechs Jahren zurückzukehren. Die Arbeitsüberbürdung war zu erdrückend, und wenn wenigstens ständig drei Misssonare in Arbeit gestanden hätten, anstatt zwei wie gewöhnlich, so würde der eine oder der andere heute wohl noch in Japan sein. Die gegenwärtigen Missionare in Tokyo sind Dr. Max Christlieb (seit 1892), Emil Schiller (seit 1895) und Adolf Wendt (seit 1897); mit Ende 1898 treten noch hinzu Pfarrer Hans Haas und Frl. Agnes Heydenreich. Den Missionaren zur Seite stehen die japanischen Prediger Minami, Komai, Hiroi und Aoki, sämtlich Graduierte unserer Shinkyo Shingakko, ferner eine Evangelistin, ein Lehrer und eine Lehrerin der Armenschule und einige andere Hilfskräfte. In China wirken D. Ernst Faber, dieser schon seit mehr als einem Menschenalter, Paul Kranz (seit 1892) und Lic. Hackmann (seit 1893), alle in Shanghai. Die Errichtung einer Missions- station in Kiautschou hat der Verein gleichfalls in Angriff genommen. verstärkt worden. Eine Hauptmacht der Propaganda aber wurden die eingeborenen Pastoren und Evangelisten, welche zum Teil schon mit Beginn dieser Periode in die Arbeit eintraten, und deren Zahl Jahr für Jahr durch neue Scharen vermehrt wurde. Nishima hatte doch recht, als er meinte, daß Japan durch Japaner evangelisiert werden müsse, wenn auch seinen Schülern, welche riefen, nur Japaner sollten die Apostel ihres Volkes sein, dieses kleine Wörtchen „nur“ noch teuer zu stehen kommen wird. Mit dem größten Erfolg arbeiteten die Glieder von Janes’ Kumamotoschar, Yokoi und Kozaki, Miyagawa und Ichihara, Kanamori und Ebina. Auch die Kirche Christi (presbyt.) besaß in Uemura, Ibuka und Tamura tüchtige Kräfte, und die Methodisten konnten Honda und andere gediegene Männer ins Feld stellen. Und nicht nur die Predigt, sondern auch die andere Missionsthätigkeit fand in japanischen Christen bedeutende Vertreter. Ein junger Mann Namens Ishii, welchen eine Predigt von Nishima besonders erregt hatte, faßte im Jahre 1887 den Entschluß, sich ver- wahrloster, zumal verwaister, Kinder anzunehmen. Er begann mit noch weniger als August Hermann Francke, nämlich mit nichts, aber gleich jenem hatte er ein christ- liches Herz voll Glauben und Liebe. Sein erstes Kind war ein Bettelknabe, welchen seine Mutter nicht ernähren konnte. Ein zweiter Pestalozzi war er den Kindern alles in allem, Vater und Mutter, Kindsmagd und Lehrer. Als das große Erdbeben vom Oktober 1891 Kinder massenhaft zu Waisen machte, nahm er auf einmal 41 derselben in sein Haus auf. Gottes Segen ruhte sicht- bar auf seiner selbstlosen Arbeit, und am Anfang 1893, also nur fünf Jahre nach der Gründung, betrug die Zahl der Waisenkinder 233, während seine Anstalt schon wieder den Anstoß zu drei weiteren Waisenhäusern gegeben hat. Das ist eine wackere Arbeit, und man darf wohl sagen, daß die einheimischen Mitarbeiter von nun an den Missionaren als gleich starke Macht zur Seite stehen. Dieses so sehr, daß fast überall da, wo in den folgen- den Kapiteln von „Missionar“ die Rede ist, auch der japanische Pastor in diesem Begriff miteingeschlossen ist. Ist sie auch der Kürze und Einfachheit halber nicht besonders benannt, so soll das Verdienst der japanischen Geistlichkeit darum nicht geschmälert erscheinen. Die Art und Weise, in welcher diese Missionskräfte der Bekehrungsarbeit oblagen, war, den veränderten Zeitverhältnissen entsprechend, eine ganz andere als früher. Nicht mehr zu zweien oder dreien, nein zu dutzen- den waren sie in Bibelklassen versammelt. Die Gottes- häuser waren gefüllt, und anstatt zur Taufe zu treiben, mußte man eher zügeln. Das Christentum war eine öffentliche Macht geworden. Massenmeetings ( enzetsu- kai ) teils auf öffentlichen Plätzen teils in Theatern und großen Sälen, bei denen oft Tausende von Men- schen zusammenkamen, um stundenlang den Reden von Missionaren und eingeborenen Predigern zu lauschen, fanden allerorts statt und machten großen Eindruck. Die christlichen Arbeiter selbst waren von einer Thaten- lust sondergleichen beseelt. Von der Osakakonferenz (1883) war ein Geist der Erweckung ausgegangen, welcher in Gebetsversammlungen und Revivals fort- während systematisch genährt, mitunter auch in forcierter Weise gesteigert wurde; eine tiefe Erregung, die unter der Einwirkung der Missionare in den Erweckungsver- sammlungen in charakteristisch japanischer, du lkanartiger Weise zum Ausbruch kam (s. S. 120) und nur teilweise eine Ausgießung des Heiligen Geistes genannt zu wer- den verdient; ein Taumel der Begeisterung, welchem die Abkühlung und Ernüchterung später notwendig folgen mußte, hatte sich der ganzen japanischen Christen- heit, nicht nur der Methodisten, sondern auch der sonst nüchternen Kongregationalisten und Presbyterianer be- mächtigt. Der thatkräftigen Propaganda der christlichen Kreise entsprach die mutlose Lethargie der Gegner. 1884 traf den Buddhismus und den Shintoismus der letzte schwere Schlag. Trotzdem der erstere schon früher aus der Gunst des Staates gefallen war, wurden doch seine Priester ebenso wie die des Shinto immer noch von der Regierung ernannt. Dadurch haftete ihnen ge- wissermaßen ein amtlicher Charakter an, was ihnen in den Augen des loyalen Volkes immerhin noch ein ge- wichtiges Ansehen verlieh. Jetzt aber wurde das „staatliche Priestertum“ aufgehoben, und die Ernennung von Priestern den religiösen Oberen anheimgegeben. Auch die Friedhöfe wurden ihres sozusagen konfessionellen Charakters entkleidet, fortan durfte keinem Toten um seines religiösen Bekenntnisses willen ein Begräbnisplatz verweigert werden. Die beiden Religionen ließen alles ruhig über sich ergehen. Noch besaßen sie manche Vor- rechte gegenüber dem Christentum, aber eine hoffnungs- lose Resignation hatte sich ihrer bemächtigt. So ist es denn kein Wunder, wenn die Missions- statistik am Schlusse des Jahres 1889 große Zahlen aufzuweisen hat. Die Zahl der fremden Missions- arbeiter war von 1882 bis 1889 von 145 (89 männ- lichen und 56 weiblichen, unter Ausschluß der Missio- narsfrauen) auf 363 (201 männlichen und 162 weib- lichen) gewachsen, die der Missionsstationen von 120 auf 533. Die fremden Arbeiter haben sich also weit über das doppelte, die Stationen weit über das vier- fache vermehrt. Die Zahl der einheimischen ordinierten Prediger war von 49 auf 135, die der nichtordinierten Helfer von 137 auf 410, die Zahl der theologischen Schüler von 71 in sieben Schulen auf 287 in 14 Schulen, die der Sonntagsschüler und -Schülerinnen von 2540 auf 21597 gestiegen. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen in Tagesschulen betrug 10297. Die Summe der Beiträge zur Selbstunterhaltung stieg von 12046,48 Yen auf 53503,13 Yen. Die Zahl der er- wachsenen Christen aber war von 4367 auf 28977 an- geschwollen. Die Zahl der Christen hat sich also in 7 Jahren beinahe versiebenfacht. Die höchste Ziffer der Bekehrungen erreichte das Jahr 1888 mit 6959 Er- wachsenentaufen d. h. mit rund 2600 Seelen mehr, als die ganze Missionsernte von 1859 bis 1882 betragen hatte. Die Führung hatten die Kumiai Kyokwai (Kongreg.) und die Nippon Christo Ichi Kyokwai (Presbyt.). Steht die letztere an Zahl der Mitglieder obenan, so wird sie doch in fast allem andern von der ersteren um etwas überragt. Doch sind die Erfolge fast gleichmäßig allen Gesellschaften zu teil geworden, nicht zum wenigsten auch der deutsch-schweizerischen Mission, welche, obwohl an Zahl der Arbeitskräfte verschwindend klein, sich doch eine angesehene Stellung bei den Missionaren wie bei den Japanern zu schaffen verstanden hatte. Die Mitgliederzahl der von dem Verein begründeten Fukiu Fukuin Kyokwai (Allgemeine Evang. Kirche), zu welcher sich außer der Hongoge- meinde noch zwei kleine Gemeinden in dem Stadtteil Shiba und dem Dorfe Hōden gesellt hatten, die zuvor seelsorgerisch unversorgt gewesen waren, belief sich am Schlusse unseres Zeitraums auf 145. Überaus groß ist die Zahl der sich selbst erhaltenden Gemeinden. Am Schlusse des Jahres 1888 erhielten sich von 249 Gemeinden 92 (also über ⅓) selbst, alle übrigen aber teilweise. Erstens drangen die Missionare darauf, zweitens strebten die Japaner selbst nach Unab- hängigkeit. Diesem Unabhängigkeitsstreben aber lag ein gewisser Gegensatz gegen die Fremden, geboren aus dem Rasseninstinkt, zu Grunde. Derselbe war seither mehr oder weniger glücklich überbrückt worden, insbesondere hatte die Osakakonferenz die Bande der Gemeinschaft zwischen beiden enger geknüpft. Gleichwohl aber lösten sich jetzt schon eine Anzahl von Gemeinden von den Missionsverbänden, um sich als völlig unabhängige Ge- meinden zu konstituieren. Möglich, daß die Missionare ihre einheimischen Hilfsarbeiter nicht immer zu nehmen wußten; sicher aber, daß die Japaner den Hauptanteil der Missionserfolge der achtziger Jahre für sich in An- spruch nahmen und dadurch in gewissem Grade an- maßend wurden. Eifersucht und Mißtrauen nahmen überhand, und schon am Ende der gesegneten Epoche (1882—89) begannen die Kumiaikirchen daran zu denken, die sich selbsterhaltenden Gemeinden und die Missions- schulen von dem gemeinsamen Board loszutrennen und unter ausschließlich japanische Verwaltung zu stellen, ein Bestreben, welches fortan beständige innere Kämpfe zur Folge hatte. Als mit dem Jahre 1889/90 die Volksstimmung umschlug, womit auch für das Christentum eine neue Epoche, und zwar der Sichtung und Prüfung, eintrat, kam der Gegensatz scharf zu Tage. Die fremdenfeind- liche Stimmung ergriff auch die Christen. Die ja- panischen Pastoren selbst stimmten eifrig mit ein in den Ruf „Japan für die Japaner“, und aus diesem Ruf zogen sie die religiösen und kirchenpolitischen Konsequenzen. Die Doshisha, um dies hier vorauszunehmen, sollte zum Hauptexperimentierfeld dieser Bestrebungen werden. Im Januar 1890 war Nishima gestorben, ein schwerer Schlag für das junge Christentum in kritischer Zeit. Sein Nachfolger Kozaki, bis dahin Prediger an der eine Zeitlang durch Spinner mitbedienten Bancho- gemeinde zu Tokyo, war nicht stark genug, vielleicht auch nicht willig, den immer mächtiger werdenden Gegensatz gegen die Fremden zu dämmen. Dazu kam, daß man auf Seite der Missionare durch schlimme Erfahrungen geängstigt war, die man schon anderswo gemacht hatte. So hatte die Tokwa- gakko, eine Art Gymnasium in Sendai, früher ganz unter dem Einfluß des American Board gestanden; aber eine feindliche Strömung im Schulvorstand brachte es 1892 fertig, daß sie ihres christlichen Charakters ent- kleidet wurde und daraufhin einging, nicht ohne die Mitschuld christlicher Lehrer. Ein Jahr darauf ent- standen Mißhelligkeiten zwischen dem American Board und seiner japanischen Schulverwaltung in Kumamoto. Da es nach den bestehenden Verträgen den Fremden nicht gestattet war, immobiles Eigentum zu erwerben, so hatten sich die Missionsgesellschaften genötigt gesehen, ihre Grundstücke und Gebäude auf die Namen japa- nischer Vertrauensmänner schreiben zu lassen. Die Regierung wußte darum, und niemand sah etwas Un- moralisches darin. Jetzt aber erklärte eine chauvinistische Volksstimmung diejenigen Japaner, welche sich dazu hergaben, für Verräter am Vaterland, und diese hatten nicht Rückgrat genug, dieser Stimmung zu widerstehen. Dazu kamen ihre eigenen Unabhängigkeitsgelüste, kurzum die japanische Verwaltung der Schule des American Board zu Kumamoto hatte den traurigen Mut, die Liegenschaften des Board, worunter einige Missionar- wohnungen, deren nomineller Besitzer sie war, für ihr rechtliches Eigentum zu erklären. Der Board, welcher rechtsgiltige Besitztitel nicht besaß, mußte es sich ruhig gefallen lassen, mußte zugleich aber auch zusehen, wie der christliche Charakter der Anstalt auch hier preis- gegeben wurde. Unterdessen spitzten sich auch die Verhältnisse an der Doshisha zu. Man fing an, gegen die amerikanischen Lehrer in einer Weise vorzugehen, welche mit der viel- gerühmten japanischen Höflichkeit wenig gemein hatte. Auch das christliche Gepräge der Anstalt begann Ein- buße zu erleiden. Die Missionare meinten, die Ver- antwortung nicht länger tragen zu können und wandten sich mehrfach an die Leitung des Board in Amerika mit der Bitte um Entsendung einer Kommission zur Unter- suchung der Verhältnisse. Dieselbe kam im September 1895 in Japan an und blieb bis Dezember. Die Ver- handlungen mit der japanischen Doshishaverwaltung nahmen keinen befriedigenden Verlauf. Die Ver- waltung war entschlossen, sich unabhängig zu machen. Sie gestand zu, daß die Doshisha ihren christlichen Charakter behalten werde; „man solle ihnen vertrauen, daß sie Wort halten werden“; sollte die Doshisha je darauf verzichten, ein christliches Institut zu sein, so sollte das Besitztum der Schule verkauft und der Erlös den Gebern zurückerstattet werden. Mit dieser Er- klärung mußte sich die Deputation begnügen. Kaum war sie wieder nach Amerika zurückgekehrt, da machte sich das japanische Komitee an die definitive Regelung. 1896 setzte es dem Amerikan Board, welcher die Anstalt unter beispiellosen Opfern von Geld (ca. 3 Mil- lionen Dollar) und Kräften gegründet und ausgestaltet hatte, den Stuhl vor die Thüre. Es erklärte, vom 1. Januar 1897 an auf weitere Beihilfe durch Geld und Lehrer zu verzichten. Gleichzeitig erklärte es sämt- liche Grundstücke und Gebäude, welche auf die Namen von japanischen Mitgliedern der Doshishaverwaltung geschrieben worden waren, für rechtliches Eigentum der japanischen Verwaltung. Der einzige Lichtblick in diesem dunkeln Gebahren ist ein abermaliges Schreiben des Präsidenten Kozaki an den American Board, in welchem die feierliche Erklärung abgegeben wird, daß die Anstalt auch fortan in Übereinstimmung mit ihren christlichen Prinzipien weitergeführt werden solle. Aber was ge- schah? Kozaki, welcher wohl fühlen mochte, daß er auf einer schiefen Ebene gleite, legte bald darauf die Prä- sidentschaft nieder, und schon zu Beginn 1898 gab der Verwaltungsrat der Doshisha, an dessen Spitze nach Kozakis Rücktritt Yokoi getreten war, der japanischen Regierung die feierliche Erklärung, daß in Zukunft, abgesehen vom theologischen Kurs, der christliche wie überhaupt jeglicher Religionsunterricht ausgeschlossen sein solle. So ist denn die Doshisha, welche bestimmt war, eine Leuchte des Christentums für das ganze Land zu sein, eine religionslose Schule geworden, und dieses um einer elenden Bagatelle willen, um nämlich für die Schüler der Anstalt dieselbe Vergünstigung zu erlangen, deren sich die Regierungsschulen erfreuen, bis zum 28. Lebensjahr vom Militärdienst befreit zu sein. Unterdessen hatten auch die Kumiaikirchen, welche sich nie über Bedrückung oder auch nur Bevormundung zu beklagen hatten, die faktische Anerkennung ihrer Freiheit von den Fremden erreicht. Dem Daikwai (Generalsynode) der Kumiaikirchen im Jahre 1894 wohnten die Missionare nur noch mit beratender Stimme bei. Zweifellos betrachtete Yokoi die Erklärung an die Regierung nur als eine formelle, der zum Trotz der christ- liche Geist der Anstalt gewahrt werden könne; trotzdem verdient sie die schärfste Verurteilung. Diese Verur- teilung ist ihr denn auch von seiten des japanischen Christentums und nicht zum wenigsten der Kumiaikirchen in so reichem Maße und in so entschiedener Weise ge- worden, daß man wieder neue Sympathien für das- selbe gewinnt. Die chauvinistische Überspannung der Doshishakreise hat das Gute gehabt, schon seit 1896 die andern japanischen Christen und Pastoren zur Besinnung zu bringen. Auch die Missionare der anderen Gesell- schaften haben ihre Lehren gezogen. Die Kirche Christi (presbyt.) hat gegenüber den Selbständigkeitsgelüsten ohne volle Übernahme der Selbständigkeitspflichten seit 1896 die Zügel straffer gespannt. Das Verhältnis zwischen den Missionaren und der eingeborenen Geist- lichkeit hat heute Aussicht auf dauernde Besserung, und da die Doshisha auf die Dauer nicht religionslos blei- ben wird, so steht zu hoffen, daß die seitherige Span- nung für die Zukunft ohne allzu böse Folgen sein werde. Für die Vergangenheit sind diese Folgen freilich nicht wegzuleugnen. Unter sich gespalten, waren die Christen dem plötzlichen und ungestümen Anprall des altjapanischen Geistes, welcher seit 1889/90 erfolgte und bis heute noch nicht zum Abschluß gelangt ist, nicht gewachsen. An Anzeichen einer beginnenden Epoche der Reaktion hatte es schon zuvor nicht gefehlt. Unter den gewaltigen Erfolgen war immer eine widrige Unter- strömung vorhanden. Dieselbe kam obenauf, als man 19 sich in seinen politischen Erwartungen getäuscht sah. Die Vertragsverhandlungen, welche die Gleichberechti- gung Japans mit den Westmächten zur Unterlage hatten, zerschlugen sich kurz vor dem Abschluß (1889), und die Erbitterung darüber, sich als unkultivierte Nation be- handelt zu sehen, schlug zu hellen Flammen auf. Man fühlte sich um so mehr beleidigt, als man meinte, durch die Proklamation der konstitutionellen Verfassung am 11. Februar 1889 den Anspruch auf den Namen eines civilisierten Staates erworben zu haben. Die nationale Enttäuschung machte sich Luft in einem Attentat auf den Minister des Auswärtigen Okuma (Oktober 1889). 1890 wurde das erste Parlament eröffnet. Die Politik, ohnedies das Steckenpferd der Japaner, verschlang alle anderen, im besonderen die religiösen Interessen, und als bald darauf der Kampf um Parlamentsherrschaft oder Clansregierung begann, in dessen Verlauf das Parlament mehrmals aufgelöst wurde und die Regie- rung des öftern wechselte, kam man aus der politischen Aufregung nicht mehr heraus. Dem Fremden gegenüber versteifte man sich mit Fleiß auf das Original-Japanische. Die europäische Kleidung, welche immer mehr in Mode gekommen war, verschwand bei den Frauen wenigstens vollständig, was zwar vom ästhetischen Standpunkt aus keineswegs zu beklagen ist. Gegenüber den in den Mädchenschulen der Missionen mit Unbedacht gepflegten europäischen emanzi- pierten Manieren besann man sich wieder auf das alt- japanische Frauenideal. Europäische Zimmereinrich- tungen, für welche man sich zuvor begeistert hatte, waren billig wiederzuhaben, und selbst der Japaner, der jahre- lang im Abendlande studiert hatte, verschmähte den europäischen Stuhl und setzte sich nach japanischer Sitte auf den Boden. Der Modernisierungsfanatismus hatte sich sogar bis auf den Rundtanz erstreckt, trotzdem er dem ästhetischen Gefühl des Japaners der Inbegriff des Abscheulichen ist; jetzt aber hörte auch das auf. Auch die Personen der Abendländer wurden un- beliebt. Man sah sie nicht mehr gern in Regierungs- stellungen und beschnitt ihre Zahl so viel als möglich. Ausschreitungen von seiten von Studenten und Kuli kamen wieder vor, und die Attentate auf den Czarevitsch und Li Hung Chang sind weiter nichts als die Aus- brüche einer tiefgehenden Abneigung gegen die Fremden. Als der Krieg mit China kam (1894), glaubte man, die Stimmung werde sich entladen und normale Zustände zurückkehren. Das Gegenteil war der Fall. Über den Erfolgen wuchs das Selbstgefühl, und als am Schlusse der ostasiatische Dreibund, Rußland, Frankreich und Deutschland, die japanische Regierung zum Verzicht auf die Liaotung-Halbinsel zwangen, wurde die Abneigung gegen die Fremden schärfer als zuvor. Selbst der zuerst mit England erfolgte Abschluß der Handelsverträge (1894), welche für Japan überaus ehrenvoll sind, konnte die Volksstimmung nicht freundlicher gestalten; auch sie bewirkten nur eine Steigerung des Selbstgefühls. Nach dem Kriege nahmen Handel und Industrie einen unge- heuren Aufschwung und traten gleichfalls beherrschend in den Interessenkreis des Volks. Dazu war durch Formosa und Korea dafür gesorgt, dem neuigkeitssüchtigen Volke beständige aufregende Unterhaltung zu bieten, und die Stimmung wurde natürlich nicht besser, als die Westmächte an die Aufteilung von China gingen und Japan aus dem schönen Traume herausrissen, als gehöre ihm allein der Osten Asiens. In erhöhtem Maße wandte sich die Abneigung gegen das Christentum. Es ist wie eine Ironie, daß gerade in dem Augenblick, da dem Christentum durch 19* die Verfassung die langersehnte Religionsfreiheit ver- bürgt wurde, die böse Zeit für dasselbe begann. Mit einem Male glaubte man entdeckt zu haben, daß durch den christlichen Geist die Besonderheit und Eigentüm- lichkeit des japanischen Charakters und damit die Grund- lage der nationalen Selbständigkeit untergraben werde. Der Patriotismus, und damit die größte japanische Macht, wandte sich gegen das Christentum, sowie er zuvor für dasselbe gewesen war. Ihm verbündeten sich aber alle übrigen Geistesmächte; voraus die Bildung, welche das Christentum als vernunftwidrig bekämpfte, ferner der Buddhismus, welcher sich mit einem Male als Träger des altjapanischen Geistes aufzuspielen wußte, und endlich auch noch der Shintoismus, welchem in der starken Betonung des Patriotismus noch einmal eine Blütezeit anzubrechen schien. In der That erfüllte der Kampf die alten erstarrten Religionen mit neuem Leben, so daß sie in dieser Periode eine größere Bedeutung gewannen, als sie in den letzten Jahrzehnten besaßen. 1890 erschien ein kaiserlicher Erlaß, welcher die mora- lische Erziehung der Jugend wieder ganz auf die kon- fuzianische Grundlage Altjapans stellte. Eine Flut von christenfeindlicher Litteratur überströmte das Land. Bud- dhistische Zeitschriften schossen wie Pilze aus der Erde auf. Den Höhepunkt erreichte die litterarische Polemik 1893 in einer Schrift („Kollision zwischen Religion und Sittlichkeit“) des Professors der Philosophie Inouye Tetsujiro, der früher als Lektor am Orientalischen Seminar zu Berlin thätig gewesen war. Inouye behauptete, das Christentum habe in Europa keinen wirklichen Einfluß außer bei Weibern und Kindern und Schustern und Schneidern; gebildete Leute seien darüber hinaus; die theologischen Fakultäten seien veraltete Anhängsel an den Universitäten, ihre Professoren seien gute Gelehrte, aber schlechte Christen, die Studenten der Theologie seien arme Schlucker, die aus dieser sogenannten Wissen- schaft ein Brotstudium machten; die Moral des Christen- tums stehe unter der des Buddhismus, die Sittlichkeit des christlichen Europa unter der des heidnischen Japans; die Blüte des Christentums falle zusammen mit dem Verfall des nationalen Wohlstands (Spanien); auf- blühende Völker wenden sich von der Lehre Jesu ab. Der Kernpunkt des Büchleins war aber die Behauptung, daß Christentum und japanischer Nationalcharakter sich nicht vertragen, daß dieser durch jenes vernichtet werde. — Die Christen versäumten nicht, auf die oberflächliche Schrift scharf zu antworten, aber die Gegenpartei fühlte sich wesentlich gestärkt. Aber auch außerhalb der Presse machte sich die Rückbewegung bemerkbar. Dieselben Staatsmänner, welche zuvor für das Christentum eingetreten waren, machten nun aus ihrer Verachtung desselben kein Hehl. Ito und Inouye, Fukuzawa und Okuma möchten heute nicht mehr daran erinnert sein, daß sie einst zu christ- lichen Zwecken große Summen ausgegeben haben oder, wie Fukuzawa, ihre Töchter in Missionsschulen erziehen ließen. Von den beiden ersten erzählt man sich, daß sie des öftern ostentativ buddhistische Tempel besuchten. Christlichen Lehrern wurde mehrfach ihre Stellung schwierig gemacht und christlichen Schülern der Verbleib verleidet, wenn sie nicht gar ausgeschlossen wurden. Thätliche Beleidigungen von Missionaren und Störungen christlicher Versammlungen, sowie Beschädigungen von Kirchen, Dinge, welche ganz verschwunden waren, machten wieder unliebsam von sich reden. Schlimmer aber als alle diese Feindseligkeiten war die Gleichgültigkeit, die allmählich bei der Masse des Volks gegenüber dem Christentum Platz griff. Dazu hatte man durch den Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große Nation auch ohne das Christentum werden könne, ja daß selbst Institutionen der Humanität, wie das Rote Kreuz, von dem Christentum völlig unabhängig seien. Immer seltener wurde es, daß Nichtchristen die Gottesdienste besuchten. Aber auch für die Christen selbst stand das politische Interesse zu sehr im Mittel- punkt, als daß sie nach wie vor im Christentum auf- gegangen wären. Es war zuviel der Zerstreuung, wo Vertiefung sehr not gethan hätte. Das religiöse Leben erschlaffte. Tausende, die nur aus politischen Gründen sich hatten taufen lassen, kehrten der Kirche den Rücken, als sie sich enttäuscht sahen, Tausende von anderen, welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende Durchbildung Christum angenommen hatten, erkalteten jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Listen der Kirchen gestrichen. Schwere Krisen blieben für keine Gemeinde aus, und nicht jede hat sie überwunden. Demgegenüber war die Verstärkung der christlichen Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das Christentum durch zwei Gesellschaften vermehrt, welche besser nicht erschienen wären. Es sind dies die Ply- mouthbrethren oder Darbysten (1892), die Anarchisten auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die Christen von jeder kirchlichen Gemeinschaft loszulösen, und die Salvation Army (1895), welche als die christ- lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die Sympathien für das Christentum nicht zu erhöhen ver- mögen. Dagegen machten sich bei den Kongregationalisten unter den geschilderten Erfahrungen schwere Bedenken geltend, ob man die fremden Missionskräfte noch weiter- hin vermehren solle; ja, es war zeitweilig alles Ernstes davon die Rede, daß der American Board seine Arbeiter aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieser Frage beschäftigte sich die 1895 entsandte Deputation, und sie faßte den unter den obwaltenden Verhältnissen weisen Beschluß, von einer Vermehrung des Missionspersonals zwar vorläufig abzusehen, dasselbe aber doch in seiner gegenwärtigen Stärke zu belassen. Vielleicht daß man doch für Zurückziehung wenigstens eines Teiles gestimmt hätte, wenn nicht während ihrer Anwesenheit in Japan die Missionare der Kirche Christi (presbyt.) unter still- schweigender Zustimmung auch der anderen Gesell- schaften im Oktober 1895 einen überaus bemerkens- werten Protest erlassen hätten, worin sie es für geboten erklärten, daß die fremden Arbeiter auch künftighin vermehrt werden. In der That beruht die im Abend- lande vielverbreitete Ansicht, als seien die japanischen Christen selbständig genug, weiter für sich zu sorgen, auf einer Verkennung der Verhältnisse. Die Vorgänge in den Doshishakreisen haben im Gegenteil gezeigt, daß das junge japanische Christentum ohne die besonnene Leitung der Missionare noch für lange hinaus nicht zu bestehen vermag. Mit den Gemeinden ist es wie mit den einzelnen. Allzu früh auf eigene Füße gestellt, gehen die besten und vielversprechendsten Kräfte wieder verloren. Darum darf das independentistische Verwaltungs- prinzip der Kongregationalisten auf dem Missionsfelde nur mit pädagogischer Weisheit angewandt werden. Lassen wir nun die Zahlen reden. In den ersten Jahren zwar ist der Rückschlag noch nicht so deutlich bemerkbar. Der Strom, der in die Kirchen einmündete, war doch zu stark, als daß er sich mit einem Male ein- dämmen ließ. So betrug am Ende des Jahres 1892 die Zahl der fremden Missionsarbeiter 420 (gegen 1889 + 57), der Stationen 656 (+ 123), der organi- sierten Gemeinden 365 (+ 91), darunter selbstunter- haltende Gemeinden 77 (— 16), der Schüler und Schüle- rinnen 6893 (— 3404), der Sonntagsschüler 22777 (+ 1180), der Theologiestudierenden 359 (+ 72) in 16 (+ 2) Schulen, der einheimischen Prediger 233 (+ 98), der nichtordinierten Hilfsarbeiter (männl. und weibl.) 637 (+ 50). Die Gesamtzahl der evangelischen japa- nischen Christen war auf 35534 angewachsen gegen 28977 (also + 6557). Es sind also im allgemeinen noch ziemliche Steigerungen zu verzeichnen, dagegen ist die Verlangsamung des Bekehrungsprozesses klar erkenn- bar, wenn man bedenkt daß der Jahreszuwachs der Christen im Durchschnitt nur noch 2186 (gegen 3514) betrug. Seit 1893 trat zeitweilig ein völliger Stillstand, in manchen Jahren (1895—96) sogar ein Rückschritt ein. Am Schlusse 1897 beträgt die Zahl der evange- lischen Christen 40578 (gegen 1892 + 5044, Jahres- durchschnitt nur noch 1008); die fremden Missions- arbeiter zählen 456 (+ 36), die ordinierten Prediger 302 (+ 69), die nichtordinierten Hilfsarbeiter 879 (+ 242), die Missionsstationen 885 (+ 229). In Bezug auf die Vermehrung besonders der japanischen Arbeiter und auf Inangriffnahme neuer Stationen ist also eine bedeutende Steigerung zu bemerken, der aber die Er- folge keineswegs entsprechen. Wiederum bedeutend zurückgegangen ist die Zahl der sich selbst erhaltenden Gemeinden (72 gegen 77), und der Zuwachs an orga- nisierten Gemeinden ist sehr gering (384 gegen 365, also + 19 bei 229 neuen Stationen). Der Besuch der Missionsschulen hat sich etwas gehoben (8715), der der Sonntagsschulen hat sich enorm gehoben (35033), da- gegen ist die Zahl der Theologiestudierenden von 359 auf 169 (— 190) herabgesunken. Die Beiträge zur Selbstunterhaltung sind auf 81551,72 Yen gestiegen (gegen 53503,13 im Jahre 1889). Der Zuwachs wurde freilich erst durch das letzte Berichtsjahr erbracht; 1896 betrugen die Beiträge nur erst 60504,56 Yen. Überhaupt hat das Jahr 1897 einen bedeutenden Fortschritt des gesamten Missionswerks zu verzeichnen. Möglich, daß die Reaktion ihren Höhepunkt überschritten hat. Es ist freilich schon manche Prophezeiung besserer Zeiten in diesem letzten Jahrzehnt ausgesprochen worden; aber immer ist der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen. Gern hoffen wir, daß ein so guter Beobachter wie unser Missionar Schiller Recht behält, wenn er (Z. M. R. XIII, S. 154) im Frühjahr 1898 schreibt: „40578 evangelische Christen, das ist eine Zahl, welche bisher noch nicht erreicht worden war; sie geht über die bisherige Höchstziffer vom 31. Dezember 1894 um 1338 Seelen hinaus, so daß also thatsächlich ein nach- weislicher Fortschritt zu verzeichnen ist. Man hatte ihn schon einigermaßen voraussehen können; denn es war nicht zu leugnen, daß die Feindschaft gegen das Christen- tum trotz aller chauvinistischen Bemühungen einzelner Kreise abgenommen hatte, daß mehr religiöses Leben in den japanischen Gemeinden sich zeigte, auch mehr Zuversichtlichkeit bei den treugebliebenen Predigern. Das Auge des gläubigen Hoffens sieht schon einen neuen Frühling kommen, wenn erst alle die welken Blätter abgestoßen sind. Gott wolle ihn geben zum Segen des japanischen Volkes, damit dasselbe anfange, neben seiner politischen auch seine christliche Aufgabe in der Welt- geschichte zu lösen!“ Betrachten wir die einzelnen Gesellschaften und Gruppen, so steht auch jetzt wieder die Kirche Christi (verein. Presbyt., 7 Gesellschaften) an Zahl der Mit- glieder mit 11108 obenan. Ihm folgen, wie früher auch, mit 10047 die Kumiaikirchen (kongreg.), die aber an Zahl der organisierten Gemeinden (73 zu 70), ferner an Zahl der sich selbsterhaltenden Gemeinden (38 zu 14), sowie auch an Beiträgen der einheimischen Christen (22925 zu 18158 Yen) jene überragen. Beide hatten viel unter den inneren Zwistigkeiten zu leiden und sind in den acht Jahren der Reaktion wenig gewachsen. Vielmehr fällt der Löwenanteil an dem Gewinn dieser Jahre der an dritter Stelle stehenden Nippon Sei Kyokwai (verein. Episkopale) zu. Autoritätskirche wie sie ist, sind innere Kämpfe bei ihr am wenigsten hervor- getreten. Sie zählt jetzt 8349, hat aber nur eine einzige Gemeinde, die sich selbst erhält, und ihre Mit- glieder leisten nur 8604 Yen an Beiträgen. Weit besser in dieser Hinsicht stehen die fünf methodistischen Gesellschaften da, doch sind sie an Zahl der Bekehrten mit gegenwärtig 7053 nicht bemerkenswert vorange- kommen, was wohl auf eine sehr scharfe Sichtung der toten Glieder zurückzuführen ist. Die vier Gesellschaften der Baptisten zählen 2651 Gläubige; der Rest verteilt sich auf eine Anzahl kleinerer Gesellschaften. Auch die Fukiu Fukuin Kyokwai des Allg. ev.-prot. Missionsvereins hat den Sturm dieser Periode über sich ergehen lassen müssen. Neue große Unternehmungen ließen sich nicht ausführen; auch sie mußte erfahren, daß eine Zeit der Konzentration, nicht der Expansion gekommen sei. Zeitweilig hat sie ihren Besitzstand so- gar aus freien Stücken etwas vermindert. Ihre Send- boten sahen sich gewissenshalber veranlaßt, die beiden kleinen Gemeinden Shiba und Hoden, welche für den Fortschritt des Werkes belanglos waren, für die schwachen Arbeitskräfte aber eine große Belastung bedeuteten, an die Universalistenmission abzugeben. Aber auch während dieser Periode fanden fortwährend Taufen statt, welche den durch Wegzug und eine reinlich durchgeführte Aus- scheidung toter Glieder verursachten Verlust wieder deckten. Dabei blieben die geistige Rangstellung und der moralische Einfluß unserer Mission nach wie vor sehr bedeutend. Wenn schon bemerkt wurde, daß das Jahr 1897 ein Segensjahr für die japanische Arbeit war, so gilt das im besonderen Maße für das deutsch-schweizerische Missionsunternehmen. Keine Zeit zuvor brachte ihm einen solchen Zuwachs an Arbeitskräften. Aus Deutschland kam ein dritter Missionar mit seiner Gattin und in der jungen Gefährtin des einzigen bisher unverheirateten Missionars ist dem Werke noch eine weitere Gehilfin erstanden. Die theologische Schule absolvierten gleich- zeitig drei hoffnungsvolle und thatenfrohe junge Männer, deren einer schon vor Beginn seines theologischen Stu- diums in einer angesehenen Lehrerstellung an einer höheren Schule seine Tüchtigkeit erwiesen hatte. Sie traten sofort in die praktische Arbeit ein. Neben der Muttergemeinde Hongo bestehen heute noch weitere drei Stationen, zwei in den Stadtteilen Yotzuya und Shi- taya und eine in der Tokyo benachbarten Kreishaupt- stadt Chiba. Als ein weiterer Erfolg des Jahres 1897 darf auch die Einweihung der neuerbauten deutsch-evan- gelischen Kirche zu Tokyo bezeichnet werden. Heute geht es auf der ganzen Linie langsam, aber mit Vertrauen erweckender Sicherheit voran. Die Berichte unserer Missionare klingen zuversichtlich, und wer ihre Ar- beit mit Aufmerksamkeit verfolgt und neben ihrem unverdrossenen Thun auch das betende Herz erkennt, mit welchem sie unter der Fahne Christi, des einigen Heilandes, stehen, der kann nimmermehr zweifeln, daß auch hier das Verheißungswort Gottes mehr und mehr zur Erfüllung kommen wird: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ Die evangelische Mission ist die einzige nicht, ja sie wird gegenwärtig an Zahl der Mitglieder noch über- ragt durch die römisch-katholische. Dieselbe hielt 1861 ihren Einzug. Wenige Jahre darauf entdeckte sie die Reste der aus der Jesuitenmission verbliebenen Christen, nach ihren wohl etwas übertriebenen Angaben nicht weniger als 7000. Schon im Jahre 1881 wird von 25633 katholischen Christen berichtet (gegen damals 4412 evangelische). Im Jahre 1886 waren es 32294, doch hat sich die Zunahme seitdem im Vergleich zu dem Wachstum der Evangelischen etwas verlangsamt. Am Ende des Jahres 1897 zählte die römische Kirche 52796 Glieder. Im Vergleich zu dem Vorjahr be- deutet das trotz 3033 Kindertaufen — ein treffliches Charakteristikum der römischen Missionspraxis! — nur einen Zuwachs von 619 (gegen 2217 Evangelische). Unter den erwachsenen Mitgliedern bröckelt es also stark; die römische Lehre verträgt sich nicht mit dem mündig gewordenen japanischen Geist. Wie überall, so beruht die Stärke der römischen Mission auch hier in der Organisation. Das Land ist in vier Bistümer ein- geteilt, ein Erzbischof hat in Tokyo seinen Sitz. Das Gros der Gläubigen befindet sich auf Kyushiu. Die Arbeit liegt in den Händen der Pariser Missionsge- sellschaft. Fast alle Missionare sind Franzosen oder vielmehr, damit ich es besser sage, Elsaß-Lothringer. In ihrer Knabenschule auf dem Kudanhügel in Tokyo, deren Vorsteher den guten deutschen Namen Heinrich trug, waren zur Zeit meiner Anwesenheit 17 Laien- brüder (bei 120 Schülern!) thätig, alle Elsaß-Lothringer; sie verstanden durchweg deutsch, gaben sich aber als Franzosen aus. Wer gesellig mit den weltgewandten Männern zu verkehren Gelegenheit hatte, kann es be- greifen, daß unsere Reisenden von diesen wirklich ge- winnenden Persönlichkeiten entzückt sind. Wenn sie aber ihre Sympathien auch auf das Werk jener Männer übertragen, so ist das sehr kurzsichtig. Einen ungemein tüchtigen Vertreter hat die russisch- orthodoxe Mission, welche in Japan ihr einziges Arbeits- feld besitzt, in ihrem Bischof Nikolai. Derselbe kam im Jahre 1862 nach Hakodate, wo er 1864 vorübergehend mit Nishima Beziehungen hatte. Später ließ er sich in Tokyo nieder, wo er auf dem Surugadaihügel eine stolze Kathedrale errichtete. Er hat von jeher unter Verzicht auf russische Hilfe fast nur mit Japanern ge- arbeitet und dabei zahlenmäßig sehr große Erfolge errungen. Die russische Kirche, die freilich in den letzten Jahren sehr wenig gewachsen ist, zählt heute d. h. Ende 1897 23856 Mitglieder. Die politische Rivalität, welche seit kurzem zwischen Japan und Rußland aufgetaucht ist, und die im Verlauf der Zeit sich immer mehr zu feindseliger Spannung auswachsen wird, bleibt für die Folge ein schweres Hindernis des russischen Missions- werks. Die Gesamtsumme japanischer Christen beträgt heute 117224. Auf 364 Bewohner kommt 1 Christ. Ob in hundert Jahren die heutigen Kirchen noch be- stehen werden, ist zweifelhaft. Sicher aber ist, daß das Christentum der Zukunft, wenn auch selbständig japanisch, nur eins zur Grundlage haben wird: Das Evangelium Jesu Christi. X. Die Einzelbekehrung. D as Gepräge des japanischen Missionsfeldes ist eigentümlicher Natur. Wir haben es hier nicht mit rohen „Wilden“ zu thun, sondern mit einem in seiner Art gebildeten Kulturvolk, welches zudem mit Riesen- schritten sich auf europäischen Boden stellt. Daß ein japanischer Kulturmensch, vielleicht gar ein Schüler oder Lehrer der Hochschule, anders zu behandeln ist als ein menschenfressender Südseeinsulaner, versteht sich wohl von selbst. Man behandelt ja auch einen sechzehnjährigen Gymnasiasten anders als ein sechsjähriges Kind; und wiederum, von einem Gymnasialprofessor fordert man anderes als von einer Kindergärtnerin. Nicht jeder Missionar, der für Afrika vortrefflich paßt, ist auch in Japan zu gebrauchen, während ich andererseits wieder der ehrlichen Überzeugung bin, daß wenige von denen, die ich in Japan kennen lernte, in Afrika recht an ihrem Platze wären. Man macht sich hierzulande kaum einen Begriff, welche Ansprüche an das Wissen eines Missionars in Japan gestellt werden. Wollten unsere Missionsgesell- schaften nur Leute aussenden, welche mit Bezug auf wissenschaftliche Qualifikation allen Anforderungen voll und ganz entsprächen, sie könnten lange suchen. Der Japaner ist mitunter zu naiv. Er ist im stande zu denken: „Der Missionar ist ja ein Europäer, oder er ist gar ein Deutscher; er hat eine deutsche Hochschule absolviert, also muß er auch alles wissen, muß ungefähr so weise sein, wie der erleuchtete Buddha selbst“. Von dem Missionar Dr. Knox wird allen Ernstes erzählt, als er nach Kochi kam, glaubte das Volk, daß er alles wisse, und erbat seinen Rat über alles und jedes, von der Papierfabrikation bis zu den Geheimnissen der Staatskunst. Und wenn die Verhältnisse seitdem auch mit Bezug auf die Taxierung der Fremden etwas anders geworden sind, so müßte auch heute noch der richtige Missionar eigentlich ein wandelndes Konservations- lexikon sein oder, noch besser, ein Automat für alles, daran man nur zu tippen braucht, und das Gewünschte ist auch schon da. Nirgends kommt man so rasch zu der Erkenntnis, daß man nichts weiß, wie gerade in Japan. Und wenn Sokrates es in feiner Ironie ver- standen hat, die wissensstolzen Athener auf das Eis zu führen, so bringen das die Japaner in unbeab- sichtigter Naivetät nicht minder gut fertig. Da kommt ein Gelehrter und fragt mich aus über die naturwissen- schaftliche Entwicklungslehre, und wie sich dieselbe mit einem theistischen Gottesbegriff vereinigen lasse; dann klopft ein buddhistischer Priester von der spiritistisch- okkultistisch angehauchten Zensekte an und möchte haar- scharf über die Bedeutung der Worte: „Sie werden Gott schauen“ aufgeklärt sein, eine Aufgabe, dabei der Missionar schon von vornhein das keineswegs angenehme Gefühl hat, daß er selbst mit der peinlichsten Exegese diesen Mann nicht befriedigen wird; und schließlich kommt ein dritter, welchen der Wissensdurst plagt, und fragt, wie viele Kirchen Berlin habe. Manchmal sitzt man mit ihnen zusammen, und in drei Sprachen, japanisch, deutsch und englisch, gehen die Fragen und Antworten hin und her. Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde Zeit für ihn habe, womöglich sogar während der Unter- richtsstunden. In der ersten Zeit meines japanischen Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Missionar immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der Schule kam, warteten oft schon zwei bis drei Personen, so daß an ein gemütliches Essen nicht mehr zu denken war. Einmal, als ich vor sechs Uhr morgens aus meinem Schlafzimmer trat, — das Frühaufstehen lernt sich hier von selbst, auch für den, der es früher nicht gewöhnt war, — teilte mir der Schuldiener mit, daß schon seit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei durfte ich es nicht als eine Rücksichtslosigkeit von seiten des Besuchers empfinden, mich so früh schon zu stören, sondern mußte es als eine Taktlosigkeit von mir betrachten, den Besucher so lange warten zu lassen, so daß ich den Diener wegen seines Versäumnisses, mich zu wecken, zurechtweisen mußte. Manches Mal des Abends, wenn man sich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächsten Vormittag vorbereiten wollte, kam japanischer Besuch, und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die goldmundigen Frühstunden des nächsten Tages verschieben. Denn japanische Besuche dehnen sich nach unsern Be- griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein- mal sitzt, steht er so bald nicht wieder auf. Das ame- rikanische Sprichwort: „Time is money“, ist der Masse des Volkes bis jetzt noch nicht verständlich. Auch kann man den Besucher nicht fortschicken. Es giebt ja wohl auch verständnisvolle Leute; aber in der Regel würde selbst die feinste derartige Andeutung von dem in Sachen des Taktes mehr als feinfühligen Japaner sofort als ein Verstoß wider den Anstand empfunden werden. Der Anstand aber, die Höflichkeit, steht für weite Kreise des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit ist — schroff gesagt und fein verstanden — mehr als Gutsein. „Ein unhöflicher Mensch“ ist das schwerste Verdammungs- urteil, welches sich fällen läßt. Wer seine Verbeugungen regelrecht macht und in seinen Reden höflich ist, ist ein guter Mensch. Wer wider den Anstand sündigt, hat überhaupt keine Qualität. Der Japaner ist geradezu peinlich in seiner Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Missionars ist lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen, formellen Anstoß erregt hat. Seine erste Pflicht ist darum nicht das Thun, sondern das Lassen; sie besteht nicht darin, daß er ar- beitet, sondern daß er an sich arbeiten läßt; nicht darin, daß er seine Kraft entfaltet, sondern daß er seine Kraft eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe einen Fall mit durchlebt, wo dieses Versäumnis über einen Missionar eine unglückselige Katastrophe herauf- geführt hat. Die rücksichtslose Entfaltung seiner missio- narischen Energie, welche in ungestümem Thatendrang sich durch keine äußere Autorität, am wenigsten durch die Landessitte, wollte binden lassen, ist ihm selbst und zum Teil auch seiner Mission zum Verderben geworden. „Kommst du in ein fremdes Land, so frage zuerst, was verboten ist“, sagt der japanische Volksmund; und wenn es auch der Japaner nicht wünscht, daß der Missionar die Sitte des Landes äffisch nachmacht, so kann doch keiner von einer taktvollen Handhabung derselben ent- bunden werden. Ein alter Veteran auf dem ostasiatischen Missionsgebiet erzählt, wie ein amerikanischer Reisender einst eine Missionsschule besuchte. Die Schüler waren vorher davon in Kenntnis gesetzt worden, daß sie einen durch Charakter und Kenntnisse gleich ausgezeichneten 20 Mann sehen würden, der in seinem Vaterlande eine bedeutende Stellung einnehme. Als er nun in den Schulsaal eintrat, erhoben sich alle und machten eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Der Besucher aber, der den Brauch des Landes nicht kannte, beachtete diese Begrüßung nicht und begann sofort eine Ansprache über die Vorzüge der christlichen Religion. Der eine Akt der „Ungezogenheit“ aber erschien den Schülern als der reinste Hohn auf die Vorzüge der christlichen Religion, und der ganze Vortrag ging — wie einer der Hörer später versicherte — eindruckslos über die Köpfe hinweg. Wenn mich ein frisch angekommener Europäer in meinen japanischen Gottesdienst begleitete, so mußte es einen sonderbaren Eindruck auf ihn machen, zu sehen, wie meine Predigt begann und schloß mit einer tiefen Ver- beugung gegen meine Zuhörer, welche von diesen auf das höflichste erwidert wurde. Hätte ich mich aber über diesen allgemeinen Brauch hinweggesetzt, so hätte ich bald vor leeren Bänken predigen dürfen. Einst hatten wir Besuch von einem theologischen Landsmann, welcher auf einer Reise um die Welt auch Japan berührte. Ich führte ihn auch in das Gymna- sium. Wir kamen in die Prima, wo gerade ein deutscher Professor im Anschluß an ein Schillersches Drama Litteraturunterricht erteilte. Der gewandte Kavalier, der seine Salonprobe schon oftmals vor Fürsten glänzend bestanden hatte, hatte wohl keine Ahnung, daß seine Reputation als Weltmann vor einem Haufen schlecht- gekämmter japanischer Jünglinge elend in Brüche gehen sollte. Kaum hatte ich ihn dem Lehrer vorgestellt, so begann er denselben zu fragen: „Nun, verstehen Ihre Schüler denn auch, was sie lesen? Sind sie denn auch fleißig?“ und andere Fragen mehr, welche nach japa- nischen Begriffen höchst taktlos waren. Dieses Mal wenigstens war es dem vielgereisten Manne nicht ge- lungen, sich zurecht zu finden. Kein Wunder auch! Hatte er doch seinen Aufenthalt in diesem antipodischen Lande auf nur ungefähr zwanzig Tage festgesetzt, und wollte er doch in dieser Zeit alles sehen und in einiges sich noch liebevoll vertiefen! Ich bin heute noch davon überzeugt, daß er voll von sich befriedigt war, als er nach einigen, in jovialem Tone gegebenen Ermahnungen sich verabschiedete. Der Lehrer und ich aber standen dabei mit schamroten Gesichtern, und als wir das nächste Mal zusammenkamen, teilte er mir mit, daß er nachher Mühe gehabt habe, die Schüler wieder zu beruhigen und den Besucher, der die Sitte des Landes nicht kenne und zu Hause durch eine einflußreiche Stellung verwöhnt sei, zu entschuldigen. „Bringen Sie mir aber nur ja keinen civilisierten Europäer mehr in meine Schule“, bat er mich zum Schluß. In diesem Zusammenhang wird auch eine nur oberflächliche Kenntnis der Höflichkeitssprache leicht zu einem zweischneidigen Schwert. Mag auch ein unge- schickter und objektiv unhöflicher Ausdruck von zwei Verständigen nur als lächerlich empfunden werden, ein Dritter nimmt ihn doch übel. Wie sehr man die höf- liche Ausdrucksweise im Munde eines Missionars zu schätzen weiß, geht daraus hervor, daß ein Japaner einer durch Kraft und Tiefe gleich ausgezeichneten ja- panischen Predigt eines Abendländers kein höheres Lob zu spenden wußte, als daß er als einziges die feine und höfliche Ausdrucksweise der Predigt bewundernd hervorhob. Hätte es der Missionar mit Japanern nur in seinem eigenen Hause zu thun, so wäre eine genaue Beobachtung 20* der Etikette des Landes nicht unbedingt nötig. Denn der Japaner anerkennt das Wort: „My house is my castle“. Aber sein Beruf zwingt ihn, sich nicht abzu- schließen, sondern in das Volk hineinzudringen. Je seltener man in den letzten Jahren japanische Besuche empfing, wo man von dem Christentum weniger wissen wollte, um so notwendiger wurde es, die Leute in ihren Häusern aufzusuchen. Kein Haus darf dem Missionar zu gering, keines auch zu vornehm sein. An einem Besuchsnachmittag führte mich mein Weg in kleine, ärmliche Studentenbuden und in baufällige Baracken von Tagelöhnern, und unmittelbar vielleicht von da in die Wohnung eines Ministers oder eines Wirklichen Geheimen Staatsrats Excellenz. Für den Missionar heißt es Fühlung haben mit dem Volk und zwar mög- lichst mit allen Volksschichten. Nur so lebt man sich in das Volk hinein und lernt seine Eigenart verstehen; nur so wird man bekannt mit den Strömungen, welche augenblicklich durch das Volk hindurchgehen und für den Erfolg und Mißerfolg der Mission von maßgeben- dem Einfluß sein können; so auch lassen sich Verbindungen anknüpfen, die sich weiterhin als fruchtbringend erweisen mögen. Es ist ja nicht zunächst religiöse Arbeit, die man da thut. Man darf auch nicht denken, daß man an die Leute direkt mit Bekehrungsversuchen herantreten könnte. Es ist vielmehr vorbereitende und doch zugleich grundlegende Arbeit, deren Wichtigkeit über jede Erör- terung erhaben ist, und welche zu dem auf dem ja- panischen Missionsfelde notwendigen Bekehrungsapparat unbedingt gehört. Ich bin in der Heimat in allen Schichten der Be- völkerung, in gebildeten Kreisen oft noch mehr als bei dem niederen religiösen Volk, den seltsamsten An- schauungen begegnet, wie man sich eigentlich eine Be- kehrung vorstellt. Und doch giebt es wenig Dinge, die sich leichter erklären, freilich auch nicht allzu viele, die sich schwerer thun ließen, als das. Die geistige Ent- wicklung geht eben dieselben Wege, wie die Entwick- lung in der Natur. Gott regiert nicht mit zweierlei Gesetz und mißt nicht nach zweierlei Maß. Dasselbe Gesetz, welches in der natürlichen Welt waltet, geht auch durch die Welt des Geistes. Ehe der Landmann daran denken darf, die goldenen Garben einzuführen in seine Scheunen, muß er vor allem einmal Grund und Boden besitzen, den er sein eigen nennt. Und wenn er den hat, so geht er nicht gleich an die Aussaat. Da gilt es zunächst, den Boden zu reinigen von Disteln und Dornen und all dem mannigfachen Unkraut, das darauf wächst; es gilt, den Acker zu pflügen und locker zu machen. Dann erst darf man daran gehen, die Aussaat zu besorgen. Und wenn dieses gethan ist, so dauert es lange, bis die ersten zarten Keime hervor- sprießen, und wieder währt es Wochen und Monate, bis die Keime in den Halm schießen; und nochmals braucht es viel Geduld, bis schließlich die Ähren an- setzen und Frucht tragen und weiß und reif zur Ernte werden. Es ist eine Geduldsarbeit im besten Sinne des Wortes. Genau so ist es auch auf dem Missionsfeld. Genau dieselben fünf Stadien der Entwicklung: Der Erwerb des Bodens, das Pflügen des Ackers, die Besorgung der Aussaat, das Wachsen der Frucht und das Ein- heimsen der Ernte, lassen sich auch bei dem Bekehrungs- prozeß deutlich unterscheiden. Es ist kein neuer Ver- gleich, der hier gemacht wird; es ist vielmehr der alte Vergleich des Apostels Paulus, wenn er vom Pflanzen und Begießen spricht und dann hinzufügt: „Ihr seid Gottes Ackerwerk“. Der erste Teil besteht also darin, daß der Missionar sich Boden schafft, Material, an dem sich arbeiten läßt, Leute, die an sich arbeiten lassen. Man darf nicht etwa meinen, daß ihm der Grund und Boden von selbst zu- fällt, wie den alten europäischen Ansiedlern in Amerika. Man darf nicht glauben, daß es nur zu heißen braucht: „Der Missionar X. ist angekommen“, und sofort laufen ihm die Leute zu, um sich von ihm belehren und taufen zu lassen. Ganz im Gegenteil: Der Missionar darf nicht warten, bis die Leute zu ihm kommen — denn da könnte er lange warten, — vielmehr muß er zu den Leuten gehen. Auf dem Missionsfeld gilt der Satz unbe- dingt, daß nicht das Volk in die Kirche geht, sondern daß zuerst die Kirche in das Volk gehen muß. Man dürfte sich auf eine Kanzel in Tokyo stellen und Sonntag für Sonntag die erbaulichsten und die geistvollsten Pre- digten halten, und man würde doch dadurch keine neuen Zuhörer in die Kirche hereinlocken. Ein vortrefflicher Prediger kann immer noch ein sehr schlechter Missionar sein. Mir sind durch die praktische Bibelerklärung der alten Lehrmeisterin Erfahrung auf dem Missionsfelde manche Worte der Heiligen Schrift klarer geworden als durch die wissenschaftliche Exegese im Hörsaal, und zu diesen Worten gehört auch das: „Gehe hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie herein zu kommen!“ „Gehe hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune!“ Es giebt nicht wenige, welche dieser Mahnung buchstäblich Folge leisten. Auf vielen Missionsgebieten versucht man es mit der Straßenpredigt. Man stellt sich an einem öffentlichen Orte auf, wo viele Menschen zusammen oder vorüber kommen, und predigt; und ob die Leute wollen oder nicht, sie sind genötigt, Notiz davon zu nehmen, weil ihnen die Stimmen der Pre- diger in die Ohren schallen. Auch in Japan hat man vereinzelt dieses versucht. Im Uenopark in Tokyo konnte man jeden Sonntag Nachmittag das Schauspiel sehen: Eine alte Dame, welche auf einem alten Harmonium spielte, einige junge Mädchen und Jünglinge, welche Lieder sangen, und ein Evangelist, welcher predigte. Ich bin manchmal vorübergekommen, und immer hatte sich eine kleine Anzahl von Zuhörern versammelt, und ich selbst stand manchmal im Hintergrunde dabei. Aber stets ging ich unbefriedigt von dannen mit dem klaren Gefühl: Das ist die rechte Art nicht! In London habe ich viele Straßenpredigten gehört, nicht bloß von der Heilsarmee und missionierenden Niggern, welche damit ihr Brot verdienen und gierig nach den paar Pfennigen greifen, welche mitleidige Zuhörer am Schlusse ihnen zuwerfen; nein, ich habe auch einen bedeutenden Pre- diger der als stolz bekannten und von anderer Seite als geistig hochmütig verschrieenen Sekte der Unitarier ge- kannt, welcher es nicht verschmähte, im Hydepark öffent- lich zu predigen. In Deutschland dagegen habe ich derartiges nie gesehen. Was sich für England schickt, stößt in Deutschland ab. So ist es auch in Heiden- landen. Die öffentlichen Predigten bei heidnischen Tem- pelfesten in Indien und die Wanderpredigt in Afrika mögen sehr wohl am Platze sein; dem Japaner aber, welcher peinlich darauf sieht, daß alles, was geschieht, geordnet und der Sitte gemäß geschieht, ist diese Art in der Seele zuwider. Der Japaner, der selbst auf Etikette und eine gewisse vornehme Art strenge hält, verlangt von jedermann und auch von dem Christentum eine gewisse Vornehmheit. Durch Straßenpredigten macht es sich vulgär und erniedrigt sich zur Gassen- religion. Die Heilsarmee, welche mit der letzten Hälfte des letzten Jahrzehnts Japan gleichfalls beglückt hat, wird damit noch ihre Erfahrungen machen, wenn sie auch derartigen Erfahrungen schwer zugänglich ist. Der Japaner verbittet sich innerlich jede Art von Zudring- lichkeit, wenn er auch äußerlich das nicht an den Tag legen mag. Es lassen sich darum auch in der Weise keine oder doch nur sehr vereinzelte Verbindungen schaffen, daß man etwa mit seinem Nachbar in der Pferdebahn oder in dem Eisenbahnwagen ein religiöses Gespräch anknüpft. Damit käme man bei dem fein- sinnigen und feinfühligen Japaner nicht weit; und in der Regel würde man nur das eine erreichen, daß man sich in seinem Urteil zu einem rohen, ungeschliffenen und ungebildeten Menschen machte. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, das Bekehrungsmaterial zu beschaffen. Die oben erwähnten Besuche sind zu diesem Zweck ja durchaus nicht zu unterschätzen; aber genügend sind auch sie noch nicht. Es darf schon hier, gleich beim Beginn der Arbeit, nicht dem blinden Zufall überlassen werden, ob er in seiner Willkürlaune gewillt ist, einem solche Besucher oder gar gleich „suchende Seelen“ in das Haus zu bringen. Schon diese erste Arbeit, weil sie eine grundlegende ist, muß auf systematischer Grundlage beruhen. Sie darf nicht auf Zufälligkeiten beschränkt sein, sondern muß im Zu- sammenhang mit förmlichen wohlgegründeten Organen stehen. Diese Organe besitzt die japanische Mission in ihren Schulen. Aber auch Einrichtungen der inneren Mission, wie die Fürsorge für die Verwahrlosten und Armen und die ganze ärztliche Mission, gehören hier- her. Sie alle tragen dazu bei, dem Missionar Material zuzuführen, ihn in nähere Bekanntschaft und Fühlung mit vielen Individuen zu bringen und somit die ersten Anhaltspunkte zur Bekehrung zu geben. Nicht als ob all diese Institutionen der evange- lischen Mission nur Mittel zum Zweck seien, wie man das der katholischen Mission nicht mit Unrecht nachsagt. Vielmehr sind sie an und für sich Selbstzweck. Es wäre Unrecht zu sagen, daß sie nur und ausschließlich mit dem Hinblick auf die Bekehrung gegründet seien, so daß sie gewissermaßen nur einen Vorwand für diese bildeten. Wäre das der Fall, so würden sie manchem Missionskritiker — und deren giebt es sehr viele — in Wirklichkeit nichts anderes als die Leimruten sein, auf denen man die Gimpel fängt, so würde in vieler Augen die ganze Mission zur Proselytenmacherei herab- sinken. Wer aber in das Schulwesen der evangelischen Mission hineingeschaut und dasselbe auf seine ganze Gediegenheit hin geprüft hat, wird den Missionar ent- schieden davon frei sprechen. Was ihn zunächst zur Begründung solcher Einrichtungen treibt, ist in den wenigsten Fällen der Wunsch, baldmöglichst viele Namen in die Listen seiner Kirche eintragen zu dürfen; das ist vielmehr das christliche Mitleid, das ihn innerlich nötigt, als barmherziger Samariter sich der körperlich und geistig Bedürftigen anzunehmen. Das Christentum wird überall, wohin es kommt, gar nicht anders können, als solche Werke zu thun und solche Organe zu schaffen; denn sie sind begründet im Wesen des Christentums und wachsen so notwendig aus ihm heraus, wie die Frucht aus dem Baum. Sie sind zugleich aber auch herrliche Zeugnisse von dem Geiste des Christentums vor dem Angesichte der Heiden, und als solche schon hochgeeignet, auf das Gemüt und das Urteil derselben bestimmend einzuwirken. Kritische Missionsfreunde in der Heimat sind frei- lich mitunter schnell bei der Hand, um an dieser Me- thode herumzumäkeln. „Sind denn“, so meinen sie, „die Missionare in die Heidenländer gesandt, damit sie Sprachunterricht erteilen und Litteraturstunden geben? Ist das nicht eine Vertrödelung ihrer kostbaren Zeit? Geben wir dazu, von heiliger Begeisterung durchglüht, unsere Gaben? Widerspricht es nicht geradezu dem Wortlaut des Evangeliums? Sie sollen das Evan- gelium predigen aller Kreatur und damit fertig!“ Ganz richtig! Das ist aber eine billige Kritik, und diese Wahrheiten hat sich jeder Missionar schon hundertmal selbst gesagt. Die Kritiker haben ja recht, wenn sie sich auf den Apostel Paulus berufen: Paulus hat es nicht so gemacht. Und doch hat auch er nicht auf das Geratewohl gearbeitet. Vielmehr hat er in wohlüber- legter Weise in den Judenschulen Ausgangspunkte für seine Arbeit gesucht und gefunden, und wenn er in Athen öffentlich auf dem Areopag sprach, so war auch das keine Straßenpredigt im landläufigen Sinne des Wortes, vielmehr war es, der Landessitte entsprechend, der geordnete Weg. Das Ziel ist zu allen Zeiten das gleiche, aber die Wege zum Ziel, die Methoden, sind keine dogmatischen Axiome. Vielmehr sind sie bedingt und gestaltet durch örtliche Verhältnisse und zeitliche Strömungen. Es lassen sich mit Bezug auf Missionstechnik wohl allgemeine Grundrichtungen aufstellen, nicht aber bestimmt vorgezeichnete Wege. Eine spezifisch missionarische Aus- bildung giebt es nicht. Die Missionsseminare selbst wissen davon nichts oder wenig. Es ist entweder Un- wissenheit oder Böswilligkeit, wenn man einer Missions- gesellschaft zum Vorwurf macht, sie schicke Sendboten ohne missionarische Vorbildung aus. Geistliche, welche sich die Reichsgottesarbeit unter den Heiden haben an- gelegen sein lassen, sind für den Missionsberuf nicht schlechter vorbereitet als die Zöglinge der Missions- seminare Der Allgemeine evang.-prot. Missionsverein läßt der Aus- sendung seiner ausschließlich akademisch gebildeten Sendboten noch eine besondere einjährige Vorbereitungszeit vorausgehen. Während dieser Zeit eignen sie sich in England die englische Sprache an, beschäftigen sich unter berufener Führung eingehend mit missions- wissenschaftlichen Studien und machen sich mit Land und Leuten ihrer zukünftigen Heimat vertraut. An Ort und Stelle ange- kommen, haben sie sich zunächst noch zurückzuhalten als solche, die erst noch lernen müssen, ehe sie lehren. Zur gründlichen Er- lernung der Landessprache sind sie kontraktlich verpflichtet. Ihre Berufsverpflichtung lautet seit 1893 auf Lebenszeit. . Ich kenne orthodoxe Missionare, welche aus dem Pfarramt hervorgingen; aber von einer besonderen missionarischen Ausbildung war bei ihnen keine Rede; sie wurden direkt auf das Missionsfeld geschickt. Ich suchte seiner Zeit in dem „Islington College“ der Church Missionary Society zu London um die Erlaubnis nach, bei einigen missionstechnischen Vorlesungen bezw. Übungen hospitieren zu dürfen. Man war in liebenswürdigem Entgegenkommen gleich bereit, mir den Besuch des ganzen Unterrichts zu gestatten. Aber missionstechnische Vor- lesungen gab es nicht, und es dauerte erst eine Zeitlang, bis der „Prinzipal“ begriffen hatte, was ich eigentlich wollte. „Wir erteilen Unterricht“, sagte er, „in Latein und Griechisch, in Theologie, Psychologie und Pädagogik; aber die eigentlich missionarische Rüstung muß sich jeder erst auf seinem besonderen Missionsfelde selbst schaffen.“ Damals kam mir das sonderbar vor, daß in einem Missionsseminar eigentlich Missionarisches gar nicht gelehrt werde; später lernte ich die Gründe verstehen. Die Methode wechselt, und welche Methode gerade die rechte ist, das kann nur der beurteilen, der auf dem Missionsfelde selbst in mancher schlaflosen Nacht die Zeichen der Zeit durchforscht und mit sich und seinem Gott gerungen hat um die Erkenntnis des rechten Weges. Der Satz: „Du sollst das Evangelium predigen!“ enthält noch keine Methode. Wie denn, wenn niemand da ist, der es sich predigen läßt? So muß man sich eben sein Material erst suchen. Und wenn man in Afrika hier und da versucht, die Leute durch Hand- werkermissionen zu erreichen, warum soll man in Japan nicht in der geistigen Unterweisung den natürlichen Aus- gangspunkt finden? Zumal der Erfolg die Vortrefflich- keit des Weges längst erwiesen hat! Bei einem Volke wie die Japaner, bei welchem das Wissen so hoch geschätzt wird, finden gute und nützliche Schulen immer eine hinreichende Zahl von Besuchern. So ist denn also damit der erste Teil der Arbeit gethan, der Grund und Boden ist erworben. Nun kann die Lockerung des Erdreichs beginnen. Während der Zeit meiner japanischen Thätigkeit bestand unser Missionsapparat, soweit er für die Einzel- bekehrung in Betracht kam, aus sechs Organen. Diese Organe waren: Die Klöppelschule (später erweitert zur Frauenhandarbeitsschule), der Damenverein, der Studen- tenverein „Sol Oriens“, die deutsche Fortbildungsschule, die Sonntagsschule und die Armenschule. Daneben be- standen in den ersten beiden Jahren, so lange die „deutsche Vereinsschule“ noch unter deutschem Einfluß stand, regelmäßige Vorträge religiösen und ethischen Inhalts an derselben. Hier hatten wir nun unser missionarisches Arbeitsfeld gefunden. Die beiden ersten Organe beschafften uns das weibliche, die beiden folgen- den einschließlich der Vorträge an der Vereinsschule das männliche Material; die letzten beiden kommen vor- läufig noch nicht in Betracht. Keines von ihnen war direkt aus Tendenzen der Proselytenmacherei entstanden, aber jedes erwies sich als eine Handhabe der Bekehrung. Zur Gründung der Klöppelschule hatten Humanitäts- gründe geführt. Es kommen alljährlich viele Mädchen aus der Provinz nach Tokyo, und wenn der Hunger anfängt, sie mürbe zu machen, so sind sie dort nicht minder sittlichen Gefahren ausgesetzt wie in unsern Großstädten. Solchen Mädchen wollte man Gelegen- heit geben, durch Aneignung einer nützlichen Fertigkeit sich auf eigene Füße zu stellen; zugleich hatten sie hier einen bescheidenen, aber ausreichenden Verdienst. Der Damenverein war von hochstehenden japanischen Damen bezw. deren Ehegatten selbst angeregt worden. Die erste Vorsitzende war die christliche Gemahlin eines nach- maligen Kriegsministers, während nach ihrem Tode die Gemahlin eines Wirklichen Geheimen Staatsrats die Leitung übernahm. Der Zweck des Vereins war, in monatlichen gemütlichen Zusammenkünften mit Vor- trägen die Damen mit den Rechten und Pflichten der deutschen und christlichen Hausfrau bekannt zu machen. Der „Sol Oriens“ bezweckte den Zusammenschluß aller deutsch interessierten studentischen Elemente und suchte in regelmäßigen, mit deutschen Vorträgen ver- bundenen Zusammenkünften deutsche Sprache und Wissen- schaft zu fördern. Die deutsche Fortbildungsschule hatte dieselben Ziele, suchte sie aber in festerer Organisation zu erreichen, nachdem sich der Verband des „Sol Oriens“ in Anbetracht der schweren Zeiten der Reaktion als zu lose erwiesen und durch den Niedergang der deutschen Vereinsschule eine schwere Schädigung erlitten hatte. Es waren also zunächst deutsche Kulturzwecke, welchen diese beiden Anstalten ihre Entstehung verdankten. An dem Gymnasium und der Universität ist seit einigen Jahren die deutsche Sprache die Hauptsprache geworden, und auch an anderen Lehranstalten, wie z. B. an der Kriegsschule, ist sie in die erste Stelle eingerückt. Da das Studium der chinesischen Klassiker immer mehr in den Hintergrund tritt, darf das Deutsche als die eigent- lich klassische Sprache des Landes bezeichnet werden, die dort annähernd dieselbe Stelle vertritt wie auf unsern hohen Schulen das Latein. Das ist etwas, worauf wir als Deutsche stolz sein dürfen. Schon diese eine Thatsache sollte genügen, die Blicke des Deutschtums mit Sympathie auf dieses Land zu richten, welches ihm das Zeugnis ausstellt, daß es die höchste Blüte der Kultur besitze. Japan wird uns ja freilich nicht so viel zu verdienen geben wie China, voraussichtlich wenig- stens; wenn aber lediglich derartige Interessen unsere Politik und unsere Sympathien bestimmen, so ist das kein gutes Zeugnis für das deutsche Volk. Unsere Mission wenigstens steht auf anderem Standpunkt. Unsere Mission hat in der japanischen Vorliebe für deutsches Wesen eine hohe Verpflichtung für sich er- kannt. Wir sind der Überzeugung, daß wir auch als Missionare und Diener Christi doch zugleich noch Deutsche sein dürfen. Und in der That sind wir Missionare es gewesen, welche allezeit die Fahne des Deutschtums, nicht im politischen, sondern im kulturellen Sinn in die Hand genommen und hoch gehalten haben. In jedem Winter haben wir durch den Sol Oriens große Vortragscyklen veranstaltet, wo deutsche Lehrer der Universität und anderer Anstalten oder auch deutsch verstehende japanische Gelehrte unter großem Zulauf und mit großem Beifall über alle möglichen Gegenstände des Wissens sprachen. Wir sind eben der Meinung, daß jede Kulturarbeit zugleich auch dem Christentum zu gute kommt, so gewiß, als zwischen unserer euro- päischen Kultur und dem Christentum ein inniger innerer Zusammenhang besteht. Und darum halten wir dafür, daß wir auch mit solcher deutschen Arbeit an sich schon in gewissem Sinne Reichsgottesarbeit thun, ganz abgesehen davon, daß sie den Weg zur Propaganda ebnen hilft. Wir waren dabei überzeugt, daß wir damit auch im Sinne unserer schweizerischen Auftraggeber handelten. Denn das Wissen kennt keine politischen Grenzen, und dieselbe Kultur, welche am Mittel- und Unterrhein blüht, ist heimisch auch an des Rheines Quellen. Unsere Fortbildungsschule ist eine deutsche Sprach- und Litteraturschule, welche an drei Abenden in der Woche zu je zwei Stunden abgehalten wird. Sie wird zu einem großen Teil von Schülern des Gymnasiums und der Universität besucht. Wenn der Leser mit mir eine deutsche Deklamationsstunde besuchen wollte, so könnte er aus japanischem Munde unsere deutschen patrio- tischen Gedichte und Lieder hören, z. B. „Die Wacht am Rhein“, oder „Ich hab’ mich ergeben“. Aber ganz abgesehen davon, daß in den meisten Gedichten auch religiöse Gedanken enthalten sind, — es braucht ja nur das Wort „Gott“ in ihnen vorzukommen, — fehlten auch spezifisch religiöse Gedichte nicht. So habe ich selbst einmal in einer solchen Klasse das Gerok’sche Gedicht: „Sind das die Knaben alle?“ gehört, wo be- kanntlich über allen Erdengrößen zum Schluß Jesus Christus als das Haupt und die Krone erscheint. Man drängt sich den Leuten nicht auf; aber es werden doch hier schon die ersten Fühler ausgestreckt, und manche religiöse Anregung wird auch hier schon gegeben. Doch ist das Christentum hier noch nicht Haupt- zweck. Vor allem wird vielmehr der zweite Teil der Arbeit gethan: Der Acker wird gepflügt, der Boden wird gelockert, Kopf und Herz der Japaner werden von dem Unkraut mannigfacher Vorurteile gegen den Fremden und das Fremde gereinigt. Lehrer und Schüler wachsen mehr und mehr in einander hinein und lernen sich gegenseitig besser verstehen. Mancher junge Mann sieht in dem Missionar schließlich nicht mehr nur die Lehr- maschine, sondern erkennt auch seine sittliche Persönlich- keit an, und wenn er es auch noch nicht laut ausspricht, so gesteht er es doch vor sich selbst offen ein: „Sieh da, der Missionar ist ja gar kein so übler Mann, wie man es von ihm als Christ und Fremden eigentlich meinen sollte. Zu dem Manne kann man wohl gar Vertrauen haben!“ So wird auf großen Umwegen das Vertrauen ge- schaffen. Ohne das Vertrauen wäre alle Arbeit um- sonst. Die Schaffung desselben war nicht immer so umständlich. In den achtziger Jahren noch lag das Vertrauen zu dem Fremden in der Strömung der Zeit. Damals verstand es sich ganz von selbst, daß man zu dem Fremden Vertrauen hatte. Heute aber muß es auf die beschriebene Art und Weise erst mühsam herge- stellt werden. Damit ist aber auch der zweite Teil der Arbeit erledigt. Und jetzt erst, wenn das Vertrauen von Mensch zu Mensch da ist, kann der dritte Teil der Arbeit beginnen. Jetzt erst ist die Zeit gekommen, den gereinigten und gelockerten Boden zu besäen und die eigentlich christliche Beeinflussung zu beginnen. Die Säearbeit ist eine in hohem Grad systematische. Es genügt nicht, den Applikanten zu sagen: „So, jetzt kommt ihr jeden Sonntag zum Gottesdienst und zu allen andern Gemeindeversammlungen, welche die Woche über stattfinden, und nach einiger Zeit werdet ihr soweit sein, daß ihr getauft werden könnt“. Vielmehr müssen diese Leute vor der Taufe durch einen besonderen Unter- richtskursus hindurchgehen, entsprechend unserem Konfir- mandenunterricht. Hier wird nun ein Samenkorn um das andere in die Seele hinabgesenkt. Dieser Unter- richt findet wöchentlich ein-, zwei- oder dreimal, je nach Bedürfnis, in dem Hause des Missionars statt. Es mögen wohl auch Zeiten kommen, und in den neun- ziger Jahren sind sie für keinen ausgeblieben, da sich überhaupt niemand zum katechetischen Unterricht meldet, und auch in solchen Zeiten gilt es, nicht zu verzagen. Auch der katechetische Unterricht will erst in der Praxis gelernt sein. So habe ich heute noch die deutliche Empfindung, daß ich im Anfang vielfach fehlgriff. Wenn nämlich wieder einmal ein neuer „In- quirer“ kam, so wollte er in der Regel einen Vortrag über das Dasein Gottes hören. Er meinte, wenn man ihn nur einmal davon überzeugt habe, daß es einen Gott giebt, so würde alles andere bald von selbst kommen. Ich machte aber bald die Erfahrung, daß alle Beweise für das Dasein Gottes nur Hiebe in die Luft waren; und seitdem ich auf dem Missionsfelde gewesen bin, glaube ich überhaupt nicht mehr, daß ein Mensch durch derartige theoretische Erörterungen zu einem lebendigen Christen wird. Das sind doch schließ- lich Sachen des Kopfes, während das Christentum in 21 seinem innersten Wesen eine Sache des Herzens und Lebens ist. Der Erfolg bestand denn auch oft darin, daß der ent- täuschte Japaner das nächste Mal nicht wieder kam. Für den metaphysisch schwach begabten Japaner, der zudem entschieden pantheistische Neigungen hat, ist der die Persönlichkeit betonende theistische Gottesbegriff etwas, was er vernunftgemäß nicht fassen, sondern im besten Sinne des Wortes nur glauben kann. In unserem pfälzischen Katechismus befindet sich die Frage: „Woher weißt du, daß Gott ist?“ Von einem Wissen, daß Gott ist, kann in Japan keine Rede sein. Das Klügste, was sich thun ließ, und darum auch das Richtige war, von derartigen Fragen möglichst abzusehen. Nicht als ob man ohne Apologetik auskommen könnte; aber hüten muß man sich vor dem Theoretisieren. Ich fand es als das Zweckmäßigste, im Anschluß an das Evangelium von der christlichen Ethik auszu- gehen, nicht im Sinne einer trockenen Moral, sondern einer ethischen Religiosität Spinner hat einen in das Japanische übersetzten Leitfaden für Katechumenen verfaßt, welcher, ebenso kurz als gründlich, eine durchweg positive Darstellung der christlichen Lehre giebt. . Hier offenbart sich Kon- fuzius als Vorläufer Christi und bietet treffliche An- knüpfungspunkte dar. Ich gestehe es frei, dogmatische Fragen habe ich selten berührt; denn mit dogmatischen Erörterungen treibt man die Leute fort. Ich habe weder gesagt, daß sie die Lehre von der Trinität glauben sollten, noch daß sie sie nicht glauben sollten. Ich habe über die Lehre von der Trinität überhaupt nicht gesprochen, und die Hörer wollten auch nichts davon wissen. Ich habe im Taufunterricht das Dogma weder empfohlen, noch habe ich es bekämpft. Ich habe positives Bibelchristentum zu bieten versucht. Selbstverständlich ohne biblische Kritik. Wohl konnte man an den Wundern nicht vorbei- kommen, und ich selbst halte die Wunder für menschliche und zeitliche Einkleidungen göttlicher und ewiger Wahr- heiten. Ich habe aber im Taufunterricht gegen das Wunder nicht polemisiert; ich brauchte das nicht ein- mal. Das Wunder als Wunder hätten meine Kate- chumenen nicht angenommen, und unter den japanischen Christen thun es nicht viele. Die Katechumenen waren aber zufrieden, wenn man ihnen den ewigen Kern, der Hülle entkleidet, darbot; und wenn ja einer einmal von der Form des Wunders nicht loskommen konnte, so genügte ihm eine kurze Erklärung des Wunders als einer Einkleidung vollkommen. Für so borniert sollte man doch selbst den radikalsten Fanatiker nicht halten, daß er die einfältigen Seelen junger Katechumenen in die, selbst für den Weisen noch schwierigen Details unserer biblischen Kritik einzuführen sucht, und noch viel weniger dürfte man ihm eine solche Gewissenlosigkeit zutrauen, als biete er, mit oder ohne Absicht, hungernden Seelen Steine statt Brot. Soweit ich die Unterrichtsmethode der anderen Gesellschaften kennen lernte, ist sie im wesentlichen überall die gleiche und von der unsrigen nur wenig verschieden. Überall steht das Dogmatische, sozusagen der Katechismusunterricht, zurück; dagegen steht das Bibelchristentum im Vordergrund, wie denn auch eine gute Belesenheit in der Heiligen Schrift den japa- nischen Christen nachgerühmt werden muß. Nicht als ob sie alles mit gleichem Interesse läsen und gleich- wertig schätzten; was am meisten Anklang bei ihnen findet, ist die Bergpredigt. Der Katechumene, an welchem die Bergpredigt spurlos vorübergegangen ist, durfte ruhig als hoffnungslos aufgegeben werden; und wer das 21* japanische Geistesleben begriffen hat, wird auch dieses alles verständlich finden. Mit dem Vortrag bezw. der Bibelerklärung des Missionars ist erst der eine Teil des Taufunterrichtes beendigt, und es beginnt nun der zweite nicht minder wichtige Teil: Der freie Gedankenaustausch, wobei neben dem Lehrer auch der Schüler zum Wort kommt. Wenn wir den ersten Teil der Säearbeit das Pflanzen nennen dürfen, so ist für diesen Teil das Wort „Begießen“ vielleicht der zutreffendste Ausdruck. Das Christentum bringt dem Katechumenen so viele neue Gedanken, welche im Widerspruch zu seiner seitherigen ethischen Autorität Konfuzius stehen, daß man ihm reichlich Ge- legenheit geben muß, über alles das zur Klarheit zu ge- langen. Da kommen Fragen heraus, auf welche wir in unsern abendländischen Gedankenkreisen nie gekommen wären, von denen man sich aber bei näherer Betrach- tung sagen muß, daß sie im Munde des Japaners ganz natürlich sind. Es ist gar nicht anders möglich, als daß ihn die neue Welt- und Lebensanschauung in seinen Grundfesten erschüttert, und daß er mit dem Taufunterricht in eine Periode tritt, wo er, auf schwan- kendem Grunde stehend, selbst ins Schwanken gerät. Da sucht er nach einem Halt, und dieser Halt muß ihm der Missionar in seiner eigenen Person sein; er muß für ihn zu sprechen sein auch außer der Predigt und auch noch nach dem Vortrage im Taufunterricht. Und wenn man dann bei einem Täßchen Thee und einem bißchen Kuchen gemütlich beisammen sitzt und in gegenseitigem Gedankenaustausch dem Katechumenen ein Zweifel nach dem andern schwindet, daß nach allem Schwanken und Kämpfen in seinem Herzen Ruhe und Friede einkehrt, so finden sich die Herzen von Lehrer und Schüler, so wird der letztere immer inniger mit dem ersteren ver- bunden. So ist denn der Taufunterricht nicht mehr bloß ein unpersönlicher Unterricht, da man dem Kopfe des Katechumenen Wissen bietet; vielmehr wird diese Stunde zum Medium, um unsichtbare, aber starke Bande von Person zu Person, von Herz zu Herz zu weben. Mit dem Taufunterricht ist der dritte Teil der Arbeit beendet. Gleichzeitig ist der Bekehrungsprozeß aber auch schon in das vierte Stadium der Entwicklung getreten. In der That hat der Taufunterricht noch nicht lange begonnen, so nimmt auch das Wachsen der Saat schon seinen Anfang. Hier aber hört menschliche Kunst und menschliches Verdienst auf. Hier erfahren wir, daß es auf dem Missionsfelde nicht anders geht als auf dem Ackerfeld draußen, in dem Weinberge des Herrn genau so wie in den Weinbergen an den Reben- geländen des Rheins. Der Landmann thut redlich seine Pflicht und läßt es sich herzlich sauer werden. Wenn aber den Sommer über warme Regengüsse dem dursten- den Weinstock erquickendes Naß zuführen und heiße Sonnenstrahlen den Saft der Beeren kochen, daß es ein guter Jahrgang wird, so beugt er demutsvoll sein Haupt und spricht: „Nicht mein Verdienst ist es; der Segen kommt von oben“. Und wenn ein einziger Hagel fällt und zerschlägt in wenigen Minuten die Frucht einer monatelangen Arbeit, so lernt er unter Seufzen verstehen: „Mit unserer Macht ist nichts ge- than“. Wenn der Missionar gepflanzt und begossen hat, so bleibt ihm nichts übrig, als betend gen Himmel zu schauen zu dem, der allein zu dem Wollen das Voll- bringen geben kann. Die Arbeit des Missionars läßt sich darum nicht nach dem Erfolge bemessen. Wohl thut es die Welt, und diejenigen, welche in ihrer Dogmatik jedes mensch- liche Verdienst strikte leugnen, pflegen es nicht zum wenigsten zu thun. In Zeiten des Erfolges überschüttet man die Arbeiter mit Lobeserhebungen; zu anderen Zeiten aber macht man die nämlichen Arbeiter verant- wortlich für Stillstand und Rückgang, trotzdem diese nicht minder treu gewesen sind. Das ist durchaus ungerecht. Treue Arbeit ist ja gewiß nicht zu unter- schätzen; und sie vermag selbst einen mehr oder minder festen Damm wider große Gegenströmungen zu schaffen. Darum ist auch das Gefühl der Resignation, welches in schweren Zeiten manchen Arbeiter zu dem Schluß treibt: „Laß es gehen, wie es geht; wider die Verhält- nisse kann ich nicht“, durchaus vom Übel. Aber wahr bleibt es doch, daß der Mensch nicht alles vermag; und wenn sich die Verhältnisse gegen ihn stellen, so sollte er nicht in vermessenem Trotze meinen, daß er allein das ändern könne. Denn es ist Gott selbst, welcher in den Verhältnissen wider ihn steht und der da heißt geduldig warten, bis seine Zeit gekommen ist. Zu allen Zeiten hat Gott die Seinen geprüft; auf dem Missions- felde aber vielleicht mehr, als sonst irgendwo. Hat es aber dem Herrn in seiner Gnade einmal anders ge- fallen, so soll sein treuer Mitarbeiter auch dann demütig bleiben und sprechen: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, aber Gott hat das Gedeihen gegeben. So ist nun weder der da pflanzt noch der da begießt etwas, sondern allein Gott, der das Gedeihen giebt“. Es giebt freilich Ackerfeld, auf welches Regen und Sonnenschein noch so reichlich herabfallen mögen, und es sind doch nur magere Früchte, die es hervorbringt. Die Qualität des Ackerfeldes ist nicht überall gleich, noch ist sie im geringsten gleichgültig. Wenn der Säe- mann ausgeht, zu säen seinen Samen, so mag manches auf den Weg, manches auf den Felsen, manches unter die Dornen, manches auch auf gutes Land fallen. Wenn ich das japanische Missionsfeld mit einer von diesen vier Bodenarten vergleichen soll, so kann nach dem, was unter Geistesleben und Temperament gesagt wurde, auch nicht der geringste Zweifel bestehen. Zwar giebt es glücklicherweise Ausnahmen, und gerade die Aus- nahmen, die ernsten Naturen, sind es in der Regel, welche sich dem Christentum zuwenden. Auch gelingt oft während der Vorbereitungszeit eine intensive Ver- tiefung des Geistes und Gemütes. Aber im großen und ganzen gleicht das japanische Ackerfeld auffallend dem Felsenlande, auf welches der Same fiel. „Sie nehmen das Wort, wenn sie es hören, mit Freuden an, haben aber nicht Wurzel“. Mit seinem Kopfe erfaßt der Ja- paner rasch und sicher, und bald schon, nachdem die Säe- arbeit begonnen hat, sieht man die Keime des Verständ- nisses hervorkommen. Aber mit seinem Herzen erfaßt er langsam und lose. Es giebt der Fälle genug, wo das Christentum nur in dem Kopfe, nicht aber in der Tiefe des Herzens gewurzelt ist. Dazu ist es der Japaner nicht gewöhnt, in unserm Sinne freimütig und mitteilsam zu sein und sein ganzes Inneres offen vor den Augen selbst dessen zu erschließen, zu dem er das größte Vertrauen hat. Ein richtiges Urteil ist daher für den Missionar sehr schwer; und da der Katechumene zufolge seiner natürlichen Veranlagung leicht Feuer und Flamme scheint, so läßt man sich leicht blenden von dem Schein dieser Flamme und zu spät erkennt man, daß es in manchen Fällen nur ein flackerndes Stroh- feuer gewesen ist, nicht aber die nachhaltige Glut des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Hierin liegt eine große Gefahr und die ernste Mahnung, nicht allzurasch an den letzten Akt zu denken, nicht allzu früh zu taufen. Denn sonst könnte es gehen wie bei der Blüte, welche sich im Frühling allzufrüh hervorwagt, und der Reif der Frühlingsnacht kommt über sie, und sie fällt ab. Und so haben wir in der ersten Hälfte der neunziger Jahre thatsächlich einen großen Abfall erlebt, welcher hauptsächlich darauf zurück- zuführen ist, daß man in der Hast der Jahre zuvor viele unreife Elemente eingeführt hatte. Der günstige Wind von damals hat viele leichte Ware in die christlichen Kirchen hineingeweht, und als er nun plötzlich umschlug und von der andern Seite blies, hat er die Spreu wieder aus den Kirchen hinausgefegt. Der amerikanische Missionseifer, welcher in seinem Weltbekehrungsenthusias- mus alles mit Maschinengeschwindigkeit betreiben will, hat sich hier in hohem Grade als verderblich erwiesen, hat freilich, wie ich offen gestehe, auch uns mit fort- gerissen zu allzu eiligem Vorangehen. Das Lehrgeld, welches damals jede Mission bezahlen mußte, blieb auch uns nicht geschenkt. Es war die Gründerzeit des japanischen Christentums, und der große Krach konnte unmöglich ausbleiben. Immerhin hatte auch dieser Krach sein Gutes. Das Material der christlichen Kirchen ist heute ein besseres, als es vor zehn Jahren war; und wer den Stürmen widerstanden hat, wie sie in dieser Zeit an die Mauern der Kirche anschlugen, ist heute fester gewurzelt, als damals. So versteht es sich denn von selbst, daß es gegen- über einem solchen Geistesleben nicht genügt, seinen Missionsobjekten einen christlichen Anstrich zu geben. Denn wenn die Wogen einer feindlichen Strömung darüber hingehen, ist der Anstrich hinweggespült, und der alte Mensch kommt wieder zum Vorschein. Wenn irgendwo ein vollständiges Durchdringen der bekehrten Persönlichkeit mit dem christlichen Glaubensgehalt not- wendig ist, so ist es gegenüber diesem Volkscharakter. Wenn irgendwo der Missionar mit Bezug auf die Taufe skrupulös sein sollte, so ist es hier. Darum sollte der Taufe eine ernste Prüfung, wenn möglich eine längere Probezeit vorangehen. Kann es der Missionar dann vor seinem Gewissen verantworten, so mag er die Taufe vollziehen. Nun endlich ist der Bekehrungsprozeß in sein letztes Stadium getreten; und gleichwie das Einführen der Frucht in die Scheunen gar bald gethan ist, so ist dieser fünfte Akt der kürzeste von allen. Die Taufe geschieht im öffentlichen Gottesdienste vor versammelter Gemeinde. Zweimal wurde an mich das Ansinnen gestellt, heimlich zu taufen. Ich habe mich nie darauf eingelassen. Denn ich meinte, daß es im Widerspruch zu dem Jesuswort stehe: „Wer mich bekennet vor den Menschen“ — und das soll doch wohl heißen: nur wer mich bekennt vor den Menschen —, „den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“. Wenn die freudig ernste Stunde der Taufe ge- kommen ist, so schaut der Missionar auf einen langen Weg zurück. Nicht nur für den Täufling, sondern auch für ihn wird die Taufe zu einem Markstein, welchen er setzt in dem frohen Dankgefühl: „Bis hierher hat der Herr geholfen!“ Unter unseren Organen, welche der Einzelbekehrung dienen, befinden sich zwei, welche im vorstehenden keine genügende Erwähnung fanden: Die Sonntagsschule und die Armenschule. Während es die andern Institutionen mit der erwachsenen Jugend und gereifteren Elementen zu thun haben, handelt es sich hier um die Arbeit an unmündigen Kindern. Das Sonntagsschulwesen, welches sein Vorbild in der englischen „Sunday-School“ hat, ist ungemein ausgebreitet. Alle Missionen legen das größte Gewicht darauf, so daß mit jeder Kirche und Predigtstation eine Sonntagsschule verbunden ist. Da kommen sie des Sonntags morgens, Kinder von fünf bis fünfzehn Jahren, um sich, je nach dem Verständnis in Klassen geteilt, von mehreren gereiften Gliedern der Gemeinde unterrichten zu lassen. Der Unterricht ist auch hier fast ausschließlich ein biblischer. Der Kate- chismus tritt vollständig in den Hintergrund. Die Sonntagsschulen finden immer Besucher. Unter dem reaktionären Geist des letzten Jahrzehnts hatten sie am wenigsten zu leiden. So abgeneigt der Japaner für seine Person dem Christentum sein mag, seine Kinder in die Sonntagsschule zu schicken, trägt er keine Be- denken. In unserer Sonntagsschule in Hongo hatten wir Kinder, deren mir bekannte Väter aus ihrer ent- schieden atheistischen Gesinnung nie ein Hehl machten. Vielleicht, daß selbst von ihnen der Mangel des Reli- gionsunterrichts in den Gemeindeschulen als Mißstand empfunden werde. Ein großer Teil des Sonntagsschulbestandes ist freilich in den Armen- oder Freischulen schon vorhanden. Während die Sonntagsschulen englischen Ursprungs sind, dürften diese auf die römisch-katholische Missionspraxis zurückzuführen sein, welche bekanntlich der Kinderer- ziehung den größten Teil ihrer Erfolge zu verdanken hat. Es sind gewöhnliche Elementarschulen. Da für die Gemeindeanstalten das Schulgeld ziemlich hoch ist, so greifen unvermögende Eltern mit Freuden zu, wenn der Missionar sagt: „Wir erziehen eure Kinder umsonst“. Ohne das würden viele Kinder überhaupt keine Schule besuchen, und manche würden ganz und gar verwahr- losen. Denn wenn der Schulzwang auch offiziell besteht, so wird doch seine Durchführung noch nicht sehr strenge gehandhabt. Es ist also auch hier wieder zunächst ein rein menschliches Samariterwerk, welches die Mission thut. Auch unser Verein besitzt eine solche Armenschule, an welcher ein Lehrer und zwei Lehrerinnen unterrichten Vergl. Frau Pfarrer Käthe Christliebs lebenswarme Schilderung, welche in O. Schmiedels Kultur- und Missions- bildern zum Teil abgedruckt ist. Frau Christlieb ist Leiterin der Schule. . Aber mit dem Unterricht allein ist es nicht gethan. Die Lehrerin ist zugleich die Mutter der Kinder, und es ist nicht nur ein Scherz, wenn sie dieselben „meine Kinder“ nennt. Sie macht es wie einst Pestalozzi: Sie wäscht die Kinder und kämmt sie und reinigt sie vom Ungeziefer, sie steckt sie in das Bad und flickt ihnen die Kleider. Es ist also innere Mission, welche hier getrieben wird. Die Früchte aus den Sonntagsschulen und Frei- schulen reifen sehr langsam. In der katholischen Mission ist man freilich darauf aus, sie um jeden Preis einzu- heimsen, auch wenn sie noch nicht reif sind: Man tauft die Kinder in jedem beliebigen Lebensalter. Hier ist die Taufe eben opus operatum, das als solches, auch abgesehen vom Glauben, zur Seligkeit dient. Ich hatte einmal einen jungen Mann, einen Lehrer der deutschen Sprache, im Bibelunterricht. Derselbe wünschte schließ- lich in unsere Kirche aufgenommen zu werden. In seiner Jugend war er ein regelmäßiger Besucher der griechisch-katholischen Sonntagsschule in seiner Heimat gewesen, und nun war er zweifelhaft, ob er nicht dort schon mit etwa acht Jahren getauft worden sei; er wußte also nicht, war er ein Christ oder nicht, und ich wußte nicht, sollte ich ihn noch einmal taufen oder nicht. Ich wandte mich um Auskunft an den russischen Bischof Nikolai und erhielt von diesem zur Antwort, daß der betreffende Namen in den Listen seiner Kirche nicht zu finden sei. Ich hatte jetzt kein Bedenken mehr, den Mann zu taufen. So pflegen es die evangelischen Missionen nicht zu halten. Die Kinder werden erst dann getauft, wenn sie sich der Tragweite dieses Schrittes bewußt sind, und auch dann noch — unter einem ge- wissen Alter — nur mit Einwilligung ihrer Eltern. Die Täuflinge sehen also zum Teil auf einen christlichen Unterricht von sechs und mehr Jahren zurück. Aber auch hier vollzieht sich der Bekehrungsprozeß auf dem- selben Wege, wie es oben beschrieben wurde. Ich gebe es gerne zu, daß der Missionar in der Regel hinter der geschilderten Methode zurückbleibt. Aber das soll nicht etwa heißen, daß ich nur eine sub- jektive Theorie darüber geben wollte, wie es gemacht werden sollte. Vielmehr ist es der in der ganzen japa- nischen Mission betretene Weg. Es ist ja natürlich nicht so, als müßte jede Bekehrung also verlaufen. Neuer- dings ist ein großer Teil der Propagandaarbeit an ein- heimische Prediger übergegangen, welche naturgemäß noch andere Anknüpfungen zu finden wissen als die durch Schulen geschaffenen, und da vortreffliche japanische Unter- richtsanstalten den Missionsschulen immer größere Kon- kurrenz machen, so wird sich die christliche Propaganda in Zukunft noch andere Wege suchen müssen. Nun, Gottes Ordnung ist nirgends so armselig, daß sie nur einen Weg kennt. Auch hier gilt es: „Der Wind (Geist) bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, noch wohin er fährt“. Mit andern Worten: Gottes Pfade sind ge- heimnisvoll. Auch hier hat man Gelegenheit zu erfahren, daß Gott allerwege den zu finden weiß, den er sucht. Auch hier habe ich manchen gekannt, der auf einem ähnlichen Damaskusweg wie der große Apostel aus einem Saulus ein Paulus wurde, und in manchem hat die Bekehrung eines liederlichen Augustin zu einem gott- wohlgefälligen Augustin sich deutlich wiedergespiegelt. Ja, auch hier fehlt es an denen nicht, welche durch merkwürdige Erfahrungen des Lebens und durch wunder- bare Fügungen Gottes zu Christus gekommen sind. „Weg hat er allerwege, an Mitteln fehlts ihm nicht.“ Aber auf der andern Seite ist es gewiß nicht über- trieben, wenn ich sage, daß weitaus der größere Teil der evangelischen Christen Japans auf die oben gezeichnete Weise zum Glauben gekommen ist, und wenn ich für die außerordentlichen Bekehrungen fünfundzwanzig Pro- zent ansetze, so bin ich mir bewußt, daß das hoch ge- griffen ist. Bezeichnend ist, daß die epochemachendste Bekehrung, welche Japan je erlebt hat, die durch Kapi- tän Janes in Kumamoto, genau in dieser für Japan charakteristischen Weise verlaufen ist. Der Erfolg be- stätigt, daß wir hier den bisherigen gottgewollten, geord- neten Weg vor uns haben. So erfahren wir gerade auf dem Missionsfelde, wo alles noch chaotisch durchein- ander liegt, daß unser Gott ein Gott der Ordnung ist. XI. Die Gemeinde, ihre Qualität und ihr inneres Getriebe. D urch die Taufe wird der junge Christ in die Gemeinde aufgenommen. Von welcher Art nun das Material ist, aus welchem sich die Gemeinde zusammen- setzt, geht aus dem Gesagten zum Teil schon klar hervor. Es sind fast durchweg junge Leute. Die That- sache, daß in der ganzen Schar der durch Janes be- kehrten Kumamotochristen auch nicht ein einziger das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatte, ist charak- teristisch für das ganze japanische Christentum. Die „Ältesten“ sind nicht selten Gymnasiasten, und wenn sich das Parlament schon durch lauter schwarzhaarige Köpfe auszeichnet, so tritt der jugendliche Cha- rakter auf den kirchlichen Synoden noch viel mehr zu Tage. Heute noch, wo doch der Hauptbestand des Christentums mehr denn ein Jahrzehnt alt ist, dürfte von den Mitgliedern einer Generalsynode ein Drittel unter dreißig, ein weiteres Drittel zwischen dreißig und fünfunddreißig, und nur das letzte Drittel mehr als fünfunddreißig Jahre zählen. Das hat zweifellos sein Mißliches. Der Satz, daß man mit der Jugend die Zukunft und mit der Zukunft alles gewinnt, enthält doch im besten Falle nur eine halbe Wahrheit. Ganz abgesehen davon, daß den jungen Leuten die reife Lebenserfahrung fehlt, tritt bei der Jugend das san- guinische Temperament auch in seinen schlechten Eigen- schaften stärker hervor als bei dem Alter. Auch liegt es in der Natur der Sache, daß solche „Studenten- gemeinden“ keine stabilen sind. Wenn die jungen Leute ihre Studien beendigt haben, so greifen sie zum Wander- stabe und sind in der Regel für die Muttergemeinde hinfort verloren. Wohl mag in einzelnen Fällen auf diese Weise das Christentum weiter getragen werden; aber mindestens ebenso groß als dieser Gewinn ist die Gefahr, daß die jungen Christen, losgelöst von der Ge- meinschaft, in ihrem Glaubensfeuer erkalten und den Einflüssen ihrer neuen heidnischen Umgebung zum Opfer fallen. Unter dem beständigen Wechsel haben die Ge- meinden schwer zu leiden, zumal in Zeiten der Prüfung, wo der Zugang so gering ist, daß er nur schwer den durch die Verhältnisse bedingten Abgang zu decken vermag. Für junge Gemeinden handelt es sich in solchen Zeiten buchstäblich um Sein oder Nichtsein. Bis eine Gemeinde als konsolidiert betrachtet werden darf, dauert es eine lange Reihe von Jahren. Denn zu einer konsolidierten Gemeinde gehört, daß die jungen Christen herangereift und an Ort und Stelle seßhaft geworden sind, und daß nicht bloß vereinzelte Glieder, sondern ganze Familien der Kirche zugehören. So innig sich darum der Missionar auch freuen mag, wenn es ihm gelungen ist, eine junge Menschenseele zu Christus zu führen, so schaut er doch dabei zugleich hoffend vorwärts in die Zeit, da der Jüngling, zum Manne gereift seiner Kirche zu größerem Segen werden kann. Es wäre ja freilich gut, wenn man von Anbeginn schon recht viele gereifte Elemente in die Gemeinde auf- nehmen könnte. Aber die Erfahrung zeigt, daß mit seltenen Ausnahmen die Jugend allein sich eindrucks- fähig erweist. Das Alter steckt zu tief in seinen alten Anschauungen. Ein Charakter, der sich in einem langen Leben persönlich ausgebildet hat, ist schwer zu ändern, gleichwie ein alter Baum nicht leicht umzupflanzen ist. Gerade das, was für jeden Erfolg bedingungslose Vor- aussetzung ist, „das Vertrauen ist eine Pflanze, welche in alternden Herzen nur sehr langsam wächst“. Die Jugend ist biegsam und geschmeidig, das Alter ist spröde und hart. Da erfährt man, daß doch ein tiefer Wahr- heitskern in dem Worte liegt: „Was man eingesogen mit der Muttermilch, schüttet man aus ins Leichen- hemde“. Auch in Japan gab es einmal eine Zeit, wo das Alter für das Christentum eintrat; aber es waren keine idealen Gründe, die es bestimmten, sondern poli- tische Nützlichkeitserwägungen. Aus Laienkreisen wird der japanischen Mission oft zum Vorwurf gemacht, sie beziehe ihr Material vorzugs- weise, wenn nicht ausschließlich, aus den unteren und einflußlosen Schichten der Bevölkerung. Das mag für die römische und russische Mission im ganzen zutreffen, für die evangelische aber keineswegs. Ich sage nicht, daß die evangelische Mission nur an den oberen Klassen arbeitet. Wenn das so wäre, so wäre es bedauerlich. Der Weg der Missionierung darf keinesfalls einseitig sein. Die Missionskreise, welche sich nur für die Missionierung von unten herauf begeistern, sind nicht weniger im Irrtum als die Laienkreise, welche sich nur für die Methode von oben herab erwärmen können. Wohl ist es wahr, daß Jesus sich mit seiner Predigt an „das Volk“ wandte und seine Jünger vorzugsweise aus armen Fischern von Galliläa erwählte. Aber diese Thatsache will doch auch im Zusammenhang mit den geschichtlichen Verhältnissen begriffen sein. Jedenfalls gehörten Männer wie Nikodemus und Paulus den oberen und gebildeten Kreisen an, und unbestreitbar bleibt, daß der gebildete Konvertit Paulus dem Christen- tum zu unendlich viel größerem Segen wurde als alle die Menschenfischer von Kapernaum zusammen. Soll man die Gewinnung, auch die systematische, solcher Elemente mißbilligen? Die beiden Methoden müssen sich notwendig ergänzen. Denn es gilt, ebensowohl Bresche zu legen in den Buddhismus als in den Kon- fuzianismus. Jenes aber geschieht durch die Arbeit an den unteren, dieses durch die Arbeit an den oberen Klassen des Volks. Die christliche Arbeit in den Sonntagsschulen und in den Freischulen ist so recht ein Missionieren von unten herauf. Hier dringt die Mission in die dem Buddhismus nahestehenden Kreise ein. Das Material dagegen, welches die Gemeinden aus den höheren Schulen beziehen, gehört fast durch- weg den von konfuzianischem Geiste durchdrungenen ein- flußreichen Klassen und zwar vorzugsweise dem ehe- maligen Samuraistande an. Es ist keine übertriebene Schätzung, wenn ich sage, daß mehr denn ein Drittel aller evangelischen Christen aus der alten Samurai- kaste hervorgegangen ist, welche ihrerseits nur etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Schon mehr als einmal hatten Christen Stühle von Ministern und Vizeministern inne, während der lang- jährige Präsident des Reichsgerichts und mehrere Richter des obersten Gerichtshofs Christen sind. Ebenso gehört ein nicht geringer Prozentsatz des übrigen Be- amtentums, einschließlich von Professoren der Universität und bedeutender Ärzte, dem evangelischen Bekenntnis an, während die Zahl der Christen im Parlament eine 22 erstaunlich hohe ist. Thatsächlich dürfte es kein Missions- feld geben, wo eine so verhältnismäßig große Zahl von einflußreichen und gebildeten Männern sich dem Christen- tum angeschlossen hat; und wenn im Laufe der Zeit auch nicht wenige von ihnen demselben bösen Feinde anheimfallen wie unsere Gelehrten, nämlich dem Indiffe- rentismus, so bleibt doch immer noch so viel übrig, daß man das evangelische japanische Christentum als ein nach seiner Bildungsqualität hervorragendes be- zeichnen darf. Wie aber steht es mit seiner sittlichen Qualität? Man hat gesagt, das Christentum helfe den Leuten gar nicht vorwärts; sie blieben als Christen genau dasselbe, was sie als Heiden gewesen seien. Was sollen wir dazu sagen? In sittliche Entrüstung gegen die gott- losen Kritiker ausbrechen, um ihnen dadurch das Recht zu dem Einwand zu geben, daß wir hinter der Ent- rüstung unsere Schwäche verbergen? Nein, die Sache ist ernst genug, daß es für uns gilt, den Thatsachen in das Gesicht zu schauen. Mit Zahlenstatistik läßt sich nichts beweisen. Aber vielleicht sind einige wenige Illustrationen besser als alles andere imstande, ein einigermaßen deutliches Bild zu geben. Ich will hier entsprechend der Fragestellung der Gegner weniger von den erbaulichen Wirkungen des Christentums reden. Daß Jesus imstande ist, einen Verbrecher noch auf dem Wege zum Schaffot tief zu erschüttern und zu einem seligen Genossen des reu- mütigen Schächers am Kreuz zu machen; daß er einem todkranken Heiden himmlischen Frieden bringt und den Getauften eines seligen Todes sterben läßt, das sind gewiß erhebende und für den überzeugten Christen voll- wertige Zeugnisse für die Kraft des Evangeliums Vergl. M. L. Gordon: „An American Missionary in Ja- pan“, ein anspruchsloses Buch, aber lehrreich und unterhaltend und darum empfehlenswert. . Aber in diesen Erfolgen, wie sie die Missionslitteratur mit Vorliebe anzuführen pflegt, ist dem nüchternen Laienbeobachter der Beweis für den Segen, die Nütz- lichkeit und Notwendigkeit der Mission noch nicht er- bracht. Für ihn liegt das Entscheidende darin, daß das Christentum Charaktere schafft, christliche Charaktere, die sich im Strome des Lebens standhaft bewähren. Unterziehen wir dasselbe darum einmal einer Prüfung. Es soll eine unparteiische Prüfung werden, und nicht die auffallendsten, sondern die nächstliegenden Fälle will ich herausgreifen. Im Herbste 1896 führte mich mein Weg nach Berlin. Eines Tages stand ich auf der Friedrichstraße und sah mir einen Schauladen an. Plötzlich wurde ich von hinten angeredet: „Sie entschuldigen, Sie sind doch wohl der Herr Pfarrer M.?“ Ich drehte mich um und — vor mir stand ein kleiner Herr mit mongolischen Gesichtszügen und lächelte mich freundlich an. Meine Freude war sehr groß. Das war ja mein lieber junger japanischer Freund F., ein treues Mitglied unserer heidenchristlichen Gemeinde Hongo in Tokyo. Als blut- junger Gymnasiast war er mit unserem ersten Missionar Spinner bekannt geworden und nach vorhergegangenem christlichen Unterricht wurde er getauft. Er hat auch eine Zeitlang bei ihm im Hause gewohnt und hier den Grund zu seinen deutschen litterarischen Kenntnissen gelegt. Fast unscheinbar und bescheiden nach außen hin, war er doch ein hochbegabter Mensch und in seiner Klasse unbestritten der erste. Trotz seiner bekannten 22* Vorliebe für deutsche Klassiker und für chinesischen Stil entschloß er sich zu dem Studium der Medizin. Auch hier lenkte er bald die Aufmerksamkeit auf sich. Wenn ich mich bei seinen deutschen Lehrern an der Universität nach ihm erkundigte, so hörte ich immer nur Worte des Lobes und der Anerkennung. „Und der gehört zu Ihnen?“ fragten sie, „Nun, auf den dürfen Sie stolz sein“. Und wir waren auch stolz auf ihn. Auch in der Gemeinde galt er viel, wenn er auch zu still und zurückgezogen war, um eine Rolle spielen zu wollen. Zwar war er langjähriger Vorsitzender des Studenten- vereins Sol Oriens und ein tüchtiger Mitarbeiter an unserer Zeitschrift Shinri, für welche er manche gute Übersetzung lieferte, aber ein hervorragendes Gemeinde- amt hat er nie verwaltet, und nicht ein einziges Mal habe ich ihn als Vorbeter gesehen. Aber am Sonntag sah man ihn auf seinem Platze in der hintersten Bank der Kirche; in mancher Bibelstunde auch war er zugegen, und manchen Spaziergang haben wir zusammen gemacht. In den Missionarshäusern war er ein gern gesehener Gast und manchmal habe ich ihn in seinem Studenten- zimmer in der Geshikuya (Logierhaus) besucht. Als ich im Jahre 1895 Tokyo verließ, rief ich ihm beim Abschied: „Auf Wiedersehen!“ zu. Damals meinte ich, ihn im nächsten Jahre in Tokyo wieder zu treffen. Und nun — begegnen wir uns unvermutet auf der Friedrich- straße von Berlin! Wir hatten uns viel zu erzählen, und des Freudigen und Schmerzlichen bekam ich genug zu hören. Am erfreulichsten aber war das, was ich über ihn selbst erfuhr. Er hatte bald nach meiner Rückkehr sein Abgangsexamen an der Universität be- standen und zwar mit solchem Erfolge, daß die Re- gierung auf ihn aufmerksam wurde. Eine Auszeichnung, die heute, wo es für vermögende junge Leute zum guten Ton gehört, im Ausland gewesen zu sein, nur noch sehr wenigen zu teil wird, ist ihm geworden: Die Regierung sandte ihn auf ihre eigenen Kosten für einige Jahre nach Deutschland, damit er hier sich noch weiter in seinem Fache vervollkommne. Als ich mit ihm zu- sammentraf, war er gerade auf dem Wege zu Virchow. Wenn er aber einst, wohlausgerüstet mit deutschem Wissen, in seine sonnige Heimat zurückkehrt, so wird er in einer angesehenen akademischen Stellung Gelegen- heit haben, uns Ehre zu machen. Etwas mehr als ein Jahr später kam ich wieder nach Berlin. Dieses Mal durfte ich neben dem jungen Doktor noch ein zweites Mitglied unserer heidenchrist- lichen Gemeinde zu Tokyo begrüßen. Der etwa dreißig- jährige Mann, welcher seiner Zeit die Kunstakademie zu Tokyo absolviert hat, hielt sich gleichfalls zur Ver- vollkommnung seiner Studien in Berlin auf. Eine ungemein sympathische Persönlichkeit, welche Schmiedel so innig und prächtig geschildert hat, daß ich nichts besseres zu thun weiß, als diese Schilderung hier zu wiederholen. „Er war in meiner ersten Taufunterrichts- stunde, erzählt Schmiedel Vergl. Otto Schmiedel „Kultur- und Missionsbilder aus Japan“, eine prächtige Schrift, die nicht warm genug empfohlen werden kann. Nicht minder anregend ist desselben Verfassers erste Flugschrift „Eine Woche in der japanischen Christengemeinde zu Tokyo“. Wenn auch ihr Inhalt heute nicht mehr in allen Stücken zutreffend ist, so ist sie doch als ein warmes Stimmungs- bild aus der Blütezeit der japanischen Mission noch allezeit von hohem Wert. , fehlte von da an keinmal und war unter den ersten Getauften. Er ist von den ersten Wochen an mein lieber Freund geworden, der bei mir in jeder Herzensnot Trost suchte und auch mir in schwerer Zeit, die für mich kam, treu zur Seite ge- standen hat. Er hat das Herz wie den Kopf auf der richtigen Stelle. Wie er von jeher eine der stärksten Säulen der kleinen Gemeinde war und seiner Sorge keinem Kranken oder Angefochtenen entgehen ließ, so wuchs er auch in jedem Monat im christlichen Ver- ständnis. Für theologische Fragen war er stets Feuer und Flamme und bedauerte oft, daß ihn die Notwen- digkeit, bald für seine Familie zu sorgen, vom Studium der Theologie zurückhalte. In der Bibel erwarb er sich eine weitgehende Kenntnis und bat mich zugleich mit anderen Freunden, wissenschaftlich theologische Fragen auch für Nichttheologen in Nachmittagsstunden zu be- handeln. So hielt ich nach und nach eine Reihe Vor- träge über Auferstehung, Johannesevangelium, Offen- barung Johannis, Apostelgeschichte. Als ich mit der ersten Vorlesung fertig war, präsentierte er mir ein fein in chinesischem Stil ausgearbeitetes Heft mit den Worten: „Dies sind Ihre Vorträge über die Aufer- stehung“. Nach Mitake sandte er mir einen Brief, in welchem er seine Rückkehr in die Heimat fern an der Westküste nach langjähriger Abwesenheit schilderte. „Ich stand“, so schreibt er, „auf dem Verdeck des Schiffes. Der Mond goß sein bleiches Licht über die nahe Küste. Jede Drehung des Schaufelrades brachte mich der Hei- mat und den Lieben näher. Ja, da tauchte er auf, der Berg mit der zackigen Spitze, den ich so oft erklettert, da sprangen sie ins Meer vor, die gefährlichen Klippen, um die ich so oft in weitem Bogen gerudert, da zeigte sich, vom Mondschein hell beleuchtet, die Stadt, wo ich geboren ward. Es war mir, als steige der Geist meines Vaters, der, ach, viel zu früh ins Grab sank, am Strande auf, mich, den langentbehrten Sohn, im Eltern- haus willkommen zu heißen“. Dann beschreibt er in rührenden Zügen das freudige Erschrecken seiner Mutter und Schwestern und das Jauchzen seines jüngeren Bruders, die er mit seinem Kommen überrascht hatte. Er stürzte sich nun mit Eifer in eine doppelte Thätig- keit, einerseits das Kunstgewerbe, andererseits die reli- giösen Verhältnisse seiner Heimat zu studieren und da- selbst für das Evangelium zu wirken. Nach Tokyo zurückgekehrt, berichtete er mir, freudig bewegt, von den Erfolgen, die er gehabt, wie er die Einwände gegen das Christentum zerstreut und seine Schwestern zur An- nahme desselben geneigt gemacht habe. Es war ungefähr vier Monate später, als ich eines Nachmittags von ihm einen tieftraurigen Brief erhielt, worin er mir den plötzlichen Tod seiner älteren Schwester mitteilte. Als ich wenige Stunden darauf zu ihm ins Zimmer trat, hatte er die Offenbarung Johannis auf geschlagen und gestand mir mit einem trotz des Schmer- zes verklärten Antlitz: „Jetzt habe ich die Stelle erst verstanden, auf deren Trost und Schönheit Sie uns hinweisen, als wir die Offenbarung lasen: Gott wird abwischen alle Thränen und kein Leid und Geschrei und Schmerz wird mehr sein, denn das erste ist vergangen“. Und wahrlich, er hatte die Thränen schon getrocknet und in der Bibel seinen Trost gefunden. Nachdem er sein Examen an der Kunstschule sehr gut bestanden, reiste er wieder nach Kyoto, (welches, wie Tokyo die Centrale der Wissenschaft, so der Mittel- punkt der Kunst ist) und nach seiner Heimat. Zu Weih- nachten wollte er wieder hier sein. Aber vergeblich warteten wir auf ihn. Erst nach Wochen brachte ein Brief die Nachricht, daß die ganze Umgebung seiner Vaterstadt mit zehn Fuß hohem Schnee bedeckt und von allem Verkehr abgeschnitten war. Im Anfang März trat er dann ganz unerwartet in mein Zimmer. Sein drittes Wort war: „Meine Schwester ist getauft“. Auch seine Mutter und sein Bruder neigten sich dem Evan- gelium zu. Dann fing er an, von der Kunst zu erzählen, und brachte eine ganze Menge Skizzen in modernem und größere Aquarelle in japanischem Stil zum Vor- schein, auf denen besonders die Blumen mit großer Wahrheit und Zartheit dargestellt waren. Nachdem mein Freund etwa ein Jahr lang in Kyoto, der alten Kunststadt Japans, weiter studiert hatte, erhielt er einen ehrenvollen Ruf als Lehrer der Kera- mik und Farbenchemie an die Hochschule der Kongre- gationalisten in derselben Stadt, an die Doshisha. Dort hat er sich immer treu zu unserer Mission bekannt, unserer Zeitschrift Shinri immer mehr Anhänger ge- wonnen und mich im Winter 1891, als ich die Anstalt besuchte, bei den meisten japanischen Professoren einge- führt. Dort habe ich ihn auf meiner Abreise von Japan zum letztenmal gesehen. Schon vorher hatte er mir in einem überglücklichen Brief mitgeteilt, er sei verlobt und zwar mit einem jungen Mädchen, das auf seinen Antrieb über ein halbes Jahr meinen Taufunterricht besucht hatte, aber, plötzlich in die Heimat zurückgerufen, die Taufe selbst nicht mehr hatte empfangen können. Gewöhnlich ist die Eheschließung in Japan ein Geschäft Der Ausdruck ist etwas scharf, vergl. Kap. V. , hier war es eine Herzenssache. Auf Betreiben der Mutter, die bei unserem Freund im Hause wohnte, wurde die Hochzeit beschleunigt. Aber nun war es der sehnliche Wunsch des jungen Professors, daß seine junge Frau auch dem Namen nach eine Christin würde, wie sie es in der That schon war, und daß ich ihr die Taufe erteile. Kaum war ich daher mit meiner Familie zum letzten kurzen Aufenthalt in Kyoto angekommen, als uns auch schon das glückliche Ehepaar am Bahnhofe begrüßte und mich für den folgenden Tag zu der heili- gen Handlung einlud. Früh um neun traf ich dann zur bestimmten Zeit an dem freundlichen Häuschen ein, zog meine Schuhe von den Füßen und schlüpfte gebückt durch die niedere Gitterthür. Die ganze Familie meines Freundes war im Festgewande versammelt. Seine Mutter und Großmutter, die Mutter seiner Frau, seine Geschwister, die Gattin eines befreundeten amerikanischen Missionars, welche die Stelle der Taufzeugin vertreten sollte, wir alle knieten nach japanischer Sitte auf den Strohmatten nieder. Die Thür zum Garten war ge- öffnet, die Sonne schien freundlich durch die Bambus- zweige herein, als wollte sie unser Werk segnen. Ich erzählte von früheren Zeiten, wie wir unseren Freund- schaftsbund schlossen, wie wir ihn bestärkt und gefördert hatten im gegenseitigen Lehren und Lernen und Auf- blicken zu unserem Heiland, und wie mein Freund seine Braut in dem gemeinsamen Streben nach christlicher Erleuchtung und christlichem Wandel gefunden habe. Dann mahnte ich die beiden, treu zu einander und zu Christus zu halten, bis der Tod sie scheide, und sprach die Taufformel: „Ware nanji ni baptesma wo hodo- koshite, chichi to ko to seirei no na ni iru“. Das war meine letzte und eine der schönsten Amtshandlungen in dem Lande, das ich so lieb gewonnen“. — Mehr als ein Jahrzehnt ist verflossen, seitdem die beiden, der Arzt und der Kunsttechniker durch die Taufe Christen wurden. Aus Jünglingen sind reife Männer geworden, und heute ist ein Urteil über sie wohl mög- lich. Religiös-sittliche Großthaten habe ich von beiden nicht zu berichten; aber sie haben sich als religiös-sitt- liche Persönlichkeiten erwiesen, und das ist mehr als manche scheinbare Großthat. Das unparteiische Urteil Fremder über sie konnte mir wahrlich nicht gleichgültig sein; denn jedes Urteil über sie bedeutete zugleich ein Urteil über unsere Missionsthätigkeit; man wird darum meine Freude wohl verstehen, als ich in Berlin von anderen vernahm: „Die beiden sind christliche Charaktere“. Das sind europäische Urteile, und manches andere nicht minder günstige Zeugnis durfte ich auch in Japan aus dem Munde unbefangener und selbst be- fangener Abendländer hören. Manchmal, wenn ich in Begleitung eines christlichen Japaners einem Europäer begegnete, wurde mir von diesem später gesagt: „Nicht wahr, das war doch ein Christ, mit dem ich Sie neu- lich zusammensah; man siehts ihm ja auf den ersten Blick an“. In der That ist nicht wenigen Christen der Adelsbrief ihrer Religion auf das Antlitz geschrieben, so daß man aus dem Ausdruck ihrer Gesichtszüge nicht minder sicher auf ihre himmlische Gefolgschaft schließen darf, wie früher aus dem Wappen ihres Kleides auf die Zugehörigkeit zu ihrem weltlichen Clansfürsten. Der Gesichtsausdruck ist aber im Grunde nichts anderes als die Widerspiegelung der inneren Gedankenwelt, und der Rückschluß aus einer christlichen Physiognomie auf ein echt christliches Herz wird in den meisten Fällen kein Trugschluß sein. Einst landete in Yokohama ein hochgestellter deut- scher Landsmann, welchem eine flüchtige Besichtigung der japanischen Mission aus der Vogelperspektive wichtig genug war, um darob ein Reise um die Welt zu unter- nehmen. Er besuchte auch mich, und da ich glauben durfte, einen verständnisvollen Missionskenner vor mir zu haben, der nicht in der laienhaften Erwartung kommt, daß auf dem Missionsfelde alles ideal sein müsse, der vielmehr auch die ungeheuren Schwierigkeiten zu schätzen weiß, unter denen man dort arbeitet, so wan- delte mich auch nicht entfernt ein Bedenken an, ihm unseren ganzen Missionsbetrieb, auch mit seinen schwa- chen Punkten und dunkeln Ecken, voll zu erschließen. Ich führte ihn unter anderem auch in unsere Armen- schule, die damals allerdings noch ein viel bescheideneres Aussehen hatte als heute. Als wir wieder heraustraten, äußerte sich der Herr ganz entzückt über unsere Lehrerin, die zugleich auch Organistin unserer Hongokirche ist. „Bei der fühlt man sich ja förmlich angeweht vom Hauche des Christentums, der von ihr ausgeht. Sie sieht ja ganz anders aus als andere Japanerinnen; man merkt gleich: Sie ist eine Jüngerin Jesu“. Für den Wortlaut verbürge ich mich nicht, da ich mich nicht gern Lügen strafen lasse; aber weniger enthusiastisch waren seine Auslassungen nicht. Und in der That, bei diesem Urteile wenigstens hatte er das Richtige ge- troffen. Die er hier vor sich hatte, ist eine christliche Persönlichkeit, die sich in einem Zeitraum von annähernd einem Jahrzehnt vorzüglich bewährt hat. Die Mit- glieder unserer Mission sind die einzigen nicht, die große Stücke auf sie halten. — Und nun die Kehrseite in den mannigfachen großen Enttäuschungen, die keinem erspart bleiben. Der junge Doktor, von dem ich vorhin erzählte, hatte einen Freund. Derselbe saß auf dem Gymnasium in jeder Klasse mit ihm zusammen, und wenn er auch schwächer beanlagt war, so rückten sie doch immer zu- sammen vor und bezogen schließlich gleichzeitig die Uni- versität. Auch er war frühe getauft worden, und daß es ihm mit seinem Christentum Ernst war, daran habe ich bis heute nie einen Augenblick gezweifelt. In der Gemeinde hat er große Vertrauensstellungen bekleidet. Jedermann hatte ihn gern; denn er war äußerst liebens- würdig und gutherzig; aber freilich — wie das mit der Gutherzigkeit oftmals verbunden ist — er war schwach. Kaum hatte er die Universität bezogen, da verheiratete er sich. Sein Eheglück war von kurzer Dauer. Zwei Jahre später starb seine Frau; mit zwei kleinen Kindern blieb der junge Witwer zurück. Der junge Mann hatte Besitzungen auf dem Lande und galt bei unseren Ge- meindegliedern als sehr vermögend. Seine Güter wurden von seinem Onkel verwaltet, der aber ein Schlemmer und Trunkenbold war und in der Zeit der Unmündig- keit seines Neffen bös gehaust hatte. Eines Tages kam der unglückliche F. zu mir und teilte mir mit — lachenden Mundes natürlich —, daß er durch die Miß- wirtschaft seines Onkels zum Bettler geworden sei. So war es. Noch hatte er zwei Jahre zu studieren, aber er besaß keine Mittel, um sich und die Seinen durch- zubringen. Wohl suchten wir ihm unter die Arme zu greifen, aber eine ausgiebige Hilfe war um so weniger möglich, als der verwöhnte Mann den Wert des Geldes nicht zu schätzen wußte. Er nahm Geld zu Wucherzinsen auf, und bald stak er völlig in Schulden. Die Energie des schwachen Mannes brach bald zusammen. Er ver- nachlässigte den Besuch der Vorlesungen und nahm eine andere Stellung an. Von uns zog er sich immer mehr zurück. Er ließ sich nicht mehr sehen, und wollte ich ihn in seinem Hause besuchen, so war er „nicht daheim“. Und nun ging es rapide bergab. Allerlei böse Gerüchte über ihn kamen mir zu Ohren, bis ich eines Tages mit Bestimmtheit erfuhr, er beziehe zur Zeit seinen Unter- halt von einer Witwe, bei welcher er — Hausfreund geworden war. Als Letztes erfuhr ich durch seinen ehemaligen Kameraden, daß er auf Formosa sich auf- hält; zu welchem Zwecke weiß ich nicht. Das ist eine tieferschütternde Geschichte, dabei man den jungen Mann vielmehr bemitleiden als verurteilen sollte. Aber es giebt auch Fälle, wo die Schlechtigkeit unverhüllt zu Tage tritt. Mir ist ein Christ bekannt, welcher, seiner Frau überdrüssig geworden, dieselbe entließ, um sich mit ihrer eigenen Schwester zu verheiraten, welche er direkt aus dem Freudenhaus heraus zu seiner Gattin machte. Bei einem solchen Sittenbilde ist man versucht, an das zu denken, was uns der Apostel Paulus aus der jungen Christengemeinde zu Korinth offenbart (1. Kor. 5, 1). Eine böse Erfahrung hat unsere eigene Mission mit einem ihrer Glieder gemacht. Der junge Mann hatte die deutsche Vereinsschule besucht, war aber mangelnder Mittel wegen zum Austritt genötigt. Es gelang einem unserer Missionare, ihn in einem deutschen Hause unter- zubringen. Aber nach einiger Zeit erschien der deutsche Herr und machte die peinliche Mitteilung, daß sich bei Geldern, die er ihm anvertraut hatte, Unregelmäßig- keiten herausgestellt hätten, die ihn nötigten, ihn zu ent- lassen. Ein Jahr später fand er in einem deutschen Geschäft in Yokohama Stellung. Anfangs ging alles gut, ich hörte nur Lobenswertes über ihn. Bald rückte er in eine Vertrauensstellung ein. Aber als ich mich eines Tages wieder nach ihm erkundigte, ward mir der betrübende Bescheid: „Entlassen wegen Unterschlagung“. Zum zweitenmal war er zum Dieb geworden. Der raffinierteste Lügner, welchen kennen zu lernen mir nicht erspart blieb, war ein gewisser J., der richtige Typus eines vollendeten Heuchlers. Man hatte ihm bei der Taufe nach alter, in Japan mit Recht außer Kraft gesetzter Sitte den Vornamen Johannes gegeben, und es ist nicht zu leugnen, daß er es vortrefflich verstand, sich ein dem Namen entsprechendes Aussehen zu geben. Seine Vergangenheit war etwas abenteuerlich. Meines Wissens war er in Shanghai getauft worden; an welcher Mission Rockschöße er sich in Japan gehängt hat, ist mir nicht bekannt. Auch in Europa hatte er sich auf- gehalten, und für kurze Zeit war er als Zögling auf einem deutschen Missionsseminar untergebracht. Niemals habe ich einen Menschen gehört, dessen Sprache so von gesalbten Redensarten getrieft hätte, wie die seine. Einer meiner Kollegen wußte ein köstliches Stücklein davon zu erzählen. Eines Tages, als Johannes wieder einmal beschäftigungslos war, was bei seiner Unzuver- lässigkeit nicht gerade zu den Seltenheiten gehörte, kam er zu meinem Kollegen und im Verlaufe des Gespräches äußerte er unter frommem Augenaufschlag und mit ge- falteten Händen: „Ach, wenn mir der liebe Herr Jesus doch eine Stelle schenken wollte, wo ich nicht viel zu thun, dabei aber ein reichliches Auskommen hätte, dann wäre mir geholfen!“ Er sprach gut deutsch, und diese seine Fertigkeit trug ihm schließlich die Stelle eines Dolmetschers bei einem deutschen Regierungsangestellten ein. Dieser Herr ließ sich von einer Gesellschaft von Schwindlern bethören, sich in abenteuerliche Wald- spekulationen einzulassen, bei denen er viele Tausende von Dollars auf das Spiel setzte. Das Spitzbuben- konsortium hatte seine Sache schlau eingefädelt; wenn aber schließlich die ganzen Ersparnisse unseres Lands- mannes auf Nimmerwiedersehen verschwanden, so hatte er das vorzüglich der Vertrauensseligkeit zu verdanken, in welche er sich durch die gesalbten Lügen seines christ- lichen Dolmetschers Johannes hatte einwiegen lassen. Die beiden letzten Vorkommnisse spielten sich, wie bemerkt, in den Häusern von Fremden ab; manche andere ähnlicher Art sind den Europäern gleichfalls be- kannt geworden und haben ein bedenkliches Kopfschütteln hervorgerufen. Man hat der ausgesprochenen Ab- neigung, welche die in Heidenländern ansässigen Abend- länder der Mission entgegenbringen, die mannigfaltigsten Motive untergeschoben; man hat z. B. gemeint, die Aufklärung der Heiden durch die Mission stehe dem Geschäftsinteresse der europäischen kaufmännischen Kreise entgegen. Sicher ist, daß in Japan diese und ähnliche Gründe nur sehr wenig in Betracht kommen. Der Hauptanstoß für die europäische christliche Laienwelt besteht vielmehr darin, daß sich in so manchen Fällen die einheimischen Christen nicht bewähren. Wohl ist das christliche Bewußtsein unserer Landsleute draußen ein schwaches; aber den Satz der Heiligen Schrift hat man noch nicht vergessen: „An ihren Früchten sollt ihr sie er- kennen!“ Faule Früchte machen naturgemäß mißtrauisch. So begreiflich aber infolge schlechter Erfahrungen dieses Mißtrauen ist, so ist es doch im geringsten nicht wirklich begründet. Es ist eine alte Sache, daß das Böse, wo es herauskommt, in die Öffentlichkeit gezerrt und breit getreten wird; das Gute aber geht seinen stillen Gang, und niemand merkt etwas von ihm. Von den guten Christen redet man nicht, von den Schlechten aber spricht man um so mehr. Einige wenige Fälle werden generalisiert, und um ein paar räudiger Schafe willen bricht man über die ganze Herde den Stab. Mit Unrecht! Zwar ist über die Thatsache, daß bei den Getauften Schlechtigkeiten vorkommen, kein Wort weiter zu verlieren. Diese Klage, welche die Missionare bei einiger Ehrlichkeit auf allen Gebieten zu führen haben, läßt sich auch in Japan nicht unterdrücken. Ja, ich gehe noch weiter und stelle eine Behauptung auf, welche gleichfalls nicht nur von dem japanischen, sondern von allen Missionsgebieten gilt: Die meisten christlichen Individuen erheben sich, für sich betrachtet, nur wenig über ihre heidnische Umgebung. Das klingt freilich bös, um so böser, als man nach den land- läufigen populären Vorstellungen, an welchen Mission und Geistliche nicht unschuldig sind, bei einem Heiden an eine Ausgeburt der Hölle zu denken pflegt. Man taxiert die äußere Sittlichkeit des Heiden in der Regel zu gering. Von dem japanischen Durchschnittsheiden gilt, daß er nach den Alltagsbegriffen von Moral durchaus nicht als ein schlechter Mensch bezeichnet werden darf. Die japanische heidnische Moral erzeugt sittliche Durchschnittsmenschen, wie sie bei uns zu Tausenden umherlaufen. Bei aller Verkehrtheit der Lebensrichtung kennt das Heidentum nicht mehr schwere Verbrechen als das Christentum. Der heidnischen Moral fehlt die Innerlichkeit als Grund und die Gottähnlichkeit d. i. Vergeistigung als Ziel. Darum ist ihr das Höchste, das Leben im Geist, der Wandel im Himmel versagt; sie kann ihre Anhänger über den gewöhnlichen Durchschnitt nicht hinausheben. Hier liegt die unendliche Über- legenheit der christlichen Ethik, welche es auch auf dem Missionsgebiet fertig gebracht hat, neben der großen Masse der noch nicht entwickelten Alltagschristen auch eine Anzahl von solchen zu schaffen, welche sich nicht nur vor ihren heidnischen Landsleuten auszeichnen, sondern auch weit über das Mittelmaß unserer heimischen Christenheit hinausragen und sich den Besten in unseren Landen ruhig zur Seite stellen dürfen. Ihre Zahl ist nicht groß. Es mögen zwei oder drei unter zehn sein, welche als wahrhaft christliche Persönlichkeiten be- zeichnet werden dürfen. Sie sind der eigentlichste und schönste Gewinn der Mission; sie sind das Salz, welches das Ganze vor Fäulnis bewahrt und frisch erhält, sie sind das Licht, welches hineinleuchtet nicht nur in die Dämmerung der eigenen Gemeinde, sondern auch in die Finsternis des Heidentums. In dem Abglanz ihres Lichts erscheint die ganze Missionsgemeinde so strahlend verklärt, daß auch unparteiische Heiden die sittliche Überlegenheit, wenn auch nicht der einzelnen Individuen, so doch der Gemeinde als solcher wohl oder übel anerkennen müssen. Sie sind es, welche dem Missionar in allen bitteren Enttäuschungen die Freudig- keit zurückgeben, und wer unter den Fremden einem von diesen begegnet ist, giebt seine Vorurteile gegen die Mission gern auf und ist hinfort mit ihr versöhnt. Und wenn mitunter ungünstige Berichte von draußen zu den Ohren unserer heimischen Missionsgemeinde dringen, so darf sie sich darum in ihrem Liebeseifer nicht irre machen lassen; Schlechte finden sich überall, hat es doch selbst einen Judas Ischariot gegeben! — Von den Guten und Besten aber gilt im höchsten Sinne das Zeugnis, welches die Juden dem Hauptmann von Kapernaum ausstellten: „Er ist es wert, daß du ihm solches erzeigest“. Wer sich die skizzenhaften Zeichnungen der pauli- nischen Briefe zu einem Gesamtbild der apostolischen Christenheit zusammenstellt, findet die Widerspiegelung dieses Bildes in der heutigen Missionsgemeinde wieder, sowohl in seinen düsteren Farben als auch in seinen wunderbaren Lichtwirkungen. 23 Man darf sich also die Missionsgemeinde nicht als ein großes sonniges Feld vorstellen, darauf die schönsten Bäume stehen und an jedem Baume die herrlichsten Früchte hängen. Das Christentum ist wie der frucht- bare Boden, in welchen der junge Baum erst umge- pflanzt wird, es ist wie der treibende Saft, der dem Baume erst zugeführt wird. Eine aufrichtige Annahme des Evangeliums hat auch einen aufrichtigen guten Willen zur Folge; aber wenn der Geist auch willig ist, das Fleisch ist zunächst noch schwach. Nur in be- schränktem Maße und nur bei wahrhaft paulinischen Persönlichkeiten ist die sittliche Wirkung der Bekehrung eine unmittelbare. Aber bei der weitaus größeren Zahl der schwächeren Elemente trifft dieses durchaus nicht zu. Auch hier ist es ein Wachstum, und alles Wachs- tum braucht Zeit. Darum ist das Missionsfeld mit Bezug auf die sittliche Qualität der Bekehrten wie ein blühendes Saatfeld, welches köstliche Früchte wohl ver- spricht und mit Sicherheit bringen wird, welches aber Geduld verlangt. Es sind eben werdende und darum noch unfertige Verhältnisse. Für die katholische Mission besteht die Bestimmung, daß erst dann einer Priester werden kann, wenn seine Familie nachweisbar drei Generationen hindurch christlich gewesen ist. Erst von der dritten Generation, die voll und ganz in christlicher Atmosphäre aufgewachsen ist, nimmt sie an, daß ihr das Christentum in Fleisch und Blut übergegangen sei. In der That vollzieht sich eine völlige Umgestaltung einer ganzen Persönlichkeit — und bei der Eigenart des japanischen Geisteslebens kann es sich nur darum und nicht etwa nur um eine Reformation der Persön- lichkeit handeln — erst in großen Zeiträumen. Hat das Christentum erst einmal eine Umgestaltung der Weltanschauung und Lebensrichtung bewirkt, dann können die sittlichen Früchte nicht ausbleiben. Schon die Thatsache, daß ein großer Teil der evangelischen Christen dem alten Samuraistande, dem Träger der japanischen Sittlichkeit, entsprossen ist, läßt für die Zukunft das Beste hoffen. Dazu ist die Zahl der sog. Reischristen nur eine geringe. Um leiblicher Speise willen ergreifen nur verschwindend wenige das Christentum; dagegen mag es hier und da vorkommen, daß man sich um geistiger Speise willen taufen läßt, d. h. um im Verkehr mit dem Missionar irgend welchen Bildungsgewinn zu erzielen. Mancher hat es heraus- gefunden, daß der Verkehr mit dem Fremden ein treff- liches Mittel ist, seinem Deutsch oder Englisch nach- drücklich aufzuhelfen. Das sind aber Ausnahmen. Bei weitaus der großen Mehrzahl spielen diese offenbar heuchlerischen und betrügerischen Motive nicht mit. Fast immer sind es edle Beweggründe, die zu Christus führen. Das japanische Christentum würde gewiß an sitt- licher Qualität und an religiöser gewinnen, wenn sich die Christen noch mehr von den Grundvoraussetzungen der konfuzianischen Moral losreißen würden. Seither war es der einzelne Japaner nicht gewohnt, sich selbst in den Vordergrund seiner Bestrebungen zu stellen. Das, worauf es ankam, war nicht das Individuum, das waren vielmehr die Gemeinschaftskörper der Familie und des Staates. Diese Anschauungen haben auch bei der An- nahme des Christentums für viele einen entscheidenden Einfluß geübt. Das japanische Christentum ist zu wenig individuell. Es läßt sich nicht leugnen, daß nicht wenige sich hauptsächlich darum zum Christentum bekennen, weil sie hoffen, dasselbe werde ihr Volk zu Ehren bringen. „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk“, sagt die Schrift, und 23* die Erhöhung ihres Volkes ist es, die sie von der christ- lichen Gerechtigkeit in erster Linie erwarten. Nationale Motive spielen bei der Bekehrung ebenso viel mit als das individuelle Sündenbewußtsein. Und doch soll das Sündenbewußtsein die erste Bedingung zur Seligkeit sein. An der Pforte zum Himmelreich steht Johannes der Täufer, und über dem Eingang sind die von Jesus bestätigten Worte geschrieben: „Thut Buße!“ Zur Buße aber ist der Japaner seiner ganzen Veranlagung nach wenig geneigt, und sein Gewissen macht ihm selten zu schaffen. Er besitzt eine frische, freudige Schaffensnatur nach Art der alten Griechen, bei dem Asketismus der Buße hält er sich nicht gern auf. Dazu kommt, daß das Missionsmaterial fast durchweg ein jugendliches ist. In den sonnigen Tagen der Jugend aber ist das Froh- gefühl der Kraft und der freudigen Begeisterung stärker als das Gefühl der Schwäche und der demütigen, buß- fertigen Zerknirschung. In der Regel ist es so, daß das Gefühl der sittlichen Unzulänglichkeit erst im Ver- laufe des Taufunterrichts so viel als möglich geweckt wird. Der Mangel an Gewissensmotiven und ein Übermaß von patriotischen Empfindungen ist selbst bei epochemachenden Bekehrungen nachweisbar. Auch von dem Christentum Nishimas läßt sich nicht leugnen, daß es einen starken sozialen Beigeschmack hatte. Er verstand es, die christlichen Schüler der Doshisha zu entflammen, aber nicht zum wenigsten dadurch, daß er sie immer wieder darauf hinwies, was sie dem Volke und Vaterlande schuldig seien. Das Christsein betonte er sehr viel in Verbindung mit dem Japanersein, und dieses Leuten gegenüber, welche infolge ihrer jungen Jahre sehr geneigt waren, seine Worte so aufzufassen, als sei das Christsein nur ein Mittel zu dem einen Zweck des Japanerseins. Es ist keine vollgenügende Erklärung zu sagen, daß Nishima von einem glühenden Patriotismus beseelt gewesen sei; vielmehr ist der alte Samurai nie in ihm erstorben, und in seiner einseitigen Wertschätzung der Volksgemeinschaft ist er auch als Christ noch Konfuzianist geblieben. In dieser Befangen- heit hat er der Doshisha von vornherein den Kurs ge- wiesen, der sie schließlich zu einem unrühmlichen Ziel führen sollte. Auch die an sich hocherfreuliche Thatsache, daß der erste Präsident des Parlaments ein Christ war, und daß bis zum heutigen Tag durchschnittlich etwa acht Christen im japanischen Unterhaus sitzen, ist dem tiefer Schauenden ein Beweis dafür, daß das Christentum stark politisch durchsäuert ist. In Deutsch- land ist man geneigt, den Geistlichen die öffent- liche Teilnahme an der innern Politik zu unter- sagen. Wie würde ein zufällig an Japans Gestade verschlagener preußischer Konsistorialrat sich wundern, wenn er von so mancher Kanzel herab nicht bloß die Namen der radikalen, freisinnigen und konservativen Parteien hörte, sondern dazu noch ein buntes Durch- einander von „China, Amerika, Franz’, Doits’, Inglish, Russia etc.“. Er würde nicht mit Unrecht vermuten, daß diese Predigten stark politisch durchsäuert sind. Es ist sehr zu begrüßen, daß der Unfug politischer Predigten, welcher um das Jahr 1890 auf seiner Höhe war, heute doch immerhin bedeutend abgenommen hat. Man ist gewohnt, das Vorhandensein japanischer christlicher Staatsmänner dahin auszulegen, daß das Christentum eine Macht im Volksleben bildet. Das ist ganz richtig. Es läßt sich aber mit einem gewissen Recht dagegen behaupten, daß in Japan das Christentum in manchen seiner Glieder zu einer Magd, zu einem Appendix der Politik herabgewürdigt werde. Gewiß ist doch — mag es auch in den geschichtlichen Verhältnissen einigermaßen eine Erklärung finden —, daß die Bekehrung der alten Welt in anderer Weise vor sich gegangen ist, nämlich in völliger Indifferenz gegenüber dem Gemeinschafts- körper der Nation, und daß auch die sonstigen modernen Missionen mit ihren Hauptfeldern in Indien, China und Afrika von diesem eigentümlichen Wesen wenig wissen. Das Christentum darf nicht einfach an die Stelle des Konfuzianismus treten, um gleich diesem zum Träger der alten ethischen Gemeinschaftskörper Japans zu werden. Die Bekehrten müssen wissen, daß das Christentum nur mittelbar für das Volksganze, unmittel- bar aber für die einzelnen bestimmt ist. Sie müssen lernen, daß nicht nur die Gemeinschaft eine Existenz- berechtigung hat, sondern daß jede Einzelseele einen unendlichen Wert in sich selbst besitzt. Das individuell Erbauliche, worin zu allen Zeiten eine hervorragende Kraft der Lehre Christi lag, muß gerade in Japan energisch betont werden. Hier ist der persönlichen Seel- sorge ein weites Feld geboten. Sie muß das noch unentwickelte Gemüt vertiefen und das Christentum aus einem Faktor der Gesellschaftsordnung zu einer Sache der persönlichen Erfahrung machen. Sehr zu begrüßen ist die stetig gesteigerte Zahl weiblicher Christen. Dem Manne ist die Welt das Herz; für das Große und Ganze, für die Allgemeinheit zu arbeiten ist sein Ziel. Der Frau aber ist das Herz die Welt; die Frau, die zu Christus kommt, sucht etwas für Herz und Gemüt. Schon jetzt ist der veredelnde Einfluß der Frau auf das japanische Christentum unverkennbar. Der Zug vom Sozialen zum Individuellen, von der Gemeinschaft zum Persönlichen ist da, und wenn er weiter geht, so ist um dieses Preises willen die aus politisch-religiösem Grunde erwachsene Krisis der neunziger Jahre nicht zu teuer erkauft. Mit der sittlichen Qualität der Missionsgemeinde steht im engsten Zusammenhang die Frage nach der Kirchendisziplin. Die Mission kann auf die Diszipli- nierung ihrer Glieder nicht in dem Maße verzichten, wie die heimische Kirche das thut. Zwar ist das aus- gedehnte System der Kirchenstrafen einschließlich der öffentlichen Kirchenbuße, wie es in der alten Kirche geübt wurde, in Japan unbekannt. Vermahnungen und Verwarnungen sind der privaten Seelsorge des Geist- lichen überlassen. Die Rechtsprechung der Gemeinde- versammlung beschränkt sich auf Streichung und Aus- stoßung. Die Streichung aus der Liste der Gemeinde- glieder erfolgt auf Grund der Vernachlässigung des Gottesdienstes und des Sakraments. Durch diese Streichung, durch welche alle toten Glieder entfernt werden, gewinnt die Statistik der Mission außerordent- lich an Zuverlässigkeit. Die heimische Missionsgemeinde sieht freilich lieber große als kleine Zahlen. Im Inter- esse der Sache selbst ist aber die Streichung unkirch- licher Elemente unumgänglich notwendig. Es muß eine Ehre sein, Mitglied einer christlichen Gemeinde zu heißen. Wer aber durch Gleichgültigkeit den Beweis liefert, daß er diese Ehre nicht zu würdigen weiß, darf auch nicht länger mehr im Besitze derselben bleiben. Wenn man auch ihnen die „Ehre“ beläßt, so wird die- selbe zur wertlosen Phrase. Durch die Streichung sind viele japanische Christengemeinden um mehr als die Hälfte reduziert worden. Es ist kein Nachteil für sie. Mitglieder, die das Jahr einmal zur Kirche kommen, nützen nichts, sie schaden aber. Kleine, aber lebendige Gemeinden sind besser als große und tote. Ein Feuer mit einem Haufen Schlacken dazwischen brennt nicht mehr und erlischt schließlich, mag auch der Ofen voll bis oben an sein. Man werfe die Schlacken heraus, und es flammt auf in neuer Glut. Lebendige Christen halten sich gegenseitig warm; aber tote Christen da- zwischen bringen am Ende die ganze Glaubens- und Liebesglut einer Gemeinde zum Gefrieren. Das ist das Geheimnis der ecclesiolae in ecclesia; auf diesem Grundsatze sind die Sekten aufgebaut, und wer Gelegen- heit hatte, die nahe Bekanntschaft von Sekten zu machen, hat, bei allen seinen übrigen Bedenken, doch Wärme und Leben in ihnen gefunden. Die bittere Seite der obigen Wahrheit aber wird in der Staatskirche nur allzusehr fühlbar. Gänzlich verschieden von der Streichung ist die Ausstoßung. Während sich jene auf Unkirchlichkeit be- zieht, erfolgt diese auf Grund von Unsittlichkeit, von gemeinen Vergehen. Es ist bezeichnend für das ja- panische Christentum, daß die Praxis der amerikanischen und englischen Mutterkirchen, häretische Mitglieder zu exkommunizieren, bei ihm keinen Eingang gefunden hat. Trotzdem es fast in jeder Gemeinde sehr freisinnige Bekenner giebt, so ist mir kein einziger Fall eines Ketzergerichts bekannt. Das ist ein Beweis für den liberalen Sinn und die weitherzige Toleranz des ge- samten evangelischen Christentums Japans. Dagegen sollte es dem japanischen Christentum vorbehalten sein, in anderer Hinsicht die Tradition der Exkommunikation zu durchbrechen, indem es lediglich aus nationalen Gründen einen sittlich und religiös sehr hoch stehenden Mann ausschloß (s. S. 130 Anm.). Das war eine charakterlose Konzession an die chauvinistischen Schrei- hälse. Dagegen ist es durchaus begreiflich, daß es sich eine Christengemeinde nicht nachsagen lassen kann, daß sie Verbrecher und Schurken unter sich duldet. Reu- mütige Sünder können nach allgemeiner Übung später wieder aufgenommen werden. Auch wird nicht immer die schärfste Form der Exkommunikation gewählt. In einem Ehescheidungsfall eines sonst vortrefflichen Mit- glieds unserer Gemeinde, welches sich nicht ohne gute Gründe zu seinem Vorgehen veranlaßt sah, glaubten wir im Sinne christlicher Ethik zu handeln, wenn wir ihm den freiwilligen Austritt nahe legten. Die Aus- stoßuug hat immer etwas Schimpfliches und Entehrendes, und diesen Charakter muß sie behalten, wenn anders sie wirksam bleiben soll. Die Ausstoßung ist ein zweischneidiges Schwert, welches nicht allein den verwundet, gegen den es ge- richtet ist, sondern auch den, der es führt. Denn auch auf den Missionar wirft es kein günstiges Licht, wenn er zu oft in die Lage kommt, zu diesem Gewaltmittel zu greifen. Für einen guten Missionar gilt dasselbe wie für einen guten Arzt: Er muß versuchen, der Krankheit vorzubeugen und dem Äußersten durch weise Präventivmaßregeln zuvorzukommen. Er muß also den Bekehrten von vornherein in eine sorgfältige Behand- lung nehmen. Der junge Christ kann ohne dieselbe gar nicht be- stehen. Denn durch die Taufe ist er doch noch nicht auf eigene Füße gestellt. Weit entfernt! Die Taufe ist die Geburt eines neuen Menschen, Neugeborene aber sind keine selbständigen Männer, wenn auch auf geistigem Gebiet hier und da eine Ausnahme zuzugeben ist. Im allgemeinen ist der junge Täufling wie ein kleines, schwaches Kind, welches noch auf Schritt und Tritt der Führung des „Paidagogos“ nicht entraten kann und sich selbst überlassen, ohne diese Führung, wieder verloren geht. Die Arbeit des Missionars darf darum mit der Taufe noch nicht zu Ende sein. Vielmehr beginnt sie da erst recht. Denn auf dem Missionsfelde ist die Er- haltung noch weit schwieriger als die Gewinnung. Zumal bei dem Temperament des Japaners. Ich gestehe es, jeden Sonntag, wenn ich auf der Kanzel stand und einen Gläubigen vermißte, war mir angst und bange um ihn. Denn so lange einer im Herzen ein lebendiger Christ ist, kann man sich darauf verlassen, daß er auch regelmäßig zum Gottesdienste kommt. Auf dem Missionsfelde giebt es keine Frömmigkeit ohne Kirch- lichkeit. Das Missionsfeld, welches uns alle Züge des religiösen Lebens in typischer Ursprünglichkeit vor Augen führt, hat mich davon überzeugt, daß Frömmigkeit ohne Kirchlichkeit ein Unding ist, mit andern Worten, daß Unkirchlichkeit zum Unglauben führen muß. Der junge Christ, welcher zwei oder dreimal hinter einander den Gottesdienst versäumte, war in äußerster Gefahr des Abfalls. Die Veranlassungen zum Abfall sind eben auf dem Missionsfelde auf Schritt und Tritt vorhanden. Die ganze heidnische Atmosphäre, in welcher der Gläubige die Woche über atmet, der Spott und Hohn seiner Freunde, die Feindseligkeiten seiner Lehrer und Kollegen, die Bitten seiner Mutter und die Drohungen seines Vaters, die lockenden und strafenden Stimmen aller derer, die ihm bis dahin lieb und teuer gewesen und nun in Leid und Groll sich von ihm wenden: — Da gehört wahrlich mehr als menschliche Kraft dazu, stand- haft zu bleiben. Da bedarf der junge schwache Christ einer starken Stütze. Wer ihn auf Jesus als auf diese Stütze verweisen wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden mögen wir wohl Jesus mit auf den Lebensweg geben als Führer. Denn er ist ihnen aus persönlicher Erfah- rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Mensch und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber ist Jesus das nicht. Für ihn ist er kaum mehr als ein Abstraktum, eine Idee, wenn auch die höchste Idee, die er kennt. An der unpersönlichen Idee, nebelhaft und ungreifbar wie sie ist, ohne Fleisch und Bein, kann er sich nicht festhalten. Dazu bedarf es einer lebendigen Persönlichkeit, und das ist der Seelsorger. Das religiöse Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die lebendige Persönlichkeit des Seelsorgers. In ihm sieht er die Gedanken Christi verkörpert; in persönlichem Ver- trauen zu dem Seelsorger, welcher den bekannten Mittler zwischen ihm und einem unbekannten Dritten bildet, bleibt er verbunden mit seinem Heiland. Geht ihm der Seelsorger verloren, so geht das Mittelglied zwischen ihm und dem Heiland verloren, so wird das Band mit Jesus für ihn durchschnitten, so wird er hilflos preis- gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jesus wegtreiben könnte. Das persönliche Verhältnis zum Seelsorger ist es, das ihn festhält. Kommt einmal ein Windstoß, stark genug, um den leichten Japaner mit fortzureißen, so ist es gut, daß der Seelsorger mit dem ganzen Gewicht seiner autoritativen Persönlichkeit sich an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit eines persönlichen Verhältnisses zwischen Seelsorger und Christ auf dem Missionsgebiete macht sich hier zu Lande kaum jemand einen Begriff. In vielen unserer Kirchen steht der Seelsorger Sonntag für Sonntag auf seiner Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer, die er persönlich nicht einmal kennt, aber sie kommen doch und halten aus. Für den Heidenchristen aber gewinnt Kirchgehen und Predigt erst dann Interesse und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger persönlich nahe steht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er selbst der vorzüglichste Redner. Lebendige persönliche Beziehungen des Seelsorgers zu seinen Gläubigen sind darum für die heidenchristliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage. Wo sie fehlen, geht alles zu Grunde. Der Missionar erhält aber einen bedeutenden Bun- desgenossen in der Gemeinde. Für den japanischen Christen, welcher in seinem Leben nie in vollem Sinne erfahren hat, was Freiheit und Selbständigkeit ist, der vielmehr als Glied der Familie und des Volks in Familie und Volk seinen natürlichen Rückhalt hatte, bedeutet die Gemeinschaft etwas ganz anderes als für uns. Der einzelne will von der Gemeinschaft getragen sein. Die Gemeinde muß ihm das ersetzen, was ihm zuvor die Familie gewesen ist. Die Missionsgemeinde muß darum etwas ganz anderes sein, als die Durch- schnittsgemeinde in unseren Landen. Sie muß in vollem Sinne ein lebendiger Organismus, eine geistliche Fa- milie sein. Gemeinden wie die unsrigen in der Hei- mat, wo sich der Gläubige höchstens einmal Sonntags bewußt wird, daß er das Glied einer Gemeinschaft ist, wären auf dem Missionsgebiete von kurzer Dauer. Denn die Woche über wären die Christen als einzelne zer- splittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des Unglaubens würden sie von diesen leicht überwunden werden. Erst in der Gemeinschaft werden sie stark. Es handelt sich also nicht um Gemeinden, die nichts weiter sind als zufällige Vereinigungen am Sonntag. Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den Gottesdiensten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn- tagsschule am Nachmittag und mit den religiösen Vor- trägen am Abend ist die Sache noch nicht erschöpft. Da heißt es, auch in der Woche Bibelstunden veran- stalten; da gilt es, Gemeindeversammlungen abzuhalten, gesellige Zusammenkünfte anzuberaumen, Gemeindefeste zu arrangieren. Man betet und singt nicht nur ge- meinsam, man ißt und trinkt und spielt auch gemein- sam. Ich sehe heute in den Liebesmahlen der aposto- lischen Gemeinde nicht mehr nur den freien Erweis gegenseitiger brüderlicher und schwesterlicher Liebe; viel- mehr glaube ich, daß man sie damals ebenso wie auf dem heutigen Missionsfelde zur Pflege des Gemeinschafts- lebens und damit zur Erhaltung der Gemeinde als för- derlich, wenn nicht als notwendig erkannt hatte. Das Gemeinschaftsbedürfnis führt auch über die engere Ge- meinde hinaus. In dem wohlorganisierten „Seinen- kwai“ (Jünglingsverein), der in Japan im Jahre 1897 durch John R. Mott zu einem aus achtundzwanzig Vereinigungen bestehenden Studentenbund ( „Student Young Mens Christian Association Union of Japan“ ) spezialisiert wurde, schließen sich unter der Oberleitung eigens dafür angestellter Missionare junge Männer, d. h. hier Studenten, aus allen Kirchen, auch aus der unseren, zusammen, und der Verein „Seisho no Tomo“ (Bibelfreund), welcher seine zwölftausend Mitglieder zum täglichen Lesen eines bestimmten Schriftabschnitts verpflichtet, führt seine ebenfalls allen Denominationen angehörigen Glieder jährlich auch wenigstens einmal, kleinere Kreise aber öfter, zusammen. Es ist ein großer Apparat, der zur Erhaltung des Gemeindelebens in Bewegung gesetzt werden muß. Die Pastoration einer heidenchristlichen Gemeinde erfordert eine volle Mannes- kraft; und wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, da die Seelsorge- und Predigtarbeit an unserer Hongo- gemeinde allein auf meinen Schultern lag, so kann ich es nicht ohne tiefe Wehmut, da ich mir bewußt bin, daß meine auch noch anderweitig stark in Anspruch ge- nommenen Kräfte viel zu schwach waren, um allen An- forderungen zu genügen. Das ganze evangelische Christentum Japans mit Ausnahme der ritualistischen bischöflichen Kirche trägt den puritanischen Charakter der englisch-amerikanischen Sekten. Auf das Äußere wird nicht das geringste Gewicht gelegt. Wenn der amerikanische Missionar auf seinem Zweirad durch die Straßen von Tokyo fährt, in kurzen Knie- hosen und hellbrauner Joppe, mit strammem Schnurr- bart auf der Oberlippe, so sieht ihm kein Mensch den geistlichen Stand an. Und mit dem japanischen Pastor ist es nicht anders. Selbst im Amte verschmäht man es, die pastorale Würde durch äußere Mittel zu heben. Auf der Kanzel erscheint der Prediger im gewöhnlichen Kleid; der Talar ist gänzlich unbekannt. Keine Liturgie unterbricht den strengen Gang des Gottesdienstes. Japan besitzt jetzt eine stattliche Anzahl großer Kirchen, mit Sitzplätzen von dreihundert bis tausend und mehr Personen; man hat bei manchen derselben nach außen die Ornamentik nicht verschmäht; im Innern aber sind sie gleichmäßig öde und kahl; ihr einziger Schmuck ist in der Regel ein kurzer Bibelspruch, der in einfachen Lettern oder in künstlerischer Ausführung über dem Predigtpult angebracht ist. Ebensowenig wie der ja- panische Gottesdienst äußerlich das Gepräge des Feier- lichen trägt, ist das Gotteshaus imstande, den Ein- tretenden unmittelbar in fromme Stimmung und weihe- volle Andacht zu versetzen. Kleine Türmchen zur Ver- zierung sieht man wohl hier und da; aber keinen hoch- ragenden Turm, und keine Glocken laden zum Gottes- dienste. Keine hohen Festtage bringen Abwechslung in das Einerlei des kirchlichen Lebens. Die erste Woche des Jahres ist Buß- und Betwoche mit alltäglichen be- sonderen Gebetsandachten; aber die deutsche Mission ist die einzige, welche Charfreitag und Weihnachten nach deutscher Sitte mit Nachdruck feiert. Ganz anders natürlich bei der römischen, russischen und auch bischöflichen Kirche. All den äußeren Pomp, der diesen Kirchen in der Heimat eigentümlich ist, hat man auch nach Japan hinübergepflanzt. Mehrere katholische Kirchen, ebenso wie auch die russische auf dem Surugadaihügel in Tokyo, sind einigermaßen des Namens Kathedrale würdig. Hier wendet man der ästhetischen Seite des Kultus besondere Sorgfalt zu. So gebührt z. B. der russischen Kirche die Krone der Kirchenmusik und des Choralgesanges. Ob nicht auch die evangelischen Missionen gut daran thäten, den ästhetischen Empfindungen der Japaner mehr entgegen zu kommen? Sind doch die Japaner für Sinnesein- drücke durch Auge und Ohr besonders empfänglich, und lehrt doch die Geschichte, daß der Buddhismus vor tausend Jahren und der Jesuitismus vor dreihundert Jahren ihre verblüffenden Erfolge wesentlich den äußeren Erscheinungen ihres Kultus zu verdanken haben! Zweifellos handelt es sich hier um eine sehr nahe- liegende Frage. Aber die Beantwortung der Frage ist einer noch nicht sehr nahen Zukunft vorbehalten. Und zwar haben die Japaner selbst darüber zu entscheiden. In diesen Dingen, soweit es sich nur um den Zuschnitt der äußeren Gewandung, also um wirkliche Adiaphora handelt, läßt die Mission den eingeborenen Christen freie Hand. Sie ist vollständig beruhigt darüber, daß etwa wesentliche christliche Interessen dabei verletzt werden könnten. Die gegenwärtige Stimmung der Evangelischen ist ihnen genügende Bürgschaft dafür. Die evangelischen Christen, welche auf den Ceremonienhumbug und das Schaugepränge des Buddhismus als auf etwas Heid- nisches mit Verachtung und Abscheu herabschauen, wünschen nicht erst wieder, durch das Christentum dahin zurück- geführt zu werden. Auf die niederen Klassen des Volks mag die schöne Außenseite gerade wegen ihrer Ähnlich- keit mit dem Buddhismus anziehend wirken, für die urteilsfähigen Elemente ist sie aus ebendemselben Grunde abstoßend. Die Erklärung dafür, daß das Material der katholischen Kirchen im Vergleich zu dem der evangelischen Mission ein minderwertiges ist, ist nicht zum wenigsten in dieser Thatsache zu suchen. So lange der innere Stand des japanischen Pro- testantismus derselbe bleibt wie gegenwärtig, ist die Frage einer Änderung zu Gunsten der kirchlichen Ästhetik eine rein akademische. Wer dem Gottesdienste einer protestantischen Gemeinde, welcher genau in der Weise eines deutschen reformierten oder unierten Gottes- dienstes verläuft, vom Anfang bis zum Schluß mit Ver- ständnis beigewohnt hat, empfindet die vollständige Ab- wesenheit sinnlicher Eindrücke nicht mehr als einen Mangel. Der ganze Gottesdienst ist konzentrierte An- dacht. Man merkt es, die Leute sind mit Kopf und Herz, mit Leib und Seele bei der Sache. Mit Frische und Begeisterung werden die Lieder vorgetragen, wenn es auch manchem auf ein paar Töne höher oder tiefer nicht ankommt; gelangweilte Gesichter, welche in unseren Gottesdiensten als eine unausbleibliche Folge des Ge- wohnheitschristentums so ziemlich überall vorkommen, sind hier eine seltene Erscheinung; mit gespannter Auf- merksamkeit folgt man der Predigt, und je länger sie dauert, desto lieber lauscht man; mit Bewegung und Inbrunst werden die Gebete gesprochen. Hat auch der Eintritt in das Gotteshaus nicht unmittelbar die An- dacht geweckt, wenn man die Kirche verläßt, ist die ge- hobene Stimmung in vollem Maße vorhanden. Bei all seiner Nüchternheit ist der ganze Verlauf ein durchaus würdiger. Selbst die Störungen durch Ab- und Zugehen sind gering und die außerordentliche Seltenheit eigentlicher Skandalscenen ist ein schöner Beleg für die Wohlanständigkeit des Volks. Auch die nichtgläubigen Besucher verhalten sich ruhig, und selbst buddhistische Priester hören sich die Predigt an, ohne auch nur durch eine Miene ihre Mißbilligung kund zu thun In Osaka hatten wir freilich einmal sehr aufgeregte Ver- sammlungen, wo wir nur unter fortwährendem heftigem und fast thätlich gewordenem Widerspruche von seiten eines großen Teils der Zuhörerschaft sprechen konnten. Doch handelte es sich hier um Vorträge, nicht um Gottesdienste. . Wenn die Heiden beim Singen sich gleich den Gläubigen von ihren Plätzen erheben würden, anstatt zur Unterscheidung von diesen sitzen zu bleiben, so könnte man sie sehr wohl auch für Christen halten. Im Anfang hält es sehr schwer, die Besucher an ein pünktliches Erscheinen zu gewöhnen. Pünktlichkeit sucht man eben in dem Register der japanischen Tugend- lehre vergebens. Ich selbst hatte zeitweilig auf dem Lande zu predigen. Da ich meine Japaner kannte, so setzte ich wohlweislich die Versammlungen immer schon auf eine Stunde vor Ankunft meines Zuges an. Ich hätte sie aber manchmal noch viel früher ansetzen dürfen. Denn mehr als einmal mußte ich noch zwei volle Stunden warten, ehe Zuhörer kamen; aber schließlich kamen sie doch. In den organisierten Gemeinden ist 24 es aber heute Sitte geworden, daß der Geistliche mit dem Glockenschlag das Predigtpult betritt. Die gottesdienstlichen Gebete werden frei vorge- tragen. Unter den evangelischen Gemeinden sind es nur diejenigen der episkopalen Kirchen, welche gedruckte Vorlagen benutzen, und zwar die des „Common Prayer Book“, das in das Japanische übertragen ist und ebenso wie in der Church of England die Grundlage des Gottesdienstes bildet. Die japanischen Christen kön- nen frei beten, und zwar jeder einzelne. In den mancherlei Andachten und Zusammenkünften, welche alle mindestens mit Gebet beginnen und schließen, lernt sich das bald. Da fordert der Pastor, wenn er das Gebet nicht selbst spricht, irgend einen aus der Gemeinde dazu auf. Ich erinnere mich, wie einst ein junger Christ, welcher in Deutschland philosophischen und zum Teil auch theologischen Studien obgelegen hatte und erst kürzlich nach Japan zurückgekehrt war, einer Gemeinde- versammlung in Tokyo anwohnte. Der Leiter der Ver- sammlung wollte ihm eine besondere Ehre erweisen und forderte ihn auf, zu beten. Der junge Mann war aber offenbar im Verkehr mit den deutschen Studenten der Theologie etwas außer Übung gekommen, die Auf- forderung hatte auf ihn die Wirkung einer platzenden Bombe. Er geriet in die größte Verlegenheit, und mit dem Beten wollte es nicht gehen. Aber um seine theo- logische Reputation war es seitdem geschehen. Auch unsere Mission kennt Formulare nur für Taufe und Abendmahl. Alle übrigen Gebete sind frei. Für das Missionsfeld — denn von der heimischen Kirche zu sprechen ist hier nicht der Ort — halte ich das für das richtige. Die Redensart von dem freien Walten des Geistes ist doch nicht schlechtweg eine Phrase. Gerade bei dem Gebet kann es leicht wahr werden: „Der Buchstabe tötet“. Ich gestehe es offen, daß ich mich an den freien Gebeten auf dem Missionsfelde im allgemeinen mehr erbaut habe als an den Agenden- gebeten unserer deutschen Kirchen. Natürlich muß auch das Beten gelehrt werden. Ohne Anleitung geht es nicht. Hat doch auch Jesus seine Jünger beten gelehrt! Läßt man aber auf Grund dieser Anleitung das Gebet ein persönliches und freies werden, so ist der Ausdruck und der Eindruck desselben ein ganz anderer als bei dem mechanisch angelernten. Nicht bloß in Fragen der Verwaltung, sondern auch in rein geistlichen Dingen wie beim Gebet, muß auf dem Missionsfelde der Grund- satz zur Anwendung kommen: Nicht alles allein machen, sondern möglichst viele möglichst oft in Anspruch nehmen, um sie so persönlich zu interessieren. Selbstthätigkeit hält wach und lebendig, Passivität aber schläfert ein. Das allgemeine Priestertum ist auf dem evangelischen Missionsgebiete Japans trotz der teilweisen Unmündig- keit der Christen im Prinzip weit mehr anerkannt und gehandhabt als in dem Lande seiner Geburt. Im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht die Pre- digt. Bei derselben gilt es zu beachten, daß sie nicht sowohl auf die Gewinnung neuer Christen als vielmehr auf die Erbauung der schon vorhandenen berechnet ist. Sie ist also nicht eigentlich halieutisch im engeren Sinne des Wortes. Ich habe mir in allen möglichen Kirchen Predigten angehört, und immer habe ich den gleichen Eindrnck gewonnen. Den Gottesdienst am Sonntag betrachtet nun einmal die Gemeinde als ihr gehörig. Infolgedessen ist es nicht so, wie viele glauben, als sei nämlich die Predigt mehr belehrend und über- zeugend als erbaulich. Das Belehrende und Über- zeugende tritt nur da in den Vordergrund, wo der Missionar unmittelbar an Heiden sich wendet, d. h. 24* — in geringerem Maß — im Taufunterricht und — in höherem Grad — bei der litterarischen Arbeit, von welcher in Kap. XII noch die Rede sein wird. Hier kommt die Apologetik zu ihrem Recht. In der Predigt aber tritt sie nicht in den Vordergrund. Vielmehr besteht materiell zwischen der Predigt in dem Gottesdienste der Missionsgemeinde und der Predigt in der Heimat kein Unterschied. Der Zweck ist positive Erbauung hier wie dort, und wenn der japanische Geistliche hier und da auf kleine Abwege gerät, so tragen die Missionare daran keine Schuld. Für Japan trifft auch die Anschauung nicht zu, die gleichfalls in Bezug auf Missionspredigten gang und gäbe ist, als müßten dieselben sehr einfach gehalten sein, etwa in dem Stil, wie man zu Kindern redet, als dürfe man nichts voraussetzen und nirgends nur andeutungsweise sich ergehen, als müsse man viel- mehr bei Heranziehung biblischer Beispiele recht aus- führlich sein, wodurch dann die Predigt einen stark erzählenden Charakter erhalte. Der geistige Horizont ist wie überall so auch hier ein verschiedener, und bei der Predigt ist das wohl in Betracht zu ziehen. Aber im großen und ganzen braucht sich dieselbe kaum unter der geistigen Höhe zu halten, auf der sie sich in Deutsch- land bewegt. Und auch die Anforderungen an das religiöse Besitztum der Hörer brauchen kaum geringer zu sein. Denn die biblischen Kenntnisse der heiden- christlichen Gemeinde sind bedeutende. Wenn die Predigt auf die Heiden, welche unter den Zuhörern sind, auch nicht direkt berechnet ist, so hat sie darum doch auch für diese ihren Gewinn; und wenn sie einmal eine biblische Anspielung nicht ver- stehen, so mag ihnen gerade das zum Sporn weiteren Nachforschens werden. Während aber der Missionar mit Bezug auf den Inhalt der Predigt der Lehrer ist, ist er mit Bezug auf die Form derselben ein Lerner, und eine große Ausnahme ist es, daß er hier ein Meister wird. Ich bezweifle es, ob die Hälfte der christlichen Sendboten imstande ist, in der Landessprache zu predigen, und wenn auch die Hälfte es vermöchte, so sind sich doch die meisten bewußt, daß es europäisches Japanisch ist, das sie sprechen. Die ersten Missionare hatten freilich Zeit genug, um des Japanischen Herr zu werden. Darnach aber kam eine Zeit, wo man sich vielfach mit Dolmetschern behalf. Auch mir blieb anfangs nichts anderes übrig, und es dauerte etwa zwei Jahre, bis ich in japanischer Sprache predigen konnte. Es ist manchmal vorgekommen, daß ich morgens in der deutschen Gemeinde in Tokyo in deutscher Sprache predigte, nachmittags vor einer teilweise englisch verstehenden japanischen Versammlung in Yokohama auf ihren Wunsch in englischer und abends auf dem Lande noch einmal in japanischer Sprache. Heute ist der Missionar in seiner Predigtarbeit stark entlastet. Die meisten Missionare haben es aufgegeben, regelmäßig zu predigen, so daß die Predigt zum weitaus größten Teil an die Japaner übergegangen ist. Gleichwohl bleibt es für die Missionare nach wie vor Erfordernis, die japanische Sprache zu erlernen, da ohne dieselbe jede missionarische Thätigkeit schwer gehemmt ist. Da es zur Predigt und Seelsorge einer so voll- kommenen Beherrschung von Sprache, Sitte und Volks- charakter bedarf, wie es einem Fremden kaum möglich ist, und da sich das Vertrauensverhältnis zwischen Fremden und Japanern immer mehr als eine große Schwierigkeit erweist, so muß es als weise betrachtet werden, daß von Anfang an alle größeren Missionsge- sellschaften die Heranbildung japanischer Geistlichen als eine Hauptaufgabe betrachteten. Darum hat man früh- zeitig theologische Schulen gegründet, und die großen amerikanischen Gesellschaften waren in richtiger Würdi- gung der Verhältnisse von vornherein bemüht, ihren japanischen Theologen denselben Bildungsgrad zu teil werden zu lassen, wie er auf den theologischen Semi- narien Amerikas erworben wird. Eine Anzahl junger Leute haben sie nach Amerika geschickt, wo sie mit den künftigen Geistlichen amerikanischer Kirchen zusammen ausgebildet wurden. Für Japan ist eben nichts zu gut, und wo die anderen Wissenschaften so gepflegt werden, würden die Pastoren bald jedes Ansehens verlustig gehen, wenn sie nicht in vollem Sinne des Wortes gebildete Männer wären. Aber auch um ihrer selbst willen bedürfen die Theologen einer gründlichen Schulung. In dem Strom der Zeitläufte, in der fortwährenden Flut und Ebbe des japanischen Lebens kann nur der stehen, welcher einen festen Standpunkt gewonnen hat. Wer hier ein bißchen nascht und dort ein bißchen, der bringt schließ- lich viel zusammen, aber es ist nicht verdaut, nicht ver- arbeitet zu einem organischen Ganzen. Auf diesem Wege entsteht wissenschaftliche Halbbildung, welche zu hohler Eitelkeit führt. Dagegen hilft einzig und allein eine strenge, ja pedantische Gedankenzucht. Der Missio- nar darf sich nicht, wie im Taufunterricht, mit der Mitteilung von Resultaten begnügen. Auf dem Kultur- boden des japanischen Missionsfeldes ist es vielmehr wie hier bei uns: Unseren Laien in Deutschland genügen die Resultate, d. h. der positive Glaubensgehalt; der Theologe aber bedarf der wissenschaftlichen Fundierung, und darum geht er durch das Universitätsstudium hin- durch. Der orthodoxe japanische Prediger, welchem man mit systematischer Beharrlichkeit ängstlich alles fern hielt, was nach Unglauben schmeckt, läßt sich leicht überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli- gionsphilosophie in die Hände bekommt; und wäre es Schopenhauer, so würde er, um seinem neuen Abgott zu huldigen, ebensowohl seinen nichtfundierten Glaubens- besitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er nun orthodox oder liberal sein, welcher an der Hand des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus gegangen ist, steht auf festem Boden; er kennt die Feinde, er hat sie selbst schon überwunden, er fürchtet sie nicht mehr. Ist der Japaner leicht, so ist es gut, daß er durch eine durchgebildete Weltanschauung be- schwert werde, damit er nicht wie ein schwankendes Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt die Bürgschaft gegen einen sonst sehr gefährlichen Radi- kalismus. Die Vermeidung der historisch-kritischen Methode ist dabei unmöglich, wenn auch die Durch- dringung mit christlichem Geist und Leben das alleinige Ziel bleibt. Auf diesen Standpunkt hat sich auch die Mission des Allg. evang.-prot. Missionsvereins gestellt. Ihre Theologische Schule ( Shinkyo Shingakkō = Protestantische Theologieschule) steht im Mittelpunkte der missionari- schen Thätigkeit. Während meines japanischen Aufent- halts habe ich wöchentlich sechszehn bis zu sechsund- zwanzig Stunden Unterricht an dieser Schule gegeben, infolge von Mangel an Lehrkräften so viele, daß es nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz gerecht zu werden. Wir versuchten, unseren Studenten Hochschulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademischer Freiheit, sondern in seminaristischer Zucht. Ihre Schluß- examina würden sie auch vor einer deutschen theolo- gischen Prüfungskommission bestanden haben. Den Unter- richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame- rikaner auch der Fall ist, in fremder Sprache. Es hat das seinen guten Grund. Die japanische Sprache ist gegen- wärtig noch unfähig, den ganzen Inhalt unserer modernen Kultur zu fassen. Man kann der Wissenschaft nicht eben- sogut durch die japanische als durch die deutsche Sprache Ausdruck geben, und in der Theologie, wo es sich um den scharfen logischen und tiefen mystischen Ausdruck einer rein geistigen Gedankenwelt handelt, versagt das Japanische oft geradezu. Dem japanischen Geistlichen wird die Gemeinde unterstellt. Er verwaltet sie mit Hilfe eines Pres- byteriums. Bei allen wichtigen Angelegenheiten aber wird eine Gemeindeversammlung berufen. Fast alle japanischen Christengemeinden, auch diejenigen, welche sich nicht selbst unterhalten, sind in ihrer Verwaltung selbständig. Der Missionar ist offiziell unbeteiligt, nachdem die Erfahrung erwiesen hat, daß Leute wie die Japaner es ungern ertragen, wenn der Fremde eine maßgebende Macht über sie ausübt. Die ganze Kunst für den Missionar besteht daher darin, daß er sich nicht vordrängt, sondern im Hintergrunde stehend die Fäden in der Hand behält und die Gemeinde so leitet, daß sie in dem Glauben bleibt, sie leite sich selbst. Er ist der Berater, nicht der Herr der Gemeinde, und wenn er sein Amt mit Takt ausübt, so kann er sehr segensreich wirken. Er darf sich aber unter keinen Umständen ganz von der noch unmündigen Gemeinde zurückziehen. Die Kongregationalisten haben mit ihrem Prinzip der absoluten Selbständigmachung der Gemein- den schlechte Erfahrungen gemacht, so daß die Pres- byterianer unter der Reaktion dieser Erfahrungen neuer- dings beschlossen, keiner Gemeinde irgendwelche Selb- ständigkeit zu gewähren, so lange sie sich nicht selbst unterhalte. Wie dieses genau entgegengesetzte Experi- ment ausfällt, bleibt abzuwarten. Es muß den japanischen Gemeinden zum Lob nach- gesagt werden, daß sie neben dem Recht der Selbständig- keit auch auf ihre Pflicht der Selbstunterhaltung bedacht sind. Wenn es auch nicht an den gewöhnlichen Seelen fehlt, welche darauf aus sind, den fremden Missionar mitunter sogar in schamloser Weise auszubeuten, so giebt es doch recht viele, welche es als nationale Schmach empfinden, daß Japan für seine Evangelisierung auf die Geldmittel des Westens angewiesen ist. Jede japa- nische Gemeinde versucht von dem ersten Tag ihres Bestehens an, zu ihrer Selbstunterhaltung beizutragen, und die Opferwilligkeit verdient alle Anerkennung. Von absichtlicher Schädigung einer Missionsgesell- schaft durch die andere ist in Japan kaum die Rede. Selbst Kollisionen zwischen den katholischen und protestan- tischen Missionen, über die man auf anderen Gebieten so viel zu klagen hat, gehören hier zu den Seltenheiten. In einer Stadt wie Tokyo finden zwanzig und mehr Missionsgesellschaften Raum, um ungestört neben ein- ander zu wirken. Man hält sich fern von einander und vermeidet Berührungen. Die Missionare gehen dabei vorsichtig zu Werk. Auch fängt man nicht über jede Kleinigkeit einen großen Streit an. Es ist ja zweifellos, daß die große Zahl der Gesellschaften eine große Hemmung der Christianisierung Japans bedeutet. Und doch ist sie für die Heiden kein so schwerer Stein des Anstoßes, als man eigentlich glauben müßte. Es fällt keinem Heiden ein zu glauben, daß da verschiedene Christusse und verschiedene Götter gepredigt werden. Er sieht viele Gesellschaften, aber alle arbeiten doch zusammen für einen gemeinsamen Zweck. Diese Ein- wände gegen die Zersplitterung der Mission fallen also bis zu einem hohen Grade weg. Aber ein anderes ist nicht zu leugnen, nämlich daß es die japanischen Christen selbst sind, welche ver- möge ihrer eigentümlichen geistigen Veranlagung zur Unbeständigkeit und Neuerungssucht die Vielheit der Missionen sich zum Fallstrick machen. Den Unzufriedenen und Eigennützigen, den Neugierigen und Unruhigen, den Halben und Unentschiedenen bieten sich hier treff- liche Gelegenheiten. In der Regel nimmt man den Übertritt sehr leicht. Kein Vergleich mit einem kon- fessionellen Übertritt in unserem Lande! Da ist keine allmähliche Entwicklung von einer Anschauung zur anderen, sondern vielmehr ein impulsives plötzliches Hin- überspringen. Solche Überläufer sind aber selten zu- verlässig und richten in der Zeit, wo sie in einer Ge- meinde weilen, oft mehr Schaden als Nutzen an. Hier bedarf es der größten Vorsicht von seiten des Pastors. Ob diese stets in genügendem Maße vorhanden ist, muß bezweifelt werden. In einer Zeit, wo der Zu- wachs zu einer Gemeinde so gering ist wie in Japan seit Jahren, ist in der Regel jedes neue Glied will- kommen. So kommt es zuweilen auf Proselytenmacherei hinaus, welche in diesem Zusammenhange aus dem japanischen Christentum der Gegenwart nicht hinweg- geleugnet werden kann, eine Proselytenmacherei, welche befördert wird durch den Wunsch der Heimatgemeinde, Zahlen zu sehen, und durch das Bestreben, hinter anderen Missionen nicht zurückzubleiben. Es liegt in der Natur der Sache, daß die kleinen Missionen, welche ohnedies nur einen geringen ziffermäßigen Besitzstand aufzuweisen haben, von diesen Gefahren weit mehr heimgesucht werden als die großen Kirchen, denen es auf ein paar Mitglieder mehr oder weniger nicht an- zukommen braucht. Eine einzige Kirche statt der vielen würde alledem ein Ende bereiten. Die Versuchung zur Unbeständigkeit würde dann von selbst wegfallen, das ruhelose Wandern würde in dem Hafen dieser Kirche ein Ende finden. Unsere Missionare sind nicht die einzigen, welche eine japanische Nationalkirche für wünschenswert er- achten, wenn sie auch, bei aller weisen Vorsicht, am ziel- bewußtesten darauf hinarbeiten. Vielmehr haben fast alle evangelischen Missionare von jeher eine große Einig- keit im Geiste bewiesen, welcher sie bei der Übersetzung der Bibel und bei der Osakakonferenz deutlichen Aus- druck verliehen. Verwandte Gesellschaften schlossen sich zu einheitlichen Kirchen zusammen, so die presbyteria- nischen Gesellschaften zur „Nippon Kristo Ichi Kyokwai“ (1879), und die bischöflichen zur „Nippon Sei Kyokwai“ (1887). Dagegen scheiterten die Einigungsversuche der Methodisten. Seit 1887 fanden Beratungen zum Zu- sammenschlusse der „Nippon Kristo Kyokwai’“ (Kirche Christi) und der Kumiaikirchen (kongreg.) statt. Die- selben erwiesen sich aber nach drei Jahren vorläufig als erfolglos. Die letzten acht Jahre innerer und äußerer Kämpfe waren derartigen Bestrebungen nicht günstig. Das Jahr 1896 hat sogar eine gewisse innere Span- nung zwischen der „Kirche Christi“ und den Kumiai- kirchen gebracht (s. S. 295). Aber bessere Zeiten wer- den die Versuche wieder aufleben lassen, und das Ende wird eine japanische Volkskirche sein. XII. Die Volksbekehrung. E s hat einen bösen Klang, das Wort Volks- bekehrung. Volksbekehrung war die gewaltsame Christia- nisierung der Sachsen durch Karl den Großen, auf Volks- bekehrung hatten es die Jesuiten mit ihren oberflächlichen Massentaufen abgesehen, und eine Volksbekehrung ge- wöhnlichster Sorte wäre es geworden, wenn Japan aus politischen Utilitätsgründen von staatswegen christlich geworden wäre. Zwar nicht alle Stimmen, welche ich darüber sich äußern hörte, stimmten damit überein. Ich habe ge- bildete und religiös interessierte Deutsche in Japan ge- sprochen, welche den Übertritt des japanischen Kaisers und im Anschluß daran des gesamten Volkes mit Freuden begrüßen würden. Ihrer Meinung nach könnte das nur für den Anfang, nicht aber auf die Dauer bedenklich sein. Denn sind etwa die Sachsen später schlechtere Christen gewesen als die andern Deutschen, darum weil sie durch eine Volksbekehrung zu Christus kamen? Hat es sich nicht bei den meisten Stämmen der Völker- wanderung, einschließlich der Franken, nicht sowohl um die langwierige Arbeit an einzelnen Seelen als vielmehr um Volksbekehrungen gehandelt? Alles das ist unbedingt zuzugeben. Aber man darf sich doch nicht verhehlen, daß die Verhältnisse hier und dort ganz anders gelagert sind. Dort handelte es sich um die Annahme eines schon recht äußerlich gewordenen Katholizismus, hier um die Aneignung eines tief innerlichen evangelischen Glaubens. Dort waren es Völkerschaften, bei welchen das Wort des Kirchenvaters von der „anima naturaliter Christiana“ immerhin eine große Berechtigung hat; hier aber ist es ein Volk, dessen Geist in vielen und grund- legenden Punkten dem christlichen Geiste durchaus wider- strebt und zudem den kräftigen Willen hat, sich gegen- über dem Christengeist selbst zu behaupten. Der mon- golische Geist ist der Lehre Jesu trotz ihrer universalen, für alle Menschen bestimmten Anpassungsfähigkeit weniger kongenial als der indogermanische, und die Geschichte wird lehren, daß der innere Widerstand, welchen das Christentum in der mongolischen Eigenart findet, ein gewaltiger sein wird. Aber sollte das wirklich so sein? Hat nicht auch der Buddhismus, der doch auch ein indogermanisches System ist, eine rasche und allgemeine Annahme ge- funden? Allerdings! Aber was ist der Buddhismus in Japan? Der Buddhismus hat die Formen und den Namen hergegeben, den Inhalt aber hat der Japanis- mus, das „Yamato-damashii“ ( Yamato = Japan, tamashii = Seele), gestellt. So ist es zu einem „japanischen Buddhismus“ gekommen, und wenn in ähnlicher Weise ein „japanisches Christentum“ entstehen sollte, so wäre das ein beklagenswertes Unglück. Zwar solange sich der Anspruch auf ein japanisches Christentum in bestimmten Grenzen hält, wird schwer- lich etwas dagegen einzuwenden sein. Überall wo der universale Lehrgehalt des Christentums von Individua- litäten in Besitz genommen wurde, ist das Christentum individuell geworden, und wo es das nicht geworden ist, da ist es nicht persönliches Eigentum. Lebendiges Christentum entsteht nur da, wo eine Persönlichkeit innig und unlöslich mit Christi Geist verschmilzt, nicht aber, wo eine Persönlichkeit in Christi Geist untergeht. Das gehört eben zu der Größe unserer Religion, daß sie die Menschen nicht alle nach einer Fa ç on modeln will, wie die Puppen in einer Spielwaarenfabrik, sondern daß sie jedem einzelnen seine Eigenart zugesteht. Einheit und Harmonie sucht und findet sie in der Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit. Nirgends ist das Christentum genau dasselbe. Die Erfahrung beweist, daß es ein germanisches und ein romanisches Christentum giebt, und daß deutscher und amerikanischer Protestantismus zwei unterschiedene Dinge sind. Soll man es den Japanern verübeln, wenn sie für sich ein japanisches Christentum erstreben? Hätten nicht auch die alten Deutschen gut daran gethan, sich dem römischen Christentum eines Bonifatius gegenüber auf ihre germanische Eigenart zu besinnen? Aber freilich, was heißt „japanisches Christentum“? Auf dem Worte „Christentum“ liegt doch wohl unter allen Umständen ein absolutes Gewicht. Von der Sub- stanz des Christentums darf nichts verloren gehen. Die kostbare Perle muß dieselbe bleiben; verschieden ist nur die Fassung der Perle. Nicht als ob die Fassung etwas ganz Äußerliches und Nichtssagendes wäre; mag doch ein Edelstein durch seine Fassung eine Eigenart der Ausstrahlung und Lichtwirkung erhalten. Wenn sich nun die japanischen Christen den kultischen Formen und den Kirchenverfassungen der fremden Missionen gegenüber zwar nicht ablehnend verhalten, wenn sie dieselben aber doch nur einstweilen annehmen mit dem Vorbehalt, dieselben später eventuell den japanischen Verhältnissen anzupassen, so kann man nur mit ihnen sympathisieren. Denn diese Dinge gehören zur Fassung, zur äußeren Form, und den Japanern ist es nicht zu- zumuten, daß sie sich in Ewigkeit in dem Durcheinander von episkopal, presbyterianisch und kongregationalistisch hinwinden sollen, nur darum, weil ihnen einst das Christentum zufällig in diesen verschiedenen Formen gebracht worden ist. Aber die Japaner gehen weiter. Sie greifen kühn hinüber in das Gebiet der christlichen Lehre und behaupten, daß auch die Kirchenlehre nichts anderes sei als eine menschlich-zeitliche Fassung des göttlich-biblischen Lehrgehalts. Auch die Dogmen sind ihnen Formen, nämlich Denkformen aus längst ent- schwundener Zeit, und wenn sich dieselben schon bei uns der Erfassung der einfachen Schriftwahrheiten mehr hinderlich als förderlich erweisen, so sind sie auf dem völlig anders gearteten Boden eines Antipodenvolks erst recht fremd und unverständlich. In ihnen haben die Griechen und Römer den religiösen Gehalt der heiligen Schriften zu kodifizieren gesucht, und die Be- kenntnisschriften der evangelischen Kirchen haben diese Kodifikationen in die Sprache des sechzehnten Jahr- hunderts interpretiert; die Japaner aber haben es in- stinktiv herausgefühlt, daß die Menschen, welche diese Formen geschaffen haben, nicht Fleisch von ihrem Fleisch, noch Blut von ihrem Blute waren. Schon frühe, lange bevor liberale Missionare nach Japan kamen, haben Japaner, und zwar die tüchtigsten und glaubenseifrigsten Pastoren, gegen Dogma und Bekenntnisschriften zu protestieren begonnen. Bereits im Jahre 1881 „stellte auf der Synode der „Kirche Christi“ (Vereinigte Presbyterianer) der Prediger Ibuka (nunmehr seit lange schon Präsident der Meiji Gaku-in ) den Antrag, in der Kirchenverfassung die ausführlichen Bekenntnisschriften, wie das längere Westminster Glau- bensbekenntnis und das von Dordrecht zu streichen, da sie unter anderen Zeitverhältnissen entstanden seien, Behauptungen enthielten, die jetzt nicht mehr allgemein anerkannt würden, und für Japan nicht paßten. Der schottische Berichterstatter Mac Laren gab zu, daß für eine „junge Kirche der kurze Westminster und der Hei- delberger Katechismus genügen möchten. Dennoch wußten damals die Missionare die Zurückstellung des Antrags durchzusetzen“ (Ritter, Prot. Miss. in Japan). Aber die Bewegung ließ sich dämmen, und als die Einigungs- versuche zwischen der Kirche Christi und der Kumiai-Kirche (kongregat.) schwebten, sahen sich die Missionare selbst genötigt, für die protestantischen Sonderbekenntnisse der Reformationsperiode nur noch eine Verpflichtung der Geistlichen auf die Substanz zu verlangen. Damit gaben sich nun aber die Japaner nicht mehr zufrieden. Ihre führenden Geistlichen hatten unterdessen die Konsequenzen gezogen und, über die neun Artikel der Evangelischen Allianz hinwegschreitend, fochten sie auch die Verbindlichkeit der alten Symbole, des Aposto- likums und des Nicenums, an. An der Spitze der Be- wegung marschierten die Kumiaikirchen, als Führer Män- ner aus Janes’ Kumamotoschar, und in etwas über- eilter Weise hielten sie schon nach wenig Jahren die Sache für spruchreif. Bei der Kumiaisynode des Jahres 1892 zu Osaka stand sie auf der Tagesordnung. Der Prediger Yokoi empfahl die Verwerfung der alten Sym- bole, indem er dieselben ganz richtig eine Gewandung der christlichen Wahrheit nannte. „Die Gewänder der Europäer“, so fuhr er fort, „sind enganschließend und zwängen den Leib ein, während unser „kimono“, weit und zwanglos, sich den Formen des Körpers leicht und gefällig anschmiegt. So soll unser Glaubensbekenntnis sein“. So faßte denn unter Beiseitelassung aller Sym- bole, auch des Apostolikums, die Synode ihren Glauben in folgenden Sätzen zusammen: „Wir glauben an Einen Gott, absolut und vollkommen, welcher in der Bibel als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart ist. Wir glauben an Jesus Christus, welcher, obgleich Gott, Mensch wurde, litt, starb und wieder auferstand für die Erlösung der Welt. Wir glauben an die Heilige Schrift, welche durch Inspiration gegeben wurde und uns weise macht zum Heil. Wir glauben an den Heiligen Geist, welcher neues Leben verleiht. Wir glauben an die Heilige Kirche, Taufe durch Wasser, Heiliges Abendmahl, den Tag des Herrn, Unsterblichkeit der Seele, Auferstehung der Toten und gerechtes Gericht“. Daß diese Fassung eine glückliche ist, wird niemand behaupten. Auf den ersten Blick sieht man ihr die Übereilung an. Die Theologie ist noch in der Entwicklung begriffen und trotz des ungestümen und fast rücksichtslosen Vorgehens der Kumiaipastoren haben die alten Formeln noch soviel Gewalt über sie geübt, daß sie nicht imstande waren, das zum Ausdruck zu bringen, was ihnen als Kern der christlichen Religion, freilich noch unklar, vorschwebte. Aber in dem beweglichen Japan fühlt man sich durch solche Dokumente weit weniger gebunden als in dem strengeren Europa. Das obige Bekenntnis dürfte kaum mehr denn eine Entwicklungsphase auf dem beschrittenen Wege bedeuten. Hat man das Bessere nur einmal klar erkannt, so wird man es um dieses Besseren willen ohne Skrupel und Kämpfe ruhig preisgeben. Immerhin mag sich der langsamere Schritt der „Kirche Christi“ zweckentsprechender erweisen als das Marsch- tempo der Kumiai. Zwar zurückdrängen ließ sich auch 25 hier die Bekenntnisfrage nicht, und um dieselbe Zeit, wo die Kumiai sich ein „japanisches“ Bekenntnis schuf, sah sich auch die Synode der „Kirche Christi in Japan“ veranlaßt, sich ernstlich mit der Sache zu beschäftigen. Unter stillschweigender Übergehung der übrigen Be- kenntnisschriften vereinigte man sich auf das Apostolikum als allein verbindlich. Doch schickte man demselben noch einige Sätze voran, und wenn dieselben auch orthodox klingen, so haben sie doch die Wirkung, daß sie die starre Autorität des Apostolikums, die nirgends mehr zur Geltung kommt, als wo dasselbe in seiner ganzen Wucht und Schärfe allein für sich steht, in etwas ab- schwächen. Die Bewegung beschränkte sich aber nicht etwa auf die Kumiai- und Ichikirchen, welche beide von jeher mit einem besonders starken Unabhängigkeitsbewußtsein beseelt waren. Sie geht vielmehr durch das ganze evangelische Christentum hindurch, und selbst diejenige Kirche, welche, starr und spröde wie die katholische, es seither immer und überall abgelehnt hatte, irgend welche Kompromisse einzugehen, auch die episkopale Mission mußte es sich gefallen lassen, daß ihre japanischen Christen ihr manches abzwackten. Schon im Jahre 1887, als die Zahl der bischöflichen Christen kaum anderthalb tausend betrug, wurde von diesen der Be- schluß gefaßt, das gegenwärtige Verhältnis zu der eng- lischen Kirche sowie die Anerkennung der Verbindlich- keit des Common-Prayer-Book nur als provisorisch zu betrachten, für die Zukunft aber eine freie Regelung der Sache im Auge zu behalten. Die japanischen Christen beschlossen es, und, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb, fügten sich die Missionare mit der bischöflichen Oberleitung an der Spitze. In den hoch- kirchlichen Kreisen Englands, wo man es nicht versteht, daß es auch noch andere religiöse Ideale als den Episkopat und das Common-Prayer-Book giebt, soll die Nachgiebigkeit wenig Freude erregt haben. Das läßt sich begreifen. Aber wenn nicht alles trügt, wird die Zeit noch kommen, wo allen denen, welche ihre kirch- lichen Sonderabsichten über der selbstverleugnenden Reichsgottesarbeit nicht vergessen können, am ganzen japanischen Missionswerk die Lust vergeht. Aus all diesem Suchen und Ringen nach einem japanischen Christentum gehen zwei Dinge mit Deutlich- keit hervor. Zum ersten, daß ein starr orthodoxes dog- matisches Christentum in Japan keine Aussicht hat, und zum zweiten, daß das einzige, worauf es den Japanern ankommt, dasselbe ist, was wir schon bei der Be- sprechung des Taufunterrichts als solches gefunden haben: Das Bibelchristentum. Man mag über die Art des Kampfes der japanischen Christenheit wider das Missionskirchentum abfällig denken, man kann doch nur mit tiefem Interesse und warmer Sympathie dieser tastenden Volksseele folgen, welche instinktiv erkannt hat, daß das Heil einzig liege in dem Evangelium Jesu, in der in Jesus Christus Fleisch gewordenen Vaterliebe Gottes zu der in Sünde verlorenen Mensch- heit, und die nun, mit kaum halberschlossenen Augen, durch ein Labyrinth menschlicher Ordnungen und Lehren sich dahin durchzuringen sucht. Daß freilich diese Volksseele in ihrem dunkeln Drange sich des rechten Weges doch nicht immer bewußt bleibt, schon darum nicht, weil der Begriff eines „ja- panischen Christentums“ nicht aus klaren Vorstellungen, sondern aus den dunkeln Tiefen der Volksindividualität geboren ist, ist nicht verwunderlich. Eine so ausge- 25* prägte Volksindividualität wie die japanische setzt in- stinktiv alles daran, um in dem Kompromißstreit mit der neuen Geistesmacht, mit der sie sich vermählen soll, ihr eigenes Interesse zu wahren. In diesem Bestreben sind zwei gefährliche Irrwege gegeben. Einmal will die Volksindividualität da, wo sie meint, noch etwas Besonderes, in dem Evangelium nicht Enthaltenes, zu besitzen, dasselbe dem Christentum hinzufügen, und andererseits versucht sie, alles das, was ihr selbst nicht kongenial ist, von der Substanz des Christentums ab- zuziehen. Auf dem ersten dieser beiden Irrwege liegt die Gefahr der Religionsmengerei. Die Unitarier, welche neben dem Geburtstage Jesu auch noch den von Buddha, Konfuzius und Sokrates feiern und, Jesus mit diesen drei zusammenfassend, von einem „Shi-nin-kwai“ „Vier- männerbund“ faseln, stehen heute lange nicht mehr ver- einzelt da. In einem vor wenigen Jahren in der Rikugo-Zasshi, dem wissenschaftlichen Organ der Kumiai- kirchen, erschienenen Aufsatz, welcher nicht geringes Auf- sehen erregte, war die Vermengung mit der alten Morallehre so weit getrieben, daß das Christentum gerade noch gut genug erschien, um das moderne Mäntelchen des alten Konfuzianismus zu machen. Sehr bezeichnend sind auch zwei Auslassungen in der Zeit- schrift Nippon Shukyo (Japanische Religion). „Das japanische Christentum“, so sagt da ein japanischer Christ „kann keine getreue Nachbildung des europäischen oder amerikanischen Christentums sein. Es muß sich mit gewissen „Himmelswahrheiten“ des Shintoismus, Buddhismus und Konfuzianismus assimilieren, um den Charakter zu gewinnen, den es braucht, damit es unsere nationalen Bedürfnissen entsprechen kann.“ Noch unzweideutiger ist die zweite Auslassung, welche von dem Herausgeber der Kristokyo Shimbun herrührt, einer sehr angesehenen und viel gelesenen christlichen Wochenschrift. „Die Zeit“, schreibt er, „da alle Reli- gionsgemeinschaften vereinigt werden können, ist noch nicht gekommen. Sie müssen noch ihrer eigenen natür- lichen Entwicklung überlassen werden; Gewalt hilft nichts. Laßt Shintoisten, Buddhisten und Christen, jeden auf seinem Felde, arbeiten und laßt jeden vom andern soviel entlehnen, als ihm gut dünkt. Dies wird sich als die beste Vorbereitung für „Centralismus“ und Einigung in der Zukunft erweisen.“ (Vergl. Christlieb „Japanische Anschauungen über Religion“ Z. M. R. XII , 19). Auch unser japanischer Prediger Minami weiß aus dem Jahre 1896 eine bedenkliche Illustration zu derartigen Tendenzen zu geben. „Im letzten Monat“, so berichtet er, „haben einige christliche und buddhistische Pastoren, Priester und Redakteure es unternommen, eine Zusammenkunft beider Teile zu veranstalten. Sie kamen am 26. September zusammen, ihre Zahl war etwa vierzig, die meisten darunter Kongregationalisten (Kumiai) und Buddhisten der Yen- und Shinsekte; außerdem waren noch einige Presbyterianer, Methodisten, Shintoisten und Konfuzianer vertreten. Über den Zweck der Versammlung wurde verschiedenes gesagt. Er ist schließlich dahin ausgelegt worden, daß man sich gegen- seitig kennen lernen wolle. Die Zusammenkunft soll jährlich zweimal, im Frühling und im Herbst, wieder- holt werden.“ Es ist eine überraschende Häufung derartiger Zeug- nisse, welche in den letzten Jahren zusammengekommen sind, und man kann es wohl begreifen, wenn manche hier die größte Gefahr für das junge japanische Christen- tum sehen. Gewiß ist, daß die Gefahr der Religions- mengerei gar nicht ernst genug genommen werden kann, und daß nicht zum wenigsten sie es ist, „welche den Einfluß fremder Missionare noch auf lange hinaus unentbehrlich macht.“ Wenn im Brama Somadsch in Indien von seiten des Heidentums eine Vermengung mit dem Christentum erstrebt wurde, so war das immer- hin ein Anlauf vom Schlechteren zum Besseren, und darum mochte diese Bewegung wohl als eine hoffnungs- volle Erscheinung betrachtet werden. Hier aber ist es eine rückläufige Bewegung, welche nur Anlaß zu Be- fürchtungen geben kann. Schon einmal hat die Reli- gionsmengerei in Japan eine Rolle gespielt. Das war damals, als vor tausend Jahren der Buddhismus die Götter des Shinto in sich aufnahm. Für das Christen- tum aber wäre eine Volksbekehrung um solchen Preis zu teuer erkauft; denn das würde nichts anderes be- deuten als seine völlige Entwertung. Die japanischen Christen mögen es nicht verschmähen, sich ein Wort zu merken, welches auch ihnen eine gute Lehre geben kann, ob es gleich im Original in ganz anderem Zusammen- hange gesagt war: „Sint, ut sunt, aut non sint!“ Das Christentum ist sich selbst genug, es ist die Erfüllung alles Unvollkommenen, und niemand soll sich vermessen, es noch vollkommener machen zu können. Aber auch verkürzen soll man es nicht, und doch besteht diese Gefahr in Japan in nicht geringerem Maße. Es handelt sich besonders um die mystische und die meta- physische Seite des Christentums. Ihnen stehen in der realistisch-sinnlichen Veranlagung der Japaner die schwersten Hindernisse entgegen. Zwar sind Dank der weisen Fürsorge der fremden Missionare die Gefahren bis heute ziemlich in Schranken gehalten worden, und die Mängel nach dieser Richtung hin sind noch nicht so fühlbar, daß sie schon bei der Qualifikation der heutigen Gemeinde hätten zur Erwähnung kommen müssen. Im Gegenteil! Das Gebetsleben der gegenwärtigen Christen ist befriedigend. Aber ob dies Urteil auch nach einem Jahrhundert noch gelten wird? Ich müßte mich sehr irren, oder so, wie die quietistische Versenkung im japanischen Buddhismus nie auch nur entfernt die Be- deutung hatte wie im indischen, so hat die unergründ- liche Gedanken- und Gemütstiefe des johanneischen Christus zunächst auf nicht allzuviele Gesinnungsgenossen- schaft zu hoffen. So bietet auch hier nur die fernere Anwesenheit fremder Missionare die Bürgschaft einer gesunden Entwicklung. Ebenso auf metaphysischem Gebiet. Wer in Japan im praktischen Missionsdienst ge- standen hat, weiß, welch’ großen Schwierigkeiten die beiden im höchsten Sinne metaphysischen Begriffe eines persönlichen Gottes und einer persönlichen Unsterblich- keit begegnen. Der Begriff der Persönlichkeit hat in dem japanischen Geist schwache Wurzeln, und die un- persönlichen Gemeinschaftskörper der Familie und des Staats, in denen der einzelne Japaner seit einem Jahr- tausend auf- und untergeht, haben das Persönlichkeits- bewußtsein noch mehr verdunkelt. Es wurde mir ver- sichert und zwar von Christen, an deren Rechtgläubig- keit ich nie gezweifelt hätte, daß ihnen die Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit nicht nur unnötig und überflüssig erscheine, weil sie auf ihr sittliches Handeln keinen Einfluß ausübe, sondern auch unverständlich und unglaubwürdig. (Es ist beachtenswert, daß man religiösen Begriffen, wie hier dem der Unsterblichkeit, leicht nur insoweit Bedeutung zumißt, als sie sich auf das sittliche Handeln wirksam erweisen.) Der Gegensatz gegen den persönlichen Gott führt leicht zum Pantheis- mus, besonders bei den sogenannten Gebildeten. Seine Spuren sind heute leider nicht mehr allzu schwer zu finden. Vor ein paar Jahren hat es ein christlicher Professor der Doshisha fertig gebracht, in der schon er- wähnten Zeitschrift Rikugo Zasshi den unverhülltesten Pantheismus zu predigen und die beschränkten theistischen Missionare mit bitterem Spott zu übergießen. Man hat vielfach die Hoffnung gehegt, daß von Japans jungfräulichem Boden eine Neugeburt des Christentums ausgehen werde. Kozaki, der Nachfolger Nishimas als Präsident der Doshisha, glaubt, daß Japan der Ort sei, wo das Weltproblem des Christentums nach und nach zur Lösung kommen werde, und Yokoi, welcher seit 1897 Kozaki in der Leitung der Doshisha ablöste, hat für sein Vaterland den Ehrgeiz, daß er eine neue und höhere Theologie hervorbringen will, und daß das europäische Christentum in Zukunft nach Japan um Hilfe schauen müsse. Diese Hoffnungen vermag ich nicht in vollem Maße zu teilen. Da gehören denn doch noch ganz andere Eigenschaften dazu, als das Volk der Japaner besitzt. Japan hat sein besonderes Charisma. Das ist seine praktisch-ethische Veranlagung. Es giebt auf der ganzen Erde vielleicht kein Volk, bei welchem sich die ethischen Grundsätze so sehr in die Praxis des Lebens umgesetzt fänden, bei welchem ein Moralsystem so sehr zu einer alle Lebensverhältnisse bestimmenden Geltung gekommen wäre. Und wenn die alte griechische Kirche wesentlich die Seite des Denkens am Christentum betont hat, was zur Ausbildung der Metaphysik des Dogmas führte, und wenn die germa- nische Kirche das Christentum wesentlich zu einer Sache des Gefühls gemacht hat, wobei die Mystik zu einer hervorragenden Geltung gelangte, so werden die prak- tischen Mongolen Ostasiens den Hauptnachdruck auf die Seite des Wollens legen und dem Christentum der That zum Siege zu verhelfen suchen. Vielleicht, daß sie be- rufen sind, die seitherigen Erscheinungsweisen des Christen- tums nach dieser Hinsicht zu ergänzen. So wird die gelbe Rasse durch ihre besonderen Gaben dazu beitragen, die Harmonie des Christentums, welche von keinem Volke und keiner Rasse ganz erschöpft werden kann, vollständig zu machen. Auch dieses schon ist etwas Großes und des Schweißes der Edlen wert. Aber auch dieses be- scheidenere Ziel kann nur erreicht werden, wenn neben der ethischen Seite die beiden anderen nicht vernach- lässigt werden. Es kann gewiß nicht die Absicht sein, alle und jede spezifisch japanischen Neigungen zu brechen; aber was sich dem christlichen Geiste nicht fügen will, muß gebogen und umgebildet werden. Unter solchen Umständen dürfte es über jeden Zweifel erhaben sein, daß eine Volksbekehrung die be- denklichsten Folgen haben würde. Würde das Christen- tum auf dem Wege einer Volksbekehrung heute allgemein angenommen werden, wo die Massen des Volks in ihrem Geistesleben noch keineswegs erneuert, und wo selbst die Besten der Nation in den fundamentalsten Fragen noch durchaus verworren sind, so würde der ja- panische Geist Herr über den christlichen, so würde das Resultat mehr ein christlich gefärbter Japanismus als ein japanisches Christentum sein. Wenn die Evangeli- sierung der geistigen Erneuerung voranschreiten sollte und Namen und Schild des Christentums solchen ver- leiht, welche noch ganz sinnlich positivistisch denken, fühlen und wollen, läuft der christliche Geist Gefahr, von solchen Elementen vergewaltigt zu werden. Schon aus diesem Grunde darf man gar nicht wünschen, daß die Christia- nisierung Japans im Galopp gehen möge. Ein lang- sames Fortschreiten bietet viel größere Bürgschaft für den sicheren Bestand und die innere Qualität des Christen- tums. Ehe dasselbe von dem Volke angenommen werden kann und soll, muß ihm erst im Volke der Boden be- reitet sein, muß das Volk vorher auf dasselbe vorbereitet werden. Es giebt Kreise, welche sich dieser Behauptung mit Zurückhaltung gegenüberstellen. Und doch hat es Gottes weiser Vorsehung gefallen, unserm Herrn Jesus Christus vor Beginn seiner Mission einen Vorläufer voraus zu schicken, daß er vor dem Herrn hergehe und ihm den Weg bereite. So halte ich denn die allmähliche Durch- dringung der Volksmassen mit christlichen Ideen zum Zwecke der Vorbereitung auf ihre dereinstige Bekehrung für unumgängliche Notwendigkeit. Gewiß, die sogenannte pietistische Methode der Einzelbekehrung bleibt bestehen, und keinem Missionar kann es jemals einfallen, daran herumzumäkeln. Das Ganze baut sich auf dem Einzelnen auf, und die Einzelbekehrung ist Ausgangspunkt und Fundament der Missionsarbeit. Läßt sich aber diese Methode schlechterdings nicht korrigieren, so bedarf sie doch der Ergänzung. Von dem Einzelnen muß sich der Blick zu dem Ganzen erheben. Das mag nicht auf allen Missionsgebieten gleich leicht und gleich möglich sein; bei den Kulturvölkern aber begegnet es keinen besonderen Schwierigkeiten noch Bedenken. Haben doch schon die Apologeten der alten Kirche danach gehandelt, und zu einer Zeit, wo man sich zu Hause hinter dem Studier- tisch noch mit spitzen Federn bekämpfte über die Be- rechtigung und Nichtberechtigung dieser Methode, waren auf dem Kriegsschauplatz der japanischen Mission diese Grundsätze längst in die Praxis umgesetzt. In der That ist fast der ganze Apparat der ja- panischen Mission, wenn auch nicht darauf angelegt, so doch hochgeeignet, auf die Volksbekehrung d. h. auf eine Durchdringung des Volksganzen mit christlichem Sauerteig hinzuwirken. Es ist Mission in großem Stil, welche da getrieben wird. Diese großartigen Institute, welche die Mission hier geschaffen hat, können gar nicht anders, als mächtig auf die Massen wirken. Der leiden- schaftliche Kampf der Geister, welcher in Japan tobt, ist ein Beweis, daß diese Wirkung thatsächlich besteht. Die stille Arbeit der Einzelbekehrung hätte man der Beachtung nicht in dem Maße für wert befunden; daß aber das Christentum in die Volksmassen hineindrang, daß es hinabdrang bis in die Tiefen der Volksseele und mit wuchtigen Schlägen Einlaß begehrte, das hat die schlafenden Hüter des Volks geweckt und zum Kampfe gestachelt. Was diesem Kampfe seine Bitterkeit und Schärfe verleiht, ist das Bewußtsein, daß es um das Volk geht. Ein kurzer Blick auf das schwere Geschütz, welches die Mission in den Kampf führt, zeigt, daß sie dieser Aufgabe gewachsen ist. Es sind nicht weniger als 652 fremde Missionsarbeiter, einschließlich der Missio- narsfrauen, in Japan thätig, welche alle einen mehr oder weniger großen Einflußkreis besitzen. Von Kago- shima im tiefen Süden bis nach Sapporo im hohen Norden zieht sich ein großes Netz von Stationen, an 885 Plätzen wird das Evangelium gepredigt, und selbst von dem abgelegensten Winkel aus kann man in kurzer Frist eine Predigtstation erreichen. 1181 japa- nische Pastoren, Evangelisten und Bibelfrauen kommen Tag für Tag in Tausende von heidnischen und halb- heidnischen Häusern, und zu wem sie auch kommen, der muß sich anwehen lassen von einem Hauch christlichen Geistes, und dieser Hauch mag ebenso ansteckend wirken zum Heil, wie der Pesthauch der Sünde zum Verderben. Aus den Missionsschulen werden alljährlich zweitausend Jünglinge und junge Mädchen entlassen, nachdem sie drei und vier Jahre unter dem direkten Einfluß christ- licher Gesinnung gestanden haben, und wenn sie auch nicht selbst die Taufe empfingen, so nehmen sie doch, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen, etwas von christlichem Geist mit hinüber in ihr späteres Leben und in ihr eigenes zukünftiges Heim. Nicht anders ist es mit den Zehntausenden von Kindern, welche die Sonntagsschulen besuchen. Ist es auch nur ein Bruch- teil, welcher schließlich die Taufe empfängt, so ist doch der Same, welcher in die jungen Herzen gesät wurde, deswegen noch nicht verloren. Er kann noch nach Jahren aufgehen und seine Frucht bringen. Im Anfang der neunziger Jahre war unter den Besuchern unserer Sonntagsschule in Tokyo ein etwa fünfzehnjähriger Knabe. Eines Tages blieb er aus, wir hörten und sahen nichts mehr von ihm, und da derartige Fälle nicht selten sind, so begruben wir die auf ihn gesetzte Hoff- nung neben den hundert anderen, die man im Laufe der Jahre zu Grabe trägt. Drei Jahre später kam ich zur Besichtigung unserer dortigen noch jungen Station Die Station mußte 1896 wieder aufgegeben werden. nach Osaka, und hier, hundert Wegstunden von Tokyo entfernt, fand ich jenen ehemaligen Sonntagsschüler unserer Hongo- kirche wieder unter den ersten Täuflingen unseres japa- nischen Geistlichen. So war denn unsere Arbeit an ihm doch nicht vergeblich gewesen. Und wenn auch den we- nigsten früheren Besuchern der Sonntagsschulen also geschehen mag, so wissen sie doch alle und können es später bezeugen, daß man dort nichts Schlechtes lernt. Aus den christlichen Hospitälern wird kaum einer ent- lassen, der nicht immer mit Dankbarkeit gedächte, was ihm dort widerfahren ist, und der nicht seinen heid- nischen Landsleuten gegenüber davon zu rühmen wüßte; und durch alle die andern Veranstaltungen der inneren Mission, durch Waisenhäuser, Rettungshäuser und Heime aller Art, wird das Hohelied christlicher selbstloser Liebe in mächtigen Tönen in Ohren und Herzen aller Heiden hineingetragen. Das sind Sprachen, die nicht ungehört verhallen können. Es ist unmöglich, daß diese gewaltigen Mächte ohne Eindruck bleiben. Mag auch ihr Einfluß gegen- wärtig in den hochgehenden Wogen der Reaktion nicht sichtbar sein, unter den Wogen wirkt er fort als eine Unterströmung, welche zu ihrer Zeit mächtig zur Geltung kommen wird. Wenn aber die meisten der eben erwähnten Massen- wirkungen vielleicht nur zufällige Begleiterscheinungen der Mission sein mögen, so giebt es doch auch Wege, auf welchen man vollbedacht und zielbewußt auf derartige Wirkungen ausgeht und in systematischer Weise die Volksbekehrung vorzubereiten sucht. Man kann es dem japanischen Christentum nicht zum Tadel nachsagen, daß es sein Licht unter den Scheffel stelle. Es macht sich bemerkbar und thut das mit Absicht. Es lebt nicht weniger in dem Geräusch der Öffentlichkeit als in der Tiefe des Herzens und in der Stille des Kämmerleins. Es handelt nicht nach dem Satze, daß der beste der ist, von dem nicht geredet wird; es will von sich reden machen. Es macht Propaganda und hält den Angriff für eine zweckentsprechendere Kampfesweise als die Ver- teidigung. Es fordert die Aufmerksamkeit und Beachtung der Volksmassen heraus und thut alles, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Es zwingt die Massen zur Stellungnahme in der Überzeugung: Besser ein fröh- licher Krieg, denn ein fauler Friede. Diese Grundsätze kommen schon rein äußerlich zum Ausdruck. Jedes Gotteshaus, jedes Predigtlokal ist durch eine große Aufschrift für alle Vorübergehenden als solches erkennbar. Auf einer fast aufdringlich an- gebrachten Tafel sind Name, Wohnung und Sprech- stunden des Predigers verzeichnet, und die Themata der Predigten und Vorträge werden schon ein paar Tage zuvor in Riesenlettern so unmittelbar neben der Straße angebracht, daß sie jedem Passanten in die Augen fallen müssen. Zuweilen auch verliert sich das Bestreben, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zu wenig geschmackvollen Verirrungen. So kam ich einmal in einem Landstädtchen an eine Predigtstation, vor welcher der Evangelist schon seit einer halben Stunde auf einer alten Ziehharmonika herumphantasierte zum großen Gaudium eines Publikums, unter welchem die Jugend am stärksten vertreten war. Er hatte das mehr als zweifelhafte Instrument in dem Trödelladen einer Hafen- stadt gekauft und gedachte sich durch seine Klänge eine gute Zuhörerschaft herbeizulocken. Von Musik verstand er zwar nichts, aber da das europäische Musikverständ- nis der Japaner nicht einmal bis zur Tonleiter reicht, so hatte er von einer musikalischen Kritik seines Publi- kums nichts zu fürchten. Und übrigens, wenn er nur seinen Zweck erreichte, so war das Musikalische schließ- lich ja auch Nebensache. Natürlich haben die Japaner ihre Lehrmeister in der Kunst der Propaganda gehabt. Die amerikanischen Missionare sind in ihren propagan- distischen Mitteln nicht überskrupulös. In ihrer Central- kirche in Tokyo veranstalteten die kanadischen Methodisten nicht nur Gottesdienste und Gebetsversammlungen, son- dern auch rein weltliche Konzerte und andere Unter- haltungen, die mit Religion auch nicht in entferntem Zusammenhang stehen — alles nur, um die Massen herbeizuziehen und auf weitere Kreise irgend welchen Eindruck zu machen. Sie haben es längst gelernt, die Reklame auch in den Dienst des Heiligen zu stellen, und schließlich braucht man sich nicht sehr zu wundern, daß aus dem Schoße des Methodismus ein William Booth geboren werden konnte. Dagegen waren die von Hunderten und Tausen- den besuchten imposanten Vortragsversammlungen der achtziger Jahre, für welche man die größten Lokale, Theater ꝛc. zu mieten pflegte, ebenso treffliche als wür- dige Mittel, um Massenwirkungen zu erzielen und christ- liche Gedanken in die weitesten Kreise des Volks hinein- zuwerfen. Diese Art war bis dahin in Japan gänzlich unbekannt. Die alten konfuzianischen Gelehrten hatten immer nur zu einem ganz kleinen Kreis gesprochen; die öffentliche Rede, wo ein einziger Mann in fließendem Vortrag große Massen beherrscht, konnte nicht anders als das größte Aufsehen erregen und in weiten Kreisen die Ahnung erwecken, daß hier eine neue große Macht im Anzuge sei. Seit den Tagen der Reaktion sind zwar diese Versammlungen etwas außer Mode gekommen; die Gegner des Christentums sind klüger geworden und haben keine Lust mehr, durch ihr zahlreiches Erscheinen den Christen die Säle zu füllen und den Glanz ihrer Ver- sammlungen mit ihren eigenen Personen zu erhöhen. Eine Einwirkung auf breite Volksmassen läßt sich heute durch das gesprochene Wort schwer mehr erreichen. Um so energischer aber hat man einen parallelen Weg be- treten, welcher recht eigentlich als der Weg zur Volks- bekehrung bezeichnet werden darf. Dieser Weg ist das gedruckte Wort. Daß die Mission in Japan von dem gedruckten Wort im weitesten Umfang Gebrauch macht, ist nicht verwunderlich. Giebt es doch kein Heidenvolk, bei welchem die Leselust und die Lesefähigkeit so groß wäre wie hier, kein Heidenvolk, bei welchem die Presse eine so gewaltige Macht ist. Dazu kommt, daß man dem gedruckten Wort noch mit größerer Ehrfurcht begegnet als bei uns. Was in Japan bis vor fünfundzwanzig Jahren den gewöhnlichen Lesestoff bildete, das waren die heiligen Schriften der chinesischen Klassiker. Die un- bedingte Autorität, welche sie beanspruchten, wirkt heute noch im Volke allem Gedruckten gegenüber nach. Welche Bedeutung das gedruckte Wort schon für die Einzelbekehrung besitzt, davon giebt die ergreifende Be- kehrungsgeschichte des Wakasa-no-kami einen schlagenden Beleg; und wer es vorher gewohnt war, über die „Traktätlein“ der Pietisten zu spotten, sollte ihnen lieber im Stillen Abbitte thun. Aber freilich, die Wirkung des gedruckten Wortes muß weiter reichen, als der Pietismus, der in seinen ecclesiolae kurzsichtig geworden ist, sich träumen ließ. Das gedruckte Wort steht hinter dem gesprochenen an augenblicklicher Kraft zurück. Dafür aber hat es andere Vorteile, welche jenen Mangel wieder aufwiegen. Die Lebensdauer des gesprochenen Worts ist in der Regel kurz. Das gedruckte Wort aber mag noch in fernen Lebensjahren, ja noch zu Kind und Kindeskind sprechen. Das gesprochene Wort hat einen verhältnis- mäßig kleinen Hörerkreis, das gedruckte Wort aber mag in Tausenden von Exemplaren im ganzen Volke ver- breitet werden und in Nord und Süd und Ost und West seine Leser finden. Und wenn man sich auch nicht der thörichten Hoffnung hingeben darf, daß es auch jeder liest, dem es in die Hände kommt, und wenn man sich ehrlicher Weise auch nicht verhehlen darf, daß in vielen Fällen das christliche Schriftwerk schon um die nächste Ecke im Straßenschmutz verschwindet, so daß man dem Missionar immerhin mit einem scheinbaren Recht, aber auch nur mit einem scheinbaren — denn richtiger wäre der Vergleich mit dem Säemann, dem ja auch manches Saatkorn auf harten, untiefen und unkrautigen Boden fiel — vorwerfen könnte, daß er die Perle vor die Säue werfe, so bleibt doch immer noch der Wirkung genug, um die Methode, planmäßig betrieben, durchaus zu empfehlen. Angenommen, in einer Sonntagsschule erhalten etwa fünfzig Kinder Unterricht. Am Schlusse bekommt jedes Kind ein „Leaflet“, wo auf vier Quartseiten eine biblische Geschichte in mundgerechter Weise erzählt und praktisch und erbaulich ausgelegt wird. In diesen „Leaflets“ bringt das Kind ein Kapital nach Hause, welches seine reichlichen Zinsen tragen kann. Das müßte doch sonderbar sein, wenn es nicht wenigstens von einem Teil der Hausgenossen gelesen würde, und wäre es auch nur aus Neugierde oder gar aus dem Wunsche heraus, sich von der Thorheit oder Schlechtig- keit der christlichen Religion schwarz auf weiß aus eigener Anschauung zu überzeugen. Am nächsten Sonn- tag werden die „Leaflets“ umgetauscht, und wenn so im Verlaufe eines Jahres etwa fünfzig verschiedene 26 Blätter in ein Haus kommen, so sammelt sich schon, ohne daß man sich darum gleich übersanguinischen Hoff- nungen auf rasche Bekehrungen hinzugeben braucht, ein recht ansehnlicher Stock christlicher Einflüsse. Natürlich ist das oberste Interesse nicht das, auf seine Kosten zu kommen, sondern das Wort Gottes in möglichst weite Kreise zu tragen. Der Verschleiß ist darum recht frei- gebig und zu sehr billigen Preisen, mitunter sogar ver- schwenderisch. So wurden während des chinesisch- japa- uischen Krieges nicht weniger als hunderttausend Neue Testamente und Bruchteile der Bibel im Hauptquartier zu Hiroshima an japanische Soldaten verteilt. Der gewöhn- liche Jahresverschleiß an heiligen Schriften beträgt wenig unter hunderttausend, während der Gesamtver- brauch seit Beginn der japanischen Mission sich auf rund anderthalb Million beläuft. Es giebt infolge dessen eine Menge Leute auch außerhalb des christlichen Lagers, welche gute biblische Kenntnisse besitzen, und zuweilen findet man die Wirkung dieses Missionsbe- triebs selbst da, wo man sie am wenigsten suchen würde. Es ist noch nicht lange her, da hielt in einer Versamm- lung, welche von einer Shintosekte veranstaltet worden war, einer der Redner eine Ansprache, in welcher er fortwährend von dem „Himmelskönig“ sprach. Jene Shintosekte huldigt polytheistischen Anschauungen, der Redner aber vertrat einen geläuterten Monotheismus. Zweifellos hat er seinen Monotheismus in der Bibel gefunden. Aus der Versammlung heraus wurde die christliche Anrüchigkeit sogleich vermerkt, und schon der nächste Sprecher ergriff die Gelegenheit, seinen Vorredner um seiner christlichen Anschauungen willen zurechtzu- weisen. Aber als dieser Mann, der sich somit als ein Feind des Christentums gebahrte, in seiner Rede fort- fuhr, da war es bald unverkennbar, daß er seine Ge- danken der Bergpredigt entnommen hatte. Thatsächlich enthielt seine Rede eine Reihe fast wörtlicher Citate aus dem sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums. Vergl. D. C. Greene, Outlook for Christianity in Japan. So werden die Feinde des Christentums zu Zeugen Christi; an ihrem eigenen Beispiel beweisen sie, wie tief das Christentum in das Volk eingedrungen ist; sie selbst verbreiten die christlichen Wahrheiten und bereiten dem Herrn den Weg zum Herzen des ganzen Volkes. Und die Macht, die solches Wunder bewirkt, ist das Wort, das gedruckte Wort. Infolgedessen, daß mehrere der bedeutendsten Zei- tungen von Christen redigiert werden, steht auch die Tagespresse nicht ganz außerhalb der christlichen Ein- flußsphäre. Zwar kommen ihre christlichen Überzeugungen selten direkt und unumwunden zum Ausdruck. Das Geschäftsinteresse verbietet das von selbst, und auch dem Christentum wäre wenig damit geholfen, da dann der Leserkreis jener Zeitungen sofort bedeutend zusammen- schrumpfen würde. Man muß sich also zufrieden geben, wenn ihre Aufsätze von christlichem Geiste durchweht sind und mittelbar wenigstens eine christliche Beeinflussung zur Folge haben. Natürlich konnte das Christentum bei einer solchen Vertretung seiner Interessen nicht stehen bleiben. Es hat sich darum schon frühzeitig veranlaßt gesehen, selbst eine christliche Presse in das Leben zu rufen. Die Aus- führung dieses Unternehmens darf in vollem Maße als gelungen bezeichnet werden und das Verdienst fällt fast ausschließlich den japanischen Christen zu. Die christ- liche Presse ist durch nicht weniger als rund 40 Wochen- 26* und Monatsschriften vertreten. Dieselben verfolgen als Hauptzweck, zunächst der Gemeinde zu dienen. Ihr Inhalt, derjenige der Wochenschriften fast ausschließlich, ist darum wesentlich erbaulich. Es ist schon davon die Rede gewesen, in welchem Maße die Gemeindeglieder der fortwährenden Erbauung benötigt sind, und da thut denn das „Sonntagsblatt“ auch ganz treffliche Dienste dabei. Mir ist neulich von einem deutschen Laien ge- sagt worden, die kirchlichen Wochenschriften seien nur dazu da, um gehalten zu werden, — da man der Bitte des Pfarrers oder Agenten anstandshalber nicht gut ausweichen könne — nicht aber, um gelesen zu werden. Von Japan gilt diese Bemerkung jedenfalls nicht. Es ist leicht erkennbar, daß von der religiösen Presse ein starker Einfluß auf die eifrig lesenden Christen ausgeht. Aber dieser Einfluß greift auch hinüber auf nicht- christliche Kreise und zwar kommt hier besonders die etwas schwere Speise der wissenschaftlich gehaltenen Monatsschriften in Betracht Zu diesen gehört auch die von der deutsch-schweizerischen Mission herausgegebene Monatsschrift „Shinri“ d. i. „die Wahr- heit“, von welcher die hundertste Nummer neulich erschienen ist. Es ist keine leichte Arbeit für ein paar deutsche Missionare und japanische Pastoren, allmonatlich bei allem andern noch fünfzig Seiten zu schreiben. Aber die Mühe wird überreich belohnt. Denn Shinri erfreut sich einer hervorragenden Wertschätzung. Die Zeitschrift ist theologisch-apologetisch. Diesem ihrem Charakter gemäß ist sie vorzüglich für japanische Geistliche und gebildete Laien bestimmt. Wie bei allen christlichen Zeitschriften, so ist auch die Zahl ihrer Abonnenten eine beschränkte; es giebt kaum eine christliche Zeitschrift, welche mehr als hundert feste Abonnenten besitzt, und wie überall, so findet auch bei Shinri der Haupt- vertrieb im Einzelverkauf statt. Der theologische Standpunkt ist der eines undogmatischen Bibelchristentums, welches in der Vaterliebe Gottes zu seinen sündigen Kindern den Kern der . Die buddhistischen, shin- toistischen, wissenschaftlichen und politischen Tagesblätter und Magazine sehen sich beständig genötigt, die christ- liche Presse ihrer Beachtung zu würdigen, und wo diese für sich nicht hinzudringen vermöchte, da bringen die Gegner selbst das Christentum hin, wenn auch nicht selten bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Christentum kann dem Kampfe mit den alten Geistesmächten nicht ausweichen, ohne sich damit selbst das Zeugnis seiner Schwäche auszustellen; und gerade die Presse ist der Schauplatz, auf welchem sich der Kampf der Geister Erscheinung Christi auf Erden sieht. Dabei läßt sich die Kritik nicht immer vermeiden, aber selbstverständlich ist, daß sie nur um des positiven Zieles willen angewandt wird. Shinri giebt die wissenschaftliche Fundierung des positiven Glaubensgehaltes, und es ist ihm vergönnt gewesen, manchem strauchelnden Glauben die Steine des Anstoßes aus dem Weg zu räumen. Mir sind japanische Geistliche bekannt, welche Jahrgang für Jahrgang ein- binden ließen und die einzelnen Bände als ihre theologischen Lehrbücher benutzten — eine eindringliche Mahnung an die deutsch-schweizerische Mission, die vor allen anderen dazu berufen ist, dem japanischen Christentum eine umfassende theologische Litteratur zu schaffen. Gegenüber den Angriffen von heidnischer Seite hat Shinri stets eine schneidige Waffe geführt, und besonders im Kampfe mit dem positivistischen Konfuzianismus hat er dem gesamten japa- nischen Christentum anerkanntermaßen rühmliche Siege erfochten. Manchmal habe ich es ihm in solchem Falle aus heidnischem Munde nachrühmen hören: „Kachimashita“ d. h. „Er hat gesiegt“! Es war hauptsächlich Shinri, der den Anprall des Heidentums und des Unglaubens, welcher 1892 unter Führung von Prof. Inouye Tetsushiro erfolgte, durch sein schweres Geschütz zum Stillstand brachte. Ohne unsere Zeitschrift wären die christlichen Kreise in den letzten acht Jahren noch weit mehr beunruhigt worden. So aber stand Shinri mit scharfem Geistesschwert auf treuer Wacht und im Verein mit seinen Genossen hielt er den dreisten Feind in seinen Schranken, damit die christlichen Arbeiter im Frieden weiterbauen konnten am Geistestempel des Gottesreichs. abspielt, und ohne die Presse wäre das Christentum jeder Verleumdung und Verdrehung hilflos preisgegeben. Hier also kommt die apologetische Aufgabe der Mission zu ihrem Recht. Hier ist der Ort, den mannigfachen Angriffen von außen zu begegnen und in den weitesten Kreisen des Volkes den Eindruck zu erwecken, daß das Christentum nicht gekommen ist, aufzulösen, sondern zu erfüllen; hier werden die gewöhnlichen Vorurteile be- kämpft, als sei es in seinem Universalismus entweder direkt und bewußt unpatriotisch, oder wenigstens in seinen Wirkungen den vaterländischen Geist zersetzend, hier wird den Gebildeten entgegnet, daß es kein System der Ignoranz ist, sondern in seinem Glauben dem Wissen versöhnt sein wolle. So hat die christliche Presse eine hohe und verant- wortungsreiche Aufgabe. Daß aber ihre Arbeit nicht nur für die Gemeinde, sondern auch nach außen hin nicht vergebens ist, daß ihre Stimme wirklich weit reicht, das haben wir selbst mit unserer, doch nur für beschränkte Kreise bestimmten Zeitschrift „Shinri“ er- fahren; denn mehr als einmal sind uns aus den ent- ferntesten Teilen des Landes Briefe zugegangen von solchen, welche „Shinri“ gelesen hatten, und die nun den Wunsch nach persönlicher mündlicher Mitteilung aussprachen: Wir sollten ihnen einen japanischen Prediger schicken. So wird durch das gedruckte Wort die Sehn- sucht nach dem Christentum geweckt und schließlich drängt sie sich auf die Lippen zu dem flehenden Ruf: „Komm hernieder und hilf uns!“ Wenn aber die Mission und die japanischen Christen bewußt und methodisch in solcher Weise die Weltan- schauung der Heiden zu untergraben und die Massen des Volkes mit dem Sauerteig christlicher Gedanken zu durchdringen suchen, so geht neben dieser Bewegung ein zweiter Strom einher, welcher, ohne mit Bedacht und Absicht dahingeleitet zu sein, von selbst diesem Ziele zustrebt. Dieser Strom geht von der abendländischen Kultur aus. Es mögen keine ausgesprochen christlichen Stimmen sein, die hier zum Worte kommen, aber es ist unsere Weltanschauung, und wo unsere Weltan- schauung Platz gegriffen hat, da ist dem Christentum der Boden bereitet. Vor allem darf die Mission in der abendländischen Litteratur einen starken Bundesgenossen begrüßen, dem sie herzlich zu Dank verpflichtet ist. Teils im Original, teils in Übersetzungen ist diese Litteratur über das ganze Land verbreitet, und ihr Einfluß ist nicht nur in den Spitzen, sondern auch in den tieferen Schichten der ja- panischen Gesellschaft deutlich bemerkbar. Wie tief dieser Einfluß geht, dazu giebt der Missionar Greene eine prächtige Illustration. „Vor kurzem“, so erzählt er, „ging ich von einem Thal in Joshu nach einem andern. Mein Weg führte mich über einen holprigen Bergpfad, und da eine Jinriksha nicht zu haben war, engagierte ich einen Bauernsohn als Gepäckträger. Wie wir so hingingen, erzählte er mir von seinem Leben zu Hause, und daß er in seinen Mußestunden die poetischen Bücher des Alten Testaments lese. Auch Gedichte von Longfellow und Tennyson habe er gelesen. Mein Ziel war ein Dorf mit ein paar hundert Häusern an der Hochstraße von Mikuni, ungefähr ein halb Dutzend Meilen von dem Gipfel des Bergpasses entfernt. Es ist wenig Verkehr auf dieser Landstraße, und man sollte meinen, daß der Einfluß der abendländischen Gedankenwelt hier kaum fühlbar wäre. Bei meiner Ankunft wurde ich von meinem Gastfreund eingeladen, den Abend in einem benachbarten Badeort zuzubringen. Er bat auch einen der Dorfschullehrer zu kommen, welcher das Provinzial- lehrerseminar absolviert hatte. Obgleich derselbe nicht englisch sprechen konnte, fand ich doch, daß er englische Bücher fleißig las. Er hatte in englischer Übersetzung Guizots „History of France“ und auch seine „History of Civilization“ gelesen. Auch Carlyles „Heroes and Heroworship“ und einige seiner Biographien waren ihm bekannt, und außerdem ein großer Teil der Schriften von Lord Macaulay. In demselben Dorf war noch ein Lehrer, ein Graduierter von Fukuzawas Schule, auch ein belesener Mann. Ferner waren in dem Dorfe noch zwei Graduierte der Doshisha, welche beide intelli- gente Männer und fleißige Leser englischer Bücher waren. Ich will nicht behaupten, daß diese Leute aus ihren Büchern all den Nutzen ziehen konnten, welchen wir durch ihre Lektüre haben würden, aber ihr Geist war doch mit englischen Gedanken beschäftigt. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Kinder, welche zu ihnen in den Unterricht kamen, wieder von ihrem Geiste beeinflußt wurden. Nicht alle Schullehrer in Japan mögen auf solch hoher Stufe stehen, aber Hunderte kommen aus den Seminarien mit ähnlicher Vorliebe für fremde Litteratur und verbreiten durch ihre Schüler Gedanken, welche von einer Gottes- und Naturanschauung beherrscht sind, grundverschieden von der, die früher herrschte, und der Sauerteig dieser Gedanken ist in den Köpfen von Zehntausenden von Kindern wirksam“. Es sind freilich nicht ausschließlich günstige Ein- flüsse, die von der Litteratur des Abendlandes ausgehen. Hat doch auch die materialistische und atheistische Bücherei ihren Einzug in Japan gehalten. Es ist aber doch nur ein beschränkter Kreis philosophisch interessierter Leute, dem derartige Bücher nicht allein nach dem Titel, sondern auch nach dem Inhalt bekannt sind, während Schiller, Goethe und Lessing, Shakespeare, Longfellow und Tennyson Gemeingut aller mehr oder weniger gebildeten Klassen sind. Die großen Wirkungen der Litteratur sind heute schon in der japanischen Sprache bemerkbar. Nicht allein, daß eine große Anzahl neuer Begriffe vom Ausland übernommen wird, so daß der alten japa- nischen Sprache ein völlig neues Vokabularium hinzu- gefügt worden ist, auch die Sprachformen fangen an, eine Veränderung zu erleiden. Während z. B. die Personifikation etwas durchaus Unjapanisches ist, findet man es heute in weiten Kreisen nicht mehr anstößig, leblosen Dingen Thätigkeiten beizulegen, als wären sie Personen. Heute kann man oftmals den Satz: „Die Predigt hat mich getröstet“, in wörtlicher Wiedergabe hören, was früher nicht der Fall war, und auch der Gebrauch des Passivums ist häufiger als vordem. Es giebt Leute genug, welche das Gefühl dafür verloren haben, daß derartige Redewendungen unjapanisch sind und dem Geist der japanischen Sprache eigentlich wider- sprechen. Es ist eine Umwälzung der ganzen Art zu denken, die hier im Entstehen begriffen ist. In der Litteratur des Westens kommen die Japaner mit den besten und größten Laien der christlichen Welt in Berührung. Sie machen aber auch im eigenen Land die Bekanntschaft christlicher Europäer und, soweit sie über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus kommen, auch in der Heimat des Christentums selbst. Und auch von dieser Seite aus sind sie einer beständigen Beein- flussung ausgesetzt. Der Einfluß ist nicht immer ein guter, so wenig wie bei der Litteratur. Ja, mitunter wird er geradezu unheilvoll. Seit dreißig Jahre sind Tausende junger Japaner in das Ausland gegangen, viele Hunderte haben in Deutschland studiert. Und mit wenigen Ausnahmen gingen sie wieder zurück in ihre Heimat, Heiden wie früher, tot und kalt wie zuvor. Der Grund ist leicht abzusehen. Leben erzeugt sich nur an Leben, gleich wie Feuer an Feuer sich entfacht. Weil hier unter uns kein rechtes Leben ist, darum sind sie nicht lebendig geworden, weil hier unter uns keine Feuerflammen glühen, darum sind auch sie nicht ent- zündet worden. Mit vielen von ihnen war ich per- sönlich bekannt, und einmal ist es mir vergönnt gewesen, einen von ihnen zu taufen. Es war der Sohn eines hervorragenden Mitglieds des Parlaments, eines Füh- rers der christentumsfeindlichen konservativen Partei. Vier Jahre hatte er in Deutschland studiert und in den vier Jahren war er nie in eine Kirche gekommen. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland war er durch ein Mit- glied unseres Missionspersonals, das er auf der Über- fahrt kennen gelernt hatte, mit uns bekannt geworden. Er verkehrte jetzt viel mit uns, ohne aber für unsere Arbeit das geringste Interesse zu haben. Da, nach etwa zwei Jahren, begann er unsere Gottesdienste zu besuchen und ein halbes Jahr später war er ein Mit- glied unserer Gemeinde. Diesen Mann fragte ich ein- mal, woher es denn gekommen sei, daß er nicht schon in Deutschland mit dem Christentum Fühlung gewonnen habe. Und seine Antwort lautete: „Meine deutschen Freunde gingen ja selbst nie zur Kirche. Ich mußte den Eindruck gewinnen, als gäben die Gebildeten nichts auf das Christentum, und als sei dieses nur für die Dummen da. In Europa schien mir das Christentum seine Rolle ausgespielt zu haben. Sollten wir nun die Kleider anziehen, die ihr abgelegt habt? Was euch nicht mehr gut genug war, dünkte auch uns zu schlecht“. Und da stand ich und schämte mich im tiefsten Grund meiner Seele für meine christlichen Landsleute. Haben die Heiden nicht recht, also zu sprechen? Wahrlich, das Christentum stände heute anders da unter den heid- nischen Völkern, wenn bei uns noch mehr Christentum zu finden wäre, bei unsern Christen in der Heimat so- wohl als bei den Europäern unter den Heiden. Wie oft haben in den letzten Jahren die Zeitungen berichtet, wie Europäer, ja selbst christliche Beamte, sich im Heidenland aufgeführt, wie sie den christlichen Geist verleugnet und schlimmer gehaust haben als die Heiden selbst. Als die Kunde von den skandalösen Vorgängen in Deutsch-Afrika nach Japan kam, konnte man aus japanischem Mund hören, daß das nicht zu verwundern sei; sei doch die ganze Politik Europas eine Politik der Eroberung und Gewaltthätigkeit; und wie das System, so seien auch die Leute. Den einfältigen Heidenseelen ist es eben bis jetzt noch nicht gelungen, zu entdecken, daß die Schachzüge der Diplomatie auf christlichen Grundregeln beruhen. Vielmehr meinen sie, daß die Mächte ihnen gegenüber mehr nach dem Satz vom Recht des Stärkeren und aus Instinkten der Selbstsucht, als nach den Grundsätzen der Menschlichkeit und der christ- lichen Liebe handeln. Das Gefühl, welches die Heiden den politischen Großmächten gegenüber beseelt, ist nicht Vertrauen, sondern Furcht. So gehört auch die „christ- liche“ Politik zu den Strömungen, welche für die Mission nicht Förderung, sondern Hemmung bedeuten, und es wäre unter allen Umständen wünschenswert, daß die Motive der Liebe und Menschlichkeit jeder Zeit klar zu Tage treten. Wenn man aber die Ausschreitungen der einzelnen auf das System zurückführen wollte, so hat das für die Fremden in Japan wenigstens keine Gültigkeit. Bruta- lität und Gewaltthätigkeit kann ihnen niemand vor- werfen. Ein Japaner hat ihnen folgendes Zeugnis ausgestellt: „Das Betragen der Fremden ist eine Schande für den Namen des Christentums und der Civilisation und hält den Fortschritt beider auf. In ihrer Heimat würde ein solches Betragen strafrechtlich verfolgt werden, aber in den Ländern des Ostens stehen diese euro- päischen Tyrannen unter dem Schutze der Kanonen. Die Thatsache ist nicht schwer zu erklären, daß das Christen- tum außerhalb Europas keine großen Fortschritte ge- macht hat; man braucht nur zu bedenken, daß diejenigen Christen, die in fremde Länder gehen, sich schlechter be- tragen als die Heiden, oder doch nicht besser als sie; sie sind Sklaven des Mammons, besuchen schlechte Häuser, schwören auf das leichtfertigste, insultieren und foppen und mißhandeln die Eingeborenen und betragen sich so aufgeblasen, als ob jeder ein Julius Cäsar wäre.“ (Z. M. R. I, 28.) Das ist eine Sprache, deren Leidenschaftlichkeit verdächtig ist, sie ist einem den Fremden unfreundlich gesinnten Jingoismus entflossen. Der zumeist aus gebildeten Kaufleuten, Gelehrten und Beamten bestehenden Fremdenkolonie in Japan, welche im übrigen als hochachtbar zu bezeichnen ist, läßt sich nur eines nachsagen: Neben vielfacher religiöser Gleich- gültigkeit, die sie sich nicht erst drüben anzueignen brauchten, eine laxe Moral im engeren Sinne. Durch die Sitte des Landes gefördert, tritt dieselbe in ihrer ganzen Unchristlichkeit so wenig verschämt auf, daß sie in christ- lich empfindenden Kreisen und noch weit darüber hinaus Anstoß erregen muß. Ich bin oftmals von meinen Gemeindegliedern gefragt worden: „Ist der oder jener ein Christ?“ Und wenn ich zur Antwort gab: „Ja gewiß doch!“ so meinte man: „Wer nie in die Kirche gehe Es muß mit Freuden begrüßt werden, daß seit Erbauung der centralen, leicht erreichbaren deutschen Kirche in Tokyo der Besuch von seiten unserer Landsleute ein recht befriedigender ist. Nach den von Christlieb angegebenen Zahlen findet sich in Tokyo zu jedem Gottesdienst etwa ein Drittel bis zur Hälfte der ge- samten Kolonie ein. Man wird diesen Prozentsatz in der Heimat bei Gebildeten kaum irgendwo übertroffen finden. Es würde aber noch weit besser sein, wenn weniger Junggesellen und mehr Fa- milien da wären. Die Familien sind von jeher recht kirchlich gewesen. (die Japaner kontrollieren scharf!) und überdies in einem „ehelichen“ Verhältnis lebe, welches weder bürgerlich noch kirchlich sanktioniert sei, könne unmöglich ein Christ sein“. Man muß selbst in der Situation gewesen sein, um das Peinliche derartiger Auseinandersetzungen empfinden zu können. Das junge japanische und das alte europäische Christentum stehen sich hier in scharfer Beleuchtung ein- ander gegenüber. Dort das begeisterte Wollen, mit dem aber die kindlich schwachen Kräfte noch nicht glei- chen Schritt halten, hier die unlustige Blasiertheit, wo die Kraft des Könnens in vollem Maße vorhanden wäre. Während man sich mit dem jungen Heiden- christentum in apostolische Zeiten versetzt fühlt, bringt einen der Blick auf die europäischen Christen sofort in die nüchterne Wirklichkeit des fin de siècle zurück. Da lernt man es mit tiefer Wehmut begreifen, daß die urchristlichen Zeiten vorüber sind, da jeder Christ noch ein Missionar war, da die Kaufleute Kleinasiens bei ihrem Geschäftsaufenthalt in Rom noch das Evange- lium verkündigten, und römische Soldaten mit dem Schwert des Geistes die Ufer des Rheins und der Donau für Christus eroberten. Unsere Kaufleute und unsere Soldaten haben heute andere Dinge zu thun, und wenn man ihnen sagte, daß auch für sie das Wort geschrieben ist: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur!“ sie hätten dafür nur ein verständnislos verlegenes oder ein vornehm über- legenes Lächeln. Und doch wirken auch die europäischen Laienchristen, wenn auch zum Teil wider ihren Willen, mit zu dem großen Werke der japanischen Volksbekehrung. In den frem- den Gelehrten, ja in der ganzen christlichen Welt, haben die Japaner das lebendige Beispiel vor sich, zu welch hoher Stufe der Kultur es die Völker gebracht haben, die sich christliche nennen, und in manchem Kopf bricht sich doch wohl die Überzeugung Bahn, daß zwischen Kultur und Christentum ein innerer Zusammenhang bestehe. Schon einmal sind solche Strömungen zu Tage getreten, und wenn sie heute auch verschwunden sind, so werden sie einst um so stärker wieder an die Ober- fläche kommen. Von den Abendländern haben die Japaner, welche des Lebens Zweck bis dahin in der Beschaulichkeit sahen, erst gelernt, was Pflichtgefühl ist. Die Kaufleute haben im besonderen das große Ver- dienst, daß sie die Japaner an Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit im Handel gewöhnen, und in manchem euro- päischen Hause haben die Heiden das Vorbild einer christlichen Ehe und eines christlichen Familienlebens vor sich. Auch die opferfreudige Teilnahme der Abend- länder bei schweren nationalen Heimsuchungen, wie Erd- beben und Überschwemmungen, hat zu Zeiten großen Eindruck gemacht. So sind es eine ganze Reihe christ- licher Einflüsse, welche von den abendländischen Christen ausgehen. Alle diese Bächlein, vereint mit den anderen, machen zum Schluß einen reißenden Strom, der die Bänke des Heidentums unterwühlt, die Ufer überflutet und die Strebepfeiler in das Wanken bringt. Bedeutender noch als die positiven Wirkungen im Aufbau einer neuen christlichen Gedankenwelt sind zunächst die negativen in der Zerstörung der alten Geistesmächte. Die alten sozialen Grundlagen der Gesellschaft haben radikale Veränderungen erfahren. Der Individualismus hat sich Bahn gebrochen; da er aber noch keine feste Grundlage hat, so sind es teilweise anarchistische Zustände, die so in der ethischen Welt geschaffen werden. Aber je verworrener sie sind, und je entschiedener man sich vor die Alternative gestellt sieht: Untergang oder Neu- geburt, um so rascher sieht man sich gezwungen, nach Hilfe auszuschauen. Es ist bezeichnend für den Stand der Dinge, daß Japans erster Staatsmann Ito, welcher seiner Freude über die atheistischen Tendenzen seiner Lands- leute Ausdruck verliehen hat, zu gleicher Zeit mit Ban- gen in die Zukunft sieht, da er weiß, daß es so nicht weiter gehen kann. Und das ist die Sorge der Edelsten des Volkes, mögen sie rechts oder links stehen. Die sittlichen Grundlagen —, so lautet das stehende Thema der Diskussion, und es ist wahrhaft erschütternd, diese Volksseele in ihrem Ringen zu beobachten. Es sind die Geburtswehen einer neuen Zeit. Das Alte stürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Bei uns pflegt man die Erfolge der Mission nach der Seelenzahl der Bekehrten zu schätzen und mit hämi- schem Spott rechnet man dann aus, wie viel eine Heidenseele kostet. Aber ganz abgesehen davon, daß eine Menschenseele einen unendlichen Wert hat, und daß darum auch rein nach diesem Gesichtspunkt die Mission nie zu teuer bezahlt wäre, ist diese Rechnung doch eine gründlich falsche. Denn der indirekte Erfolg, der nicht mit Zahlen belegt werden kann, ist weit größer als der direkte. Was in Japan durch die Vorbe- reitung der Volksbekehrung in der Verbreitung christ- licher Ideen gewirkt worden ist, schätze ich viel höher als die hundertundsiebenzehn tausend Getaufter. Man darf dreist behaupten, daß jetzt schon unter den Heiden viele theistisch denken und christlich handeln, und daß es thatsächlich wenige geben mag, die vom Christentum noch vollständig unberührt wären. Sie wissen es frei- lich nicht, und wenn sie es wüßten, es würde ihnen angst und bange werden. So kommen sie immer näher und näher den Thoren des Reiches Gottes, und zum Schlusse bedarf es nur noch Eines, aber freilich des Wichtigsten, des Geistes aus der Höhe, und das Pfingsten für Japan ist da. Das wird das Ende sein! In Nikko im heiligen Tempelhain, fernab von des Alltags eitlem Geschwätz, steht ein schlichtes Grabmal. Tiefer Friede ringsum, kein Zeichen von Leben, als ob selbst die Tiere des Waldes es wüßten: Hier ist geweihtes Land! Dumpf und feierlich ertönt von unten herauf von Zeit zu Zeit die Tempelglocke, und durch die sanftbewegten Zweige der ragenden Kryptomerien geht ein geheimnisvolles Flüstern. Es ist der Geist von Altjapan, der an diesem Grabe Trauerwache hält; denn der darunter liegt, ist Iyeyasu, seines Landes größter Sohn. Was Japan die Jahrhunderte hindurch gewesen ist, in diesem Manne war es verkörpert. Drei- hundert Jahre sind darüber hingerauscht, daß er auf den Kampfplatz trat wider das Kreuz, das sein Vater- land bedrohte, ein zweiter Julian, aber glücklicher als er. Mit mächtiger Faust und mit der Geistesgewalt, welche das Kennzeichen eines großen Mannes ist, schlug er die Jesuiten und Franziskaner nieder, und als er seine Augen im Tode schloß, sah er die Zeit nahe, da das letzte Kreuz aus Yamatos heiliger Erde gerissen werde, und des letzten Fremden Fuß des Landes freien Boden verlassen müsse. Und wiederum wie dazumal stehen wir heute an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, und wiederum wie damals sind die Kreuzträger herübergekommen über das Meer. Da hat es Iyeyasu nicht länger in seiner Gruft gelitten, mächtig ist er hervorgebrochen auch heute wieder, Altjapans starker und trotziger Geist, und wieder tobt der Kampf wie ehedem. Ein Verzweiflungskampf, hoffnungslos! Das tragische Schicksal Julians, auch du wirst es diesmal erfahren, Geist des Iyeyasu, auch dir wird die Stunde schlagen, da du, zum Tode ge- troffen, ausrufen wirst: „Zurück zur Gruft, Altjapan stirbt, tandem vicisti, Galilaee.“ Und über deiner Gruft reicht Jungjapan dem Christentum die Hand zum ewigen Friedensbunde, und wer mit den Augen des Geistes zu lesen versteht, sieht es auf deinem Grabmal mit unauslöschlicher Flammen- schrift geschrieben: „Das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!“ 27 VERLAG VON A. HAACK IN BERLIN. Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft. Organ des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins. Heraus- gegeben von Prediger Dr. Th. Arndt in Berlin, Pfarrer Dr. E. Buss in Glarus und Pfarrer J. Happel in Henbach (Hessen). Jährlich erscheinen vier Hefte im Umfang von 16 ‒ 17 Bogen 8°. Durch jede Buchhandlung und Postanstalt zu beziehen. 4.— M. Bolljahn, J., Japanisches Schulwesen, seine Entwicklung und sein gegenwärtiger Stand. Mit 3 Abbildungen. brosch. 1.50 M. Partiepreis: 25 Exemplare 25.— M. Ritter, H., Prediger. Dreissig Jahre protestantischer Mission in Japan . Mit 2 Lichtdruckbildern und 1 Missionskarte. brosch. 2. — M. Zur Verteidigung gegen D. Dalton. Eine Widerlegung des Dalton’schen Angriffes. Herausgegeben vom Centralvorstande des Allgemeinen ev.- prot. Missionsvereins. brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. Flugschriften des Allg. evang.-prot. Missionsvereins. I. Schmiedel, Otto, Pfarrer und Missionar. Eine Woche in der japanischen Christengemeinde zu Tokyo. Mit 2 Tafeln: Abbil- dungen von Kirche und Pfarrhaus. 4. Aufl. brosch. — 50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. II. Schmiedel, Otto, Pfarrer und Missionar. Kultur- und Missions- bilder aus Japan. 2. Aufl. brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. III. Munzinger, Carl, Pfarrer und Missionar. Aus dem Lande der aufgehenden Sonne. Mit 1 Abbildung. 2. Aufl. brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. IV. Lipsius, D. Richard Adelbert, Geh. Kirchenrat Prof. Unsere Aufgabe in Ostasien. Mit einem Lebensbilde des Verfassers von Pred. Lic. Dr. Paul Kirmss. Mit 1 Abbildung: Richard Adelbert Lipsius 2. Aufl. brosch —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. V. Kranz, Paul, Pfarrer und Missionar. Eine Missionsreise auf dem Yang tze kiang in China im Mai 1894 . Mit einer Abbildung und einer Kartenskizze. 2. Aufl. brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. VI. Faber, Ernst , Missionar Dr. theol. China in historischer Be- leuchtung. Eine Denkschrift zu seinem 30 jährigen Dienstjubiläum als Missionar in China. Mit zwei Abbildungen und einer Karte . (Doppelflugschrift) brosch. 1.— M. Partiepreis: 50 Exemplare 20.— M. VII. Schmiedel, Otto, Was lehrt und lernt der Missionar in Japan? Mit zwei Abbildungen. brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. VIII. Kranz, Paul, Pfarrer und Missionar. Die Welterlösungsreligion ist die Vollendung des Konfuzianismus . Mit einem Vorwort von Pred. Lic. Dr. Kind. Mit dem Original des chinesischen Traktats brosch. —.50 M. Partiepreis: 50 Exemplare 10. — M. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.