Zeitvertreib und Unterricht fuͤr Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Zweytes Baͤndchen . Leipzig , bey Weidmanns Erben und Reich . 1783 . Vorerinnerung. H ier das zweyte Baͤndchen des Zeit- vertreibes fuͤr Kinder. Das erste hat bey Maͤnnern von Einsicht und Erfah- rung Beyfall gefunden. Einem großen Paͤdagogen unsrer Zeiten hat das Geschicht- chen vom Klapperstorch, in der Art der Ausfuͤhrung , sehr gefallen. Keine ge- ringe Ermunterung fuͤr mich, das zweyte zu schreiben. Darinn hab’ ich mich abermal bemuͤhet, die Kindersprache zu reden; doch so, wie ich hoffe, daß sie nie ins Niedrige und Poͤ- belhafte gefallen ist. Ich weiß es aus der Erfahrung, daß man wenig bey Kindern ausrichtet, wenn man sich nicht, auf eine 2 mun- muntere und lustige Art, an ihre Sprache zu gewoͤhnen sucht. Meine Kinder haben ein Histoͤrchen zwey- bis dreymal gelesen: bloß, weil Bauz! Baf! Batter, Batter! — darinn vorkam. Man lasse sie. Sie lesen doch das andre mit. Um bey der Kindersprache sicher zu ge- hen, hab’ ich eher kein Stuͤck in Druck ge- geben, als bis es alle Kinder verstanden haben. Waren unverstaͤndliche Ausdruͤcke drinn, so mußten sie selbst andere und deut- lichere waͤhlen. Diese behielt ich. Und so kann ich sagen, daß das Ganze selbst von Kindern nach ihrem Ton korrigirt ist. Folglich muß es auch andern verstaͤndlich seyn. Die Geschichtchen, Gespraͤche, Erzaͤh- lungen, was es ist, sind mehr abgekuͤrzt, weil ich gefunden habe, daß die Kinder eben dadurch gereizt werden, das Folgende zu le- sen. So z. E. gleich bey dem ersten Stuͤck S. 10, S. 10, da der Vater abbrach. O! hieß es, nur noch ein Bischen von den wilden Maͤdchen. Wie kams denn mit ihnen? — Und das dritte wurde ausgelesen. Die Gespraͤche hab’ ich immer am nuͤtzlichsten gefunden, besonders wenn Kin- der darinn redend aufgefuͤhret wurden. Meine fragen bey jedem Gespraͤch, ehe sie es anfangen: sind auch Kinder drinn? Un- ter allen ist ihnen das Kindergespraͤch vom Fruͤhlinge No. V. das angenehmste gewesen, und ich weiß, daß es das eine kleine Maͤdchen, Dorchen, das darinn selbst eine zaͤrtliche Rolle spielt, bis zum Aus- wendiglernen gelesen hat. Poesien hab’ ich wenig eingeschaltet; am wenigsten solche, wodurch sich Kinder das Taͤndeln und Empfindeln, welches zu- letzt auf unausstehliche Zierereyen hinaus laͤuft, angewoͤhnen. 3 Dem Dem Aberglauben , besonders in na- tuͤrlichen Dingen, hab’ ich abermal entge- gen gearbeitet, und zwar so, daß die dabey vorkommenden Geschichtchen und Erzaͤh- lungen nunmehro Kindern vom 7ten bis 9ten Jahre nuͤtzlich und angenehm werden koͤnnen. Vorzuͤglich sucht’ ichs so einzu- richten, daß die falschen Begriffe in den Gemuͤthern der Kinder getilgt wuͤrden, die sonst immer eine Quelle unrichtiger Hand- lungen bleiben. Hin und wieder hab’ ich schon einige an- genehme Natursachen eingestreuet. Im dritten Baͤndchen werden mehrere vorkom- men. Meines Erachtens fehlt man in der Methode, Kindern Naturkenntnisse auf ei- ne leichte und angenehme Art beyzubringen. Systeme und Namenregister machen sie verdruͤßlich. Warum nicht gleich aus der Natur selbst? Wenn Wenn ich meinen Kindern, die einen todten Maulwurf, den sie eben gefangen haben, begraben wollen, sage: Gebt Ach- tung! da will ich gleich aus der Luft Tod- tengraͤber bestellen, die ihn begraben sollen, so wird alles aufmerksam; so guckt alles in die Luft, ob sie nicht bald kommen; so wird alles Natur und That selbst. Und davon halt’ ich sehr viel. Bey der Gelegenheit kann ich ihnen ja zugleich sehr viel Artiges sagen, was zur Luft, Erde, zur Natur des Maulwurfs und der Kaͤfer, die ihn begra- ben, gehoͤrt. Man darf sich bey Kindern eben nicht an eine bestimmte Ordnung binden, wenn man sie mit der Natur — ihren Produk- ten, Begebenheiten und Wirkungen, be- kannt machen will. Wie die Sachen vor- kommen, erzaͤhle man sie. Und warum eben immer Naturgeschichte? Warum nicht lieber Natur selbst? Und zwar die 4 gemein- gemeinsten, gewoͤhnlichsten Dinge zuerst , mit denen sie taͤglich umgeben sind. Ich war neulich einmal an einem Orte, wo die Kinder den Umlauf des Bluts im Koͤrper recht pedantisch hererzaͤhlen muß- ten, wie sie es auswendig gelernt hatten. Es war Wortkraͤmerey, und weiter nichts. Ich fragte hierauf: Wie wird denn die But- ter — die Tinte gemacht? Die Kinder sahen mich starr an, und lachten — meynten, das zu wissen, waͤre nicht noͤthig. Da erzaͤhlte ichs ihnen, in- sonderheit von der Tinte . Wie viel Arti- ges koͤnnt’ ich ihnen dabey von den Gall- aͤpfeln , von den Fliegen , die sie machen, vom Vitriol , vom Gummi u. s. w. sa- gen! Das gefiel den Kindern so wohl, daß ich sie den ganzen Abend nicht los werden konnte. Nach dieser Methode werd’ ich im drit- ten und vierten Baͤndchen viel Nuͤtzliches und und Artiges aus der Natur, auf eine, die Kinder belustigende Art, anzubringen su- chen, so daß man diesen beyden Baͤndchen fuͤglich den Titel: Natur und Sitten fuͤr Kinder , geben koͤnnte. Es giebt genug Lesebuͤcher aus der Na- turgeschichte fuͤr Kinder; sie sind mir aber alle zu gelehrt. Ich habe die Probe ge- macht, und Kinder, die nach Raffs Na- turgeschichte unterrichtet waren, sich mit meinen Kindern uͤber verschiedene Dinge aus der Natur unterreden lassen. Bey jenen war System, Gedaͤchtnißkram, Zwang — bey meinen Natur, Begriff und Freude uͤber die Sachen. So konn- ten meine von Milch, von den Schafen, Brode, Froͤschen, Schwalben, Spechten, Blaͤttern, Rosen, Gewittern, Regenbo- gen, u. s. w. viel Artiges und Nuͤtzliches er- zaͤhlen, was sie selbst gesehen und erfahren hatten, wovon jene nur die Eintheilungen 5 und und Namen wußten. Wissen die Kinder nur erst recht viel aus der Natur; das Sy- stem koͤnnen sie hernach bald fassen. Ich tadle keinesweges was andere thun; ich sage nur, wie ichs mache. Insonder- heit sehe ich drauf, daß ich Kindern in den veraͤchtlichsten, oft ekelhaftesten und verworfensten Dingen, die weisesten Ein- richtungen Gottes fuͤrs Ganze , und zum Besten der Menschen, zeige. Im dritten Baͤndchen werden auch ei- nige Religionssachen von Christo , und andern biblischen Dingen, vorkommen, in so fern sie sich fuͤr Kinder schicken, und ih- nen gute Gesinnungen beybringen koͤnnen. Ueberhaupt ist mein Buch eigentlich kein Buchstabier- und Lesebuch fuͤr Kinder. Wenn daher gleich auf dem Titel steht: fuͤr Kinder vom dritten bis zehnten Jahre — und mancher denken moͤchte: wie koͤnnen das Kinder vom dritten bis fuͤnf- ten ten Jahre gebrauchen? so erklaͤre ich mich also. Kindern, die noch nicht lesen koͤn- nen, suche man die leichtesten Histoͤrchen vorzuerzaͤhlen, katechisire sie daruͤber; so werden sie bald Lust bekommen, sie selbst lesen zu lernen. Meine Kinder konnten sie schon im vierten und fuͤnften Jahre lesen. Wem es auffallen sollte, daß im ersten Baͤndchen No. 25 schon das dankbare Kind vorgestellt ist, und im zweyten No. 22-25 das undankbare und dankbare Kind noch einmal vorkoͤmmt; der darf diese Stuͤcke nur vergleichen. Dank und Undank kann Kindern nie zu oft gesagt werden. Wenn die Kinder zu den Aeltern bald Sie , meh- rentheils aber du sagen; so koͤmmts auf den Grad der Vertraulichkeit an, darinn sie reden. Nun noch ein paar Verbesserungen fuͤrs erste Baͤndchen. S. 67 S. 67 von unten Z. 3 statt schnipsch l. schnipsche. S. 114 Z. 3 statt Quadeau l. Gnadau. S. 163 Z. 14 statt Reinlichkeit l. Un- reinlichkeit. S. 263 Z. 1 statt verpanstert l. ver- panzert. Uebrigens kann ich der Vorsehung des besten Vaters im Himmel fuͤr den Se- gen nicht genug danken, den ich von dem ersten Baͤndchen, besonders in Absicht der Tilgung des Aberglaubens, bey vielen Kin- dern, selbst bey Großen und Erwach- senen , die noch Kinder am Verstande wa- ren, und dadurch gebessert sind, gesehen habe. In- Inhalt. I. Die Wohlthat einer guten Erziehung. Seite 1 II. Fortsetzung. 6 III. Fortsetzung. 10 IV. Fortsetzung. 13 V. Kindergespraͤch vom Fruͤhlinge. 19 VI. Fortsetzung. 24 VII. Fortsetzung. 29 VIII. Vom nahe Aufsehen. 35 IX. Viel gelernt, und schlechte Sitten. 41 X. Es ist nicht alles so, wie es scheint. 45 XI. Der Bauer und die Nachtigall. 53 XII. Die Maus und die Katze, eine Fabel. 56 XIII. Der Traum. 59 XIV. Fortsetzung. 65 XV. Fortsetzung. 70 XVI. Kleine Ursache und großer Laͤrm. 76 XVII. Das Osterfeuer. 82 XVIII. Das schreckhafte Kind. 87 XIX. Weihnachtsbrief eines Vaters an sein fuͤnfjaͤhriges Kind. 91 XX. XX. Eine Reihe gewoͤhnlicher Kinderfehler. Seite 94 XXI. Das gefraͤßige Kind. 100 XXII. Das undankbare Kind. 106 XXIII. Fortsetzung. 111 XXIV. Fortsetzung. 116 XXV. Das dankbare Kind. 121 XXVI. Das mitleidige und gutherzige Kind. 128 XXVII. Das leichtsinnige Kind. 136 XXVIII. Das unhoͤfliche und unbescheidene Kind. 139 XXIX. Einige Tischregeln. 144 XXX. Das verfuͤhrte Kind. 146 XXXI. Fortsetzung. 151 XXXII. Der Leichvogel. 156 XXXIII. Fortsetzung. 162 XXXIV. Der feurige Drache. 169 XXXV. Fortsetzung. 174 XXXVI. Fortsetzung. 180 XXXVII. Der Donnerkeil. 187 XXXVIII. Das Alpdruͤcken. 196 XXXIX. Gefaͤhrliches Naschwerk und Spiel- zeug der Kinder. 204 XL. Gefaͤhrliche Kinderspiele. 210 XLI. Fort- XLI. Fortsetzung. Seite 218 XLII. Verzeichniß einiger gefaͤhrlichen Kin- derspiele. 222 XLIII. Am Geburtstage der Mutter von ei- nem guten Kinde. 224 XLIV. Man muß sich Zeit nehmen, wenn man was lernen will. 225 XLIII. Ein lustiges Gespensterhistoͤrchen. 228 XLIV. Das kluge Kind mit Manier und Ar- tigkeit. 232 XLV. Vom Stricken Naͤhen und Spinnen. 233 XLVI. Fortsetzung. 239 XLVII. Fortsetzung, oder Frau Orgon. 243 XLVIII. Das artig gewesene, und wieder un- artig gewordene Kind. 246 XLIX. Ungehorsam straft sich selbst. 252 L. Das Blutwasser. 256 LI. Fortsetzung. 261 LII. Fortsetzung. 266 LIII. Der gottlose Knabe. 271 LIV. Fortsetzung. 277 LV. Das erste Veilchen, oder die Geschich- te zweyer zaͤrtlichen Schwestern. 281 LVI. Fortsetzung. 288 LIX. Die LVII. Die Langschlaͤferinn. Seite 291 LVIII. Besondere Proben der goͤttlichen Vorse- hung in Beschuͤtzung der kleinen Kinder. 298 LIX. Fortsetzung. 305 LX. Fortsetzung. 310 LXI. Die alte Schuld, oder das vierte Ge- bot. 312 LXII. Fortsetzung. 316 LXIII. Fortsetzung. 319 LXIV. Der alte Mann. 323 LXV. Fortsetzung. 329 LXVI. Fortsetzung. 333 LXVII. Fortsetzung. 337 LXVIII. Fortsetzung. 341 LXIX. Todesgedanken fuͤr Kinder. 347 LXX. Der Gottesacker. 353 LXXI. Die Grabschrift eines guten Kin- des. 357 I. Die I. Die Wohlthat einer guten Er- ziehung. W ie groß die Wohlthat einer guten Er- ziehung sey, kann man an dem Exem- pel schlecht erzogener Kinder sehen. Ein guter ehrlicher Bauerknabe, Namens Toͤffel, kam neulich mit seinem Vater zum erstenmale in die Stadt. Er war wohl schon zehn Jahre alt. Der Vater nahm ihn mit in das Haus, wo er Pacht bezahlen wollte, und worinn ein Haͤufchen artiger wohl erzogener Kinder war. II Theil. A Als Als er in die Stube trat, gieng Fritze um ihn herum, und besahe ihn, wie ein Meer- wunder. „Wo koͤmmst du her?“ Von Doͤrpe, war die Antwort. „Wie heißest du denn?“ Eck — Eck? hete Toͤffel. Da lachte Fritze erschrecklich, und rief die andern Kinderchen. „Kommt, kommt geschwinde, wenn ihr was „sehen wollt.“ Was denn, Bruͤderchen? frag- te Hannchen . „Was recht Lustiges. Ihr „lacht euch krank.“ Mit großen Augen kamen sie in des Va- ters Stube. Da saß der Bauerjunge da, wie ein Stock, und gaffte alles an. Denn es war ihm alles neu: der große Spiegel, die Wand- uhr, und dergleichen. Die Kinder betrachte- ten ihn von allen Seiten — thaten hundert Fragen an ihn, die er aber nicht verstand. Die Mutter gab ihm eine Semmel; die aß er, wie gewisse Thierchen im Stalle. Da- bey schnaubte er auf, daß mans in der ganzen Stube Stube hoͤren konnte. Die Nase wischte er sich mit dem Rockaͤrmel ab, und mit den Fingern schnaubte er sich aus. Als ihm noch eine Sem- mel angeboten wurde, sagte er: Eck mag nich meh. Da lachten die Kinder gewaltig. Das verdroß ihn, und er schalt sie aus. Da lach- ten sie noch mehr. Der Vater aber sagte: Ja! dat is by uns nich anders. Wei koͤnnt de Kinger nich so klauk erteien — Fritze holte ein Buch, und der Junge sollte lesen. Er konnte aber kaum ein Paar Buchstaben nennen. Das Spiel wurde zu arg, und der Vater mußte seine Kinder aus der Stube gehen heißen. Als Toͤffel weg war, ließ der Vater seine Kinder wieder in die Stube kommen, und sagte: War das wohl recht, daß ihr den ar- men Jungen so auslachtet? Was kann der dafuͤr, daß er so schlecht erzogen ist? Seine Aeltern wissen es nicht besser. Waͤret ihr von A 2 Bauern Bauern geboren, so waͤret ihr auch Bauern- kinder — so waͤrest du, Fritze , nichts an- ders, als was Toͤffel ist, den du so zum Besten hattest. Da koͤnnt ihr nun sehen, was es fuͤr eine Wohlthat sey, daß ihr nicht im Bauern- stande geboren seyd, und daß ihr so gute Aeltern habt, die so viel an eure Erziehung wenden. Solche Leute aber, als die Bauersleute, muͤssen auch seyn. Sonst muͤßten wir selbst alle grobe Arbeit thun, die sie fuͤr uns verrichten. Es ist denn doch angenehm, wenn ein solcher Mann da in seinem leinenen Kittel, und ei- nem großen Dornstocke in der Hand, ein hun- dert Thaͤlerchen in schoͤnen blanken Pistoletten bringt, die er uͤbrig hat von seinen mir ab- gepachteten Aeckern, welche er mit saurem Schweiß hat pfluͤgen, duͤngen und besaͤen muͤssen. Thut Thut das nicht wieder, einen dummen Bauerjungen auszulachen. Eher solltet ihr Mitleiden mit ihm haben, als seiner spotten. Denn das verdient er nicht. Das verdient ein Stadtkind weit eher, wenn es eine gute Erziehung hat, aber doch faul, unreinlich, nachlaͤßig und unhoͤflich ist, oder die gute Erziehung uͤbel anwendet. Manches Bauer- kind hat oft ein weit besser Herz, und ist sei- nen Aeltern gehorsamer, als manches wohl erzogene Stadtkind, welches das viele Gute nicht erkennet, das an ihm geschiehet. Bedenkt einmal, wenn ich und eure Mut- ter bald stuͤrben, und ihr muͤßtet unter andere Leute. Vermoͤgen lasse ich euch nicht. Das wißt ihr. Ich wende alles an eure Erziehung. Wie wuͤrde es euch denn gehen? Wuͤrdet ihr nicht bald Toͤffel werden? Wohl erzogene Kinder muͤssen Bauerkin- der, oder andere schlecht erzogene Kinder nicht A 3 aus- ausspotten, oder verachten; sondern vielmehr daraus die Wohlthat ihrer guten Erziehung, mit desto groͤßerem Dank, erkennen. II. Fortsetzung des ersten Stuͤcks. Von der Wohlthat einer guten Erziehung. W as machten nun wohl die Kinder, da sie das von dem Vater gehoͤrt hatten? Sie wurden dadurch so sehr geruͤhrt, daß sie dem Vater um den Hals fielen, und ihm fuͤr alles Gute herzlich dankten. Ja! Dorchen wurde so wehmuͤthig, daß es hinter Toͤffeln herlaufen, und es ihm abbitten wollte. Des Abends nach Tische kamen sie wieder auf Toͤffeln zu reden. Der Vater setzte sich aufs aufs Kanapee, und die Kinder traten um ihn herum, weil sie merkten, daß der Vater Lust hatte, was zu erzaͤhlen. Kinder! sagte der liebe Vater, ich will euch was erzaͤhlen: eine ganz sonderbare Historie von zwey kleinen wilden Maͤdchen , daraus ihr noch mehr lernen sollt, daß eine gute Erziehung fuͤr euch die allergroͤßte Wohlthat sey . Da horchten die Kinder hoch darauf, als sie von den wilden Maͤdchen hoͤrten. Es war einmal ein Edelmann in Frank- reich, bey Chalon in Champagne, wo die Marne fließt — Fritze , du kannst es mor- gen auf deiner Landcharte aufsuchen — Es hat sich wirklich zugetragen. Dieser Edel- mann gehet auf die Jagd an dem Flusse her- unter, und siehet in der Ferne im Rohre zwey schwarze Dinger auf- und niedertauchen. Er schießt hin. Husch sind die Dinger unter A 4 das das Wasser, kommen aber an einem andern Ende wieder vor. Da dachte er, es waͤren Wasserhuͤhner. Wie erschrak er aber, als die Dinger ans Ufer hinplatschten! Er versteckte sich im Busch- werke, und schlich sich naͤher heran. Da sahe er, daß es zwey wilde Maͤdchen von ohnge- faͤhr zehn Jahren waren. Fritze fiel hier ins Wort, und sagte: Das waren dir wohl solche Dinger, wie du Lotte. Denn du bist auch nicht sachte, wenn du gehst. „Ja! du magst dich hermachen. In zwey Saͤtzen die Treppe herunter. Du hoͤrst ja wohl, daß die Maͤdchen im Wasser, und ganz wild waren. Das bin ich doch nicht.“ Wenn ihr so wollt, sagte der Vater; so muß ich aufhoͤren. „O nein! Vaͤterchen, rie- fen sie alle. Wir wollen gerne stille seyn.“ Die beyden wilden Maͤdchen konnten euch schwimmen, wie die Fische. Am Ufer fraßen sie sie die Fische, die sie gefangen hatten. Sie hatten schwarze krause Haare auf dem Kopfe, und sahen auch ganz schwarz von Moder aus. Zuweilen gaben sie einen hellen Laut von sich, wie die Wasservoͤgel. Konnten sie denn nicht sprechen? fragte Fritze . Das wirst du hernach wohl hoͤren. Jetzt gieb nur Achtung auf das, was ich er- zaͤhle. Bey den Fischen veruneinigten sie sich. Das eine schlug das andere mit einer kurzen dicken Keule auf die Hand; dieses aber schlug das andere mit seiner Keule gerade vor den Kopf, daß das Blut herunterlief, und es an die Erde fiel. Als es das sahe, mochte es ihm doch leid thun. Geschwinde liefs nach dem Wasser, holte Froͤsche, riß die Haut ab, und legte sie auf die Wunde, das Blut zu stillen. Das geschlagene erholte sich, und gieng wie- A 5 der der ins Wasser; das andere nach einem nahe gelegenen Dorfe. Fuͤr diesmal aber genug, und gute Nacht. Morgen Abend will ichs auserzaͤhlen. Die Kinder haͤtten gerne noch zugehoͤrt; aber der Vater sagte: Ihr habt hieran heute genug zu uͤberlegen, ob ihrs besser habt, als diese beyden armen wilden Maͤdchen. III. Fortsetzung des zweyten Stuͤcks. Von der Wohlthat einer guten Erziehung. A ls der Abend kam, und bald abgegessen war, sahen die Kinder den Vater schon darauf an, ob sie noch nicht aufstehen woll- ten. Endlich erscholl das angenehme Wort: Aufge- Aufgestanden. Da flog alles nach dem Vater zu, und sie trugen ihn bald hin zum Kanapee, wie die Kinder im Robinson den Vater nach der Laube schleppten. Das eine Maͤdchen, sagte ich doch zuletzt, gieng in ein nahe gelegenes Dorf. Da dach- ten die Leute, es waͤre ein Spuk, und hetzten einen großen Hund mit einem Stachelhals- bande auf dasselbe los. Baf! kriegte er mit der Keule eins vor den Kopf, daß er da lag. I! riefen die Kinder, uͤber das beherzte Maͤdchen! Hierauf lief es wieder aus dem Dorfe nach dem Flusse zu, und kletterte am Ufer auf einen hohen Baum. Dieser wurde mit Wache besetzt, und des andern Morgens, da es der Hunger heruntertrieb, nahm man es gefan- gen. Sechs starke Maͤnner hatten genug zu thun, ehe sie es zwingen und binden konn- ten. ten. Es war euch kein Affe, sondern ein wah- res Menschenkind. Als es gefangen wurde, heulte es, wie ein Wolf im Walde. Es lag wohl sechs Tage gebunden, und grunzte im- mer vor sich hin. Da man glaubte, daß es durch Hunger zahm geworden waͤre, band mans los, und zeigte ihm was zu essen. Es fiel gierig druͤber her; brach es aber wieder weg, weil es warm und gekocht war. Nun gab man ihm rohe Fische. Diese bekamen ihm wohl. Es soll doch nachher wieder ent- wischt, und davon gelaufen seyn. Man hat aber auf keine Weise erfahren koͤnnen, wie diese beyden Maͤdchen in die Wildniß gerathen waren. Doch muß es fruͤh in der ersten Kindheit geschehen seyn, weil sie der Wildheit schon so gewohnt waren. Spra- che, Verstand, alles fehlte ihnen. Denn sie hatten nie reden gehoͤrt. Es waren also nichts anders, als Thiere in Menschengestalt. Was Was sagt ihr nun, lieben Kinder: was denkt ihr bey dieser Geschichte? Ich gebe euch Zeit bis morgen Abend, euch davon unter einander zu unterreden. Dann wollen wir weiter davon sprechen. IV. Fortsetzung des dritten Stuͤcks. Von der Wohlthat einer guten Erziehung. Vater . W as meynst du, Lottchen? Du bist just zehn Jahre alt. Wolltest du dich wohl mit diesem wilden Maͤdchen aufgenommen haben? Lottchen . Ich zittre und bebe, lieber Vater! wenn ich nur an das Wasser, an die Fische, Fische, an den großen Hund gedenke: oder, wenn ich eine Nacht ohne Kleider, unter freyem Himmel, auf einem hohen Baum zubringen sollte. Dorchen . Ich friere schon vor dem bloßen Gedanken. Fritze . Ja! du auch. Du bist so wie But- termilch. Das wollte ich noch wohl aushalten. Vater . Seht mir doch den Held an. Nu, den muß ich fest halten. Fritze, Fritze , wie stehts aber ums Herz, wenn der große Hund kaͤme, oder wenn das Herrchen in die Elbe wandern sollte? Dorchen . Stille, stille! Daran hatte mein Fritzchen nicht gedacht. Vater. Fritze soll uns doch sagen, was dies wilde Maͤdchen vor euch — und was ihr vor ihm voraus habt? Fritze . Das will ich ihnen gleich sagen. Es konnte nackend gehen — rohe Fische essen essen — in dem tiefsten Wasser schwimmen und zurechte kommen — Tag und Nacht un- ter freyem Himmel liegen — auf die hoͤchsten Baͤume klettern, wie eine Katze — Frost und Kaͤlte — — alles ertragen — Es hatte vor nichts eine Furcht, schlug den großen Hund todt — Das alles kann ich nicht. Auch nicht eins von allen. Wills nur gestehen. Dorchen . Ha! ha! ha! Da kommen wir her. Das dachte ich wohl, daß es so kommen wuͤrde, wenn dir der Vater naͤher auf die Haut gienge. Vater . Getroffen, recht gut getroffen, Fritze . Das ist wahr. Das alles hat das wilde Maͤdchen vor euch voraus; aber woher mag das kommen? Fritze . Das weiß ich nicht. Lottchen . Das weißt du nicht? I, weil es von Kindheit an in der Wildniß gewesen war. Da mußte es sich wohl nach Nahrung umsehen. umsehen. Da probirte es alles. Da lernte es auch alles aus purer Noth. Da wurde es so hart, daß es alles ausstehen konnte, alles gewohnt wurde. Und da wurde es auch so wild, daß es nichts fuͤrchtete. So stelle ich mir die Sache vor. Vater . Weil es keine Gefahr kannte, willst du sagen. Ganz recht, meine Tochter. Fritze , kannst du das nicht begreifen? Fritze . O ja! nun recht gut. Vater . Wolltest du aber wohl mit dem wilden Maͤdchen tauschen? Es ist doch schoͤn, wenn man so alles ertragen kann, immer ge- sund ist, sich vor nichts fuͤrchten darf, und alles hat, was man braucht. Fritze . Das ist es wohl; aber ich mag doch nicht tauschen. Es war denn doch bey dem allen ein elendes wildes Maͤdchen, und aͤrger als ein Thier. Vater . Vater . Nein! mein Sohn. Es war ja ein Mensch, wie du bist. Fritze . Aber ich bin doch ein ganz anderer Mensch, wenn ich gleich das alles nicht kann. Vater . Warum denn das, lieber Fritze? das moͤchte ich wohl von dir hoͤren, und wuͤr- de mich freuen, wenn du es traͤfest. Lottchen . Lassen Sie mich, Vater! Lassen Sie mich. Fritze . Nein! ich wills sagen. Vater . Von dir, Lottchen , glaub’ ichs schon; aber laß Fritzen einmal seine Weisheit auskramen. Sage an. Fritze . Darum bin ich ein ganz anderer Mensch, weil ich sprechen, lesen, schreiben kann, und viel verstaͤndiger bin, als das dumme Maͤdchen. Waͤre ich in seiner Stelle gewesen, ich waͤre nicht auf den Baum, son- dern gleich wieder ins Wasser gegangen. Sie haͤtten mir wohl sollen vom Leibe bleiben. II Theil . B Lottchen . Lottchen . Ein Woͤrtchen, lieber Vater! Vater . Was denn? Lottchen . Sie wollten doch eigentlich wissen, was wir vor dem wilden Maͤdchen voraus haͤtten? Ach! die gute Erziehung, und den Verstand . Wenn die Leute im Dor- fe nicht Verstand gehabt haͤtten, so haͤtten sie das wilde Ding nicht einmal fangen koͤn- nen. Vater . Da hast du Recht, meine Toch- ter! und ich bitte euch gar sehr, lieben Kin- der! lernt ja die Wohlthat einer guten Er- ziehung recht dankbar erkennen. Ohne Er- ziehung waͤchst der Mensch auf wie ein Thier, wie ihr an dem wilden Maͤdchen sehet. Er kann nicht einmal seine Zunge und Sprache gebrauchen. Der Verstand kann nicht auf- kommen. Er bleibt ein Thier. Lottchen . Herzensvater! wir wollen das Gute nicht vergessen, das sie an uns thun. Ach! Ach! Gottlob, daß wir durch unsere lieben Aeltern vernuͤnftige Menschen sind! Fritze . Und durch sie so viel Gutes ler- nen — so viele Wohlthaten der Kleidung, ge- sunder Speisen, Bequemlichkeit, und so viele andere Freuden haben. Dorchen . Gott vergelte es ihnen. V. Kindergespraͤch vom Fruͤhlinge. Fritze . D as ist doch Schade, daß es nicht mehr so recht schneyen und frieren will. Ich bin dem Winter gar zu gut. Dorchen . Das wollte ich wohl rathen, warum du dem Winter so gut bist: daß du brav schlickern und auf dem Schlitten fahren kannst? Sonst wuͤßte ich doch eben nicht, B 2 warum warum du den Winter so lobest. Ich freue mich auf den schoͤnen May. O! wenn er doch nur erst da waͤre! Fritze . Wie kannst du doch meine Gedan- ken errathen? Just das wars. O! geh mir mit deinem May. Da lauft ihr Maͤdchen nach den Blumen, nach der Nachtigall, und nach solchen Possen. Da muß ich schon fruͤ- her aufstehen, als sonst. Und das liebe Bet- te — Wenns Mittag wird, da donnerts wohl gar, daß ich in den Keller kriechen moͤch- te. Ich lobe mir den Winter. Der ist noch einmal so gut. Wenn ihr da in den Ofen krie- chen wollt, so spanne ich mich mit einer Rot- te Jungen vor den Schlitten. Heysa! da gehts uͤber Stock und Block. Lottchen . Mich wunderts, Dorchen ! daß du dich mit dem unempfindlichen Jungen abgiebst. Er weiß nichts von dem, was schoͤn und angenehm ist. Stiefeln, ein Paar rauhe Hand- Handschuh, Peitsche und Schlitten — das ist was fuͤr ihn. Fritze , du moͤchtest nur ein Postillion werden. Fritze . Was gehts dich an, Lotte? Bleib du bey deinen Puͤppchen. Kuͤsse du dei- ne Maͤrzbluͤmchen und Veilchen, so viel du willst. Ich kuͤsse mir meinen Schlitten. Lottchen . Auch den Schnee, wenn du manchmal hineinpurzelst. Fritze . Ja! da wuͤrdest du dich anstel- len. Das moͤchte ich wohl einmal sehen: Ha! ha! ha! Dorchen . Ich goͤnne dir deine Lust ger- ne, lieber Fritze : auch daß du dem Winter so gut bist. Du hast eine schoͤne warme Stu- be, ein weiches Bette, ganze Struͤmpfe und Stiefeln, gute Winterkleider — und, wenn du des Abends von deiner Schlittenfahrt koͤmmst, ein warmes Suͤppchen. Nicht wahr? Da hat denn das Herrchen gut thun. B 3 Fritze . Fritze . Soll ich das nicht haben? Bin ich nicht so wohl Kind im Hause, wie du? Was mag das Maͤdchen wollen? Dorchen . Warum das nicht? Ich will dirs nicht nehmen. Wenn du aber ein armes Kind waͤrest, — keine ganze Schuhe, Struͤm- pfe und Kleider — oft kein Hemde auf dem Leibe haͤttest — wenn du dich des Abends mit Brod, Kaͤse und kaltem Wasser behelfen — und denn noch dazu auf dem Boden auf Stroh, unter ein Paar alten Lumpen schlafen muͤßtest, wo der Wind brav durchsauset, und dir der Schnee um die Ohren floͤge — Burr! da wuͤrde mein Fritze ganz anders sprechen, und den Winter nicht so loben. Fritze . Was gehen mich die armen Kin- der an? Die laß frieren. Dorchen . O Fritze! Lottchen . Sagte ich dir nicht, Dorchen , du solltest ihn laufen lassen? Er hat ein hartes Herz. Dorchen . Dorchen . Pfuy! schaͤme dich, Fritze , in deine Seele. Wer wird gegen arme Kinder so unbarmherzig seyn? Sinds nicht so wohl Menschen, als wir? Und der Vater sagt uns immer: wir sollen keinen verachten. Aber eins will ich dir nur noch sagen. Da bist du gestern Abend wieder auf dem Teiche gewesen, und hast geschlickert. Ich weiß alles. Der Vater hat dirs so oft verboten. Wie leicht kann das Eis brechen! so bist du weg. Wirst du das nicht bleiben lassen, so muß ichs dem Vater sagen. Diesmal aber will ichs noch nicht thun. Fritze . O! bitte, bitte, liebes Dorchen, sag’ es doch nicht. Ich wills nicht wieder thun. Lottchen . Seht doch, wie er nun bitten kann. Fritze . Wenn ihr sonst nichts wollt, als mich angeben, so koͤnnt ihr laufen. Fort! Es B 4 scheint, scheint, als ob es thauen wollte. Noch ein- mal muß ich recht Schlitten fahren. VI. Fortsetzung des fuͤnften Stuͤcks. Dorchen . W enn wir doch koͤnnten erst wieder in den Garten kommen! Bald, bald wird der Schnee weg seyn. Lottchen . Ich bin schon drinn gewesen, und habe Maͤrzbluͤmchen gepfluͤckt. Dorchen . Ach! die allerliebsten Bluͤm- chen! Und hast mir keine davon gegeben? Lottchen . Du weißt, Schwesterchen! daß ich dir von allem gebe, was ich habe. Aber diese hatte ich fuͤr unsere liebe Mutter gepfluͤckt, und ihr ein Straͤuschen davon ge- bunden. Ach! ich habe ja sonst nichts, was ich ich ihr fuͤr ihre Treue gegen mich wiedergeben koͤnnte. Wir haben eine gar zu gute Mutter. Dorchen . O! das haͤtt’ ich auch gerne gethan. Nicht fuͤr mich haͤtt’ ich sie haben wollen. Haͤttest du mir nur ein Paar gegeben. Du hast dir eine große Freude, mir aber eine große Traurigkeit gemacht. Lottchen . I, das dauert mich denn doch. Komm, liebes Kind, wir wollen zu- sehen, ob nicht noch ein Paar da sind. Dorchen . Was kann mir das nun hel- fen? Du hast doch die Freude zuerst gehabt. Daß ich doch daran auch nicht eher gedacht habe! Lottchen . Gieb dich zufrieden. Die Mut- ter wirds eben so gut aufnehmen, als haͤttest du ihr die Bluͤmchen mit mir zugleich gebracht. Dorchen . Nun das ist schoͤn. Komm, komm nach dem Garten. Da stehen denn doch noch ein Paar. Ueber die niedlichen Bluͤm- B 5 chen! chen! Ich bin den Dingern gar zu gut. Sie stehen da so frisch im Schnee — weiß, wie der Schnee, und fuͤhlen keine Kaͤlte. Andere Blumen koͤnnen das nicht ertragen. Und es sind die ersten, ach die ersten! Dann ist der Winter bald, bald vorbey. Die rechten Fruͤh- lingsbothen. Dann koͤmmt der schoͤne Som- mer. Heysa! lustig, da wollen wir recht springen. Ach wenn sich doch Muͤtterchen nur noch ein Bißchen uͤber meine Bluͤmchen freuen moͤchte! Lottchen (zur Mutter heimlich). Liebes Muͤtterchen! Dorchen ist herzlich betruͤbt, daß ich Ihnen die ersten Bluͤmchen gebracht habe. Es hat aber noch ein Paar gefunden. Die wird es Ihnen gleich bringen. O! freuen Sie sich doch daruͤber. Hoͤren Sie wohl? Thun Sie es mir zu Gefallen. Mutter . Das gute Kind! Und du, lie- bes Lottchen, komm her, laß dich kuͤssen, daß du du Dorchen auch noch eine Freude goͤnnen willst. Ich will mich recht freuen. Sorge nicht. Du sollst es sehen. Dorchen . Da, liebstes Muͤtterchen! noch ein Paar von den ersten Bluͤmchen fuͤr Sie. Aber ich komme leider zu spaͤt. Bloß fuͤr Sie habe ich sie gepfluͤckt. Nehmen Sie hin, beste Mutter! Ich wollte Ihnen auch gerne dank- bar seyn, fuͤr das viele Gute, das Sie an mir thun. Habe sonst nichts, gar nichts, ich armes Kind! Mutter . Gieb her, liebes Maͤdchen! Sie sind mir so lieb, als die ersten, die Lottchen brachte. Dein gutes dankbares Herz koͤmmt mir nicht zu spaͤt. Gleich, Sophie, ein Glas mit Wasser her, daß ich sie einsetze, und dem Vater zeige. Wie doch der liebe Gott fuͤr diese Bluͤmchen im Schnee gesorget, und sie erhalten hat! So sorgt er noch durch mich fuͤr dich. Deine Dankbarkeit ist mir sehr lieb. Du Du wirsts auch wohl gegen Gott seyn, der nun bald wird den schoͤnen Sommer kommen lassen, daß du dich recht freuen kannst. Aber zur Belohnung, daß du so dankbar an mich gedacht hast, sollt ihr heute Nachmittag zu- sammen in den Garten vor dem Thore gehen. Dorchen . Nun bin ich zufrieden, Lott- chen. Freue dich mit mir. Muͤtterchen hat meine Bluͤmchen nicht verachtet. Wir sollen in den Garten gehen, und die Kleinen mit- nehmen. Hanne soll auch mitgehen. Lottchen . Ich bin schon da. Fritze , willst du auch mit? Kommt, Ludchen und Riekchen, ihr sollt auch mit. Ach! was ich froh bin, daß ich einmal wieder in die freye Luft komme. Macht fort, kommt doch. Lauf hin, Hanne, schließ auf, daß wir, batter! batter! batter! nachkommen. VII. Be- VII. Beschluß des sechsten Stuͤcks. Dorchen . I ch muß doch einmal nachsehen, was meine im Herbst gepflanzte Baͤumchen machen. O! sieh doch, Lottchen ! Da stehen sie so frisch, als wenn kein Winter gewesen waͤre. Der liebe Gott hat sie auch erhalten. Fritze . Und ich will sehen, ob schon Maykaͤfer und Froͤsche da sind. Dorchen . Wo wollen die schon herkom- men. Es ist ja noch nicht im May. Du fragst doch bloß darnach, damit du was zu quaͤlen hast. Fritze . Recht will ich die braunen Husa- ren dressiren, wenn sie nur erst da sind. Ludchen . Da hucket en Fosch. Fritze . Wo? wo? Warte, dich will ich belauren. Lottchen . Lottchen . O! thue ihm nichts, Fritze ! ich bitte dich gar zu sehr. Das arme Thier hat dir ja nichts gethan. Es ist kaum erst wieder lebendig worden, und soll schon wie- der sterben. Fritze . Er soll sterben — Schau her. Ratsch! ratsch! wie ich ihn mit der Gerte zer- haue. Da haͤngen die Gedaͤrme heraus. Er huckt doch noch fort. Warte, willst du kuschen! Dorchen . Das arme Thier! Nu, Ge- duld! Das werde ich dem Papa sagen, daß du immer noch so grausam gegen die Thiere bist. Hast du schon vergessen, was der Papa neulich sagte, da du eine Maus so quaͤltest? Wer gegen die Thiere grausam ist, der wird es auch einmal gegen die Menschen seyn. Du hast uns unsere ganze Lust verderbt. Lottchen . Komm, Dorchen! Es ist ein haͤßlicher Junge. Mir thut das Herz im Leibe weh. weh. Ich kann den Anblick nicht laͤnger er- tragen. Hat der liebe Gott darum den Frosch den Winter durch erhalten, und wieder auf- leben lassen, daß du ihn so martern und zer- hauen sollst? Fritze . Laß die Kroͤte liegen. Was ist doch an einem Frosche gelegen? Lottchen . Wenn du mehr an den lieben Gott daͤchtest, der die Thiere zum Nutzen der Menschen so wunderbar erhaͤlt; so wuͤrdest du nicht so sprechen. Doch mit dir ist nichts anzufangen. Komm, Dorchen ! wir wollen ein Bißchen ans Wasser gehen. Dorchen . Du sagtest ja vorher: der Frosch waͤre wieder lebendig geworden. Ist er denn todt gewesen? Lottchen . Du warest nicht dabey, als uns neulich Abend unser Lehrer so viel Arti- ges von der Fuͤrsorge des lieben Gottes fuͤr die Thiere im Winter erzaͤhlte, daß ich bis in die die Nacht haͤtte zuhoͤren wollen. Da sagte er auch, daß die Froͤsche im Winter unten auf dem Boden im Wasser laͤgen, und todt waͤren. Dorchen . Wie koͤnnen sie denn wieder aufleben? Lottchen . Nicht ganz todt; sondern, als wenn sie schliefen. Im Fruͤhlinge aber, wenn das Eis weg waͤre, wachten sie wieder auf, und wuͤrden lebendig. Dorchen . I! das ist doch artig. Nun dauert mich der arme Frosch da noch mehr. Lottchen . Einige Schwalben sollen es auch so machen, und sich im Herbst haufen- weise ins Wasser stuͤrzen; andere aber weg- ziehen. Dorchen . Horch! da oben uͤber uns. Siehe da! Willkommen, das erste Schwaͤlb- chen! Wo mag das gesteckt haben? Schli- wick! da fliegt es hin. Riekchen . Riekchen . Kommt einmal hierher. Was da an der Laube sitzt? Eine kostbare Fliege. Lottchen . Stille, stille! Das ist die schoͤne blau- und rothe Goldfliege. Dich hab’ ich laͤngst gerne in mein Kaͤstchen haben wollen. (Fritze schlaͤgt mit dem Huthe darnach, und sagt: da hast du sie, und lacht sie aus). Lottchen . Es ist ein rechter Schaden- froh. Wo er einem Tort thun kann, das thut er nicht mehr, als gerne. Wie wuͤrde dir das gefallen? Wir werden diesen Abend genug zu erzaͤhlen haben. Dorchen . Komm, Lottchen ! wir wol- len nach Hause gehen, und ihn niemals wie- der mitnehmen. Mutter . Kommt ihr denn schon wieder, lieben Kinder? Es ist doch wohl nichts vor- gefallen? Ihr seht mir aber nicht so recht lustig aus. II Theil . C Lottchen . Lottchen . Das wuͤßte ich eben nicht. Dorchen . Ich auch nicht, liebe Mutter! Mutter . Nein! das ist nicht richtig. Nur heraus damit. Gewiß hat euch Fritze wieder alle Lust verderbt. Der Boͤsewicht! Lottchen . O Herzensmutter! aͤrgern Sie sich doch nicht. Sie wissen, daß wir nicht gerne angeben: haͤtten auch nichts gesagt, wenn Sie es nicht befohlen haͤtten. Er hat einen Frosch elendiglich zerhauen — die schoͤ- nen Fliegen verjagt, die wir fangen wollten, und uns allen Tort gethan. Dorchen . Ja! ich muß es auch gestehen Fragen Sie nur Hannen. Mutter . Wo ist Fritze? Was hast du heute wieder fuͤr gottlose Streiche gemacht? Diesen Abend geht der Herr ohne Essen zu Bette, und morgen wird ihm sein Huͤndchen, sein Vogel, sein Schlitten, und alles weg- genommen. Fritze . Fritze . Ach Mama! warum denn? ich bin grausam hungrig. Ich habe ja nichts gethan. Die Maͤdchen luͤgen. Mutter . Fragst du — luͤgst du noch lange? Wie dir das gefallen wird; so gefaͤllts den armen Maͤdchen, wenn du ihnen ihre Fruͤhjahrslust verdirbest. VIII. Vom nahe Aufsehen. E s ist ein großer Fehler, wenn sich die Kin- der bey dem Lesen und Schreiben so ge- woͤhnen, daß sie zu nahe oder zu dichte auf- sehen, und mit den Augen auf dem Papiere liegen. Sie haben davon einen doppelten Schaden . Erstlich, daß sie sich die Brust zusammendruͤcken, welches uͤberaus schlimme C 2 Folgen Folgen hat. Zweytens, daß sie sich gar bald kurzsichtig gewoͤhnen. Denn wenn man mit den Augen zu dichte aufliegt, und sich gewoͤhnt, alles nur ganz nahe nahe zu besehen; so oͤffnet sich der Stern, oder die Pupille im Auge zu stark. Und wenn das zu oft geschiehet; so bleibt sie zu weit of- fen stehen, daß man die Dinge in der Ferne nicht deutlich mehr erkennen, und bloß nur in der Naͤhe sehen kann. Das sieht erstlich schlecht aus, wenn man alles so dichte vor die Augen halten muß. Das ist zweytens sehr beschwerlich und unangenehm, wenn man in der Folge nur halb sehen kann, und, wenn man mit einem uͤber die Straße geht, immer fragen muß: wer ist das, der da herkoͤmmt, oder der da im Fenster sitzt? Das bringt einen drittens um manches Ver- gnuͤgen der schoͤnen Natur, welches diejeni- gen genießen, die gut in die Ferne sehen koͤn- nen. nen. Denn diese sehen zwanzigmal mehr Schoͤnes auf dem Felde, als diejenigen, welche kaum drey Schritte vor sich was erkennen koͤnnen. O Kinder! glaubt das eurem Vater, dem es Niemand in seiner Jugend gesagt hat, und der mit Schaden klug geworden ist. Euch wirds gesagt. Ihr werdet gewarnet. Huͤtet euch, daß ihr euch durch diesen schlimmen Gewohnheitsfehler nicht muthwillig um eure gesunden Augen bringet. Ihr gaͤbet hernach wohl viel drum, wenn ihr eure Augen wieder gut machen koͤnntet. Aber dann ist es zu spaͤt. Dann ist es nicht mehr zu aͤndern. Ich bitte dich gar zu sehr, sagte der Vater oft zu Karln : lege dich nicht so dichte mit den Augen drauf, wenn du liesest, oder schrei- best. Kannst du denn etwa nicht mehr sehen? Karl . O ja! dort an der Stubenthuͤr will ichs lesen. C 3 Vater . Vater . Wenn du das kannst, warum liegst du denn so dichte auf? Desto mehr bist du schuldig, deine gesunden Augen zu er- halten. Karl . Verderbe ich sie denn durchs dich- te Aufsehen? Vater . Allerdings. Du wirsts gewiß bereuen, wenn du nicht folgest. Siehe einmal Bernhards Fritzen an. Der arme Junge hat sich nun einige Jahre schon so gewoͤhnt, daß er auf zwanzig Schritte fast gar nichts mehr erkennen kann. Ist das nicht traurig? Karl . Das sollte ich gemerkt haben. Ich gieng gestern mit ihm uͤber die Straße. Da saß gegen uͤber ein Huͤndchen im Fenster. Gleich nahm er den Huth ab. Als ich fragte: wen gruͤßest du denn? „Da gegen uͤber sitzt einer im Fenster.“ Es ist ja ein Hund, sag- te ich. Da wurde er ganz roth im Gesicht. Das soll mir eine Warnung seyn. Vater . Vater . Als wir neulich den Springern auf dem Markte zusahen, fragtest du mich: Warum so viele junge Herren, die bey uns herumstanden, durch die Glaͤser guckten? Bloß deswegen, weil sie sich in der Jugend durch das dichte Aufsehen die Augen so verdorben haben, daß sie nun Glaͤser gebrauchen muͤs- sen, wenn sie etwas deutlich in der Ferne se- hen wollen. Haben sie nun einmal das Glas vergessen; so haben sie auch das Auge zu Hause gelassen. Karl . O Vater! das ist schlimm. Ich wills gewiß nicht wieder thun. Vater . Als wir neulich auf der Jagd waren, so stellte ich dich an einen Baum. Da kam der Jaͤger, und sagte: Er haͤtte wohl auf hundert Schritte einen Hirsch mit zwoͤlf Spitzen an seinem Geweihe gesehen: der also zwoͤlf Jahre alt waͤre. So weit und scharf konnten wir nicht einmal sehen. C 4 Karl . Karl . Ja! ich besinne mich. Ich wun- derte mich noch sehr daruͤber, daß der Jaͤger so weit sehen konnte. Vater . Diese Leute gewoͤhnen sich von Jugend auf, alles in der Ferne zu sehen. Da- her koͤnnen sie auch von weitem alles deutlicher erkennen, als viele andere. Du siehest daraus, daß man das Auge gewoͤhnen und verwoͤhnen kann, wie man will. Karl . Nu, nu! Sie sollen sehen, daß ich meine Augen gewiß nicht mehr verderben will. Vater . Das thue doch ja, lieber Sohn! um dein selbst willen. Das Auge ist ja der edelste Theil deines ganzen Koͤrpers. Es ist des Leibes Licht. Ein blinder Mensch ist der elendeste unter der Sonne. Schone ja deiner gesunden Augen, und verdirb sie nicht muth- williger Weise, durch das dichte Aufsehen . IX. Viel IX. Viel gelernt, und schlechte Sitten. L orenz hatte einen uͤberaus guten und faͤhi- gen Kopf. Er konnte in kurzer Zeit alles fassen und begreifen. Lesen, Schreiben und Rechnen war ihm wie nichts. Er lernte fleißig und gern. Er lernte viel, und mehr, als andere Kinder in seinen Jahren. Das war gut, und sehr zu loben. Aber eins fehlte ihm. Bey allem seinem Lernen hatte er sehr schlechte Sitten, und eine recht grobe bauernmaͤßige Auffuͤhrung. Er legte sich al- lerwegen, wo er war, auf die Stuͤhle, und mit den Armen auf die Tische. Wenn Leute da waren, hieng er sich an sie, oder uͤber sie her. Nichts Bescheidenes, Sittsames und Hoͤfliches war an ihm. Ueber Tische gab er gar nicht Achtung auf sich selbst; sondern hatte immer den Kopf voll Grillen. Das C 5 Fleisch Fleisch riß er mit den Fingern entzwey, leckte die Finger ab, und sperrte das Maul weit auf, wenn es ihm aufstieß, daß der Schall fein hoͤflich herausfuhr. Ueberdies war er unreinlich und saͤuisch. Haͤnde und Gesicht sahen immer aus, als haͤtte er in der Erde gewuͤhlt, und an seinem Munde konnte man noch sehen, was er gestern gegessen hatte. Kurz, Lorenz hatte uͤberaus schlechte Sitten, und war gar kein angenehmes Kind. Daher mochten ihn andere Leute auch nicht gerne leiden, wenn er gleich was gelernt hat- te. Denn er schlug das, was er gelernt hat- te, durch seine schlechten Sitten selbst wieder nieder, weil er alles so plump, so grob, so unhoͤflich an den Tag gab, daß mans nicht ausstehen konnte. Heinrich , sein Bruder, war ein ganz anderes Kind. Er lernte auch sehr gut, aber nur langsamer; doch lange so viel nicht, als jener. jener. Dagegen aber hatte er sehr feine und artige Sitten. Bescheiden, hoͤflich, gegen Jedermann freundlich und gefaͤllig: reinlich, ordentlich: bey Tische sittsam und maͤßig. Sich selbst, und seinen Koͤrper wußte er so artig zu tragen, daß es nicht zierig, sondern natuͤrlich war. Jedermann mochte ihn gerne um sich haben. In Gesellschaft war er kei- nem zur Last, und in seinem ganzen Betragen hatte er so viel Angenehmes, daß man ihn recht lieb hatte. Welches Kind hatte nun wohl den Vor- zug? Was hilft alles Lernen und Wissen, wenn es nicht auch die Sitten verbessert, daß man in der Welt fortkommen kann? Dadurch wirds erst Weisheit . Beyde Bruͤder sollten bey einem Kaufmann in die Lehre gebracht werden. Von beyden sollte er sich den aussuchen, den er behalten wollte. Was geschahe? Lorenz wurde zu- ruͤckge- ruͤckgeschickt, und Heinrich blieb da. Der Kaufmann schrieb dabey: „Obgleich Ihr Sohn Lorenz weit mehr „gelernt hat, als Heinrich: auch Eng- „lisch und Franzoͤsisch versteht; so kann „ich ihn doch wegen seiner schlechten „Sitten nicht behalten: Heinrich ist „mir viel lieber und brauchbarer. Ich „kann ihn doch unter Leute schicken.“ Das heißt denn wohl recht: Viel gelernt, und schlechte Sitten . X. Es X. Es ist nicht alles so, wie es scheint. L ernt das ja bey Zeiten, lieben Kinder! es ist eine Sache nicht allezeit so, wie sie scheint. Der Schein ist sehr betruͤglich, und diejenigen kommen manchmal schlecht weg, die sich durch den aͤußerlichen Schein verfuͤh- ren lassen. Karl und Fritze wollten sich einmal eine Schachtel suchen. Sie stoͤrten in einem alten Kuͤchenschranke herum. Da fanden sie ein Schaͤchtelchen mit einem weißen Pulver. Ha! ha! sagte Karl, das ist Zucker. Gleich wur- de gekostet, und alles aufgenascht. Nicht lan- ge nachher bekamen die Kinder grausames Reißen im Leibe. Denn es war Arsenik oder Rattenpulver gewesen. Der bloße Schein hat- te sie geblendet. Denn dieses Gift sieht accurat wie wie Zucker aus. Sie kamen kaum mit dem Leben davon. Womit spielst du denn da, Gustchen , fragte der Vater? „I! mit schoͤnen Gold- pfennigen.“ Es waren gelbe Zahlpfennige. Dem Kinde, das den Werth einer Sache noch nicht versteht, ist es einerley: es spielt mit Zahlpfennigen, oder mit Goldstuͤcken, wenn sie nur gelb aussehen, wie Gold. Ist aber der bloße gelbe Schein, oder die Farbe das, was das Gold zum Golde macht? Nein! nicht der Schein, sondern der innere Werth. Da- her pflegt man auch im Spruͤchwort zu sagen: Es ist nicht alles Gold, was glaͤnzt, oder wie Gold aussieht . So ist es mit vielen Dingen in der Natur. Wenn du in der Allee stehst, Fritze , und siehst herunter, so laͤßt es, als ob sie unten spitz zusammenliefe. Wenn du oben vom Thur- me me herunter siehest, so lassen die Leute unten viel kleiner, als du bist. Wenn du ins Was- ser siehst, so praͤsentiren sich alle Thuͤrme, Haͤuser und Baͤume verkehrt. Wenn du des Abends auf dem Felde bist, daß die Sonne untergehen will, so ist der Schatten des Thurms wohl zehnmal laͤnger, als der Thurm selbst ist. Dein gruͤnes Kleid sieht des Abends bey Lichte blau, und dein blaues gruͤn aus. Was sind das fuͤr Glaͤser, sagte Dorchen zu Fritzen , die da mit Wasser auf der Bank stehen? Fritze . Der Vater hat sie dahin gesetzt. Sie sollen rein werden. Bleib ja davon. Dorchen . Da unten in dem einen liegt ein schoͤnes Kaͤferchen. Fritze , hol es doch mit deinem Stocke heraus. Fritze . Das will ich wohl thun. Dorchen . Wo willst du doch mit dem krummen Stocke das Ding heraus kriegen? Fritze . Fritze . Was sprichst du da? Mein Stock ist so gerade , als er seyn kann. Dorchen . Es ist nicht wahr. Er ist so krumm, wie mein Ellbogen. Fritze . I! so siehe doch her. Da hab’ ich ihn herausgezogen. Wo ist er denn nun krumm? Dorchen . Nu! das begreife ich doch nicht. Was hab’ ich denn gesehen? Im Was- ser war er dir ganz krumm. Du kannsts glauben. Fritze . Wer weiß, was du gesehen hast? Dorchen . Thue mir den Gefallen, Fritze , und stecke den Stock noch einmal ins Wasser. Fritze . Da steckt er. Dorchen . Nun, so komm doch her. Ich habe doch recht. Ist er nicht so krumm, wie ein Fidelbogen? Fritze . Ja! wirklich auch. Aber der Stock ist doch gerade. Dorchen . Dorchen . Da koͤmmt der Vater. Hoͤren Sie doch! Fritze will mir das absolut ab- streiten. Der Stock da im Wasser waͤre nicht krumm. Sehen Sie nur, wie krumm er ist! Fritze . Er ist doch gerade, du magst sa- gen, was du willst. Vater . Kinder! ihr habt beyde Recht. Der Stock ist eigentlich gerade. Da hat Fritze Recht. Im Wasser aber ist er krumm. Da hat Dorchen Recht. Fritze . Wie geht denn das aber zu? Vater . Das scheint nur so; ist aber nicht wirklich so. Fritze . Das scheint nur so, sagen Sie? Aber ich sehe ihn doch krumm, und was ich sehe, muß doch wahr seyn. Vater . Nein! mein Sohn. Das wirst du kuͤnftig in der Welt noch oft erfahren, daß das nicht alles wahr ist, was nur so scheint . Jetzt verstehst du das noch nicht. Daß du II Theil . D den den Stock im Wasser krumm siehest, das koͤmmt von der Brechung des Lichts im Was- ser gegen den Stock und dein Auge her. Da- her konntest du ihn auch nicht eher krumm se- hen, bis du dahin tratest, wo Dorchen stand. So eben bringt Marie kleine Fische. Laß dir einmal ein Paar geben. Wir wollen sie in dies Glas thun. Da stehen sie nun unten im Glase auf dem Boden. Nicht wahr? Fritze . Ja! Vater. Vater . Nun tritt einmal hierher. Wo siehst du sie nun? Fritze . Oben am Wasser. Vater . Da sind sie aber nicht wirklich. Das scheint auch nur so. Du sollst es gleich sehen. Ich will nur das Glas ein Bißchen schuͤtteln, so werden sie gleich von unten her- aufkommen. Fritze , Sieh doch! sieh doch! Das laͤßt ja possirlich. Vater . Vater . Dergleichen Dinge giebt es noch mehr in der Welt, die einen falschen Schein haben, und die wir bloß durch unsern Ver- stand muͤssen unterscheiden lernen. Daher las- sen sich Kinder noch so oft durch den falschen Schein verfuͤhren, weil sie noch nicht viel ge- lernt haben. Komm einmal mit herein. Ich will dir ein vieleckig geschliffenes Glas weisen. Gucke einmal herein. Fritze . Ich sehe mein Gesicht wohl hun- dertmal. O! das ist ja was scharmantes. Vater . Lerne daraus, mein Sohn! daß du kuͤnftig ja nicht nach dem bloßen aͤußer- lichen Scheine urtheilest. Du wirst noch man- ches Unangenehme in der Welt erfahren. Das scheint dir Ungluͤck und lauter Boͤses zu seyn. Und es ist doch lauter Gutes, weil es Gott so kommen laͤßt. Gottes Wege scheinen uns oft so krumm zu seyn, wie der Stock im Was- D 2 ser, ser, und sie sind eigentlich doch gerade, hei- lig und gut. Es war einmal ein armer, armer Knabe , der fruͤh Vater und Mutter verloren hatte. Er schien von allen verlassen zu seyn, und wußte nicht, wie er durchkommen wollte. Und siehe, es kam ganz anders, als es schien. Der Anfang seines Lebens schien sehr krumm. Es nahm ihn ein reicher Herr zu sich. Der starb. Nun kam er zu einem Kaufmann. Der starb auch. Doch hatte er da Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. O wie kuͤmmerlich mußte er sich manchmal durchhelfen! Er half sich aber ehrlich, ohne Trug, Diebstahl und verbotene Mittel durch. Er war fleißig und maͤßig — fieng mit drey Groschen einen klei- nen Handel an, und ist nun ein reicher wohl- habender Mann. Der Ausgang war gerade, wie der aus dem Wasser gezogene Stock. Ist Ist nun noch alles so, lieber Fritze, wie es scheint? XI. Der Bauer und die Nachtigall. O ! koͤmmst du, liebe Nachtigall? Mit dir koͤmmt Freud und Lust. Du singest Freuden uͤberall In meine frohe Brust. Wo Menschen sind, da bist du gern, Recht wie ein Menschenfreund: Wenn irgend in der Naͤh’ und Fern Ein armer Bruder weint. Da singst du denn so mild und schoͤn, Daß einem’s Herze quillt, Und sich gar bald im Ummesehn Die Thraͤnenquelle stillt. D 3 Juͤngst Juͤngst weint ein armer Landmann sehr — Er hatte kaum noch Brod — Der Frohnvogt grausam hinterher — Ach sprach er: lieber Gott! Gieng traurig in den nahen Wald, Wo er mit Thraͤnen saß; Da hoͤrt er dich, daß er gar bald Des Weinens ganz vergaß. Du, sprach er, liebes Voͤgelchen! Das unser Herr Gott schuf, Bist lustig, wie ein Engelchen, Wie elend mein Beruf! Doch zage nicht, du armes Herz! Hier ist noch eine Hand. Hau ab das Holz. Weg ist der Schmerz! Denn Arbeit ist mein Stand. Baf! Baf! giengs muthig an den Stamm, Die Spaͤne stoben schon. Die Die Nachtigall geflogen kam, Mit ihrem Freudenton. Sah zu, wie saur’s dem Bauer ward, Und wie sein Schweiß hinfloß; Sang lieblicher nach ihrer Art: Sein Muth ward froh und groß. Noch mal so gern arbeit ich hier, Du machst mirs Herze froh. Wer fuͤr dich sorget fuͤr und fuͤr, Dem trau ich eben so. Der dir das liebe Kehlchen gab, Giebt Rettung in der Noth: Nahm mir schon manche Sorge ab: Sey Lob dem lieben Gott! D 4 XII. Die XII. Die Maus und die Katze. E s war einmal ein Maͤuschen in einer Kinderstube, das nur des Abends vor kam, und die Kruͤmchen von dem Butterbrode der Kinder aufsuchte. Ein großer Kater lag auch immer in die- ser Stube den ganzen Tag auf den Betten herum, und pflegte sich recht gut, wie ein Faulenzer. Des Mittags fraß er sein Suͤpp- chen so gut, wie es die Kinder hatten. Denn er war unverschaͤmt genug, mit den Kindern in der Aeltern Stube zu Tische zu gehen. Wenn nun des Abends sich das arme Maͤuschen nur blicken ließ, so paßte er auf, und wollte es fangen. Dies war aber so schlau, daß es sich nicht weit vom Loche verstieg. Daher der Kater manchen vergeblichen Sprung that, daß die Kinder Kinder was zu lachen hatten. Endlich, da er auch einmal das Maͤuschen ins Loch gejagt hatte, und vor dem Loche lauerte, kehrte sich dies um, und sagte: „Du Grausamer! was habe ich dir ge- than, daß du mir so nach dem Leben trachtest? Ich thue hier keinem was zu Leide. Was nehme ich dir? Ich behelfe mich bloß mit den Kruͤmchen, die an der Erde liegen, und keinem zu Gute kommen. Wie gut hast du es! Und nun goͤnnst du mir nicht einmal die Kruͤmchen, die du doch nicht magst; sondern trachtest mir auch nach dem Leben. Ist das wohl Recht?“ Der Kater streichelte sich den Bart, leckte seine Pfoten, und sprach: Du dumme Maus! Das verstehst du nicht besser. Das ist meiner Natur, meinem Beruf gemaͤß, daß ich dich D 5 fresse. fresse. Komm nur heraus, so sollst du es bald erfahren. Ists unter Kindern wohl anders? Wie manches Kind, das es recht gut hat, wird durch die zu guten Tage faul und neidisch , wie dieser Kater, und goͤnnt den andern die Luft und Brodkrumen nicht! Wie manches Kind, das vornehmer und reicher ist, als andere, wird grausam und hart gegen arme und geringere, und denkt: Das ist meinem Stande gemaͤß! XIII. Der XIII. Der Traum . E s war einmal ein Vater, der hatte sieben Kinder: vier Soͤhne, August, Jacob, Lorenz und Heinrich , und drey Toͤchter, Dorchen, Lottchen und Albertine . An einem schoͤnen Sommerabend gieng der Vater mit seinen sieben Kindern spatzieren. Es war eine angenehme Wiese, wo ein sanfter Bach herunterfloß. Da setzte sich der Vater an den Bach, und sahe zu, wie die muntere Jugend, wie die kleinen Heuschrecken, im Gra- se herumhuͤpfte. Nun, sprach er bey sich selbst, will ich doch einmal Achtung geben, was sie vornehmen. Vielleicht hab’ ich hier Gelegenheit, ihre Neigungen und Gesinnun- gen zu erforschen. August lief hinter die Schmetterlinge her, konnte sich sehr uͤber ein Bluͤmchen freuen, nahm nahm hernach ein Buch, setzte sich auch an den Bach, und las. Jacob schnitt sich Ru- then, hieb die Blumen ab, und peitschte Froͤ- sche todt. Lorenz legte sich ins Gras, starrte den Himmel an, empfand nichts, und wollte schlafen. Heinrich schlich herum, bald zu diesen, bald zu jenen, und suchte den andern heimlichen Tort zu thun. Dorchen hatte ihr Strickzeug bey sich, war fleißig, wandelte mit langsamen Schritten am Bache herunter, und vergnuͤgte sich besonders an dem Fleiß der emsigen Bienen, die von einem Bluͤmchen zum andern flogen, und ihre Hosen recht dicke voll gefuͤllet hatten. Lottchen flatterte hier und da herum, und wußte selbst nicht, was es wollte. Albertine aß bestaͤndig Rosinen und Mandeln aus der Ficke, und bekuͤmmer- te sich sonst um nichts. Der Vater saß ganz stille, und beobach- tete die Handlungen seiner Kinder. Als es Zeit Zeit war, giengen sie nach Hause, und legten sich zu Bette. Der Vater aber lag noch eine geraume Zeit, und konnte nicht einschlafen. Er bat Gott, daß er doch seine Kinder segnen, und im Guten erhalten wolle. Da kam ihm auf einmal der Gedanke ein: Was wird doch aus allen den sieben Kindern in der Welt wer- den: wo werden sie hinkommen, und wie wirds ihnen gehen? Mit diesem Gedanken schlief er ein, und hatte folgenden Traum. Es kam ihm vor, als waͤre er noch auf der Wiese, wo er den Tag vorher mit den Kindern gewesen war. Da trat eine schoͤne Frauensperson zu ihm, die wie die Gesund- heit aussah. Sie gab ihm die Hand, und er wunderte sich, daß sie so hart war, wider die Gewohnheit der meisten Frauenzimmer. Folge mir, sprach sie, und nun fuͤhrte sie ihn durch verschiedene Gegenden in ein ange- nehmes nehmes Lustwaͤldchen, eben da die Sonne auf- gieng. Sie aber verschwand. Voll Verwunderung gieng er da eine Wei- le herum, und es war ihm alles unbekannt. Endlich begegnete ihm ein Prediger mit vier gesunden und muntern Kindern. Er gieng ihm naͤher, und fragte, wo er waͤre? „Sie sind im Thuͤringischen, sagte der Mann, mit einer ungemeinen Freundlichkeit, nicht weit vom Schwarzwalde, und steckte das Buch ein, wo ich nicht irre: Sulzers Unterredun- gen uͤber die Schoͤnheiten der Natur, worinn er gelesen hatte. Und was machen sie denn schon so fruͤh hier, fragte er den Prediger? Auch die Kin- derchen da — koͤnnen denn die schon so fruͤh aufstehen? „Ich, sagte der Prediger, habe hier eine sehr maͤßige Landpfarre; aber durch meinen Fleiß erhalte ich mich und meine Kin- der sehr gut. Denn man braucht wenig, um vergnuͤgt vergnuͤgt und zufrieden zu seyn. Schen sie meine Haͤnde, wie hart sie sind! Kinder! zeigt einmal eure Haͤnde.“ Die waren auch zur Arbeit gewoͤhnt. „Und der liebe Gott erhaͤlt uns gesund. Alle Morgen gehe ich mit Auf- gang der Sonne mit meinen Kindern hierher. Da staͤrken wir uns erst zur Arbeit, und lo- ben den lieben Gott, daß er in seinen Werken so viel Schoͤnes und Gutes fuͤr uns bereitet hat. Die Kinder laufen denn hinter die bun- ten Schmetterlinge her, fangen sich welche, sammlen sie sich in Kaͤstchen, wie ich es sonst in meiner Jugend machte; ich aber erklaͤre ihnen dabey, wie der liebe Gott so gut und vaͤterlich gegen alle seine Geschoͤpfe sey. Da leben wir denn zusammen recht vergnuͤgt.“ Um Vergebung, fragte der Vater den Pre- diger, wie heißen sie denn? „Ich? August Gottlieb ****“ Wo sind sie denn her, und wer war ihr Vater? Er sagte es ihm auch. Da Da stand der Vater wie versteinert. Denn es war sein August , der auf der Wiese hinter die Schmetterlinge herlief. Er wollte ihn um- armen; allein er erwachte, und hatte das Kopfkuͤssen im Arm. Doch schlief er bald wieder ein. Da er- schien ihm abermal das Frauenzimmer mit den harten Haͤnden, und sagte: Ich bin der Fleiß . Darum habe ich so harte Haͤnde. Deinem August wirds wohl gehen. Denn er ist fleißig. Und er wird das werden, wie du ihn gesehen hast. XIV. Fort- XIV. Fortsetzung des dreyzehnten Stuͤcks. G leich nachher kam es ihm vor, als waͤre er im Kriege auf einem Schlachtfelde. Da war ein Trommeln, Schießen, Kanoni- ren, Rufen und Schreyen, daß es erschreck- lich war. Da lagen so viele Todte und Ver- wundete, daß er sich der Thraͤnen nicht ent- halten konnte. Er lief weg von dem Schlacht- felde; sah aber an einem Berge einen Ver- wundeten liegen, dem eine Kanonenkugel das rechte Bein weggenommen, und der sich sehr uͤbel hatte. Er hob ihn auf, und trug ihn ins naͤchste Dorf. Es war ein junger wackrer Mensch. „Ach! sagte er, haͤtt’ ich meinen Aeltern gut gethan, so waͤr’ ich nicht in dies Ungluͤck ge- kommen. Ich war von Kindheit auf grausam gegen die Thiere. Dadurch wurde ichs auch II Theil . E gegen gegen die Menschen. Mein ganzer Sinn stand nach Krieg und Morden. Ich kam unter die Soldaten, und nun ist mirs so ergangen.“ Mein Gott! sagte der Vater, ich sollte ihn ja kennen. Die Stimme ist mir so bekannt. „Ich heiße so und so“ — Da wars sein Ja- cob , der auf der Wiese die Froͤsche so zerhieb. Er that einen lauten Schrey, und erwachte. Da er bald wieder einschlief, so traͤumte er weiter: er waͤre in einem großen praͤchtigen Hause. Da wurde an einer langen Tafel ge- speist; hernach gespielt, getanzt, musicirt; und es war da nichts, dem Scheine nach, als lauter Freude. Im Saale aber saß ein junger un- gesunder kraͤnklicher Mensch, in einem großen Lehnstuhle, mit Kuͤssen bedeckt, der dem allen mit der traurigsten Miene zusah, und alle Augenblicke vor Schmerzen aufschrie. Die Bedienten brachten ihm ganze beschriebene Bo- gen, die er zur Erde warf, und mit Fuͤßen trat. Er Er konnte sich das alles nicht erklaͤren, bis ein alter verstaͤndiger Mann zu ihm kam, und ihn bey Seite zog. „Sie sind, sagte er, wie es scheint, hier fremd, und wundern sich uͤber die Wirthschaft. Der kranke Herr dort ist der faulste Mensch von der Welt, der auch gar nichts thut, als essen, trinken, schlafen. Er wurde bettelarm. Da that er von seinem Onkel aus Ostindien eine reiche Erbschaft. Aber nun wurde er ein dummer Verschwender, soff und fraß sich krank, wie sie sehen. Den- noch muß das Wohlleben fortgehen. Andere zehren ihn aus, und er hat schon so viele Schulden, daß alle Augenblicke bogenlange Rechnungen kommen, die er vor Unmuth mit Fuͤßen tritt.“ Was ist er denn fuͤr Herkommens, frag- te der Vater? Der Mann nannte seinen Na- men, und setzte hinzu: Sein Vater soll ein bra- ver Mann gewesen seyn. Gott! wie erschrak E 2 der der Vater, da er erfuhr, daß es sein Lorenz war, der auf der Wiese im Grase lag, und sich vor Faulheit nicht lassen konnte. Er wollte hin zu ihm nach dem Stuhle, stolperte aber uͤber eine Schwelle, und erwachte. Er schlief noch einmal ein, und nun traͤum- te ihm, daß er in einer großen Stadt die oͤf- fentlichen Haͤuser besaͤhe. Er kam auch ins Zuchthaus. Da sahe er allerley Elende und Boͤsewichter. Unter andern einen jungen Men- schen, der bey der Arbeit fast immer Schlaͤge bekam. Warum schlaͤgt er denn den Menschen noch? fragte er den Zuchtmeister. Er thut ja seine Arbeit. „O! sagte dieser, das ist mir der rechte. Das ist ein Erzboͤsewicht, der es nicht lassen kann, unter der Arbeit und den haͤrtesten Strafen andern Tort zu thun. Sehen sie nur, da hat er dem einen Knechte die Struͤmpfe und Stiefeln zerschnitten. Da hat er Schwefel angelegt, und das Haus wollen in in Brand stecken. Da hat er das Raspeleisen eingefeilt, daß es brechen muß. So hat ers von Kindheit auf getrieben. Seinen Aeltern ist er davon gelaufen, und endlich, da er al- len Menschen Tort gethan, ist er ins Zucht- haus gekommen, wo man ihn noch nicht baͤn- digen kann.„ Wie heißest du denn, fragte er ihn, wo- bey es ihm kalt uͤber die Haut lief, als ob ihn was ahndete. Er sagte seinen Namen, und er fiel in Ohnmacht. Denn es war sein Heinrich , der auf der Wiese herumschlich, und allen Kindern Tort that. Als er erwach- te, lag er zu den Fuͤßen im Bette. E 3 XV. Fort- XV. Fortsetzung des vierzehnten Stuͤcks. V or Unruhe schlief er wieder ein, und nun war er auf einem schoͤnen Landgute, wo alles in der besten und herrlichsten Ordnung war. Er gieng in den großen Garten, und es wollte Abend werden. Da begegneten ihm in der einen Allee der Herr und die Frau des Hauses — Arm in Arm geschlungen — und muntere Kinder huͤpften um sie her. Die Frau war uͤberaus reinlich gekleidet, hatte ihre Schluͤssel und Strickzeug an sich, und die Kinder trugen ein Koͤrbchen mit Buͤchern. Sie redeten ihn freundlich an, und die Frau sagte: Sie wollen sich gewiß in unserem Garten besehen. Leben sie aber auch so gluͤck- lich, als ich? Ich habe den besten Mann von der Welt. Da kuͤßte sie ihn. Das thaten die Kinder auch unter einander. Meine Neigung war war von jeher nach dem Landleben. Ich lieb- te daher Fleiß, haͤusliche Wirthschaft, Ord- nung und Reinlichkeit sehr. Daneben aber konnt’ ich mich uͤber die schoͤne Natur nicht genug freuen. Gott hat meinen Wunsch er- fuͤllt, und mich hierher gefuͤhrt, daß ich so gluͤcklich geheyrathet habe. Ich hatte nichts von meinen Aeltern; aber dieser Geliebte sah auf mein Herz, auf meine Tugend, und auf meinen Fleiß. Er liebt die schoͤne Natur, als ein Freund Gottes, eben so sehr. Da haben wir so eben etwas aus Sanders Großem und Schoͤnem in der Natur gelesen. Er konnte sich nicht enthalten zu fragen: wer denn ihre Aeltern gewesen waͤren? Auf ihre Antwort fiel er ihr um den Hals. Denn es war sein Dorchen , das er immer vor allen andern so lieb hatte. Indem schlug seine Uhr am Bette, und er erwachte zu seinem groͤßten Verdruß. E 4 Er Er wuͤnschte wieder einzuschlafen, und es geschah. Da war er im Traum auf der Land- straße. Es begegnete ihm ein nachlaͤßig ge- kleidetes wildes Maͤdchen. Woher, und wo- hin? rief er sie an. „Da vom Amte, war die Antwort. Da kann ich nicht bleiben. Die Amtmaͤnninn ist ein naͤrrisches Weib. Das praͤtendirt den ganzen Tag nichts, als Ord- nung und Arbeit. Wer kann das ausstehen?“ Und darauf lief es fort. Er gieng weiter. Da kam der Schulmei- ster aus dem Orte hinter ihm her. Er erkun- digte sich bey ihm nach dem Maͤdchen, das ihn eben verlassen hatte. „Ja, sagte der, das ist mir die rechte. So ein flatterhaftes tolles Maͤdchen hab’ ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Es ist auch gar nichts mit ihm an- zufangen. Auf dem Amte gieng es ihm recht gut. Es war Kammermaͤdchen, Ausgeberinn, und alles im Hause. Aber es konnte nicht bleiben. bleiben. Denn das sind ordentliche Leute, merken Sie wohl. Alles verdarb es. Alles vergaß es. Alles machte es verkehrt. Da haben sie es laufen lassen. Es kann bey kei- ner Herrschaft bleiben, und hat wohl schon zehn Herren gehabt.“ Wo ist es denn her, fragte er weiter, und hoͤrte, daß es sein flatterhaftes leichtsinniges Lottchen war, das sich zu nichts hatte be- quemen wollen, und bey dem er immer so viele Faulheit und Unordnung bemerkte. Er wollte hinterher laufen; der Schulmeister aber hielt ihn beym Rocke, und fragte, was ihm fehlte. Da erwachte er. Zuletzt traͤumte ihm: er waͤre in Pommern bey einem guten Freunde, den er in vielen Jahren nicht gesehen hatte. Als sie nun recht vergnuͤgt zusammen saßen, kam der Bediente, und sagte: es waͤre eine Frauensperson draus- sen, die bettelte, und wollte sich nicht abwei- E 5 sen sen lassen. Sie giengen heraus, und fragten, was sie wolle? „Ach! sagte sie, das ist mir bey der Wie- ge nicht gesungen, daß es mir noch so gehen sollte. Aber ich bin leider selbst Schuld daran. Ich hatte brave Aeltern, und heyrathete auch einen guten Mann. Aber meine Unordnung, und mein naschiches Wesen, das ich mir von Kindheit an angewoͤhnt hatte, brachten mich bald in Armuth. Mein Mann graͤmte sich bald todt, und nun muß ich betteln gehen. Erbarmen Sie sich doch uͤber mich. Ich bin genug gestraft.“ Wer waren denn eure Aeltern, fragte er? Als sie ihren Namen sagte, fuhr er so zusam- men, daß er aus dem Bette fiel, und erwach- te. Denn es war seine naschiche Albertine . Der Vater stand nach diesen Traͤumen auf, und war so unruhig, daß er sich nicht zu lassen wußte. Ach Gott! sprach er: so sollte sollte es meinen Kindern gehen? Das verhuͤte doch Gott! Er hat mich gewarnt, und ich will meine Kinder wieder warnen, und ihnen bey Zeiten die Fehler abgewoͤhnen, die sie zu dem Ungluͤck bringen koͤnnten, das mir von ihnen getraͤumt hat. Kaum war es Tag geworden, so ließ er die Kinder zusammenkommen, und erzaͤhlte ihnen seinen Traum, den er von jedem gehabt hatte. Die Kinder weinten, fielen ihm um den Hals, und versprachen sich in allem zu bessern. Sie richteten sich auch alle nach Au- gusts und Dorchens Exempel, und entgien- gen dem Ungluͤck, das dem Vater getraͤumt hatte. Denn es war noch nicht wirklich da, sondern nur ein Traum . XVI. Kleine XVI. Kleine Ursache, und großer Laͤrm. D ie Unwissenheit in solchen Dingen, die ganz natuͤrlich zugehen, macht den Leu- ten oft viel vergebliche Furcht und Schrecken Wenn sie sich denn dergleichen Erscheinungen nicht erklaͤren koͤnnen, so koͤmmt der Aberglau- be mit seinen hochgelehrten Anmerkungen da- zu. Und dann giebts possierliche Auftritte. Wie gut ists daher, Kinder recht fruͤhzeitig mit den Wirkungen der Natur bekannt zu machen, damit ihnen manche Dinge nicht so wunderbar und schreckhaft vorkommen. Denn es kann oft eine kleine Ursache einen großen Laͤrm machen . „Wie meynen Sie das, Vater? sagte Moritz : das verstehe ich noch nicht: Kleine Ursache, und großer Laͤrm? “ Du sollsts gleich erfahren. Hoͤrt zu, Kinder! Ich will euch euch davon ein gar lustiges und laͤcherliches Histoͤrchen erzaͤhlen, das ich selbst erlebt habe. J! Dorchen , du mußts noch wissen. Denn du erklaͤrtest hernach die ganze Sache. Wir saßen einmal vor einigen Jahren des Abends ganz ruhig in der Stube. Es war so zu Ende des Octobers. Da entstand in der Nachbarschaft ein entsetzlicher Laͤrm: in des Sattlers Stalle waͤre Feuer. Die Leute liefen zu, und die Spritzen kamen angefah- ren. Ich gieng gleich heruͤber, und konnte erst vor dem Volke nicht durchkommen. Der Mann war des Todes. Ich fragte: wo ist denn das Feuer? „Hinten im Stalle solls brennen, und doch sehen wir weder Rauch, noch Flamme.“ Ich draͤngte mich durch. Als ich in den Stall kam, brannte hinter dem Futterkasten ein allerliebstes blaugruͤnes Licht- chen, ganz scharmant anzusehen. Das war nun die ganze Sache. Ich Ich hatte nur genug zu thun, den Tumult erst zu stillen, und die Leute zu bedeuten, daß es kein brennendes Feuer waͤre, das Schaden thaͤte. „He siht doch wol, sagte ein grober Knecht, dat et brennt. Water her.“ Klatsch! goß ers druͤber her. Und in einem Weilchen brannte das Lichtchen ruhig fort. „Dat geit nich von rechten Dingen tau, sagte eine alte Frau. Da steit wißlich en Schatz, un de Boͤse het dabi syn Speel.“ „Schmeißt doch ein Tuch drauf, sagte ein anderer. Sonst sinkt der Schatz.“ Leute, sprach ich hierauf, seyd doch ruhig, und bringt den Mann nicht ins Ungluͤck. Er hat ja so schon Schaden genug im Hause von dem vergeblichen Laͤrm. Es ist nichts, gar nichts. Ihr sollts sehen. Seyd nur ruhig, und geduldet euch einen Augenblick. Ich will mein kleines Maͤdchen holen. Das soll euch die ganze Sache erklaͤren. Geschwind Geschwind holte ich dich, Dorchen , weißt du noch wohl? brachte dich in den Stall, und sagte: Was ist das, was da brennt? O! stil- le, stille! sagtest du. Ich wills kriegen. Und baz! warst du mit der Hand drauf. Die Leu- te erschraken uͤber deine Dreistigkeit, und du sagtest zu ihnen: kommt herein in die Stube. Da will ichs euch weisen. „Es ist ein kleines Wuͤrmchen, wie eine Made, mit sechs Fuͤßen. Am ganzen Leibe lauter Ringe. Und unten sind zwey von den letzten Ringen, die leuchten so schoͤn. Es ist ein Johanniswuͤrmchen . Ich habe sie oft schon des Abends draußen im Grase gesehen. Aber die fliegenden Maͤnnchen in der Luft solltet ihr erst sehen. Wie tausend Sternchen. O! das sieht scharmant aus. Wie tausend Lichterchen um einen Busch herum — Kommt nur erst in die Stube.“ Die Die Leute sahen das Kind an, wie es da perorirte, und sein Haͤndchen dicht zuhielt. Sie giengen mit in die Stube. Nun gebt mir, sagte Dorchen, ein Blatt weißes Papier. Da that es das Stroh, und was es mit der Hand im Stalle aufgenommen hatte, auf das Papier. Siehe, da lag das Wuͤrmchen, und da das Licht weggesetzet wurde, leuchtete es noch eben so schoͤn, als im Stalle. Da schuͤttelten die Leute den Kopf. „Wißt ihr, sagte Dorchen, wie es in den Stall ge- kommen ist? mit dem Heue fuͤrs Pferd.“ Da lachten die Leute, schaͤmten sich, und giengen sachte aus einander. So mußte ein sechsjaͤhriges Kind alte Leu- te bekehren! War das nicht eine kleine Ur- sache, und großer Laͤrm? Fast eben so giengs einmal auf einem Dor- fe mit einer alten Frau. Die findet alle Mor- gen ihr Strickzeug in der Stube zerfressen. Sie Sie legts in den Schrank, und schließt ihn zu. Des andern Morgens ists wieder zer- fressen. Und so geht das wohl acht Tage. Es wird daruͤber ein gewaltiger Laͤrm im Hause. Bald wirds diesem, bald jenem Schuld gege- ben, der ihr habe Tort thun wollen. Ja! man gabs fuͤr Hexerey aus. Endlich koͤmmts heraus, daß es große Wespen gethan hatten. Die wollten im Gar- ten ein Nest bauen, und holten sich dazu aller- ley Materialien. Das grobe Strickzeug der Bauerfrau kam ihnen recht gelegen. Und da es in den Schrank gelegt war, krochen sie durchs Schluͤsselloch. Das war wieder eine kleine Ursache, und großer Laͤrm . II Theil . F XVII. Das XVII. Das Osterfeuer . W as ziehen denn die Leute so nach dem Thore, fragte Fritze seinen Lehrer? Es ist ja heute der erste Ostertag, und das Wet- ter nicht allzuangenehm. Dazu schon Abend. Es ist doch wohl kein Ungluͤck? Sehen sie nur den Schwarm an. Lehrer . Ich wollte wuͤnschen, lieber Fritze ! daß ich dir das nicht sagen duͤrfte. Es macht unserer Stadt, und den Leuten, die dahin ziehen, nicht viel Ehre. Lottchen . Hi! Hi! Hi! O! was das jetzt da unten mit unsern Leuten fuͤr ein Laͤrm war, Fritze ! Ich habe mich bald krank gelacht. Da kamen dir alle unsere Leute zum Papa, so demuͤthig, als ob sie die groͤßte und wichtigste Sache auf dem Herzen haͤtten. Fritze . Sie hatten sich gewiß gezankt? Lottchen . Lottchen . O nein! ganz was anders. Lehrer . Die wollten gewiß mit nach dem Osterfeuer? Lottchen . Das wollten sie. Hoͤre nur, Fritze ! was sie sagten, als der Papa fragte: was sie wollten? „Ach lieber Herr! kams gar klaͤglich heraus: lassen sie uns doch nur ein Stuͤndchen mit nach dem Osterfeuer gehen! Nur ein Stuͤndchen, lieber Herr!“ Fritze . Nach dem Osterfeuer? Davon hab’ ich ja in meinem Leben noch nichts ge- hoͤrt. Vom Osterwasser wohl. Davon steht was im Zeitvertreibe fuͤr die Kinder. Aber Osterfeuer? — Nu, das weiß ich nicht. Gewiß aber wird dabey eben so viel Aber- glaube seyn, als bey dem Osterwasser. Ließ denn der Papa die Leute nicht hingehen? Lottchen . Das ließ er schoͤn bleiben. Sie bekamen einen derben Ausputzer. Wenn ihr Heyden seyn wollt, sagte der Papa, so F 2 koͤnnt koͤnnt ihr hingehen; aber dann geht ihr auch zugleich aus meinem Dienste. Seyd ihr aber Christen, und wollt mir, eurem Herrn, einen Gefallen thun, so bleibt ihr zu Hause. Da habt ihr einen halben Gulden. Spielt drum. Ihr koͤnnt euch doch eine Lust machen, ohne sol- chen heydnischen Greueln beyzuwohnen. Gebt nur Achtung, was wir morgen fruͤh fuͤr schoͤ- ne Saͤchelchen hoͤren werden, und was dabey alles vorgefallen ist. Ihr werdet mirs noch danken, daß ich euch nicht habe hingehen lassen. Fritze . Der Tausend! das war eine schar- fe Strafpredigt. Wenn ich wie der Papa ge- wesen waͤre, ich haͤtte die Leute immer hinge- hen lassen. Lehrer . Nein! mein lieber Fritze , man muß solche Leute nicht in ihrem Aberglauben staͤrken, sondern ihnen solchen zu benehmen, und sie zu bessern suchen. Lottchen . Lottchen . Die Leute waren auch mit ih- rem halben Gulden wohl zufrieden, und blie- ben huͤbsch zu Hause. Fritze . Ists denn wirklicher Aberglaube, was sie da mit dem Osterfeuer vornehmen? Ich denke, sie thun es nur zur Lust. Lehrer . Freylich wissen die meisten Leute selbst nicht, warum sie es thun. Denn es sind die niedrigsten und allergemeinsten: Knechte, Maͤgde, ruchlose Knaben, luͤderliches Gesin- del, die sich damit abgeben. Urspruͤnglich aber koͤmmt es doch aus dem Heydenthum her. Fritze . Wie denn so? Lehrer . Ehedem wurden hier, im ach- ten Jahrhundert, vor Karls des Großen Zei- ten, in den Gegenden des Harzes, allerhand heydnische Gottheiten, als: Krodo , die Ir- mensaͤule , u. s. w. verehret, vor welchen man oft solche Opferfeuer brennen ließ. Davon F 3 ist ist die Gewohnheit geblieben. Sollten das nun wohl Christen thun, wenn sie es wissen? zumal am Osterfeste, da Christus erschienen ist, daß er durch seine Lehre und Leben die Werke des Teufels, Abgoͤtterey, Unwissen- heit, Aberglauben und Bosheit, zerstoͤre. Fritze . Wenn das so ist, so verdenke ichs dem Papa nicht, daß er die Leute nicht hat herausgehen lassen. Lehrer . O! es ist auch ein rechter Sam- melplatz von Wildheit und Ruchlosigkeit. Stelle dir nur vor: die Knechte bringen alle alte Theertonnen; die Jungen aber die Kno- chen von der Aaskule zusammen. Das stecken sie an, und tanzen um das Feuer herum. Muß das nicht einen feinen Geruch geben? Da giebts denn auch Gelegenheit zu Dieb- staͤhlen, Schlaͤgereyen, und allen Arten der Ruchlosigkeit, und es ist schon mancher dabey zu Ungluͤck und Schaden gekommen. Lottchen . Lottchen . O was sich heute unsere Leu- te freuen! Da haben sie sich draußen geschla- gen, bestohlen, betrunken, Arm und Bein zer- brochen. Viele liegen unter den Haͤnden der Wundaͤrzte. Viele sitzen im Gefaͤngniß. Viele Herrschaften haben ihr Gesinde abschaffen muͤs- sen, und dergleichen mehr. Lehrer . Aberglaube und Ruchlosigkeit koͤnnen keine andere Folgen haben. XVIII. Das schreckhafte Kind. E in beschwerlicher und unangenehmer Feh- ler, wenn sich die Kinder allzuschreckhaft gewoͤhnen. Die schwaͤchlichen, weichlichen und kraͤnklichen sind dazu am meisten geneigt. Doch koͤnnen auch die staͤrksten und gesuͤndesten durch Ziererey verwoͤhnt werden. F 4 Gemei- Gemeiniglich haben alle die Kinder den Fehler an sich, denen vom Anfang an zu viel fuͤrchterliches und schreckhaftes Zeug vorge- sagt ist, oder die von den Waͤrterinnen bey allen Kleinigkeiten zu fuͤrchten gemacht wer- den. Oder sie haben es von andern so gesehen und angenommen, die bey der geringsten Sache zusammenfahren, aufschreyen, und sich anstellen, als ob das groͤßte Ungluͤck geschehen waͤre. Gestaͤrkt wird dieser Fehler, wenn man den Kindern das schreckhafte Wesen so hinge- hen laͤßt, sie bedauert, und mit ihnen quen- gelt, wenn sie ein Bißchen erschrocken sind. „Du armes Kind! bist du schon wieder er- schrocken? Es wird dir ja nichts schaden.“ Dann meynen die Kinder, es sey recht, und sie muͤßtens thun. Dorchen war ein so schreckhaftes Kind. Bey der geringsten Kleinigkeit fuhr es zusam- men. men. Wenn das Messer vom Tische fiel, schrie es laut auf. An einem Abend fuhr ein- mal der Kork aus der Bierbouteille mit einem starken Knall heraus. Da haͤtte man das Leben sehen sollen. Wenn von ohngefaͤhr ein Schuß geschah, oder ein Gewitter kam, konn- te man gar nichts mit ihm anfangen. Wenn ein Frosch im Grase war, oder eine Spinne an es kam, so ließ es alles fallen, was es in Haͤnden hatte. Dorchen war mit seinem Fehler sich und andern beschwerlich. Durch sein Schreyen und ungebaͤrdiges An- stellen hatten die Aeltern selbst manchen Schreck davon, und konnten es ihm nicht erst abge- woͤhnen. Endlich aber gab sichs von selbst. Es wurde von andern Kindern immer ausge- lacht und zu fuͤrchten gemacht. Hernach tha- ten auch die Aeltern bey schreckhaften Dingen, wenn was fiel, oder ein Glas zerbrochen wur- F 5 de, de, als ob es nicht geschehen waͤre, achteten nicht darauf, und lachten druͤber, wenn das Kind erschrak, und sich peinlich hatte. In- sonderheit achteten sie auf sein Erschrecken gar nicht mehr. Dadurch verlor sich der Fehler allmaͤlig, und es kann jetzt selbst eine elektri- sche Pistole und Kanone abschießen. Da es groͤßer wurde, sah es die Sache selbst ein, daß es Ziererey waͤre, vor allen Kleinigkei- ten zu erschrecken, und dankte denen sehr, die ihm diesen Fehler abgewoͤhnt hatten. Ein Kind, das vor allem erschrickt, wird eine elende Kreatur in der Welt. Dumm- dreist, unverschaͤmt, vermessen und vorwitzig ist ein Fehler; aber zu bloͤde, furchtsam und schreckhaft ist auch ein Fehler. Mit keinem von beyden koͤmmt man in der Welt fort. Und kein Kind kann wissen, wo es noch einmal hinkoͤmmt, und was aus ihm werden wird. So So gieng es dem Junker von ****. Da er Faͤhnrich wurde, und zu dem Bataillon kam, fuhr er zusammen, wenn die Trommel gieng, und hielt beyde Ohren zu, wenn geschossen wurde. Wie er da andern zum Spott und Gelaͤchter wurde, koͤnnt ihr leicht denken. Er mußte abdanken. So ungluͤcklich kann man durch eine uͤble Gewohnheit werden! XIX. Weihnachtsbrief eines Vaters an sein fuͤnfjaͤhriges Kind. Am 25. Decemb. 1782. Mein Herzliebes Dorchen ! D u sagst immer, es ruͤhrt dich, wenn ich dich so nenne. Aber du verdienst es, weil du bisher ein recht artiges Kind gewesen bist, bist, und mir und deiner lieben Mutter durch deinen Fleiß viele Freude gemacht hast. Ich kann nun schon einen Brief an dich schreiben. Und den kannst du selbst lesen. Sollte mir das nicht Freude seyn? Viele Kin- der von fuͤnf Jahren koͤnnen das noch nicht. Wem hast du das zu danken? Frage dich einmal. Willst du mir nun eine rechte Freude ma- chen, und mir ein recht liebes Dorchen seyn, so lerne auch immer besser schreiben, damit du bald selbst ein Briefchen an mich schreiben kannst. O! was wuͤrde mir das fuͤr eine Freude seyn! Noch einmal so gern wuͤrde ich dir ein schoͤnes Buch, ein neues Tintefaß von Gnadau, ein Schreibtaͤfelchen, ein Bilder- kalenderchen geben, wenn du erst darum selbst in einem Briefchen baͤtest. Was meynst du dazu? Noch Noch eins will ich dich bitten — ich koͤnnte sagen: befehlen — aber ich will dich bitten , weil ich weiß, daß du ohne Befehl alles gerue thust, was ich haben will. Mache mir also nicht allein durch dein fleißiges Ler- nen Freude, sondern auch nun durch gute artige Sitten . Denn ein Kind, das viel lernt, und schlechte Sitten hat, ist lange nicht so angenehm, als ein Kind, das fleißig lernt, und auch artig in seiner Auffuͤhrung ist. Zur Belohnung deines Fleißes und deiner Artigkeit, schenken wir dir hier allerley nied- liche Sachen. Auch in diesem Briefe einen blanken Gulden, dafuͤr du dir allerhand nuͤtz- liche Saͤchelchen kaufen kannst. Wolltest du davon auch wohl einem armen Kinde, das nichts zu essen hat, an diesem Freudenfeste, da du so viel hast geschenkt bekommen, eine Freude machen? Sey Sey ferner deinen guten Aeltern, die dir so viel Gutes thun, dankbar, und bitte den lieben Gott, daß er sie und dich gesund er- halte. Liebe dein Schwesterchen, und thue ihm nichts zu Leide. Mache ferner viele, recht viele Freude deinem getreuen Vater. XX. Eine Reihe gewoͤhnlicher Kinder- fehler. E s ist ein Fehler, wenn Kinder so unvor- sichtig sind, daß sie bald hier einen Stuhl umstoßen, bald dort ein Glas zer- brechen. Es ist ein Fehler, sich selbst zu loben . Das macht hochmuͤthig und eitel. Es Es ist ein Fehler, wenn ein Kind andere tadelt, wenn sie ein Wort nicht recht aus- sprechen. Das schickt sich nicht; das ist nase- weiß, und wider die Bescheidenheit. Es ist ein Fehler, wenn ein Kind einem armen Kinde was gegeben hat, und es andern wieder erzaͤhlt, oder davon viel Gerede macht. Das heißt Großthun und Prahlen. Dann hoͤrt es auf, ein Almosen oder eine Gutthat zu seyn. Es ist ein Fehler, wenn Kinder mit lachen, wenn große verstaͤndige Leute lachen, oder mit einsprechen, wenn diese reden. Es ist ein großer Fehler, wenn ein Kind beym Spiele immer auf seinem Kopfe besteht, und haben will, daß andere nur so spielen sollen, wie es will. Dadurch macht es andere verdruͤßlich, sich verhaßt, und wird ein Spiel- verderber . Es Es ist eben ein so großer Fehler, wenn Kinder andere so gern angeben, und sich freuen, wenn sie Verdruß haben. Das ist Schaden- freude . Es ist ein Fehler, wenn ein Kind der Mut- ter vorschreiben will, von allen Leuten, die was zu Kaufe bringen, was zu kaufen. Das schickt sich nicht. Und Gutmeynen ohne Ver- stand, ist auch ein Fehler. Es ist ein großer Fehler, wenn ein Kind alles, was auf den Tischen steht, anfaßt und benascht. Dadurch lernt es stehlen . Es ist ein eben so großer Fehler, wenn ein Kind sich an seinem Leibe nicht alles will thun lassen, was zu seiner Gesundheit und zu seinem Besten dient; oder das Gesinde bey dem An- und Ausziehen vexirt und verdruͤßlich macht. Es ist ein großer Fehler, wenn Kinder nicht alles essen wollen, was vorkoͤmmt. Das koͤnnen koͤnnen sie sich einmal in der Welt nicht halten. Es ist ein Fehler, wenn Kinder bey Tische kein Brod essen, und zu wenig trinken. Da- durch werden sie schwach und kraͤnklich. Es ist ein Hauptfehler, wenn sich Kinder gar zu weichlich gewoͤhnen, nicht in der Kaͤlte schlafen wollen, und zu viel Warmes trinken. Dadurch werden sie erst recht schwaͤchlich. Es ist ein gewaltiger Fehler, wenn Kin- der ohne Vorwissen und Erlaubniß der Ael- tern mit andern weglaufen. Dadurch koͤn- nen sie leicht zu Schaden, oder in boͤse Gesell- schaft kommen. Es ist ein großer Fehler, wenn die groͤßern Kinder die kleinen schlagen, oder ihnen Tort thun. Das ist unbillig und ungerecht. Es ist ein suͤndlicher Fehler, wenn Kinder alte einfaͤltige Leute vexiren und zum Besten II Theil . G haben, haben, oder lahme, blinde, taube Leute ver- spotten, und uͤber ihr Elend lachen. Sie ver- spotten Gott selbst. Es ist ein Hauptfehler, wenn ein Kind der Mutter nicht eben so gehorsam ist, als dem Vater. Es ist ein hoͤchst beschwerlicher Fehler, wenn ein Kind keine Geduld haben kann. Es ist ein Fehler, wenn ein Kind nicht manchmal vor sich, mit sich selbst spielen will, sondern verlangt, daß sich die Aeltern bestaͤn- dig mit ihm abgeben sollen. Das ist unbillig und undankbar. Es ist ein Fehler, wenn ein Kind, das sonst fleißig ist und gerne lernt, nicht auch will stricken, naͤhen und spinnen lernen. Es ist ein großer Fehler, wenn das Kind alles besser wissen will, als andere. Das ist naseweiß. Es Es ist ein Fehler, wenn Kinder nicht gleich auf das erste Wort gehorsam sind, sondern sich eine Sache zehnmal verbieten lassen. Es ist ein Fehler, wenn Kinder fuͤr sich lesen, und dabey immer sachte aussprechen, was sie lesen. Das klingt haͤßlich, und hin- dert andere. Es ist ein großer Fehler, wenn Kinder erst durch Schaden klug, oder durch Schlaͤge artig werden wollen. Es ist ein unangenehmer Fehler, wenn Kinder uͤber Kleinigkeiten auffahren, schreyen, und großen Laͤrm machen. Es ist ein Fehler, wenn Kinder das, was sie sagen wollen, zu geschwind, zu heftig, und nur mit halben Worten sagen. In diesen Kinderspiegel moͤgen diejenigen Kinder sehen, welche dergleichen Fehler an sich haben, und sich schaͤmen ; diejenigen aber G 2 sich sich freuen , welche sie abgelegt, und sich ge- bessert haben. XXI. Das gefraͤßige Kind. Cathrine . J a! er ist todt. Todt ist er, der arme Fritze. Ach der niedliche Junge! Er dauert mich gar zu sehr, daß ich weinen muß. Dorchen . Wer waͤre todt? Fritze da ge- gen uͤber? Ich glaube, du traͤumst, Cathrine. Gestern Abend haben wir noch zusammen ge- spielt. Wer weiß, was du gehoͤrt hast? Stel- le dir vor, Gustchen ! Fritze da druͤben soll todt seyn. Gustchen . Ich habe es auch schon ge- hoͤrt, und vorher war ein greuliches Geschrey im Hause. Cathrine . Cathrine . Kinder! ihr koͤnnts glauben. Ich habe ihn schon auf dem Strohe liegen ge- sehen. Ach Gott! wo waren die rothen Backen? Der scharmante Junge. (Sie weint, und die Kinder auch.) Mutter . Was ist denn da einmal vor? Was weint ihr zusammen? Ihr auch Cathri- ne? Wer hat euch was gethan? Habt ihr euch gezankt? Das will ich doch nicht hoffen? Dorchen . Nein, liebe Mutter! Fritze druͤben, der niedliche Fritze, ist todt. Cathri- ne sagts. Darum weinen wir alle. Ach der lustige muntere Junge! Mutter . Ich weiß auch nicht, Cathrine! was ihr immer fuͤr Posten ins Haus bringt, und die Kinder zu fuͤrchten macht. Ich habe ihn heute um zehn Uhr noch aus der Schule kommen sehen. Cathrine . Sie koͤnnen es glauben, Frau Raͤthinn. Es ist leider wahr genug. Er liegt G 3 schon schon auf dem Stroh. Wollte Gott, daß es nicht wahr waͤre! Ich wollte gerne gelogen haben. Die Aeltern sind ganz untroͤstlich. Mutter . Nun, so sagt doch, wie ist denn das zugegangen? Ist er gefallen, oder wie ist es sonst gekommen? Das begreife ich nicht. Er ist wohl nicht recht todt. Cathrine . Ach todt genug! Wie es aber eigentlich zugegangen ist, das weiß ich noch nicht recht. Von den Aeltern konnte ich nichts erfahren. Der Vater rang die Haͤnde. Die Mutter riß sich die Haare aus dem Kopfe. Es war ein erschrecklicher Zustand. So viel hab’ ich nur gehoͤrt: er waͤre nach Tische um- gefallen, und todt geblieben. Mutter . Das muß ich wissen. Ich will gleich heruͤber gehen. Cathrine, bleibt derweile bey den Kindern. Gebt euch zufrieden, Kin- der! er wird sich wohl noch einmal erholen. Dorchen . Dorchen . Ach! Mutter, kommen Sie schon wieder? Nu, wie ist es? Sie haben ja auch rothe Augen. Gewiß ist und bleibt er todt. Du lieber Gott! Mutter . Ja wohl, leider! ist und bleibt er todt. Da haben wirs nun. Wie ist er ge- storben, und woran ist er gestorben, und zwar so ploͤtzlich? Von nichts, als seiner Gefraͤßig- keit , davor ich euch taͤglich so herzlich warne. Da hat er so vielen heißen Klump uͤber Tische, und vorher so vielen warmen Kuchen gefressen, daß es ihm das Herz abgestoßen hat. Ich bitte euch um Gottes willen, wenn ihr eure Gesundheit und euer Leben lieb habt, so ge- woͤhnt euch nicht so heißhungrig und gefraͤßig. Ihr kriegt satt; aber was ich euch nicht gebe, dient euch auch nicht. Das muß ich besser wissen. Ich kann nicht immer hinter euch seyn. Esset ihr heimlich, ohne mein Vorwissen, an- derswo Kuchen, und dergleichen zu viel, oder G 4 zu zu warm, so kann es euch bald eben so, wie dem ungluͤcklichen Fritzen, gehen. Spiegelt euch an seinem Exempel. Und ihr, Cathrine! wenn ihr euch nicht sagen laßt, und den Kindern heimlich mehr zu essen gebt, als ihnen dient, so habt ihrs vor Gott zu verantworten. Denn es ist nichts anders, als ein Todtschlag . Da druͤben hatte die alte Kindermuhme dem armen Jungen seinen Willen gethan, und ihm zu viel gegeben. Da liegt er nun, und sie hat ihn so gut wie todtgeschlagen. Cathrine . Ach Gott! ich will mich wohl huͤten, und ihnen nichts von Kuchenwerk oder Kluͤmpen geben, wenn das so schaͤdlich ist. Mutter . Wenn die Kinder auch nicht gleich davon sterben, so werden sie doch krank, elend und ungesund. Von vielen kluͤmprigen Mehlspeisen wird das erste Wurmnest durch vielen Schleim bereitet, und uͤberdem werden durch alle solche klebrichte schwere Speisen die Ver- Verdauungskraͤfte der Kinder ungemein ge- schwaͤcht, daß sie im Wachsthum gehindert werden, und die englische Krankheit kriegen. Huͤtet euch doch ja, und toͤdtet doch die Kin- der nicht durch eine gutmeynende thoͤrichte Liebe. Gustchen . O Mutter! wir wollen Ihnen gerne folgen. Dorchen . Ja! ja! Fritze wird mir, so lange ich lebe, immer vor Augen stehen, wenn ich Klump und Kuchen sehe. Gustchen . Der hieß auch Fritze, der in Campens Sittenbuͤchlein, wie Guthwill er- zaͤhlt, sich an gebackenem Obst und heißen Kloͤsen zu todte gefressen hatte. Mutter . Ihr seht also, was aus der Gierigkeit entstehen kann. Maͤßigkeit erhaͤlt, aber Unmaͤßigkeit und Gierigkeit toͤdtet. Und uͤberdem ist die Gefraͤßigkeit eine Sache, die sich nicht fuͤr Menschen schickt, sondern fuͤr die Thiere G 5 gehoͤrt, gehoͤrt, die doch wirklich nicht mehr fressen, als ihnen dient, und viele Menschen be- schaͤmen. XXII. Das undankbare Kind. Vater . K inder! wenn ihr was Gutes, und Wohl- thaten, die man euch gethan hat, ver- gessen koͤnnt, so seyd ihr schon halb verloren, und im Stande, alles Boͤse zu thun. Denn der Undank ist eine Quelle von allen Lastern. Insonderheit wenn Kinder ihren Aeltern un- dankbar seyn koͤnnen, und das viele Gute nicht achten — die vielen Sorgen, welche die Aeltern fuͤr sie haben, von Kindheit an, da sie selbst nicht wissen, wie viel Gutes ihnen geschiehet, und da sie ohne alle Huͤlfe ver- schmach- schmachten muͤßten, wenn sich die Aeltern nicht ihrer mit solcher Treue und Liebe annaͤhmen — (Der Vater weint.) Dorchen . Ach liebster Vater! Sie wei- nen. Ich muß mit weinen. Du lieber Gott! Sie sagen uns so oft, daß wir sollen dankbar seyn, daß es mir durch die Seele geht. Es ruͤhrt mich so sehr, daß ich mich der Thraͤnen nicht enthalten kann. Wie sollten wir denn das viele Gute vergessen koͤnnen, das Sie und unsere liebe Mutter an uns thun? Denken Sie doch so was nicht von uns. Vater . Von dir wohl nicht, mein liebes Dorchen. Du bist recht dankbar, und be- weisest es durch deinen Gehorsam, Fleiß und Artigkeit, daß du deine Aeltern darum lieb hast, weil sie dir Gutes thun. Aber bleibe ja kuͤnftig bey den guten Gesinnungen, und behalte das feine dankbare Herz auch gegen andere, die dir Gutes thun. Das mensch- liche liche Herz ist bald zu verfuͤhren. Aber, du da, Karl und Charlotte ! fuͤr euch bin ich bange. Ihr seyd uns gar nicht so recht dank- bar, wie ich wuͤnschte. Sonst wuͤrdet ihr folgsamer seyn. Dorchen . Schaͤmt euch, daß der Vater so was sagen muß. Karl . Lieber Vater! ich wills kuͤnftig gerne thun. Charlotte . Ich auch, lieber Vater! Vater . O Kinder! ihr sagt das wohl; aber ihr seyd mir so kalt dabey. Ihr thut es bloß zum Schein. Wenn ich den Ruͤcken wende, so weiß ich gewiß, ihr denkt an keine Wohlthaten mehr, die ihr taͤglich bey euren Aeltern habt, und sinnet wohl gar schon auf Mittel, wie ihr Dorchen einen rechten Tort thun wollt, weil ichs gegen euch gelobt und euch zum Exempel vorgestellt habe. Dorchen (mit blutender Nase, und weinend). Ach Ach Vater! lieber Vater, ich bitte, bitte: vergeben Sie es ihnen doch. Vater . Wem denn, mein Kind? Wem denn? Bist du etwa gefallen. Dorchen . Ach nein! sie haben mich von der Treppe gestoßen, daß ich mir das Gesicht blutig gefallen habe. Aber vergeben Sie es ihnen doch. Ich bitte Sie nochmals. Vater . Wer hat dich von der Treppe ge- stoßen? Wer? Sage an. Dorchen . Karl und Charlotte haben es gethan. Vater . Warum denn? Sie habens wohl nicht gerne gethan? Sie haben dich wohl nur angestoßen? Du gehst auch immer so wackelicht. Dorchen . Nein! lieber Vater, sie sagten dabey: Das ist dafuͤr, daß dich der Vater immer so lobt, und uns verachtet. Aber ver- geben geben Sie es ihnen. Sie werden es nicht wieder thun. Vater . Ach Gott! was fuͤr boͤse Herzen! Die Boͤsewichter — Das werden schoͤne Fruͤchtchen werden, da sich Undank, Neid, Rache und Bosheit schon so aͤußern, wenn ich nicht bey Zeiten vorbaue. — Wo sind sie? Was habt ihr gemacht? Karl und Charlotte . Vater! wir habens nicht gerne gethan. Dorchen luͤgt. Glauben Sie es nicht. Vater . So? ihr ungerathnen Kinder! Ists euch nicht genug, undankbar zu seyn? Ihr muͤßt auch nun durch Luͤgen euren Neid und eure Bosheit zu bemaͤnteln suchen? Was wird aus euch einmal werden? Wenn ihr so in Undank fortfahret, so werdet ihr euch ein- mal kein Gewissen machen, euch an euren ei- genen Aeltern zu vergreifen, und allen, die euch Gutes thun, den aͤrgsten Tort und Scha- den den zu erweisen, wenn ich nicht in Zeiten vor- komme. — Fort mit euch, vier Wochen in die Gesindestube bey Wasser und Brod, damit ihr erst lernt, was Wohlthaten sind, und — mir in der Zeit nicht wieder vor die Augen. XXIII. Fortsetzung des zweyundzwanzigsten Stuͤcks. A ls acht Tage vorbey waren, konnten sie es nicht laͤnger aushalten. Sie wurden krank. Da ließen sie Dorchen bitten, einmal herunter zu kommen. Der Vater erlaubte es. „Ach liebes Schwesterchen! sagten die ge- ruͤhrten Kinder, was haben wir gethan! Wie haben wir unsere gute Aeltern und dich belei- diget! O wie erkennen wir nun unsern Un- dank! dank! Ach wir haben diese Strafe und noch mehr verdient. Nun wissen wir erst, was Wohlthaten sind, die wir bisher gar nicht ge- achtet haben. O Gott! nichts als Wasser und Brod, und — auf purem Stroh liegen! Wir sind bald hin, und muͤssen sterben. Er- barme dich uͤber uns. Vergieb es uns, und bitte doch den Vater, daß er uns auch ver- gebe, uns wieder als seine Kinder annehme, und uns alle Wohlthaten, die wir nicht ge- achtet haben, wieder zukommen lasse. Das gute Dorchen fiel ihnen um den Hals, weinte mit ihnen, herzte und kuͤßte sie, und sagte: O! Karl und Charlotte, ich habe euch alles schon vergeben. Seht, das koͤmmt vom Undank. Ich will aber gleich zum Vater gehen. Vater . Nun, was wollen die Boͤsewich- ter? Nicht wahr: sie sind des Lebens satt? Dorchen . O lieber bester Vater! ich um- arme Sie. Ich lasse Sie nicht los, bis Sie mir mir meine Bitte gewaͤhren. Ich bitte mit Thraͤnen fuͤr die armen Suͤnder unten. Ver- geben Sie es ihnen doch. Sie sollten sie nur sehen. Ach thun Sie es doch. Sie sind wie die Schatten. Es wuͤrde Sie gewiß jammern. Der liebe Gott vergiebt ja auch. Wollen Sie, Vaͤterchen? Beste Mutter! helfen Sie doch bitten. Ach ja! thun Sie es. Lassen Sie mir die Freude, sie herauf zu holen. Vater (weint). Nun, so gehe hin, bestes Kind! Um deinetwillen vergebe ich ihnen. Hole sie her. Ich will sehen, ob sie sich bessern werden. (Karl und Charlotte blaß, wie der Tod — koͤnnen vor Schluchzen und Weinen nicht reden — fallen dem Vater zu Fuͤßen, und sagen gar nichts.) Dorchen . Hier sind sie, Vater! hier lie- gen sie. (Kann auch vor Weinen nichts sagen. Die Mutter geht weg.) II Theil . H Vater Vater (weint auch, erholt sich, und sagt:) Steht auf, und werdet wieder meine Kin- der. Durch Undank hoͤrtet ihr auf es zu seyn — hoͤrtet auf, Menschen zu seyn — wurdet Ungeheuer, und aus Neid und Bosheit an andern zu Moͤrdern, wie ihr an Dorchen be- wiesen habt, das doch so sehr fuͤr euch gebe- ten hat. O was hat das fuͤr ein Herz gegen das eurige! Karl . Ach Vater! vergeben Sie doch. Charlotte . Nur dießmal vergeben Sie. Wir wissen nun erst, was Wohlthaten sind. Vater . Da sie euch entzogen sind, wisset ihrs. Aber ist dadurch schon euer Herz gebes- sert? Ist euer Dank, den ihr vorgebt, nicht erzwungen? Wollet ihr kuͤnftig euren Neid, eure Tuͤcke und Bosheit ablegen? Dann sollt ihr wieder meine Kinder seyn. Werdet selbst so gut gesinnt, wie Dorchen, so duͤrft ihrs nicht beneiden. Karl . Karl . Ach ja! Herzensvater. Ja! Charlotte . Sie sollens sehen. Vater . Nun, ich werde sehen. Da habt ihr meine Vaterhand. Ich vergebe euch. Und nun geht hin, und bittet es Dorchen ab. Was meynt ihr, wenn sich das Kind todtgefallen haͤtte? Wie wirds euch einmal gehen, wenn ihr das kuͤnftig an andern thut? Doch ruft erst die Mutter. (Karl und Charlotte kuͤssen erst Vater und Mutter die Haͤnde mit vielen Thraͤ- nen — fallen Dorchen um den Hals — und es weint alles in der Stube.) Vater . Geht nun hin, und lasset euch weiß anziehen. Ihr sollt diesen Abend wieder mit uns essen. Gottlob! daß ich wieder Kin- der habe. Dorchen . O! ich gehe mit euch. Kommt, Bruͤderchen und Schwesterchen! wir wollen uns nun recht lieb haben, recht einig leben, H 2 und und unsern guten Aeltern immer dankbarer wer- den. Kommt! kommt! Alles vergeben. Alles vergessen. XXIV. Beschluß des dreyundzwanzigsten Stuͤcks. (Sie kommen zuruͤck, und setzen sich zu Tische. Karl und Charlotte sind aber sehr stille und betruͤbt.) Vater . W enn ihr darum so stille und betruͤbt seyd, daß euch euer Undank leid thut, so ist mirs sehr lieb. Seht, was das boͤse Gewis- sen ist. Ich will euch noch eine Geschichte erzaͤhlen, wie weit der Undank den Menschen bringen kann. Ich habe die Sache selbst erlebt. Es Es war einmal ein armer Holzhauer, der bey meinem seligen Vater, eurem Großvater, den ihr aber nicht gekannt habt, das ganze Jahr hindurch Holz hackte. Ein rechter ehr- licher, braver, guter und fleißiger Mann. Der hatte einen Sohn von ohngefaͤhr sech- zehn Jahren, den er fleißig zur Arbeit anhielt, und es aus dem Munde ersparte, ihn was lernen zu lassen. Wenn er manchmal in un- serm Hause ein Stuͤckchen Fleisch, Kuchen oder Braten bekam, so aß ers nicht auf, sondern sagte: Ich muß nieinem Gottlieb was auf- heben. So gut meynte es dieser arme Vater mit dem Jungen. Dieser war aber ein Taugenichts, der al- les Gute nicht achtete, was der Vater an ihm that. Hoͤrt nur, Kinder! was er machte. Mir erstarrt das Blut in den Adern, wenn ich noch daran gedenke. Ach Gott! wozu kann der Undank ein Kind bringen! H 3 Der Der Vater wurde manchmal botenweise uͤber Feld geschickt, und wegen seiner Ehrlich- keit wurde ihm auch Geld anvertrauet. Da gieng er nun einmal im Winter wohin, Geld zu holen. Er sagte es zu Hause vorher, daß es der Junge und die Tochter, die er noch hatte, hoͤrten. Der Weg betrug etwa vier Meilen, und auf der Haͤlfte mußte er durch einen dicken Wald. An dem Tage, da er wiederzukommen ver- sprochen hatte, sagte der Sohn des Morgens: er wolle dem Vater bis ins Holz entgegen ge- hen, und ihm das Buͤndel abnehmen. War das nicht gut? Aber hoͤrt nur weiter. Er geht fort und nimmt des Vaters Hand- beil mit sich. „Was willst du denn damit, fragt die Schwester?“ Er giebt vor: er wol- le sich einen Axenstiel aushauen. Mitten im Holze begegnet ihm der Vater, und freuet sich, den Sohn zu sehen. Er nimmt ihm das Buͤndel Buͤndel ab, und so gehen sie ein ganz Weil- chen mit einander. Endlich sagt der Boͤsewicht: Vater! was liegt denn da unter dem Busche? Er buͤckt sich, um hinzusehen. Baf! schlaͤgt er ihn mit dem Beile in den Nacken, daß er niederfaͤllt, sich aber noch einmal klaͤglich nach dem Moͤr- der umsieht. Dorchen . O Vater! Va — Va — ter! ich bitte Sie um Gottes willen, hoͤren Sie auf. Vater . Wie wird euch dabey zu Muthe, Karl und Charlotte? (Beyde fallen dem Vater abermal zu Fuͤßen.) Vater . Hierauf giebt er ihm noch ein Paar Schlaͤge, schleppt ihn in den Busch, nimmt das Geld, und geht gerade nach Hause. „Warum koͤmmst du allein?“ fragt die Schwester. „Wo bleibt denn der Vater?“ Er antwortet: Er habe ihn nicht gesehen. Er H 4 werde werde wohl noch nicht abgefertiget seyn. Eini- ge Tage nachher wird der Erschlagene gefun- den. Der Sohn ist indessen ganz getrost — geht in die Schenke — saͤuft und spielt nach Herzenslust. Endlich koͤmmt es bey dem Schnupftuche heraus, das der Vater mitgenom- men hatte. Das sieht die Schwester, und fragt: wie er dazu gekommen waͤre? Da verstummt er — wird eingezogen, und gestehet die er- schreckliche That. Wie es ihm gieng, koͤnnt ihr leicht denken. Er wurde von unten auf geraͤdert, und sein Leib aufs Rad geflochten. Vorher hat er noch gestanden, daß ihm das gar nicht aus den Gedanken und vor den Augen wegkaͤme, da sich der Vater bey dem ersten Schlage noch einmal so klaͤglich nach ihm umgesehen habe, als ob er sagen wollen: Sohn! undankba- rer, unmenschlicher Sohn! kannst du das an deinem eigenen Vater thun? Nun, Nun, meine Kinder! was denkt ihr da- bey? War das nicht ein recht dankbarer Sohn? Karl . Ach Vater! ich habe genug. Charlotte . Ich auch. Ach wir wußten ja nicht, daß der Undank einen Sohn zum Vatermoͤrder machen koͤnne. Wir wollen ganz anders werden. Vater . Das gebe Gott! Das gebe Gott! XXV. Das dankbare Kind. E s war ein Vater, der hatte vier Kinder: zwey Soͤhne, und zwey Toͤchter, zwi- schen sechs und zehn Jahren. Er hatte sie des Abends eben bey sich, als die ungluͤckliche Stadt, Gera , gaͤnzlich abgebrannt war, und sie in der Ferne die Gluth noch sehen konnten. H 5 Dem Dem Vater giengen bey dem Anblick die Augen uͤber, und die Kinder weinten mit. Ach! sagte der Vater, weinet nicht darum, weil ihr mich weinen sehet, sondern weil durch diesen Brand so viele arme und ungluͤckliche Menschen werden. Des andern Tages kam eine traurige Nachricht uͤber die andere: wie da die Leute unter freyem Himmel herumlaͤgen, und kein Hemde, kein Brod, nichts mehr haͤtten: wie die Aeltern ihre Kinder, und diese ihre Aeltern verloren haͤtten. Da sagte der Vater zu seinen Kindern: Das ist wieder eine Gelegenheit, wo sich viel Gutes und Boͤses offenbaren wird. Da wer- den gewiß viele Aeltern mit abgebrannt und arm geworden seyn. Da werden viele Kinder derselben an andern Orten seyn, und ihren verarmten Aeltern beystehen und Gutes thun koͤnnen, wenn sie wollen. Da werden aber auch manche Kinder ihre Aeltern nicht mehr kennen kennen wollen, weil sie arm sind. Kinder! was meynt ihr? wenn ich mit eurer Mutter jetzt in Gera mit abgebrannt waͤre, und nichts, gar nichts mehr haͤtte, als das bloße Leben: keine Kleider, keinen Rock, kein Hemde, keine Schuhe, keine Struͤmpfe, kein Brod, keinen Pfennig Geld — waͤre noch dazu krank vor Gram und Elend — muͤßte andere Leute an- sprechen, und betteln gehen — Hoͤrt wohl zu! Ihr aber wohntet auswaͤrts, und waͤret alle wohl versorgt. Du, Franz ! waͤrest ein reicher Amtmann. Und du, Karl ! ein Pre- diger. Du, Charlotte ! haͤttest einen Cantor auf dem Dorfe, und nicht viel uͤbrig, und du, Lore ! waͤrest auch ziemlich wohl verhey- rathet. Was wuͤrdet ihr denn wohl gegen eure ungluͤckliche, abgebrannte und nun ganz arme Aeltern thun? Fragt einmal hierbey euer Herz? — Und Thraͤnen fielen dem Vater aus den Augen. Da Da weinten die Kinder sehr, fielen Vater und Mutter um den Hals, und sagten, was sie in dem Falle thun wuͤrden. Lorchen fieng zuerst an: Ich wollte ihnen geben, was ich haͤtte, sollte ich auch kein Hem- de auf dem Leibe behalten. Sie haben mirs ja erst gegeben. Charlotte sagte: Ich wollte mich gleich aufmachen, zu ihnen laufen, meine Kleider ausziehen, und sie ihnen anziehen. Du haͤttest aber selbst nicht viel, mein Kind? fiel ihm der Vater in die Rede. „Des- wegen wollte ich ihnen doch alles herzlich ger- ne geben, und lieber selbst hungern, bis ich wieder was verdient haͤtte.“ Edle Seele! antwortete der Vater. Gott segne dich, und dich auch, Lorchen ! Aber, Karl ! was wuͤrdest du thun? „Ich wuͤrde, wenn ich auf dem Lande Prediger waͤre, von allen meinen Bauern Brod, Brod, Kleider, und was ich kriegen koͤnnte, zusammenbringen, und damit hinfahren.“ Auch gut, mein Sohn! erwiederte der Vater. Endlich kam die Reihe an Franzen , der bisher ganz stille gesessen hatte, und der aͤlteste war. „Alles das, sagte er, waͤre nicht noͤthig. Ich, als Amtmann, schickte sogleich meine Kutsche und Pferde hin, ritte selbst mit, und holte meine Aeltern zu mir. Da haͤtte ich die dankbare Freude, meine guten Aeltern zeitlebens bey mir zu behalten, und sie selbst zu versor- gen. Dann sollten sie sich nicht mehr unter andern Leuten herumquaͤlen. Und ich haͤtte erst die beste Gelegenheit, ihnen das viele Gute zu vergelten, das sie an mir und an euch gethan haben.“ O! laß dich kuͤssen, lieber Junge! sagten Vater und Mutter. Das wolltest du doch thun? thun? Und so dankbar wolltet ihr alle seyn, ihr guten Kinder! und eurer Aeltern nicht ver- gessen, wenn sie auch arm waͤren? Wie wirds euch so wohl gehen! Dafuͤr will ich euch noch ein anderes Histoͤr- chen erzaͤhlen, das ich selbst erlebt habe. Wie euch das gefallen wird? Es waren auch einmal arme Aeltern, ehr- liche gute Handwerksleute. Die hatten einen Sohn, an den sie alles wendeten, und ihn studi- ren ließen, daruͤber aber selbst verarmten. Der Sohn bekam eine vornehme Bedienung, und wurde sehr reich, weit von Hause. Als der alte Vater das hoͤrte, dacht’ er: Du mußt doch einmal hinreisen, und deinen Sohn besuchen. Wie wird sich der freuen, wenn er seinen al- ten Vater sieht! Der gute Vater! Wie sehr betrog er sich! Er machte sich auf, und that die weite Reise von einigen dreyßig Meilen zu Fuße. Unter- Unterweges troͤstete er sich immer noch mit den Gedanken: er wird dir doch in deiner Armuth wieder was geben, da du alles an ihn gewen- det hast? Als er hinkam in das Haus, gab er sich zu erkennen, und ließ sich durch einen Bedien- ten mit Gold und Silber anmelden, bekam aber zur Antwort: er haͤtte keinen Vater mehr, der so aufgezogen kaͤme. Doch wurde er in die Gesindestube gebracht, wo man ihm et- was zu essen gab. Nachher schickte ihm der Sohn, der an dem Tage hoch traktirte, ein Paar Thaler, und ließ ihn so wieder gehen, ohne ihn selbst gesehen und gesprochen zu haben . Wie gefaͤllt euch das, Kinder? Das war wohl ein recht dankbarer Sohn? Als der alte Vater mit Noth und Kummer wieder nach Hause kam, zu der ebenfalls al- ten und armen Mutter, freuete sich diese herz- lich, lich, und sagte: Nun, du wirst es wohl recht gut bey unserm Sohn gehabt haben. Er wollte antworten, konnte aber nichts weiter herausbringen, als dieses: O Gott! welcher Sohn! Da ruͤhrte ihn der Schlag, und er fiel todt zur Erde. XXVI. Das mitleidige und gutherzige Kind. Vater . S o gefaͤllt euch denn die Geschichte von dem gutherzigen und mitleidigen Wilhelm so sehr, die in Campens Sittenbuͤchlein steht? Karl . Ach allerliebst, ganz allerliebst. Den moͤcht’ ich zum Bruder haben. So lieb hab’ ich ihn. Vater . Vater . Was hilft das lieb haben? Folge seinem Exempel nach. Ach Gott! wenn ich doch lauter solche Kinder haͤtte, die bey Zei- ten die Noth anderer Menschen fuͤhlten und linderten! Mutter . Sage das nicht, mein Lieber! Du hast solche Kinder, wenn du es gleich nicht denkst. Und das ist noch besser, daß du es nicht weißt. Ich bin dahinter gekommen, und kann dir von unserm gutherzigen Dorchen eine uͤberaus schoͤne That erzaͤhlen. Vater . Von meinem Dorchen? Warum wirst du so roth, mein Kind? Einer guten That darf man sich nicht schaͤmen. Dorchen . O Herzensmuͤtterchen! warum verrathen Sie mich? Sie haben mir ja selbst gesagt: man solle im Verborgenen Gutes thun, und nicht viel Redens davon machen. So hats der gute Wilhelm gemacht. Und nun sagen Sies Vaͤterchen doch. II Theil . I Vater . Vater . Du irrst dich, liebes Kind! Wenn das Gute, das man gethan hat, auf solche Art erfahren wird, wie die Mutter sagt, so ist es keine Heucheley und Prahlerey. Du hast es ja nicht ausposaunt, dich groß damit zu machen. Und es ist schon eine Belohnung fuͤr dich, daß deine Aeltern Ursache haben, sich uͤber dein gutes Herz zu freuen. Aber ich moͤchte es doch wohl naͤher wissen. Du sollst nun selbst die Ehre und Freude haben, es mir zu erzaͤhlen. Komm aber erst her, liebe See- le! und laß dich von deinem erfreuten Vater herzlich kuͤssen. Dorchen . Nein! Vater, das kann ich nicht. Das kann ich unmoͤglich. Verschonen Sie mich damit. Vater . Das war recht, mein Toͤchter- chen! Ich sagte es auch bloß, dich auf die Probe zu stellen. Das Gute, das wir ge- than haben, muͤssen wir nicht selbst erzaͤhlen. Das Das moͤgen andere thun. Und wenn es auch keiner weiß. Nichts daran gelegen. So weiß es doch Gott, der ins Verborgene siehet, und das Herz oder unsere Absicht kennet. Die Mutter soll es uns erzaͤhlen, und zwar diesen Abend nach Tische, wenn alle Kinder dabey sind. Dorchen . So erlauben Sie mir, daß ich in der Zeit ein Bißchen in die Nachbar- schaft bey Hannchen gehe. Mutter . O ja, recht gerne! Die Sache war so. Vor einigen Wochen, da es ganz entsetzlich regnete, kam ein blutarmer Mensch die Straße herunter und rief: Die Leute soll- ten doch große und kleine Feuersteine kaufen. Einen ganzen Sack voll. Ach! er war so naß, daß ihm das Hemde auf dem Leibe klebte. Ja! wie es schien, hatte er nicht ein- mal eins an. I 2 Mich Mich jammerte des armen Menschen. Ich ließ ihn hereinkommen, und kaufte ihm was ab, was ich doch nicht brauchen konnte. Da traten die Kinder um seinen Sack herum, den ich wiegen ließ, um seine Schwere zu wissen. Da hatte er einige vierzig Pfund. „Du lieber Gott! sagte der arme Mann: Sie sollten meinen Ruͤcken schen. Da ist alles von der Last und den scharfen Steinen mit Blut unterlaufen. Aber muß man nicht, wenn man weiter nichts hat? Winter ist es auch. Zu verdienen ist nichts. Ich bin ein armer Kohlenbrenner vom Harze. Sechs Kinder liegen zu Hause und haben die Pocken. Eine kranke Frau dazu. Da bat ich heute den lieben Gott: er sollte mir doch eingeben, was ich thun sollte, um nur das Brod zu verdienen. Ich gieng aufs freye Feld. Da sah ich Raben fliegen. O! dacht’ ich: der dem Vieh sein Futter giebt — den jungen Raben, Raben, die den Herrn anrufen — Lieber Gott! ich rufe dich an. Du wirst ja meine armen Kinder zu Hause nicht verhungern las- sen. Da kam ich auf einen Acker, wo viele Feuersteine lagen. Gleich packte ich meinen Sack voll, und dachte: die willst du nach der Stadt tragen, wenn du auch nur einige Gro- schen dafuͤr nach Hause bringest.“ Dieß ruͤhrte mich so sehr, daß ich dem armen Manne den ganzen Sack abkaufte, und ihm noch dazu Wurst und Brod einstecken ließ. Inzwischen war unser Dorchen unsichtbar geworden. Was meynen Sie, Vater! was das liebe Kind gethan hatte? Es war in die Kuͤche gegangen, und hatte von Cathrinen acht Groschen geborget. „Die, sagt es, will ich dir gleich wieder geben, sobald ich zu mei- ner Sparbuͤchse kommen kann. Du mußt es aber ja der Mutter nicht sagen.“ Was will I 3 sie sie denn damit? Das darf ich nicht thun. „O gieb her. Geschwind, ehe der arme Mann weggeht. Ich bitte dich gar zu sehr, gieb her. Ich koͤnnte sonst diesen Abend nichts essen. Du solltest seine Noth nur wissen. Du gaͤbest ihm selbst was. Denke nur: sechs Kin- der an den Pocken, und kein Brod!“ Als ihm Cathrine die acht Groschen gab, und es vorkam, sahe ich wohl, daß es aͤngst- lich war, und rothe Augen hatte. Ich be- kuͤmmerte mich aber nicht weiter drum. Der Mann war auch schon weg. Da laͤuft es geschwind nach der Hinterthuͤr im Garten, ruft ihn zuruͤck, und giebt ihm die acht Gro- schen fuͤr seine kranken Kinder. So hab’ ichs nachher alles von Cathrinen erfahren. Es fragte zwar bisher oft, ob ich nicht bald vor den Schrank gienge, wo seine Sparbuͤchse stuͤnde. Warum? sagte ich. Da schwieg es stille. Indessen hab’ ich Cathrinen die die acht Groschen schon lange wiedergegeben, und etwas druͤber, weil sie es dem Kinde zu einer so guten That nicht versagt hatte. Bey diesen letzten Worten kam Dorchen eben zur Stube herein. Dorchen . O liebe beste Mutter! nun ist meine Freude aus. Nein! Cathrine muß Ih- nen die acht Groschen wiedergeben. Ich muß sie ihm aus der Sparbuͤchse geben. Sonst haben Sie, und nicht ich, dem armen Manne Gutes gethan. Vater . Da hast du auch recht, mein Kind? Gleich laß Cathrinen kommen. Und Sie, Mutter! holen die Sparbuͤchse. Da sollst du Cathrinen gleich die acht Groschen wieder- geben. Dorchen . O ja! lieber Vater, so machen Sie es gut. Sehen Sie wohl, Muͤtterchen? Nun habe ich die Freude doch. I 4 XXVII. XXVII. Das leichtsinnige Kind. K aroline war ein uͤberaus leichtsinniges Maͤdchen. Sie hatte die Augen immer am Himmel, und nie vor den Fuͤßen. Ueber alles sah sie ohne Ueberlegung weg, und gab auf nichts Achtung — kehrte sich auch an keine Warnungen der Aeltern und Lehrer. Da- durch wurde sie sicher, vorwitzig und unvor- sichtig. Aber wie wurde ihr Leichtsinn ge- straft! Karoline gieng mit dem Vater und den andern Kindern nach einem benachbarten Dor- fe in die Kirschen. Da kamen sie an einen kleinen Graben, uͤber welchen ein alter Wei- denbaum gelegt war, uͤber den man auch recht gut weggehen konnte, wenn man sich nur ein Bißchen in Acht nahm, und zusah, wie man gieng. Die andern Kinder kamen recht gut daruͤber. daruͤber. Als sie nun auch heruͤbergehen woll- te, sagte der Vater zum Ueberfluß: Karoline ! sey nicht leichtsinnig. Siehe zu, wo du gehest. Sie aber, nach ihrer Gewohnheit, hatte die Augen oben an den Weidenbaͤumen, die am Wasser standen, und trat vorbey. Bauz! lag sie im Moder begraben. Da haͤtte man das Geschrey hoͤren sollen. Zum Gluͤck war der Graben nicht tief. Der Vater konnte sie leicht herausziehen. Aber Gesicht, Kleid, al- les war mit Moder uͤberzogen. Weißt du nun, sagte der Vater, was Leichtsinn ist? Du haͤttest oben drein noch Strafe verdient. Doch du bist gestraft genug. Und nun kamen die muntern Knaben zuruͤck. Die traten um sie her, und lachten sie brav aus. Seht da, hieß es, Karoline ist ein Schornsteinfeger geworden. Sie mußten am Graben herunter gehen, mit den Huͤthen Was- ser schoͤpfen, und sie uͤber und uͤber begießen, I 5 damit damit sie nur erst den Moder vom Gesichte abspuͤlten. Indessen stand Karoline da und zitterte vor Frost wie ein Espenlaub. Sie mußte nun doch in dem Aufzuge bis nach dem Dorfe ge- hen. Auf diesem Wege erzaͤhlte der Vater den Kindern, zur Warnung vor dem Leichtsinn, folgende Geschichte. Es war einmal ein Schieferdecker, der bey seiner gefaͤhrlichen Profession am wenig- sten haͤtte sollen leichtsinnig seyn. Er beklet- terte die hoͤchsten Thuͤrme mit einer wahren Tollkuͤhnheit, und gab sich selten die Muͤhe, einmal nachzusehen, ob Kloben, Stricke und Kasten in rechtem Stande waren. Ehe er sichs nun versahe, gieng der Strick an dem einen Ende des Kastens los. Rutsch war er herunter. Gottes Vorsehung aber behuͤtete ihn recht sichtbar. Er fiel auf ein von ohn- gefaͤhr unter dem Thurme abgeladenes Fuder Stroh. Stroh. Er achtete aber diesen augenschein- lichen Schutz Gottes so wenig, daß er gleich in die Schenke gieng, sich betrank, auf die Bank legte, von derselben herunterfiel, und den Arm brach. War das nicht ein leichtsinniger Mensch? XXVIII. Das unhoͤfliche und unbescheidene Kind. H oͤflichkeit und Bescheidenheit gehet vor Schoͤnheit. Das heißt: wenn ein Kind noch so schoͤn aussiehet; wenn es einen noch so schoͤnen Koͤrper, Gesicht und Kleider haͤt- te; es waͤre aber gegen andere nicht hoͤflich und bescheiden: so wird es doch Niemand achten. Wenn Wenn aber ein Kind noch so haͤßlich aus- saͤhe, daß die Pocken z. E. sein Gesicht ganz verdorben haͤtten; waͤre es auch ein armes. Bettelkind in zerrissenen und zerlumpten Klei- dern; es waͤre aber hoͤflich und bescheiden: so wuͤrde es doch vor dem vornehmsten und schoͤnsten Kinde den Vorzug haben, wenn sich dieß unhoͤflich und unbescheiden auffuͤhrte. Der Junker Franz von Schoͤnhausen war ein bildschoͤnes Kind — hatte praͤchtige und mit Tressen besetzte Kleider — war aber ge- gen andere Kinder, besonders buͤrgerliche, ein rechter Grobian. Denn der Adelstolz steckte ihm schon im Kopfe. Seine Unhoͤflichkeit und Unbescheidenheit zeigte sich dann am meisten, wenn Fremde da waren. Er gruͤßte sie nicht. Er dankte ihnen nicht. Er sahe sie kaum beym Wege an, zumal wenn es keine Adeliche waren. Sie haben wohl zu Weihnachten schoͤne Sachen bekommen, junger Herr? fragte ihn neulich neulich die Frau Pastorinn, die bey seiner Mama einen Besuch ablegte. Er kehrte ihr den Ruͤcken zu, und antwortete nicht. Hoͤrst du nicht, Franz? sagte die Mama. So kehre dich doch um, wenn die Leute mit dir sprechen. „Ich will nicht. Sie da — kann sich um sich bekuͤmmern.“ Nun setzte er den Huth auf, und begegnete den andern Kindern, die zu ihm gekommen waren, so entsetzlich grob, daß sie alle weggiengen. Der aͤlteste Sohn des Predigers sagte: O kommt, Kinder! wer kann das ausstehen? Als sie uͤber den Hof giengen, begegnete ihnen der Kutscher. Der fragte: warum sie schon weggehen wollten? Da klagten die Kinder uͤber Franzens Unhoͤflichkeit. Ja! sagte der: dat is unse Junker Grobian. Fritze war allerwegen als ein unhoͤfli- cher, unbescheidener und haͤßlicher Junge be- kannt. Man nennte ihn nur den kleinen Bauer . Keiner Keiner konnte ihn leiden, und kein Kind wollte mehr mit ihm umgehen. So blieb er in seinen Worten, in seinen Gebaͤrden, in seinem gan- zen Betragen. Als er groß wurde, und von Universitaͤten kam, konnte er unter hoͤflichen und artigen Leuten gar nicht fortkommen. Er wurde Informator; aber wie lange? Die Kinder lernten nichts als Grobheiten von ihm. Da wurde er bald abgeschafft. Und so giengs von einem zum andern, bis er sich zuletzt auf einem Dorfe einmiethen mußte, und unter den Bauern sein Leben endigte. Lottchen hatte sonst den Ruhm eines arti- gen und fleißigen Kindes gehabt; aber seit einiger Zeit sich viele unhoͤfliche Manieren, insonderheit bey Tische, angewoͤhnt. Es ließ auch schon gegen andere mehr Unbescheidenheit blicken, als sonst; und, was das aͤrgste war, sogar gegen seine Aeltern. Die Mutter hatte neulich das kleine Kind auf dem Schooße. Da Da sagte sie zu Lottchen : Reiche mir einmal dort das Schnupftuch vom Tische her. Erst that es, als hoͤrte es nicht. „Lotte! hoͤrst du nicht? das Schnupftuch da.“ Da nahm es das Tuch, und warf es der Mutter so hin, als wenn man einem Hunde was hinwirft. Pfuy! mußte selbst das Kindermaͤdchen sagen: das war auch sehr unbescheiden. Nach einiger Zeit merkte Lottchen, daß es nicht mehr so geachtet wurde, wie sonst. Es klagte es der Mutter: Ich weiß nicht, wie es zugeht, daß mich die Leute nicht mehr so lieb haben. Das will ich dir wohl sagen, sprach die Mutter: weil du jetzt so unhoͤflich und un- bescheiden bist. XXIX. Eini- XXIX. Einige Tischregeln . 1) S itze gerade, und mit den Fuͤßen stille. 2) Sey bescheiden und hoͤflich, besonders wenn Fremde da sind. 3) Iß reinlich, und lege alles huͤbsch auf den Teller. 4) Spiele nicht mit dem Brode, und verkru- me nichts. 5) Fordre nichts, sondern sey zufrieden mit dem, was du bekoͤmmst. Das heißt Aufstippen . 6) Schiele nicht neidisch nach dem Teller der andern, ob eins ein Bißchen mehr be- koͤmmt. 7) Sprich nicht eher, als bis du gefragt wirst, und falle andern nicht in die Re- de, wenn sie sprechen. 8) Lege 8) Lege dich nicht mit den Haͤnden oder Armen auf den Tisch. 9) Wenn du trinkst, so wische dir erst den Mund ab. 10) Lauf nicht eher vom Tische, als bis dirs erlaubt wird. 11) Iß nicht gierig und heißhungrig, sondern langsam. 12) Spiele nicht mit Messer und Gabel. 13) Lecke die Finger nicht ab, oder habe sie nicht immer im Munde. 14) Lege Messer, Gabel und Serviette ordent- lich zusammen, wenn du aufstehest. 15) Schmatze nicht so, wenn du issest, daß man glauben muß, man sey bey gewis- sen Thierchen im Stalle. 16) Bete lieber gar nicht, als daß du aus Gewohnheit und ohne Andacht betest. II Theil . K XXX. Das XXX. Das verfuͤhrte Kind. A ch! lieber Herzensvater, ich bitte Sie gar zu sehr, schlagen Sie mich doch nicht. Ich kann nichts dafuͤr. So kam Moritz nach Hause geschrien, und sah aus, wie ein Schornsteinfeger. Ganz schwarz, mit Koth und Moder uͤberzogen. Der Vater erschrak, als er ihn sah. Denn, haͤtte er ihn nicht an der Stimme erkannt, so wußte er nicht, wer es war. Herr Gott! Moritz, sagte der Vater, wie siehst du aus? Wo hast du gesteckt? Gehe mir vor den Augen weg, und erwarte deine Strafe. Moritz gieng voll Furcht und Angst weg. Er wußte sich nicht zu helfen, noch zu rathen, bis sich die eine Magd uͤber ihn erbarmte, und ihn vor dem Brunnen rein abwusch. Da zit- terte und bebte der arme Schelm. Nun wur- de de er trocken angezogen und ins Bette ge- legt. Unter der Zeit kamen zwey Fischer und wollten den Vater sprechen. Was bringt ihr mir, ihr guten Leute? sagte er. „Wir wollten uns von dem Herrn ein Trinkgeld holen, daß wir seinen Sohn han aus dem Graben gezo- gen. Er stack schon so tief drinn, daß wir nur den Schwanz noch sahen. Dabey han wir ihn rausgetreckt. Ein Augenblickelken spaͤ- ter, so war he weg. Er hadde kein Leben meh, da er herauskam, bis wir ihn auf den Kopf stellten, daß ihm das Wasser aus dem Halse lief.“ Nun erschrak der Vater erst recht. Denn vorher meynte er nur: Moritz haͤtte sich in der Gosse umgekehrt. Ach! ihr guten Leute, sagte er, da habt ihr was fuͤr eure Muͤhe, und noch vielen Dank, daß ihr mir meinen Sohn gerettet habt. Aber sagt mir doch, wie K 2 ist ist es denn gekommen, und wo ists ge- schehen? Ja! antworteten die Leute, das wissen wir selbst nicht recht. Draußen im Stadt- graben ists geschehen, der halb abgelassen ist, wo wir eben fischten. Da waren noch mehr kleine Jungen im Kahne. Und da schrien sie auf einmal. Da liefen wir zu. Denn wir waren ganz unten. Da stack der aber schon drinn. Nun ließ der Vater Moritzen kommen, und sagte: Haͤttest du nicht empfindliche Strafe verdient? Was hast du gemacht? Wo bist du gewesen? Ich denke, du bist in der Schule. Und nun bist du auf dem Graben. Ich weiß schon alles. Wirst du mir nicht alles ehrlich erzaͤhlen, oder wirst du noch dazu luͤgen, so sollst du deine Strafe nicht wissen. Ach lieber Vater! schluchzte dieser. Ver- geben Sie mirs doch. Ich kann nichts da- fuͤr. fuͤr. Was? rief der Vater, gottloses Kind! du willst dich noch entschuldigen? Du koͤnntest nichts dafuͤr? Warum bist du ohne mein Vor- wissen aus der Schule gelaufen? Hoͤren Sie doch nur, lieber, lieber Vater! Nur ein Woͤrt- chen, daß ich nichts dafuͤr kann. Als ich in die Schule gieng, begegnete mir Christian, und sagte: Draußen auf dem Graben wird gefischt. Komm mit. Die andern gehen auch mit. Es ist keine Schule. Da gieng ich mit. Sehen Sie wohl, daß ich nichts dafuͤr kann. So kams. Du bleibst doch noch bey deinen vier Au- gen; aber erzaͤhle weiter. Als wir heraus kamen, sagte Christian: Komm, ich will dich kahnen. Da stieg ich in das Kahn, und er kahnte fort. Nun gab er mir die Stange in die Hand, und sagte: Da, stecke die hinein, so wirds recht gehen. Ich that das. Da gieng der Kahn unter mir weg, K 3 und und ich lag drinn. Weiter weiß ich nicht, wie mir geschehen ist, bis ich mich erholte, und die Fischer bey mir standen. Christian aber und die andern waren uͤber alle Berge. Ich kann nichts dafuͤr. Christian ist an allem Schuld. Vergeben Sie mirs doch. Wollen Sie, lieber Vater? Ja! das will ich, weil dich Gott aus ei- ner so augenscheinlichen Todesgefahr errettet hat. Ach Gott! wie bald konntest du weg seyn, wenn die Fischer nicht da waren! Elen- diglich haͤttest du im Moraste ersticken muͤssen. Aber unschuldig bist du nicht. Ach Vater! rief Moritz noch immer, Christian, der boͤse Christian, hat mich verfuͤhrt. So? der hat dich verfuͤhrt? erwiederte der Vater. Also meynst du, daß du deswegen unschuldig waͤrest? Doch davon wollen wir morgen weiter sprechen. Jetzt gehe zu Bette, und und danke Gott, daß er dich so gnaͤdig erret- tet hat. XXXI. Fortsetzung des dreyßigsten Stuͤcks. Vater . N u, wie ists, Moritz? Hast du nachgedacht? Bist du noch so unschuldig? Moritz . Christian hat mich verfuͤhrt. Er sagte: es waͤre keine Schule. Vater . Warum hast du dich denn aber ver- fuͤhren lassen? Mußtest du ihm gleich glauben? Konntest du nicht erst zum Lehrer gehen und fragen? Moritz . Ja! das haͤtt’ ich thun koͤnnen. Aber ich dachte nicht daran. Und das Fischen auf dem Graben — Vater . Das stack dir im Kopfe. Daruͤber vergaßest du allen Gehorsam. Warum kamst K 4 du du aber nicht erst zu mir? Bist du nicht ohne mein Vorwissen allein herausgegangen? Haͤt- test du mich erst um Erlaubniß gebeten, ich waͤre wohl selbst mitgegangen, und haͤtte dir diese Lust gemacht. Dann waͤrst du gewiß zu dem Ungluͤck nicht gekommen. Aber so gehts, wenn Kinder ohne Auf- sicht, ohne Vorwissen ihrer Aeltern herumlau- fen. Dann folgt ihnen die Strafe auf dem Fuße nach. Dann kommen sie zu Ungluͤck, daß sie nicht wissen, wie? Dann kommen sie oft elendiglich ums Leben. Denkst du nicht mehr an den kleinen Ertrunkenen in Dessau? Siehe das erste Baͤndchen S. 76. Kannst du noch nichts dafuͤr? Moritz . Ach ja! bester Vater, nun er- kenne ichs, daß ich gefehlt habe. Ich haͤtte dem Christian nicht folgen sollen. Vater . Siehst du wohl, daß es nun ganz anders klingt? So gehts aber, wenn die Kin- der der denken: sie waͤren selbst schon klug und verstaͤndig genug, sich zu fuͤhren und in Acht zu nehmen. Merkst du denn nicht, daß der boͤse Bube, Christian, die Absicht hatte, dich zu verfuͤhren, daß du solltest ins Wasser fallen? Moritz . Nein! Vater, das sehe ich noch nicht. Er sagte nur: ich sollte mich auf die Stange legen. Vater . Das war es eben, wodurch er dich verfuͤhrt hat. Wenn du dich vorn auf die Stange legtest, so gieng der Kahn unter dir weg. Bauz! lagst du drinn, wie auch geschehen ist. Moritz . Ja! so kam es. Ich war aber nicht Schuld daran. Vater . Wer denn? Haͤttest du nicht ge- folget, so waͤrest du nicht gefallen. Muß man denn an gefaͤhrlichen Orten gleich alles thun, K 5 was was entweder boͤse Buben, oder unverstaͤndige Kinder sagen? Der Verfuͤhrte hat so wohl Schuld, als der Verfuͤhrer . Verstehst du das nun, Moritz? Moritz . Ach ja, Vater! Ich hab’ es erfahren. Vater . Das daͤcht’ ich auch. Wenn dir Jemand ein Messer gaͤbe, und sagte: Stich damit deine Schwester todt, und du thaͤtst es: haͤttest du keine Schuld? Koͤnntest du sagen: Warum hat er mir das Messer gegeben? Oder wenn dir Jemand sagte: Da hast du bren- nenden Schwefel, stecke deines Nachbars Haus an; du thaͤtst es, und wolltest dich hernach damit entschuldigen, daß er dir dazu den Schwefel gegeben haͤtte? Oder Christian kaͤme, und gaͤbe dir einen Stock, und sagte: Schla- ge alle Huͤhner auf deines Vaters Hofe todt. Koͤnntest du sagen: Ich kann nicht dafuͤr. Er Er hat mir den Stock dazu gegeben. Siehe, so ist es auch mit dem Kahne. Moritz . Ach lieber Vater! ich sehe nun ein, daß ich in allem Unrecht habe. Ich werde mich nicht so leicht wieder verfuͤhren lassen. Vergeben Sie mir nur dießmal. Vater . Das hab’ ich dir versprochen. Damit du aber einen Denkzettel deiner Ver- fuͤhrung hast, und dich kuͤnftig besser in Acht nimmst, so habe ich den Fischern, die dich ge- rettet haben, alles Geld aus deiner Spar- buͤchse, uͤber zwey Thaler, gegeben — Und das Kleid, womit du im Moder gesteckt hast, mußt du so lange tragen, als ein Stuͤck daran ist, es mag aussehen wie es will. XXXII. Der XXXII. Der Leichvogel . Marie . D a schreyet einmal der fatale Vogel wieder. Der wird gewiß einen holen wollen. Hoͤre nur einmal einer an, wie die Kroͤte kik- kert — recht, als ob er lachte und sich freue- te. Das hat nun schon einige Naͤchte so ge- waͤhrt. Mir grauet, daß ich soll zu Bette gehen. Aber mich soll doch wundern, wen es bedeuten wird? Wilhelm . Was sagst du da, Marie, von Holen? Wer will denn einen holen? Der Vogel soll einen holen? Was fuͤr ein Vogel? Marie . J, Wilhelmchen! hoͤrst du denn den Vogel nicht schreyen? Horch doch — das Leichhuhn ! Wenn das schreyet, so wird ge- wiß einer in der Nachbarschaft sterben. Und wenn wo ein Kranker liegt, und es fliegt ans Fenster, Fenster, der mag sich dem lieben Gott befeh- len; der koͤmmt gewiß nicht davon. Wilhelm . Hoͤre einmal, Marie! du sprichst wunderliches Zeug. Sage mir nur erst, was das fuͤr ein Vogel ist? — Leich- huhn? Leichvogel? Das verstehe ich nicht. Marie . Was weiß ichs, was es fuͤr eine Kroͤte ist? Es soll ein kleiner grauer Vo- gel seyn, wie die Leute sagen, wie ein jung Huhn. Wenns mit der Kroͤte richtig waͤre, so koͤnnte er huͤbsch bey Tage kommen; aber so schreyet er nur des Nachts. Genug, wenn er ruft, so muß einer sterben, und das trifft immer ein. Wilhelm . Du bist dem Vogel erschreck- lich gut. Das hoͤre ich wohl. Denn du nennst ihn immer die Kroͤte. Aber sage mir nur, wie kann denn der Vogel das wissen, wenn einer sterben will, oder, wie du sagst, einen ho- len? Marie . Marie . Ja! da fragst du mich zu viel. Das weiß ich nicht. Genug, es ist wahr. Es stirbt allemal einer, wo sich die Kroͤte hoͤren laͤßt. Wilhelm . Wenns nur dich nicht bedeu- tet? Du bist alt genug. Ich moͤchte es wohl einmal sehen, wenn dich der Vogel holte, wie du dich anstellen wuͤrdest? Marie . Ja! spotte du nur. Ach du lie- ber Gott! nimm mich nicht weg in der Haͤlfte meiner Tage. Wilhelm . J! Marie, du bist ja uͤber stebenzig Jahre alt, und hast einen grauen Kopf. Marie . Das ist das einzige Spruͤchelchen, das ich beten kann. Weiter habe ich nichts gelernt. Ach es ist mir recht schwer auf dem Herzen! (Wilhelm sitzt bey Tische immer in Ge- danken.) Mutter . Mutter . Was fehlt dir, Wilhelm? Sitzest du doch, wie im Traume. Albertine . Er ist in Angst, der Leich- vogel wird ihn holen. Wilhelm . Ich haͤtte bald was gesagt. Bekuͤmmere dich um dich. Mutter . Sachte, sachte! Kannst du dei- ne Schwester nicht besser anfahren? Wer hat dir wieder was in den Kopf gesetzt? Es ist doch gar zu ein leichtglaͤubiger Junge. Alle Possen glaubt er. Alles laͤßt er sich aufbinden. Und es schadet dir nichts, wenn du dich vor allen alten Weiberhistoͤrchen fuͤrchtest. Was ist das einmal wieder mit dem Leichvogel? Albertine . Marie sprach heute Abend da- von unten in der Stube. Ich habe aber nicht einmal recht darauf gehoͤrt. Wilhelm . Da riefe des Abends und Nachts ein Vogel, sagte Marie. Es muͤsse denn einer in der Nachbarschaft sterben, wenn er er sich hoͤren ließe — und er hole die Leute. Das hab’ ich jetzt so bey mir bedacht, obs wohl wahr waͤre? Mutter . I, das wundert mich, daß du daran noch zweifelst. Das hat dir ja Herr Erich , dein Lehrer, schon oft genug gesagt. Das hast du ja von deinen Aeltern und an- dern verstaͤndigen Leuten ebenfalls schon ge- hoͤrt. Wilhelm . Sie, Herr Erich, haͤtten mir das gesagt? Nein, liebe Mutter! ich habe es noch von keinem Menschen gehoͤrt. Ich kenne auch den Vogel nicht. Erich . (lacht) Merkst du denn nicht, Wil- helm! wo die Mutter hin will? Weil du es weder von deinen lieben Aeltern, noch von mir und andern verstaͤndigen Leuten, sondern al- lein von Marien gehoͤrt hast, so mag die Sa- che wohl eben nicht so sehr richtig seyn. Ma- riens Philosophie ist nicht weit her, und es sollte sollte mir leid thun, wenn mein Wilhelm und Albertine nicht kluͤger waͤren, als Marie mit ihrem Aberglauben. Wilhelm . Lieber Herr Erich! thun Sie mir doch den Gefallen, und sagen mir, wie es mit dem Leichvogel eigentlich ist. Ich will Ihnen gerne glauben. Albertine . O ja! Herr Erich. Ich bit- te auch drum. Ich hoͤre so was gar zu gern, wovor sich die alten Weiber kreuzigen und segnen. Mutter . Und ich werde auch zuhoͤren, da ich in meiner Jugend so viel von dem Zeu- ge gehoͤrt habe. Oder wollen wirs lassen, bis diesen Abend? So haben wir einen angenehmen Zeitvertreib, da ohnehin der Vater verreist ist. Ich weiß das recht gut, daß alles dabey natuͤrlich zu- gehen muß; aber wie es eigentlich damit ist, das wuͤnschte ich denn doch wohl zu wissen. II Theil . L XXXIII. XXXIII. Fortsetzung des zweyunddreyßigsten Stuͤcks. Erich . D er Aberglaube pflegt in der Natur alles zu seinem Vortheil auszulegen. Und da sind auch die armen unschuldigen Voͤgel nicht einmal frey geblieben. Denen giebt man auch genug Schuld, woran die armen Dinger nie denken, denken koͤnnen, und gedacht haben. Wilhelm ! was hatten wir doch neulich aus der Acerra philologica von dem Fluge der Voͤgel bey den alten Roͤmern? Wilhelm . Daß sie aus dem Fluge der Voͤgel Gluͤck oder Ungluͤck wahrsagen wollten. Erich . Noch jetzt macht man die armen Eulen gar zu Todespropheten. Mutter . O! das ist es noch nicht alles. Zu meiner Zeit hieß es: Wenn des Nachts die Eulen Eulen schrien, die Katzen sich bissen, die Hun- de heulten, so muͤßte entweder einer sterben, oder es wuͤrde Feuer entstehen, oder Krieg werden. Viel Wind solle auch Krieg be- deuten. Erich . Ja! die Sache ist so weit gekom- men, daß der Vogel einen ordentlichen Namen bekommen hat, und der Leichvogel heißt, weil er durch sein Geschrey anzeige, daß bald wo in einem Hause eine Leiche, oder ein Tod- ter seyn wuͤrde. Albertine . Davon heißt er auch wohl das Leichhuhn? Erich . Ja! eben davon. Wilhelm . Wenn ich nur erst wuͤßte, was es fuͤr ein Vogel waͤre! Gehoͤrt hab’ ich ihn wohl, daß er rief: Ki! Ki! Ki! aber noch nie gesehen. Erich . Wenn ich dir aber sage, Wilhelm ! daß du den Vogel wirklich schon lebendig und L 2 todt todt gesehen, aber nicht gewußt hast, daß es der Leichvogel sey? Was meynst du dazu? Wilhelm . Wo waͤre denn das gewesen? Erich . Besinne dich nur. Als wir neulich Abends an dem kleinen Flusse an den Weiden herunter giengen, da flog ein grausprenklicher Vogel heraus, der schrie: Kiki! Kiki! Weißt du das nicht mehr? Du liefst ja noch hinter- her, da er nach der alten Steinwarte auf dem Berge flog. Wilhelm . Die kleine Eule? Erich . Ja! das war der Leichvogel . Da hast du ihn lebendig gesehen. Und neu- lich in Zerbst, in dem Langhavelschen Kabinet, hast du ihn ausgestopft gesehen. Wilhelm . Das waͤre der Leichvogel? Erich . Ja! ja! das ist er, und kein anderer. Die kleinste Art von Eulen hier zu Lande, die man auch den Kauz , das Kaͤuz- lein nennet. Dieser Vogel wohnt in hohlen Weiden, Weiden, in alten Thuͤrmen, Scheunen und Gebaͤuden. Im Herbst und Fruͤhjahr kom- men sie gern in die Staͤdte, und schreyen des Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber frage ich dich: Kann der Vogel wohl wissen, anzeigen und offenbaren, wenn einer sterben soll? Wilhelm . Nein! das kann wohl kein Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Mensch von dem andern. Erich . Siehst du wohl? Woher sollte das auch ein unvernuͤnftiger Vogel wissen? Wenn es wahr waͤre, so muͤßte er den beson- ders anzeigen koͤnnen, der sterben sollte, und der muͤßte denn auch gewiß sterben. Der dumme Vogel weiß seinen eigenen Tod nicht einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon- dition war, da schrie mir auch einer einmal alle Abend vor meinem Kammerfenster auf der Scheune, daß ich nicht studiren konnte. Ich L 3 holte holte die Windbuͤchse, und schoß ihn herunter. Da lag er, und ich lebe noch. Mutter . Zuweilen soll es aber doch zu- treffen, daß der Kranke stirbt, wo der Vogel vor dem Fenster schreyet. Ich habe das selbst bey meinem seligen Vater erlebt, daß er ans Fenster geflogen kam, und ganz toll war, da er in letzten Zuͤgen lag. Es kann das aber andere Ursachen haben, und ganz natuͤrlich zugehen. Erich . Darauf will ich gleich hernach antworten. Jetzt aber sage ich nur so viel: Es kann wohl seyn, daß etwan einmal hier oder da einer in der Gegend oder Straße gestor- ben ist, da der Vogel rief. Das trifft wohl zusammen. Aber sage mir einmal, Wilhelm , ob du glauben kannst, daß der Vogel daran Schuld sey, und daß sein Schreyen nichts anders, als den Tod des Menschen, bedeutet habe? Wilhelm . Wilhelm . Das kann ich freylich nicht. Erich . Also siehst du, wie wenig Grund ein solches Geschwaͤtz hat. Der Mensch waͤre doch wohl gestorben, wenn auch kein Vogel dahin gekommen waͤre. Ein andermal ruft er vor oder in dem Hause eines Kranken, bey dem man aufs Ende wartet. So weiß ichs, daß er einmal vierzehn Tage hinter einander, Tag und Nacht oben in der Bodenluke einer alten Frau saß, und unaufhoͤrlich schrie. Die Frau war einige siebenzig Jahre alt, und hat- te schon uͤber ein Vierteljahr gelegen. Da sagten alle Leute: Nu! die wird gewiß reisen muͤssen. Und sie lebt noch. Also triffts unter hundertmalen nicht einmal ein. Wilhelm . Aber was sagen Sie zu dem Exempel, das die Mutter vorher anfuͤhrte? Erich . Das laͤßt sich bald erklaͤren. Der Vogel gehoͤret unter die Aasvoͤgel, und hat eine erstaunlich starke Witterung. Das heißt: L 4 er er kann solche Dinge, die stark riechen, als todtes Aas, Arzeneyen, und Kranke, die an Faulfiebern, Frieseln, u. s. w. — auch die in letzten Zuͤgen liegen, und schon inwendig anfangen zu faulen, sehr weit riechen. Der Geruch der Krankenstuben zieht ihn besonders herbey. Da koͤmmts denn, wenn er hungrig ist, daß er oft an das Fenster fliegt, wo sol- che Kranke liegen, die schon aashafte Aus- duͤnstungen von sich geben. In den Kranken- stuben ist auch die ganze Nacht Licht, und er fliegt auch gerne nach dem Lichte. Das geht denn alles sehr natuͤrlich zu, und solche Kran- ke haͤtten denn ohnehin bald sterben muͤssen. Mutter . Das war meisterhaft erklaͤrt, Herr Erich! Wilhelm . Nun bekomme ich auch ganz andere Gedanken von der Sache. Meinethal- ben mag er nun schreyen, so viel als er will. Mich soll er gewiß nicht holen. Erich . Erich . Ja! es waͤre auch eine traurige Sache um der Menschen Leben, wenn jeder Vogel, oder jedes pickende Wandwuͤrmchen, mir meinen Tod anzeigen sollte. Das wußte David in der Bibel besser: Meine Zeit stehet in deinen Haͤnden . XXXIV. Der feurige Drache . Anne . A ch! gestern Abend, was ich da gesehen habe, das darf ich fast keinem Menschen sagen. Cathrine . Also mir auch wohl nicht. Denn ich bin auch ein Mensch. Das muß denn was recht Sonderbares gewesen seyn. Anne . Das war es auch. Da zogs vom Himmel herunter — ach! Gott sey bey uns! L 5 und und hatte einen Schwanz — wohl zehn Ellen lang. Lauter Feuer — lauter Funken, wie ein Drache. — Gerade da nach dem Schorn- steine der — hin. Ich mag sie nicht berufen. Da gabs denn heute fruͤh brav Butter, Kaͤse und Eyer, Speck und Wuͤrste — in schwe- rer Menge vor der Thuͤr. Wo wollte die Frau das sonst her kriegen, wenns ihr nicht der Drache braͤchte? Ich habs mein Tage so weit nicht bringen koͤnnen. Was sollten sonst auch die rothen Augen des Weibes bedeuten, wenn sie nicht den feurigen Drachen so oft saͤhe? — Die alte boͤse Hexe! Cathrine . Anne! Anne! Was sprecht ihr da? Redet euch ja nichts uͤber den Hals. Ich will euch nicht verrathen. Wenn das aber die Frau wuͤßte, sie wuͤrde euch be- hexen, daß euch weder Sonne noch Mond beschiene. Ich meyne da unter dem Rathhause in dem Stuͤbchen unter der Erde. Anne . Anne . Ich wollte es ihr schon beweisen. Mit meinen Augen hab’ ich ihn in den Schorn- stein hineinfahren gesehen. Ich habe Zeugen druͤber. Cathrine . Wen denn? Anne . Wen denn? Als wenn sie’s nicht gehoͤrt haͤtte? Den Drachen, wenn sie es wis- sen will. Cathrine . Wer weiß, was ihr gesehen habt? Laßt euch ja nichts merken, daß es die Kinder nicht hoͤren. Ihr duͤrftet sonst von unserer Frau einen derben Ausputzer kriegen. Ich glaube aber, sie hats lange ausgeschwatzt, und die Kinder wissen schon was davon. ( Dorchen ruft und schreyet des Abends ganz erschrecklich im Bette. Ach Mutter! Hu! hu! hu! Mutter, kommen Sie mir zu Huͤlfe, Er will mich fressen.) Cathrine . Cathrine . Da haben wirs. Das dacht’ ich wohl. Mutter . Cathrine! geht doch einmal herein, und seht, was dem Kinde fehlt. Cathrine . Schlaf sie ein, Dorchen . Wir sind alle hier. Es thut ihr keiner was. Es hat ihr getraͤumt. Dorchen . Ach Cathrine! Mutter! Ich muß heraus. Ich kann nicht bleiben. Da war er am Bette. Lauter Feuer. Mutter . Kind! was denn? Wer war da? Fuͤrchte dich nicht. Wir sind ja hier. Dorchen . O! nehmen Sie mich doch mit. Ach! der feurige Drache kam da her- unter und wollte mich verschlingen. Mutter . Moͤchte man sich nicht todt aͤrgern! Wer mag nun dem Kinde wieder was in den Kopf gesetzt haben? Cathrine . Ich nicht, Frau Doktorn. Mutter . Mutter . Kind! wer hat dir denn das gesagt? Dorchen . Ach! Anne sagte gestern Abend, der Drache sey in den Schornstein gefahren. Da kam mirs vor, wie ich einschlafen wollte, als ob er zu mir ins Bette kaͤme. Mutter . Ganz gewiß muß ich das Weib ihres Aberglaubens wegen noch abschaffen. Es verdirbt mir alle Kinder. Glaube du das nicht, liebes Dorchen! Es giebt keinen feuri- gen Drachen, der den Leuten was zu Leide thut. Morgen will ich dir alles erzaͤhlen, wie es damit ist. Schlaf du nur ganz ruhig. Cathrine . Ich habe es ihr genug gesagt, sie sollte den Kindern nichts vorschwatzen. Aber es war schon geschehen. Mutter . Nun, morgen soll sie fort. Denn sie ist nicht zu bessern. Sie lebt und stirbt bey ihrem Aberglauben. Aber ich muß es doch dem Vater und Herrn Liebmann sa- gen. gen. Was meynen Sie wohl? so ists gestern Abend mit Dorchen im Bette ergangen. Ich habe bald den Tod vor Schreck gehabt. Und daran ist keiner Schuld als Anne. XXXV. Fortsetzung des vierunddreyßigsten Stuͤcks. Vater . G leich sollen alle Kinder kommen, und Dor- chen auch. Mein Kind! hast du dich denn gestern Abend so vor dem Drachen ge- fuͤrchtet? Da muͤßt’ ich dich doch recht aus- lachen. Dorchen . Ja, Vater! Anne hat ihn sehen in den Schornstein fahren. Vater . Das kann wohl seyn. Und das ist doch kein feuriger Drache — kein lebendi- ges ges greuliches Thier, das dir was zu Leide thut. Das glaube du mir auf mein Wort. Liebmann . Und auch auf mein Wort, liebes Dorchen. Ihr andern aber werdet doch wohl nicht mehr darinn Einen Glauben mit Annen haben? Franz . Nein, gewiß nicht, Herr Lieb- mann . Karl . Erzaͤhlen Sie uns doch was da- von. Albertine . Die alte Anne haͤlt die Frau fuͤr eine Hexe, in deren Schornstein der Dra- che gefahren waͤre. Liebmann . Das koͤnnt ihr glauben, lie- ben Kinder! daß das der einfaͤltigste Aber- glaube ist, der nur seyn kann. Was der sonst in der Welt fuͤr Schaden gethan hat, und was der fuͤr unmenschliche Grausamkeiten an den unschuldigsten Leuten, wenn sie als Hexen angeklagt wurden, veruͤbt hat, das ist mit Worten Worten nicht auszusprechen. Aber erst noch was von dem feurigen Drachen . Komm her, mein Dorchen! setze dich hier auf meinen Schooß, und hoͤre zu. Als wir neulich Abend am Johannistage draußen im Busche waren, wie wars da um die Buͤsche herum, und in der Luft? Franz . Als wenn die Buͤsche brennten, und die Luft voll Sternchen waͤre. Liebmann . Da fuͤrchtetet ihr euch wohl recht? Karl . Ja, anfaͤnglich; aber hernach nicht mehr. Da wurden wir so dreist, daß wir die leuchtenden Dingerchen selbst fiengen. Es waren Johanniswuͤrmchen , die ein ganz scharmantes Licht von sich gaben, und doch nicht brannten. Da war alle Furcht weg. Liebmann . Hast du die nicht auch ge- sehen, Dorchen? Dorchen . Dorchen . O ja! es waren gar zu nied- liche Wuͤrmchen. Liebmann . Das gieng denn doch sehr natuͤrlich zu. Als wir aber den Abend gegen zehn Uhr uͤber die Wiese nach Hause giengen — da der feurige Strahl am Himmel durchzog — da unser Bedienter sagte: Es schnuppt oder putzt sich ein Stern — da waret ihr wohl recht in Furcht? Franz . Nein, gar nicht, Herr Lieb- mann . Sie sagten uns ja, daß der Schein viele hunderttausend Meilen von den Sternen weg waͤre. Es sey nichts als eine Entzuͤn- dung schweflichter Duͤnste in der Unterluft. Wenn nun der Strich ausgebrannt waͤre, und weiter nichts mehr vorhanden sey, so hoͤre es auf zu leuchten, und habe sich verzehrt. Liebmann . Du hasts gut behalten. Eben als wenn wir am Freyschießen einen Strich mit Pulver machen, und den vorn anstecken, II Theil . M so so laͤuft das Feuer bis ans Ende, und da hoͤrts von selbst auf. Dorchen ! du hast ja die Sternschnuppe auch gesehen, wie es die Leute nennen? Dorchen . Ja, recht gut, und fuͤrchtete mich nicht. Liebmann . Nun, so glaube doch auch der alten einfaͤltigen Anne nicht mehr, wenn sie dir vom feurigen Drachen was vorschwatzt, der in den Schornstein gefahren waͤre. Glaube mir und deinen Aeltern mehr, als dem alten Weibe. Was sie da gesehen hat, ist nichts anders, als eben eine solche Lufterscheinung, die sich entzuͤndet hatte. Mehr als hundert- mal hab’ ich dergleichen des Nachts am Him- mel auf dem Postwagen, auf meinen Reisen gesehen. Dorchen . Aber er ist ja in den Schorn- stein gefahren? Liebmann . Liebmann . Auch das geht sehr natuͤrlich zu. Weil die Schornsteine enge, und oben offen sind, so haben sie einen starken Zug. Daher ziehen diese feurigen Strahlen gerne dahin. Wo sie durchgezogen sind, da laͤßt es, als ob sie einen langen Schwanz hinter sich haͤtten. Daher sie auch die dummen Leute fuͤr Drachen mit langen Schwaͤnzen ansehen. Dorchen . Nun will ich mich auch nicht mehr davor fuͤrchten. Aber Anne sagte noch: er braͤchte Eyer, Butter und Kaͤse in den Schornstein, und denen er was braͤchte, das waͤren Hexen. Das verstehe ich nur nicht. Liebmann . Morgen mehr, liebes Kind! Gehe du jetzt ganz getrost zu Bette. M 2 XXXVI. XXXVI. Fortsetzung des fuͤnfunddreyßigsten Stuͤcks. Liebmann . H ast du gut geschlafen, mein Dorchen? Hat dir der feurige Drache nichts gethan? Dorchen . O nein! gar nichts. Ich dach- te wohl dran; aber ich fuͤrchtete mich nicht mehr. Wissen Sie wohl, daß Anne schon fort ist? Liebmann . Das ist recht gut, mein Kind! Die einfaͤltige Frau haͤtte euch durch ihren Aberglauben alle verdorben, und zeitlebens ungluͤcklich gemacht. Dorchen . Aber, Herr Liebmann ! von den Hexen. Alle . O ja! von den Hexen. Davon moͤchten wir gerne von Ihnen was hoͤren; aber nicht von Annen. Liebmann . Liebmann . O danket Gott, liebsten Kin- der! daß wir in bessern Zeiten leben, da Dumm- heit und Aberglaube nicht mehr herrschen, und ihr besser unterrichtet werdet! Was Anne von Butter, Kaͤse und Eyern erzaͤhlt hat, ist bloßer Neid und Luͤgen. Da durfte sich vor zweyhundert Jahren etwan ei- ne Frau durch Fleiß und Ordnung ein Biß- chen in Nahrung setzen, so hieß es gleich: der Drache braͤchte es ihr. Und wenn denn das von ohngefaͤhr dazu kam, daß in ihren Schorn- stein ein solcher Feuerstrahl zog, so war es richtig, daß sie eine Hexe war, und mit den boͤsen Geistern Umgang hatte. Kinder! das glaubt ihr gar nicht, was damals die Men- schen ungluͤcklich waren! Da durfte eine sol- che Kreatur, wie Anne, nur zur Obrigkeit kommen, und sagen: Die und die ist eine Hexe. Ich habe den Drachen in ihren Schornstein fahren sehen. Gleich wurde sie eingezogen, M 3 wenn wenn sie auch noch so unschuldig war, und durch den Scharfrichter so lange gemartert, bis sie vor Schmerz und Angst Dinge bekann- te, die sie nie gethan hatte, um nur der Qual abzukommen. Und dann wurde sie lebendig verbrannt. Albertine . Ach! das muͤssen ja erschreck- liche Zeiten gewesen seyn! Jetzt sind doch die Leute so dumm nicht mehr. Liebmann . Zuweilen noch dumm genug. Nur der Aberglaube hat die Macht nicht mehr, die er sonst hatte. Denn damals glaubten die Obrigkeiten und Geistlichen selbst solch Zeug noch. Als ich mich neulich einige Tage in Q **** aufhielt, hab’ ich auf dem Rathhause Hexenakten gesehen von 1570, 1578, 1579, 1581, und von 1663, also noch vor hundert- undzwanzig Jahren. Da war ein alt Weib, das wurde als eine Hexe angegeben. Es haͤt- te es der Knecht nicht mit uͤbers Wasser auf dem dem Wagen nehmen wollen. Da habe es die Pferde berufen — den Kobold ins Haus ge- bracht — Kinder behext, daß sie Loͤcher in die Beine bekommen, und wie der Tag ver- gangen waͤren. Karl . Herr Gott! uͤber das Zeug! Liebmann . Ja! das ist noch nicht alles. Die alte Frau wird in den Stall gebracht, wo der Kobold, oder ein boͤser Geist laͤrmte, polterte, und mit Steinen warf. Da wurde sie geschlagen, daß sie den Kobold wieder weg- schaffen sollte, sie schrie, und hatte sich sehr uͤbel, sagte auch: sie wuͤßte von nichts. Das half aber alles nichts. Da mußte der Scharf- richter kommen, und ihr drohen, wie er sie martern wolle. Die Sache kam auch vor die Obrigkeit, sie wurde ins Gefaͤngniß gebracht, und verhoͤrt. Sie aber wußte von nichts. Die Obrigkeit schrieb nach Magdeburg und Leipzig M 4 an an die Gerichtsstuͤhle, daß die ein Urtheil spre- chen sollten. Da hieß es: Man sollte sie in die Torturkammer brin- gen, und sie mit den Marterinstrumen- ten schrecken. Das arme Weib konnte nichts gestehen. Denn es wußte nichts. Dann kam wieder ein Urtheil: man solle es auf der Tortur peinigen und martern las- sen. Wuͤrde es dann bekennen, und bey dem Bekenntniß bleiben, so solle man es lebendig verbrennen lassen. Indessen baten die Leute, wo der Kobold residirte — das war aber lauter Betrug von schelmischen Leuten — man moͤchte das Weib wieder in den Stall bringen lassen. Denn so lange es da waͤre, sey der Kobold stille. Was geschahe? Das arme unschuldige Weib, das wußte, was es noch vor Marter auf der Tortur ausstehen sollte, erhieng sich selbst selbst an einem Stricke — Da hatte der Pro- zeß ein Ende. Franz . Ach in welchen gluͤcklichen Zeiten leben wir! Liebmann . Das Schrecklichste war, daß damals alles diesem Aberglauben ergeben war. Gelehrte und Ungelehrte — Vornehme und Niedrige. In den Akten sieht: Der Doktor , der bey den behexten Kindern gebraucht waͤre, haͤtte selbst gesagt: die Krankheit koͤnne von nichts anders herruͤhren, als von boͤsen Leu- ten, welche die Kinder berufen haͤtten. Ja es steht sogar darinn: daß man auf den Kan- zeln fuͤr das Haus gebeten haͤtte, wo der Ko- bold waͤre: daß doch Gott die Leute von dem boͤsen Geiste befreyen moͤchte! Mutter . J! das ist ja ganz erschrecklich. Da wird einem angst und bange, wenn man nur an die Zeiten denkt. M 5 Lieb- Liebmann . Es gieng so weit, daß un- ter dem Schein des Aberglaubens und der Hexerey, alle Bosheit und Rache gegen die unschuldigsten Leute ausgeuͤbt wurde. Wenn einer wider den andern was hatte, so durfte er nur sagen: Ich habe den Drachen auf sei- nem Hause gesehen; oder: Ich habe ihn auf dem Brocksberge gesehen, von dem man glaub- te, daß sich in der Walpurgisnacht, oder in der Nacht auf den ersten May, alle Hexen und boͤsen Geister auf demselben versammle- ten; gleich war er schuldig, verbrannt zu werden. Ich sage noch einmal, lieben Kinder! dankt Gott, daß ihr in bessern Zeiten lebt. Dorchen . Schade fuͤr den Drachen. Fort mit den Hexen. Heysa! mich soll keine alte Anne mehr zu fuͤrchten machen. XXXVII. XXXVII. Der Donnerkeil . Christian . N un weiß ichs mit einemmale, Vater ! warum sich Lotte und Fritze wieder so vor dem Gewitter fuͤrchten. Aber wer haͤtte an solch Zeug denken sollen? Vater . Das ist mir sehr lieb, mein Sohn! daß du es ausgekundschaftet hast. Nun wer- den wir ihnen eher wieder beykommen, und sie von der Furcht befreyen koͤnnen. Was ist es denn? Christian. Donnerkeile — Donner- keile , die bey dem Gewitter mit dem Blitze herunterfielen, und die Leute todtschluͤgen. Koͤnnen Sie sich das vorstellen? Vater . So lange es die armen Kinder nicht besser wissen, so lange glauben sie auch alles, was ihnen andere vorsagen, zumal wenn wenn es nur ein Bißchen sonderbar und wun- derlich klingt. Aber auf die Donnerkeile waͤr’ ich selbst nicht gefallen. Wer mag ihnen denn das weiß gemacht haben? Christian . Wir waren doch neulich Abends in der Muͤhle, wo das letzte Gewitter in die Pappel geschlagen hatte. Da war unter dem Baume ein Loch in der Erde. Da fragte Fritze und Lotte: was das waͤre. Die Leute, sagte der Knappe, haben die Donnerkeile aus- graben wollen. — Und nun erzaͤhlte er ihnen viel von Donnerkeilen, die mit dem Blitze herunterfielen, daß die Kinder Maul und Nase aufsperrten. Und seit der Zeit fuͤrchten sie sich wieder. Ich moͤchte doch selbst gerne wissen, wie es mit den Dingern beschaffen waͤre, ob ich gleich nicht glaube, daß sie aus den Wol- ken mit dem Blitz herunterfallen. Der Knap- pe sagte: er habe oft welche im Acker gefun- den. Vater . Vater . Stille! stille! heute Mittag wol- len wir sie kriegen, und ihnen die Furcht bald benehmen. Dann sollst du auch erfahren, was die Donnerkeile eigentlich sind. Fang du nur davon an. Christian . Lieber Vater! wissen Sie was? Lotte und Fritze fuͤrchten sich vor den Don- nerkeilen. Vater . Das will ich doch nicht hoffen, daß ihr euch deswegen auch wieder vor dem Gewitter fuͤrchtet? Es koͤmmt mir aber bald so vor. Fritze . Ja! Vater; aber denken Sie ein- mal, wenn einem ein solch Ding auf den Kopf kaͤme? Lottchen . Es sollen boͤse Dinger seyn. Vater . Habt ihr schon welche gesehen? Fritze . Nein! aber die Leute sagens doch. Vater . Vater . Wir wollen davon ein andermal sprechen. Lauf aber jetzt einmal auf meine Stube. Da steht eine Schachtel auf dem Tische. Die hat mir gestern ein guter Freund mit ar- tigen Sachen geschickt, und die will ich euch heute zeigen. Fritze . Hier ist die Schachtel. Sie ist aber sehr schwer. Vater . Seht einmal, was das fuͤr ku- rioͤse Dinger sind! Da hast du eins, Fritze , und du auch, Lotte . Fritze . Das sind ja schwarze Steine, wie ein Beil, oder wie ein Hammer. Lottchen . Sieh doch, Fritze ! in jedem ein Loch. Vater . Das soll es auch seyn. Christian ! nun hoͤre zu. Wißt ihr nun, Lotte und Fritze , was ihr da in der Hand habt? Fritze . Steine mit Loͤchern. Vater . Das sind Donnerkeile . Fritze . Fritze . Donnerkeile? Ueber die Streiche. Es sind ja Steine. Hab’ ich mir doch darun- ter ganz andere Dinge vorgestellt. Lottchen . Ich auch. Ich dachte, es waͤ- ren feurige Kugeln, oder so was, was der Blitz mitbringe. Vater . Das ist gar zu schlimm, daß ihr immer dem Schwatzen anderer Leute mehr glaubt, als wenn euch verstaͤndige Leute was sagen. Daher koͤmmts auch, daß ihr euch die Dinge ganz anders vorstellt, als sie sind, und daruͤber in unnuͤtze Furcht gerathet. Fritze . Ja! die Dinger fallen doch mit dem Blitze vom Himmel herunter. Vater . Das lassen sie wohl schoͤn blei- ben. Wer hat denn das schon gesehen? Lotte . Also kaͤmen sie nicht aus den Wolken? Vater . Nein! schlechterdings nicht. Laßt euch nun aber sagen, wie es damit ist. Es Es ist falsch, ganz falsch, daß solche schwere Steine, wie diese sind, in der Luft fliegen, oder sich darinn halten koͤnnten. Schwere Steine kann die Luft nicht tragen. Und wie wollten auch dergleichen Steine in die Hoͤhe kommen? Die Sonne kann wohl Regenduͤnste in die Hoͤhe ziehen; aber keine Steine. Das begreift ihr doch wohl. Fritze . Wo kommen sie denn aber her, die Donnerkeile? Vater . Diese Steine heißen nur bey den einfaͤltigen Leuten so. Es giebt gar keine Don- nerkeile. Wenn der Blitz in einen Baum schlaͤgt, so zersplittert das Holz, wie du an der Pappel gesehen hast. Das koͤnnen solche Steine nicht thun. Das stellen sich nur die gemeinen Leute so vor, weil sie nichts davon wissen, wie ein Gewitter entsteht, und wie der Blitz einzu- schlagen pflegt. Fritze . Fritze . Vater! sagen Sie doch nur erst, wo sie herkommen, diese Steine? Vater . Kannst du denn keine Geduld ha- ben? Koͤmmt dirs aber nicht sonderbar vor, daß diese Steine unten so scharf zugeschliffen sind, und in der Mitte ein Loch haben? Die- ser hier, sieht er nicht aus wie eine Axt? Und der da, accurat wie ein Hammer? Koͤnnen sie das wohl in der Luft bekommen? Fritze . Nein, Vater! das begreife ich sehr gut. Aber wo kommen sie denn her? Vater . Endlich werd’ ichs denn wohl sa- gen muͤssen. Ihr seht, Kinder! daß diese Steine muͤssen in Menschenhaͤnden gewesen seyn, weil sie so ordentlich gemacht sind, und das Loch so glatt durchgebohrt ist. Es sind die haͤrtesten Feuersteine, womit man Feuer pinken kann. Lotte ! hole einmal einen Feuer- stahl, da vom Tobacksteller. Seht, wie die Funken stieben, wenn ich pinke. II Theil . N Lotte . Lotte . Ja! wirklich auch. Vater . Diese Steine werden nun an man- chen Orten in Deutschland haͤufig in der Erde gefunden, und von den Knechten ausgepfluͤgt. Da kann es nun seyn, daß der Blitz einmal hat in den Acker geschlagen, und ein Loch auf- gerissen. Als nun die Leute weiter nachgegra- ben haben, so haben sie solche Steine gefun- den. Daraus machten sie denn gleich nach ihrer Einbildung Donnerkeile, und glaubten, daß sie mit dem Blitze heruntergefallen waͤren. Fritze . Sie sagten ja aber vorher: sie waͤren in Menschenhaͤnden gewesen? Vater . Nu! so hoͤrt wohl zu. Die alten Deutschen vor zweytausend Jahren hatten noch keine solche eiserne Waffen, wie wir jetzt haben. Da schliffen sie sich solche Steine zu Hammern und Aexten. In die Loͤcher steckten sie Stiele, und schlugen sich damit im Kriege die Koͤpfe ein. Fritze . Fritze . Der Tausend! ich mag meinen Kopf nicht hinhalten. Vater . Ich auch nicht. Die Stiele sind lange verfault, aber die Steine sind geblieben. Wo nun vormals eine Schlacht gehalten ist, da findet man sie noch sehr haͤufig. Ich habe bey einem guten Freunde, ohngefaͤhr drey Meilen von hier, in seinem Naturalienkabi- nete, wohl einige hundert solche Steine von allerley Figuren gesehen, die alle da in der Gegend gefunden waren. Und ein anderer, eine Meile davon, hat einen Todtenkopf, oben mit einem Hiebe in der Hirnschaale, und in- wendig klappert der Stein noch, womit er er- schlagen ist. Fritze . Also sind die Donnerkeile nichts anders, als die Streitaͤxte der alten Deut- schen? Da werde ich mich schoͤn nicht mehr davor fuͤrchten. N 2 Vater . Vater . Die mit dem Gewitter gar nichts zu thun haben. XXXVIII. Das Alpdruͤcken . D aß doch die Leute immer ganz natuͤrliche Wirkungen unnatuͤrlichen Ursachen zu- schreiben! Daraus entsteht viel Aberglaube und unnuͤtze Furcht. Wenn sie die Sache nicht gleich natuͤrlich erklaͤren koͤnnen, so muͤs- sen es Geister, Kobolde, und Gespenster gethan haben. Es knackt ein Bret. Es reißt ein Tisch von frischem Holze, oder der Leim laͤßt nach, so heißt es gleich: was wird das be- deuten? Das geht nicht von rechten Dingen zu! So ist es auch mit dem Alp, oder mit dem Alpdruͤcken . Ein Ein unter den gemeinen Leuten sehr gemei- ner, aber hoͤchst dummer und unvernuͤnftiger Aberglaube. Sie glauben: es kaͤme des Nachts ein gewisses Ding zu ihnen, lege sich uͤber sie her, und druͤcke sie so entsetzlich, daß sie keine Luft bekommen koͤnnten, sondern bald ersticken muͤßten. Es kniffe sie braun und blau, daß sie des andern Morgens noch die Blutflecke an sich haͤtten. Fragt man sie, was ist denn der Alp? so wissen sie es selbst nicht. Genug, die Sage haben sie von Großmutter und Aeltermutter geerbt. Und dabey bleibt es. Es ist der Alp , oder die Marte , wie sie sagen, die sie gedruͤckt hat. Die armen Leute! Wie sind sie zu bedauern? Doch sie verdienen es beynahe nicht, weil sie es nicht besser haben, und andern verstaͤndigen Leuten nicht glauben wollen, wenn sie es ihnen auch erklaͤren. N 3 Da Da hoͤrten die Kinder sehr fleißig zu, als der Vater das alles bey Tische erzaͤhlte, und sagten: Vater! Sie sind ja sehr boͤse auf den Alp. Was ist denn das fuͤr ein Ding? Nichts, gar nichts ist es, erwiederte der Vater, wie sichs die Leute vorstellen. Kein solches Ding, das durch verschlossene Thuͤren kaͤme, uͤber die Leute herfiele, und sie bald zu Tode druͤck- te. Das glaubt niemals, Kinder! Das ist Maͤhrchen, Fabel, und dummer Aberglaube. Aber, sagten die Kinder, woher koͤmmt denn das, daß die Leute wirklich im Schlafe so gedruͤckt werden, und des andern Morgens braune und blaue Flecke haben? Das geht ganz natuͤrlich zu, antwortete der Vater, und ich wills euch gleich erklaͤren. Das ist kein solch wunderliches und erdichte- tes Ding, wie der Alp seyn soll, sondern das ruͤhrt von ganz andern Ursachen her. Hoͤrt davon ein artiges Geschichtchen. Ich Ich schlief einmal auf einem Amte, wo der Amtmann mein sehr guter Freund war. Des Nachts wurde vor meiner Stube, wo ich lag, ein gewaltiger Laͤrm. Ich stand auf, steckte mein Licht an, und gieng heraus. Da waren es die Maͤgde in der Gesindekammer. Da hoͤrte ich allerley Stimmen. „Ach der verdammte Alp! Wo mag das Unthier einmal wieder herkommen? Hoͤre einmal einer an, wie das arme Mensch krunkt — wie ers druͤckt und peiniget! — Und doch sieht man nichts. Marie! hoͤrst du nicht? Wache doch auf? Und so weiter — Eine andere Magd sagte: Du wirst gewiß den Anwurf nicht uͤbergekettelt haben, daß das Unthier hereingekommen ist. Ja! ant- wortete die andere: freylich hab’ ichs gethan. Nun, so verstehe ichs nicht, sprach die erste, wo das Ding, Gott sey bey uns! wieder her- gekommen ist. Es ist lange nicht da gewesen. N 4 Inzwi- Inzwischen hoͤrte ich die Magd ganz ent- setzlich krunken und aͤchzen, als wenn sie im- mer ersticken wollte. Ich klopfte darauf an die Thuͤr, und sagte: sie sollten aufmachen, ich waͤre es. Indem kam der Amtmann auch, der den Laͤrm gehoͤrt hatte. Als die Kammer aufgemacht wurde, so sahen wir, daß die beyden Maͤgde vor dem Bette der dritten stan- den, die beynahe halb todt war. Ach! sagten sie, Herr Amtmann! wir koͤnnen hier nicht mehr schlafen. Wir haben alles zugekettelt, und doch ist das Beist wieder hereingekommen. Wer ist hereingekommen? fragte der Amtmann, der mit seinem Stocke schon unter den Betten herumstoͤrte. Ach! der verdammte Alp, sag- ten sie, der Marien so druͤckt. Wir fiengen beyde an laut zu lachen, und die Leute sahen uns starr an. Wir giengen zu Marien vors Bette, und sahen einen klaͤg- lichen Anblick. Der Schaum stand ihr vor dem dem Munde. Die Augen waren offen und starr, und die Brust hob sich entsetzlich. Sie war nicht zu ermuntern. Was mag das seyn? fragte mich der Amtmann. Das Mensch be- koͤmmts oft des Nachts. Was wills seyn, sagten die andern, als der gottlose boͤse Alp? Haltet das Maul, fuhr der Amtmann auf, mit eurem verwuͤnschten Alp! Richtet doch das Maͤdchen auf, sagte ich, daß es mit dem Kopfe hoͤher zu liegen koͤmmt. Denn es lag erstaunend tief, dazu auf dem Ruͤcken. Hierauf erholte es sich, that einige Seufzer, erkannte uns, wußte aber nicht, wie ihm geschehen war. Ich ließ ihm ein Fußbad machen, und ein Paar Tassen Thee geben. Da erholte es sich voͤllig, und legte sich wieder zu Bette, doch so, daß es mit dem Kopfe hoch liegen mußte. Des andern Morgens, als es herunter kam, waren die Arme braun und blau, und N 5 große große Blutflecken darauf. Hierauf mußte es erzaͤhlen, wie ihm gewesen waͤre. Als ich mich hingelegt hatte, sagte es, und eben ein- schlafen wollte, kam mirs vor, als ob etwas wie ein schwerer Sack auf mich fiele, daß mir die Luft entgieng. Und nun wußte ich weiter von meinen Sinnen nicht. Der Chirurgus mußte ihr noch den Morgen zur Ader lassen. Da verloren sich die Flecke auf den Armen. Was war nun die ganze Sache? Alles ganz natuͤrlich. Es geht so zu. Wenn ein Mensch mit dem Kopfe sehr tief liegt, und dazu auf dem Ruͤcken, so schlaͤft er schon sehr aͤngstlich. Denn das Blut kann nicht frey umlaufen, und das Herz wird sehr gepreßt. Diese Person war sehr vollbluͤtig, und hatte just die Lage gehabt. Furcht, Einbildung und Schreck vor dem Alp war dazu gekom- men. Mit Furcht war sie eingeschlafen, weil sie es schon oft gehabt hatte. Durch den gar zu zu starken Zufluß des Bluts nach dem Herzen, in der niedrigen Lage, war es ihr vorgekom- men, als waͤre ihr ein Sack auf die Brust gefallen. Und von dem Stocken des Bluts, und der innern Furcht, waren die braunen Flecke auf den Armen entstanden. Seht also, lieben Kinder! wie durch den Aberglauben von dem Alp eine ganz natuͤr- liche Sache falsch vorgestellet wird. Da wir der Person alles vernuͤnftig er- klaͤrten, und sie des Abends nicht zu viel aß, auch sich nicht mehr so tief mit dem Kopfe, und auf den Ruͤcken legte, hat sie nachher kein Alp wieder gedruͤckt. XXXIX. XXXIX. Gefaͤhrliches Naschwerk und Spiel- zeug der Kinder. W oher mag es doch kommen, daß mehren- theils alle Kinder nach Weihnachten krank sind? So fragte neulich ein Vater den Herrn Doktor Menschlieb , als er zu ihm kam. Von meinen Kindern kann ich das nicht sagen. Die sind nach Weihnachten so munter als vorher. Wenn ich aber andere Kindere an- sehe — so weiß, gruͤngelb, wie die Schatten. Das will ich Ihnen wohl sagen, antwor- tete der Arzt. Das geht sehr natuͤrlich zu. Die Aeltern sind selbst Schuld daran, und thun ihren Kindern den groͤßten Schaden — aus naͤrrischer Liebe, weil sie glauben, sie machten ihnen sonst nicht Freude genug, wenn sie ihnen nicht zu Weihnachten so viel Kuchen- werk und andere Fressereyen gaͤben. Beson- ders ders das gefaͤhrliche Naschwerk , das der Gesundheit ganz offenbar schaden must. Bedenken Sie nur. Wo will das hin? Was essen die Kinder nicht an den Festtagen fuͤr eine Menge Kuchen? Ist es nicht bey den Aeltern — doch gewiß bey der Tante und Großmama. Das ließe ich denn noch hin- gehen, ob es gleich den Kindern hoͤchst schaͤd- lich ist. Was bringt das nicht fuͤr eine Men- ge Schleim und Kleister in den Magen und in die Gedaͤrme, worinn sich die Wuͤrmer sehr wohl befinden, und nach Belieben vermehren koͤnnen. Aber nun koͤmmt das Aergste. Die vielen ranzigen Mandeln und Rosinen, die oft mit einem weißen Staube uͤberzogen sind. Das ist ausgeschlagener Zucker, heißt es. Das schmeckt gut, Kinderchen. Eßt doch. Eßt doch. — Nein! es sind unzaͤhlige Milben , die man mit bloßen Augen nicht schen kann. Da Da giebts Zuckerpuppen mit allerhand Farben bemalt — hoͤlzerne beschmierte Pup- pen, gefaͤrbte Brustkuchen — Das Schlimmste sind die mit Goldschaum oder Zinnplaͤttchen dick beschmierten Marzepanstuͤcken. Das wird denn alles in den Festtagen durch einander heruntergewuͤrget. Ist denn das fuͤr die Gesundheit so ge- faͤhrlich, fragte der Vater? Allerdings, sagte der Arzt. Glauben Sie nur, mir moͤchten manchmal die Augen uͤber- gehen, wenn ich sehen muß, wie offenbar da- durch eine ganze Nachwelt gemordet, oder doch wenigstens ungesund, schwach, elend und unbrauchbar gemacht wird. Wenn ich auf meinen Vortheil, und nicht auf der Kin- der Leben sehen wollte, so wuͤrde ich schwei- gen. Denn ich habe zu keiner Zeit mehr zu thun, als nach Weihnachten. Aber ich sehe auf mein Gewissen. Und die Arzneykunst wird offenbar offenbar prostituirt. Denn wie ists moͤglich, da zu kuriren und gesund zu machen, wo man muthwillig selbst die Gesundheit verdirbt, und alle Mittel unwirksam macht? Die Obrig- keit sollte billig alle dergleichen Dinge bey Stra- fe verbieten. Denn es ist ein subtiles Gift, das die Kinder langsam verzehret. Ey! das waͤre doch erschrecklich! sagte der Vater. Ja! freylich ist es das, fuhr der vernuͤnf- tige Arzt fort. Hoͤren Sie nur. Was sitzt nicht an den Zuckerpuppen fuͤr dicke Farbe? Wie saugen nicht die kleinen Kinder an den hoͤlzernen Puppen die dicke schmierichte Farbe ab! Wie viele miethige Mandeln und Rosi- nen — gefaͤrbte Brustkuchen, und derglei- chen, werden gegessen! Der schwere Mandel- teig von Makronen — und der noch schaͤd- lichere ranzige Marzepanteig — was fuͤr ein Klumpen in dem schwachen Kindermagen! Insonder- Insonderheit der unaͤchte Goldschaum von Kupfer an demselben. Die Kinder essen noch nicht Zuckerwerk genug. Man muß es noch dazu faͤrben und mit Metall schmuͤcken, da- mit sie desto mehr Appetit bekommen moͤgen. Ist das nicht abscheulich? Erwaͤgen Sie nur, was das fuͤr ein Mischmasch in dem Magen werden muß? Vor ein Paar Tagen wurde ich in ein vornehmes Haus gerufen. Da war ein rech- tes Lazareth. Fast alle Kinder lagen zu Bet- te, und klagten, daß sie so uͤbel waͤren, und sich immer brechen wollten, und daß es sie entsetzlich im Magen druͤcke. Die andern, die noch nicht lagen, krochen auf allen Stuͤhlen herum, und sahen aus wie Kaͤse. Ich gab ihnen allen ein kleines Brechmittel. Da ka- men alle die herrlichen Sachen: Farbe, Gold- schaum, und ganze Klumpen Marzepan, mit dickem Schleim uͤberzogen, wieder zum Vor- schein. schein. Wenn das nun oͤfters so koͤmmt, wie muß das den Magen schwaͤchen! Aber man prediget tauben Ohren. Von dem doppelten Ungluͤck wissen Sie doch, das in unserer Stadt passirt ist? Hof- raths Kind am Thore, von anderthalb Jahren, wird ploͤtzlich krank, bekoͤmmt erschreckliche Zuckungen, und stirbt nach ein Paar Tagen. Mein ganzer Verstand stand mir stille, daß gar nichts anschlagen wollte. Auf Befehl des Hofraths mußte ich das Kind aufschneiden. Da hatte es einen metallenen Hemdeknopf im Magen, der schon ganz gruͤn aussah, und stark angefressen war. Vermuthlich hat- te die Waͤrterinn nicht Achtung gegeben, daß das Kind damit gespielt und ihn eingeschluckt hatte. Ist das nicht gefaͤhrliches Spielzeug? Das andere Exempel ist fast noch trauri- ger. Amtmanns kleiner Heinrich bekoͤmmt ei- nen Degen zum Weihnachtsgeschenke. Er will II Theil . O die die Treppe heruntergehen; der Degen koͤmmt ihm zwischen die Beine, und er faͤllt so ungluͤck- lich, daß sich der Degen vor die Brust staͤmmt, und ihm gerade durchs Herz gehet. Stellen Sie sich vor, was die Aeltern moͤgen fuͤr Weihnachten gehabt haben! XL. Gefaͤhrliche Kinderspiele. W enn ihr dieses leset, lieben Kinder, Kna- ben und Maͤdchen, so nehmt doch daran ein Exempel, und huͤtet euch vor gefaͤhrlichen Kinderspielen , die euch um eure Gesundheit, um eure gesunde Glieder, ja ums Leben brin- gen koͤnnen. Ihr habt ja andere nuͤtzliche, angenehme und ermunternde Spiele genug, die euch eure guten Aeltern und eure Lehrer mit Ver- gnuͤgen goͤnnen. Warum waͤhlt ihr denn im- mer mer die gefaͤhrlichsten, die euch ungluͤcklich machen koͤnnen? Es ist eine recht traurige Geschichte von solchen Kindern, die durch gefaͤhrliche Spiele theils zeitlebens ungluͤcklich wurden, theils gar ums Leben kamen. Jacob war der erste von diesen ungluͤck- lichen Kindern. Alles, was er sahe, mußte er vorwitzig nachmachen; alles probiren, was er noch nicht kannte, ohne zu fragen: Kann mir das wohl Schaden thun? Da war er nun einmal mit auf dem Schieß- platze beym Freyschießen. Als es Abend war, kamen seine Kameraden zusammen, und sag- ten: Laßt uns nun Raketen und Schwaͤrmer fliegen lassen. Hier sind welche. Die gaben denn viele tausend Feuerfunken von sich, wenn sie platzten. Das war eine Lust Fuͤr Kinder aber immer gefaͤhrlich. O 2 Noch Noch gieng alles gut. Nun wurden von angefeuchtetem Pulver Feuermaͤnnerchen ge- macht und angesteckt. Die sprudelten denn das Feuer so lustig umher, daß die Kinder huͤpften und sprangen. Aber nun kam es. Einer that den Vor- schlag: Wir wollen einmal eine Feuerschlange machen. Da sollt ihr erst sehen, was das fuͤr eine Lust ist! Es wurde auf einem Brete ein langer Strich von Pulver hingestreuet, und ein Stuͤckchen brennender Schwamm dar- an gelegt. Aber es wollte nicht gleich angehen. Da lief Jacob hin, hielt das Gesicht druͤber, und blies immer auf den Schwamm los. Mit einemmale fuhr ihm das Pulver ins Gesicht, daß er ruͤcklings niederfiel. Da lag nun der arme Junge wie todt. Die andern liefen da- von, und so wurde er seinen Aeltern vor die Bude gebracht. Das war ein Anblick! Das ganze Gesicht kohlschwarz. Alles verbrannt. Die Die Augen dicht und fest zu. Es wurde zwar gleich ein Wundarzt geholt, als er aber ab- gewaschen wurde, gieng Haut und Haare herunter. Das ganze Gesicht war roh Fleisch. Darauf wurde nun eine Brandsalbe drauf ge- legt, und man trug ihn nach Hause. Wenn nur dieß das ganze Ungluͤck gewe- sen waͤre! Des andern Tages erfuhr man das noch groͤßere. Beyde Augen waren weg, und voͤllig verbrannt, daß er in seinem Leben keinen Stich wieder sehen konnte. Ach wie hatten sich da seine Aeltern so uͤbel! Es war kaum zu beschreiben. Nach vier Wochen wurde er so ziemlich wieder zurechte — aber wie er aufstand und blind war — wie er bald von einem Bruder, bald von einer Schwester kuͤmmerlich gefuͤh- ret wurde — wie das aussah? was er da- bey empfand? was seine Aeltern dabey litten? was das fuͤr ein Elend, Jammer und Weh- O 3 klagen klagen war? — das moͤgt ihr euch selbst vor- stellen, lieben Kinder, die ihr dieß leset, und euch ja vor dergleichen gefaͤhrlichen Spielen mit Pulver warnen lassen. Philipp war fast eben so ungluͤcklich. An einem schoͤnen Fruͤhlingstage nahm er mit seinen Schulkameraden die Abrede, daß sie draußen zum erstenmale Ball schlagen wollten. Nun war eben ein starker Wind, und die Luft ziemlich warm. Philipp , der immer gegen den Wind lief, erhitzte sich dergestalt, daß er schon auf dem Platze heftige Seitenstiche be- kam, und sich mußte nach Hause bringen lassen. Ach! sagte der Vater, du boͤses Kind! koͤmmst du mir so nach Hause. Ich goͤnne dir solche Lust und Bewegung gerne; aber du kannst dich gar nicht maͤßigen. Die andern haben doch auch gespielt. Haben sich die wohl so entsetzlich erhitzt, als du gethan hast? Da hast hast du es nun weg, und vielleicht auf deine ganze Lebenszeit. Ich armer Vater! Philipp war die Nacht sehr krank, hatte starke Hitze, und spie des andern Morgens Blut. Der Arzt that alles Moͤgliche, um die Hitze und Lungenentzuͤndung zu daͤmpfen. Er lag aber doch wohl acht Wochen, ehe er sich erholte. Nachher behielt er bestaͤndig einen kurzen Husten, bekam Engbruͤstigkeit, und konnte kaum eine Treppe steigen, so war ihm der Odem weg. Der Arzt konnte nicht recht klug werden, und sagte: Es muß noch mehr dahinter stecken. Wir haben gewiß nicht alles erfahren, was damals beym Ballspiel gesche- hen ist. Philipp kraͤnkelte so einige Jahre hin. Da bekam er einmal ein heftiges Blutspeyen. Der Arzt zuckte die Achseln, und sagte: Besinne er sich doch einmal, ob sonst damals bey dem Ballschlagen nichts vorgefallen ist. Ach nichts O 4 weiter, weiter, sagte Philipp, als daß ich in die Muͤhle gieng, da ich erschrecklich heiß war, und mich da recht satt trank. Von dem Au- genblick an wurde mir uͤbel. Ich bekam Sti- che und Beklemmungen, und so ist es auch geblieben. Das dacht’ ich wohl, war die Antwort. Das koͤmmt von solchen heftigen Erhitzungen und ploͤtzlichen Erkaͤltungen durchs Trinken. Ach lieber Herr Doktor! sagte Phi- lipp mit vielen Thraͤnen, thun Sie doch, was Sie koͤnnen. Ich moͤchte gar zu gerne noch leben. — Der Vater kehrte sich um, und mußte zur Stube herausgehen. O wie mancher junger Mensch, sagte der Arzt, hat sich dadurch schon um sein junges Leben gebracht! Darum kann ich solche ge- faͤhrliche Spiele gar nicht leiden, wobey sich die Kinder so erhitzen, und hernach uͤber das Trinken herfallen. Haͤtte er doch gleich alles von sich gesagt. Ich will mein Moͤglichstes thun. thun. Aber er wird wohl immer einen Kalen- der an seiner Brust behalten, und gewiß ans Ballspielen denken. Ja! wohl mußte der arme Philipp zeit- lebens an das Ballspiel gedenken. Denn er bekam die voͤllige Schwindsucht. Sein Koͤr- per wurde wie ein Gerippe. Die Augen lagen ihm tief im Kopfe. Die Knochen standen her- vor. Tag und Nacht ließ ihm der Husten keine Ruhe. Sein Auswurf war Blut und Materie. Ein erbaͤrmliches Leben! Kaum konnte er noch in der Haut haͤngen. Und so brachte er noch sechs volle Jahre zu — dieser einzige Sohn des Vaters — bis er im acht- zehnten Jahre seinen Geist aufgab. Ob er wohl so freudig sterben konnte, als wenn er sich diesen seinen fruͤhzeitigen Tod nicht selbst zugezogen haͤtte? O 5 XLI. Fort- XLI. Fortsetzung des vierzigsten Stuͤcks. L ottchen waͤre es bald eben so ergangen. Der Vater wollte ihr an ihrem Geburtstage ei- ne Freude machen, und hatte heimlich einige gute Kinder dazu gebeten. Des Abends fuͤhr- ten sie ihre Bruͤder in den Garten. Da war das Gartenhaͤuschen so helle, daß sich Lott- chen verwunderte. Mit einemmale gieng die Thuͤr auf, und sie wurde mit einer lieblichen Musik empfangen. Da sprangen alle Kinder- chen auf sie zu, und gratulirten ihr zu ihrem Geburtstage. Nun wurde getanzt. Lottchen war ganz außer sich vor Freuden, und hatte sich so erhitzt, daß sie nicht bleiben konnte. Es war schon ziemlich spaͤt, und kuͤhle. Da lief sie in den Garten, und riß sich die Brust auf, um sich abzukuͤhlen. Halb ohn- maͤchtig kam sie wieder ins Zimmer, und mußte mußte sich gleich zu Bette legen. Des andern Morgens hatte sie schon ein boͤses Brustfieber, und waͤre um ein Haar dran gestorben. Eben so gefaͤhrlich sind die ploͤtzlichen Er- kaͤltungen nach vorhergegangenen erhitzenden Kinderspielen. Wie manches Kind, wie man- cher Knabe und Maͤdchen, hat nicht schon vom Tanzplatze, vom Kegel- und Ballspiel, den Tod gehabt! Albertine hatte noch ein trauriger Schick- sal. Da spielten einmal die Kinder in des Nachbars Hause auf dem Boden blinde Kuh. Hier war nun eine Thuͤr, die auf den Hof gieng, das Heu heraufzubringen. Albertine war eben blinde Kuh, und mußte die andern Kinder suchen. Diese zerstreueten sich auf dem Boden herum; Albertine aber tappte so lan- ge herum, bis sie an die Thuͤr kam, die nur angeschoben war. Harre! dachte sie, da sind sie in die Kammer gelaufen. Da willst du sie wohl wohl kriegen. Und — Bauz! war sie zwey Stockwerk hoch herunter. Zum Ungluͤck stand ein Wagen unten auf dem Hofe. Sie, recht mit dem Kopfe auf den Rand des Hinter- rades, und — ach Kinder! ich kanns kaum hinschreiben — den Kopf gerade von einan- der, daß Blut und Gehirn herumspruͤtzten. Franz lief immer mit der Armbrust. Der Vater hatte ihm dieß gefaͤhrliche Spiel oft verboten, aber er kehrte sich nicht dran. Ein- mal schießt er mit andern Knaben auf dem Hofe nach einem Ziel an der Gartenthuͤr. Da ihn eben die Reihe trifft, so koͤmmt just die Magd mit einem Korbe Gras aus der Thuͤr, und ihr der Bolzen gerade ins linke Auge, daß es gleich aus dem Kopfe lief. Franz hatte zeitlebens ein trauriges Gemuͤth, wenn ers gleich nicht mit Vorsatz gethan hatte. Moritz war draußen auf einem Platze, wo viel Bauholz lag. Da waren wilde Kna- ben, ben, welche einen Balken queer uͤber das auf- gethuͤrmte Bauholz legten, daß er auf der ei- nen Seite hoch in die Hoͤhe, auf der andern niedergieng. Auf jede Seite setzte sich einer, wie auf ein Pferd, und so schaukelten sie sich. Der Tausend! das ist ein scharmantes Spiel, dachte Moritz . Das mußt du auch einmal probiren. Gleich saß er drauf. Da er des Dinges aber nicht gewohnt war, so wurde er schwindlicht. Der andere Junge merkte das, und aus Tuͤcke drehete er den Balken etwas von der Seite, just da Moritz hoch in der Luft schwebte. Bauz! war er herunter, und der rechte Arm morsch entzwey. Lorenz war ein großer Freund von Sprin- gen. Laßt uns einmal uͤber einen Stock sprin- gen, sagte er zu den andern. Wenn sie noch den Stock in der Queere wo angebunden haͤtten. Aber so steckten sie ihn gerade in die Erde, und er war auch dazu oben spitz. Einige ka- men men gut daruͤber. Lorenz aber sprang so ungluͤcklich, daß er auf den Stock zu sitzen kam. Dieser war ihm in den Unterleib ge- gangen, und hatte das Netz zerstoßen, wel- ches die Gedaͤrme umgiebt. Da mußte er nun zeitlebens ein eisernes Bruchband tragen. O Kinder! wenn ihr manchmal blinde, lahme, schwindsuͤchtige und andere gebrech- liche Menschen sehet, so fragt sie einmal, wo- von sie das haben. Die meisten werden euch antworten: Ach das haben wir in der Jugend von gefaͤhrlichen Kinderspielen bekommen. XLII. Verzeichniß einiger gefaͤhrlichen Kinderspiele. 1) D as allzuviele Blasen mit dem Blase- rohr, wobey die Lunge sehr ange- griffen wird. 2) Das 2) Das Schlickern auf dem Eise, auf Tei- chen und Fluͤssen. 3) Das Kahnen auf dem Wasser, wenn kein Verstaͤndiger dabey ist. 4) Das Buschbaumschießen uͤber Kopf, da- bey man sich leicht das Genicke einstuͤr- zen kann. 5) Das Nachmachen der Springer und Seil- taͤnzer. 6) Das Schaukeln in Seilen und Stricken vor den Fallthuͤren. 7) Das Grabenspringen. 8) Das fruͤhe Reuten auf wilden Pferden. 9) Das Frange- und Kampfspiel. 10) Das Spielen mit Schießpulver, Schluͤs- selbuͤchsen, Terzerolen, Pistolen, und Schießgewehren. XLIII. Am XLIII. Am Geburtstage der Mutter, von einem guten Kinde. D er aus dem Schooß der Muttererden Die schoͤnen Bluͤmchen laͤsset werden: Der laß dich so viel Jahre sehn, Als Bluͤmchen hier im Garten stehn. O! der sie alle mit Entzuͤcken So schoͤn und herrlich weiß zu schmuͤcken: Der nehme dich so gut in Acht, Wies Bluͤmchen, das er hier bewacht. Ders an den Bluͤmchen kann erfuͤllen, Der gebe dir, nach seinem Willen, Gesundheit, Leben — ach so schoͤn, Als wir die Liljen vor uns sehn! So schoͤn und roth die Rosen bluͤhen, Und hier mit Fleiß die Bienen ziehen: So, laß mich, Gott! durch Tugend rein, Durch Fleiß, der Mutter Freude seyn. XLIV. Man XLIV. Man muß sich Zeit nehmen, wenn man was lernen will. W ie machst du es denn, Dorchen ! fragte Franz, daß du schon so huͤbsch schrei- ben, und so schoͤne Zahlen machen kannst? Ich bin wohl zwey Jahre aͤlter, als du. Bald muß ich mich doch schaͤmen. „Gieb einmal dein Schreibbuch her.“ Das sah aus, als wenn die Huͤhner darinn gekratzt haͤtten. Krumm und schief. Kein Buchstabe wie der andere. Und so auch die Zahlen. „Wie geht denn das zu, Fraͤnzchen? Du hast gewiß keine Lust zum Schreiben?“ O ja! recht große Lust. „Nu, so muß es woran anders liegen. Komm einmal her, wir wollen was schreiben. Schreib einmal hin: Wenn du fromm bist, II Theil . P so so bist du angenehm, wie ich dirs hier vorge- schrieben habe. — Und dann einmal diese Zahlen: 8, 749, 632.“ Er schriebs, aber wie? Husch! in einer Minute war er fertig. Aber nicht geschrieben, sondern gekritzelt, daß es kein Mensch lesen, oder erkennen konnte, was es seyn sollte. „Nein! sagte Dorchen , liebes Fraͤnzchen! das geht nicht. So lernst du alle mein Lebetage nicht schreiben. Man wird dirs gewiß schon gesagt haben, daß du dabey viel zu hitzig und geschwinde bist. Mir giengs im Anfange eben so. Ich hielt die Feder viel zu weit nach der Rechten. Da kam ich denn auch immer den Berg in die Hoͤhe, und konnte nicht auf der Linie bleiben. Wenn ich nur fertig war, so war ich zufrieden, es mochte seyn wie es wollte.“ „Mich duͤnkt, du siehst auch nicht fleißig nach der Vorschrift. Da mußt du Buchstaben vor vor Buchstaben so nachmalen, wie er da steht. Just so machte ichs auch. Und da wurde kein Buchstabe recht.“ „Weiter, mußt du oft schreiben, und dich fleißig uͤben. Vor allen Dingen merke dir das: Wenn du dich auch nach dem allen noch so genau richtest, was ich dir gesagt habe, so wird doch nichts draus, wenn du dir nicht Zeit nimmst , jeden Buchstaben, und jede Zahl ordentlich zu machen.“ Ha! ha! sagte Fraͤnzchen, nun merke ich erst, woran mirs bisher gefehlt hat. Ich ha- be mir keine rechte Zeit dazu genommen, und wollte gleich alles so geschwinde schreiben, wie der Papa schreibt. Ich will noch einmal das Vorige schreiben, und mir Zeit nehmen. „Siehst du? Das ist schon viel besser.“ Fraͤnzchen lernte nun in kurzer Zeit recht gut schreiben. Es hilft manchmal mehr, wenn P 2 ein ein Kind dem andern was sagt, als wenn es Aeltern und Lehrer thun. XLIII. Ein lustiges Gespensterhistoͤrchen. A uf einem Dorfe kehrte einmal ein junger muthiger Student in dem Wirthshause ein, das dem Kirchhofe gerade gegen uͤber lag. Des Abends kamen in der Gaststube einige Bauern zusammen, und sagten: No, wi helt et, Herr Wirth? Let seck dat witte Dinges op dem Kerkhope nich wedder sein? „Seit vier Tagen nicht,“ sagte der Wirth. Da spannte der Student, als er vom weißen Dinge hoͤrte. Das soll gewiß ein Ge- spenst seyn, sagte er. O wie bedaure ich euch, ihr guten Leute! daß ihr euch vor solchen Pos- sen fuͤrchtet! Wir Gelehrten muͤssen euch herz- lich auslachen. Indem Indem gieng der eine Bauer heraus, kam aber bald wieder, und sagte: Wenn he denn so klauk is, so segge us mal, wat et is? Da steit et wedder an der Kerchhopsmure — lank, lank in der Hechte, un het beye Henne utespannt. Was? wo ists? wo stehts? rief der Stu- dent. Sie giengen heraus. Es war heller Mondschein. Und das weiße Ding stand wirk- lich da. Nun will ichs euch bald zeigen, was es ist, sprach der Student. Wo ist mein Degen? Die Leute baten ihn sehr, er solle ja nicht hingehen. Er koͤnne ungluͤcklich werden, und der Boͤse, Gott sey bey uns! ließe sich nicht vexiren. Man muͤsse es stille siehen lassen, so thaͤte es keinem was. Er aber bestand darauf, und gieng mit dem Degen gerade drauf los. Die Leute kreu- zigten und segneten sich, und sprachen unter P 3 einan- einander: No! dem sein letzte Brod wird wohl gebacken seyn. Als der Student naͤher hinzukam, so rief er doch erst: Wer da? ehe er zustach. Statt der Antwort aber bekam er von dem Gespenst einen Schlag vor den Kopf, daß er ruͤcklings zu Boden fiel. Als er fiel, fiengen die Leute an zu schreyen, schlugen die Fenster zu, und krochen alle in einen Winkel. Einige sagten: Dat dachte we wol, dat et sau komen werre. Andere wollten schon gesehen haben, wie er von dem Gespenst waͤre in der Luft wegge- fuͤhrt worden. Was doch Furcht und Einbildung thun kann! In einer halben Stunde aber erklaͤrte sich die ganze Sache. Der Student erholte sich von seinem Schreck und Fall, und als er um sich sah, lag das lange weiße Gespenst dicht bey ihm. Was Was mochte es wohl seyn? Wers rathen kann, der lege jetzt das Buch weg, und rathe, oder lasse die andern rathen. Es war ein langes weißes Hemde, das ein anderer Bauer auf einer Harke oder Rechen dahin gestellt hatte, um es zu trocknen. Wie mochte aber der Student den Schlag bekommen haben? — Wieder weg mit dem Buche, und gerathen. Er trat vorne auf die Zinken der Harke. Dadurch wurde ihm der Stiel entgegen ge- schnellt. Bauz! bekam er eins auf den Kopf. Als ers nun so gefunden hatte, kam er in vollem Triumph vor das Bauerhaus, wo man ihn nicht erst einlassen wollte. Da ruͤhm- te er denn seine Herzhaftigkeit mehr, als er wohl eigentlich Ursache hatte. P 4 XLIV. XLIV. Das kluge Kind mit Manier und Artigkeit. D orchen wußte ein- fuͤr allemal, daß es bey Tische nichts fordern durfte. Denn es bekam das schlechterdings nicht, was es forderte. Zuweilen wurde ihm auch ein Biß- chen Wein gegeben. Zuweilen wurde es mit Fleiß vergessen, und bekam keinen, um zu sehen, wie es sich dabey verhalten wuͤrde. Da geschah es nun einmal, als einige gute Freunde bey den Aeltern zu Tische waren, daß es auch keinen Wein bekam. Man konnte es ihm ansehen, daß es gern ein Bißchen ge- habt haͤtte. Fordern wollte es nicht, durfte auch nicht. Wie fieng es aber die Sache an? Es sagte das Verschen her: Nein! mein Schoͤpfer, vaͤterlich Sorgst du taͤglich auch fuͤr mich. Mir muß auch die Saat gedeihn: Mir giebt auch die Traube Wein . Und Und bey den letzten Worten wies es auf sein Glaͤschen, das mit auf dem Tische stand; sprach auch das letzte so nachdruͤcklich aus, daß es allen ins Lachen fiel. Das hieß also nicht gefordert; aber doch mit Manier und Artigkeit gesagt: daß es gern ein Bißchen Wein haben moͤchte. Alle Gaͤste baten fuͤr das Kind, und es bekam sein Bißchen Wein. Wenn Kinder mit Manier und Artigkeit eine Sache fordern, so werden sie solche weit eher bekommen, als wenn sie trotzen, und auf ihrem Kopfe bestehen. XLV. Vom Stricken, Naͤhen und Spinnen. D u wolltest nicht stricken, naͤhen und spin- nen lernen? sprach der Vater zu Dor- chen . Wie geht das in aller Welt zu, mei- P 5 ne ne Tochter? Deine Mutter klagt daruͤber, und das geht mir sehr nahe. Das muß ich dir sagen, da du sonst in allen Stuͤcken ein so folgsames und gehorsames Kind bist. Siehe Fiekchen an. Das ist noch nicht einmal so alt, als du, und hat sich schon selbst Strumpfbaͤnder, Kopfbinden, und dergleichen gestrickt — hat sich schon einige Tuͤcher ge- saͤumt, und kann recht niedlich spinnen. Soll- test du das nicht eben so gut koͤnnen, wenn du wolltest? Es muß also an deinem Willen lie- gen, und das ist mir eben nicht lieb zu hoͤren. Das ist wohl wahr, lieber Vater! ant- wortete Dorchen , daß Fiekchen das kann, was Sie da sagen; aber es kann auch noch nicht lesen, schreiben und rechnen. Und das kann ich doch schon. Das ist aber zehn- mal besser, als Stricken, Naͤhen und Spin- nen. Ich muß es Ihnen nur ehrlich sagen, daß ich dazu gar keine rechte Lust habe. Sonst koͤnnte koͤnnte ichs schon. Ueberhaupt gefaͤllt mir die Hausarbeit und die Kuͤche gar nicht. Viel lieber sitze ich bey einem huͤbschen Buche, lese oder schreibe mir ein Histoͤrchen, rechne mir ein Exempel, oder gehe in den Garten, und sehe nach, ob meine Kresse, Lattuke, Levko- jen, Aurikeln, oder was ich sonst gepflanzt habe, gut bekommen sey. So ist das? sagte der Vater. Nun weiß ich doch deines Herzens Gedanken, und die wahre Ursache, warum du immer vor der. Hausarbeit einen solchen Abscheu hast. Das ist nicht gut, mein Kind! daß du von diesen Dingen so denkst. Du irrst dich sehr. Denn wovon willst du einmal in der Welt dein Brod haben, und deine Haushaltung fuͤhren? Von Lesen, Schreiben, Rechnen kannst du das allein nicht. Studiren kannst du auch nicht. Das ist nur fuͤr Mannspersonen. Diese Din- ge, zu denen du jetzt keine Lust hast, sind dir in in der Folge so nuͤtzlich, als Lesen, Schreiben und Rechnen. Ich daͤchte, du haͤttest nach- gerade selbst den Verstand, das einzusehen. Daher waͤre es dir keine sonderliche Ehre, wenn dich die Mutter zwingen mußte, diese nuͤtzlichen Dinge zu lernen. Ein Kind zum Lernen zu zwingen, davon halte ich nicht viel, weil es dann nichts mit Lust, und aus eige- nem Triebe thut — nicht weil es will , son- dern weil es muß . Es wird ihm noch zwey- mal so schwer, und was es mit Zwang hat lernen muͤssen, das behaͤlt es auch nicht lan- ge. Das siehst du schon an dir selbst, wie sauer dir das Stricken wird, weil du keine Lust dazu hast. Aber laß nun einmal uͤber die Sache ver- nuͤnftig mit dir reden. 1) Kannst du gewiß glauben: Alles, was dich dein Vater und deine Mutter lehren, und wollen lernen lassen, das muß dir nuͤtzlich seyn, wenn wenn du es gleich jetzt noch nicht einsiehest. Sonst wuͤrden sie es nicht thun. Ich daͤchte, schon deswegen muͤßtest du zu allem Lust ha- ben, und es mit Vergnuͤgen thun, was dir deine Aeltern zu lernen anrathen. 2) Bedenke das einmal recht, was ich dir nun sagen will. Wie sauer bist du deiner Mutter geworden, vom ersten Anfang deiner Kindheit an! — da du noch nicht gehen konntest. Wie hat sie dich aus ihrer Brust gefuͤttert und getraͤnkt! Wie viele schlaflose Naͤchte hat sie deinetwegen gehabt! Wie man- che Sorge, wenn dir das Geringste fehlte! Und nun, da du so weit bist — wolltest du ihr fuͤr das alles gar nicht dankbar seyn? Soll sie also — die treue Mutter — kuͤnftig im Hauswesen gar keine Huͤlfe von dir haben? Soll sie Sachen, die im Hause koͤnnen ge- strickt, genaͤhet und gesponnen werden, als Struͤmpfe und Hemden fuͤr dich und die Klei- nen, nen, — soll sie das immer allein thun, die arme Mutter, oder fuͤr Geld von andern thun lassen? Koͤnntest du das vor deiner treuen Mutter, die dich so lieb hat — vor deinem Vater, vor Gott, und deinem Gewissen ver- antworten? Waͤre das der Dank fuͤr alle Treue deiner guten Mutter, daß sie Kinder haͤtte, und sich doch immer allein quaͤlen muͤßte? Und — O Vater! rief Dorchen mit nassen Augen, hoͤren Sie auf, ich bitte Sie. Das kann ich nicht mehr ertragen. Ich will gern, herz- lich gern, in allen Stuͤcken der Mutter zu Huͤlfe kommen. So hab’ ich die Sache noch nicht bedacht. Gut, mein Kind! antwortete der Vater, damit bin ich zufrieden. Ich muß dir aber noch einige Punkte vorstellen. XLVI. Fort- XLVI. Fortsetzung des fuͤnfundvierzigsten Stuͤcks. 3) W aͤre es wohl recht, daß die Mut- ter fuͤr solche Sachen noch Geld ausgeben muͤßte, die du selber machen koͤnntest? Kann sie das Geld nicht zu deinem und der andern Kinder Besten anwenden? Je groͤßer ihr wer- det, desto mehr braucht ihr. Ist es nicht bil- lig, daß ihr auch nachgerade selbst etwas verdienen lernt, und euren Aeltern die Sorgen und Ausgaben erleichtert? So wills auch der liebe Gott haben nach dem vierten Gebot. Oder kann die Mutter nicht auch die Zeit , die sie auf das wenden muͤßte, was doch dei- ne Haͤnde schon machen koͤnnten, zu andern nuͤtzlichen Arbeiten verwenden? Bedenke das alles einmal recht, so wirst du dich bald besinnen. 4) Will 4) Will ich dir einmal die Folgen davon vorstellen, wenn du so aufwuͤchsest, und keine nuͤtzliche Hausarbeiten gelernt haͤttest. Wie wuͤrde dirs gehen, wenn du groͤßer wirst, von uns wegkoͤmmst, oder wenn wir stuͤrben? Du solltest selbst nun einmal dei- ne Haushaltung anfangen — und koͤnntest weder stricken, naͤhen, noch spinnen? — koͤnntest in der Haushaltung, in der Kuͤche selbst nichts, gar nichts machen? Dann wuͤrden dich deine Maͤgde ausla- chen, und du wuͤrdest allen Respekt gegen sie verlieren. Es ist nicht leicht eine der gering- sten Dienstmaͤgde, die nicht sollte stricken, naͤhen und spinnen koͤnnen. Wie viel Geld wuͤrdest du haben muͤssen, das alles außer dem Hause machen zu lassen, was der Mann, du selbst, kuͤnftig als Fran, und deine Kinder, an Struͤmpfen, Hemden, und dergleichen gebrauchen! Es Es ist auch immer fuͤr den Mann eine un- angenehme Sache, wenn die Magd das Es- sen und andere Dinge besser machen kann, als die Frau. Was meynst du ferner? Wenn deine Kin- der groͤßer wuͤrden: sollen die etwan auch nicht stricken, naͤhen und spinnen lernen, weil es die Mutter nicht kann? Wenn die aber das alles besser koͤnnen: muß sich die Mutter nicht vor ihren eigenen Kindern schaͤmen? 5) Ist es immer recht sehr gut, daß du am Lesen, Schreiben und Rechnen viel Ver- gnuͤgen findest. Muß man aber darum an- dere nuͤtzliche Dinge des menschlichen Lebens versaͤumen? Es ist wahr, durch Lesen, Schrei- ben und Rechnen mußt du dich erst recht ge- schickt machen, deine kuͤnftige Haushaltung mit Nutzen zu fuͤhren. Aber das allein zu koͤnnen, und weiter nichts, das machts noch nicht aus. Mit einer bloß gelehrten Frau, II Theil . Q die die den ganzen Tag bey den Buͤchern sitzt, und die Leute im Hause schalten und walten laͤßt, wie sie nur wollen, sich aber selbst nicht um Kuͤche, Keller und Haushaltung bekuͤm- mert, ist einem Manne nichts gedient. Da- bey wird er gewiß auf keinen gruͤnen Zweig kommen, sondern bald zu Grunde gehen. Siehe, mein Kind! das sind die Folgen davon, wenn du nicht wolltest stricken, naͤ- hen und spinnen lernen. So wuͤrd’ es ohn- gefaͤhr kommen. Was meynst du dazu? Hierauf antwortete Dorchen : O mein lieber Vater! das habe ich mir niemals so vorgestellt, wie Sie mirs jetzt gesagt haben. Ich danke Ihnen recht sehr, daß Sie mich ge- warnt haben. Die ungluͤcklichste Person waͤre ich geworden. Sie haben mir nun rechte Lust gemacht. Noch heute des Tags will ich mit Vergnuͤgen anfangen. Muͤtterchen! wo sind Sie? Sie? Kommen Sie, wir wollen stricken. Alles, alles will ich gerne lernen. Damit du aber siehest, mein Kind! daß das alles wahr sey, was ich dir gesagt habe, sprach der Vater, so will ich dir ein Histoͤr- chen von der Frau Orgon erzaͤhlen. XLVII. Fortsetzung des sechsundvierzigsten Stuͤcks. Frau Drgon . D iese gute Frau hatte in ihrer Jugend auch nicht stricken, naͤhen und spinnen ler- nen wollen. Von Kochen, Haushaltung, und dergleichen wußte sie gar nichts. Sie hatte weiter nichts gethan, als sich geputzt, neue Moden gemacht, einen Roman gelesen, ein Bißchen auf dem Klavier gespielt, in Ge- Q 2 sellschaft sellschaft gegangen, ein Lomberchen gemacht, und des Morgens bis neun Uhr geschlafen. Als sie heyrathete und selbst eine Haus- haltung bekam, so kam es nun auch so, wie es kommen mußte. Ihr Mann war ein Foͤr- ster, und konnte Amts wegen nicht viel zu Hause seyn. Besonders mußte er im Som- mer des Morgens um vier Uhr schon im Holze seyn. Da lag denn die Frau Orgon bis um neun Uhr in den Federn. In der Zeit konnte das Gesinde machen, was es wollte. Da wurde Koffee getrunken, und manches Suͤppchen ver- zehrt, davon die Frau Orgon nichts wußte. Denn sie wußte mein Lebetage nicht, wie viel Butter, Eyer, Kaͤse, und dergleichen da war. War das nicht eine huͤbsche Haushaltung? Wenn sie aufgestanden war, mußte die Koͤchinn kommen, und nun wurde berath- schlagt, was zu Mittage sollte gegessen wer- den. den. Sie selbst gieng nie in die Kuͤche, um nur einmal nachzusehen. Sie haͤtte sich etwan einen Finger schwarz machen koͤnnen. Wenn sie Koffee getrunken hatte, las sie allerhand schlechte Buͤcher. Dann wurde gegessen. Die Leute mochten zusehen, wo sie was bekamen. Sie sahen aber auch zu, wo sie was bekamen. Nach Tische hielt sie Mittagsruhe, und dann gieng sie in Gesellschaft, bis des Nachts um eilf und zwoͤlf Uhr. Kam der Mann nach Hause, so fand er immer das ledige Nest. Alles, was der Mann, sie selbst, und die Kinder an Leinwand, Hemden, Struͤmpfen und Kleidungsstuͤcken gebrauchten, wurde außer dem Hause gemacht. Ob die Leute des Abends was thaten, oder faulenzten, darnach wurde nicht gefragt. Kurz, sie gab fuͤr alle diese Dinge, die sie selbst haͤtte machen koͤnnen, mehr Geld aus, als der Mann einnahm. Sie machte Schulden, griff die Kassengelder des Q 3 Man- Mannes an, und in wenig Jahren gieng die ganze Haushaltung zu Grunde. XLVIII. Das artig gewesene, und wieder un- artig gewordene Kind. W ie ungluͤcklich ist ein Kind, das artig gewesen ist, und von neuem unartig wird! Seiner vorigen Artigkeit wird gar nicht mehr gedacht. Sie gereicht ihm vielmehr zu einem desto groͤßeren Vorwurfe, daß es artig gewesen, und doch wieder unartig geworden ist. Lottchen war bis ins sechste Jahr ein recht artiges Kind, und der Aeltern wahre Freude. Durch Gehorsam, Fleiß, sanftes und bescheidenes Wesen das angenehmste und gefaͤlligste Kind. Die Lust und das Vergnuͤ- gen gen anderer guten Menschen. Die Ehre und der Ruhm der halben Stadt. Wenn man ein recht artiges, liebes Kind beschreiben wollte, so wurde Lottchen genannt. Es wurde oft in Gesellschaften gebeten, weil es die Leute gar zu gern bey sich haben und leiden moch- ten. Andere Kinder mußten es oft von ih- ren Aeltern hoͤren, daß sie nicht so artig als Lottchen waͤren. Aber das Ding kehrte sich gewaltig um. Lottchen wurde mit einemmale wieder so un- artig, daß es alle Tage eine neue uͤble Ge- wohnheit annahm, und durch seine schlechte Sitten und Auffuͤhrung jetzo desto unleidlicher wurde, je artiger es vorher gewesen war. Woher mochte das wohl kommen? Ganz gewiß zuerst davon, daß man das Kind zu viel gelobt , und durch das viele Loben verdorben hatte. Denn nun dachte es schon, es sey voll- kommen, es sey artig genug, und duͤrfe nicht Q 4 besser besser und artiger werden. Sein kleines Herz wurde eitel. Die Eigenliebe blendete es, daß alle seine uͤblen Sitten, und schlechten Ge- wohnheiten, Artigkeiten waͤren, und recht huͤbsch ließen. Dadurch wurde es sicher , und eben dadurch von Tage zu Tage unarti- ger, als es je gewesen war. Seine Unarten waren eben keine Boshei- ten, aber doch Ungezogenheiten. Wenn diese aber bleiben und zunehmen, so werdens gar bald Untugenden. Z. E. es knapperte mit den Zaͤhnen, sog mit den Lippen, wollte immer alles besser wissen, kletterte auf den Stuͤhlen herum, oder legte sich druͤber her — wider- sprach den Aeltern, fiel andern in die Rede, pinkte mit den Augen, verzerrte sein Gesicht, war bey Tische ungesittet, wurde wild, grob und unbescheiden. Kurz, gar nicht mehr das angenehme gefaͤllige Kind, das es sonst war. Von allem jetzt gerade das Gegentheil. Welche Welche traurige Veraͤnderung! Seine Ael- tern mußten den ganzen Tag an ihm predigen und verbieten. Sie betruͤbten sich sehr, und es machte ihnen desto mehr Kummer, je arti- ger das Kind vorher schon gewesen war. Was waren die Folgen davon? Der Leh- rer brachte alle Tage das schwarze Buch , worinn sein uͤbles Verhalten angezeichnet war. In das schoͤne blanke Buch kam fast gar nichts mehr. Es verlor die Liebe seiner Ael- tern, und sie machten sich nichts mehr aus ihm. Hatten sie ihm sonst so viele Freuden gemacht, so fielen die auch weg, weil es ih- nen keine Freude mehr machte. War es sonst bey andern Leuten beliebt und angenehm ge- wesen, so sahen es diese nicht mehr beym Wege an. Es durfte fast nirgends mehr hin- kommen. Das schwarze Buch wurde allen Menschen gewiesen. Seine vorige Artigkeit wurde ihm oft vorgeworfen. Es hatte jetzt Q 5 nichts, nichts, als Schimpf und Schande. Und der Ruhm seiner vorigen Artigkeit war gaͤnzlich verloren. Nirgends hieß es mehr das artige Lottchen , sondern die Leute sagten: Wie hat sich das Kind veraͤndert! Was ist aus dem Kinde geworden? Das gieng so wohl einige Monate hin. Da fieng es selbst an, es zu fuͤhlen, daß es die Aeltern nicht mehr so lieb hatten wie sonst — daß es viel weniger Freude hatte, als sonst — daß es von andern gar nicht mehr so geachtet wurde, als sonst. Dieß gieng ihm sehr nahe. O! sagte es einmal vor sich, was mag doch daran Schuld seyn, daß sich mei- ne Aeltern so umgekehrt haben, und mir nicht mehr so gut sind, als sonst? Was sprichst du da vor dich, sagte die Mut- ter? Und es mußte es noch einmal sagen. So? war die Antwort. Wir haͤtten uns umgekehrt? Du hast dich umgekehrt, und bist nicht nicht mehr so artig, als du sonst gewesen bist. Bessere dich, so hast du unsere erste Liebe wie- der. Wer ist also Schuld? Das Kind fieng an erbaͤrmlich zu weinen. O! sagte es, wie traurig ist doch das, nicht mehr geliebt und geachtet zu werden — keine Freude mehr zu haben! Ich wollte lieber nicht leben. Ich will mich von nun an bessern, und das liebe Kind wieder werden, das ich sonst gewesen bin. Ein Umstand machte, daß die Besserung gluͤcklich zu Stande kam. Der Vater hatte den andern Kindern versprochen, sie mit aufs Vogelschießen zu nehmen. Wie freudig huͤpf- ten sie um Vater und Mutter herum! An Lottchen kehrte sich keiner. Es wurde ihr nichts gesagt. Ach! rief sie, mein Vater, soll ich denn die Freude nicht mit haben? Was Freude? sagte der Vater. Du bist keiner Freude mehr werth. Daß du du uns durch deine Unart die ganze Lust verduͤrbest! Das waͤre mir eben recht. Du bleibst zu Hause, wenn sich deine Geschwister freuen. Sonst machte ich dir wohl Freude; aber jetzt nicht mehr. O! wie hatte sich Lottchen da so uͤbel! Nun erkenne ich erst, daß ich Unrecht habe, und mich selbst um so manche Freude bringe. Pfuy uͤber die Unart! Fort damit. Ich will mich wieder bessern, so kann ich wieder Freude haben. Und das geschah denn auch. XLIX. Ungehorsam straft sich selbst. D rey Kinder bekamen von ihrer Mutter die Erlaubniß, nach den Lehrstunden in den Garten zu gehen, und zu spielen. Daß Daß ihr mir ja aber, sagte die Mutter, kein Obst abreißt, noch weniger das unreife unter den Baͤumen anruͤhrt, oder esset. Ich will schon nachkommen, und euch geben, was euch dient. Sie versprachen es aufs heiligste. Den beyden groͤßern, Gottlieb und Minchen , fiel es nicht einmal ein, das Verbot der Mut- ter zu uͤbertreten. Aber der kleine Anton konnte der Begierde zu naschen nicht wider- stehen. Da lagen unter dem Malvasierbaume gar zu praͤchtige gelbe Birnen. „O! die sollten nicht reif seyn, die schoͤnen Birnen? dachte er bey sich selbst. Die Mutter hat ja nur das unreife Obst verboten. Was koͤnnte dir ein so schoͤnes gelbes Birnchen schaden? Sie siehts ja nicht. Und Gottlieb und Minchen sind ja auch weit weg.“ Er Er machte einen langen Hals nach den beyden hin, und — husch! buͤckte er sich, und nahm ein Birnchen auf. Schuͤchtern sah er nach der Gartenthuͤr, und hurtig biß er hinein. So machens alle Kinder, die etwas wider das Verbot ihrer Aeltern thun. Sie thun es allemal schuͤchtern und mit Furcht. Denn sie koͤnnen es nicht mit gutem Gewissen thun. Der Biß war kaum in die Birne gesche- hen, so dachte er, er sollte vor Schmerz um- kommen, und erhob ein entsetzliches Geschrey. Die beyden Kinder kamen gelaufen, und die Mutter auch. Was ist dir denn, Anton? rief die Mutter voll Angst, und fragte die andern, was ihm widerfahren waͤre? Wir wissen es nicht, lie- bes Muͤtterchen! sagten diese. Wir gehen da herum. Da faͤngt er auf einmal an so greu- lich zu schreyen. So sag doch, Antonchen ! was fehlt dir denn? Antonchen Antonchen aber konnte nicht reden, son- dern sperrte das Maul weit auf, steckte die Zunge aus, und rieb sie. Da flog ihm eine große gelbe Wespe aus dem Maule. Diese fressen sich tief in die suͤßen Malvasirbirnen ein. Da er nun hineingebissen hatte, so steckte die Wespe noch in dem Stuͤcke, und stach ihn in die Zunge, daß sie schon dick aufgeschwol- len war. Die Mutter merkte den ganzen Handel, sagte aber weiter nichts, als: Du bist fuͤr deinen Ungehorsam genug gestraft . Da dachtest du: sieht es doch keiner, und hast wider mein Verbot genascht, und in die Bir- ne gebissen. Ein kleines veraͤchtliches Thier- chen hat dich gestraft, und deinen Ungehor- sam, den du so heimlich hieltest, doch verrathen. Der arme Anton stand ein Paar Tage ge- nug an seiner geschwollenen Zunge aus. Denn ein Wespenstich ist gefaͤhrlich, weil die Wespe ein ein subtiles Gift mit einfließen laͤßt, und der Stachel stecken bleibt, daß er ausschwaͤren muß. Die Mutter durfte es ihm nachher nicht wieder verbieten, sondern nur sagen: Denke an die Wespe . L. Das Blutwasser . E s kam einmal im Fruͤhjahre, gegen Pfing- sten, das Geschrey in die Stadt: es haͤtte Blut geregnet , und das Wasser haͤtte sich draußen in der Pferdeschwaͤmme, im Tei- che und in verschiedenen Graͤben in Blut ver- wandelt. Da lief alles hinaus, was laufen konnte. Ein Jeder wollte das Blut sehen. Die alten Weiber standen haufenweise bey einander auf den Straßen. O! wie seufzten sie uͤber die boͤse Welt, da sie selbst die boͤse Welt, Welt, naͤmlich so viel Neid und Haß gegen andere, im Herzen hatten! Sie machten auch viele Kreuze vor sich, damit ihnen nichts Boͤ- ses begegnen moͤchte. Denn das ist eben der rechte aberglaͤu- bische Mißbrauch von dem Zeichen des Kreu- zes. Dieß soll das Kreuz Christi bedeuten. Dem schreiben sie die Kraft zu, wenn sie dieß Zeichen mit den Fingern dreymal vor den Kopf und vor die Brust machen, daß ihnen dann die Gespenster, Hexen und boͤsen Geister nichts thun koͤnnten. Wie ist doch das so gerade wider alle ge- sunde Vernunft, daß es auch ein Kind begrei- fen kann! — so ganz wider alle Absicht des Kreuzestodes Christi! Der ist dazu geschehen, daß er die Menschen von ihren Suͤnden erloͤ- sete, und daß wir von ihm lernen sollen, der Wahrheit und dem Guten, wie er, getreu zu bleiben. II Theil . R Nun Nun wieder auf die aberglaͤubischen Leute zu kommen, die sich da kreuzigten und segne- ten. Ach! hieß es, was wird das bedeuten? Was anders, sagte die andere, als daß der liebe Gott strafen muß, und davon schon durch den Blutregen die Vorbedeutung gegeben hat, daß die Leute sollen Buße thun. Das wird ein Blutvergießen werden. Krieg und Ster- ben, Pestilenz und theure Zeit wird uͤber die Menschen kommen. Ach! der liebe Gott wende es doch ab. Denn die Menschen sind gar zu gottlos. Sie gehen gar nicht mehr in die lie- be Kirche, kommen in keine Betstunde, und singen nicht einmal mehr, wenns donnert. Nein! ich halte es noch immer so, wie meine selige Mutter, und versaͤume keine Betstunde. Aber, meine Nachbarinn, die boͤse Frau! die thut nichts, als arbeiten, hat fuͤnf Kinder, die gehen, wie die Docken. Es fehlt ihr an nichts. nichts. Ich mag nicht richten; aber wer weiß, wo sie es herhaben mag? So sprachen die Leute unter einander. Da war nun auch ein Vater, der hatte fuͤnf Kinder, die er immer schon sehr vernuͤnftig unterrichtet, und vor allem Aberglauben sorg- faͤltig gewarnt hatte. Die Kinderchen kamen gesprungen, und brachten die Nachricht nach Hause: „Vater! draußen vor dem Thore soll alles Wasser Blut geworden seyn. Lassen Sie uns doch herausgehen. Das moͤchten wir auch sehen. Anne Marie sagt: Es bedeute Krieg. Der liebe Gott wolle strafen. — Aber das glauben wir nicht. Der liebe Gott ist viel zu gut. Er braucht ja das nicht erst anzuzei- gen, wenn Krieg kommen soll. Ja! sagte der Vater, der mit der Natur dieses vermeynten Wunders schon viel zu be- kannt war, das ist doch was Besonders, Kin- der. Blutwasser? Das muͤssen wir sehen. R 2 Sollte Sollte sich wohl das Wasser wirklich in Blut verwandelt haben? Und sollte der liebe Gott wohl das den Menschen zur Strafe gethan haben? Wir wollen aber doch herausgehen. Ihr aber, Georg, Moritz und Karl , haltet die Glaͤser parat, die wir immer mitnehmen, wenn wir uns Thierchen aus dem Wasser holen. Und du, Lotte ! vergiß das Netzchen nicht. Dorchen ! du kannst die Kelle nehmen. Die Kinder huͤpften vor Freuden vor dem Vater her, und so gieng der Zug fort. In der Thuͤr riefen sie nochmals alle zur Mutter. Liebes Muͤtterchen! auf den Abend bekommen wir doch ein Paar Eyer, und ein frisches Sallat- chen? Nicht wahr, du liebes bestes Muͤtter- chen? Lauft nur hin, sagte diese: ihr sollt nicht hungrig zu Bette gehen. LI. Fort- LI. Fortsetzung des funfzigsten Stuͤcks. A ls sie herauskamen, standen schon viele Leute bey der Pferdeschwaͤmme, und be- wunderten das Blutwasser. Da gieng nun der Vater naͤher mit den Kindern, und ließ sich erst mit den Leuten ins Gespraͤch ein. Leute! sagte er, glaubt ihr denn wirklich, daß sich dieß Wasser in Blut verwandelt ha- be? J! hieß es, das kann man ja sehen. Denn es ist oben alles roth. „Ist denn aber alles Blut, was roth aussieht? Ihr sollt gleich sehen, daß nicht alles so ist, wie es scheint.“ Ach! rief ein altes Muͤtterchen aus dem Haufen, das ist auch ein Unglaͤubiger — ich hoͤre es schon — der Gottes Gerichte nicht erkennen will. Komm! sagte der Vater, alte gute Mutter! Du sollst mit uns gehen, nur da uͤber die Wiese, wo das Wasser fließt. R 3 Ich Ich bin nicht boͤse auf dich, wenn du mich auch einen Atheisten nennest. Wenn du mir da im Flusse ein Troͤpfchen Blut zeigen kannst, so will ich dir glauben, daß der liebe Gott das Wasser in Blut verwandelt habe. Komm! komm! Du mußt mit. Sie wollte erst nicht; aber die andern schoben sie fort. Da lachten die Kinder, und sprangen vorweg. Und der Haufe zog nach. Als sie an den Fluß kamen, lief das Was- ser klar und rein dahin, und es war kein rothes Troͤpfchen zu sehen. „Was sagst du nun, alte Mutter? Weise mir doch das Blut!“ Ja! rief sie, der liebe Gott will uns nicht auf einmal verderben. „Aber, wenn er strafen wollte, so muͤßte er doch dieß Wasser im Flusse am ersten in Blut verwandelt haben. Denn das brauchen wir zum Kochen und Brauen, das andere aber nicht. Das ist faul und unrein.“ Die Die andern Leute lachten sie aus. Und nun giengs wieder nach der Schwaͤmme. „Halt! Vater, sagte Georg , nun wollt ichs nachgerade bald rathen, was es waͤre.“ Vori- gen Herbst, da unten am Graben, holten wir einmal Wasser — Stille, stille! sagte der Vater. Wir werdens bald sehen. Sie traten nun an die Schwaͤmme, und es sah in der That aus, als waͤre alles Was- ser Blut. Die ganze Oberflaͤche blutroth. „Gieb einmal die Kelle her, Dorchen ! und du, Karl ! ein Glas.“ Da steckte der Vater die Kelle an seinen Stock, und schoͤpfte oben ab ins Glas, bis es voll war. Nun hielt ers in die Hoͤhe gegen das Licht, und zeigte es den Leuten. Was war es nun? Unten im Glase alles klar und helle; aber obenauf? Sehn Sie doch, Vater! riefen die Kinder, da kribbelt und wibbelt ja alles von rothen Thierchen . R 4 O! O! wie liefen die Leute zusammen, und woll- ten das auch sehen! — sahen es, und ver- wunderten sich sehr. „Komm her, altes Muͤt- terchen! sagte der Vater, und siehe hier deine Strafen Gottes, die uns nicht viel thun wer- den.“ Ja! antwortete dieses, wer weiß, wer die da hineingebracht hat? „Ich hoͤre wohl, erwiederte der Vater, du meynst: das haben die Hexen gethan. Lauf hin, du bist nicht zu bekehren.“ Die andern Leute aber freueten sich, und die Kinder noch mehr, daß es alles so natuͤr- lich zugieng. Der Vater fuͤllte noch einige Glaͤser voll von den recht rothen Stellen. Und die waren wie Blut. Da fragten nun die Kinder, was das fuͤr Thierchen waͤren, und wie sie dahin kaͤmen? Es sind lauter Wasserfloͤhe , antwortete der Vater. Seht einmal, was sie fuͤr Fuͤhl- hoͤrner hoͤrner haben, wie kleine Zweige und Aeste! Wie sie damit im Wasser rudern und sich fort- helfen! Diese haben sich nun hier in diesem Fruͤhjahre so entsetzlich vermehrt, daß ihre unzaͤhlige Menge das Wasser obenauf blut- roth gemacht. So ist es auch mit dem Was- ser im Teiche, und in den Graͤben, wo das Wasser stille steht; aber in keinem Flusse wer- det ihr diese Thierchen finden. Denn da koͤn- nen sie sich wegen der Bewegung des Wassers nicht halten. In den Brunnen , wenn sie noch so tief sind, giebts auch dergleichen; aber eine andere Art, schneeweiß. Die Leute hoͤrten das mit Vergnuͤgen, giengen froͤhlich aus einander, kamen zur Stadt, breiteten es aus, und das aberglaͤubische Ge- rede hatte bald ein Ende. O! es ist ein recht gutes Werk, die Leute vom Aberglauben zu befreyen. So machte es Christus auch. R 5 Des Des Abends sprecht ihr: es wird ein schoͤner Tag werden, denn der Himmel ist roth. Und des Mor- gens sprecht ihr: es wird heut Un- gewitter seyn, denn der Himmel ist roth und truͤbe . LII. Fortsetzung des einundfunfzigsten Stuͤcks. I ndessen gieng der Vater mit seinen Kindern weiter. Laßt uns noch einmal dahin ge- hen, sagte er, wo es so morastig ist. Es ist die rechte Jahrszeit dazu. Vielleicht finden wir da noch was, was euch sehr vergnuͤgen wird. Ich wuͤnschte, daß wirs faͤnden. „Was denn, Vaͤterchen? Was denn?“ Ich wills euch nicht sagen, bis wirs finden. Sie Sie kamen hin an den Ort, wo ein großer Morast, und am Ufer desselben recht dicker, schwarzer, glatter Moder war. Da sahe Georg schon in der Ferne viele große Blut- flecke . O das ist schoͤn, sagte der Vater. Das wollte ich eben haben. Nun aber stille, ganz sachte. Keiner gesprochen. Leise hingeschli- chen. Die Kelle parat. Die Kinder waren wie die Maͤuschen. Als sie naͤher kamen, waren alle Blut- flecke weg. Hier, sagte der Vater, muͤssen wir lauern und aufpassen. Gleich waren wie- der welche da. So wie sie sich aber nur ruͤhr- ten, waren sie auch wieder weg. Das ist doch schnurrig, sagte Moritz . Was muß das seyn? Die vexiren uns recht. Wir wollen sie wieder vexiren, sagte der Vater, steckte die Kelle an den Stock, und, so wie sich wieder ein Blutfleck zeigte — husch! war er mit der Kelle drunter, hob sie mit mit dem Moder aus, und that es ins Glas. Und so einigemal, bis es voll war. Ach! sagte Lotte und Dorchen , was wollen Sie denn mit dem garstigen Dreck? Der stinkt ja. „Geduld! bis wir nach Hause kommen. Da sollt ihr alles sehen — daß auch der garstigste Dreck nicht leer von Ge- schoͤpfen Gottes ist.“ Er stopfte das Glas zu, spuͤlte es ab, steckte es ein, und so giengen sie vergnuͤgt nach Hause. „Morgen fruͤh, sagte der Va- ter, werdet ihr Wunder sehen. Das Glas muß die Nacht durch stille stehen.“ Die Kinder waren damit zufrieden, und sahen sich nach der Kuͤche um. Liebes Muͤt- terchen! hieß es, wo bist du? Wenn du wuͤß- test, wie hungrig wir waͤren! „Kommt, kommt, meine Lieben! es ist schon alles aufgetragen.“ Da passirte ein schoͤnes Ruͤhrey mit Sallat. Heh! das schmeckte. Die Kinder erzaͤhlten der der Mutter alles, was sie gesehen hatten. Un- ter andern sagte Lottchen : Ich freue mich noch, daß das alte Muͤtterchen mit ihrem Aberglauben so schlecht weg kam. Des andern Morgens waren sie fruͤh bey der Hand, und lauerten vor des Vaters Stu- be. „Sachte, sachte, sagte er, muͤßt ihr nach dem Glase hingehen — ja nicht hart niedertreten — da werdet ihr sehen, was gestern draußen im Moder die Blutflecke ge- macht hat.“ Das sind ja rothe Wuͤrmer , rief Georg . Sieh einmal, Karl ! wie sie sich drehen und schlaͤngeln? Sie stecken ja alle mit den Koͤpfen im Schlamm, und stellen den Leib in die Hoͤhe. Warum moͤgen sie das thun? Das ist ihrer Natur gemaͤß, sprach der Vater. Darum heißen sie Roͤhrenwuͤrmer , weil sie mit dem Kopfende in der Schlamm- roͤhre stecken. Man nennt sie auch Schlamm- wuͤrmer . wuͤrmer . Seht, wie sie so roth sind! Sind ihrer nun viele Tausend beysammen auf einem Flecke, wie draußen, so siehts wie Blut aus. Nun gebt einmal Achtung. Georg ! tritt ein- mal mit dem Fuße hart auf den Erdboden, daß es schuͤttert. Husch! waren sie weg, und jeder in seine Schlammroͤhre zuruͤck. Vater! sagte Georg , so machten sie es gestern draußen auch. Da waren die Blutflecke weg. Wenn das nun einfaͤltige aberglaͤubische Leute sehen, so halten sie es fuͤr Blut, und prophezeihen daraus viel Boͤses. Ist es nicht gut, wenn man weiß, wie so was zugeht? In Frankreich waren einmal in einer Stadt fast alle Haͤuser, Daͤcher und Waͤnde mit Blutflecken bedeckt. Da schrie das Volk: es haͤtte Blut geregnet ; bis ein Gelehrter druͤber kam, und zeigte, daß viele tausend Schmetterlinge ausgekommen waͤren, und ihren ihren roͤthlichen Reinigungssaft, wie sie beym Auskommen thun, von sich gegeben haͤtten. LIII. Der gottlose Knabe. I ch meyne hier den hohen Grad von Gott- losigkeit , wenn Kinder im Stande sind, armen Bettlern, alten und schwachen Leuten, insonderheit Blinden, Lahmen und Gebrech- lichen, allen moͤglichen Spott, Tuͤcke und Bosheit zu beweisen. Ich wuͤnschte, daß dieß alle die boͤsen Buben, die diese abscheuliche Bosheit aus- uͤben koͤnnen, bessern moͤchte, wenn sie es lesen werden! Gutartige Kinder, die ein menschliches Herz haben, gehet dieß nicht an. Die sind von solcher Gottlosigkeit weit entfernt. Fritze , eines Muͤllers Sohn, war der gottlose Knabe, den ich hier andern zum Ab- scheu scheu vorstellen will. Er war schlecht erzogen, und hatte immer viele boͤse Exempel gesehen, wie sich die Leute unter einander gezankt, und sich alle Tuͤcke erwiesen hatten. Daher wurde er auch so. Weil er aber einen guten natuͤr- lichen Verstand hatte, aber zum Boͤsen an- wendete, so wurde seine Bosheit eben dadurch desto mehr geschaͤrft. Er gieng recht drauf aus, scharfsinnige Bubenstuͤcke auszudenken, andern Tort zu thun. Den Muͤhlknappen schlug er Naͤgel in die Stiefeln, daß sie sich die Fuͤße zerrissen. Neben an hatte ein Mann aus der Stadt einen Garten, und eine kost- bare Nelkenflor. Da nahm er ein Blaserohr, gieng auf den Boden, und schoß die besten Nelken ab. Es kamen zwar bey den Aeltern Klagen uͤber Klagen; aber sie hoͤrten nicht darauf, sondern freueten sich uͤber den Kna- ben, daß er so kluge Streiche machen koͤnnte. Das Das war denn wohl das rechte Mittel, diesen Boͤsewicht zu bessern? An den Armen und Bettlern begieng er wahre Grausamkeiten. Es kam einmal ein armer Mann in die Muͤhle und bat um eine Gabe. Setzt nur euren Sack hierher, sagte Fritze, und kommt mit mir in den Stall. Da will ich euch was geben. Der Arme that das. Gleich machte er den Stall zu, nahm das Brod aus dem Sacke, gabs den Schweinen, und that ihm Steine hinein. Nun ließ er ihn wieder heraus. Als der Mann seinen Sack aufnehmen wollte, waren Steine drinn. Da weinte er bitterlich. Denn das war sein ganzer Reichthum. Dem Boͤsewicht aber freu- te das Herz im Leibe, als er den armen Mann weinen sah. Koͤnnt ihr euch eine groͤßere Bosheit vor- stellen? Er gab ihm nicht nur nichts, sondern er nahm ihm sein Bißchen Brod noch dazu. II Theil . S Und Und als sich der Arme beschwerte, so ließ er den Hund los, der ihm noch ein Paar Loͤcher ins Bein biß. War das nicht ein Boͤsewicht? Er machte es aber mit andern Elenden und Gebrechlichen noch viel aͤrger. Den Lahmen nahm er die Kruͤcken weg, und hatte seine in- nige Freude daran, wenn sie nicht fort konn- ten, oder an der Erde zappelten. Es kam ein- mal ein Blinder hin, den ein Kind fuͤhrte. Dieses lockte er in den Garten, und nun setzte er Troͤge, Schemel, Holz, und so was hin. Dann rief er: Kommt nur hierher, ich will euch was geben. Wenn denn der arme Mensch uͤber die Dinge herstolperte, und sich Maul und Nase zu Schanden fiel, so wollte er sich todt lachen. Ein andermal fuͤhrte er einen Blinden auf den Steg uͤbers Wasser, und mit- ten auf demselben ließ er ihn stehen. Geht nur zu, sagte er, ihr koͤnnt nun nicht fehlen. Da fiel der arme Mensch ins Wasser, und waͤre ertrunken, ertrunken, wenn ihn nicht andere Leute wieder herausgezogen haͤtten. Was da fuͤr erschreckliche Wuͤnsche, Fluͤ- che und Worte von denen uͤber den gottlosen Buben ausgestoßen wurden, die er geneckt, gehoͤhnt, verspottet und so gemißhandelt hat- te, das koͤnnt ihr euch leicht vorstellen. Ich will zwar nicht sagen, daß die Fluͤche und Verwuͤnschungen anderer uͤber die, welche ih- nen Unrecht gethan haben, eintreffen; denn Gott sagt: Die Rache ist mein, ich will ver- gelten. Aber das goͤttliche Wiedervergeltungs- recht bleibt doch nicht aus, wie ihr aus der Geschichte von Joseph und seinen Bruͤdern wisset. Und bey solchen Gesinnungen, wie der gottlose Fritze hatte, konnte es ihm auch nimmermehr wohl gehen. Er wurde groß. Der Vater starb, und er bekam die Muͤhle. Weil er hart, tyran- nisch und grausam gegen andere war, so war S 2 er er auch ein Wagehals gegen sich selbst, und begab sich muthwillig in Gefahr. Da wollte er nun einmal im Winter das Eis vor den Muͤhlraͤdern losmachen, und trat auf ein glattes Bret. Rutsch! war er herunter, und kam unter die Raͤder, mit zerbrochenen Armen und Beinen aber wieder heraus. Kaum hatte er das Leben behalten. Das war erst eins. Der viele Mehlstaub und das Brannteweinsaufen mochte seinen Augen geschadet haben. Kurz, er wurde in seinen besten Jahren mit beyden Augen blind, und dazu ein elender Kruͤppel. Da gieng er in sich, und bereuete seine Jugendsuͤnden. Wenn nun ein Lahmer oder Blinder kam, so dachte er mit Schrecken an die Stellen, wo er diese sonst so oft gemißhan- delt, und so grausam mit ihnen umgegangen war. Ach! rief er oft voll Verzweiflung aus, das hab’ ich an euch verdient, daß ich krumm und und lahm bin, und kein Tageslicht mehr sehen kann. O! es muͤssen alle gottlose Kinder, die dergleichen noch thun, an mir ein Exempel nehmen, und sich ja vor solchen Bosheiten huͤten. Denn Gott laͤßt sich nicht spotten, wie ich erfahren habe. LIV. Fortsetzung des dreyundfunfzigsten Stuͤcks. A ls der Informator, Herr Ernst , diese Geschichte mit seinen Untergebenen las, wurde der Junker Ferdinand ganz blaß im Gesichte. Warum verwandelt sich denn der junge Herr so sehr? sprach der brave Mann zu ihm. Hat er etwa kein gutes Gewissen? Mir deucht, er ist auch ein solches Fruͤcht- chen, wie des Muͤllers Fritze war. Er er- S 3 schrickt. schrickt, wie ich sehe. Nicht wahr? bloß vor dem Ungluͤck, das Fritzen getroffen hat; aber nicht vor seiner Bosheit und Gottlosigkeit. Ich weiß alle seine Streiche, wie er noch gestern mit dem lahmen Stallknecht und der blinden Fieke umgegangen ist. Er weiß, daß ich die Gewalt habe, ihn fuͤr seine gottlose Streiche zu zuͤchtigen. Ich koͤnnte ihn schlagen. Ich koͤnnte ihn krumm schließen. Ich koͤnnte ihn ein Paar Tage in den Keller stecken, damit er wuͤßte, wie den Lahmen und Blinden zu Mu- the waͤre. Was wuͤrde aber das alles helfen, wenn er nicht sein Herz und seine Gesinnungen bessert, und mehr Menschenliebe annimmt? Spiegle er sich an den Gerichten Gottes, die uͤber Fritzen kamen. Denn es kann ihm nimmermehr wohl gehen, wenn er so bleibt. Gott ist kein Luͤgner, und der hat ausdruͤck- lich in der Bibel gesagt: Du Du sollt dem Tauben nicht fluchen. Du sollt vor dem Blinden kein An- stoß setzen. Denn du sollt dich vor deinem Gott fuͤrchten . Denk’ er einmal, wenn sein vortrefflicher Vater, der als ein wahrer Menschenfreund den lahmen Stallknecht und die blinde Fieke ernaͤhret, seine Streiche wuͤßte? Welche Ehre fuͤr seinen Stand, ein Menschenfreund zu seyn, und in die Fußstapfen seines wuͤrdigen Vaters zu treten, der von so vielen Elenden, denen er Gutes thut, gesegnet wird! Ist es besser, von den Elenden, Lahmen und Blinden, die in seines Vaters Brod sind, gesegnet, oder verflucht zu werden? Ist es nicht schrecklich, wenn diese Elenden den Vater segnen, und den Sohn verfluchen? Wenn er so fortfaͤhrt, wird er denn einmal auf seinem Sterbebette, wie Hiob , und wie sein wohlthaͤtiger Vater , sagen koͤnnen: S 4 Ich Ich war des Blinden Auge, und des Lahmen Fuß. Ich war ein Vater der Armen . Weiß er, Ferdinand ! was das heißt? Wenn man dem Blinden und Lahmen zu Huͤlfe koͤmmt und sein Elend erleichtert, so ist man des Blinden Auge, und der Fuß des Lahmen. Wer aber solcher Elenden spottet, und ihnen wohl gar Tort erweiset, der spottet des Schoͤ- pfers selbst. Der Junker wurde bey dieser Rede so weich, daß er dem Informator um den Hals fiel, und versprach, sich zu bessern. Auch die andern Kinder wurden so geruͤhrt, daß sie den Junker baten, nicht mehr so tuͤckisch und gott- los gegen andere zu seyn. Nun, ich werde sehen, sagte Ernst , ob er sein Wort halten wird. Denn es ist mir nicht gleichguͤltig, ob es ihm kuͤnftig wohl gehe, oder nicht. Nimmermehr aber kann es ihm wohl gehen, gehen, wenn er der Elenden Haß, Fluch und Thraͤnen auf sich ladet. LV. Das erste Veilchen , oder die Geschichte zweyer zaͤrtlichen Schwestern. E rstes liebes Veilchen ! sey mir willkom- men — sey mir gesegnet, angenehmes Fruͤhlingsbluͤmchen! Wie lange hab’ ich mich auf dich gefreuet — auf dich gewartet! Da bist du wieder. Willkommen, sag’ ich noch einmal, du Herold des Fruͤhlings! Was soll ich mit dir anfangen? Soll ich dich stehen lassen, oder soll ich dich an meinen Busen stecken? So sprach Dorchen , da es das erste Veilchen im Garten erblickte. S 5 Lottchen . Lottchen . J! Dorchen , hab’ ich dich doch lange so vergnuͤgt nicht gesehen. Was hast du denn da gefunden, liebes Kind! wor- uͤber du dich so sehr freuest? Dorchen . Herzensschwesterchen! Sieh doch nur, das erste Veilchen. O! wie es so frisch, so schoͤn, so niedlich da steht! Ich moͤchte es kuͤssen. Es ist mir das allerliebste Bluͤmchen, weil es so unschuldig ist, und so ohne alle Kunst aufwaͤchst. Ich ziehe es der großprahlerischen Tulpe weit vor. Lottchen . Ey! die ist doch auch nicht zu verachten. Dorchen . Was hat sie denn? Nichts, als ihr Bißchen Schoͤnheit. Das ists alles. Aber wie erquickend schoͤn riecht mein liebes Veilchen! Und ist doch auch nicht haͤßlich. Ein Straͤuschen davon koͤnnte einen aus der Ohn- macht bringen. Die Tulpe riecht ordentlich haͤßlich. Lottchen . Lottchen . Da hast du wohl recht, meine Liebe! Deine Lobrede auf das Veilchen bewegt mich fast, daß ich dir eine Freude vorschlage, die ich dir und mir machen will. Dorchen . J! was denn, liebes Schwe- sterchen? Du hast immer so gute Einfaͤlle. Lottchen . Nu! so hoͤre, was ich vor- habe. Wir wollen dir ein Paar Straͤuschen von den ersten Veilchen binden, und heute Mittag Vaͤterchen und Muͤtterchen zur Dank- barkeit auf den Teller legen, weil es die ersten sind. Nicht wahr? Dorchen . Ach ja! scharmant. Das wol- len wir thun. Lottchen . Geschwind will ich laufen und unsern Lehrer bitten, daß er uns ein Paar Verschen dazu macht. Ich wills ihm schon sagen, was er hineinbringen soll. Binde in- dessen die Straͤuschen. Dorchen . Hier sind die Straͤuschen. Lottchen . Lottchen . Und hier sind die Verschen. Den ersten und dritten lerne ich, und den zweyten und vierten mußt du gleich noch ler- nen. Frisch! lustig! Strenge dein Koͤpfchen an. Es sind scharmante Verschen. Hi! wie wird sich Vaͤterchen und Muͤtterchen freuen! Als nun der Mittag kam, da gedeckt wurde, legten die beyden zaͤrtlichen Schwestern, jede ihr Straͤuschen, Vater und Mutter auf den Teller, traten von ferne, und warteten mit einer edlen Bescheidenheit, bis sich Vater und Mutter gesetzt hatten. Lottchen zu Dorchen sachte : Kannst du auch dein Verschen? Dorchen . Recht gut. J! was finde ich denn da fuͤr ein aller- liebstes Veilchenstraͤuschen auf meinem Teller? sagte der Vater mit großer Freundlichkeit. Gewiß die ersten, die in unserm Gaͤrtchen vorge- vorgekommen sind — und sah die Mutter liebreich an, als wollte er sich bedanken, daß sie es hingelegt haͤtte. Indem hob diese ihre Serviette auf, und fand auch ein Straͤuschen. Da sahen sich Vater und Mutter einander an; — aber nun blickten sie nach den beyden lieben Maͤdchen hin, die am Fenster standen, und diesen Blick mit schmachtender Sehnsucht erwarteten. Eine sanfte Roͤthe, welche die Empfindung uͤber die Freude ihrer Aeltern hervorbrachte, mit stiller Bescheidenheit vermischt, uͤberzog ihre Wangen, und sie bekamen beyde hier die sanf- te Unschuld und Schoͤnheit der Veilchen. Da! da! sagte die Mutter zum Vater — da stehen die lieben Geberinnen, die uns dieß erste Gartengeschenk gemacht haben. Siehst du es ihnen nicht an, mein Lieber! daß sie es gethan haben? Ihr ganzes gutes Herz liegt jetzt auf ihren Wangen. Kommt her, ihr guten guten Kinder! und laßt euch kuͤssen. Ihr konntet uns nichts liebers schenken. Denn auf jedem Bluͤmchen liegt euer Herz und eure Dankbarkeit. Die Kinder sprangen herbey, kuͤßten Va- ter und Mutter die Hand, und baten, so vorlieb zu nehmen. Lottchen aber trat etwas zuruͤck, und sagte: Diese Bluͤmchen aus dem Garten Wollten nun nicht laͤnger warten: Wollten, wenn sie noch so klein, Durch uns ihr Geschenke seyn. Die Aeltern wollten eben reden, als Dor- chen anfieng: Garten! Bluͤmchen! diese Fluren Zeigen uns der Vorsicht Spuren. Sind nicht unser, sind nicht mein. Vater! Mutter! sie sind dein. Lottchen fuhr fort: Wir, wir koͤnnen nichts verschenken. Was wir haben, was wir denken: Abends, Abends, Mittags, spaͤt und fruͤh, Haben wir allein durch Sie . Dorchen beschloß also: Sehn Sie nicht auf diese Gaben, Die wir von uns selbst nicht haben: Nur aufs Herz , bey dieser That, Das so gern gegeben hat. O ihr Lieben! sagte Vater und Mutter, setzt euch. Nun wollen wir noch einmal so vergnuͤgt seyn. Ihr habt uns eine große Freude gemacht. — Und die Kinder konnten beynahe vor Freu- den nichts essen. Wenn Vater oder Mutter das Straͤuschen besahen, oder dran rochen, so sahen sich die Kinder einander freudig an. Siehst du wohl, Dorchen ! sprach Lottchen, daß mein Einfall gut gewesen ist? Dir ge- buͤhrt aber doch die erste Ehre, weil du dich zuerst uͤber die lieben Veilchen so freutest. O! antwortete dieß: ich haͤtte kaum gedacht, daß sich sich unsere lieben Aeltern so uͤber diese Kleinig- keit freuen wuͤrden. LVI. Fortsetzung des fuͤnfundfunfzigsten Stuͤcks. Vater . I hr seht es selbst ein, liebsten Kinder! daß dieß Straͤuschen eine Kleinigkeit ist. Die armen Waisenkinder tragen sie herum, ein Straͤuschen drey Pfennige. Aber haͤtten wir wohl die Freude gehabt, wenn wir uns von denen ein Straͤuschen gekauft haͤtten? Oder ist diese Freude groͤßer gewesen, da ihr uns diese ersten Veilchen mit einer so guten Art, und mit so zaͤrtlichen Herzen gebracht habt? Das Herz, die Gesinnung, die Absicht, mit der einer dem andern was giebt, giebt auch allein der Sache und dem Geschenk seinen Werth. Mutter . Mutter . Das ist wohl wahr, mein Lie- ber! Das weiß ich von Christo selbst, dem ein gutes Herz lieber als alles war, und der, besonders gegen gute Kinder, ein so gutes Herz hatte. Er stand einmal im Tempel vor dem Got- teskasten, da die Leute ihre Gaben einlegten. Da kamen die reichen Pharisaͤer und warfen viel hinein, mit einer Art, daß es alle Leute recht sehen und sie hoch ruͤhmen sollten. Da kam aber auch eine arme, arme Witt- we, und legte ihr Scherflein — nur ein We- niges — hinein; aber mit einer guten Absicht, und mit dem redlichsten Herzen. O! dieß Scherflein war Christo lieber, als alle die andern reichen Gaben. Denn er sah aufs Herz, und sprach: Diese arme Wittwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt, denn alle, die einge- legt haben. Denn sie haben alle von ihrem II Theil . T Uebrigen Uebrigen eingelegt; diese aber hat von ih- rem Armuth alles, was sie hat, ihre gan- ze Nahrung, eingelegt . Lottchen . Nu! wenns aufs Herz an- koͤmmt, so darf ich mich vor dem Herrn Chri- sto nicht schaͤmen. Dorchen . Ich auch nicht. Vater . O denkt euch also Christum hier bey uns, lieben Seelen, daß er eure Herzen kennt! Eure Straͤuschen sind ihm der Heller der armen Wittwe. Er wird euch segnen, wenn ihr so bleibt. Und nun muß eure Freude noch groͤßer seyn. Lottchen . Ach ja! liebes bestes Vaͤter- chen, wir hatten nichts Bessers, was wir Ihnen geben konnten, als unser dankbares Herz. Dorchen . Wir freuen uns gar zu sehr, daß Sie es so gut aufgenommen haben. Mutter . Mutter . Bleibet, ihr Lieben! wie diese Bluͤmchen, voll stiller Unschuld und innerer Tugend. Auf die merkt Gott, und es ist ihm Freude, wie es uns heute gewesen ist. LVII. Die Langschlaͤferinn. D as lange Schlafen ist der Gesundheit hoͤchst schaͤdlich, macht den Koͤrper matt, an- statt ihn zu staͤrken, und bringt die Kinder um viele Freuden. Karoline war und hieß die Langschlaͤ- ferinn . Denn sie war des Morgens gar nicht aus dem Bette zu bringen. Wenn die andern Kinder, Franz, Karl, Jettchen , schon eine Stunde und laͤnger aufgewesen waren, sich gewaschen und angezogen hatten, dann kam sie erst aus den Federn gekrochen — rieb sich die Augen, gaͤhnte wie einer, der nicht aus- T 2 geschla- geschlafen, und einige Naͤchte durchgewacht hatte — und war so erschrecklich muͤrrisch und verdruͤßlich, daß nicht mit ihr auszu- kommen war. Die andern hingegen waren so munter, so frisch, so lustig, huͤpften und sprangen, wie die jungen Rehe, und wie die Laͤmmer, wenn der Thau noch auf den Blaͤttern liegt. Warum? sie waren zu rechter Zeit aufgestan- den, und hatten sich mit kaltem Wasser alle Schlaͤfrigkeit vertrieben. Karoline aber konnte kaum gehen. Sie schleppte nur ihren Koͤrper fort, so traͤge war sie — fiel von einem Stuhle auf den andern — gaͤhnte, streckte sich mit den Ar- men, und hatte doch wohl manchmal zwey bis drey Stunden laͤnger geschlafen, als die andern. Ueber alles, was ihr in den Weg kam, knurrte und brummte sie. Bald standen die Schuhe nicht recht. Bald waren die Sem- meln meln zu warm. Dann war wieder das Wasch- wasser zu kalt. Beym Anziehen murrte sie mit allen, die ihr helfen wollten. Die andern muntern Kinder aber huͤpften um sie herum, lachten sie aus, daß sie so verdruͤßlich war — machtens ihr nach, wenn sie noch so schlaͤfrig that. Karoline ! sieh einmal: ah ha ha — so sperrst du das Maul auf — und vexirten sie. Da gabs denn immer was zu zanken. Kam der Vater dazu, und fragte: wer Schuld waͤre? so hieß es: Die da, die Langschlaͤ- ferinn . So giengs nun ein und alle Tage. Was war doch wohl die Ursache, daß Karoline alle Morgen so verdruͤßlich und muͤrrisch war? Die andern Kinder waren es doch nicht. Was anders, als das lange Schlafen? Denn da- von wird man nicht munter, sondern immer traͤger und schlaͤfriger; also auch immer ver- druͤßlicher, unleidlicher und unertraͤglicher. T 3 Lang- Langschlaͤfer wollen immer noch mehr schlafen. Ist also das lange Schlafen dem Koͤrper, der Gesundheit zutraͤglicher oder nicht? Macht das muͤrrische verdruͤßliche Wesen angenehm oder nicht? Das moͤgt ihr selbst, lieben Kin- der! aus eurer eigenen Erfahrung beantwor- ten, die ihr Karolinens uͤble Gewohnheit noch an euch habt. Aber um wie manche Freude bringt nicht auch das lange Schlafen! Eines Abends sagte der Vater: Morgen, Kinder! seyd fruͤh bey der Hand. Wir wol- len erst auf den Berg steigen, und die Sonne aufgehen sehen; hernach aber zu dem Herrn Magister aufs Land spatzieren, wo ihr so gerne seyd, und wo es so schoͤne Kirschen giebt. Es hatte kaum drey geschlagen, so waren die andern Kinder da — angezogen, fix und fertig. fertig. Karoline wurde zehnmal geweckt, war aber nicht zu ermuntern. Alle Kinder kamen vors Bette, zogen, zerrten, neckten sie, um sie munter zu machen. Aber da war an kein Aufstehen zu gedenken. Wo ist, Karoline? fragte der Vater, als sie gehen wollten. O! riefen die Kinder, die liegt noch fest — die kann kein Mensch aus den Federn bringen. Wir haben sie so viel gerupft und gezupft, aber es hilft nichts. Nu, so mag sie liegen, bis zu Mittage, sagte der Vater, und ward boͤse. Schließt das Haus zu, und kommt. Daß ihr aber keiner was zu essen hinsetzt. Das sag’ ich euch, Sophie! Denn ihr sollt auch mitgehen, und Karln zuweilen tragen. Sie giengen, und Karoline blieb liegen. Als es zwoͤlf Uhr seyn mochte, krappelte sie auf — saß noch ein Weilchen im Bette — sah sich weit und breit um. Da war alles T 4 stille, stille, das Haus ledig, und alles ausgeflogen. Endlich gieng sie herunter, und meynte, das Fruͤhstuͤck stuͤnde parat. Aber da passirte nichts. Alles war verschlossen. Himmel! wie erschrak das Maͤdchen — heulte und schrie, daß es die Nachbarn hoͤr- ten. Sie kamen ans Fenster, und fragten, was ihr fehle? Ach! sagte es, ich armes Kind! sitze hier ganz allein, ganz verlassen, und habe nichts zu essen. Wo sind denn die andern? fragte Nach- bars Lotte. Ach! sie sind heute fruͤh aufs Land gegangen, und haben mich liegen lassen „Auch nicht geweckt?“ sagte die andere. Ach ja! oft genug, ich konnte aber nicht heraus- kommen. Da sind sie fortgegangen. Was wills denn schlagen? Schlagen? sprach Lotte. Es geht auf ein Uhr. So lange hast du gelegen, Maͤdchen? O! ich muͤßte mir die Augen aus dem Kopfe schaͤmen. schaͤmen. „Ach! gieb mir nur ein Bißchen Brod ins Fenster. Sie haben alles zugeschlos- sen. „Das ist deine gerechte Strafe. Doch ich will dir was holen.“ Ach ja! liebes Lottchen, thue es doch. Erbarme dich uͤber mich. Nun, du boͤser Schlaf! du sollst mich nicht wieder betruͤgen. Du verwuͤnschtes Bette! hast mich schon um so manche Freude gebracht. Die andern kamen des Abends herzlich vergnuͤgt wieder. Karoline konnte die Augen nicht aufschlagen. Der Vater sah sie nicht an. Der lose Fritze sagte nur: Karoline ! ich dachte, wir wuͤrden dich noch im Bette finden. Sie konnte vor Scham nicht antwor- ten. Die andern aber steckten ihr doch heim- lich Birnen und Kirschen zu. Von dem Tage an hat sie sich das lange Schlafen abgewoͤhnt. T 5 LVIII. Be- LVIII. Besondere Proben der goͤttlichen Vor- sehung in Beschuͤtzung der kleinen Kinder. D aß der liebe Gott auf die Kinder eine ganz besondere Aufsicht, und in der Welt alle Umstaͤnde zu ihrer Erhaltung und Beschuͤtzung eingerichtet habe, beweiset folgendes Exempel. Minchen , ein Kind von vier Jahren, war ins Wasser gefallen; aber auf eine so sonder- bare Art errettet, daß man dabey die Fuͤgun- gen und Spuren der Beschuͤtzung Gottes sehr deutlich sehen konnte. Dieß war es, was der erfreute Vater des Abends drauf seinen Kindern vorstellte. Ihr wisset, sagte er, was heute geschehen, und wie unser Minchen aus dem Wasser gerettet ist. Aber die wunderbare Art, wie es eigent- lich zugegangen ist, wisset ihr nicht. Die Fischer Fischer selbst haben sich druͤber verwundert, und Gott mit mir gedankt. Das Kind gieng doch heute fruͤh mit Marien nach dem Bleicheplatze. Da steht nun Marie, ihrer Gewohnheit nach, und schwatzt, sieht sich aber nicht nach dem Kinde um. Dieß laͤuft auf dem gruͤnen Platze herum, und ist herzlich vergnuͤgt — laͤuft aber immer weiter fort bis ans Ufer des Flusses. Da stehen un- ten ein Paar Bluͤmchen, die will es holen. Der Kopf wird zu schwer. Bauz! liegts drinnen. Das haͤtte nun nicht einmal ein Mensch gewußt, wenn nicht die Raben , die in der Gegend gewesen, uͤber dem Wasser herumge- flogen waͤren, und erschrecklich geschrien haͤt- ten. Dadurch werden die Leute aufmerksam, sehen nach den Raben und nach der Gegend im Flusse, uͤber welcher sie herumschwaͤrmen. Da werden sie gewahr, daß mitten im Stro- me me ein Kind schwimmt. Und nun koͤnnt ihr euch Marien vorstellen, da sie merkt, daß es Minchen ist. Da wurde ein Gerufe durch einander. Herr Gott! da schwimmt ein Kind. Huͤlfe, Huͤlfe! Fischer her! Rettet, rettet. Haͤtten aber die Raben , die just auf der andern Seite des Flusses am Ufer saßen, als das Kind vorbeyschwamm, nicht zuerst Laͤrm gemacht, so waͤre es uͤber alle Berge gewesen, ehe es ein Mensch gemerkt haͤtte. Was sagt ihr dazu? War das nicht eine besondere Probe von Gottes Vorsehung, die das Kind erhalten wollte? Dorchen . Ach! nun bin ich den Raben noch einmal so gut, daß sie mein Schwester- chen gerettet haben. Gottlieb . Hatte denn der liebe Gott die Raben dahin gestellt, daß sie lauern mußten, bis Minchen ins Wasser fiel, und dann Laͤrm machten? machten? Der liebe Gott haͤtte es lieber gar nicht sollen ins Wasser fallen lassen. Vater . So mußt du dir die Sache nicht vorstellen. Gott thut keine Wunder durch sei- ne Allmacht, so wenig, wenn er etwas hin- dern will, als wenn er etwas zulaͤßt, und nicht hindert. Sonst muͤßte er alle Augen- blicke Wunder thun. Er hat aber alles vor- hergesehen, wie eine Sache kommen wird, und darnach alle Umstaͤnde eingerichtet; nicht, daß es so kommen soll , und also keiner seinem Schicksal entgehen koͤnne, wie die Leute zu sagen pflegen, und sich damit entschuldigen, wenn sie was Boͤses gethan haben: das sollte so seyn: das ist so uͤber mich verhaͤngt ge- wesen — Nein! sondern Gott hats so einge- richtet, wie es nach seinen Absichten kommen soll , und zwar immer zum Besten der Men- schen. Es koͤmmt also nichts, gar nichts von ohngefaͤhr, sondern ohne Gottes Willen faͤllt auch auch kein Sperling vom Dache . Das ist eben seine Vorsehung und Kegierung . Gottlieb . Aber mit den Raben? Vater . Weil Gott Minchen erhalten woll- te, so waren dazu schon alle Umstaͤnde vorher gefuͤget, wie sie der liebe Gott vorhergesehen hatte, daß es just zu der Zeit geschahe, da eben Raben am Ufer saßen. Diese wurden durch das Hineinfallen des Kindes ins Was- ser erschreckt, flogen auf, sahen das Kind fortschwimmen — dachten, es waͤre ein Stuͤck Fleisch fuͤr sie — schwaͤrmten uͤber dem Kinde herum, und schrien, bis es die Leute hoͤrten. Die Raben selbst aber thaten das gar nicht in der Absicht, daß die Leute das schwimmende Kind sehen und retten sollten, sondern sie tha- ten das bloß nach ihren natuͤrlichen Trieben. Aber nach den Absichten Gottes wur- de dieser Umstand ein Mittel seiner Vorsehung, die Leute aufmerksam zu machen, machen, daß sie herzueilten, das Kind zu retten. Vielleicht thats auch Gott um euretwillen, Marie, daß er die Raben schickte, damit ihr das Kind sehen solltet. Ihr waͤret doch sonst in eurem Leben nicht wieder froh geworden. Marie . Ach! Herr Magister, ich kann mich noch nicht besinnen. Ich bitte Sie nur um Gottes willen, vergeben Sie mirs dieß- mal. Ich weiß gar nicht, wie mir das Kind aus den Augen gekommen ist. Vater . Laßt euch das zur Warnung die- nen, und laßt die Kinder an Oertern, wo Wasser ist, nicht von der Hand und aus den Augen. Dießmal hat der liebe Gott das Un- gluͤck recht sichtbar abgewandt. So oft ihr kuͤnftig einen Raben seht, so danket Gott. Dorchen . O! wie kams denn weiter? Wie bekamen sie denn das arme Kind wieder aus dem Wasser? Vater . Vater . Das Rufen der Raben allein haͤtte doch nichts geholfen, wenns der liebe Gott nicht auf andere Weise vor dem Ersau- fen und Untergehen beschuͤtzt haͤtte. Dorchen . Mag das Kind nicht eine Angst ausgestanden haben! Vater . Was geschah aber? Die Leute riefen zwar die Fischer; aber ehe die mit den Kaͤhnen kamen, waͤre Minchen sicher schon er- trunken, oder eine halbe Meile weggewesen. Ihr wißt doch die Bruͤcke? Vor derselben stehen im Wasser, mitten im Strom, ein Paar hoͤlzerne Dinger, wie Daͤcher, auf welche das Eis im Winter hinaufgetrieben wird, daß es bricht, und die Bruͤcke nicht einstoͤßt. Gottlieb . Ja! ja! die Eisbrecher. Vater . Auf ein solches Dach wird das Kind sachte vom Strome hinaufgeschoben. Zum Gluͤck steht recht oben ein großer Nagel heraus. An dem bleibt es mit dem Roͤckchen haͤngen, haͤngen, faßt sich mit den Armen um den Pfahl, und so bleibts ruhig sitzen, bis die Fischer kommen und es abholen. War das nicht eine besondere Probe der treuen Vorsehung Gottes, wie er unser Min- chen erhalten und beschuͤtzet hat? LIX. Fortsetzung des achtundfunfzigsten Stuͤcks. Dorchen . A ber warum thut das der liebe Gott nicht immer? So waͤren ja alle Kinder sicher. Vater . Liebes Kind! das verstehst du noch nicht. Gott hat dabey seine besondern Ur- sachen, wenn er hier oder da ein Kind wun- derbar erhaͤlt und errettet, wie unser Minchen; ein andermal aber zulaͤßt, daß eins verun- gluͤckt, sich todtfaͤllt, wenn sichs nicht in Acht II Theil . U nimmt, nimmt, wie neulich der kleine Junge, der in den offenen Brunnen fiel, und den Hals brach. Das koͤnnen wir nicht begreifen, warum das der liebe Gott so mache. Es ist doch aber alles sehr gut, wie ers geschehen laͤßt. Dorchen . In Acht nehmen? sagen Sie. Ich daͤchte, das brauchten wir nicht, wenn uns der liebe Gott beschuͤtzte? Vater . J! so brauchtest du auch keine Augen, Haͤnde und Fuͤße, keinen Verstand, wenns auf das bloße allmaͤchtige Beschuͤtzen Gottes ankaͤme. Merkt euch das aber recht wohl: ihr sollt Gott auch nicht versuchen. Wenn Gott gleich manches Kind wunderbar beschuͤtzt und errettet, so muͤssen deswegen die Kinder doch nicht vorwitzig und unvorsichtig seyn, und von ihren Waͤrterinnen weglaufen. Waͤre Minchen huͤbsch bey Marien geblieben, so waͤre es nicht ins Wasser gefallen. Waͤre der kleine Junge nicht so vorwitzig gewesen, und und haͤtte uͤber den Balken des offenen Brun- nens weglaufen wollen, um sich sehen zu las- sen, so waͤre er nicht zu Tode gekommen. Gottlieb . Ich denke aber, der liebe Gott habe mir einen Schutzengel zugegeben, ich mag machen, was ich will. Vater . Da haͤtte der liebe Gott was zu thun, wenn er jedem muthwilligen Knaben einen Engel zugaͤbe, der hinter ihm herliefe, daß er nicht zu Schaden kaͤme. Ich moͤchte der Engel nicht seyn. Der haͤtte es gewiß schlimmer, — als irgend einer. Du mußt dir das so nicht vorstellen, als wenn hinter jedem Kinde ein Engel hergienge, der es beschuͤtzte, wie die Leute sagen. Wenn das so waͤre, so wuͤrde kein Kind zu Schaden kommen, wie doch oft geschiehet. Der be- sondere Schutz Gottes, den er den Frommen verspricht, heißt in der Bibel Gottes Engel . U 2 Das Das ist die ganze Sache. Denn von dem Schutze der Engel wissen wir nicht viel. Dich aber, Dorchen ! und uns, Vater und Mutter, hat der liebe Gott auch schon einmal aus einer großen Gefahr errettet. Davon weißt du nicht einmal recht viel. Dorchen . O Vater! erzaͤhlen Sie doch. Vater . Wie du drey Jahre alt warest, waren wir auf dem Lande bey der Tante, und wollten des Nachmittags wieder wegfahren. Es war entsetzlich heiß, und der Himmel voll Gewitter. Die Kutsche war schon angespannt. Aber was geschah? Indem kam der Knecht mit einem Fuder Korn, und fuhr gerade vor die Luke in den Thorweg. Er wußte nicht, daß wir fahren wollten, und unser Fuhrmann wußte nicht, daß der Knecht kam. Da muß- ten wir warten, bis das Fuder abgeladen war; waren aber sehr verdruͤßlich, daß wir aufge- aufgehalten wurden, weil wir uns vor dem Gewitter fuͤrchteten. Und eben dieser Umstand — diese halbe Stunde, die wir warten mußten, war unser groͤßtes Gluͤck. Waͤren wir gleich fortgefah- ren, so waͤren wir in das allererschrecklichste Hagelwetter gekommen, wobey der Sturm die groͤßten Baͤume mit der Wurzel ausgerissen, und Wagen und Pferde auf der Landstraße umgekehrt hatte. Denn als wir nach Hause kamen, erfuhren wir ein Ungluͤck uͤber das andere. War das nicht eine besondere Probe des goͤttlichen Schutzes, daß wir aufgehalten wurden? Morgen Abend will ich euch davon noch ein besonderes Geschichtchen erzaͤhlen. U 3 LX. Fort- LX. Fortsetzung des neunundfunfzigsten Stuͤcks. E s war einmal ein Vaͤcker, der schlief mit seiner Frau auf einer Kammer uͤber den Backofen. Die Frau hatte des Nachts ihr saugendes Kind bey sich im Bette. An der einen Seite der Wand, recht neben dem Bet- te, war im Boden ein viereckiges Loch, das des Abends aufgemacht wurde, damit die Waͤrme von unten heraufziehen konnte. Nun traͤumt einmal der Mutter was Fuͤrchterliches: Es wolle sie ein Hund beißen, oder es sey ein anderes Thier bey ihr im Bet- te. Und — baz! schmeißt sie ihr Kind aus dem Bette. Als sie erwachte, koͤnnt ihr euch vorstellen, wie sie erschrak, da das Kind weg war. Sie rief entsetzlich, sprang aus dem Bette, und war ganz außer sich. Der Der Mann erwachte auch, stand auf, und sie suchten das Kind allerwegen. Da war kein Kind zu finden. Endlich koͤmmt der Va- ter an das Loch. Ach! rief er, daß Gott er- barme! da ist es gewiß durchgefallen, und wir werden es unten finden, daß es den Hals eingestuͤrzt hat. Geschwind liefen sie herunter in die Stube. Da war auch kein Kind. Auf einmal sah der Vater in die Hoͤhe, nach dem Loche. Da war unter dem Loche ein Kannruͤck, mit Haken. Das Kind war dicht an demselben heruntergeschurrt. Der Haken hatte das Windelband gefaßt, und an dem Haken hieng das Kind, und schlief in guter Ruhe. Welche Probe der gnaͤdigsten Beschuͤtzung Gottes! U 4 LXI. Die LXI. Die alte Schuld, oder das vierte Gebot. I ch wuͤnschte, meine lieben Kinder, daß euch folgende Geschichte eben so sehr ruͤh- ren moͤge, als sie mich geruͤhrt hat. Ich traf einmal im Felde einen armen Arbeitsmann an, der bey einem Stuͤck trocke- nen Brods, und bey einem Trunk Wasser aus der frischen Quelle die schwereste Arbeit ver- richtete, wobey allen Weichlingen die Haut schauern moͤchte. Guter fleißiger Mann! sagte ich zu ihm. Ihr lasset es euch ja recht herzlich sauer wer- den. Wie viel verdient ihr denn wohl taͤglich mit eurem sauren Schweiß? Sechs Dreyer , lieber Herr! war seine Antwort. Aber davon darf ich nicht mehr, als nur zwey, verzehren — ja nicht mehr, lieber Herr! Denn ich muß mich mich kuͤmmerlich und knappe — knappe be- helfen. Ich konnte euch das nicht begreifen, lie- ben Kinder! wie ein Mensch bey so erschreck- lich saurer Arbeit von sechs Pfennigen leben koͤnnte. Setzt euch einmal an seine Stelle. Wie viel braucht ihr — wie viel vernascht ihr in einem Tage! Solltet ihr wohl mit sechs Pfennigen auskommen? Der arme Mann mußte aber davon leben, und noch dazu so saure Arbeit thun, daß ihm die Haͤnde aufge- sprungen waren. Habt ihr nicht Mitleiden mit dem armen Manne, der doch sowohl ein Mensch ist, als ihr? Ich fragte also den Mann, wie das moͤg- lich waͤre, daß er von zwey Dreyern leben koͤnnte? Wo laßt ihr denn die uͤbrigen viere? „Ja! lieber Herr, die muß ich sorgfaͤltig ein- theilen. Zwey davon hebe ich auf als einen Nothpfennig , und mit zweyen muß ich eine U 5 alte alte Schuld bezahlen, die mich sehr auf dem Herzen druͤckt.“ Du ehrliches Blut! dachte ich bey mir selbst. Du hast selbst kaum das liebe Brod, und denkst doch daran, eine alte Schuld zu bezahlen? Ich war sehr begierig, zu wissen, worinn doch die alte Schuld bestehen moͤchte. Ich konnte nicht anders vermuthen, als daß er etwa fuͤr Bier, oder ein Paar Schuh, noch etwas schuldig geblieben waͤre. Ehe ich weiter erzaͤhle, so bitte ich euch, lieben Kinder! setzt euch hin, leset nicht wei- ter, sondern versucht es, ob ihr wohl rathen koͤnnt, was das fuͤr eine alte Schuld gewe- sen sey, die dem armen Tageloͤhner so auf dem Herzen lag, daß er sich zwey Dreyer taͤglich vor dem Munde abzog, und sie zur Bezah- lung derselben anwendete. Wer es raͤth, der soll auch die Freude haben, morgen einem armen armen Menschen aus seiner Sparbuͤchse zwey Dreyer zu geben. Indessen sagte ich zu ihm: Das wird wohl so etwas zu bedeuten haben. Da habt ihr was, guter Mann! ich wuͤrde mich freuen, wenn ihr sie damit ganz bezahlen koͤnntet, eure alte Schuld. Dem Mann liefen die Thraͤnen aus den Augen. Ach dankenswerth, lieber Herr! Tau- sendmal Gottes Lohn! Nun kann ich doch auch einmal ein halb Maͤßchen Bier zu mei- ner Erquickung trinken. Gott vergelts dem Herrn tausend — tausendmal. Aber meine alte Schuld , lieber Herr! hat viel, viel zu bedeuten. Sie ist groͤßer, als Sie denken. Ach du lieber Gott! wenn Sie es nur erst hoͤren werden? Nu! Kinder, wie stehts? Was meynt ihr? Kanns keiner errathen? Nu! so sag’ ichs auch noch nicht. LXII. Fort- LXII. Fortsetzung des einundsechzigsten Stuͤcks. I ch kam gar auf die Gedanken, er haͤtte diese alten Schulden vormals etwan in Branntwein, oder beym Spiel gemacht. Wie, sagte ich, lieber Mann! das ist doch wohl nicht so ein Jugendstuͤckchen, davor ihr jetzt noch buͤßen muͤßt? Die Miene vergesse ich in meinem Leben nicht, mit der mich der Mann ansah. Seine Unschuld sprach aus seinen Augen, und es dauerte mich, daß ichs gesagt hatte. Ach lieber, lieber Herr! sagte er: Ihr Wort in Ehren. Aber Sie denken wohl, ich sey sonst ein luͤderlicher Kerl gewesen, der ge- soffen und gespielt habe — Davor hat mich der liebe Gott wohl bewahrt. Nein! meine alte Schuld ist von ganz anderer Art. Und Sie sollens gleich hoͤren, lieber Herr! Nun Nun horchte ich hoch auf. Thuts auch, lieben Kinder! Nehmts wohl zu Herzen. Der ehrliche Mann sagte: — O! daß es doch alle undankbare Kinder der Welt hoͤren moͤch- ten! — Er sagte: Er braͤchte die letzten zwey Dreyer alle Tage seinen beyden alten Ael- tern, die nicht mehr arbeiten, und sich nicht mehr ernaͤhren koͤnnten . Warum aber, fragte ich weiter, nennt ihr denn das eure alte Schuld? Ich that diese Frage bloß an ihn, um meine Thraͤnen zu verbergen. Denn ich konnte mir kaum vorstellen, daß unter einem so armseligen Kit- tel eine solche Tugend, Ehrlichkeit und Dank- barkeit wohnen koͤnnte. Alte Schuld? rief er laut, wie koͤnnen Sie noch darnach fragen, lieber Herr? Warum ich das so nenne, was ich meinen alten Ael- tern schuldig bin? Haben sie denn von mir keine keine Last und Sorgen gehabt? Haben sie mich nicht so weit gebracht, daß ich mir nun mein Stuͤckchen Brod selbst verdienen kann, so kuͤmmerlich es auch ist? Sollte ich nun nicht auch mit meinen gesunden Knochen fuͤr sie arbeiten, da die ihrigen stumpf sind? Waͤre ich nicht der undankbarste Mensch, wenn ich sie nun im Alter vergaͤße? Nein! so lange ihr lebet — und da legte er seine Hand auf den Spaden, und schwur zu Gott im Himmel — und so lange ich lebe, bin ich — bleib ich euer Schuldner, gute Aeltern! Verdiente ich mehr, so gaͤb ich mehr. Aber so kann ich nicht. Das ist mir Kum- mers genug, und ich esse mein elendes Brod manchmal mit Thraͤnen, daß es davon ganz weich wird, ehe ichs in den Mund stecke. — Verstehen Sie nun, lieber Herr! meine alte Schuld? Welches Welches Kind dieß ohne Thraͤnen lesen kann, dessen Herz wuͤrde mir nicht gut vorkommen ! O! hoͤrt auf, rief ich, guter Mann! hoͤrt auf. Gott wird euch segnen. Mehr konnte ich vor Weinen nicht sagen, und gieng fort. Ja! rief er hinter mir her: Das spuͤre ich schon, weil mich der liebe Gott gesund er- haͤlt. Sonst koͤnnte ich weder mir, noch mei- nen alten Aeltern was verdienen. Aber noch- mals fuͤr die reiche Gabe tausend — Mehr konnte ich nicht vernehmen, weil ich schon zu weit von ihm weg war. LXIII. Fortsetzung des zweyundsechzigsten Stuͤcks. I ch machte, daß ich fort kam, und gieng sogleich zu dem Herrn von Gutherz , dem dem die Dorfschaft gehoͤrte, und bey dem ich sehr wohl bekannt war. Dieser Herr fuͤhrte den Namen mit der That. Ein wahrer Men- schenfreund, der sich ein Tagebuch uͤber alle guten Handlungen seiner Unterthanen hielt! Als ich ihm die Geschichte erzaͤhlte, stutzte er, und sagte: Sollte ein so ehrlicher Sohn in meinem Gebiete seyn, den ich nicht kennete? Ich sagte ihm den Ort, und das Haus, wo die alten Aeltern wohnten, wie mirs der Sohn beschrieben hatte. Er holte sein Register, und zu seiner groͤßten Verwunderung standen sie nicht darinn. Gleich mußte ein Bedienter nach dem Hau- se gehen, und sich nach den alten Leuten er- kundigen. Er brachte die Nachricht, daß sie sich kaum erhalten koͤnnten, wenn ihr fleißiger Sohn ihnen nicht alle Tage zwey Dreyer abgaͤbe. Nun, Nun, sagte der Herr von Gutherz , das ist edler, als wenn ich ihnen taͤglich einen Thaler gaͤbe. Bleiben Sie diesen Mittag bey mir zu Tische. Ich danke Ihnen sehr fuͤr diese Nachricht. Keine groͤßere Freude konnten Sie mir an meinem heutigen Geburtstage machen. Gleich aber soll einer hinausgehen, und den armen Kerl herein holen. Ich will Ihnen wie- der eine Freude machen. Indem kam seine Gemahlinn mit den Kin- dern ins Zimmer. Denen wurde die Geschich- te erzaͤhlt, und es flossen mitleidige Thraͤnen. Wir setzten uns zu Tische. Der arme Tageloͤhner wurde gemeldet. Er stutzte ge- waltig, als er ins Zimmer trat, besonders da er mich sah. Peter! fragte ihn der Herr, ich hoͤre, du hast Schulden. Ist das wahr? Ja! gnaͤdig- ster Herr, sagte er mit Zittern und Beben; aber keine weiter, als ich da dem lieben II Theil . X Herrn Herrn — und wies auf mich — gesagt ha- be — meinen alten Aeltern. „Wie viel giebst du ihnen denn alle Ta- ge?“ Von meinen sechs Dreyern zwey. Lie- ber Gott! ich gaͤbe gerne mehr; aber — Ich verstehe dich schon, Peter! fuhr der Herr fort. Aber hoͤre einmal: Wie waͤre es, wenn ich diese alte Schuld kuͤnftig fuͤr dich bezahlte? Waͤrest du damit wohl zufrieden? Er fiel auf die Knie, und sagte: Ach! gnaͤdigster Herr, so wollte ich Ihnen tausend Gottes Lohn wuͤnschen, wenn Sie meinen ar- men Aeltern die zwey Dreyer geben wollten. — Allen stiegen die Thraͤnen in die Augen — „Nein, Peter! so meyn ich das nicht. Ich will dirs sagen. Du bist ein ehrlicher Kerl. Du hast zu diesem Herrn gesagt: deine alte Schuld an deine arme Aeltern abzutragen, das sey dein viertes Gebot . Nun sollst du auch sehen, sehen, daß der liebe Gott noch wahr rede im vierten Gebot: Auf daß dirs wohl gehe .“ „Da du so dankbar bist gegen deine Ael- tern, so wirst du es auch gegen mich seyn. Ich mache dich von jetzt an zu meinem Gaͤrtner, und deine Aeltern versorge ich, bis sie sterben . Gehe nun herunter, und laß dir zu essen und zu trinken geben. Morgen sollst du auch ein neues Kleid haben.“ „Siehe! nun ist deine alte Schuld mit einemmale bezahlt.“ Wer kann aber die Empfindungen dieses guten Sohns beschreiben? LXIV. Der alte Mann . Georg . W as lesen Sie denn da der Mutter vor, lieber Vater? Wie alt waͤre der Mann geworden? X 2 Vater . Vater . Es ist gut, mein Sohn! daß du darauf gemerkt hast. Da las ich eben in den Zeitungen, daß in Dublin — wo das liegt, will ich dir auf der Landcharte weisen — ein Mann gestorben waͤre, von hundert und neun- zehn Jahren. Minchen . O bewahre! hundert und neun- zehn Jahre. Ich bin bald acht Jahre alt. Wenn ich so alt werden sollte, so muͤßte ich noch hundert und eilf Jahre leben. Jacob . So alt werden wohl wenige Leu- te mehr. Nach der Bibel aber sind die Leute recht alt geworden. Vater . Das gilt jetzt nicht mehr, sondern es heißt: Unser Leben waͤhret siebzig Jahr, nnd wenn es hoch koͤmmt, so sinds achtzig. Darum ist es eben so merkwuͤrdig, daß der Mann hundert und neunzehn Jahre alt gewor- den ist. Georg . Georg . Das moͤcht’ ich aber wissen, wie der Mann das gemacht habe. Das muß wohl ein recht reicher Mann gewesen seyn, der sich alles hat zu Gute thun koͤnnen, was er ge- wollt hat. Jacob . Der hat gewiß auch nicht viel gearbeitet, sondern sich recht schonen koͤnnen. Minchen . Ganz gewiß hat er alle Tage so viel Zuckerplaͤtzchen, Rosinen und Mandeln essen koͤnnen, als er nur gewollt hat. Und davon mußte er wohl so alt werden. Vater . So meynt ihr das? Ein jeder hat also seine Meynung gesagt, wodurch der Mann so alt geworden sey. Wir wollen doch sehen, obs wahr ist. Da, Georg ! lies uns die Zeitung vor. Georg . „ Dublin . Vor einigen Tagen starb allhier ein gewisser Peter Derry im hundertundneunzehn- ten Jahre seines Alters.“ X 3 Es Es steht aber nicht dabey, wer er eigent- lich gewesen ist. Vater . Daraus seht ihr schon, daß es ein geringer und gemeiner Mann gewesen sey, aus dem man nichts wuͤrde gemacht haben, wenn er nicht hundert und neunzehn Jahre alt geworden waͤre. Man hat mehr Exempel von alten Leuten in der Welt. Gemeiniglich aber sind es ge- meine Leute, oder Hirten, Schaͤfer, Foͤrster, Jaͤger, Soldaten und dergleichen gewesen, die nicht viel in der Stube stecken, sondern die meiste Zeit ihres Lebens immer in freyer Luft gewesen sind. Nu lies weiter. Georg . „Er ist in seinem Leben nur zwey- mal krank gewesen, und bis an sein Ende gesund und munter ge- blieben.“ Vater . Ist das nicht viel, Kinder? In hundert und neunzehn Jahren nur zweymal krank krank gewesen? — Nur zweymal? Und die ganze uͤbrige Zeit gesund, bis an seinen Tod. Wie oft seyd ihr schon krank gewesen! Wie oft habt ihr euch selbst krank gemacht! — Und seyd noch nicht einmal zehn Jahre alt! Der Mann hatte doch wohl recht eigentlich gelebt. Lies nun fort, Georg ! Georg . „Noch den Tag vor seinem Tode war er auf der Hochzeit seiner Ur — Ur — wie soll das heis- sen? — Urenkelinn gewesen.“ Das verstehe ich nicht. Vater . Kennst du deiner aͤltesten Schwe- ster Kind, das kleine Riekchen? Siehe, das ist meine Enkelinn. Wenn das groß wuͤrde, und ein Kind bekaͤme, so waͤre Riekchens Kind meine Großenkelinn. Und wenn ich der ihre Kinder erlebte, so waͤre ich Aeltervater. Aber nun wieder ein Kind von diesen letztern, das waͤren mir Urenkel. Also bis ins vierte Glied. X 4 Verstehst Verstehst du mich nun? Eine solche Urenkelinn hatte der alte Mann. Und denkt nur, er war auf der Hochzeit derselben. Als diese wieder heyrathete, so lebte er noch. Das ist ganz was Unerhoͤrtes. Und haͤtte er noch ein Jahr gelebt, so konnte er seine Ururenkel sehen. Georg . Wer weiß, ob sich der alte Mann da nicht zu viel gefreuet hat? Vater . Das kann moͤglich seyn. Allzu- große Freude kann eben sowohl den Tod brin- gen, als allzugroßer Schreck oder Traurig- keit. Vor gar zu großer Freude kann er auch dießmal wohl ein Bißchen zu viel gegessen oder getrunken haben. Gebt aber wohl Achtung, Kinder! was nun koͤmmt. Das wird euch allen in eurem kuͤnftigen Leben sehr nuͤtzlich seyn. LXV. Fort- LXV. Fortsetzung des vierundsechzigsten Stuͤcks. Georg . „ M an hat alle Ursache, sein hohes und gesundes Alter seiner Maͤßigkeit und Arbeitsamkeit zuzuschreiben. Sein — Vater . Halt ein, Georg ! Hier, Kinder! nehmt alle eure Aufmerksamkeit zusammen, wenn ihr noch ein Bißchen Liebe zu euch selbst, und fuͤr euer junges Leben habt. Wie wird des Mannes Alter hier beschrieben, Minchen? Sag’ einmal. Minchen . Sein hohes Alter. Vater . Noch ein Woͤrtchen steht dabey, Jacob . Jacob . Wars nicht so: hohes und ge- sundes Alter? Vater . Ja! meine Kinder, so war es: hohes und gesundes Alter . O das merkt X 5 wohl. wohl. Ein hohes Alter von hundert und neun- zehn Jahren machts allein nicht aus. Ohne Gesundheit so lange zu leben, ach lieber Gott! das waͤre gewiß kein sonderlich Gluͤck. Wie quaͤlt sich mancher nur einige Wochen auf dem Krankenbette! Wenn ihr nur ein Paar Tage krank seyd, wie uͤbel ist euch dann zu Muthe! Geschweige hundert und neunzehn Jahre. Aber ein hohes und gesundes Alter, das ist Leben, das ist Freude, das ist Wohl- that von Gott. Georg . Warum giebt denn das der liebe Gott nicht allen Menschen, daß sie so lange leben, und gesund bleiben? Das moͤcht’ ich wohl haben. Vater . J! das glaub’ ich wohl. Das ist bald gesagt. Das moͤchten wohl alle Men- schen so haben. Aber sie sind selbst Schuld dran, daß sie kein hohes und gesundes Alter erreichen. Was kann doch der liebe Gott da- fuͤr, fuͤr, wenn sich die Menschen selbst durch Faul- heit, Unmaͤßigkeit in Essen und Trinken, durch Zorn, Erhitzung, Vorwitz, und tausend ande- re Dinge, vor der Zeit um ihre Gesundheit und Leben bringen? O gewiß! viele Men- schen, insonderheit viele Kinder, koͤnnten ihr Leben hoͤher bringen, wenn sie nur wollten. Aber die Hauptsache moͤchte ich gerne wissen, wie es der gute Mann angefangen habe, daß er so alt geworden sey. Es steht noch was da, von der Ursache seines hohen und gesun- den Alters. Das sag uns einmal, Georg ! Georg . Seine Maͤßigkeit und Arbeit- samkeit . Vater . So war das? Das sind ja ganz andere Ursachen, als ihr vorher angabt, wo- durch der Mann so alt geworden sey. Da seht ihr, daß es nicht drauf ankomme, reich zu seyn, sich was zu gute zu thun, kostbare Speisen, Wein, Zuckerwerk, und dergleichen, zu zu essen, in schoͤnen Haͤusern zu wohnen, in weichen Betten zu schlafen, oder viele Arze- neyen zu gebrauchen, wenn man lange leben und gesund bleiben will. Ganz und gar nicht. Das alles hatte der alte Mann nicht. Viel- mehr hat er sich nichts von der Art zu gute thun koͤnnen. Er hat sich auch nicht geschont, sondern viel gearbeitet, und ist doch hundert und neunzehn Jahre alt geworden. Bloß durch Maͤßigkeit und Arbeitsamkeit . Zwey rechte Goldworte! Besser denn Gold und Silber. Kaufe dir einmal die Gesundheit, Georg ! fuͤr tausend Thaler, wenn du sie nicht hast. Georg . O Minchen und Jacob ! Da sind wir mit unserer Weisheit schlecht wegge- kommen. LXVI. Fort- LXVI. Fortsetzung des fuͤnfundsechzigsten Stuͤcks. Vater . D as waren also die Folgen von seiner Maͤßigkeit , daß er gesund blieb; — die Folgen von seiner Arbeitsamkeit , daß er so lange lebte. O merkt euch das, Kinder! Wer faulenzt und gar nichts thun will, wie lange wird der gesund bleiben? Zur Gesund- heit gehoͤrt, daß wir das Essen gut verdauen, und das Blut frisch umlaͤuft, und nicht dicke wird — und daß man auch immer gesunde Speisen ißt. Georg . Ja! das ist wohl wahr. Wenn ich da druͤben die vornehmen Kinder ansehe, so mag ich nicht tauschen. Die liegen des Morgens bis um neun Uhr. Dann trinken sie so viel Koffee, Schokolate, Thee, u. s. w. — thun den ganzen Tag nichts — essen nicht einmal einmal ein Stuͤckchen schwarz Brod. Wenn ich mit meinem Salzbrod vor der Thuͤr stehe, koͤmmt immer der Junker geschlichen: Gieb mir doch ein Bißchen von deinem Brod, ich will dir dafuͤr ein Stuͤckchen Kuchen oder Torte geben. — So ekelt ihnen schon vor dem ewi- gen suͤßen Zeuge. Und wie sehen sie auch aus? Wie die Schatten. Wenn wir manchmal mit einander spatzieren gehen, da koͤnnen sie nicht fort — legen oder setzen sich alle Augenblicke hin — koͤnnen keinen Berg steigen. Bey uns aber gehts uͤber Berg und Thal, durch Dicke und Duͤnne — halbe Meilen weit — in Schnee und Regen — und werden nicht einmal muͤde. Vater . Siehst du wohl, daß ich euch nicht zu viel thue, wenn ich euch so erziehe, daß ihr gesund bleibt? Da seht einmal den Faulenzer und Weichling, wie steif seine Glieder werden, weil er sie nicht gebraucht! Wie dicke sein Bauch wird, daß er sich nicht mehr behelfen kann! kann! Unser Nachbar da, der Schmidt, der brav auf den Amboß schlaͤgt, daß die Funken herumfahren — wie stark, wie flink sind seine Arme! Den werdet ihr uͤber nichts klagen hoͤ- ren. Aber wie klagt der dicke Bierbrauer, uͤber den ihr oft selbst lachen muͤßt! Bald fehlt ihm dieß, bald das. Er ist keine Stun- de gesund. Wenn das Wasser lange stille steht, so wirds faul und stinkt. So ists auch mit dem Menschen. Georg . Vater! ists nicht die Ameise , die so fleißig arbeitet? Vater . Ja, mein Sohn! das hast du gut gemacht. Zu der wird schon in der Bibel der Faule hingewiesen. Gehe hin, du Fauler! sagt der weise Salomo, zur Ameise, und ler- ne ihre Weise. Aber wir muͤssen unsern alten Mann nicht vergessen. Es war noch eins , wodurch er sich gesund erhalten hatte. Wer hat das behalten? Alle . Alle . Durch Maͤßigkeit . Vater . Ja wohl durch Maͤßigkeit! Wenn ihr von den gesundesten Sachen zu viel esset und trinket, wie ist euch dann zu Muthe? Wie unlustig, wie traͤge! Alle Freude weg. Ge- schweige, wenn ihr zu viel ungesunde Speisen, Zuckerwerk, Kuchen und dergleichen esset. Denkt nun, wenn das oft koͤmmt, wie lei- det da nicht der Magen und andere Theile! Durch Unmaͤßigkeit sterben gewiß die meisten Menschen zu fruͤh, und haͤtten laͤnger leben koͤnnen. Just nicht in Essen und Trinken; man kann auch in andern Dingen — in der Freude, in der Traurigkeit, in der Arbeit, im Schlafen, in Sorgen u. s. w. unmaͤßig seyn, und sich ungesund machen. Aber laßt uns doch weiter lesen, ob wir nicht noch manches Gute in dem Leben des alten Mannes finden? LXVII. Fort- LXVII. Fortsetzung des sechsundsechzigsten Stuͤcks. Georg . „ S ein gewoͤhnliches Getraͤnk war Wasser, und die ungekuͤnstelt- sten Speisen seine Kost. Wein und Bier genoß er nur dann und wann, als Medicin.“ Vater . Verstehst du das, Georg? Georg . Nicht alles. Was sind das, un- gekuͤnstelte Speisen? Vater . Wenn eure Mutter ein gut Ge- ruͤcht braunen Kohl kocht, und ihr esset da euren Teller voll ab, und ein Stuͤck gutes Brod dazu. Das ist ungekuͤnstelt. Aber Paste- ten, Ragous, Frikassees, und dergleichen, wo hunderterley durch einander koͤmmt, dazu viele fremde Gewuͤrze, das sind gekuͤnstelte Speisen. Kann ein solcher Mischmasch wohl gesund seyn? II Theil . Y Georg . Georg . Der alte Mann hat auch lauter Wasser getrunken. Das kann doch aber eben nicht gesund seyn. Es ist einem davon so kalt im Leibe. Vater . Was fehlt euch denn bey eurem Wassertrinken? Das gesundeste Getraͤnk ist reines kaltes Wasser, weil es mit nichts ver- mischt ist, und durch seine Kaͤlte staͤrkt. Wenn du sauren Kohl gegessen hast, und Bier drauf trinkst, so macht das eine Gaͤhrung, und es wird dir uͤbel. Nach reinem Wasser aber nicht. Das wußte der alte Mann wohl. Er kam dabey nicht von Kraͤften, wie viele Leute glau- ben. Viele Menschen, die kein Wasser trin- ken, sondern Bier, Wein, und dergleichen, und die koͤstlichsten Speisen genießen, sind weit weichlicher, und koͤnnen lange die Arbeit nicht thun, als ein gemeiner Bauer bey Was- ser und Brod. Georg . Georg . Er hat aber doch zuweilen auch Wein und Bier getrunken. Vater . Aber was steht dabey? als Me- dicin . Das wurde ihm denn auch Bier und Wein, weil ers nicht alle Tage trank. Denn sonst wirds der Koͤrper gewohnt, daß ers nicht mehr fuͤhlt, und also die Sache nicht mehr wirken kann. Wollten wir alle Tage Arzeney nehmen, so wuͤrde sie nichts mehr helfen, weil wirs zu gewohnt wuͤrden. Georg . Sie geben uns doch manchmal ein Bißchen Wein. Vater . Ja! das thue ich mit Fleiß; aber nicht zu oft, auch nicht zu viel. Dann ist er euch eben das, was er dem alten Mann war, eine Medicin. Jacob . Ich mag diese Medicin lieber, als Pillen. Vater . Wer maͤßig lebt, braucht gar keine Pillen. Merkt euch das vor allen Din- Y 2 gen: gen: Je mehr ihr euch in Essen und Trinken, und in eurer kuͤnftigen ganzen Lebensart, nach der Natur richtet, desto gesuͤnder werdet ihr bleiben, und auch desto laͤnger leben. Georg . Was heißt das, nach der Na- tur leben? Vater . Wie der alte Mann leben. Nichts anders essen und trinken, als was das aller- natuͤrlichste ist, was der Natur des Koͤrpers und der Gesundheit am zutraͤglichsten ist. Das natuͤrlichste ist Maͤßigkeit und Fleiß. Dir, Georg ! kann ich nachgerade ein Woͤrtchen Latein sagen. Du hast doch schon einige Brie- fe des gelehrten Roͤmers Cicero gelesen. Der giebt das fuͤr die beste Lebensregel aus: Se- quere Naturam .Ob du das wohl schon uͤber- setzen kannst? Georg . J! das heißt: Folge der Natur. Ist der Imperativus von Sequor, ich folge. Vater . Vater . Bravo! das war schoͤn. Aber wir sind mit dem Leben des alten Mannes noch nicht fertig. Mich soll doch wundern, ob von seiner Jugend nichts gesagt ist. Denn wer sich in seiner Kindheit und Jugendjahren verdirbt, oder ungesund macht, der kann im Alter nicht gesund seyn. LXVIII. Fortsetzung des siebenundsechzigsten Stuͤcks. Georg . „ I n seiner Jugend schlief er nie uͤber sechs Stunden, und in seinem Alter nie uͤber acht Stun- den.“ Vater . Das wird eben nichts fuͤr euch seyn, Jacob und Minchen. Ihr schlaft gar zu gern. Glaubt doch aber ja nicht, daß das zu viele und lange Schlafen gesund sey. Der Y 3 alte alte Mann schlief in seiner Jugend nie uͤber sechs Stunden. Das war von zehn Uhr an des Abends bis fruͤh um vier Uhr. Und ihr schlaft oft von acht Uhr an des Abends bis fruͤh um acht Uhr. Das sind auf zwoͤlf Stunden. Wenn ihr nur einmal um sechs Uhr aufstehen sollt, wie sauer wird euch das! Wie verdruͤß- lich seyd ihr! Und wenn ihr bis acht Uhr ge- legen habt, wie traͤge und unlustig den gan- zen Tag! Wollt immer noch mehr schlafen. Das koͤmmt vom langen Schlafen. Jacob . Ja, Vater! es ist auch manch- mal ein Bißchen zu fruͤh, wenn wir aufstehen sollen. Vater . Da denkt ihr, Wunder! wie hart man gegen euch sey, und was euch fuͤr Un- recht geschehe, wenn man euch nicht so lange schlafen laͤßt. Ihr wißt aber nicht, daß euch dadurch die groͤßte Wohlthat geschieht. Und so ist es mit mehrern Dingen, als mit dem vielen vielen warmen Getraͤnke des Morgens. Wenn ihr doch erst einmal glauben wolltet, daß wirs gut mit euch meynen, und alles zu eurem Be- sten thun! Lies weiter. Georg . „Seine mehresten Reisen that er zu Fuß, und wo er hinkam, war er vergnuͤgt.“ Vater . Seht ihr wohl? Er hatte sich nicht weichlich gewoͤhnt. Zu Fuße gehen ist allemal eine gute Bewegung des Leibes, und erhaͤlt die Gesundheit sehr. Daher ist es sehr gut, wenn Kinder viel zu Fuße gehen, und nicht immer auf den Stuͤhlen herumsitzen. Georg . Das freuet mich, daß er auch immer vergnuͤgt war. Das bin ich auch. Ich moͤchte manchmal vor Freude uͤber Tisch und Baͤnke springen. Vater . Woher kam das? Weil er immer gesund war. Denn bey dem Krankseyn ist nicht viel Freude. Aber das war es nicht Y 4 allein, allein, was ihn vergnuͤgt machte. Nur weiter. Georg . „Und suchte andere durch Wohl- thun und Leutseligkeit vergnuͤgt zu machen.“ Vater . Der gute Mann! Ob wir ihn gleich nicht gekannt haben, so muͤssen wir ihm doch noch nach seinem Tode gut seyn, weil er gegen andere so gut war. Wodurch wohl? Georg . J! durch Wohlthun und Leut- seligkeit . Aber Leutseligkeit? Was ist das? Vater . Daß er gegen alle Leute so gut und freundlich war. Er that also immer Gutes. Das machte ihn auch immer so ver- gnuͤgt. Und das heißt, ein gutes Gewissen haben. Wer Boͤses thut, der kann sich nicht freuen, sondern ist immer voll Furcht und Unruhe, daß es herauskoͤmmt, und daß er gestraft wird, wie ihrs an euch selbst merken werdet. Das ist denn das boͤse Gewissen . Er Er that Gutes gegen sich selbst , durch Maͤßigkeit und Fleiß; aber auch gegen ande- re , durch Wohlthun und Freundlichkeit. Er hatte selbst nicht viel, und gab doch andern was davon. Was das fuͤr ein guter Mann war! Und da er gegen andere immer so leut- selig, freundlich und dienstfertig war, — keinen anfuhr, gegen keinen verdruͤßlich, grob und muͤrrisch war, so hatten ihn auch alle Leute recht lieb. Darum hatte ihn auch der liebe Gott recht lieb — ließ ihn lange gesund leben, und viele, viele Freude an seinen Kin- dern, Kindeskindern und Urenkeln erleben — bis ins vierte Glied. Darum heißt es weiter: Georg . „Er hinterlaͤßt an Kindern und Kindeskindern zwey und dreyßig Nachkommen, und die ganze Stadt bedauert seinen Verlust.“ Vater . War das nicht eine schoͤne Ge- schichte? Ein sehr schoͤner Lebenslauf? Seht! Y 5 das das sind die Folgen der Maͤßigkeit, des Fleißes, des Wohlthuns, der Leutseligkeit und Men- schenliebe. O ihr meine liebsten Kinder! wer- det ja maͤßig, arbeitsam, fleißig, gutherzig, mitleidig, freundlich, dienstfertig gegen alle Leute, so werdet ihr eben so gute Folgen ha- ben; und der liebe Gott wird auch an euch die Verheißung erfuͤllen: Auf daß dirs wohl gehe, und du lange lebest auf Erden . Jacob . Auch hundert und neunzehn Jah- re alt werden? Vater . Das folgt wohl eben nicht. Wir koͤnnen Gott nichts vorschreiben. Und wenn ihr denn auch nicht hundert und neunzehn Jahre alt werdet, so lebt nur so, daß ihr am Ende — waͤrens auch nur neunzehn Jahre — sagen koͤnnt: Wir haben Gott zur Ehre, uns selbst zur Freude, und andern Menschen zum Wohlgefallen gelebt. Denn das heißt eigent- lich, gelebt haben . LXIX. Todes- LXIX. Todesgedanken fuͤr Kinder. E s gieng einmal ein Vater mit seinen Kin- dern spatzieren. Die Hitze des Tages war groß gewesen. Blumen und Kraͤuter hiengen ihr Haupt. Auch die schoͤnsten schon verwelkt. Die Kinder bedauerten die schoͤnen Bluͤm- chen. Nehmt hier ein Exempel, lieben Kin- der! sagte der Vater, an der Vergaͤnglichkeit der Blumen. So ist auch das Leben der Kin- der. Eben so bald vergeht es auch, wie eine Blume verbluͤhet. Und ihr seyd so sorglos, so vorwitzig, so unvorsichtig, daß ihr gar nicht an den Tod gedenkt? Wie wenig schont ihr eurer Gesund- heit und eures Lebens! Ihr erhitzt euch, und trinkt drauf. Ihr springet, klettert, balget, stoßt und rauft euch. Wie bald ists um euer junges Leben geschehen! Seht Seht diese Bluͤmchen an. Heute Morgen haben sie noch so schoͤn gebluͤhet. Und nun? Alle Schoͤnheit, alles Leben weg. So bald kann auch ein bluͤhender Knabe, ein schoͤnes munteres Maͤdchen dahin seyn! Seyd fromm, tugendhaft, maͤßig, vorsichtig, fleißig, so seyd ihr auch immer bereit. Denn ihr seyd keinen Augenblick vor dem Tode sicher. Denkt an diese Blumen, und vergeßt nicht, daß Gott auch oft seine guten Ursachen habe, Kinder fruͤhzeitig sterben zu lassen. Erinnert euch nur, daß neulich in einer Stadt uͤber vier- hundert Kinder an den Pocken gestorben sind. Die Kinder waren hierbey sehr aufmerk- sam, und sahen immer die verwelkten Bluͤm- chen an. Unter diesen Gespraͤchen kamen sie bey dem Gottesacker vorbey. Ich daͤchte, sagte der Vater, wir giengen einmal dahin, und besuchten die Todten. Es ist Kindern nichts nichts heilsamer, als sich oft ihrer Sterblich- keit zu erinnern. Glaubt es mir, liebsten Kinder! — glaubt es eurem Vater, der schon so viele Erfahrun- gen des menschlichen Lebens hat — es hat mich in meiner Kindheit und Jugend nichts mehr vom Boͤsen zuruͤckgehalten, als wenn ich dachte: Du koͤnntest in diesem Augenblicke sterben. Wolltest du wohl in und mit einer boͤsen That sterben? Es hat mich auch nichts mehr zum Gu- ten, zum Gehorsam gegen meine Aeltern und Lehrer, zur Maͤßigkeit, zur Vorsichtigkeit, zur Ehrlichkeit und Treue, und zu einer unge- heuchelten Gottesfurcht ermuntert, als wenn ich dachte: Wenn du so stuͤrbest, so koͤnnte dich der liebe Gott doch nicht abweisen. Du duͤrftest dich nicht vor ihm fuͤrchten, und haͤt- test ein gutes Gewissen. Damals Damals war ein Knabe aus der Nachbar- schaft von zwoͤlf Jahren. Der ließ sich von andern boͤsen Buben verfuͤhren, mit aufs Dorf in die Schenke zu gehen. Da wurde gespielt, gesoffen, geflucht, gelaͤrmt. Und der arme Junge hatte so viel Branntwein saufen muͤssen, daß es ihm das Herz abstieß, und er todt seinen Aeltern ins Haus gebracht wurde. Was der Tod dieses jungen Men- schen damals fuͤr einen Eindruck in mein Herz machte, Kinder! das kann ich euch gar nicht beschreiben. Gott! dachte ich bey mir selbst, das ist doch ganz erschrecklich, so recht in seinen Suͤnden — so recht durch das Boͤse selbst, das man thut, zu sterben, oder sich durchs Laster zu toͤdten! Es hat mich nichts mehr zur Geduld, zur Gelassenheit, zur Zufriedenheit ermuntert, als die oͤftere Vorstellung des Todes. Es waren mir einmal ein Paar Bruͤderchen gestorben. Ein Ein Paar allerliebste bildschoͤne Kinder. Ihr Bild ist mir noch immer vor den Augen. Da dachte ich oft, wenn ich sah, daß sich andere Kinder so schoͤn geputzt hatten, und sich wohl gar was drauf einbildeten: Wie bald kann doch der Tod aller Schoͤnheit ein Ende machen! Da dachte ich oft, wenn mir bey meinem Spielzeuge was entzwey gieng, oder wenn nicht alles nach meinem Kopfe gehen wollte: Es ist vergaͤnglich, dacht’ ich, und wir muͤs- sen alles hier lassen, wenn wir sterben. So lernte ich in der Schule des Todes das rechte A B C der Geduld, Demuth und Zufriedenheit. Darinn lernte ich, wie ich mein Herz nie zu sehr an eine Sache haͤngen sollte, die mir lieb war. Hier lernte ich, wie ich meine Begierden maͤßigen muͤßte, daß sie nie zu heftig wuͤrden. O Kin- O Kinder! das hat mir auf meine ganze Lebenszeit gut gethan. Folget dem Exempel eures Vaters, und denkt fleißig an den Tod. Es wird euch eben so wohl thun, und ihr werdet dadurch erst lernen, wie ihr leben muͤs- set, wenn euch der Tod nicht fuͤrchterlich seyn soll. Kommt, nun laßt uns auf den Kirchhof gehen. LXX. Der LXX. Der Gottesacker . S ie giengen durch das weite Thor dessel- ben, das mit Geraͤthschaften des To- des, Sarg, Spaden, Hacken, Bretern und Stricken, bezeichnet war. Da waren nun viele hundert Graͤber, mit und ohne Leichen- stein. Kein Schritt, wo nicht ein Grabhuͤgel war, und wo nicht Todtengebeine ruheten. Hie und da ein Baͤumchen. Viele noch frische Graͤber, große und kleine. Die meisten schon mit Gras, Blumen und Mooß bewachsen. Wer mag wohl unter diesem Erdhaufen liegen? fragte der Vater. Wer kann das wissen? Und wenn der Todte, der hier schlaͤft, ausgegraben wuͤrde, und er waͤre mein Vater gewesen, so wuͤrde ich ihn doch nicht kennen. Knochen, Staub, Erde und Asche wuͤrden II Theil . Z wir wir finden. Sonst nichts, gar nichts. O Kin- der! was ist der Mensch im Grabe? Seht ihr nun wohl, daß man sich auf Ehre, Reichthum, Stand und Wuͤrden, auf die Vorzuͤge seiner Geburt nichts einbilden kann? Hier sind alle Staͤnde gleich. Der Koͤnig so viel, als der Bettler. Wenn auch hier ein Koͤnig begraben laͤge, wer wuͤrde ihn herausfinden koͤnnen? Ach! was ist der Mensch im Grabe? Indem kamen sie an das Knochenhaus, worinn die ausgegrabenen Knochen und Hirn- schaͤdel aufbewahret werden. Das mußten denn die Kinder alles recht eigentlich besehen. Seht einmal, sprach der Vater, diesen Kopf hier. Das mag wohl ein vornehmer, reicher und gelehrter Mann — dieser Kopf aber ein armer geringer Mensch gewesen seyn. Die Kinder sahen sich einander an, und sagten: Da Da ist kein Unterschied. Und hier seht ihr alle, erwiederte der Vater, euer kuͤnftiges Bild. Was diese sind, muͤssen wir alle uͤber kurz und lang werden. Und wer weiß, wie bald? Das lehre euch, Gott fuͤrchten, demuͤthig seyn, und Gutes thun. Ach! was steht denn da? riefen die Kin- der, da sie an einen Bogen an der Mauer ka- men. Das sind ja Saͤrge. Wie sie aufge- platzt sind! Aber das ist doch erschrecklich, die Todten nicht zu begraben! Was steht denn da an der Tafel? „Dieß sind zwey Bruͤder, die sich vor funfzig Jahren beym Spiel verunei- niget, und sich beyde im Zorn einan- der selbst erstochen haben. — Der jungen Nachwelt zur Warnung hier unbegraben.“ Z 2 Die Die Kinder kehrten ihr Gesicht weg, und weinten. Da seht ihr, sprach der Vater, wozu die Leidenschaften, Spielsucht, Zorn, Wuth und Rache, den Menschen bringen koͤnnen. Da verwandeln sich ein Paar Bruͤ- der gegen einander in grausame Loͤwen, viel- leicht um einiger Groschen willen, und ruhen nicht eher, bis sie sich beyde ermordet haben. Wolltet ihr auch wohl so unter einander wer- den? — Andern zum Abscheu und zur War- nung stehen sie hier unbegraben. O Vater! riefen die Kinder, lassen Sie uns hier weggehen. Den Anblick koͤnnen wir nicht laͤnger ausstehen. LXXI. Die LXXI. Die Grabschrift eines guten Kindes. S ie giengen nun von einem Grabe, von einem Leichenstein zum andern. Die Kinder suchten immer die kleinen Graͤber. Denn darinn lagen die Gebeine der Kinder. Hier, sprach der Vater, mag schon manches gute und boͤse Kind vermodert seyn — schon man- che Vater- und Mutterthraͤne geweint seyn! O hier! rief Karl, was ich hier gefunden habe! Kommen sie doch alle her. Das ists werth, daß sie das alle lesen, was an diesem Leichensteine steht. Da lief alles nach dem Leichensteine. Es war eine kleine niedliche Pyramide. In dem einen Felde stand der Name: Z 3 Emilia Emilia Karolina von Tugendheim , und das Alter von 12 Jahren. Im zweyten Felde eine verwelkende Pflan- ze, mit der Ueberschrift: Wie eine Blume des Grases. Im dritten die aufgehende Sonne mit der Inschrift aus dem Buch der Weisheit Kap. 8. v. 19. 20. Ich war ein Kind guter Art, und habe bekommen eine feine Seele. Da ich aber wohl erzogen war, wuchs ich zu einem unbefleckten Leibe . Das klingt anders, sagten die Kinder alle, als dahinten an der Tafel. O du gutes Kind! wer du auch gewesen bist, sprach Emilie , ich freue mich, daß du meinen Namen gefuͤhret hast. Du bist schon einige einige zwanzig Jahre aͤlter in deinem Grabe, als ich gelebt habe — Und ich muß dir noch gut seyn. Ruhe wohl, gutes Kind! der liebe Gott bewahre deine Gebeine. Ein Paar Thraͤnen fielen aufs Grab, und die Kinder sammleten Blumen von dieser Staͤt- te, die sie zum Andenken dieses guten Kindes aufheben wollten. Was denkt ihr? Was empfindet ihr, lie- ben Kinder! sprach der Vater, bey dieser Grabschrift? Gewiß haben die Aeltern dieses liebe Kind nicht gerne verloren, und zu seiner Ehre diese Inschrift setzen lassen. O ein Kind guter Art! Ein Kind mit’ einer feinen Seele! Das konnte gewiß keine andere als recht gute, feine, tugendhafte und from- me Gesinnungen haben. Nothwendig mußte es das Herz gehabt haben, das Christus so gerne haben will, wenn er sagt: Wir sollen Z 4 Gottes Gottes Wort bewahren in einem feinen guten Herzen , und Fruͤchte bringen in Geduld. O! das gute Kind hatte sie schon getra- gen, diese Fruͤchte, und hatte sich gut erziehen lassen. Daher war es schon aufgewachsen zu einem unbefleckten Leibe, oder zu einem tugend- haften und unbefleckten Leben, und seine Ael- tern hatten schon viele Freude an ihm ge- sehen. Welche Ehre! Welcher Nachruhm auch nach dem Tode! Welches Muster der Nach- folge noch fuͤr alle Kinder! Welche Freude der Aeltern, ein solches Kind gehabt zu ha- ben! — Und zugleich, welcher Trost fuͤr sie, bey seinem Tode, ein solches Kind, da es starb, in Gottes Haͤnde gegeben zu haben! O lieben Kinder! die ihr noch lebt, denkt fleißig an dieses gute Kind; so werdet ihr auch auch die feine Seele bekommen, euch wohl erziehen lassen, und zu einem unbefleckten Le- ben aufwachsen. Eure gute Aeltern, wie ihr selbst wißt, wollen euch gerne wohl erziehen. Was ist nun besser, durch die Tugend, und durch einen guten Nachruhm, noch nach dem Tode zu leben, wie dieß gute Kind, oder wie jene boͤse Bruͤder verabscheuet zu werden? Die Kinder waren so geruͤhrt, daß sie nicht gleich von der Pyramide wegkommen konnten. Dich werden wir, sprachen Karl und Emilie, gewiß alle Woche einmal besuchen. Ich will dein Grabmal in mein Zeichenbuch malen, setzte diese hinzu. Lebe wohl, du Kind guter Art! Gott erfreue deine feine Seele! — Sie giengen hierauf nach Hause. Unter- weges aber sagten sie: Emiliens Grab waͤre ihnen immer noch vor den Augen. Z 5 O! es O! es bleibe das Andenken dieses guten Kindes, sprach der Vater, auch stets in eurem Herzen. Denkt an Emiliens Grab, wenn euch eine boͤse Lust reizen und verfuͤhren will, und ihr werdet sie nicht vollbringen. Denkt an Emiliens Grab, wenn ihr euch Kinderfreuden macht; wenn ihr spielt, tanzt, springet und lustig seyd. Was sagt euer lie- ber Gellert , der auch noch durch seine Tu- gend lebt, wenn er gleich todt ist: Kann deine Lust sein (des Todes) Bild vertragen, So ist sie gut und unschuldsvoll . Denkt an Emiliens Grab, wenn euch eure liebe Aeltern warnen, und zum Guten ermah- nen. Folget ihrem Exempel, und beweiset euch auch als Kinder guter Art, daß eure Seelen Seelen immer feiner, immer besser gesinnet werden. O! Emilie lebt noch. Auch fuͤr euch lebt es noch, dieß gute Kind. Sie ist als eure unsichtbare Freundinn, durch ihr gutes Bey- spiel, immer bey euch. Sie begleitet euch, wenn ihr aufstehet, wenn ihr in die Schule geht, wenn ihr spielet, wenn ihr euch freuet, wenn ihr euch zu Bette legt — auch wenn ihr krank und traurig seyd. Ach! sie begleite euch in eurem ganzen Leben, bis ihr sterbet. Und so oft ihr das Grab dieses guten Kindes wieder besuchet, so gehet mit dem Vorsatz zuruͤck: Lebe, wie du, wenn du stirbst, Wuͤnschen wirst, gelebt zu haben . Und nun, meine lieben Kinder! noch ein Wort. Ich habe in der Welt nichts liebers, als euch, meine Kinder! Das wißt ihr. Ihr seyd feyd mein Reichthum, meine Ehre, meine Freude. Gott weiß es, wie herzlich ich euer Leben wuͤnsche; wie sehr ich mich freuen wuͤr- de, euch zu einem unbefleckten Leben, und zu guten Menschen groß zu ziehen. Sollte es aber Gott gefallen, eins von euch in diesen fruͤhen Jahren mir abzufordern, so gebe Gott, daß ich mich eben dadurch uͤber seinen Tod troͤsten moͤchte, daß ich ihm Emiliens Grabschrift setzen koͤnnte: Es war ein Kind guter Art, und hatte bekommen eine feine Seele .