Bittersüß. Novellen von Ilse Frapan. Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1891. Bittersüß. Novellen. Bittersüß. Novellen von Ilse Frapan. Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1891. Alle Rechte vorbehalten. Inhaltsverzeichniß. Seite 1 . Frauenliebe 1 2 . Monika 145 3 . Klärchen's Frühlingsfahrt 187 Frauenliebe. E s lag noch Schnee auf den schwerer zugänglichen Plätzen, in den Winkeln, welche die Sperrketten und Prellsteine vor den Seiten der Kirchen und der Museen bilden, aber der Schnee war staubig und mürb, und auf den Sperrketten saßen die kleinen Mädchen und hatten beim Schaukeln die Winterjacken ausgezogen. In der Mitte der Straße floß das Schneewasser wie ein Bächlein bergab und rauschte ordentlich, und um die leeren Baumkronen lag ein verheißungsvoller Schein, wie der Schatten künftiger Belaubung. Ein junger Mann, ein schlanker, hübscher Mensch mit einer Mappe unter dem Arm, schlenderte die Straße hinab, mit jener wohligen Lässigkeit, die uns so gern im Frühling überfüllt, und streifte mit träumerischen Augen die sonnenbeschienenen Häuser mit den halboffenen Fenstern, dann wieder die Am¬ seln auf den Bäumen, die es mit Hüpfen und Flöten höchst eifrig hatten, endlich die schaukelnden Mädchen Frapan , Bittersüß. 1 auf den Sperrketten, die nicht minder als jene kicher¬ ten und lärmten. Endlich wandte er sein ganz in Freude ge¬ tauchtes Gesicht zu einer der Kleinen nieder und fragte nach einem Hause und einem Namen, die er hier in der Adalbertstraße zu suchen gekommen. Die kleine Münchnerin verstand nicht sogleich, denn er kam aus dem Norden, war erst am vorigen Abend in der schönen Isarstadt angekommen, und das Kind lachte verlegen, statt zu antworten. Ein größeres Mädchen trat dienstfertig herzu und gab ihm die ge¬ wünschte Auskunft. „Die Frau Brückner wohnt da, aber 's wird Alles besetzt sein; sie hat sieben Zimmerherren, lauter Maler und Studenten.“ „Du weißt ja gut Bescheid,“ sagte er lächelnd, „ist sonst kein Zimmer in der Nähe zu vermiethen?“ „Es gibt schon, wenn der Herr mitgehen will,“ sagte die Kleine geschmeichelt. Sie führte ihn in ein Haus, das bescheiden und schmucklos mit seinen kleinen karrirten Scheiben zwischen den neuen hohen erkerreichen Gebäuden stand. Unten war eine geringe Wirthschaft. „Ueber eine Stiege, da wohnt meine Bas', die hat Platz.“ Eine muntere Bürgersfrau begrüßte die Ankömm¬ linge, aus der Küche tretend, die wie eine appetitlich duftende Nebelhöhle aussah. Sie riß sich die nasse Schürze ab und schleuderte sie hinter sich; dann ging sie mit einladendem Rückwärtsblicken den etwas dunk¬ len Gang hinab und öffnete die letzte Thür. Mit einem gewissen Stolz wies sie ihm das hochgethürmte Bett mit dem bunten Zitzüberwurf, den breiten blau und weißen Kachelofen, das Haartuchsopha neben dem Fenster und den verhängten Rahmen in der Ecke, der statt eines Kleiderschranks diente. „Und a Stiefelknecht kommt au no doher; schaug'ns, 's is a Fräulen dogewesen, die hat koa braucht, — und a Kerzen; und dös Waschschüsserl, was do herein g'hört, is in der Kuchel; 's Fräulen hat a eigenes gehabt, wissens; Emerenz, bring' doch g'schwind 'm seligen Herrn Panther sein Wasch¬ schüsserl her, daß der Herre siecht, daß alles in der Ordnung is.“ Der junge Mann war aus Fenster getreten und hatte eine der Scheiben geöffnet, die bei jedem Schritt auf dem schwächlichen Fußboden und bei jedem Wagen¬ gerassel draußen surrend erzitterten. Ein voller Strahl der Märzsonne kam herein und dem Fremden in die Augen, daß er sie blinzelnd wegdrehen mußte. Dieser warme Gruß überzeugte ihn vollends, daß er's hier sehr gut getroffen habe, und über der Waschschüssel, die Emerenz wie ein Opfergefäß zwischen 1* sie beide hielt, ward er mit der Wirthin einig. Er gab ihr seine Karte, von der sie ihm seinen Namen „Alfred Heuvels, Bildhauer,“ stotternd vorlas, und die dienstfertige Emerenz schickte ihm ihren Bruder, den Buben heraus, daß er für seinen Handkoffer doch keinen Fiaker zu nehmen brauche. Sonderbar angeheimelt, obgleich ihm doch hier Alles fremd war, und berauscht von dem immer¬ währenden Bewußtsein: das ist nun München, nach dem ich mich so gesehnt habe, sah sich Alfred bald wieder in der prächtigen Bahnhofshalle und las mit lächelnden Blicken die Aufschriften an den großen Ta¬ feln: „Nach Starnberg;“ „nach Salzburg;“ „nach Innsbruck,“ — Da geh ich überall hin, sagte er sich heimlich, und es schien ihm, als lache Italien ganz nahe zu ihm herüber, und er dürfe nur die Hand ausstrecken und sich hineinschwingen. Freilich einst¬ weilen noch nicht, — erst wollte er hierbleiben, ge¬ nießen, sehen, lernen, arbeiten. Aber er fühlte, daß er das Sehen am Nöthigsten habe. Vielleicht öffnete ihm ein bedeutender Künstler sein Atelier. Ihm klopfte das Herz vor Freude und Bangen, wenn er an seine eigenen geringen Entwürfe und an die überschwängliche Fülle des Schönen dachte, die ihn hier erwartete. Eine dankbare Regung über¬ kam ihn gegen den unfreundlichen, geizigen Onkel, der ihm nun doch in seinem Testament dreitausend Thaler vermacht hatte. Solch einen Schatz in der Tasche, und dazu fünfundzwanzig Jahre, Gesundheit, leichtes Herz und Augen, die nach Schönheit dürsteten und weit offen waren für die Lieblichkeit der Welt — er genoß sein Glück mit gerührter Seele. Ueber¬ muth war ihm fremd. Er war hart auferzogen worden, hatte früh ums Brot arbeiten müssen, seinem Vater, der Steinmetz und schwach auf der Brust war, früh beispringen müssen. Und wenn der Vater ein Grabkreuz zu meißeln bekam, da war allemal Jemand gestorben, den der kleine Alfred auch gekannt hatte, und zugleich mit der Freude über den Auftrag kam eine weinende Nach¬ barin in die Thür, und der Kleine sah lieber frohe Gesichter. So ging ihm der Ernst des Lebens früh¬ zeitig auf. — Nun lebten die Eltern wohlversorgt bei seiner älteren Schwester, die einen vermögenden Holzhändler geheirathet hatte, und ihm war durch das Vermächtniß des Onkels der heißeste Lebens¬ wunsch erfüllt. Was hatte er denn bis jetzt gelernt? Er war der beste Schüler gewesen in der Gewerbe¬ schule, zu der er zwei Stunden weit täglich hatte marschiren müssen. Pah, eine Gewerbeschule, die 's ja schon durch ihren Namen ansagt, daß sie nichts mit der Kunst zu schaffen habe. Danach freilich hatte er bei einem tüchtigen Bildhauer in Hamburg ar¬ beiten dürfen, fünf Jahre lang. Aber hatte nicht auch dieser wackre Lehrer ihm vertraut, er sei „dort oben“ wie im Exil und könnte gar nimmer fort¬ machen, wenn er nicht so oft als thunlich im künst¬ lerischen Süden neue Anregung und Erfrischung hole? Und wie hatte ihm die theilnehmende Freude vom Gesicht geleuchtet, als ihm Alfred den Glückszufall mit der Erbschaft erzählt. „Gut, gut, da machen Sie geschwind, daß Sie fortkommen, es ist hohe Zeit für Sie. Dreitausend Thaler? Das muß für acht, für zehn Jahre reichen, wenn Sie solid bleiben. Und nur nicht gleich hei¬ rathen! dann ist's verspielt,“ hatte er seufzend hin¬ zugefügt. Und als der Schüler kopfschüttelnd gelacht: „Ja, jetzt hat's Lachen keinen Werth, lachen Sie, wann Sie verliebt sind! Eh glaub' ich's nicht. Ein Hitzkopf sind Sie auch.“ Und dann noch einmal beim Abschied: „Also Briefe, Berichte willkommen, aber — Verlobungsanzeig verbitt ich, vor Ihrem fünfzigsten Geburtstag.“ Warum kamen ihm diese ganz überflüssigen Worte jetzt wieder in den Sinn, während er sie beim Anhören nicht groß beachtet hatte? War es nicht vielleicht schon ein Gefühl der Einsamkeit in all dem neuen Glück, die Empfindung: hätt' ich nur Jemand, dem ich's sagen dürfte, wie schön das alles hier ist? Er ertappte sich darauf, daß er einem jungen, eifrig plaudernden Paare mit langem Halse nachsah und erröthete, denn er hatte an die Stelle des jungen Mannes, der so lebhaft auf das Mädchen an seinem Arm einredete, sich selbst gesetzt In der Beschämung darüber machte er auf einmal so weite Schritte wie um sich selbst zu entlaufen, daß der kleine Koffer¬ träger kläglich zu schnaufen begann und sein Gepäck zuletzt rathlos und zornig auf den Boden stellte. Nun kam ihm der Gutmüthige schnell zu Hülfe. Er griff selbst nach dem schwersten Stück, ja drückte dem Buben gar die schmierige Mütze, die ihm entfallen war, wieder auf die schwarzen Haare und scherzte so freundlich mit ihm, daß der breite Mund sich noch breiter zog, und die schiefen gelben Zähne hervorbleck¬ ten wie bei einem Teckel, den man streichelt. Es war ein garstiger Junge, aber heut' sollte keiner ein kläg¬ liches oder böses Gesicht machen seinetwegen. Er gab ihm ein so reiches Geldgeschenk, daß der kleine Träger ohne Dank davonrannte und gleich mit einer Hand „voll Münz“ zurückkam; er hatte wechseln lassen, weil er nicht geglaubt, das Alles sei für ihn. Als er es zuletzt begriff, schoß ein warmer dankbarer Hunde¬ blick aus seinen kleinen Augen; der war von Stund an dem Fremden zugethan, das fühlten sie alle Beide. Sobald er sich's etwas behaglich gemacht, schloß Alfred seinen Koffer auf, um an die Eltern zu schreiben. Vielleicht war das ein Weg, sich die Brust zu erleichtern. Doch hatte er kaum die Feder angesetzt, als ihm einfiel, weder Vater noch Mutter würden recht begreifen, was er eigentlich meine, und so schrieb er nur eine flüchtige Karte, die meldete, daß er wohl angekommen sei. Er begann einen Brief an die Schwester; wie er sich aber vorstellte, daß grade sie am wenigsten Verständniß für seine Lust hinaus ge¬ habt, wie sie ihm eifrig zugeredet, des Vaters „schönes Geschäft“ zu übernehmen und die Schwester ihres Mannes zu heirathen, die wohlhabend und kaum zwei Jahre älter war als er, kamen ihm seine eignen Zeilen lächerlich vor, und er zerriß den Bogen mit einem drückenden Gefühl der Fremdheit gegen die erste Freundin und Gespielin seiner Kinderjahre. Nein, er wollte seinem Lehrer schreiben, dem guten Bildhauer, dem er Alles verdankte! Schreiben! Doch was? Hatte er denn schon etwas gesehen? Alles, was er sagen gewollt, zerfloß in Nebel, wenn er des humoristischen Graukopfs gedachte, wenn er sich des fatalen Lippenzuckens erinnerte, mit dem der solch' einen „blauen Dunst“ von seinem ältesten Schüler aufnehmen würde. Nicht doch, dem schrieb man ernste Briefe, inhaltreiche Briefe über Studium und Arbeit. Alfred legte sein Schreibgeräth in die Schieb¬ lade zurück in eigenthümlicher Enttäuschung. Daß er hier fremd sein mußte, war natürlich, aber daß er in der Heimath im Grunde ebenso allein stand, war ihm nie so zum Bewußtsein gekommen. Aus dem Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder, die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch die breite Spalte der Thür sah er im Vorübergehen einen gesenkten dunklen Kopf und heiße Wangen. „Der schreibt gewiß an seinen Schatz,“ flog es ihm durch den Sinn. Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬ theater. Man gab ein oberbayrisches Volksstück, rührselig und derb komisch, aber er nahm es ohne Kritik hin und erfreute sich an dem echten Spiel, an Gestalten und Trachten und an der Mundart, obwohl er sie nur halb verstand. „Da geh ich auch überall hin,“ wiederholte er sich, wie am Mittag. Er hätte auch gern geplaudert in den Zwischen¬ akten, wie die Leute rechts und links um ihn. Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit muntern Augen, aber sie blickte immer nach der andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬ fred war hinterdrein, als sei es ein Kleinod, und er¬ faßte ihn im Fluge. Aber sie nahm ihn garnicht, dankte nur obenhin: „Ich brauch' ihn nimmer,“ und sprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm bei seiner Abreise in Hamburg gesagt hätte: „Du meinst wohl, in München stehe schon Alles auf den Zehen und warte, bis Du kommst?“ so wäre er sicherlich beleidigt gewesen, daß man ihn für einen solchen Hans Narren halte, und doch war er ein bis¬ chen enttäuscht, jetzt, daß man ihn so garnicht nöthig hatte und er die Andern, ach, so sehr. Als er nach dem frühzeitigen Schluß des Spiels fröstelnd durch die rauhe Nacht heimging, zauderte er mehr als einmal vor einem hellen Fenster. Kann ich nicht hinein gehen zu denen, die da vertraut bei¬ sammen sitzen? Bitten, gönnt mir euer Wort, euer Licht und eure Herdflamme; ich bin auch ein Mensch und komme weit her und freue mich so, daß ich da bin? — Kopfschüttelnd schritt er weiter, solche Ein¬ fälle führt man nicht aus. Er hätte vielleicht in einem der zahlreichen Caf é s oder Bierkeller noch gute Gesellschaft gefunden, aber war nicht gewohnt, ins Wirthshaus zu gehen. Das hatte in Hamburg wenig Verlockendes, außer, wenn man hungrig war, — von dem andern Lebenszuschnitt hier wußte er noch nicht recht. In seinem Zimmer flackerte ein bescheidenes Feuer¬ chen, der große weißblaue Ofen fühlte sich noch kühl an. Er entzündete das Licht, löschte es aber bald wieder, denn das dünne trübselige Flämmchen reichte nur eben hin, den warmen Ofenschein zu verjagen, nicht aber das Gemach zu erhellen. Wie er noch so brütend dasaß, drang aus der Nähe irgendwo, aber doch wie gedämpft durch die Nacht, eine reiche volle Stimme herein, die ein sanftes einfaches Lied sang. Er horchte, verstand aber nur hie und da eine Zeile von Rosenzeit und Herzeleid und dann am Schluß ein langes, sehnsüchtiges „vergessen, vergessen“. Was aber kümmerten ihn die Worte. Ein bestrickender Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte seelen¬ volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengesang, aber keiner, der unselig macht, einer der fromm macht und weich, aber auch das Heimweh weckt nach einer schöneren Welt, wo die Thüren aufgethan sind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die Menschen Brüder sind und mit den Sternen und den Blumen und allen Creaturen um die Wette die Herrlichkeit des Daseins preisen. Der junge Träumer sah die Sängerin sitzen; sie trug einen Schilfkranz in den langen nassen Locken und eine Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger Kunsthalle. Der Arme hatte sonst noch keine Nixe gesehen. Aber er meinte doch, etwas runder sei sie vorzustellen, als jenes Bildwerk, und gar die „Taille“ würde er nimmermehr so schmächtig formen wie bei der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders, wie voll herzlichem Weinen: „Draußen vor der Pforte steht ein Leiermann,“ und gar weiter das: „Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen“, daß ein Schmerzensschauer den einsamen Hörer über¬ rieselte, als blicke er in alles stumme Leid und Elend der Menschheit. Nun war es keine Nixe mehr, die sang, nun trug sie Flügel und die Schale der Er¬ quickung in den Händen; und sie war schön wie — nein, ihr glich keine der griechischen Göttinnen an trostverheißender Milde, an sinnender Güte! Auf ihrem Sockel stand — er sah es deutlich — „Ich bin das Mitleid.“ Ach, wenn er das bilden, das hin¬ stellen könnte, wie er es sah! Sie stand ihm ja so klar, so greifbar nah vor Augen. Er wünschte nur, daß es erst morgen sei, um gleich anzufangen. Alle Einsamkeit war verschwunden, war belebt von bild¬ reichen Träumen, über denen sich seine Wangen rötheten, sein Herz hoffnungsvoll klopfte. Da verstummte die Sängerin. Ihm war, als werde seiner Gestaltenwelt plötzlich das Licht entzogen. Es leuchtete wohl noch hie und da eine fließende Falte, ein schön gebogener Arm, aber das Ganze war seinen Blicken verhüllt. Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach den verklungenen Tönen überkam ihn. Er lauschte mit angehaltenem Athem. Aber nun waltete über dem Hause nächtliche Stille, oder — was man so nennt — das Zusammenhallen all der leisen Geräusche, die der Tag übertäubt. Ohne das Licht zu entzünden, legte er sich in das hochgethürmte Bett und träumte mit geschlossenen Augen weiter, bis an den hellen Morgen. Er hörte, wie sein Zimmernachbar sich herum¬ warf und brummte, der da habe ihn aufgeweckt. Das beschämte ihn, denn er war voll Rücksicht, und ganz geräuschlos kleidete er sich an, um nicht noch weiter zu stören. Während er für den Tag Pläne entwarf, miaute es draußen zart und leise, auch ein bescheidenes Kratzen ließ sich vernehmen. Er öffnete, und herein spazierte ein graues Kätzchen von zier¬ lichem Körperbau, sah sich mit einiger Verwunderung, wie es schien, im Zimmer um, und sprang dann auf das Bett, wo es sich behaglich in die noch warmen Kissen duckte. Alfred hatte seine Freude an dem niedlichen Gast, der hier so ganz wie zu Hause that, sich willig streicheln ließ und gleich zu schnurren be¬ gann unter solchen Liebkosungen. „Woher kommst Du?“ fragte er munter, „und was willst Du bei mir?“ Aber das Kätzchen antwortete nur mit einem vielsagenden Zwinkern, legte sich auf den Rücken und reckte die Pfötchen mit den rosenrothen Fußballen, als wolle es sagen: Da gefällt mir's. Er hatte in seinem freundlichen Gemüthe schon beschlossen, das Waisenkind zu adoptiren, als die Wirthin mit dem Kaffeebrett hereintrat und sogleich ausrief: „Nein, Du bist amol a Naseweis! In dem Herrn sein Bett drin! Gelt, da ist's gut warm? Da möcht ich auch lieber liegen, als in aller Herrgottsfrüh an' Brunnen springen, weil die Wasserleitung wieder amol zuge¬ froren is über Nacht. 's nimmt koa End' mit dem Winter, ich sag's ja.“ Sie setzte das Frühstück nieder und hielt dem Kätzchen den Arm hin. „Da hupf 'nauf, daß Dein Fräulein koa Angst kriegt; die Emerenz trägt Dich 'nüber.“ „Ach, das Thierchen hat schon einen Herrn?“ sagte Alfred. „A guts, guts Fräulein; und singt so gar arg schön! Sie werden's auch noch hören. Sie hot ja in dem Stüberl do g'wohnt und wär' noch heut' do, aber schaug'ns, do is die Wirthschaft do herein, drunten, do hat's ihr nimmer paßt. Jetzt das Peterl, das Lumperl verlauft sich als, weil's noch den Ge¬ schmack von der Wohnung in sein' Nos hot.“ Nun hätte Alfred das Kätzchen doppelt gern ge¬ liebkost, aber die Frau hatte es mitgenommen. Er sah sich in dem bescheidenen Raum um, — früher also war die herrliche Stimme hier erklungen. War es nicht süß, nun da nach ihr zu hausen? Hätte er doch nur die Frau ein bischen ausgefragt! Aber es war ihm fast lieber so. Was hätte ihm die erzählen können? Ein gutes, gutes Fräulein, hatte sie gesagt? Ja, das war sie gewiß! Was brauchte er eigentlich noch von ihr zu wissen? Wußte er doch, daß ihm ihre Stimme wunderbar gefiel, und daß ihre ganze Person ihm wunderbar gefallen werde, wenn er sie einst erblicke. Sein Herz begann zu schlagen bei dem Gedanken an diesen künftigen Augenblick. Dann aber fragte er sich als der gewissenhafte Junge, der er war, ob er nicht seinem Lehrer Wort halten und solch eine verführerische Bekanntschaft von vornherein mei¬ den solle; und er erkundigte sich nicht weiter, obwohl er beim Hinausgehen noch einen „Ständerling“ mit der Wirthin hatte über allerlei nothwendige und un¬ verfängliche Dinge. Mit dem gehobenen Bewußtsein, das der kleinste über sich selbst errungene Sieg verleiht, begab er sich auf seine erste Studienfahrt in die Glyptothek. Wie aber ward dem Neuling hier! Wie ging seine Freude in bloßes Staunen, sein Staunen in Schrecken, sein Erschrecken in völlige Zerschmetterung über. Hier, ach, hier hatte erst recht Niemand auf ihn gewartet, — war nicht längst Alles versammelt und tausendmal schöner, als er es auch nur geträumt? Er stand wie betäubt vor dem barbarinischen Faun, in Grauen und Entzückung vor der Medusa Ron¬ danini. Wenn das hier Menschen gebildet hatten, Künstler, was war dann er? Er riß seine Karte aus der Tasche und zog einen dicken Bleistiftstrich durch das Wort „Bildhauer“ unter seinem Namen, während es ihm heiß und stechend in die Augen stieg. — Seine Schwester hatte Recht gehabt: seines Vaters „schönes Geschäft“, die Grabkreuze und abgebrochenen Säulen alle nach demselben Muster, das war das Richtige für ihn. Er mußte sich Gewalt anthun, um nicht zu schluchzen wie ein Knabe: „Alle gegen Einen! Wenn Alle so gegen Einen anstürmen!“ Gern wäre er fortgelaufen, aber doch hielt es ihn wieder wie mit Zangen. Die Erfahrung von gestern, daß man ihn so garnicht nöthig habe und er die Andern so sehr, so sehr, kam wieder, aber heut mit einer qualvollen Schärfe, die ihn ganz durchbeizte. So kam er nach Hause. Alles Verlangen nach Speise und Trank war von ihm gewichen. Er schleppte sich die Treppe hinauf und warf sich todtmüde aufs Sopha. So tief war er getroffen, daß er wie ein körperlich Verwundeter vor Ermattung einschlief und fest und traumlos schlummerte stundenlang. Mit der unklaren Empfindung eines großen Glücks, einer um ihn verbreiteten Wonne kam ihm die Besin¬ nung zurück. Sie sang wieder. Heut schien es noch ferner als in der Nacht, es legte sich so vieles Tages¬ geräusch dazwischen. Doch selbst aus solcher Weite klang es wunderbar beruhigend, wie der Ausdruck der tiefen Uebereinstimmung unter der scheinbar so verschiedenen, so widerstrebenden Wesenwelt. Es war kein deutsches Lied, irgend ein alter italienischer Hymnus. Ein leidenschaftliches Flehen und Werben um Gnade, ein stammelndes Geloben der Hingebung, ein sich Auf¬ lösen und Zerfließen in der Gottheit. Ach, wie sie schön war! Er sah sie wieder, sie trug die Züge der Gestalt, die sich das Mitleid nannte, aber sie stand nicht mehr aufrecht, sie hatte sich auf die Kniee ge¬ worfen, drückte mit beiden Händen ein Schwert gegen ihre Brust und flehte mit verzücktem Antlitz: „Gieb mir die Schmerzen der Welt, aber laß mich in allen Schmerzen Dein sein, o Gott.“ Mit einem langen, befreienden Athemzuge stand er auf. Was in seiner Vernichtung Neid und Mi߬ gunst gewesen, fiel von ihm ab. Eine heiße Dank¬ barkeit wallte in ihm empor. O, die theure, die fromme, die Engelsstimme! — Ja, er war nur ein Nichts, verglichen mit Jenen, die der Menschheit ewige Schätze geschenkt hatten. Aber hatte es nicht auch eine Zeit gegeben, wo sie noch nicht waren? Ein redliches Versuchen, ein unermüdetes Ringen war noch keine Anmaßung. Es war nur eine Frage an seine eigne Natur, und die mußte doch erlaubt sein. Er fühlte sich so erhoben, als habe er schon gefragt und die Antwort laute: ja. Mit der ganzen Spann¬ kraft seiner fünfundzwanzig Jahre schwang er sich den Hut auf den Kopf und stürmte hinaus. Er wollte — ja, vor allen Dingen wollte er zu Mittag essen, denn was er noch von Unbehaglichkeit spürte, würde wohl Hunger sein. Er vertiefte sich mit einer Gründ¬ lichkeit in seinen Suppenteller, über die er selbst ge¬ lacht hätte, wäre ihm nicht trotz der wiedergekehrten Frische höchst feierlich zu Muthe gewesen. Seine hei¬ ligen Entschlüsse und sein gesunder Durst wirkten zu¬ Frapan , Bittersüß. 2 sammen, so daß er heut mehr trank, als er gewohnt war. Voll Muth redete er einen älteren Herrn an, der ihm einen künstlerischen Anstrich zu haben schien, fragte ihn, wann die Glyptothek geöffnet sei, obgleich er's gut wußte, gerieth in ein erträgliches Gespräch mit ihm über die Frage: Büste oder ganze Figur bei Denkmälern für Dichter und Gelehrte? und kam mit der unklaren aber beseligenden Empfindung, daß es ihm sehr gut gehe, nach Hause. Aus dem Fenster gegenüber hörte er Klavierspiel; da wohnte sie gewiß. Wie, wenn er hinaufging, ihr dankte für Alles, was sie unwissentlich schon an ihm gethan hatte? Ein toller Gedanke! So keck war er doch sonst nicht! Um aber die Tollheit nicht auszuführen, wie es ihn mächtig lockte, lief er geschwind in seine eigene Haus¬ thür und die Treppe hinauf. Wieder wie gestern der einsame Feuerschein aus dem Kachelofen, das Licht auf dem Betttischchen. Aber halt, war das nicht ein sanftes Miauen? Er leuchtete umher. Richtig, auf dem Kopfkissen seines Bettes saß es schon wieder, grau und klein und reckte die Pfötchen wie zum Willkommen. Das war zu viel für seine Standhaftigkeit. Er konnte doch das arme Fräulein nicht in der Unruhe lassen! Sie mußte es ja vermissen und hätte gewiß die Nacht nicht geschlafen, ohne den Liebling in Sicherheit zu wissen. Er riß das weiche Klümpchen von der Bett¬ decke, auf der es sich zierlich angehäkelt hatte, in sei¬ nen schützenden Arm und rannte ohne Besinnen den heute früh so gewissenhaft verschworenen Weg entlang quer über die Straße. Ueber den hellen Hausflur, die Treppe hinauf und noch eine Treppe leitete ihn die Stimme, Ach, warum sang sie auch gerade ein neckendes Liebeslied! Es klang: An blühender Hecke im rothen Kleid, Habe Gott zum Gruß, Du zierliche Maid! Du schaust so schelmisch und lächelst süß, Wie heißt Du? Sprach sie: Bittersüß, Herr, Bittersüß. Ei, rief ich lachend, die Bitterkeit, Von solchen Lippen schafft wenig Leid. Komm, grüße wieder, wie ich Dich grüß: Möchte wohl! Sprach Bittersüß, Schön Bittersüß. Nun stand er an der obersten Treppenstufe und suchte mit den Augen die Thür, aus der die Töne quollen. Das Kätzchen murrte leise, so drückte er es an sich. Horch, weiter: Und dreimal hab ich sie heiß geküßt, Und sie, sie hat es leiden gemüßt, Roth war ihr Mieder, und weiß die Füß'. — 2* Wohl bekomm's! Sprach Bittersüß, Schön Bittersüß. Eine heimliche Drohung, verführerischer als eine Zusage, lockte aus der Stimme der Singenden, daß es ihn überlief. Doch wie ich weiter gewandert bin, Da ward mir bange und krank zu Sinn; „Wer weiß auch, ob ich Dich wieder grüß?“ Nimmermehr! Sprach Bittersüß, Ach Bittersüß. O arge Maid! o täuschender Nam'! O weh mir. daß ich des Weges kam! Nun wird mir bitter, was erst so süß. Wie es kommt! Sprach Bittersüß, Ach Bittersüß. Das war wieder Nixengesang! Spottend hallte es hinter dem Verlockten drein: Dein Unglück trage nur fein gemach. Die Bitterkeit kommt zuvor oder nach. Ein süßes Bitter, ein bittres Süß Ist die Lieb! Sprach Bittersüß, Ach Bittersüß. Das Lied verhallte so, mit einem Seufzer, und Alfred stand noch immer an derselben Stelle. „Ja — ja —“ murmelte er vor sich hin, „aber nun hilft es doch nicht, nun muß ich doch hineingehen. Ich glaube, ich bin im Schlaf, ich glaube, mir träumt das nur so hier, — ich glaube, ich muß anklopfen, sonst werde ich verrückt, oder ich erwache, oder — Er ging langsam die drei fehlenden Schritte und klopfte mit zitternden Fingern. „Herein!“ sagte die volle weiche Alt-Stimme. Er griff nach seinem Hut, um ihn abzuziehen, aber er fand ihn nicht, er hatte ihn in der Hast vergessen. Wie er sich besann, ob er denn nicht lieber erst zurücklaufen, den Hut holen solle, ward das „Herein“ wiederholt. Halb gegen seinen Willen öffnete er nun die Thür, seine Blicke flogen ihm voraus, doch ward er geblendet, weil er so lang im Halbdunkeln gestanden hatte, und sagte mit unsicherer Stimme in das Gemach hinein: „Ich bitte um Verzeihung, ich glaube, dieses Kätzchen —“ „Ach Peterl, Peterl, Du machst mir argen Kum¬ mer!“ sagte die Dame, die da auf ihn zutrat und die Hände nach dem Thierchen ausstreckte. Es sprang auch gleich auf ihre Schulter und drückte sich zärtlich an ihren Kopf, das ungetreue Geschöpfchen. Alfreds Augen hatten sich inzwischen erholt und flogen suchend über die Stühle, die um den runden Tisch her standen. Sie waren aber leer, und ebenso alle Ecken, in die das Licht der über dem Tisch hängen¬ den Lampe fiel. Leer war auch der Platz am Clavier; es war Niemand im Zimmer als die Dame, die jetzt freundlich sagte: „Wollen Sie nicht sitzen? Daher?“ Das ist doch nun gewiß ein Traum, dachte er bei sich und erwiderte mit einem gewissen prüfenden Ton: „Ich hörte hier Gesang und wollte nicht stören — “ „Ich habe gesungen wie immer am Abend und bin froh, wenn ich nicht Andere störe,“ war die ein¬ fache Antwort. „Sie sind die Sängerin?“ stotterte er und blickte mit der peinvollen Gewißheit, daß dies Alles ein böser Traum sei, der ihn aber doch herzlich quäle, in das grotesk-häßliche Gesicht vor ihm, über das unter seinem erschrockenen Anstarren ein leises wehmüthiges Zucken ging. Sie wandte sich nun ab: „Haben Sie das Singen gern?“ „Ja — das heißt — nein,“ stammelte er wie¬ der und sah angstvoll auf die große reizlose Gestalt, die knochigen Hände und das stumpfe chinesische Pro¬ fil. Dabei dachte er fortwährend: Ich muß dem hier doch ein Ende machen, ich muß doch das Wort sagen, daß aus der häßlichen Haut die Nixe hervorspringt, die Huldin, die Göttin. „So dank' ich Ihnen eben recht, daß Sie mir mein Peterl wiedergebracht haben und bitt' um Ent¬ schuldigung wegen der Belästigung,“ sagte die Sän¬ gerin ruhig, „und wenn die Musik Sie Abends ge¬ nirt, so kann ich zu andrer Zeit singen —“ „O nein — nicht doch — es war ja nur — weil — sein Sie mir nicht böse —“ „Weil Ihnen mein Gesicht nicht gefällt?“ sagte sie leise, — „da sein Sie nur ruhig, mir gefällt's auch nicht; nein, ich bin nicht böse, es sind schon mehr an mir verschrocken. — Nicht dorthin, bitte, da geht's hinaus. Warten Sie, die Treppen möchten schon dunkel sein.“ Sie nahm einen Leuchter vom Clavier und be¬ gleitete ihn hinaus. „Sie haben keinen Hut, Sie wohnen im Haus hier?“ fragte sie. Als sie hörte, er habe ihn vergessen, bat sie ihn, mit umzukehren. „Es möcht' kalt sein, so über die Straß'; 's ist noch ein Hut da vom verstorbenen Bruder, warten Sie.“ Er saß in Beklemmung und wagte kaum, sich in dem bücherreichen, behaglichen Zimmer umzusehen. Ach, diese schlichte, unbefangene Freundlichkeit über¬ zeugte ihn, daß er leider nicht geträumt habe. Die süße Märchenstimme war körperlos, und die Bilder alle, die er geschaut, waren trügende Luftspiegelungen gewesen, die er nimmermehr würde festhalten können. Eine Art Erbitterung gegen die Sängerin ergriff ihn. Verlocken und dann enttäuschen! So enttäuschen! Und diese philisterhafte Er¬ kältungsfurcht! Warum sollte er nicht ohne Hut nach Hause gehen? Er war schon im Begriff, fortzulaufen, als sie mit einem großen grauen Filzhut in der Hand eintrat. „Nun kommen Sie, mein Mädchen ist schlafen gegangen, und die Hausthür wird geschlossen sein.“ Als sie die Treppen zusammen hinabgingen, schlug es halb zwölf; ein Zugwind blies das Licht aus. Ihr Kleid rauschte neben ihm auf der Stufe, und er fühlte ihre warme Nähe. Wieder ergriff es ihn wunderlich. Vielleicht war sie Nachts wieder, was sie eigentlich war, flog es ihm durch den Kopf. Er tastete leise nach ihr, umfing sie plötzlich und küßte die Ahnungslose auf die Lippen. „Für all' die süßen Lieder,“ hauchte er, „leide es nur! Muß ich nicht auch all die Träume leiden?“ Sie hatte ihn schnell zurückgedrängt und das Licht wieder entzündet. „Gehen Sie,“ sagte sie traurig, ohne die Augen zu erheben, „das war nicht recht, wir werden uns nicht wiedersehen.“ — Sie betonte die letzten Worte, so daß sie einem Befehl gleichkamen, reichte ihm auch nicht mehr die Hand, wie verlangend er die seine ausstreckte, sondern schloß hastig die Thür hinter ihm. Dann aber stand sie noch eine Weile, auf den Schritt horchend, der drüben verklang. Als sie hinaufging, fiel eine große Thräne mitten in die Kerzenflamme hinein, daß sie ausknisterte und fast verlöscht wäre. Peterl stand an der halboffenen Stubenthür. Sie nahm es und preßte das runde Köpfchen an ihre nasse Wange, die langsam erröthete. „Du gutes dummes Thier, was hast auch an¬ gestellt,“ seufzte sie, „kannst denn garnicht bei mir bleiben?“ Sie wiederholte die Frage noch ein paar¬ mal, während sie Bücher und Noten zusammenlegte und sich zum Schlafengehen anschickte. Draußen tobte der Frühlingssturm und riß an den Fenstern. — Der Schlaf nimmt nicht immer das Bewußtsein; oft bleibt uns nach heftiger Gemüthsbewegung die frohe oder trübe Empfindung alle Nachtstunden hin¬ durch, und am Morgen bedarf es keines Besinnens — noch eh' die Augen offen sind, wissen wir, was uns freut oder fehlt, was gewonnen oder verloren ist. Alfred erwachte mit dem Gefühl, daß sein Tag öde, sein Leben von heut ab trübe und schwer sei, und er war so ungeübt in dieser Empfindung, daß sie ihn auch körperlich niederhielt. „Wenn es so hergeht, wenn nichts ist, was es scheint,“ seufzte er, „dann ist ja alle Freude Trug! Solch eine Stimme und — solch ein Gesicht! O, es muß ein Teufel dahinter stecken, daß man die Augen weiter aufthut, als nöthig ist, und nachher ist Alles hin.“ Auch sein Betragen fiel ihm schwer aufs Herz. Sie war so gütig geblieben, wie eine Erwachsene, die einen wilden Knaben vor sich sieht. Sein unver¬ hohlenes Erschrecken im Anfang, seine unzusammen¬ hängenden Entschuldigungen, seine besinnungslose Keckheit, — sie hatte Alles mit lächelnder Nachsicht hingenommen. Nein, das Letzte doch nicht, da hatte sie gesagt: „Das war nicht recht.“ Warum auch hatte er sie geküßt! Es war ja schon nach der Ent¬ zauberung. Und doch war er sich bewußt, auch darin ganz seinem Gefühl gefolgt zu sein. Es war nicht recht, aber falsch war es auch nicht. Sein Herz war übergeströmt gegen sie in Liebe und Haß, ja auch Haß, daß sie dem Bilde nicht glich, welches er sich von ihr gemacht. Und in dieser gemischten Empfin¬ dung hatte er sich hinreißen lassen. Und es war doch ein Kuß gewesen, als sei sie schön. Er fühlte es noch weich und duftig an seinen Lippen. Freilich, als sie dann wieder das Licht entzündet — Er war wie in einem Ring gefangen und stieß sich darin müde und matt. Zuletzt überredete er sich, das sei die Strafe für seine Widerstandslosigkeit. „Im ersten Gefecht schon besiegt,“ würde sein Lehrer spotten, wenn er es wüßte. Was hatte er nach den Frauen zu gaffen. „Und gar nach häßlichen!“ würde sein Lehrer sagen. Der hatte eine Kellnerin gehei¬ rathet, freilich eine schöne; sein bestes und beständiges Modell, wie er selbst bekannte. Voll Unlust ging er endlich auf die Straße, weil er es so allein mit sich nicht aushalten konnte. Vor der Hausthür gegenüber stand ein Wagen, der Kutscher legte eben einen Reisekoffer zurecht; seine Wirthin stand mit der Emerenz, die einen Reisesack in der Hand hielt. „Das Fräulein verreist auch wieder,“ sagte sie zu ihm im Vorbeigehen, „da wird's Peterl nimmer zu Ihnen kommen, 's geht mit. Da schaug'ns.“ Emerenz öffnete den Reisesack ein bischen, da war nichts weiter drin, als das wohlbekannte Kätzchen. „Verreist?“ fragte er betreten, „die Sängerin?“ „Sie ist keine Sängerin, aber sie singt arg schön,“ erwiderte die Frau. „Sie geht zu ihrer Schwägerin, die ist krank. A guts, guts Fräulein, wenn Eins krank ist, gelt Du, Emerenz?“ Das Kind nickte eifrig und schaute in das Haus zurück. Da kam sie die Treppen herunter. Er wandte schnell die Augen ab und stürmte um die Ecke, er wußte selbst nicht warum. — Nun muß es anders mit mir werden, nun muß das abgethan sein, dachte er. Er ging in die An¬ tikensammlung und vertiefte sich ganz ins Anschauen. Auch entschloß er sich, ein Empfehlungsschreiben des Bildhauers in Hamburg an einen Kunstgenossen ab¬ zugeben. Der nahm ihn freundlich auf, über Er¬ warten; einen Gehülfen brauche er zwar im Augen¬ blick nicht, aber er solle nur ins Atelier komme, so oft es ihm beliebe. Leider war dieses Meisters Kön¬ nen nicht nach Alfreds Geschmack. Diese handhohen Rokokofigürchen mit den Blumenkörbchen und schiefen Hütchen, diese tragikomischen Katzengruppen, so ge¬ schickt sie gemacht waren, erschienen ihm wie Zucker¬ bäckerkunststücke, und er staunte innerlich über den Eifer und Stolz, womit der Mann, der sich Bild¬ hauer nannte, diese Zierlichkeilen verfertigte. Seine Entwürfe gingen immer ins Große. Aber der be¬ häbige Meister meinte ganz trocken, seine Püppchen seien weit einträglicher, die könne ein Jeder brauchen, auf Schreibtisch oder Kommodenkasten. Zur Be¬ kräftigung dieser Wahrheit führte er ihn eines Sonn¬ tagsnachmittags vor sein hübsches Gartenhaus, das ihm seine Miniatur-Kunst eingebracht hatte. Es trug denn auch dasselbe zuckerige Gepräge, wie Alles, was er machte, war mit Säulchen, Thürmchen, Amoretten¬ fresken und Figuren in Nischen überreich verziert, und an einem Springbrünnchen im Garten saß, wie eine lebendig gewordene Puppe ihres Papas, die Tochter des Bildhauers in einem kurzen hochgebauschten Röck¬ chen, das unvermeidliche Blumentellerchen auf dem kurzen Lockenwerk. Sie hieß Fräulein Appolonia oder „Loni“, wie sie sich selbst vorstellte, war siebzehn Jahre alt, wie sie hinzufügte, und hatte ein pikantes Gesichtchen mit hochgeschwungenen Augenbrauen und tiefrothem Mündchen, wie Jeder sehen konnte. Sie begrüßte den jungen Hamburger so unbefangen, als kenne sie ihn seit Jahren, ließ sich aber nicht stören in ihrer Beschäftigung, eine Hand voll blauer und gelber Krokus, die sie eben gepflückt hatte, zu einem Sträußchen zusammenzubinden und an ihr rothes At¬ lasmieder zu stecken. Kaum aber saß es dort, so nahm sie es wieder herunter und sagte kopfschüttelnd: „Es paßt nicht, ich werf's fort, oder wollen Sie es haben?“ Dabei legte sie ihm die kaum aufgeblühten, aber schon halbwelken Krokus in die offene Hand. Alfred hatte Blumen sehr gern, die zarten Frühlings¬ kinder am liebsten. „Nicht, nicht!“ bat er die kleine Zerstörerin, die sich schon wieder zu dem Beet gebückt hatte, „sehen Sie, wie sie sich an der Sonne freuen, wie sie alle Kelche weit geöffnet haben.“ Das Mädchen sah ihn erstaunt an: „Morgen gibt's wieder neue, die machen noch lang' fort; ich nehm' jetzt nur die gelben, weil's Violett nicht zu dem Roth da geht.“ An den Stachelbeerhecken schimmerten die grünen jungen Blättchen, hin und wieder war schon eine der bescheidenen bräunlichen Blüthen ausgeschlüpft. Vor Alfreds Seele stand plötzlich der kleine Garten seiner Kindheit, der Fliederbusch, der wilde Wein an der Laube und sein Kinderentzücken über die ersten grünen Stachelbeerblättchen. Dort war es schön gewesen. War es das? Hatte er sich nicht Jahr für Jahr weggesehnt von dort? Und nun schien er sich so fremd in der Welt, „so allein wie ein Stein“, wie ein altes Lied sagt. „Aha, da kommen sie ja! Der Muckerl und der Storch, und der Kanonenjockel, guten Tag, Jockerl — und der Herr Baron und der Bub', gieb e Patsch, Bub', au! nit so derb! Ja, wo ist denn der Papa?“ Die Ausrufe kamen von Fräulein Loni, die in¬ mitten eines Kreises von fünf jungen Männern stand, die eben hereingetreten waren. Alfred suchte mit den Augen nach dem „Buben“, doch konnte er keinen erblicken, auf den die Bezeichnung gepaßt hätte. „Da ist noch Einer,“ hörte er jetzt Loni sagen und dann „schau'ns, da steht er; ach bitt' schön, Herr, wie heißen Sie doch gleich? ich möcht' die Herr¬ schaften mit einander bekannt machen.“ Alfred trat etwas verwundert näher und hörte nun fünf Namen, die aber von seinem Trommelfell vorläufig gleich wieder abprallten. Es war weder ein Herr Storch noch ein Baron darunter, doch schloß er bald, daß der Ueberschlanke, der ihr zur Rechten stand, von dem Fräulein mit dem Vogelnamen ausgezeichnet worden. Der, den sie jetzt wieder „Bub“ nannte, hatte einen stattlichen Schnurrbart, den er beständig zauste. Sie hatte das Busensträußchen eben wieder abgenommen und ver¬ theilte die Blumen, wozu sie allerlei muthwillige Sprüche sagte, die zwar meistens gar keine Beziehung zu ihr oder diesen Männern hatten, aber doch laut belacht wurden. Zuletzt hielt sie nur noch ein leeres Zweiglein, das als Stiel gedient hatte, in der Hand. Sie reichte es mit einer graziösen Verbeugung Alfred hin und summte dazu: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang“ — „Fräulein, Fräulein, das hat ja der Luther ge¬ sagt,“ unterbrach sie ein kleiner Schwarzhaariger mit scherzhaftem Fingerdrohen. „Der Luther?“ fragte sie zweifelhaft, „warum nicht?“ „Der Luther war doch ein Ketzer!“ ermahnte der Schwarze unter dem Lachen der Uebrigen. „Ach geh, Muckerl,“ rief das Fräulein, den Kopf zurückwerfend, „das haben unsere katholischen Herren lang' gewußt, eh sie's der Luther gelehrt hat.“ Wieder lachte Alles. „Aber hat denn der Luther Euch Katholiken gelehrt?“ fragte der Schwarze in scheinbarer Ver¬ wunderung. Die Kleine gerieth in die Enge. „Geschwätz!“ sagte sie, mit dem Fuß auf den Kiesboden stampfend. „Wer hat wen was gelehrt? Ich nicht, mich nicht. Mich hat Niemand nix ge¬ lehrt. Muckerl will wieder anbinden. Ich laß ihn stehn.“ Sie bückte sich zu dem Springbrunnen, als wolle sie eine Hand voll Wasser schöpfen. Der, den sie Muckerl genannt hatte, wich in komischer Eile zurück. „Wein! von Wein war die Rede, Wasser liebt Niemand!“ betheuerte er. „Und Ihr kriegt doch nur ein Bier!“ sagte Fräulein Loni mit tiefschmollender Miene. „Ist gut genug für Euch.“ Sie huschte die breite Treppe zu dem Garten¬ hause hinauf und machte noch droben eine kleine Faust nach rückwärts. Die jungen Männer lachten noch immer, nur „Muckerl“ sah Alfred mit einem sonderbar gemischten Blick an und sagte plötzlich, vor ihm stehen bleibend: „Nicht wahr?“ Und Alfred verstand merkwürdiger Weise, was das heißen sollte, und nickte mit einem Seitenblick nach dem Hause zu. Der Schwarzhaarige trat ihm noch näher, zog die Mundwinkel tief herab und sagte gedämpft: „Keine Mutter gehabt.“ Alfred nickte wieder und sah mit Antheil in das jetzt tief bekümmerte Gesicht des Andern. Es war scharf und fein, mit einem Zug des Leidens; der volle Bart, schwarz wie das Haupthaar, ließ die Züge noch bleicher erscheinen. In den grauen Augen aber schien ein Schalk verborgen, der manchmal hell hervorblitzte. „Ein schönes Mädchen,“ sagte Alfred, mehr um ihm einen Gefallen zu thun, als aus Ueberzeugung. „Sehr! sehr!“ seufzte der Andere. „Sie sind wohl auch hergekommen, ihr das zu sagen, wie all' die andern Sommerwesten da?“ Alfred mußte über den betrübten Ton lächeln. „Wo Blumen blühn, da stiegen Schmetterlinge.“ „Thun Sie's nicht!“ bat Jener mit einem drin¬ genden Blick in seine Augen, „so ein Blümchen hat nur einen Kopf, und der ist bald verdreht!“ „Soll ich Ihnen ein Versprechen geben?“ lächelte Alfred, „soll ich Ihnen sagen, daß sie mir nicht ge¬ fährlich werden kann?“ Der Andre wehrte mit bedenklichem Gesicht. „Zuviel! nichts verschwören, das ruft die Rache der kleinen Teufel wach. Sie kennen sie noch nicht, haben sie noch nicht gesehen in stillen Augenblicken, ohne diesen Hofstaat, — wie ich.“ „Ich will's trotzdem versprechen,“ sagte Alfred in so ehrlicher Bereitwilligkeit, daß nun der Andre lachte „Gut, gut, ich danke Ihnen; erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Max Wolff aus Würzburg; ich heiße nicht Muckerl natürlich,“ — er erröthete Frapan , Bittersüß. 3 leicht, „die Kleine hat diesen Namen für mich aus¬ gedacht, weil ich ihr manchmal den Text lese; ich bin der einzige Protestant, den sie kennt, und obgleich sie keine rechte Idee von dem Unterschiede hat, nennt sie mich doch auch manchmal „Ketzerl“. Er erröthete wieder. „Sie ist nicht wie Andre, es ist keine Bos¬ heit dabei, Sie dürfen das glauben,“ sagte er eifrig, „ich könnte Ihnen Züge erzählen, Züge von Güte — o nicht gegen mich, — nein, darauf gründe ich meine einzige Hoffnung, sie kann mich nicht ausstehen — das ist doch immerhin eine Auszeichnung.“ Alfred streifte ihn mit einem verwunderten Sei¬ tenblick. O diese Liebe! Ein ernsthafter Mann mit einem großen Bart, gewiß zehn Jahre älter als er, und ganz erfüllt von diesem kleinen Mädchen! Es ist doch etwas Unheimliches, dachte er. Und zugleich sehnte er sich, diesen unheimlichen Zwang auch ein¬ mal im vollen Umfang an sich zu erleben. Der Kuß auf der Treppe fiel ihm wieder ein. Es schoß ihm heiß durch die Glieder. Das hier war doch Alles nur Spielerei. Das Fräulein trat wieder aus dem Haus, hinter ihr das Mädchen mit einem Brett voll Bierkrügen. Zuletzt erschien der Vater auf der Treppe und rief in den Garten hinab: „Bier! Bier!“ Ein zustimmender Ruf antwortete, und die jun¬ gen Leute stiegen zu der Veranda hinauf, wo auf dem Steintisch auch Brot und frische rothe Radies¬ chen aufgestellt waren. Im Nu saß Jeder hinter sei¬ nem Bierkrug. Alfred sah das Fräulein schärfer an, sie war doch sehr anziehend mit dem warmen Puppen¬ gesichtchen. Freilich saß sie mit gekreuzten Füßen, die Arme übereinandergeschlagen und schien unabsicht¬ lich oder absichtlich Alles nachzuahmen, was die jun¬ gen Männer thaten. Sie gab sich auch den Anstrich, ebenso durstig zu sein, setzte ihren Krug prahlerisch an den Mund, trank aber doch nur ein paar Tropfen jedesmal. Es kam die Rede auf einen bekannten Offi¬ zier. Sofort fing sie an, seine Sprechweise nach¬ zuahmen, schleifte das R, wie ein Lieutenant, sprach durch die Nase und klemmte das Auge zu, als säße ein Monocle darin. Das Lachen der Zuhörer erhöhte ihre Ausgelassenheit. Sie stülpte dem „Buben“, mit dem sie am dreistesten umging, ihr Blumenhütchen auf den Kopf, schlang ihm ein buntseidenes Tuch um die Schultern und begann nun, eine schmachtende Liebesrede an ihn zu richten, immer in karrikirtem Lieutenantsdeutsch. Ihr Vater hielt sich die Seiten vor Lachen. „So ein Sonntagnachmittag auf dem Lande stellt mich allemal wieder her,“ sagte er behaglich zu dem neben ihm sitzenden Alfred. „Alle lachen, nur der Muckerl nicht,“ bemerkte Fräulein Appolonia herausfordernd. 3* „Daher der Name,“ erwiderte Wolff lakonisch. „Ein wüster Name,“ sagte sie achselzuckend. „Den Sie mir gegeben haben,“ parirte er mit einer Verbeugung. „Paßt er nicht?“ fragte sie unschuldig. „So gut wie Ihnen die Uniform paßt er schon.“ Sie sah zweifelnd ihren Vater an. „Papa, ich glaub', Muckerl will wieder anbin¬ den, wir zwei haben immer Händel,“ sagte sie in weinerlichem Ton. „Da sitzt das Karnickel,“ entgegnete ihr Vater phlegmatisch und legte die Hand auf ihr krauses Köpfchen. „Laß doch Jeden 'n Gesicht hinmachen, wie er will.“ Wolff zuckte ein wenig: „Fräulein sieht mein Gesicht nicht gern,“ sagte er resignirt; dazu machte er eine Bewegung, als wolle er aufstehen. Das Mädchen blickte schnell auf. „Meinetwegen sollen Sie nicht gehen, ich geh' schon selbst,“ rief sie halb weinend, schob ihren Stuhl zurück und eilte in das Haus. „Was war das nun wieder!“ sagte der Vater kopfschüttelnd. „So 'n Mädel bleibt doch ewig 'n Mädel.“ Eine Unbehaglichkeit fing an, sich zu verbreiten. Man sprach wohl noch, aber dazwischen horchte man doch auf den leichten Schritt, der wiederkommen sollte. und nicht kam. Alle athmeten auf, als plötzlich ein wüthender Walzer aus den oberen offenen Fenstern erklang. Der Alte schoß einen Triumphblick zu Wolff hin¬ über, der unruhig auf seinem Sitz hin und her ge¬ rutscht war. Nun stand er auf, ging die Stufen hinan, so daß er von oben gesehen werden konnte, und fing ein lautes Händeklatschen und Bravorufen an, in das die noch Sitzenden bald einstimmten. Das Klavierspiel verstummte, das Fräulein streckte neu¬ gierig das Hälschen zum Fenster heraus, zog es aber gleich wieder zurück. „Wiederkommen! Artig sein!“ rief Wolff hinauf. „Wer soll artig sein?“ fragte sie noch ein bis¬ chen gereizt. „Ich natürlich! Will's gewiß nicht wieder thun,“ antwortete er in komischer Zerknirschung. Das Spiel oben begann von neuem, sie schien noch nicht zur Versöhnung geneigt. Wolff und Al¬ fred schlenderten in den schmalen Steigen umher, ohne zu sprechen; auf dem Gesicht des Aelteren lag eine gewisse Unruhe. Er warf plötzlich die Cigarre fort und sagte: „Und darauf hat man sich nun die ganze Woche gefreut!“ Von der Veranda her kam lautes Gelächter; sie sahen sich um und erblickten Fräulein Loni, die mit einer großen Stange in der Luft herumfocht. „Was hat das tolle Ding jetzt wieder?“ fragte Wolff, während er, wie von einem Faden gezogen, auf das Haus zuging. „'s ist nur mein Bergstock,“ meinte sie gelassen und stützte sich darauf, „ich geh' auf den Berg da, zu den Veilchen, man muß doch was in die Hand zu nehmen haben.“ Der „Berg“ war eine kleine Anhöhe hinten im Garten, es stand auch eine Bank dort. Die jungen Leute sahen sich einen Augenblick kopfschüttelnd an, dann rief der „Bub“: „Ich darf doch mitgehen in die Berg'?“ Und als sie gnädig nickte: „Und den Stock da gebens mir und stützen sich auf mich!“ „Da wär' mir der Storch lieber, der ist dünner,“ erwiderte sie gemächlich. Der Schlanke trat eilig vor und hielt ihr den zierlich gekrümmten Arm hin. „Nein, nein, ich könnt' Ihnen was zerbrechen,“ lachte der Wildfang, stieß den Bergstock unten in den Boden und flog mit weitem Schwung hinterdrein, „ich hab' schon manche Bergtour allein gemacht, bleibt nur alle da.“ Dies galt als Aufforderung, zu folgen, nur ihr Vater blieb mit einem sehr wohl¬ genährten Jüngling am Tisch sitzen, es war der fri¬ sirte Lockenkopf, den sie Jockerl geheißen hatte. Wolff nahm seinen Hut und flüsterte Alfred zu: „Jetzt kann ich nicht mehr, und Sie scheinen auch genug zu haben, kommen Sie mit?“ Beide verabschiedeten sich von dem Alten. „Und dem Fräulein sagen wir nicht Adieu?“ fragte Alfred befremdet, als Wolff ihn schnell der Gitterthür zudrängte. „Nachher, — das heißt. Sie — Sie haben ja kein Interesse daran“ — stotterte Wolff, — „ich aber komme zurück zum Gutenachtsagen, ich mache das immer so — leider! Ich hoffe immer, sie soll mich vermissen,“ fuhr er sarkastisch fort, „aber dann bin ich solch' ein Tropf, sehen Sie, dann lauf' ich nach zwei Stunden wieder her und will sehen, wie sie's aufgenommen hat, und dann, so wie sie mich sieht, natürlich, sagt sie: „Ach Muckerl, sind Sie noch da?“ oder so etwas, daß ich aus der Haut fahren möchte, 's ist grad' so, wie ich als kleiner Bub gethan hab', da ich meine Erbsen und Bohnen jeden Tag aus dem Boden genommen hab', um zu sehen, ob sie schon wachsen. Aelter wird man schon, klüger wird man nicht. Ich gäb' Gott weiß was drum, wenn ich jetzt aus meiner Haut da herausfahren könnt'!“ Die Zutraulichkeit dieser Klagen machte den Zuhörer kühn. „Sie sollten sich aber doch nicht so gehen lassen, Sie sollten Ihren Stolz zu Hülfe rufen, — ein Mann —“ „Ach Du lieber Gott,“ stöhnte Wolff, „lassen's mich aus mit dem Gered' da. Was Stolz gegen so ein kleines armes Kind, — denn das ist sie ja! Geht's ihr nicht elend genug? Hat sie denn nur einen Menschen auf der Welt? Ist das ein Vater? Ist das ein Umgang? Buben, die ihr den Kopf verdrehn und ihre Hanswurstenstreiche auf allen Gassen herum¬ tragen! Fragen Sie mal bei den jungen Malern herum, wer die Loni Spitzer nicht kennt! Alle ken¬ nen sie, die meisten freilich vom Hörensagen, und das ist das Schlimmste.“ Er ergriff plötzlich Alfreds Hand. „Sie werden nit einstimmen! Sie werden ihr nichts anhängen!“ sagte er mit halberstickter Stimme. Alfred drückte herzlich die ihm gebotenen Finger. Auch ihm war die Rührung bis in den Hals ge¬ stiegen. Das war nicht mehr der unheimliche Zauber, der diesen Mann gefangen hielt, das war eine herzen¬ verbindende Kraft. Sie waren einige Straßen weit miteinander ge¬ gangen, nun ward es Abend. Die schmale Mond¬ sichel tauchte aus dem Sonnenuntergangsnebel und schimmerte durch die Ulmenkronen mit ihrem braunen Blüthengekräusel. Ein frischer Wind streute die grü¬ nen Ahorndolden auf den Boden, ihr Honigduft kam in Wellen angetrieben; in dem noch winterschwarzen Epheu an den Hauswänden lärmten die Spatzen. Wolff blieb stehen und zog die Uhr. Dann sagten Beide mit dem gleichen lebhaften Ton und Aufblick: „Wann sehen wir uns wieder?“ Und schnell be¬ schlossen sie, daß es schon morgen sein solle, in Wolff's Atelier. Mit festem Händedruck schieden sie; der Ver¬ liebte kehrte auf seinem Wege um — und zu dem Spitzer'schen Hause zurück, nicht ohne viel ironisches Kopfschütteln über sich selbst und den Rath an den neuen Freund, seine Freiheit festzuhalten; Alfred schlenderte noch ziellos weiter. Der sanfte Abend hatte es ihm angethan; dazu all' dies Liebesgesäusel. Der Gedanke an seinen kahlen Käfig schreckte ihn mehr als je — ach, es drang keine holde Stimme mehr herein, es kamen keine Götterbilder mehr zu Besuch. Eine stille Sehnsucht nach den Abenden, da er ihr zugehört, ergriff ihn, als habe er nur damals wirk¬ lich gelebt — die Erinnerung an die ihm wider¬ fahrene Enttäuschung drängte er gewaltsam zurück, sobald sie wieder aufsteigen wollte. Er gerieth zu¬ letzt in eine solche Verträumung hinein, daß es ihm deutlich war, als sage Jemand ihm ins Ohr: „Geh nach Hause, sie ist wieder da.“ Er stürmte nun heim und trat klopfenden Herzens in sein Zimmerchen; es war von außen verschlossen, das kam ihm garnicht zum Bewußtsein. Als er ein leises Rascheln hörte, fuhr er zusammen und tastete noch im Dunkeln auf seiner Bettdecke umher, ob nicht etwa das Kätzchen wieder dasitze. Er fand natürlich nichts, nur auf dem Fußboden lag ein Brief, den der Postbote durch die Thürritze geschoben haben mochte. Bei der unruhig flackernden Kerze las er die Adresse; es war seines Meisters Handschrift; er legte den Brief ungelesen bei Seit'. Doch war mit den bekannten markigen Zügen soviel Tageslicht in seine Dämmerung gefallen, daß er sich wieder einmal wie einen Dritten, der ihn nicht viel anging, betrachten konnte. Also weil man das Höchste nicht erreichen kann, zum Faullenzer werden, der überhaupt nicht mehr den Finger rührt; weil man auf eine schöne Stimme gehorcht, die leider einem häßlichen Körper gehört, sich einreden, man sei ver¬ liebt, natürlich hoffnungslos, unglücklich! So also hat das Leben bei meinem ersten Ausflug auf mich gewirkt; so schwach findet es mich. Bin ich aber schwach, so tauge ich nichts und thäte gut, mich sel¬ ber zu begraben. Hab' ich dazu Lust? Ach nein, auch das nicht! Was will ich denn? Nun, etwas leisten und glücklich sein! Gut, so fange an lieber zu arbeiten, gleich morgen schon! Und verliebe Dich nicht wieder in eine Stimme ohne Körper. Die Stimme ist Dir aus dem Weg gegangen, Du hast's ja leicht; nun geh Du auch aus dem Wege, und Du bist wieder frei. Er seufzte, nickte ernsthaft vor sich hin und griff dann nach dem Brief, der ihm jetzt, in dieser gesam¬ melteren Stimmung, viel Beherzigenswerthes und Zu¬ stimmendes sagte. — Er ging endlich schlafen und träumte. Es kam singend die dunkle Treppe herunter und fiel ihm weich und warm in die Arme. Plötz¬ lich ward Licht, und er erkannte Fräulein Loni, die ihn anlachte, und so erschrak er über ihr niedliches Gesicht, daß er zusammenfuhr und die lange, lange Treppe hinuntersauste wie ein Sturmwind. Der andere Morgen traf unsern Freund in jener unternehmenden gespannten Gemüthsverfassung, die neue Entschlüsse hervorzurufen pflegen. Der Be¬ such bei Wolff machte ihm fast bange; er wollte sich durchaus zur Thätigkeit aufraffen und fürchtete, ein Gespräch mit dem verliebten Genremaler könne seinen guten Vorsätzen vielleicht hinderlich sein. Doch sehnte er sich bald wieder nach einem freundlichen Ohr und ging deshalb zu früher Stunde in das Atelier mit der Absicht, ihn dort zu erwarten. Zu seiner Verwunderung fand er den Maler schon in voller Arbeit; wie dieser ihm mittheilte schon seit Stunden. Ein Modell zu einem Dorfschmied, den er eben malte, war gerade im Begriff, seine rußige Jacke abzuziehen und sich in einen Jäger zu verwan¬ deln, als welcher er im anstoßenden Atelier eine Sitzung zu leisten hatte. Der Maler erwartete, wie er sagte, jeden Augenblick die Kindermodelle, die auf seinem Bilde, an der Thür der Schmiede stehend, erst flüchtig mit Kohle entworfen waren. Alfred freute sich an der schon vielversprechenden Gruppe; besonders ein derber Bube, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, ganz als dunkle Silhouette gegen den Feuerschein drinnen sich abhebend, erregte seinen Beifall durch die Wahrheit und Absichtslosigkeit, die in der ganzen klei¬ nen Gestalt sich aussprach. Wolff malte auch jetzt unverdrossen weiter am Hintergrunde und sprach nur hie und da ein Wort, während Alfred die Rahmen an den Wänden umdrehte, um die Bilder zu be¬ schauen. Es that ihm wohl, den neuen Freund so im Eifer zu finden, und es war ganz ohne Empfind¬ lichkeit, als er ihn endlich fragte, ob er nicht besser thue, wieder zu gehen. „Nein, bleiben Sie noch,“ sagte der Andre bit¬ tend; „ich möchte, daß Sie die kleine Babett sähen, das wäre auch etwas für Sie. Sie müssen gleich kommen.“ Alfred setzte sich in einen wurmstichigen schön¬ geschnitzten Armstuhl und wartete. Allmälig aber fing die Vertieftheit des Malers ihn zu kitzeln an. „Haben Sie Ihren Gutenachtgruß gestern noch angebracht?“ warf er hin. Wolff hob die Hand mit dem Pinsel und drohte ihm lächelnd. „Heute ist Montag,“ sagte er bedeut¬ sam; und als ihn Alfred fragend ansah: „Sonntags die Liebe, und Wochentags die Ar¬ beit, sonst kommt man auf den Hund,“ erklärte der Maler — schon wieder mit den Augen auf der Leinwand. „Sie haben Recht,“ rief Alfred etwas betroffen, „ich möchte mir ein kleines Atelier miethen, anfan¬ gen zu arbeiten. Ich weiß zwar noch nicht, was — Der Maler legte die Palette hin und kam mit ernstem theilnehmenden Gesicht auf ihn zu. „Ich bitte Sie, sehen Sie sich die Babett an, die könnte Sie auf Gedanken bringen. Wenn ich das Ding sehe, fallen mir alle Kindermärchen ein; so ein Rothkäppchen oder Schneewittchen, Sie werden schon wissen, wofür Sie sich entscheiden. Ein Atelier im Nachbarhause ist frei, im Hintergebäude, hell und still, wie Sie's brauchen. Miethen Sie's, wenn es Ihnen zusagt, und dann kommen Sie wieder und sehen sich das Kind an.“ Der Maler hatte mit dem Arbeitskittel einen ganz andern Menschen angezogen. Alfred gehorchte voll Freude. Nun erst wünschte er sich von Herzen zu der Bekanntschaft Glück. Das Atelier, von dem Wolff gesprochen, lag zu ebener Erde und hauchte eine feuchte Kellerluft aus, da es den Winter über leer gestanden hatte; dennoch freute sich der junge Bildhauer auf seinen ersten Ar¬ beitstag in diesem kahlen weißgetünchten Raum, wie auf die erste Zusammenkunft mit der Geliebten. Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden, so eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken und nun womöglich gleich sein Modell zu bestellen. Er hörte schon Kinderstimmen sprechen, bevor er die Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild des netten Kerlchens mit den gespreizten Beinen und nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete sein Kommen. Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er nickte nur und wies dann mit dem Pinsel auf eins der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf einem Schemelchen am Fenster kauerte und, die Arme auf die Kniee gestützt, das Kinn in die Handflächen gelegt, gradaus guckte. Alfred sah bald, daß der Maler Recht gehabt. Es war ein Gesichtchen, auf dem noch der volle Kinderschlaf lag, nichts von Be¬ wußtsein ihrer selbst. Alfred rief sie heran und sah mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die schlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬ derte sich über die Anmuth, mit der sich die Kleine bewegte. Babett war sieben Jahre alt, wie er müh¬ sam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein schlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt und von den Schultern tief herabhängend, die Schön¬ heit des Kindes stand fast unbekleidet vor ihm. Nein, das war kein Rothkäppchen, kein schelmisches, von der Großmutter verhätscheltes, von der Mutter gut gehaltenes Dirnlein. Auch kein Schneewittchen, kein schwarzhaariges, trauriges Königskind; — das war die Schönheit im Bettelkleid, die noch reich ist, weil sie ihre blauen Augen hat und den blauen Himmel über sich. „Hast Du kein Tuch, Babett?“ sagte der junge Bildhauer mitleidig. Das Kind schüttelte die vollen blonden Locken. „Hab ich Dir nicht Freitag eins gegeben?“ rief der Maler sich umdrehend. Die Kleine zeigte auf ein anderes Mädchen, das sich plötzlich ängstlich zusammenduckte, als erwarte es etwas Schlimmes. „Die Luis' hat's. Sie hat kalt gehabt.“ „Und Dich friert's nicht, Babett?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sternthaler,“ sagte Alfred für sich, „das ist es, freilich! könnt ich nur gleich anfangen.“ Er nahm ein Blatt Papier und fing an zu zeich¬ nen, um nur seine Ungeduld gleich etwas zu be¬ schwichtigen. Dann lief er wieder in den neuerwor¬ benen Raum und besichtigte den Ofen, bestellte eine Menge Feuerung und heizte endlich selbst, damit der Ort bald bewohnbar werde. Mit einer großen Er¬ leichterung erfuhr er, daß Wolff die Babett jetzt nicht zu malen gedenke; er hatte das Kind erst zu spät ge¬ sehen, das paßte nun nicht in die fertig geplante Gruppe; zudem war seine Lieblichkeit dort zwecklos, wie der Maler sagte, er sparte sie sich für später. So konnte denn Alfred wirklich am folgenden Tage beginnen und that es mit einem Fieber, das dem älteren Freund „rührend dilettantisch“ vorkam. Aber Alfred stutzte nicht ob des bösen Wortes. „Warten Sie nur,“ sagte er gutmüthig, „ich weiß schon, wir Norddeutschen kommen Euch ein bis¬ chen dumm vor mit unserer „unkritischen Begeiste¬ rung,“ wie Ihr sagt, und Ihr traut ihr nicht. Aber wie kritisch Ihr Euch immer anstellen mögt, 's ist auch nur äußerlich, und ich weiß doch, wie warm es auch bei Euch drinnen aussieht.“ Und als der Maler immer noch lächelte, rief er fast ärgerlich: „Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie dabei nichts empfunden haben?“ Er deutete so hef¬ tig auf das Bild auf der Staffelei, daß Wolff un¬ willkürlich wie zum Schutz die Hand erhob. Dann klopfte er Alfred auf die Schulter. „Sie sind ein guter Kerl; machen Sie nur das Babettle recht, so will ich mich auch dafür begeistern und Ihre Ge¬ sundheit trinken.“ Machen Sie's recht. Ja, das war freilich leicht gesagt! Es schien von Tag zu Tag schwerer zu wer¬ den. Alfred theilte seine Zeit zwischen Arbeit und Studium in den Sammlungen. Jeden Morgen be¬ gann er mit leiser Hoffnung, daß ihm heut etwas Gutes gelingen müsse, und die Hoffnung ward zur beglückenden Ueberzeugung, wie die Stunden ver¬ rannen. Mit heißen Wangen, mit gehobenem Selbst¬ gefühl beendete er die Arbeitszeit. Dann kam der Nachmittag und mit ihm der Umschwung. Vor den fertigen Meisterwerken schwand sein eignes Beginnen in ein lächerliches Nichts zusammen; die Zerschmette¬ rung jenes ersten Besuchstages wiederholte sich, wenn auch nicht so ganz vernichtend, weil sie nicht mehr so neu war. Sein Lehrer in Hamburg hatte an ihm eine gewisse unbefangene Keckheit gelobt, ja zuweilen bewundert. Die kam ihm hier ganz abhanden. Alles ward Vorsicht, Absicht. Statt des flotten Zugreifens ein ängstliches Tasten, eine qualvolle Un¬ sicherheit, die bald nicht mehr aus noch ein wußte. Er blieb aus dem Atelier des Malers fort, beschränkte sich ganz auf sich, wollte erzwingen, was sich nur mühsam Schritt für Schritt erarbeiten läßt, und quälte die geduldige Kleine mit endlosen Sitzungen, daß sie darüber blaß und schläfrig wurde. Als er es acht Tage so getrieben hatte, trat eines Nachmittags Wolff in die von allen heiteren Geistern verlassene Arbeitsstätte. Alfred warf mit un¬ Frapan , Bittersüß. 4 ruhigem Erröthen ein Tuch über sein Thonmodell und bemühte sich, den Maler auf die andere Seite zu locken. Doch Jener ging ruhig auf das verhüllte Werk zu und betrachtete es eine Weile schweigend, während der junge Bildhauer hastig auf und ab lief. Wolff hatte schon an der Begrüßung empfunden, wie es hier stehe, und daß ermuthigender Zuspruch eine Lebensfrage bedeute. Er fing an, dies und jenes zu loben, rieth ihm aber dann, die Arbeit, an der er sich offenbar müde gesehen, eine Weile ruhen zu lassen und irgend eine andere Aufgabe zu wählen. Alfred athmete auf; er drückte dem Freunde lebhaft die Hand. Dann erzählte er ihm von seinen täglichen Leiden; der Maler nickte wie zu etwas Längstbekanntem. „Sie sind noch nicht weit genug, um den freien Genuß und Nutzen davon zu haben. Machen Sie jetzt etwas, und gehen Sie inzwischen nicht in die „Theken“, es wird besser sein. Und wenn Sie jetzt Zeit haben, kommen Sie mit auf einen Spaziergang, ich möcht' mit Ihnen reden.“ Alfred entließ Babett, die, müde sich dehnend, in einer Ecke stand. Sie gingen hinaus und quer durch die Stadt, den Isarauen zu. Die jungen Uferweiden schimmerten in hellem Grün; doch war es kühl und menschenleer auf den kiesbestreuten Wegen. „Ich muß reisen,“ sagte der Maler, „gleich mor¬ gen früh; ich hab' eine schwindsüchtige Schwester da¬ heim, die wird wohl in, dem Frühjahr draufgehen, schreibt mir die Mutter. Man weiß nicht, wie lang es an¬ stehen kann, — ich möcht sie noch sehen. Vielleicht mal' ich sie für die Mutter, sie hat immer danach verlangt, ihr zartes Gesicht zu haben.“ Er schwieg; der Leidenszug trat heute deutlich hervor, sein gelassener Ton kontrastirte seltsam damit. „Ach, wie das traurig ist,“ sagte Alfred herzlich. „Ja, aber es hilft nicht, es ist nun schon so; wir haben's seit drei Jahren kommen sehen, daß es so geht, aber hin will ich noch.“ Er sah den Bild¬ hauer mit zuckendem Munde an, als wolle er noch etwas sagen. „Kann ich irgend etwas thun?“ — rief der, seine warmen kindlichen Augen halbschließend, damit der Andre nicht sehe, daß eine Thräne darin stand, „Gehen Sie manchmal zum Spitzer, und geben Sie Acht auf die Loni,“ erwiderte Wolff, „nicht wahr, Sie sind nicht angebrannt?“ „Seien Sie meiner ganz sicher,“ sagte Alfred ehrlich betheuernd. „Nun also; sehen Sie dort nach dem Rechten, Sie wissen ja, wie's hergeht, haben's ja selbst ge¬ seh'n. Ich möcht's nicht erleben, daß sie sich etwa mit dem „Buben“ oder dem „Storch“ in eine Liebes¬ 4 * geschicht' einlaßt, aus der ich sie nachher wieder her¬ ausschälen müßt.“ Alfred sah ihn etwas verwundert an. „Ich hab' die heimliche Ueberzeugung, daß sie mir zuletzt zufallen muß,“ sagte der Maler nachdenk¬ lich, „denn die Buben alle geh'n nur des Lachens wegen hin. Freilich, der Alte ist nicht unbemittelt, wer weiß — und die Loni könnt 'nen dummen Streich machen und sich aus Langerweil anbinden. Das muß verhütet werden.“ „Aber wär' es nicht besser, Sie sprächen mit dem Fräulein vor ihrer Abreise?“ Ueber Wolffs Gesicht flog ein leises Roth. „Nein,“ sagte er abwehrend, „so weit sind wir noch nicht. Sie ist so gar jung, was würd' sie zu solch' einem Gesicht sagen; und kann doch im Augen¬ blick kein anderes hinmachen, selbst ihretwegen nicht; ich geh nicht mal zum Abschiednehmen hin. Ich hoffe, sie soll mich vermissen!“ Alfred war verstummt; er fühlte sich wie zu¬ sammengepreßt, wie eingeschnürt. „Ach,“ rief er endlich, „und so schlägt man sich, drängt man sich, quält man sich von einem Tag auf den andern.“ „Ja, so lebt man,“ war die leise Antwort. „Leben? Das ist das Leben?“ fragte er in schmerzlicher Verwunderung. „Haben Sie Andres erwartet?“ sagte Wolff mit¬ leidig lächelnd. „Aber fügen Sie noch hinzu: „Und so gewinnt man Freunde, da klingt's doch gleich a bissel besser.“ Alfred drückte ihm mit einer Art Schwärmerei die Hand. „Werd' ich von Ihnen hören?“ „Ich schick' Ihnen den Trauerbrief, wenn's so¬ weit ist,“ murmelte der Maler. Wieder gingen sie eine Weile schweigend neben einander her. „Ich soll Fräulein Loni Ihre Abschiedsgrüße bringen?“ fing Alfred wieder an. „Wenn sie nach mir fragt, eher nicht; verhin¬ dern Sie nur, daß sie sich verliebt, verlobt u. s. w.; und reden Sie Gutes von mir. — Sie selbst, nicht wahr — —“ Er sah Alfred mit einem langen, prüfenden Blick in die Augen, die ihn sicher und freudig er¬ widerten. „Gut Freund,“ wiederholte der junge Bildhauer ernst, „Sie dürfen mir vertrauen.“ Mit einem festen Händedruck sagten sie sich Lebe¬ wohl. — — — Alfred Heuvels war seit jenem Sonntag nicht in der Villa Spitzer gewesen und hatte nur den Alten einmal in seinem Atelier unter den Rokoko¬ dämchen besucht. Jetzt war er verpflichtet, sich nach dem närrischen Fräulein umzusehen. Es war im Grunde ein recht sonderbarer Auftrag, den ihm der Freund da hinterlassen, und Alfred ging mit nicht sehr behaglichen Empfindungen hinaus. War er doch ein ganz Fremder dort im Hause und hatte sich in jenen Stunden keineswegs wohl gefühlt. Wie sollte er sich dem verzogenen Kinde nähern, ohne falsche Voraussetzungen zu erwecken? Sie nahm es so selbst¬ verständlich hin, daß ihr Jeder seine Huldigungen brachte. Und wenn er sich's recht überlegte, schien ihm das auch die beste Umgangsform mit ihr zu sein. Er aber sollte vernünftig mit ihr reden und sie be¬ aufsichtigen! Eben das hatte ja auch der Wolff ver¬ sucht, und es war ihm so elend mißlungen. Mit heimlichem Widerstreben dachte Alfred daran, daß sie nun auch ihm irgend einen Spottnamen anhängen und ihn so hitzig behandeln werde wie das „Muckerl“. Es war ihm garnicht recht geheuer, als er jetzt die Glocke an der Gartenpforte zog; und als endlich das Mädchen mit einer kleinen Laterne herauskam und ihm meldete, der Herr sei noch nicht daheim, und das Fräulein sei in einer italienischen Stund', zog er ganz erleichtert seine Karte heraus und empfahl sich eilig. Er hatte diese späte Stunde gewählt, um nicht zuviel Arbeitszeit zu verlieren. Denn er hatte das Relief¬ porträt eines charakteristischen alten Männerkopfs begonnen und war in seinem gewohnten Anfangs¬ fieber. Um sich in der Stimmung zu erhalten, hatte er diesmal Wolffs Rath befolgt, nichts andres in¬ zwischen zu sehen, und war bis zum Dunkelwerden an seinem Werk geblieben. Als die Straße zu Ende war und er in die nächste einbiegen wollte, rannte er fast mit einer Dame zusammen, die eilig daherkam. Wie sie anein¬ ander vorbei wollten, erkannten sie sich. „Ah, Fräulein Spitzer, ich komme grade von Ihnen.“ „Von mir? ach, das ist geschickt, da geh'ns mit mir z'rück, 's ist so arg dunkel,“ rief sie erfreut, „der Papa wollt mich abholen, ist aber net kommen,“ fügte sie hinzu. Alfred verbeugte sich und kehrte mit um, doch hielt er es nicht für loyal, ihr den Arm anzubieten, so freundlich ihn die schwarzen Augen unter dem Kraushaar anlachten. „Sie machen sich rar,“ sagte sie, zu ihm hinauf¬ sehend, „es hat Ihnen, scheint's, nicht bei uns ge¬ fallen.“ „O, wie können Sie denken —“ fing er an. „Es schad't nix,“ begütigte sie, „Sie dürfen meinethalb' nicht lügen. Es thut halt Jeder, was er mag.“ Der Ton war sehr harmlos, aber er reizte doch zum Widerspruch, zum Complimentemachen. „Es kommen mehr Leut', als ich mag,“ sagte sie nun auch schon, da er nicht geantworet hatte. „Wen sehen Sie denn am liebsten?“ fragte Al¬ fred scherzend, — er hoffte auf Wolff zu kommen. „Ja, darüber hab' ich mir noch nie den Kopf zerbrochen!“ lachte sie, ihn mit einem erwartungs¬ vollen Seitenblick streifend. „Ich aber weiß Jemand, der für sein Leben gern jetzt an meiner Statt hier ginge,“ sagte Alfred mit plötzlichem Entschluß. „Das heißt. Sie thun's nit so gern,“ erwiderte sie etwas gereizt; „da schaun's, ich bin gleich z'Haus,“ sie wies mit ihrem Sonnenschirmchen vorwärts. „Sie werden mich doch nicht am Gartenthor entlassen?“ rief Alfred wärmer, als es ihm ums Herz war. Sie nickte nachlässig mit dem Kopf: „Der Papa ist noch nicht daheim, und ich bin arg müd', ich muß schlafen gehn.“ Der Bildhauer biß sich auf die Lippen. „Sie sind heut sehr ungnädig,“ sagte er lebhaft. „Und Sie könnten ein bissel galanter sein,“ gab sie zurück. „Liegt Ihnen so viel daran?“ entfuhr es ihm fast wider Willen. Sie legte den Kopf zurück, drückte die Augen zu¬ sammen und sagte spöttisch: „Sie wollen wohl auch mit mir anbinden? Sie gehen wohl beim Muckerl in die Schul'?“ „Wenn Sie von meinem Freunde reden —“ rief der Bildhauer fast heftig. „So, Sie sind Freunde miteinander, Ihr seid ein Paar!“ sagte sie wegwerfend. Der Zorn stieg ihm zu Kopf. „Ich bitte Sie, seien Sie einmal vernünftig,“ rief er, „Sie sind noch jung, Sie kennen die Men¬ schen noch nicht, aber daß Wolff ein edler, ein seltner Mensch ist, das sollten auch Ihre Kinderaugen schon erkannt haben, falls sie überhaupt die Fähigkeit haben, das Gute und Rechte wahrzunehmen.“ Das Fräulein hatte die nach der Glocke aus¬ gestreckte Hand sinken lassen und ihn eine Weile in sprachloser Verwunderung angestarrt. Sie that einen tiefen Athemzug. Dann sagte sie langsam: „Das ist brav von Ihnen, daß Sie ihn in Schutz nehmen; das muß wohl auch ein Freund thun,“ Sie zog die Klingel und fuhr in demselben gezähmten Tone fort: „Wenn Sie Sonntag kommen wollen, — es wird Ihnen arg langweilig sein, — aber mir machen Sie eine Freud' damit. Auf Wieder¬ sehn!“ Sie stockte, erröthete und reichte ihm das Händchen im seidnen Handschuh. Er fühlte ihren heftigen Pulsschlag, wie er es einen Augenblick fest¬ hielt. Dann eilte sie, ohne ihn anzusehen, an dem Dienstmädchen vorüber und durch den dunklen Gar¬ ten; ihr leichter Fuß klang hörbar auf den Marmor¬ stufen, dann war sie im Hause verschwunden. Mit langsamen Schritten entfernte sich Alfred. Er hatte wohl etwas erreicht, aber er war doch nicht zufrieden mit sich, nein, er war nicht zufrieden! Kaum zu Hause angelangt, schrieb er einen Brief an Wolff, bat ihn, den Auftrag von ihm zu neh¬ men; er sei ungern bei den Spitzers und nicht die geeignete Person, Fräulein Loni zu beeinflussen. Danach schlief er ruhig und zerriß folgenden Mor¬ gens den Brief, aus Rücksicht für den Freund. Der hatte Sorge und Schmerz genug, der sollte nicht um eines übertriebenen Skrupels willen beunruhigt wer¬ den. Als er erst bei der Arbeit war, fand er seinen Halt wieder und vergaß zuletzt Alles in der Welt, außer dem Gesicht da vor sich und dem Thonklumpen in seinen Händen. In der Frühstückspause kam das alte Modell geschlichen und besah sich, was da wurde. Sein verständnißvolles Schmunzeln und Nicken dünkten den jungen Künstler werthvoller als alle gelehrte Kritik. Der „Schufterl“, wie er in den Ateliers ge¬ nannt ward, hatte sein Gesicht so oft auf der Lein¬ wand und in allerlei anderem Material gesehen, daß er schon ein Urtheil besaß. — So gingen die Tage bis zum Wochenschluß wie im Traum dahin, und hin und wieder nur kam eine einsame Abendstunde, in der Alfred, von unbestimmter sehnsüchtiger Unruhe getrieben, das Fenster aufriß und hinaushorchte, und wenn Alles still blieb, nach dem Hute griff und ins Freie rannte, um sich müde zu machen und seine Gedanken und sein warmes junges Blut zu kühlen. Dabei war es ihm eine Annehmlich¬ keit, daß sein Zimmernachbar ausgezogen war und der leere Raum ganz anspruchslos dastand; die Wirthin hatte sogar die Verbindungsthür zwischen jenem und dem seinigen geöffnet, so lange es unbenutzt sei, und Alfred freute sich, für seine langen Beine etwas mehr Spielraum zu haben. Was ihm die Frau gewonnen hatte, war die Freigebigkeit des jungen Hamburgers und seine Dienstbereitschaft für alles Weibliche im Haus, sei es das alte Mütterchen im dritten Stock, der er den entfallenen Arbeitsbeutel hinauftrug, sei es das Wäschermädchen, dem er den schweren Korb auf den Kopf setzen half. Es lag ihm eben in der Natur, daß sein angenehmes Gesicht noch freundlicher wurde, wenn es ein langes Haar und einen faltigen Rock zu sehen bekam. Am Sonntag fühlte er sich wieder unbehaglich und aufgeregt, doch kam ihm garnicht der Gedanke, daß er ja vielleicht aus dem Spitzer'schen Hause weg¬ bleiben dürfe. Noch hatte er das Fräulein nicht ge¬ sprochen, kein Wort über Wolffs Abreise mit ihr ge¬ tauscht. Er aß hastig zu Mittag und mußte dann, weil es noch viel zu früh war, zwei Stunden mit dem Lesen öder Zeitungen verbringen; er hielt dabei zuletzt die Uhr in der Hand und bekam aus reiner Langerweile Herzklopfen. Endlich schlug es drei Uhr, in einer halben Stunde war er draußen. Er hatte sich vorgenommen, mit Ernst und Bestimmtheit der gefährlichen Kleinen entgegenzutreten und es zu keiner Neckerei kommen zu lassen. Er kam daher etwas aus der Fassung, als ihn Fräulein Loni mit einem ausgelassenen Gelächter begrüßte, in das der Vater und die jungen Burschen, die schon allesammt unter einem großen blühenden Apfelbaum saßen, fast beleidigend einstimmten. „Kommen Sie, Herr Niemand, für Niemand ist noch Platz!“ rief sie, und zog einen Gartenstuhl an ihre Seite, auf dem Alfred indessen nicht Platz nahm. „Darf ich nicht wissen, warum Sie so lustig sind?“ fragte er, noch außerhalb des Kreises stehend, die Augen von Einem zum Andern wandern lassend. „Da sehn Sie!“ zwitscherte das Mädchen und hielt ihm eine Karte vor die Augen; „ die Kart haben Sie unserm Mädel 'geben, — warum haben's sich denn vor ausgestrichen, wann's sich nun doch wieder einstellen?“ Ach, seine Visitkarte, auf der er damals in der Glyptothek seinen Beruf, und wie er nun sah, in dem schmerzlichen Eifer jener Stunde, unabsichtlich auch seinen Namen durchstrichen hatte! Der Zufalls¬ kobold hatte ihm auch gerade diese in die Hand spielen müssen, und er hatte garnicht hingesehen, als er sie abgab. „Was heißt denn das? Was bedeutet das?“ fragte man von allen Seiten. Alfred ward es immer unbehaglicher; mit der ganzen Wahrheit, die ihn so nahe anging, mochte er nicht vor diesen Neugierigen herausrücken. Dennoch mußte er etwas sagen. Er stotterte eine Entschuldigung wegen des Mißgriffs; aber Loni sah ihn kopfschüttelnd und forschend von der Seite an und fuhr fort, ihn „Herr Niemand“ zu nennen, was sie in allerlei dreisten Scherzen aus¬ beutete. „Niemand darf aus meinem Glase trinken, gelt Papa?“ sagte sie, ihm ihr Glas kredenzend, und es ebenso schnell zurückziehend und eifrig leerend. „Aber Niemand findet mehr einen Tropfen drin,“ rief sie und stieß es ausgelassen auf den Tisch nieder. Der Alte lachte über die „Wetterhex“, und Alfred saß dabei mit süßsaurer Miene und wäre gern weit fort gewesen. In einer Pause sah sie sich nach allen Seiten um, guckte auch unter den Tisch und rief dann mit geheuchelter Ueberraschung: „Jessas, der Muckerl ist nicht da!“ „Da bin ich froh dran,“ fiel der Alte ein, „er hat was Zuwideres.“ „Wolff ist ein wackrer Künstler und ein edler Mensch!“ sagte Alfred, während es ihm roth ins Ge¬ sicht stieg und seine Stirn sich unmuthig zusammenzog. „Kann sein, aber ich mag ihn net,“ erwiderte Spitzer und klopfte behaglich seine kurze Pfeife aus. Armer Freund! Alfred sah Loni scharf an, aber sie klapperte mit ihrem Armband und bat dann den „Buben“, sie einen Salamander reiben zu lehren, sie könne es nimmer recht. Der absichtlich laute un¬ bekümmerte Ton schien dem Bildhauer eine neue Her¬ ausforderung. Doch bekämpfte er seinen Aerger und rief nun selbst: „Exercitium salamandri!“ daß das Mädchen die Augen aufriß und auch der Alte sich mit Schmunzeln nach ihm umwandte und ihm mit einem väterlichen: „Ich hab's gern, wenn junge Leut' lustig sind,“ auf die Schulter klopfte. Wider Willen sah sich Alfred in die geräusch¬ volle seichte Heiterkeit hineingezogen. „Blindekuh! Wir spielen Blindekuh!“ rief das Fräulein, riß ihr Tüchlein hervor und verband ihm die Augen. Dann lief sie so neckend an ihm vorbei, daß die Andern wohl merkten, es sei eigentlich nur ein Spiel zwischen diesen Beiden, und sich bedeutsame Blicke zuwarfen. Nicht lange dauerte es, da hatte er sie erhascht und hielt ihre warmen weichen Hände fest in den seinen. Er schüttelte mit einer Bewegung das Tuch so weit herunter, daß er sehen konnte, sie waren zwischen zwei Bäumen und fern von den Uebrigen. „Nicht eher geb' ich Sie los, als bis Sie eine Frage thun,“ rief er in halbem Zorn. „Welche Frage?“ Sie suchte ihre Hände zu be¬ freien und war purpurroth. „Rathen Sie! Rathen Sie!“ drängte er und sah sie mit dem Gefühl an, daß sie es doch nicht rathen werde, und daß sie ihm überlegen sei und ihn um den Finger wickle. Plötzlich war sie frei, stellte sich gerade vor ihn hin und sagte mit einem bittenden Kleinmädchenblick in seine blauen Augen: „Es wäre schon besser, Sie sagten mir's, ich bin halt gar zu dumm!“ „Mein Freund Wolff,“ — fing er an, aber es klang ihm selbst wie eine Formel, und das Fräulein hatte sich schnell abgewandt und war ein bischen zu¬ sammengezuckt. „Wolff ist fort,“ sagte er mit einer neuen Kraft¬ anstrengung, „ich soll Sie grüßen.“ Nun schien sie doch zu erstaunen. „Fort? Ganz fort?“ fragte sie und sagte dann nach einer Weile: „Da kann er mir nimmer die Le¬ viten lesen, aber daß er so schnell gangen ist — —“ „Seine Schwester ist im Sterben“, fuhr er in bebendem Ton fort, „er ist sehr beklagenswerth.“ Sie maß ihn betroffen. „Muckerl?“ fragte sie leise, als habe sie den noch niemals in diesem Lichte erblickt. Wie sie so nachdenkend stand, das lachende Mündchen ernsthaft geschlossen, die zierliche Gestalt vom Abendsonnenschein umstrahlt, war es Alfred auf einmal, als sei er blind gewesen. Sie ist ja reizend! dachte er, und im gleichen Augenblick traf ihn ihr Blick so voll Wohlgefallen, daß sein Herz hoch auf¬ schlug. „Sie sind brav,“ sagte sie langsam und ohne den Blick von ihm zu wenden, „wer Ihr Freund ist, hat es gut.“ Nun fing er mit einer wahren Ueberstürzung an, von diesem Freund zu reden; er rühmte seine Güte, seinen Fleiß, seine Begabung und demüthigte sich zu¬ letzt so tief vor ihm, daß Loni abwehrend den Kopf schüttelte. „Nein, jetzt, das ist zuviel, das würd' er nicht annehmen.“ Etwas verwirrt kehrten sie zu den Uebrigen zu¬ rück, die ihnen zuriefen, man habe schon überall nach ihnen gesucht. Fräulein Loni schlug den Schlanken, den sie „Storch“ nannte, geringschätzig auf die Fin¬ ger, die er ihr entgegenstreckte. „Da hätt' ich viel zu thun, wenn ich all' Euer Geschwätz glauben wollt',“ sagte sie achselzuckend, „Ihr habt derweil Bier trunken; ich kenn' Euren Sonntagsnachmittagsdurst.“ Der „Bub“ sah Alfred mit frechem Lächeln an: „Haben Sie sich fangen lassen, mein Bester?“ fragte er. „Nein, er hat mich gefangen!“ rief das tolle Kind, „er war ja Blindekuh;“ plötzlich aber lief ein Erröthen über ihr feines Gesichtchen, der „Bub“ hatte so beleidigend aufgelacht. „Das is amal a dicker Spatz,“ stotterte sie me¬ chanisch und zeigte geradeaus auf den Rasenfleck unter dem Birnbaum. „Aber Fräulein, das ist ja der Jockerl!“ näselte der „Storch“ mit komischem Mißverstehen. Loni lief zu ihrem Vater und setzte sich neben ihn. „Ich bin müde,“ flüsterte sie, „schick sie weg, Papa.“ Sie stützte den Kopf auf die Hand und ließ die Lippe hängen. „Wenn Du müd' bist, geh schlafen,“ sagte der Vater mürrisch, „man braucht Dich net.“ Die Kleine machte ein hülfloses Gesicht. „Nie¬ mand, ich weiß nicht, wie er eigentlich heißt“ — sie lachte schon wieder — „also Niemand kann hier¬ bleiben, aber, bitte, Papa, schick die Andern weg.“ „Du bist nicht gescheut,“ war die Antwort, „Herrgott, hat man eine Noth mit so Mädelen.“ Er Frapan , Bittersüß. 5 goß ärgerlich sein Glas hinunter. Jockerl, der ihm gegenüber saß und etwas von der halblauten Unter¬ redung gehört hatte, grunzte beistimmend und trank ebenfalls. Sie ist doch elend dran! dachte Alfred, Wolff hat ganz Recht. Sie könnte eine Andre werden. Ob aber durch ihn? „Guten Abend, Fräulein Loni,“ sagte er, hinter ihren Stuhl tretend, „ich möchte mich verabschieden.“ „Ich auch!“ erwiderte sie mit traurigem Nicken, „ich thu's auch bald!“ Sie stand auf, obgleich Alle sie ansahen. „Ich begleite Niemand!“ rief sie mit dem ge¬ wohnten spitzbübischen Lachen, „ja, macht nur lange Hälse, ist mir auch eins.“ „Ich wollt, die Andern gingen und Sie blieben da,“ sagte sie, als sie zwischen den Blumenbeeten standen, „nun fangen sie bald an Skat zu spielen, und da bringt man sie vor Mitternacht net weg. Spielen Sie auch Skat?“ „Nein,“ lächelte Alfred. Sie seufzte tief. „Grad so ungebildet wie ich, denn wer nicht Skat spielt, sei ungebildet, sagt Jockerl. Ich glaub's aber net.“ „Wolff rührt keine Karte an,“ betheuerte der Bildhauer mit einer heldenmüthigen Anstrengung. Sie erwiderte nichts; nach einiger Zeit bückte sie sich zu einem Quittenstrauch, dessen kaum er¬ schlossene granatrothe Blüthen durch das spärliche Grün leuchteten. Sie reichte ihm ein Zweiglein und steckte sich selbst eins an. Er haschte nach der niedlichen Hand und küßte sie schnell. „Ihnen kann man schon etwas zu Liebe thun,“ sagte sie, während ihr wieder das Blut ins Gesicht stieg, sich dann aber der Ausdruck plötzlich ins Schalk¬ hafte veränderte: „Sie sind ja doch — Sie sind ja doch Niemand!“ Damit wollte sie fortlaufen; er aber hielt sie fest und warf einen schnellen Blick rückwärts; der Tisch war nicht zu sehen, die Büsche traten davor. „Niemand?“ sagte er mit drohendem Flüstern, „ist es wahr, Loni, bin ich Ihnen wirklich Nie¬ mand?“ Er wußte selbst kaum, was er sprach, nur daß sie sehr lieblich war, und daß ihre kleine Hand wie ein warmes zuckendes gefangenes Mäuschen in der seinen lag. „Ich will — ich will auf ihrer Kart' nachschaun, wie Sie heißen,“ flüsterte sie. „Alfred!“ hauchte er. „Alfred,“ wiederholte sie wie ein leises Echo; und dann noch leiser: „Gute Nacht, Alfred.“ „Gute Nacht, Loni!“ er beugte sich auf ihr ge¬ senktes Köpfchen und drückte seine Lippen auf das 5* weiche dunkle Gelock, sein Herz schlug ängstlich und hart. Da ging ein Mann an der Gartenpforte vor¬ über, nah' bei ihnen; Alfred sah nicht viel mehr, als den grauen Schlapphut, aber es fuhr ihm wie ein Stich durch die Brust. Trug nicht Wolff solch einen Hut? Wolff und er — o! „Gute Nacht!“ stammelte er mit einem hastigen kurzen Händedruck und war, ohne sich umzusehen, mit einem Sprung aus dem Garten. Er ging nicht der Richtung nach, die jener Spa¬ ziergänger genommen, der den Schlafwandler auf¬ geweckt. O nein! Er eilte nach der entgegengesetzten Seite, obgleich sie ihn weiter hinausführte. Wenn der Mann wirklich sein Freund gewesen wäre, er hätte nicht erschrockener vor ihm fliehen können. Und doch lief er eigentlich vor sich selbst und zwar mit dem erdrückenden Bewußtsein, daß das nutzlos sei und daß er sich nicht entlaufen könne. Was hatte er gethan! Weh, was hatte er gethan! Für sich ge¬ nommen, was er dem Freund bewahren sollte! Es verdiente die schwärzesten Namen. Wie er sich an¬ klagte, wie er sich haßte. Solch ein Mensch, solch ein Freund! Solch ein Vertrauen! Und dazwischen erboste er sich wieder für seine bisherige Unschuld, kämpfte mit sich selbst für sie. — „Für mich genom¬ men?“ sagte er sich, „nicht doch — in den Schoß gefallen. Wie wenig hab ich dazu gethan!“ Und wider Willen kam ihm ihre Gestalt zurück und ihr unverhohlenes Wohlgefallen und wie allein sie sei mit dem Vater und unter jenen plumpen, läppischen Ge¬ sellen. Ihn sah sie gern, war es nicht Pflicht viel¬ leicht, ihr die Freude zu gönnen? Sie war ja ganz gleichgültig geblieben bei seinem Bericht über Wolff! Nicht ein gutes, freundliches Wort für den Abwesen¬ den hatte er herausgehört, und von Vermissen war auch nichts zu bemerken gewesen. Armer Wolff, es schien ganz hoffnungslos. Der Vater war ihm auch abgeneigt, nun also! — Sehe ich aus wie Einer, der einen Freund betrügt? Habe ich nicht den besten Willen gehabt, für ihn zu werben? Aber wer kann denn Liebe erzwingen und noch gar Liebe für einen Andern? So zuckte seine Seele hin und her; er war zu klar, zu sehr Pflichtmensch, um sich dauernd vor sich selbst entschuldigen zu können, und er war zu warm und zu verliebt, um sein Unrecht ohne Umschweif zu bereuen. Er hatte sich ja nur treiben lassen, wie der Strom ihn zog. Ihm schien vor Allem unbegreiflich seine frühere Verblendung, strafbar seine Sicherheit, sein unbesonnenes Versprechen. Aber hatte nicht auch Wolff gefehlt, der doch so viel älter war und wissen mußte, daß es Stimmungen gibt und Impulse, die Niemand vorausahnt? — Eine Viertelstunde lang dünkte es Alfred, als könne er allen Zorn auf den Freund wälzen. Nicht wie ein Freund, wie ein Ver¬ sucher hat er an mir gehandelt! — aber das unklare Wehgefühl, das nicht weichen wollte, belehrte ihn eines Besseren. Ach, er war unglücklich, er war tief be¬ dauernswerth, er liebte die Geliebte seines Freundes und hatte es ihr nicht gesagt, aber doch deutlich ge¬ zeigt. Ihm wurden die Augen naß vor Mitleid mit sich selbst, mit ihr, die er ohne Zweifel durch sein plötzliches Davoneilen gekränkt, und mit ihm, der sich in trüber Leidenszeit durch den Gedanken an sie Beide aufrecht hielt und so schmählich betrogen war. Wie ein Irrgarten lag die Zukunft vor ihm. Wel¬ chen Weg einschlagen? Und der Lockvogel, der ihm unaufhörlich ins Ohr sang: Sie liebt dich, und du liebst sie auch; wer liebt, hat Recht, geh wieder hin! Du hast nur ihre Locken geküßt, küß ihre Lippen: sie warten auf dich, sie rufen dich. Er nahm die rothen Blüthen aus dem Knopfloch und küßte sie, bis nicht ein Blättchen daran blieb, aber sie waren kühl und küßten nicht wieder! Der andere Morgen fand ihn matt und mit schmerzendem Kopf auf seinem Lager. Doch stand er hastig auf, sowie er munter geworden, er scheute sich vor dem Grübeln und Besinnen. Werd' ich sie heute sehen? Darf ich sie sehen? war Alles, was er dachte. Erst auf dem Wege zu seinem Atelier fiel ihm ein, daß heut eigentlich ein großer Tag für ihn sei: der Marmor, den er für die Mädchenfigur „Sternthaler“ bestimmt hatte, sollte heut ausgewählt werden. Mar¬ mor! Er hatte sich so danach gesehnt, das edle Ge¬ stein unter seinen Fingern zu fühlen. Es war ein großer Luxus, und Wolff hatte ihm abgerathen, und nun erst Spitzer: „Sie stecken da viel Geld hinein, das Sie nie herausbekommen! Stellen Sie doch Ihren Gips aus, wie andre Leute. Das ist fast protzig gethan, sag' ich Ihnen.“ Aber Alfred hatte in guter Laune erwidert, er habe sich's einmal in den Kopf gesetzt, für die Babett sei nur Marmor gut ge¬ nug. Er bekomme ihn billig aus dem Nachlaß eines verstorbenen Künstlers, es werde auch nichts allzu Rares sein. Sein Modell wartete schon auf ihn, das kam sonst nicht vor. Auch nicht, daß er so ohne Gruß an ihm vorbei ging und mit so zerstreuter Unlust zu arbeiten begann. Er sah bald selber ein, heut för¬ dere er nichts, heut verderbe er nur; er schickte den Schufterl nach zwei Stunden fort und begab sich in den Schuppen neben dem Atelier des Todten, wo drei noch rohe Blöcke lagerten. Er verstand sich nicht ganz schlecht auf das Gestein. Sein Meister in Ham¬ burg hatte mancherlei unter den Händen gehabt und ihm, als dem vertrautesten Schüler, jede Belehrung zukommen lassen, die ihm nützlich werden konnte. Ein reicher Kaufmann hatte einen Saal mit rundum laufenden Friesen und mit Statuen am Kamin schmücken lassen, zu denen der Marmor von dem Bild¬ hauer selbst in den Brüchen von Seraveza ausgewählt worden, damit man ein fehlerloses Material erhalte. Dabei hatte Alfred viel gelernt. Der junge Mann hatte Hammer und Meißel zu sich gesteckt, denn er hatte an den Erben, den Bruder des Verstorbenen, das Ansuchen gestellt, nicht bloß mit den Augen prüfen zu dürfen. Der Verkäufer war nicht selbst zugegen, doch hatte er einen Arbeiter geschickt, welcher ihm etwa behülflich sein dürfe und jetzt wartend auf einem Dreibein im sonnigen Hofe saß. Der Bildhauer winkte ihm, ruhig sitzen zu bleiben, bis er ihn nöthig habe, und ging allein in den Schuppen, froh genug, daß er ganz ungestört wählen könne. Er überzeugte sich bald, daß der eine Block seiner Größe wegen ganz außer Betracht komme, der zweite Risse zeige, von denen sich nicht bestimmen ließ, wie tief sie seien, und daß der dritte wahrschein¬ lich der beste für ihn sei, auch dem Korn nach. Der Arbeiter hörte ihn hämmern und klopfen, zog, da er nicht gerufen ward, ein Brot hervor, und that einige herzhafte Züge aus seiner Flasche. Dann stützte er den Kopf auf die Arme und nickte in der warmen Mittagssonne in seiner unbequemen Stellung ein; er merkte es nicht einmal, daß ihm die Mütze herabfiel. Der Mann erwachte davon, daß er seit¬ wärts von dem Bock herunterrutschte und sich plötz¬ lich auf dem Boden sitzen fand. Es war still, die Sonne schon aus dem Hof heraus. „Der hat sich so hehlings davon gemacht, man könnt' grad meinen, er hab' was mitgenommen,“ brummte der Arbeiter, trat in den Schuppen und warf einen Blick rundum. Er fuhr mit einem Schreckensruf zurück: Dort zwischen den zwei kleineren Blöcken lag der Fremde auf dem Boden, ganz mit Staub und Splittern überschüttet, den Meißel noch fest in der Hand, ohne Hut, mit blutbeflecktem Gesicht. Eine frische weiße Bruchfläche an dem einen Marmor gab die Erklärung, dicht neben der Schläfe lag ein faustgroßes abgesprungenes Stück. „Herr, Herr!“ rief der Arbeiter und faßte ihn an der Schulter, um ihn aufzurichten. Er schien in Ohnmacht zu liegen, er antwortete nicht, doch athmete er deutlich, und die Hand war warm. Der Mann sprang an den Brunnen, holte seine Mütze voll Wasser und goß sie dem Liegenden über den Kopf. Das hatte geholfen, er reckte die Arme, als wolle er aufstehen. „Herr! Herr!“ rief der Arbeiter wieder, dies¬ mal dicht an seinem Ohr, „Sie sind, scheint's, blessirt, wo gehören's zu Haus, daß ich an Einspänner be¬ sorgen kann?“ „Meine Augen!“ sagte der Verwundete matt, während er sich mit Hülfe des Andern halb aufrich¬ tete, „voll Staub! mehr Wasser.“ Als der Arbeiter vom Brunnen zurückkam, fand er ihn angelehnt auf dem Boden sitzen, er fuhr immer mit den Händen über die Augen hin. „Ist schon Abend?“ fragte er ängstlich, als er den Schritt hörte, „wird es schon dunkel?“ „Es ist zwei Stunden nach Mittag, da trinken Sie,“ sagte der Arbeiter, ihm die Flasche an den Mund haltend. Er trank begierig, dann riß er die Augenlider gewaltsam auf und fuhr wieder mit den Händen danach, hielt sie mit zitternden Fingern offen. Und plötzlich stieß er einen heftigen Schrei aus: „Dämme¬ rung! Nacht! Meine Augen!“ und sank zum zwei¬ ten Mal ohnmächtig hintenüber. Es gab ein mitleidiges Zusammenlaufen auf der Straße, als die Droschke mit dem Verunglückten vor dem Hause der Frau Huber hielt und der Arzt und der Arbeiter, der ihm beigestanden hatte, den jungen Bildhauer langsam mit verbundener Stirn die Treppe hinaufführten. Er hatte hierher verlangt. Die Wirthin hatte nach Emerenz gerufen, und die immer hülfbereite Kleine war um Eis zur nächsten Brauerei gesprungen und hatte auch das Rezept nach der Apotheke getragen. „Ja, was ist denn? Was hat er denn?“ frag¬ ten die Leute und drängten sich um das Kind, das mit der Schürze vor den Augen auf der Haustreppe saß, weil der Arzt es oben fortgeschickt hatte. „So bleich ist er und kann net sehn und hat a rothen Fleck in jedem Aug', so grausig! Und da hat er ein großes Loch:“ sie zeigte auf die Schläfe, „aber er sagt, das macht nix, und der Doktor sagt's auch,“ jammerte Emerenz mit der Wichtigkeit einer Ein¬ geweihten. „Ha, da thät ich heulen!“ rief ein kleiner Kerl und stieß einen Kameraden, den häßlichen Bruder der Emerenz an, „gelt, Du thätst auch heulen, wann Du da a Loch hättst?“ Der aber schüttelte mit stoischer Miene den dicken Kopf: „Ha nein! Ich bin schon die Stiegen herunter¬ rumpelt, hab' ich da a Loch kriegt,“ er wies auf seinen Ellbogen; „es hat heidenmäßig brennt, aber heult hab i net.“ „Das Loch macht nex,“ sagte Emerenz eifrig, „aber er gesieht nimmer nex! Gelt, da thätst doch heulen, wenn's Dir so gehn thät, gelt Leo?“ „Ha, da braucht ich net in Schul', da thät ich net heulen,“ beharrte der Junge. „Bist a dummer Bub!“ rief Emerenz empört, „wenn's nur auch das Fräulein Marianne wissen thät!“ fuhr sie altklug und nachdenkend fort. „Fräulein Marianne ist net daheim,“ sagte eine Stimme. „Doch, sie ist gestern Abend heimkommen, ich hab a Bretzel von ihr kriegt,“ erwiderte eine andre. „Da geh ich auch hin! Vielleicht krieg' ich auch eins,“ rief ein kleiner Bub und kaute schon im Vor¬ aus mit leeren Backen. „Da bleibst!“ rief Emerenz, die eine Art Mutter¬ stellung bei den Kindern hier in der Straße besaß, „ich geh' selbst hinauf und sag' ihr's von dem Herrn Heuwels.“ „Ich will auch a Bretzel,“ sagte eins der Klein¬ sten und wollte sich an ihr Kleid hängen. Aber sie streifte sie flink von sich und eilte über die Straße und in das gegenüberliegende Haus; die Kinder folgten ihr bis zur Hausthür und blieben dort mit verlangenden Blicken stehen. Als Emerenz wiederkam, drängten sich Alle um sie, denn ihr Schurz schien wohlgefüllt. „Mir auch a Weck', mir auch eins!“ riefen sie ihr entgegen. Aber das Mädchen hielt die Falten fest zusam¬ men und winkte mit der andern Hand. „Fräulein Marianne hat gesagt, da besser unten soll ich's Euch geben!“ flüsterte sie, „wann Ihr fein ruhig seid.“ Sie führte die Kinder bis zum Ende der Straße, dort blieb sie stehen, öffnete die Schürze und ver¬ theilte die Milchbrötchen mütterlich gerecht, für die Kleinsten ward je eins durchgebrochen. „Ihr sollt jetzt da spielen, hat's Fräulein Mari¬ anne gesagt,“ ermahnte sie dabei, „wer droben spielt, kriegt nie nex mehr.“ Eine Frau war hinzugetreten, um ihr Kind heim¬ zuholen. „Nu, Emerenz, bist droben gewesen, beim guten Fräulein Marianne? was hat sie geschwätzt?“ fragte die Frau mit einem Blick auf die essenden Kinder. „Gar nex hat sie geschwätzt, wie ich ihr's ver¬ zählt hab von dem Herrn Heuwels; ich glaub', sie ist auch arg verschrocken gewesen. Sie hat mich bloß an¬ guckt und gesagt: „In die Augen?“ und hat mich 'naus¬ geschickt zur Magd, s'ist a neue, ich weiß net, wie sie heißt, und nachher ist sie selbst herauskommen und hat mir noch a paar Semmel dazu geben und gesagt, die Kinder sollten besser unten spielen. Weiter nex.“ „Da folgt auch recht!“ ermahnte die Frau und ging von dem Kinderhaufen weg, ihr eignes hinter sich herziehend. Der Verunglückte erwachte aus einem Halbschlaf an einem laut geführten Gespräch zwischen einer männlichen und einer weiblichen Stimme, doch mu߬ ten die Sprechenden draußen sein. Die Binde um Kopf und Augen, hinderte ihn, um sich zu sehen, aber er hörte gut. „Ich hab das Logis an einen Gesunden ver¬ miethet,“ sagte die Frau kläglich, „und die Last könnt ich mir doch net aufladen; bedenken Sie, ich bin allein zu alle die Herren, da müßt' ich mich schier zu Tod laufen.“ „Wenn ich Ihnen aber sage, daß die Wärterin, die ich schicke, Alles gut besorgen kann? Nehmen's doch Vernunft an, Frau Huber —“ „Ja, und die Wärterin, wer soll die ver¬ sorgen?“ „Es handelt sich ja bloß um ein paar Tage! Es thut kein gut, den Patienten wegzuführen, wo's Wundfieber im Anzug ist. Möglich auch, daß nicht einmal eins kommt! Die Kopfwunde ist oberflächlich, Sie hören's ja!“ „Ich bin nicht taub!“ jammerte die Frau, „aber ich muß mich wehren. Ich bin ein armes Weib! Das Stüberl' neben seinem ist doch auch leer, — wie kann ich das vermiethen neben so einem Kranken.“ „So werfen Sie ihn ins Teufels Namen aus dem Haus,“ prustete der Arzt, „aber Ihre Schuld ist's, wenn er im Wundfieber drauf geht.“ — Danach folgte das weinerliche Geschrei: „Ich bin a armes Weib, ich muß mi halt wehren!“ und ein Getrappel treppabwärts mit schwe¬ ren Sohlen. Dann ward es wieder still. „Wär' ich doch fort von hier!“ stöhnte der Kranke, „warum bin ich nicht ins Spital gebracht worden? Ach so, ich habe selbst den Arzt gebeten, mich in meine Wohnung schaffen zu lassen. Gleich¬ viel, wo ich sterbe!“ Seine Wunde brannte trotz des Eisumschlags, in seinen Augen stach und bohrte es. Er lag ganz unbeweglich, wie ihm der Arzt geboten hatte, und fühlte kalte Schauer über sich rinnen. Nun sterb' ich bald, dachte er, besser sterben, als leben und blind sein. Er tastete mit der Hand an der nassen schweren Binde herum, die seine Augen bedeckte. Ob ich garnichts sähe, wenn ich sie abrisse? durchzuckte es ihn. Doch graute ihm vor dem Ver¬ such; mit einem tiefen Seufzer ließ er die Hand wieder auf die Bettdecke sinken. Als ihn der Arzt hergebracht, war Alles um ihn her röthliche Däm¬ merung gewesen, ha, fürchterlich. Eh' er das noch einmal empfinden sollte, — „wenn ich nun gesund werde!“ stöhnte er qualvoll, während tödtliche Angst ihm die Brust zusammendrückte. In seinem Koffer war ein scharfes Messer, er hatte daheim auch in Holz geschnitzt. Im schlimmsten Fall — das war doch gut bei sich zu haben, das war ein Trost. Er fühlte eine plötzliche Sehnsucht, die blanke scharfe Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war der Schlüssel zum Koffer in seinen Kleidern, die sie ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die sein? Er versuchte, aufzustehen, doch war ihm der Kopf wirr, sobald er ihn vom Kissen erhob; Alles drehte sich um ihn, daß er hülflos zurücksank. Der Tod war wohl schon nah? Er war ja sonst so stark, er war ja nie¬ mals krank gewesen. Seine Gedanken flogen an Allen vorüber, die er kannte; ob sie sein Sterben be¬ trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig sein. Aber sie sind ja bei der Schwester. Er sah seine Mutter im schwarzen Kleid mit dem Gesangbuch in den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit zu Zeit in ihr Taschentuch und sagte: „Wäre er doch hier geblieben!“ Er sah seinen Vater, tiefgebückt, den Krückstock zwischen den runzeligen Händen, vor des Pastors Denkstein auf dem Ottenser Kirchhof stehen und zu dem jungen Pastor sagen: „Das hat noch mein Sohn gemacht, kurz vor seiner Abreise nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬ bracht, aber“ — — Er sah seinen eigenen Grabstein und darauf die Inschrift: „Gestorben, ehe er etwas hat leisten können —“ und dann fiel ihm ein, daß ihm selbst dieser Grabstein nie zu Theil werden dürfe. Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute ins Spital; dem dort Gestorbenen — wer sollte ihm einen Stein setzen? Gleichgültig wanderten seine Ge¬ danken von dem einen zum anderen Bekannten. Spitzer? Was kümmerte sich der um ihn, er hatte ja nicht mal Skat mit ihm gespielt! Loni? Ihr reizendes Bild war plötzlich verblaßt und verschwom¬ men! Hatte er sie wirklich erst gestern zu lieben ge¬ glaubt? War sie es, die ihn nicht hatte schlafen lassen? Es schien fast unbegreiflich. Er sah auch sie zwischen den Blumenbeeten sitzen und sagen: „Jetzt kann er nimmer den Muckerl herausstreichen, aber daß es so schnell gehn würd', hätt' ich mir net denkt, gelt Papa?“ Und sie setzte dem Jockerl nachdenklich einen Kranz von Gänseblumen auf seinen dicken rothen Kopf. Einer war da, einer war sein Freund, hätte es werden können, wenn er sich bewährt hätte. Wolff! Wolff! Verrathener Freund! Wirst Du's je erfahren, daß ich untreu gewesen? Wird das kleine Mädchen Dir Alles sagen? Ach, es war viel¬ leicht Alles eine Strafe für mein Vergehen! Wieder lag er regungslos, die Hände gefaltet, in Trauer und Zerknirschung. Dann hörte er von Neuem Schritte auf der Treppe; sie werden mich fort¬ schaffen wollen, dachte er, nicht ohne Bitterkeit, denn es war ihm ein Wohlgefühl, so still liegen zu dürfen. Jetzt glaubte er die Stimme der Wirthin zu ver¬ nehmen. „Frau Huber,“ rief er laut, „beruhigen Sie sich, ich will selbst ins Krankenhaus;“ — und als keine Antwort kam, tastete er nach dem Tischchen Frapan , Bittersüß. 6 neben dem Bette, ergriff den darauf stehenden Por¬ zellanleuchter und schleuderte ihn kräftig auf den Boden, daß es klapperte und krachte. Eine Thür ging auf. „Frau Wirthin!“ rief er schwach. „Ja,“ kam es zurück, doch so, daß der Kranke aufhorchend antwortete: „Sie sind es nicht. Sie sind die Wärterin?“ „Ja, ich werde Sie pflegen,“ sagte eine tiefe Stimme, die ihm wunderbar ins Herz ging. „Sprechen Sie noch einmal,“ flüsterte er in tie¬ fer Bewegung. „ Ich bin es,“ hörte er nun dicht an seinem Bette. „O Sie! o die liebe Stimme! Schlaf ich denn nicht?“ flüsterte er leise. „Sie sind wach und werden bald gesund sein,“ erwiderte sie. „Nicht ins Krankenhaus?“ stammelte er. „Nicht; Sie bleiben hier, der Arzt will es so; ich habe Beiden gesagt, daß ich nach Ihnen sehen will, so oft es nöthig ist; bleiben Sie ruhig.“ „Ich träume doch gewiß,“ sagte er bedenklich, „sie ist ja eine Fremde, warum sollte sie kommen.“ „Wenn ich Ihnen unangenehm bin, so geh ich wieder,“ erwiderte sie in etwas unterdrücktem Ton. „O bleibe! bleibe!“ schrie er auf, „ich bin so allein, und es ist so dunkel.“ „Das hab' ich gedacht,“ murmelte sie. Er fühlte, daß sie sich neben seinem Lager auf einen Stuhl setzte, obwohl es sehr leise geschah. Nun lag er ganz still, als habe er viel mit sich aus¬ zumachen. Das dumpfe Entsetzen, das ihm auf dem Herzen lag, sprach nur hie und da aus einem schwe¬ ren Seufzer. Einmal fing er an: „Ich sehe nichts, nicht wahr?“ „Das ist die Binde,“ sagte sie tröstend, „aber sie kühlt und beruhigt, weil Sie einen argen Stoß erlitten haben, und wenn sie abgenommen wird —“ „Dann bin ich blind!“ stöhnte er. „Hoffnung,“ flüsterte sie, „und ein bissel Ge¬ duld.“ Ihre Stimme zitterte wie von Thränen. „Ich möchte an meinen Koffer, der Schlüssel steckt in meinem Rock, ich weiß nicht, wo sie den hin¬ gethan haben, vielleicht —“ „Der Rock hängt an der Thür, und hier — ein Schlüssel, ist das der rechte? Wollen Sie mir nicht sagen, was ich Ihnen herauslangen soll?“ „Ja — das heißt — nun wissen Sie, ganz auf dem Grunde — ein längliches Lederfutteral, wenn Sie mir das reichen wollten,“ die Worte klangen, als hänge sein Leben daran. Er hörte, wie sie aufschloß und streckte mit 6* fieberhafter Ungeduld die Hände nach ihr aus. Eben trat sie heran. „Glauben Sie, daß Sie dieses Ding jetzt ge¬ brauchen?“ fragte sie ernst. „Durchaus!“ rief er, „o bitte, geben Sie schnell,“ „Lassen Sie mirs noch einen Tag,“ bat sie mit Innigkeit, „ich will Ihnen das Brot und Fleisch zerschneiden, bis Sie es selbst wieder können,“ fügte sie mit zitterndem Mitleid hinzu. „Das Messer! Mein Messer!“ schrie er ver¬ zweiflungsvoll — „zwei Augen hatt ich! Meine Kunst war meine Welt! Seien Sie nicht hart wie der Stein, der mich blind gemacht hat.“ Ein leises Weinen antwortete ihm. „Da, nehmen Sie Ihr Eigenthum,“ hauchte sie ihm mit unsäglicher Traurigkeit zu, „thun Sie, was Sie glauben thun zu müssen,“ sie drückte ihm die Scheide in die Hand und entfernte sich. Aber seine Finger ließen den ersehnten Helfer schnell los. „Sie gehen?“ stammelte er. „Ich fühle wohl, ich kann Ihnen nicht helfen, ich bin zur Last.“ war die leise, schmerzliche Erwi¬ derung; „ich könnt's auch nicht mit ansehen.“ „Weh! weh! was soll ich thun,“ ächzte der Kranke, und da sich ihr Schritt zu entfernen schien, stieß er plötzlich heraus: „Wenn Du gehst, so thu' ich's gleich!“ Er erhob das Messer, das er aus der Lederscheide gezogen hatte. „Ich bleibe!“ rief es da dicht neben ihm und dann schmeichelnd: „Geben Sie mir das Messer, bis — bis der Arzt dagewesen ist!“ Eine warme Thräne fiel auf seine Hand. „Weinst Du um mich?“ sagte er ganz leise, „ach wie gut bist Du! wie gut! wie gut.“ Und vor seinem innern Auge stieg die schönste, die rührendste Gestalt auf, in der er sie gesehen, die tröstende Gottheit mit der Erquickungsschale. „Ach, wie wohl!“ seufzte er; „nun möcht' ich schlafen! Aber — bleibst Du auch da?“ „Ich bleibe da.“ „Wirst Du auch nicht weg sein, wenn ich auf¬ wache?“ „Gewiß nicht.“ Ein tiefer Seufzer der Erleichterung belohnte sie. Dann schien wirklich der Schlaf zu kommen. Doch blieb der Schmerzenszug um den Mund stehen und machte das Gesicht älter und reifer für die Augen der Beschauerin, die sich im tiefen Weh darauf hef¬ teten. Als er sich nicht rührte, ging sie durch das verdunkelte Zimmer bis zur offenen Thür des Nach¬ barraums, aus dem das Tageslicht drang, und setzte sich auf einen Stuhl dort an der Schwelle. Ein Haufen dichten dunkelgrünen Stoffs lag auf einem Tischchen daneben; sie nahm Fingerhut und Faden und ließ hastig die Nadel durch die Falten gleiten. Sie hatte ein leises Gespräch mit dem Arzt, der bald darauf erschien und den Kranken nicht geweckt wissen wollte, sondern nur Anordnungen für die Nacht traf. Die kam und brachte das Wundfieber, Irrreden, hef¬ tiges Auffahren, Umherwerfen in den Kissen. Er riß sich die nasse Binde von den Augen und wollte sich nicht halten lassen. Doch schien auch noch in dieser Betäubung sein Ohr empfänglich für die sanfte Stimme, die ihn be¬ schwichtigte wie ein krankes Kind, denn er flüsterte mehrmals: Musik! Musik! und saß wie horchend im Bette aufrecht. Mit einem Blick der Dankbarkeit, der Erleichterung begrüßte die treue Pflegerin den ersten Morgenstrahl, es war eine saure Nacht ge¬ wesen. Nun lag der Patient in tiefer Ermattung, und der Besuch des Arztes ging für ihn fast un¬ gemerkt vorüber. Für Marianne war es eine Be¬ ruhigung, ihn auf Stunden der angstvollen Sorge um sein Augenlicht enthoben zu wissen. Im Uebrigen hatte die flüchtige Untersuchung wenig Trost gebracht. Der Arzt hatte die verschwollenen Lider des Kranken geöffnet und der beklommen Zusehenden einen rothen Fleck im Weißen beider Augen gezeigt. Draußen vor der Thür gab er dann eine Aufklärung. „Es sind zwei Möglichkeiten,“ bemerkte er belehrend, „ein bessere und eine schlimmere. Entweder diese Flecke sind Alles, dann bekommen wir einen sogenannten Verletzungsstaar, der innerhalb eines gewissen Zeit¬ raums reift und operirt wird, worauf die volle Sehkraft zurückkehrt; oder — es besteht neben dieser Verletzung noch eine innere, welche die Netzhaut zer¬ rissen hat und dann — gibt es nichts mehr.“ Das Gesicht der Zuhörerin war sehr blaß. „Und wann, — wann —“ begann sie hastig. „Unmöglich zu bestimmen,“ sagte der Arzt achsel¬ zuckend, — „langwierig in jedem Fall, wie Sie sehen.“ „Ist die letztere, die schlimmste Möglichkeit wahr¬ scheinlich?“ Ihre Stimme bebte. „Wir wissen nichts,“ wehrte der Doktor ab, „wir kennen nicht die Gewalt des Stoßes, den er er¬ litten hat, — da er aus geringer Entfernung kam, wird er vielleicht nicht stark gewesen sein, — nein, ich neige eigentlich zu der günstigeren Annahme,“ fuhr er sich durch den Bart streichend fort, — „wir haben freilich auch dann Zeit vor uns! Zeit in Menge! Sorgen Sie nur für Geduld.“ Langsamen Schritts kehrte sie an das Kranken¬ bett zurück. Alfred murmelte im Halbschlummer, sie legte ihre kühlen Hände auf seine brennenden. Plötz¬ lich schien er aufmerksam zu werden; er betastete die Finger, die Handflächen, umspannte das Gelenk. „Schade! schade!“ sagte er träumend, „sie sollte schön sein, Alles wie die Stimme, schade!“ — Ueber ihre Wangen flog eine tiefe Röthe. Sie zog langsam ihre Hände fort, legte sie vor ihr Ge¬ sicht und saß lange so. Als sie sie endlich in den Schoß sinken ließ, schimmerte es feucht in den Augen, aber ein Lächeln lag um den Mund. „Wo bist Du?“ rief furchtsam der Kranke, „ich bin so durstig.“ Das Lächeln verschwand, die Thränen liefen ihr übers Gesicht. „Wo bist Du?“ rief er wieder, da sie nicht gleich hatte antworten können, „wo bist Du — Ma¬ rianne?“ „Hier, hier, trinke, erquicke Dich; Du weißt meinen Namen?“ „Ich weiß nicht woher, aber ich kannte Dich gleich, — weißt Du, singe mir etwas.“ „Wenn Du gesund bist,“ sagte sie. „Ich werde nie gesund,“ stöhnte er, „ich bitte Dich, Marianne!“ „Was wird der Arzt sagen!“ „Ach Marianne, Deine Stimme! Noch einmal, eh' ich sterbe!“ „Nichts da von Sterben, ich will's ja thun, was soll ich singen?“ „Du weißt es besser.“ Sie ging ins Nebenzimmer und sang ein paar Volkslieder, einfach und lieblich. „Du hast die blaue Stimme, die Märchenstimme,“ flüsterte Alfred, „laß mich Deine Hand küssen.“ „Nein,“ sagte sie leise, „die Hand hat nichts damit zu thun, schlafe nun.“ „Du machst mich gesund,“ rief er, „kannst Du mich auch wieder sehend machen?“ — Es klang kaum wie eine Frage. „Willst Geduld haben zu warten, Alfred?“ Es war das erste Mal, daß sie ihn Alfred nannte. „Bleib bei mir, und ich will, Du Gute, Beste, Einzige,“ brach er aus, und es stieg ihm heiß in die Wangen. Sie trat rasch heran, um ihm den Eis-Umschlag zu erneuern. „Kein Wort mehr reden sollst! schlafen sollst!“ flüsterte sie ihm zu, „weißt ja, daß ich Dich nicht verlasse,“ es gelang ihm nicht wieder, ihre Hand zu erhaschen. Für die Nacht hatte Marianne sich eine Wär¬ terin senden lassen, weil ihr vor der Rückkehr des Fiebers bangte. Doch ging sie leidlich gut vorüber, und am nächsten Tage sprach der Arzt davon, daß der Kranke das Bett verlassen dürfe, wenn er so fortmache. Der Bruder der Emerenz ward von dem Fräulein zu einem kleinen vorläufigen Kammerdiener erhöht, und eine Woche grade nach dem Unfall saß der Kranke zum erstenmal in einem Stuhl aufrecht, den noch verbundenen Kopf kaum angelehnt und ein feines Noth auf den schmäler gewordenen Wangen. Er klagte nur, ihm sei noch immer, als kämpfe er mit dem Traum. „Könnt' ich aufwachen,“ seufzte er. Nun kommt eine schwere Zeit! sagte sich Mari¬ anne, und ihr ward so verzagt ums Herz, daß sie seinen Seufzer erwiderte. „Es ist Alles so unbegreiflich,“ fuhr er grübelnd fort, „immer im Dunkeln und Du immer bei mir und doch auch nur mit Deiner holden Stimme! Ich kann Dich nicht fassen, nicht finden und fühle Dich doch überall, — ich bin kein Mensch mehr — ich lebe nicht mehr in Luft und Licht — nicht mehr in Tag und Nacht — meine Atmosphäre bist Du, mein Morgen und mein Abend bist Du, Du mein Mond¬ schein und Du mein Sonnenlicht.“ — — — „Armer Alfred,“ schluchzte sie, „aber gewiß, es bleibt nicht lang' so! Der böse Alb fällt ab, wenn Du nur Geduld hast, der Arzt sagt's ja, und Du wirst wach, und Alles ist wie vorher.“ Er schwieg lange. „Wir müssen hinaus,“ sagte sie wie zu sich selbst, „daß Du wieder eine Lust fühlst und einen großen Athem. Der Doktor erlaubt's bald. Und für den Augenblick — da weiß ich auch was — — ich bin gleich wieder da.“ Er hörte sie hinausgehen und draußen reden. Bald trat sie wieder ein und rief mit Befriedigung: „Da bring' ich Dir das Dummerl, das Peterl, es hat ja schon lang zu Dir gewollt in das Zim¬ mer da.“ Sie setzte ihm das weiche Kätzchen zwischen die tastenden Hände; es reckte sich sogleich, auf dem Rücken liegend und äußerte die wohlbekannten Schnurr¬ laute. Ein Lächeln spielte um den Mund des Kranken. „Glaubst Du wohl, daß ich mich manchmal nach ihm gesehnt habe, wenn ich spät nach Hause kam? Immer wünschte ich, es aus irgend einem Winkel hervor miauen zu hören.“ „Das glaub' ich schon; meinst, ich möcht' so ganz ohne Thierle leben? Das wär' mir ein langweiliges Dasein.“ „So mein' ich's nicht, — aber es war ja das Deine.“ „'s ist noch arg jung und dumm.“ „Warst Du mir nicht böse, als ich's Dir hin¬ übertrug? Ich selbst hab' mich nachher meiner Zu¬ dringlichkeit geschämt.“ „Ich hab's für eine Freundlichkeit genommen gegen das Peterl; wenn's aber als Zudringlichkeit gegen mich gelten sollt', so hab' ich's nicht begriffen.“ Ihr Ton klang zum ersten Mal verletzt. „O verzeih' mir!“ rief er lebhaft, „ich war von Deinem Gesange wie berauscht, aber die so singen konnte, erschien mir hoch und herrlich, und Dir ist nie ein unbescheidener Gedanke zu nah getreten.“ „So schien mir Dein Gesicht,“ murmelte sie, „mir ist aber doch leid, daß Du nicht eigentlich wegen der Katz' kommen bist.“ Sie war aufgestanden und ins Nebenzimmer ge¬ gangen. Unruhig rief er nach einer Weile: „Du gehst doch nicht fort, Marianne?“ „Ich hole meine Arbeit,“ klang es mit ver¬ schleierter Stimme. „Arbeit?“ wiederholte er fragend. „Die grünen Vorhänge, die der Arzt bestellt hat, die weißen taugen Dir nicht.“ „Für mich!“ Alfred erhob sich plötzlich von seinem Stuhl und versuchte auf die offene Thür zu¬ zugehen. Sie aber hatte sich auf das Geräusch hin erschrocken umgedreht und eilte ihm entgegen, um ihn zu führen. „Wohin?“ fragte sie, indem sie seine Hand faßte und ihn aufhielt. „Zu Dir!“ rief er heftig. „Sehen will ich, ob Du wirklich ein Mensch bist oder ein Engel des Mitleids, wie ich Dich lange erblickt.“ „Ei was!“ erwiderte sie mit lachendem Unwillen. „Ich hab' Dir das Dummerl gegeben, daß Du ein bissel aus den Wolken herunterkommst! Ihr Männer seid auch immer über oder unter der Erde, — warum könnt Ihr denn nicht darauf marschiren? 's wäre doch das Einfachste!“ Schwindelnd von der ungewohnten Anstrengung war Alfred auf seinen Platz zurückgesunken. Sie legte ihm den Verband frisch um, lehnte seinen Kopf gegen ein Kissen und flüsterte mit ihrer liebevollen Stimme gute Worte. „Da ruh' Dich aus, und ich sitz' neben Dir und säume den Vorhang voll fertig, und wenn Dir's besser ist, da erzählst mir von Mutter und Vater und von zu Haus und was Du hier getrieben hast, und — gelt Du — die Deinigen müssen doch auch Nachricht von Dir haben, — so eine Mutter, die ängstigt sich ja zu Tod, wann sie nichts hört; — wann schreiben wir denn und was, daß sie sich nicht Alles noch schlimmer vorstellt?“ So ward geplaudert und der nothwendige Brief geschrieben, den Marianne entwarf, Alfred in Form brachte, und diktirte und abermals Marianne in sei¬ nem Namen niederschrieb. Der gefürchtete erste Tag des klareren Bewußtseins ging sanft vorüber und zeichnete gleichsam die folgenden vor. Es kamen Stunden des Vorlesens, reich an gemeinsamem Ge¬ nuß, denn Marianne las Verse mit feinstem Verständ¬ niß auch für die Form; es kam die erste Ausfahrt mit Leo als Kammerdiener auf dem Bock neben dem Kutscher. Der Wagen war offen, und voll fiel der Sonnenschein durch das seidne gleißende Buchengrün auf die emporgewendeten Gesichter. „Nun leih' mir Deine Augen und laß mich Alles sehen, was Du siehst,“ bat der arme Geblendete. Und Marianne verstand ihn so gut, und die Erinnerung an vergan¬ gene helle Tage kam zu Hülfe, so daß er trotz aller Entbehrung genoß. „Und Manches empfinde ich ver¬ stärkt, — hat denn das junge Laub auch früher so geduftet? Hat die Luft so weiche Finger über meine Backen gleiten lassen? Ich bin wie ein Blatt, das wohl auch nicht sieht und doch sich spreitet in Wonne und Wohlgefühl, ich trinke den Sonnenschein.“ Er saß da mit geöffneten Lippen und athmete tief. „Und Du bist neben mir; ich richte immer das Gesicht nach der Stelle, woher Deine Stimme dringt, und es ist immer wieder ein Schrecken, daß ich so ins Schwarze starre, — aber nun bist Du nah“ — „Da ist das Siegesthor,“ sagte Marianne, ihre Hand, die er zu fassen suchte, wegziehend. Ein Schatten flog über sein Gesicht. „Marianne,“ bat er, „ich möchte ein bestimmtes Haus sehen, es muß bald kommen, rechter Hand, mit den vielen Thürmchen“ — „Du bist bekannt dort, in der Villa Spitzer?“ fragte sie. „Da seh ich's schon, weiß und zuckrig, wie vom Conditor.“ „Was siehst Du? Ist der Garten leer?“ fragte er mit gewisser Aufregung. „Ich seh' Niemand, doch ja, dort unterm Flieder sitzt ein junges Mädchen, bunt gekleidet, dunkle Locken.“ — „Das ist sie!“ flüsterte Alfred. „Allein?“ „Ja, mir scheint so, sie schreibt oder zeichnet, willst Du hinein? Soll der Wagen halten?“ Ein helles Lachen ertönte. „Sie lacht ja, sie ist wohl doch nicht allein?“ Alfred hatte sich halb aufgerichtet und horchte mit unwilligem Gesicht. „Ach so, — sie spricht mit einem Nachbarn, scheint's, über den Zaun, ich seh' so ein Paar Bart¬ koteletten und einen breiten Strohhut; da lachen sie alle Beide.“ „Vorwärts, Kutscher!“ schrie Alfred und sank auf den Sitz zurück. Er hatte die Zähne in die Un¬ terlippe gebissen und die Stirn tief gesenkt. Sie fuhren schweigend vorüber. Nach einer Weile aber fühlte er seinen Arm berührt. „Wenn sie Dir werth war, hast darum keinen Grund zu dummen Gedanken,“ sagte sie ermahnend. „Ach, Marianne, es brennt mir schon lange auf der Zunge, Dir Alles zu sagen,“ rief er nun, „Du hältst mich für einen redlichen Menschen, aber ich bin falsch gewesen, — es ist vielleicht eine Strafe, daß ich am Tag darauf das Unglück haben mußte.“ „An solche Strafen glaub' ich nicht, aber er¬ zähl',“ sagte sie ernsthaft. Er beichtete nun, es ging wie ein Strom; er konnte kaum ein Ende finden mit Selbstanklagen und malte sich schwarz und schwärzer bis zu jenem Kuß an der Gartenpforte. „Und dann?“ fragte sie. „Dann kam die Krankheit und bewahrte mich vor weiterem Wortbruch,“ seufzte er. „War kein guter Entschluß vorangegangen?“ „Ich schwankte zwischen Reue und Verliebtheit! Armer Freund! Armes Mädchen!“ Ein leises Lachen unterbrach ihn, es klang wie Spott. „Marianne?“ rief er verwundert. „Alfred?“ „Nun? Du lachst?“ „Ihr seid närrische Leut'!“ erwiderte sie. „Ein Mädchen mit so glänzendem Haar! Glaub' mir, dem ist Dein Kuß wer weiß wie lang' wieder aus den Locken gefallen! Wer dahinein eine Rose steckt, der soll sie fein fest stecken, sonst haftet sie nicht lang. Liebst Du sie denn?“ „Nein!“ betheuerte er hastig. „O über Euch leichtsinniges Mannsvolk!“ rief das Mädchen. „Das sprüht Küsse umher wie der Springbrunnen Tropfen und säh's nicht einmal un¬ gern, wenn jeder Kuß für Ernst genommen würd', und jede arme Empfängerin ihn nun wie eine Re¬ liquie einbalsamirte! Die armen Kinder sind auch gescheut, und wenn nach so einem Luftkuß nichts weiter erfolgt, da bleibt's eben Luft auch für sie.“ „Du hältst mich gewiß für einen Gecken,“ fiel er kleinlaut ein. „Nein, nicht, — aber ein Gernegroß bist; ist's nicht im Guten, so sei's denn in Sünden, nicht wahr? Warum bist denn so zornig worden, wie das arm' Dingerl da übern Zaun geschwätzt und gelacht hat?“ „Schilt noch ein bischen,“ rief Alfred mit wiedergewonnener Sicherheit, „ich schäme mich zwar sehr, denn Du hast leider recht, — aber doch ist mir so wohl dabei — ich möchte dazu schnurren wie Dein kleiner Kater, wenn Du ihn liebkosest.“ „Geh', geh', so war's nicht gemeint! Aber heut' noch schreibst an den Wolff, das heißt, ich schreib' für Dich, daß wir Nachricht kriegen über die kranke Schwester, arm's Wesen, und er von Dir weiß und Deiner Verhinderung. Aber von dem einfältigen Kuß wirst nichts berichten, oder — —“ „Nein, nein! sie hat ihn ja auch längst vergessen, ihn und mich,“ sagte Alfred schnell. Frapan , Bittersüß. 7 „So ein schönes junges Mädchen kann auch nicht einem Mann nachfragen in der Stadt,“ meinte sie. „Wie seltsam, daß Du“ — fing er an. „Ja, ja,“ unterbrach sie ihn, „die Häßlichen sind doch für etwas gut, gelt? —“ „Du bist schön,“ sagte er träumend, „ich sehe Dich immer so wie Deine Stimme ist, so klar und rein und schön, und als ich Dich geküßt“ — „Still! sonst ist's aus,“ flüsterte sie. „Ich bin ja gefangen, Du hast nichts zu fürch¬ ten,“ sagte er und ließ den Kopf sinken. Da hielt der Wagen. Leo half ihm beim Aus¬ steigen, führte ihn auch bis ans Treppengeländer. Marianne sah mit thränenverdunkelten Augen das mühselige Tasten beim Hinaufsteigen; doch bot sie ihm nicht die Hand, und der Bub geleitete ihn ins Zimmer und auf sein Sopha. Marianne sprach mit der Wirthin draußen. Sie hatte bis jetzt das Zimmer neben dem des Kranken bewohnt, — nun war die gefährlichste Zeit vorbei, der Bub sollte von jetzt ab dort einquartiert werden, um immer zur Hand zu sein, doch sollte die Wirthin sich nicht sorgen, sie wolle trotzdem die Pflege behalten und tagsüber wie sonst um den Blinden sein. Dann kam sie herein und beantwortete Alfreds sehn¬ süchtigen Gruß mit freundlicher Ruhe. Sie schickte den Buben fort, das Nachtessen zu holen und erzählte, auf und abgehend, von der kranken Schustersfrau droben, die sie morgen besuchen müsse, und daß die Schwägerin so lange nicht geschrieben, und daß die neue Magd sich schier zu Tod fürchte, weil sie immer so allein sei, und noch mehr so Dinge. „Liebe Marianne!“ rief Alfred mit bebender Stimme. „Was ist?“ fragte sie aus irgend einer fernen Ecke des Zimmers hervor. „Du bist es müd', nicht wahr? Du willst fort?“ Ein Seufzer antwortete. „Sag's nur,“ rief er rauh, — „aber gieb mir auch mein Messer wieder, eh' Du gehst.“ „Was ich versprochen, halt' ich!“ erwiderte sie, schnell hervortretend, — „aber Du, mach's mir nicht gar zu schwer!“ „Alles, was Du willst, Geliebte!“ rief er, das schöne Gesicht mit den lichtlosen Augen flehend zu ihr gewandt. Da überwallte es sie; sie nahm seinen blonden Kopf in die Hände und preßte ihre Lippen heiß und lange auf die seinen. „Nur einmal, liebes Kind,“ flüsterte sie, „weil Du mir der liebste Mensch auf der Welt bist und weil — ich von Dir muß, wenn Dein Tag wieder anbricht.“ „Mein! mein!“ stammelte er, sie an sich drückend, „nie getrennt, Marianne! nie leben ohne Dich.“ 7* Er fühlte, wie sie sich in seinen Armen schüttelte. Nun machte sie sich vollends los, streifte auch seine Hände ab. „Bedenk', es war nur dies eine Mal, wird nie wieder sein.“ „Ist das Liebe?“ grollte er, die Arme ins Leere ausgestreckt, „thut so die Liebe?“ „Sie trachtet nicht nach Schaden,“ sagte sie mit der gewohnten klaren Stimme. „Horch, der Bub kommt mit dem Nachtessen, da halt ich mit, wie sonst, und schreib' dann an den Wolff, wenn Dir's recht ist.“ „Ach,“ klagte er, „Deine Empfindung für mich ist doch nur Theilnahme, Mitleid, und ich — ich liebe Dich!“ „Theilnahme, Mitleid, Freundschaft, Liebe, warum müßt Ihr nur den Menschen in soviel Stücke zerlegen!“ erwiderte sie eifrig, „ist ja doch Alles ein Gefühl!“ „Aber Liebe will doch auch haben, will nicht bloß geben,“ murmelte er. „Das ist ein Märchen,“ sagte sie zuversichtlich, „glaub' mir, Alfred, damit ist's nichts. Ein Kniff, eine niedrige Sach' mit einem hohen Namen zu ver¬ decken.“ Sie brach ab, athmete heftig, lachte kurz auf und sagte befangen: „Du meinst, weil ich Dich vorhin geküßt hab', könntest so mit mir sprechen? Weißt, ich hab' einen lieben einzigen Bruder gehabt, mit dem bin ich aufgewachsen und nach der Eltern Tod zusammen blieben; da haben sie ihn vor drei Jahren bei Champigny erschossen. Er hat eine La¬ dung Schrot ins Gesicht bekommen, aus irgend einem Mordwinkel, da er schon durch die Brust geschossen auf dem Krankenwagen lag. Ist so in Blindheit ge¬ storben. Ich war nicht da. Nun ist mir's oft“ — Sie hatte die Augen tief gesenkt, während sie sprach, — so merkte sie nicht, daß er sich erhoben und zu ihrem Stuhl gefunden hatte. Sie fühlte sich plötzlich umschlungen und an ein hochschlagendes Herz gedrückt. „Marianne,“ flüsterte er an ihrem Ohr, „liebst Du mich nur wie Deinen Bruder? Sag' —“ Ihre Antwort erstickte in seinen Küssen, die sie erwiderte, rückhaltlos, hingegeben, während ihr heiße Thränen entstürzten, die Beider Wangen netzten. Ein¬ mal versuchte sie, sich los zu reißen. „Aber bedenk,“ — flüsterte sie. „Nichts, als daß Du mein, meine, meine Marianne!“ Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich wieder zurückfallen, und die Stunden verran¬ nen ihnen im wortlosen Ineinanderströmen. — Es war dunkel geworden, tiefe Nacht. — Nun kam ein schmaler Mondstrahl irgendwo durch eine Spalte der Vorhänge herein und flog wie ein Silberblitz über Alfreds Antlitz. Wie schön er war in seiner Leiden¬ schaft! Marianne bebte zurück, erblaßte plötzlich, schlaff sanken ihre Arme von ihm ab. Es ergriff sie so, schüttelte sie, daß sie aufschrie vor Qual. „Wie lieb' ich Dich!“ stammelte Alfred. „Nein, nein,“ schrie sie verzweiflungsvoll, — „Du lebst von der Schönheit, Du bist ein Künstler, — Schönheit soll die Speise Deiner Augen sein!“ Damit floh sie hinweg, weinend, die Hände ringend und fortwährend murmelnd: „Nie wieder, nie nie nie wieder!“ Alfred verstand sie nicht. „Ist denn schon Mor¬ gen? Kannst Du mich jetzt, jetzt allein lassen? O, Du bist nicht mitleidig, Du bist grausam und ich — gefangen!“ Unterdessen lag sie vor ihrem Bette auf dem Boden und weinte, weinte. Neben ihr schnurrte das Kätzchen. Durch alle Stufen des Schmerzes begleitete sie der behagliche, gedämpfte Ton und lullte sie all¬ mälig in Ergebung. Ja, so geht es, dachte sie; über uns ist das Schicksal und schlägt uns mit Blind¬ heit und Leid, und rundum geht Alles weiter wie gewöhnlich, und das gute dumme Thierchen spinnt wie sonst. — Es war doch keine Befangenheit in ihrem Wieder¬ begegnen am nächsten Tag, die Freude nahm sie gleich weg, wie die Sonne den Reif. Es blieb ihnen er¬ spart, sich anzusehen, so konnten sie brüderlich schwester¬ lich liebevoll sich gute Worte sagen und den Tag be¬ rathen. Der Arzt hatte jetzt nichts dagegen, daß sich der Kranke dem Tageslicht aussetze; ein breitkrämpiger Hut schützte vor den blendenden Strahlen. Die rothen Flecke in den Augen hatten sich in weißliche verwandelt, die, immer undurchsichtiger werdend, das dunkle Blau der Iris und der Pupille verdeckten. Das war der Staar, den der Arzt vorausgesagt hatte. Je mehr er reifte, desto schwächer ward die Dämmerung, die noch hindurch fiel und dem Ver¬ letzten die Hoffnung erhielt, daß es drinnen noch ge¬ sund sei. Sie versuchten, Spaziergänge zu machen; doch erwies sich der Bub als ein kaum geschickter Führer, und sobald ein Straßenübergang nöthig ward, gerieth Marianne in Angst, vor rasch daherfahrenden Wagen. „Sie sollten hinausziehen, es wird ohnedies bald heiß werden,“ rieth ihm der Doktor. „Marianne?“ fragte Alfred statt aller Antwort. „Ich hab's mir auch schon gedacht,“ versetzte sie bereitwillig, „ich geh sogleich zur Huber und kündige das Logis auf.“ „Aber allein können Sie's nicht unternehmen,“ sagte der Arzt und blickte das Fräulein fragend an. „Ich weiß, ich bleibe bei ihm,“ — es war ihr aber doch ein leichtes Roth ins Gesicht gestiegen. Sie verließ schnell das Zimmer. „Sie dürfen dankbar sein,“ meinte der Doktor zu Alfred. Auch dem schoß es roth über die Wangen. „O, sie ist einzig,“ flüsterte er. „Als ich sie da das erste Mal sah,“ fuhr der Andere redselig fort, „dacht' ich: so ein wüstes Ge¬ sicht hast noch gar nimmer gesehen, und als ich mit ihr geredet hatte und wegging, dacht' ich: so ein an¬ genehmes Frauenzimmer hast Du gewiß nimmer gesehen.“ Alfred war erbleicht. „Ist sie so häßlich?“ fragte er tonlos. „Ich sag's ja, nein! ich seh's durchaus nicht mehr; sowie sie redet, ist Alles Seele, und dazu diese angenehme Stimm'! das gäb' eine exemplarische Frau.“ „Ja,“ sagte Alfred mechanisch. Während der Arzt fortfuhr, ihre Wärterdienste zu rühmen, sprang der Blinde plötzlich mit einer Frage ein. „Werde ich mein Augenlicht wiederbekommen, Doktor?“ „Ich hoffe so, — aber — in diesem Fall lassen Sie sich vorher trauen,“ er betonte das vorher und lachte dazu, wie eben so ein Mann lacht, den es nichts angeht. „Sie irren sich,“ rief Alfred aus seiner widrigen Empfindung heraus, „es ist nichts zwischen uns Beiden.“ Er konnte den erstaunten Blick nicht sehen, den der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬ drückten Ausruf: „Nicht? Schade dafür! Schade für Sie Beide,“ und blieb still und beschämt sitzen. Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen Treubruch begangen, drückte ihn fast zu Boden. Aber dieses Mal wollte er es gut machen, ohne Besinnen, an der feige Verleugneten selbst, wollte, sowie sie ein¬ trete, fragen — da kam sie schon. „Marianne, einzig Geliebte,“ rief er ihr ent¬ gegen, „sag' mir in diesem Augenblick, daß Du mein Weib werden willst!“ Er konnte nicht sehen, wie sie sich am Thür¬ pfosten festhielt und mit weitaufgerissenen Augen in seinem heißen, sonderbar bewegten Gesicht forschte. Doch mußte sie etwas darin nicht gefunden haben, denn sie kam langsam näher, legte ihre kühle Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es zuckte und hämmerte, und sagte ruhig: „Wenn Du nicht gesund bist, so können wir nicht nach Schlier¬ see und müssen noch warten.“ Einen Augenblick schwieg er betroffen, dann schrie er in herzzerreißendem Ton: „Ich will nicht länger blind sein! ich will Dein Gesicht sehen! ich will meine Augen wieder haben, meine Augen! meine Augen!“ Die ihren quollen über von Mitleid und Ent¬ setzen. „Komm!“ rief sie, den Arm um ihn schlingend und sein armes Haupt an ihrer Schulter bettend, „komm, mein Geliebter, mein armer Bruder, Deine Schwester ist bei Dir, die Dir hilft, die Dich trägt, die Dich lieb hat, die Dir nur Gutes wünscht, nur Gutes! Sieh, Herz, Du bist nun da in einem wil¬ den tiefen Strom, kannst jetzt nicht kämpfen, mußt still daliegen und Dich treiben lassen; und ich, ich treibe so neben Dir, und Du weißt doch, ich bin da, und Du nicht allein in der großen Wüste. Ist das nicht schon etwas? Und wenn Du nicht siehst, wohin wir treiben, ich geb' schon Acht.“ „Ich hab' Dich verleugnet!“ schluchzte er. „Still! still! nicht weinen, denk' an Deine Augen, und gräm' Dich nicht, — wer wird's denn auch den Fremden sagen? — das kann ja kein Frem¬ des verstehen! Der Doktor hat Dich ausfragen wollen, gelt? er hat mich auch letzthin gefragt, ob ich nicht Lust hätte, seine Frau Doktorin zu werden — er wußte wohl, daß ich nicht ja sagen würd' — aber er hätte mir's gern vom Mund abgepflückt, warum nicht.“ „Das war unwürdig! Das hätte er nicht thun sollen,“ brauste er auf. Marianne ließ ihn sanft aus den Armen. „Willst mir nun Eins versprechen? Du weißt was?“ „Warum?“ bat er dringend. „Weil ein Krankes zuvor gesund werden soll, eh' es, Entschüsse faßt! Versprich!“ Er legte zögernd seine Hand in die ihre; sie drückte sie kurz und fest. „Und nun horch, was mir vorhaben, liebes Kind; das Schliers kenn' ich gut, bin schon zweimal zur Sommerfrische dort gewesen; und, gelt, wir ge¬ hen ins Ort, nicht auf den Freudenberg; es ist zwar sehr schön droben, aber es kommen da so Pensions¬ gäste hin, mit Schleppen und Strickstrümpfen, allerlei Familienbrei, da setzen wir uns nicht drunter. Und der Leo muß mit, daß man Eins um die Hand hat, und das Dummerl geht auch mit in 'm Körble, es hat dort so herrliche Holzställe und Scheuern, wo's herumstreunen kann.“ Wie anders hatte sich der junge Bildhauer seinen ersten Reiseausflug ins Gebirge vorgestellt! Nicht im verräucherten Eisenbahnwagen, im rüstigen Wanderschritt, mit leichtem Gepäck hatte er gehofft, die schöne Welt zu sehen. Nun war das Gewicht, das er mit sich herumtrug, so schwer, daß er darüber der schönen Welt vergaß und mühselig und stumpf wie die blinde Schnecke dahin kroch. Die Treue der geliebten Gefährtin machte ihn wohl auf Stunden sein Leid vergessen, doch liebte er auch sie mit Angst; die schöne Sicherheit der Jugend war ihm erschüttert; seit er das Augenlicht verloren, schien ihm aller Be¬ sitz vergänglich. — Sobald er Mariannens Stimme nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: sie ist fort; so oft er in der Nacht erwachte, rief er angstvoll ihren Namen, daß sie oft zitternd aus dem Schlafe fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬ hörte, an seine Kammer schlich und ihn beruhigte, wie ein fieberndes Kind. Sie hatte eine bescheidene Wohnung gefunden; der See war nah, und schön waren die Stunden am Wasser. Alfred lag auf dem Boden ausgestreckt in der würzig duftenden Minze; Marianne saß auf einem Feldstühlchen neben ihm, vorlesend oder plau¬ dernd und Alfred mit ihren Augen sehen lassend, wie sie es nannten. Er sah dadurch die Form der wal¬ digen Ufer, den spitzen Kirchthurm des Dorfes, die Farbe des Wassers auf den perlmutterglänzenden Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche, wenn die Sonne hoch stand, die gelben Schwertlilien im windgeschwungenen Schilf, die munteren Wasser¬ staare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die Wellen streiften, nein, auch tief hineintauchten und auf dem Grunde dahinliefen; endlich das sonnver¬ brannte blonde Rudermädchen, Hoffischers Magd mit dem weißen Kopftuch und dem braunen grüngebän¬ derten Strohhut darüber. Was ihn neben allem Uebrigen drückte, war die gezwungene Unthätigkeit. Er hatte wieder zu schnitzeln angefangen, doch freute es ihn nicht, da er kein Zu¬ trauen hatte, es werde ihm gelingen. Marianne schnitt ihm dünne Binsen zurecht und lehrte ihn Blumenkörbchen flechten; er brachte sie zwar zu Stand, spottete aber dabei über sich selbst und seine Spitälerbeschäftigung, die er denn auch wieder liegen ließ. Sein Dasein hatte so vollständig durch das Auge Licht empfangen, daß ihm mit diesem Verlust Alles versagte. Endlich lernte er von einem jungen Burschen Zither schlagen und brachte es darin zu einiger Gewandtheit. Es gelang ihm, Mariannens Gesang hie und da zu begleiten, wo es sich um leichte Volksmelodien handelte, und daraus entsprang Freude und Genuß für Beide, die, seit sie so ver¬ bunden waren, eigentlich nur noch im Andern leben und sich freuen konnten. Einmal fuhr die rothwangige Hoffischers Magd eine muntere Gesellschaft nach Freudenberg hinüber. Sie stiegen nicht weit von Alfreds gewohntem Platz in das Boot, und die zwei Einsamen hörten ihr lautes Gespräch und ausgelassenes Gelächter. Der Blinde horchte auf. „Das könnte Fräulein Spitzer sein, die da spazieren fährt, sieh doch hin, Marianne.“ „Warum haben Sie denn den Schurz umgethan?“ hörten sie fragen. Und gleich kam die unvermuthete Antwort: „Weil's doch a bissel häuslicher aussieht.“ „Sie wird es wohl sein,“ sagte Marianne, „ein hübsches dunkles Mädchen mit einem rothen Schürz¬ chen und wahrhaftig — sie trägt auch einen Alpen¬ stock!“ Ueber Alfreds Gesicht flog ein gemischter Zug, halb Lachen, halb Bitterkeit. „Ja, das ist die Loni.“ „Der Vater ist auch dabei und eine ältere Frau, dann noch so junge Männer.“ „Wüßt ich nur etwas von Wolff! Er hat doch wohl unsern Brief nicht bekommen. So, die da singen!“ Ein lustiges Lied, ganz Tanzmelodie, schwebte durch den frischen Morgen verständlich und hell herüber: In grünen Laubeshallen, Da steht ein lustig Haus, Und Saiten hör ich schallen, Und Lieder klingen heraus. Aus all den offnen Thüren Dringt frischer Bogenklang, Die Vögel accompagniren Mit schmetterndem Gesang. O Tanzsaal ohne Gleichen, In kühler Schattennacht! Von Birken und rauschenden Eichen Umwölbt und überdacht. Was zauderst Du, Geselle? Wer zögert, der versäumt! Die Stunden wandern schnelle, — Getanzt! und nicht geträumt! Die Sonne hüpft über die Matten, Die Fischlein schnellen im Strom, Die weißen Wolkenschatten Wirbeln am Himmelsdom. Doch fröhlicher als sie alle Das klopfende Herz in der Brust — Versink! Versink im Schwalle Brausender Lebenslust! „Nein! nein!“ bat Marianne und hob ihm den Kopf in die Höhe, den er schluchzend in die Arme vergraben hatte. „Oder — sag' mir die Wahrheit, Alfred, ist Dir's noch immer weh um sie?“ Er schüttelte den Kopf: „Weißt Du, es ist nur, da fährt nun die Jugend und die Lebenslust und fährt an uns vorbei,“ sagte er mühsam. „Und Du sehnst Dich mitten hinein! Es ist so natürlich,“ flüsterte das Mädchen mit zuckendem Munde. „Ach,“ rief er plötzlich, die Arme ausgebreitet, „was für ein elender undankbarer Neiding ich bin! Hab ich nicht Dich! Hab ich nicht das höchste Gut der Welt? Komm, komm, laß mich wissen, daß Du mir bleibst, daß Du nicht froh sein könntest ohne mich, sag', daß Du mich liebst, Du Gute, Einzige!“ „Ich brauch' Dir nichts zu sagen,“ erwiderte sie sanft, doch bebte ein Krampf in ihren Zügen, und sie wich seinen Armen aus. „Es wird Zeit für uns Beide,“ murmelte sie in sich hinein. Er war schon wieder in seinen Grübeleien. „Daß auch Wolff sich nicht nach mir umsieht! Verstehst Du das? Ich hielt ihn für meinen Freund! Vielleicht ist er bei Spitzers gewesen, und Loni hat ihm gesagt, was mich stets beschämen wird in der Erinnerung.“ Er zerbrach einen dürren Ast knackend unter seinen Fingern. „Was für ein Freundesrecht hab' ich danach auf ihn? Aber er war so gut und so gescheut, er hätte mir von seinen Arbeiten gesprochen, da ich selbst müßig liegen muß.“ „Er wird schon kommen!“ Mariannens Ton war traurig, das fühlte er bis ins Herz. „Das Unglück macht die Menschen schlecht, un¬ sicher, bitter,“ sagte er wie zu sich selbst, „ich erfahre es an mir; jeden Tag nehm' ich mir vor, geduldig und gleichmüthig zu sein, aber immer geht's anders, und ich betrübe Dich, die ich beglücken möchte.“ „Zu Ende nächster Woche kommt der Arzt, lieber Alfred.“ „Ach, was bringt der! Denke Dir, Marianne, wenn ich jetzt sehen könnte! Den Kopf voller Ge¬ danken, die Hände voll Arbeit, und das Herz voll von Dir! Was für ein Leben! Nicht wahr, Du sängest dann auch heitere Lieder? Warum nicht? wir wären ja so glücklich! Und tanzen würden mir auch! Ich möchte für mein Leben gern mit Dir tanzen, Marianne!“ Sie antwortete nichts, doch er fuhr lebhaft fort: „Und wenn mir nun einmal etwas gelänge! Ein Kunstwerk! Denk' Dir, Marianne! Und Du die Erste, die es sieht. Denn ich hab' Dir's vielleicht im Werden verborgen, um es Dir ganz fertig zu zeigen! Erfolg mit Dir theilen dürfen, mit dem treuesten, liebevollsten Wesen der Erde! Was meinst Du, wär' es nicht das Paradies? Gieb mir wenigstens Deine Hand, und laß mich fühlen, das Du's auch so meinst!“ Es war ein heißer, stummer Händedruck, mit dem sie antwortete. „Sieh,“ fuhr er bewegt fort, „und wenn ich nun solch eine selige Möglichkeit vor mir sehe und mir's dann plötzlich eiskalt auf die Hoffnungen fällt: Frapan , Bittersüß. 8 blind! blind! unnütz! elend verurtheilt! dann könnt ich rasen, wie am ersten Tage, oder mich in das Wasser stürzen, wenn Du nicht wärst!“ „Ich glaub's schon,“ sagte sie. „Wir wären freilich nie zusammen kommen, ohne Dein Unglück.“ „So will ich es doch segnen!“ rief er hastig. „Was redest Du!“ flüsterte sie verwirrt. „Segnen!“ rief er, „segnen!“ riß ihre Hand an sich und biß heftig hinein, daß sie mit Mühe einen Schrei unterdrückte. „Es thut mir weh, so lieb hab ich Dich! Du kennst mich noch nicht!“ sprudelte er. Marianne hatte die Lippen auf die blutende Wunde gepreßt, aber wenn er ihre leuchtenden Augen hätte sehen können, er hätte sie wohl noch nicht los¬ gelassen. „Du Wilder!“ lächelte sie, „es blutet ordentlich! Ich bin nur froh, daß die Loni es nicht gesehen hat.“ Ein Schein von Uebermuth flog über sein Gesicht. „Manchmal kannst Du auch eine rechte Schel¬ merei sagen, ganz wie andere Mädchen!“ rief er be¬ wundernd. „Die Loni macht sich nichts aus mir, und ich mir nichts aus der Loni! Du aber —“ seine Stimme schmolz, wie immer, wenn sie ihm er¬ laubte, von ihr zu reden. Er hatte jenes zugleich Weiche und Sprühende des Wesens, das eigentlich den Zauber der Jugend ausmacht und nur den Aus¬ erwählten über Reifezeit und Alter verbleibt. „Du aber — Marianne — meine Marianne —“ „Komm!“ sagte sie mit einer gewissen Macht¬ losigkeit im Ton, „es ist Mittagszeit; die Sonne sticht, — unsere Wirthin wartet, und es kommt ein Gewitter; wir müssen heim —“ Und mit fürsorglicher Hand leitete sie ihn zurück durch die gewundenen Gäßchen bis zur Fischerliesel, wo schon die Nudelsuppe auf dem Tische dampfte. Hinter der Suppe saß aber bereits ein Gast mit einem vollen Teller vor sich. Doch schien er keinen Hunger zu verspüren, sondern rührte bedenklich in dem Fadenknäuel und sprang in voller Eile auf, als die Beiden in das Gastzimmer traten. „Alfred!“ rief er mit halberstickter Stimme. Und „Max, bist Du — ?“ klang es nicht we¬ niger bewegt zurück. Der Maler drückte ihn kurz und schnell an die Brust. „Da bin ich! und da bist Du!“ er athmete hoch auf, „und das ist Fräulein Marianne Einsele, die mir Alles geschrieben hat.“ „Ja, das ist die liebste Marianne. Ach, Max, daß ich Dich nicht sehen kann!“ „Gar nichts?“ rief der Maler betroffen, „ich dachte doch — aber der Arzt gibt doch Hoffnung?“ „Wer darf darauf bauen?“ Marianne sah die stumme Erschütterung in dem 8 * dunklen schmalen Gesicht des Freundes. Sie tauschte einen schnellen Blick mit ihm und sagte: „Doch! doch! wir dürfen hoffen.“ Die ersten Worte von dieser vollen tiefen Stimme machten Wolff aufschauen. „Sie haben ihm das Leben gerettet,“ sagte er halb für sich, „ich kann es begreifen.“ Ein schönes helles Roth färbte ihr Gesicht. „Nun sind wir froh, gelt Alfred?“ fragte sie, sich abwendend. „Erzähle,“ bat dieser. „Nein, weißt, zum Besten ist mir's auch nicht gangen, — meine arme Schwester — ist nun er¬ löst, aber —“ Ein ernstes Schweigen folgte. „Du hast sie gemalt?“ fragte Alfred zuletzt. „Hab' sie noch gemalt, ja, — und nachher war die Mutter, die alt' Frau so arg einsam, — ich bin schwer wegkommen und dann —“ „Hast Du Spitzers gesehen?“ „Ich glaub' schon! Das Fräulein ist mit dem Baron verlobt!“ — Wolff lachte kurz auf. „Nein!“ riefen die Freunde gleichzeitig. „Ich hab's ihr heut Morgen gesagt: „Wie können Sie den Menschen nehmen?“ Da zuckt sie die Achseln und sagt: „Ich weiß auch nicht.“ Der Maler sprang von dem Platz hinter dem kaum berührten Teller auf: „Sie weiß, daß ich's nicht leiden werde! Ich hätte nicht davonlaufen dürfen heut; sie sind Alle hier, ich war zu Anfang dabei — nachher — Du weißt ja, wie's zu gehen pflegt — der „Bräutigam“ war unausstehlich, der Alte zankt mit ihm, wird stark erhitzt. Ich red' ihm ab, in dem Zustand selbst nach Fischhausen zu rudern; es ist ja gewitterschwül; da sagt er mir Grobheiten, wie so ein blaurother, blutüberfüllter Kopf sie eben bereit hat. Das Fräulein tritt — zum ersten Mal — auf meine Seite! Der Bräutigam höhnt; und als sie ihn so abfällig durch die Finger gleiten läßt, wie einen falschen Kreuzer, macht er eine höhnische Bemerkung über sie und mich und sagt, er danke fürs Vergnügen und kehrt um. Da hätte der Alte sie fast mit dem Ruder geschlagen! Sie winkt mir, weggehen sollt' ich, o, ich hätt's nicht thun sollen! Aber ich wollte Dich aufsuchen, Alfred, darum ge¬ horcht' ich.“ „So mußt Du bald wieder fort?“ fragte Al¬ fred enttäuscht. „Nur sehen, was da geworden ist, — dann komm' ich zurück, wenn Fräulein Marianne es er¬ laubt.“ Wolff und Marianne hatten sich merkwürdig schnell verstanden, und ein gegenseitiges warmes In¬ teresse belebte ihr Gespräch. Der Maler schied, doch warteten die Freunde vergebens auf seine Rückkehr. Dagegen verbreitete sich Abends das Gerücht, daß drüben in Fischhausen Einer vom Schlag gerührt worden sei, ein Fremder von einer Gesellschaft. Bald wurden auch Einzelheiten erzählt. Die Leute hatten im Wald, nicht weit vom See, Karten gespielt; dabei muß der Eine stark hitzig geworden sein, des Wirths kleiner Junge hatte gesehen, wie er auffuhr und dem Andern mit der Faust drohte. Auf einmal aber sei er zurückgefallen und habe die Arme weit von sich gestreckt. Nun hab's große Verwirrung gegeben, und die Meisten seien davongesprungen, nur ein junges Fräulein hab' ihn aufgerichtet und jämmerlich ge¬ schrieen. Zuletzt sei noch Einer gelaufen kommen, der zuvor nicht dabei gewesen, schwarze Haar hab' er ge¬ habt und so ein bleiches Gesicht. Aber eine Bären¬ stärke, daß er hab' den schweren Mann in die Arm' nehmen und fortschleifen können; auch sei er bös hineingefahren in den Jungen, daß er da steh und gaffe, statt Hülfe zu holen. — Die Beiden, die diesen Bericht anhörten, hegten keinen Zweifel, wer der Betroffene sein möge und warteten gespannt auf die weitere Entwickelung. Andern Tags hörten sie, der Fremde sei ge¬ storben, und gegen Mittag trat der Freund auf einen Augenblick herein, überwacht und ernst, aber ruhig und entschlossen wie immer. Er war auf dem Wege nach München, — es war ja so natürlich, daß er all' die traurigen Geschäfte für die arme Hinterlassene übernahm. „Und der Bräutigum?“ fragte Alfred. Der Maler richtete sich straff auf: „Wir werden ihm die Wege weisen, — das gehört auch zu meinen Geschäften, — er hat sich übrigens bis jetzt noch nicht gemeldet —“ „Glück auf den Weg!“ riefen ihm die Freunde nach, er wandte ihnen noch einmal das Gesicht zu; es war tiefernst und doch sah es aus, als breche dort schon das Glück aus allen Linien hervor. Am nächsten Abend, als der Mond aufgegangen war, führte der Kahn der Schifferin einen Sarg herüber. Die ganze Dorfbewohnerschaft hielt sich still am Strande. Marianne stand unter den Leuten und sah mit Wohlgefallen, wie sich alle Häupter entblö߬ ten, als der schwarze Kasten herausgehoben ward, und wie sich viele Hände nach der verschleierten klei¬ nen Dame ausstreckten, um ihr ans Land zu helfen. Sie trug über ihrem bunten Kleide einen großen dunklen Mantel, den ihr die Wirthin geborgt haben mochte, denn er schlotterte um ihre feinen Glieder. — Ohne Besinnen trat eine Anzahl Männer heran, schulterte den Sarg und trug ihn schweigend nach dem Bahnhof. Es folgte Niemand als der blasse schwarzhaarige Maler und das verschleierte Fräulein, das er an der Hand führte. Als sie an Marianne vorüber kamen, grüßte Wolff mit stummer Gebärde und deutete mit mitleid¬ fordernden Augen auf die zarte wankende Gestalt neben sich. Marianne blickte ihnen nach, so lange sie konnte. Dann ging sie zu Alfred, der im Zimmer geblieben war, und sagte, seine Hände fassend: „Nun sind sie beisammen, nun darfst Du ruhig sein.“ Dann erzählte sie. Alfred horchte gespannt, endlich sagte er: „Sie sind glücklich, aber es ist doch auch auf einen schwarzen Grund gebaut.“ „Die Erde, die wir treten, ist Moder,“ erwiderte sie langsam, — „es blühen aber doch Blumen darauf.“ „Du hast einen seltsamen Gleichmuth, Marianne,“ rief er aus, „wie kannst Du all die Gegensätze so er¬ tragen?“ „Ich denk' halt, ich werd' nicht ewig leben,“ sagte sie gelassen, doch war ihr Gesicht nicht ganz so ruhig, wie ihre Worte. — Am andern Tage stand die erneute ärztliche Untersuchung bevor; der Arzt, der seine Schwestern zur Sommerfrische in Freudenberg hatte, benutzte die Gelegenheit zu einem freien Sonntag Nachmittage. Als er nach eingehender Beobachtung des Kranken ging, ließ er die Beiden in Bewegung zurück: in zwei Monaten etwa könne man zur Operation schreiten, hatte er erklärt. Das wäre schon an sich eine auf¬ regende Mittheilung gewesen, ward es noch viel mehr durch das dunkle Räthsel, das dahinter stand: wird die gute oder schlimme Möglichkeit jetzt eintreten. Hätte er doch lieber noch geschwiegen! Alfred konnte kaum mehr schlafen, — war in ewiger Unruhe und erschreckte seine Gefährtin durch die schnellsten Ueber¬ gänge der Stimmung. Er sah es nicht, wie bleich sie ward in diesen Tagen, wie ihre Hände zitterten und wie oft ihre Augen mit einem seltsamen, bohren¬ den Blick in seinem Antlitz zu forschen schienen. Sie hatte ihre Stimme ganz in der Gewalt und blieb immer dieselbe tröstende, lindernde Freundin. Nie hatte ihr Gesang herzbewegender geklungen, als in dieser langen Zeit. Ein Besuch unterbrach die Stille. An einem feuchten grauen Morgen, wie sie im August an diesen Seen schon vorkommen, erschien ohne Anmeldung ein Paar in der „Fischerliesel,“ das nach den jungen Herrschaften fragte und von dem stiefelwichsenden Jungen in den Wald geführt ward, zu dem Blinden und seiner Marianne. Alfred lag in einer Hängematte, Marianne saß mit einem Buch auf einem Baumstumpf daneben. Ein freundlicher Zuruf schon von Weitem meldete den Besuch. Alfred sprang aus dem Netz, Marianne reichte den Freunden die Hand. Wolff legte den Arm um den Maler. Es war ein gegenseitiges stilles Mustern, stummes Grüßen. Loni Spitzer in Trauerkleidern, etwas schmal und bleich, aber lebhaft wie immer, begann zuerst das Gespräch. „Ja, was hätt' ich wohl anfangen sollen ohne den Muckerl! Das heißt, ich darf ihn eigentlich nicht mehr so nennen, und Max klingt auch viel flotter, gelt? Aber es war doch eine schöne Zeit, da er noch der Muckerl war und der Papa noch lebte!“ Sie fing plötzlich heftig an zu weinen, hob dann aber ihr nasses Gesicht aus dem Taschentuch und sagte mit glänzenden Augen: „Und der Maxl nimmt mich ganz ohne Mitgift, gelt, das ist schön von ihm. Es war kein Geld im Haus, um das Begräbniß zu bezahlen; der arm' Papa hat garnicht gedacht, daß er sterben könnt, na¬ türlich!“ „Und der „Baron“?“ fragte Marianne schelmisch. Loni schlug die Augen nieder. „Ui, der Lackl! Ich bin nur froh, daß ich den nicht kriegt hab'! Wissens, was er g'sagt hat, als ihm der Maxl zu verstehn geben, daß ich keine Mit¬ gift hätt? 's wär ihm leid, hat er g'meint, aber er könnt mich so nimmer nehmen, ich hätt mich zu arg kompromittirt, daß ich in Fischhausen bei der Leich' blieben wär', und der Maxl sei auch dablieben!“ Eine flammende Röthe zog über ihr Gesichtchen, sie lachte voll Zorn und Verachtung und stampfte mit dem Fuß. Wolff wollte sie an sich ziehen. „Nein, laß,“ sagte sie sanft abwehrend, „ich muß mich noch beim Herrn Heuvels bedanken; er hat den Muckerl immer herausgestrichen; so ist's kommen, daß ich a recht's Zutrauen zu ihm kriegt hab'.“ Sie drückte Alfreds Hand. „Unsre Villa ist verkauft, und morgen ist Hoch¬ zeit, aber ganz still, und dann fahren wir nach Italien, in so ein kleines Nest, sagt der Maxl, und suchen uns da 'n paar Stuben. — Es wird schon recht komisch sein, wenn der Maxl immer so da ist, — ich war ja sonst immer allein. In Italien dürft' ich so toll sein, wie ich nur immer wollt', sagt der Maxl, und das ist gut; ich mein', seit der Papa lodt ist, könnt ich nimmer recht lachen.“ Sie lachte, und die Thränen liefen ihr wie Regen über die Wangen. Der Maler ließ sie immer allein reden und sah nur von Zeit zu Zeit Marianne mit leuchtenden Blicken an, als wolle er sagen: „Und die ist nun meine!“ Mit kindlicher Neugier guckte Loni in Alfreds getrübte Augen. „Sehen Sie denn gar nix? Auch mich nicht? Das ist aber doch arg!“ Sie blickte entsetzt und fragend ihren Verlobten an. Wolff legte den Finger auf den Mund. Da nickte sie schnell und fuhr in heiterem Ton fort: „Wenn Sie wieder sehen können und Ihr Zwei verheirathet seid, besucht Ihr uns in Italien, gelt?“ „Ja!“ murmelte Alfred. Marianne hatte kaum merklich den Kopf ge¬ schüttelt. Nun, da Wolff sie ansah, legte auch sie den Finger auf den Mund. Dann machte sie ihm ein Zeichen, und als Loni ihr Geplauder mit Alfred wieder begonnen hatte, traten die zwei Andern bei¬ seite, und Marianne flüsterte leise und eifrig mit dem Maler. Mit tiefbewegten Gesichtern, Marianne mit nassen Augen, der Mann nachdenklich und trübe, wendeten sie sich dann um, gerade als Alfred rief: „Marianne! bist Du da?“ Die Blicke der Beiden flogen auf diesen Ruf einander noch einmal zu, Wolff schien mit stummer, vorwurfsvoller Bitte zu ermahnen. Marianne kehrte mit gesenktem Haupt zu Alfred zurück. „Da bin ich; Du hast mich gerufen.“ Man blieb bis zum Abend beisammen. Mari¬ anne begleitete sie durch den Garten hinaus. Als man schon Abschied genommen, hörte sie, wie Loni mit ihrer unbekümmerten Lebhaftigkeit sagte: „Weißt, Maxl, ich mein', sie sei garnicht so wüst, wie Du's gemacht hast! Ich war auf ein noch weit ärgeres Meerwunder gefaßt. Und dazu, wenn der Alfred blind ist, wär's fast schad' um 'ne Schöne, gelt?“ Das Rauschen in den Bäumen übertönte die Antwort. — In Mariannens Zimmer brannte das Licht die halbe Nacht durch, und der Wächter sah sie ruhelos auf und ab wandern und hörte, daß da drinnen laut aufgeschluchzt ward. Neugierig trat er an das helle Fenster, — da erlosch das Licht, aber immer, wenn er wieder vorbei kam, scholl es wie unterdrücktes Weinen. Die Zeit verging doch, so lang sie ward. Man kehrte nach München zurück, zurück sogar in das alte Quartier zur Wittwe Huber, deren Zimmer über Sommer wenig Annehmlichkeit boten und mithin auch wenig Liebhaber fanden. Emerenz, noch dünner und brauner, aber behend und langzopfig wie sonst, lief ihnen mit einem Freudenschrei entgegen und machte fast Anstalt, ihren Bruder Leo zu umarmen, ward aber noch rechtzeitig durch die unnahbare Miene des Burschen und seine auf dem Rücken gefaltenen Hände an den Schicklichkeits¬ begriff erinnert. „Und wo ist denn das Dummerl?“ Ja, das zierliche Kätzchen war ein Riesenkater gewor¬ den und wild obendrein, und es war aus dem Eisen¬ bahnwagen wieder hinaus und in die Holzställe und Scheunen zurück gesprungen, drin es sich so lange getummelt hatte. „Dem hat's in Schliers zu gut ge¬ fallen, das kommt nimmer.“ Emerenz sah das Fräulein ganz verwundert an, das klang arg gleichgültig. Die Nachbarkinder schoben einander vorwärts, dem Fräulein Marianne zu. Sie faßte auch all die kleinen, nicht durchweg reinen Pfötchen, die sich ihr entgegenstreckten, aber sonst hatte sie dabei ein freund¬ liches Wort für sie gehabt, ein Streicheln übers Haar, eine Frage nach den Eltern; heute sah sie die Kleinen zerstreut an, und das Häuflein starrte ihr enttäuscht nach — es war nichts von Bretzeln oder Zwetschen vorgekommen. Sie stieg mit ihrem Schützling in seine alte Wohnung und machte es ihm dort behaglich, ehe sie sich in ihr eignes Quartier im Hause gegenüber be¬ gab. Mit einem gewissen Wohlgefühl setzte sich Al¬ fred wieder auf das kleine steife Sopha, — hier hatte er glückliche, hoffnungsvolle Stunden verbracht, hier hatte er Marianne zum ersten Mal singen hören. Wie war doch sein Leben so zu einem Traum zer¬ ronnen! — Der Arzt erschien, stellte eine neue Untersuchung an und verkündigte ihm, die Operation könne mor¬ gen, übermorgen vorgenommen werden. Jawohl, in diesem Zimmer, wenn er's wünsche. Und er setzte sich zu ihm und erzählte ihm und Mariannen, daß es eine leichte Sache sei, diese Ablösung der Trübung von der verletzten Hornhaut, und daß die Nach¬ behandlung im verdunkelten Zimmer durch Aetzmittel die letzten Flocken zerstören werde. „Und nachher?“ fragte Alfred furchtsam. „Und nachher sehen Sie wieder,“ fuhr der Arzt zuversichtlich fort. „Sie bestätigen mir ja selbst, bis vor einigen Monaten noch hie und da Lichtempfin¬ dungen verspürt zu haben, — wäre die Netzhaut zer¬ rissen, so hätte das nicht sein können.“ Alfred sprang auf. „Marianne! Marianne!“ Er suchte nach ihrer Hand. „Still!“ flüsterte sie ihm zu. „Wir werden noch alle Kräfte nöthig haben.“ „Du wirst dabei sein?“ „Ich verlasse Dich nicht.“ „Sie dürfen sogar dem Patienten die Hand halten,“ fiel der Arzt gutmüthig ein, „es ist mir so¬ gar willkommen.“ Und so geschah es. Als der junge Bildhauer auf dem Bette lag, der Arzt und sein Beistand die feinen Messerchen in Bereitschaft setzten und endlich die entscheidenden Stiche geschahen, da lag Alfreds Hand fest in der warmen treuen Hand Mariannens, und wie ein elektrischer Schlag sprang jede Bewegung von dem seinen in ihren Körper hinüber. Auf ein¬ mal flog es wie ein Blitzstrahl durch ihn hin: „Licht! Tag! Ich sehe!“ „Schön so! recht so!“ rief der Arzt, selber in lebhafter Bewegung und verdeckte das operirte Auge, „nun das Andere.“ Und abermals schrie er nach standhaft ertragenen Schmerzen: „Marianne! Marianne! ich kann sehen! Das Fenster, den Sonnenstrahl, warum nicht Dich?“ Der Arzt hielt ihn fest. „Keine Bewegung zur Seite, es ist gewonnen, danken Sie Gott und — dieser Dame!“ „Und Ihnen!“ rief er feurig. Hochaufschluchzend ließ Marianne seine Hand fahren, um sie gleich wieder zu ergreifen und an ihre nassen Augen zu drücken. Zum ersten Mal versagte ihr die Stimme, die im großen Leid so klar und fest geblieben war. „Ach, warum schon wieder verdecken?“ klagte der Kranke, „muß es denn sein?“ „Geduld, in einigen Tagen! Es ist ja Alles gut. Aber still müssen Sie sich halten, kein Glied rühren heute, Sie wissen ja, wir haben das zuvor besprochen.“ — Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel für Alfred. Sehen! sehen dürfen! denn am Können fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬ deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen sprach. Auch Marianne war still und tief in Ge¬ danken. Nun, da es eingetreten, schien Beiden, als sei es das sicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬ ders kommen können. Der Arzt sprach jetzt zweimal des Tages vor. — Die Stunde kam, wo er sagen konnte: „Morgen stehen Sie auf, und die Binde wird abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬ gen können.“ In der Nacht vor Ablauf dieser letzten Zeit hatte Alfred einen seltsamen Traum. Eine Gestalt kam unhörbar herein, stand plötzlich neben seinem Bette und küßte ihn leise auf Mund und Augen. Er griff danach, doch zerfloß sie ihm unter den Händen. Mit heftigem Herzklopfen sagte er die Worte: „Ist dies ein Abschied?“ „Ja,“ antwortete eine gebrochene Stimme. Er schrie auf und erwachte in unbeschreiblicher Beängstigung; er setzte sich aufrecht, heiß und zitternd und starrte im Zimmer umher. „Marianne!“ rief er zuletzt; dann sich besinnend, daß sie ja nicht im gleichen Hause wohne: „Leo!“ Schlaftrunken, im Hemde, stolperte der Junge Frapan , Bittersüß. 9 nach einer Weile herein, Alfred sah in dem schwachen Dämmerlicht den großaufgerissenen Mund. „War Jemand hier? Hast Du Jemand ge¬ sehen, Leo?“ „Na!“ sagte der Junge kopfschüttelnd und gähnte laut und nachdrücklich. „So leg' Dich wieder hin,“ befahl Alfred, „schlaf nur.“ Der Junge nickte bereitwillig mit dem Kopf; kaum war er fort, so tönte schon wieder sein Schnar¬ chen aus dem Nebenzimmer. Alfred lag wach bis an den Morgen, dann fiel er noch einmal in tiefen Schlaf. Er erwachte davon, daß er seine Schulter be¬ rührt fand. „Heute also haben wir den großen Tag,“ sagte die Stimme des Arztes. „Ich wundere mich ganz, Sie noch so vertieft zu finden.“ „Heute also,“ erwiderte Alfred mit einem tiefen Aufathmen, das fast einem Seufzer glich. „Haben Sie das Fräulein schon gesprochen?“ — „Ich komme erst eben, wir bedürfen übrigens ihres Beistandes nicht. Wissen Sie was? Sie klei¬ den sich geschwind an, und ich führe Sie hinüber — Fräulein Einsele wohnt doch drüben? — Das wird eine Ueberraschung sein, was? Aber eilen müssen Sie! Um 9 Uhr fängt meine Sprechstunde an.“ Der Patient gehorchte; mit Leo's Hülfe war er bald fertig; der kleine Kammerdiener hatte sich an das Dämmerlicht so gut gewöhnt wie Marianne. Als der Arzt den vor Aufregung Sprachlosen in das helle Nebenzimmer geleitete und Alfred beim Anblick der so lang entbehrten Sonne in heiße Thränen aus¬ brach, flog es auch dem jungen Doktor roth um die Augen. „Wir bringen es im Ganzen recht selten dazu,“ sagte er, Alfreds Hand drückend, „und auch bei Ihnen — was hätten wir machen können, wenn die Netzhaut zerrissen gewesen, wie man anfangs befürch¬ ten mußte? Dann säßen Sie noch jetzt rettungslos im Dunkeln.“ „Marianne!“ murmelte Alfred unruhig — „son¬ derbar ist es doch —“ Der Arzt faßte seinen Arm, denn er ging schwan¬ kend und unsicher. Als sie auf die Straße kamen, blieb der Bildhauer stehen, warf staunende Blicke ringsum und erhob dann plötzlich die Arme, als wolle er den sonnigen blauen Himmel, die herbstrothen Bäume, die auf ihn zukamen, an seine Brust schließen. Ein kleines Mädchen kam daher gelaufen, sah ihn eine Weile schüchtern fragend an und streckte ihm dann das Händchen entgegen. „Babettle!“ rief Alfred, „das Babettle, — und ich kann es wieder sehen.“ 9* Die Kleine ließ seine Hand nicht los, und er schaute wieder in das schöne volle Gesichtchen des in Gesundheit blühenden Kindes. Es war noch nicht ein bischen aufgewacht, die großen blauen Augen noch ebenso still und ziellos wie früher. „Ich darf wieder arbeiten?“ fragte Alfred den Begleiter, und in seine Züge schien alle Begeisterung, alle Freude des Lebens wieder einzukehren. „Mit Maßen im Anfang; ist das Kind ein Mo¬ dell von Ihnen?“ „Mein Sternthalermädchen, für das ich damals den Marmor aussuchte; — ich bin aber bescheidener geworden; wenn es mir zum hundertsten Theil ge¬ lingt, die Märchenstille hier“ — er legte dem Kinde die Hand aufs Haupt. „Ist es hier?“ fragte der Arzt, denn sie hatten die Treppe erstiegen. „Dort, die Thür, die offene; ja warum denn offen? Ich bin nur einmal hier gewesen, ich irre mich doch wohl“ — Alfred war hastig bis zur Thür geschritten, hatte auch das Zimmer betreten und hinter sich offen gelassen. Neugierig folgte der Arzt. Er sah den Bildhauer in einer Ecke stehen, das Gesicht zur Wand gekehrt und in den Händen vergraben. Das Zimmer war leer, völlig ausgeräumt, ebenso das nächste, dessen Thür gleichfalls offen stand. Der Arzt spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle, besann sich aber, trat an den Bildhauer heran und sagte, ihm die Hand auf die Schulter legend: „Wollen wir nicht die Wirthsleute fragen?“ Das Gesicht, das ihn ansah, erschreckte ihn: „Sie ist fort,“ sagte er mit Verzweiflung in Ton und Blicken. Der Doktor stand rathlos. „Sie sagen das so bestimmt — wollen wir denn nicht die Wirthin fra¬ gen?“ — Er zog die Uhr. „Dazu sehe ich mit Be¬ dauern, daß meine Zeit abgelaufen ist! Was machen wir denn jetzt? Sie müssen doch mit herunter¬ kommen?“ Alfred reichte ihm mit abgewendetem Gesicht eine kalte bebende Hand. „Ich danke Ihnen, bitte, gehen Sie fort.“ „Verrücktes Weibervolk!“ brummte der Doktor im Abgehen. Dann war der Verlassene allein; das Kind stand draußen auf dem Flur und hörte seine Seufzer und erstickten Ausrufe. Er mochte lange so mit seinem Schmerz gerun¬ gen haben, da kamen Schritte auf die Thür zu. Er raffte sich zusammen und floh wie ein Verfolgter hin¬ aus, die Treppe hinab und über die Straße in seine Wohnung. Als er eintreten wollte, sah er, daß ihm die Kleine nachgelaufen war. Er sah sie von der Seite an, dann ließ er sie mit hereinschlüpfen wie ein Hündchen oder Kätzchen, das ein Recht hat auf den Eintritt. Leo kam ihm entgegen, es schien, daß er eine Frage in seinem dicken Kopf bewege. „Fräulein Marianne?“ sagte er erwartungsvoll. „Sie war nicht hier?“ rief Alfred, von einer blassen Hoffnung erfaßt. Der Junge schüttelte den Kopf. „Es hat mich selbst gewundert.“ Alfred schlug die Thür hinter ihm zu und warf sich in einen Stuhl. Doch war kaum eine Minute vergangen, so ward die Thür wieder geöffnet, und der Junge guckte herein: „Die Emerenz hat gesagt, das Fräulein sei fort.“ „Wo ist die Emerenz?“ rief Alfred aufspringend. „Sie ist schon wieder weg, und die Hausfrau hat mir den Brief da geben.“ Alfred nahm ihn kopfnickend, wie etwas Er¬ wartetes. Als er ihn aber entfaltete und las, all die Liebe und Zärtlichkeit, die ein blutendes Herz in diese Blätter gelegt, da brach er ganz zusammen und rief mit tausend Schmerzen nach der Geliebten und Verlorenen. Warum verloren? Ach, da stand es nur zu klar: „Ich bin nicht schwach, geliebter Freund, aber doch auch nicht stark genug, um noch einmal Dein Zurückschaudern zu ertragen, wenn Du mich erblick¬ test. So hab' ich Dir und mir das Herzeleid anthun und grade den schönsten Tag Deines Lebens durch den Abschied trüben müssen.“ Zuletzt kam eine Bitte, sie nicht aufzusuchen. „Ich gehe fort, unter verändertem Namen. Von Dir aber werde ich hören. Hab' Dank für alles Glück. War's auch in Deinen Augen wenig, so war's doch mehr, als ich je beanspruchen durfte. Und nicht sorgen um einander, Geliebter. Dir hilft die Kunst und das neugewonnene Tageslicht; ich — hab' es schwerer — aber ich habe ja auch gelebt vorher, werd's schon wieder lernen.“ Als Alfred nach Stunden aus seinem schmerz¬ lichen Brüten erwachte, sah er die Kleine noch im Zimmer stehen. „Was willst Du noch?“ fuhr er sie an. Babettle's große Augen trübten sich; kläglich brachte sie's heraus: „Das gute Fräulein hat gesagt, ich soll gleich hergehen und dableiben, bis Sie mich wegschicken.“ Da nahm er die Kleine in den Arm und küßte ihre nassen Lider, während ihm selbst die Tropfen herunterliefen. „Komm morgen wieder, — ins Atelier, Du weißt ja,“ flüsterte er, „wir müssen thun, was das gute Fräulein gesagt hat.“ Es war sechs Jahre später. Da kamen an einem Septembernachmittage zwei Fremde in Stutt¬ gart an, ein Herr und eine Dame. Daß sie fremd hier waren, hörte man an den entzückten Ausrufen der jungen Frau im grauen Reiseschleier, als sie am Königsbau standen und ihre Augen über die Palmen und Bananen des Schloßplatzes hinweg zu der lieb¬ lichen Hügelkette dahinter wandern ließen. Die grü¬ nen Weinberge dort, der rothe Erdboden, die hell¬ getünchten Häuschen unter den Obstbäumen, all' das strahlte und glühte in reinen satten Farben, erhöht und doch wieder gemildert durch den sonnigen Staub, der die ganze Luft erfüllte. „Das ist ja wie bei uns unten in Italien,“ sagte die Dame, „jetzt freut mich's erst, daß sie hier wohnt, gelt, Maxl? Ob wohl die Forststraß' da droben ist, wo die netten gelben Häuserln stehen?“ Nein, die Forststraße lag hinter ihnen, wie man sie belehrte, und sie hatten durch allerlei Gassen zu gehen, das Grün hinter sich zu lassen, zwischen Mauern dahinzuschreiten, die Gluthhitze von sich spieen, auf weiß blendendem Boden, der heiß war. Loni, die ein wenig stark geworden, stützte sich schwer auf ihren Mann. Endlich standen sie vor einem größeren Gebäude, das den Eindruck machte, ein öffentliches zu sein. Ein Vorgärtchen mit bestaubten Sträuchern schied es von der Straße. Unter den Büschen auf niederen Bänken saßen einige Knaben, mit Strohflechten be¬ schäftigt; sie hoben die Köpfe beim Geräusch der Schritte, standen aber nicht auf. Die Hausthür war nur angelehnt. Drinnen war es angenehm kühl und sonnenlos. Wolff zog die Glocke. Sogleich sprang die zweite innere Thür auf, und nun standen sie auf einem großen Flur, in den eine Reihe von Sälen mündete, Alles nüchtern, schmucklos, viereckig. Es war still hier; die beklemmende Atmosphäre, die grö¬ ßeren Anstalten eigen ist, fiel bei der Hitze doppelt auf. Loni schüttelte den Kopf: „Hier sind wir nicht recht; sie hat doch geschrieben, es gehe ihr so gut.“ Ein Mädchen trat aus einem der Säle, einige Teller in der Hand. Wolff ging auf sie zu und fragte nach dem Fräulein Marianne. Nein, Fräulein Marianne war nicht daheim, das gute Fräulein war mit einigen der Zöglinge ausgegangen. „Sie heißt auch hier das gute Fräulein,“ flüsterte Wolff seiner Frau zu, „frag' doch, wann wir sie sicher treffen.“ Das Mädchen gab für den nächsten Tag eine bestimmte Zeit an; sie trugen ihr Gruße auf; dann wandten sie sich mit schwer enttäuschten Gesichtern zum Weggehen. Loni wagte kaum, die Kinder anzusehen, die mit vor¬ sichtigen, tastenden Bewegungen über den Flur gin¬ gen, und deren blicklose Augen beredt genug sprachen. Als sie draußen waren, schüttelte die kleine Dame sich zum zweiten Mal: „Nein, das kann ich nicht begreifen!“ rief sie ungeduldig. „Es ist sehr trübe,“ erwiderte der Maler ge¬ preßt, — „komm, wollen sehen, daß wir aus den dumpfigen Straßen hinaus kommen.“ Sie fanden sich über einige schattenlose breite Staffeln hinauf, die ins Grüne führten, und standen aufathmend an einem schönen, von großen, höher¬ liegenden Gärten begrenzten Wege mit villenartigen Häusern, weitverstreut zwischen dem üppigen Grün. Ein frischeres Lüftchen kam den langsam ansteigenden Weg herabgefahren und flog ihnen kühlend und mit tausend Blumendüften gemischt um die erhitzten Ge¬ sichter. Der Weg ward reizender, je weiter sie hin¬ aufgingen; keine Häuser mehr, nur noch Baumgüter, in denen die Aepfel roth aus dem Laube her¬ vorschimmerten, wo die Kinder mit den Amseln um die Wette beim Auflesen der Früchte lärmten. Der Weg ward zum Hohlweg, immer höher stieg er an, rechts und links, bis zu einer Eisenbahnbrücke, die sich hoch über der gekrümmten Straße wölbte und das anmuthige Landschaftsbild, die Weinberge mit dem darüber aufsteigenden Fichtenwald, wie in einen schwungvollen Rahmen faßte. Dicht hinter dem Bogen, abseits vom Wege, lag ein großer Rasenplatz mit einem einzigen jungen Bäumchen und einer Bank darunter. Sie hörten dort lachen und singen; eine frohe Kinderschar drängte sich um die Bank, Andere lagen, Blumen und Halme zusammenbindend, im Gras. An der Bank ward zu trinken geschenkt. Ein schlankes, halb ländlich gekleidetes Mädchen füllte die Gläser aus einem großen Eimer; das Fräulein auf der Bank reichte sie umher, eben hielt sie einem Kinde den Trank an die Lippen. Sie hob dabei ein wenig das Gesicht, das ein großer dunkler Strohhut beschattete. Wolff drückte Loni's Arm: „Da ist sie ja! Da ist sie!“ Und nun sah sie die Beiden und stellte das Glas auf die Bank, um den Freunden die freien, ausgestreckten Hände zu reichen. Es lag etwas so Frisches und Freudiges in ihrer Gebärde, der Gruß der tiefen weichen Stimme klang so vertraut, so un¬ verändert, so aus der Seele, daß es dem Manne warm emporquoll, und daß Loni die Wiedergefundene ohne Umstände mit beiden Armen umschlang und küßte. Marianne ließ sich geduldig so halten, sie ruhte einen Augenblick still in Freundesarmen und sah ganz aus der Nähe prüfend und lächelnd in das feine scharfe bräunliche Gesichtchen; es war nicht ganz das frühere, hier schien etwas aufgewacht zu sein, von dem Loni Spitzer wohl selber kaum geträumt hatte. „Bring doch geschwind noch zwei Gläser, Nanele, — es ist eine gute Milch, frisch gemolken, da müßt Ihr mithalten,“ sagte Marianne eifrig und machte dem Paare Platz auf der Bank. „Und hier bist Du!“ sagte Loni, noch immer verwundert. „Hier bin ich.“ Ein kleines Kind kam heran und legte ihr ein Sträußchen in den Schoß. Ein anderes umklam¬ merte, hinter der Bank stehend, ihren Hals. Mari¬ anne legte ihre Hand auf die zwei verschlungenen Kinderhändchen und sah den Freunden ruhig in die Augen. „Sie sind wohl recht brav und haben Dich lieb, gelt?“ meinte Loni. „'s passirt,“ erwiderte Marianne lächelnd und den kleinen Kopf streichelnd, der sich von hinten jetzt auf ihre Schulter legte. „Sie können auch singen.“ Das Wort schien ein Lockruf zu sein. Mehr Kinder kamen heran und stellten sich um die Bank auf. Einige tasteten sich mühsam vorwärts, aber immer war ein Schwesterärmchen da, das zu rechter Zeit half und stützte. Die älteren Zöglinge bewegten sich mit ziemlicher Sicherheit. Marianne gab den Ton an, dann begannen sie, hell und rein wie Vögel und ebenso froh; die noch am Boden gekauert hatten, richteten sich nacheinander auf und fielen ein: „Gang i ans Brünnele, trink aber net,“ und das vom Schätzle Alles treuherzig mit, daß die Zwei lachten. „In der Anstalt müssen wir viele Choräle singen,“ sagte Marianne entschul¬ digend; „da heraußen ziehen wir die Volkslieder vor.“ Ein kleiner alter Weingärtner mit einem ver¬ hutzelten braunen Mausgesicht und blanken Ohrringen trottete daher, hielt an, that seinen Butten herunter und hörte zu, bis das Lied zu Ende war. Seine kleinen Augen glänzten. Dann kam er heran, griff an die Mütze, nahm von dem Butten sorgfältig eine große weiße Lilie ab, die obenauf lag, dann ein paar Hände voll Zwetschen, die er den Kindern reichte. Zuletzt gab er die Blume an Marianne: „Jetzt hat's keine meh, sell isch d'letzt gwe drobe imme Weinberg.“ „Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!“ riefen die Kinder. Marianne hatte dem Alten die Hand geboten, die er nicht wieder freiließ. „'s hätt mi arg gehei't, wann i's heut net troffe hätt, Fräulein Maariann',“ sagte er im Weggehen. „Meine Kinder werden oft beschenkt, und da fällt dann auch für mich etwas ab.“ Marianne hielt ihr Gesicht über die Lilie und sog den starken Duft der weißen wehrlosen Blume ein; dann rief sie die Kinder zum Aufbruch. Nun sahen die Freunde wohl, daß das Gehen nicht so leicht war. Das Reihehalten wäre nicht möglich gewesen ohne den langen Stab, den je vier Kinder mit den Händen gefaßt hielten beim Marschiren. Es waren vier Reihen, Marianne ging zuletzt. Ein kleiner Junge war übrig, den ließ sie vor sich treten und führte ihn, indem sie ihre Hände auf seine Schultern legte. Die Blume hatte sie ihm zu tragen gegeben, und so schritt er nun wie ein kleiner Fahnenträger hinter der Ge¬ fährtenschar. „Sie sind Alle unheilbar blind?“ flüsterte Wolff bekümmert. Marianne nickte. „Aber die Meisten haben es nie anders gekannt und sind lustig wie andere Kinder und — sicherer vor Enttäuschung,“ fügte sie trübe lächelnd hinzu. Einige Tage später suchten Max und Loni im Kristallpalast in München nach dem ersten ausgestellten Werk des Freundes. Loni wollte in den Katalog schauen. „Nein,“ sagte ihr Mann, „möchte sehen, ob wir's nicht so finden, das ist hübscher.“ Auf einmal deutete er lebhaft geradeaus, „das muß es sein.“ Sie traten näher: „Er hat uns nicht geschrieben, was es darstellt, aber es ist eine alte Idee von ihm —“ „Ich bin das Mitleid,“ las die junge Frau, die sich zu dem Sockel niedergebeugt hatte, und nun mit fragendem Blick in die Höhe fuhr. Max stand lange wortlos vor der herrlichen Statue, deren fast übermenschliche Größe und ruhige Schönheit in diesem bunten Gewühl wie ein Zauber wirkten. „Nun sehen Sie, das ist diese antikisirende Rich¬ tung,“ näselte es hinter ihnen, „Künstler? Heuvels in Rom, ah, Rom, dacht' ich mir — die sitzen da so drin bis an den Hals — das Zeitgemäße, das Ak¬ tuelle ist für diese Sorte nicht vorhanden, übrigens garnicht ohne Talent gemacht, — wenn der jetzt in Berlin —“ Max wandte zornig den Kopf. Loni zupfte ihn am Rock und kniff die Augen zu: „Gelt, Max, der ist dumm!“ sagte sie mit Ueberzeugung. Der Maler sah seine kleine Frau überrascht und strahlend an; die zwei Kritiker waren weggegangen. „Da schau nur, Schatz,“ flüsterte Loni, „wie sich das schöne Thier, ein Reh wird's sein, an sie heran¬ schneckelt! o weh, es hat was am Haxen —“ „Diese unvergleichliche Neigung der ganzen Ge¬ stalt,“ hörten sie hinter sich sagen. Ein feines ält¬ liches Frauenantlitz blickte bewundernd auf die Sta¬ tue, ihre Worte galten dem halbwüchsigen Knaben an ihrer Seite. „Aber wem reicht sie die Schale hin, Mutter? Es ist ja Niemand da,“ sagte der Knabe. „Sie reicht sie Allen, die leiden; siehst Du, die Schale fließt über, als trüge sie in sich die Seele der Gestalt,“ erklärte die Mutter leise. „Jetzt wollen wir weiter gehen,“ meinte das Kind. — — Die Freunde aber konnten noch immer nicht die Blicke wegwenden. „Der hat sich herausgemacht!“ sagte Loni, „ja, in Italien da gibt's so Gestalten. Weißt noch, Maxl, auf dem Bahnhof in Vittorio das stolze, fin¬ stere Geschöpf? Du sagtest, sie sei nicht zu gering für eine Medea, obwohl sie ihre Schuhe in der Hand trug.“ Max sah sie zerstreut an: „Ja, aber die hat er nicht aus Italien, Loni, das ist ja die Marianne.“ „Die Marianne?“ Ein starrer, verständnißloser Blick irrte über die Gestalt des Mitleids. Plötzlich fuhr es wie ein Blitz der Erkenntniß über ihre leb¬ haften Züge. Sie hob den Kopf ihrem Manne ent¬ gegen, zwei große Thränen sammelten sich in den dunklen Wimpern und rannen hell und leuchtend über ihre Wangen. Monika. Frapan , Bittersüß. 10 Z weimal war er schon an dem staatsmäßig hohen und großen Hause vorübergegangen und hatte sich nicht hineingetraut. Wie ein Schloß lag es da, hinter dem reichen Eisengitter, halb verdeckt von dem hochansteigenden Garten mit den unregelmäßigen, von blühenden Schlingpflanzen und Farn überwucherten Staffeln, mit der breiten Freitreppe, die zwischen den dichtbeblätterten Aesten des mächtigen Birnbaums her¬ vorschimmerte, mit den spiegelblanken Küchenfenstern, die zu den Seiten der Freitreppe wie zwei dunkle, lockende Augen herüberglänzten. Er war noch nie weiter, als bis zur Hausthür gekommen, wo er jetzt stand und Betrachtungen an¬ stellte. Oder vielmehr nicht gerade an dem Hausthor, sondern ein Stückchen weiter hinauf, unterhalb des eisernen Gitters, in dem tiefen, trockenen, grünen Graben voller Brombeergestrüpp, der sich die ganze gartenreiche Straße entlang zog. Hätte er nur gewußt, ob die Monika daheim sei und in ihrer Küche hinter den blitzenden Scheiben! 10* Es war doch zu dumm, jetzt hinzutreten, am ver¬ schlossenen Thor zu schellen, den Sultan und den Jack aus ihrem Sommernachmittagsschlaf zu stören — er sah sie schon mit Amtsübereifer, zungenreckend und bellend zum Todtenaufwecken aus ihren schöngeschnitzten Hütten hervor und die Staffeln herunterspringen. Und die Herrschaften saßen vielleicht in der Veranda über der Freitreppe, wo die großen Yuccas ihre stacheligen Blätter spreizten, — es war ja Kaffeezeit, — und wie, wenn der Herr General auf den Lärm hin die Glasthür oben in höchsteigener Person auf¬ risse und mit seiner hochmüthigen Polterstimme her¬ unterriefe, was er denn wolle? und er müsse sagen, es sei halt — ja, es sei nur um die Monika, die er nothwendig sprechen müsse. Nein! es ging nicht, es war „zu fad,“ wie die Monika in ihrem Bayrisch zu sagen pflegte. Er hatte das Wort von ihr angenom¬ men, und es paßte ihm oft recht gut, — wie ihm das ganze Mädchen paßte, — in dem einen aus¬ genommen, daß sie sich's vorgesetzt, in so ein vergit¬ tertes, verbarrikadirtes Herrschaftshaus einzustehen als Zimmermädchen, daß man seine Last hatte, wenn man ihr einmal ein Wort sagen wollte. Kopfschüttelnd stieg er aus dem Graben heraus, putzte den Staub des Gitters, an das er sich gelehnt, von dem Aermel seiner Unteroffiziersuniform und schritt langsam in der Hitze die Straße hinauf, bis zum Querweg, der in weitem Bogen an der Hinter¬ seite der Baumgärten entlang führte, die zu diesen Häusern gehörten. Die Querstraße war noch im Bau, — eine Menge Arbeiter, schwitzend und keu¬ chend und in der nothdürftigsten Bekleidung, wühlten im rothen Lehmboden, um den Weg zu reguliren und tiefer zu legen, der bis jetzt noch dem allgemei¬ nen Verkehr gesperrt war. Mitten auf einem hoch¬ aufgeschütteten Erdhaufen hatten sich die Arbeiter eine Bretterhütte gebaut, in der jetzt bald der eine, bald der andere verschwand, — denn die Arbeitsstätte war ohne jeden Schatten, und der dick und lose liegende Staub dörrte die Kehlen. Geschafft wurde wenig, alles dehnte sich, gähnte, hockte, von der Hitze ge¬ schlagen, stumpfsinnig am Boden, oder ruhte an der Hüttenwand mit vorgestrecktem, in die Erde gestemm¬ tem Spaten. Einer hatte sich, unbekümmert um die Gefahr des Hitzschlags, gerade auf den Rücken hin¬ gelegt und schlief wie todt, das Gesicht von der fettigen Mütze bedeckt. Hinter einer neu aufgeführten Garten¬ mauer, die gelb und fleckenlos rein zwischen den ver¬ witterten grauen hervorstach, welche den neuen Weg begrenzten, bewegte sich ein großer, rother Sonnen¬ schirm, und die Dame, die ihn hielt, guckte einen Augenblick über die Mauer, die freie Hand leicht aufgestützt, neben einem großen Kübel voll brennend rother Geranien. Ihr weißes Kleid und ihr jugend¬ liches Gesicht erschien so von rothem Schimmer um¬ hüllt, als sitze sie inmitten einer purpurfarbenen Glaslaterne. Der Unteroffizier, der, von Stelle zu Stelle springend, eben vorüberkam und mit erwar¬ tungsvollen Augen die Gärten abspähte, hörte, wie einer der Arbeiter, ein junger Bursch mit krausem Haar und frechen, glänzenden Augen hinaufstarrend lachte und ironisch rief: „Weischt, Mädle, Du mit'em Sonnedächle, gang in d' Stub promenire, — aber dei Sonnedach, des muescht do lasse, i brauch's noth¬ wendig!“ Unter dem Lachen der übrigen reichte er mit einem spöttischen Kratzfuß seinen Spaten hinauf, obgleich der rothe Sonnenschirm schon bei dem ersten Anruf entschwebt war. Der Unteroffizier runzelte zornig die Stirn, — die Dame war ja, wenn er sich nicht irrte, das gnädige Fräulein von seiner Monika gewesen! Eben wollte er den Arbeiter anfahren, da erblickte er ein Bild, das ihn alles andere vergessen ließ. In dem umgitterten Gartenzwickel, jenseits der schreiend neuen Mauer, stand zwischen den Beeten ein prächtiges, schlank und fest gewachsenes Mädchen in dunkelblauem Kleid, das von einem breiten, weißen Schurz halb verdeckt wurde. Ihr Gesicht war nicht zu sehen vor dem breitrandigen, braunen, an den Ohren niedergebogenen Schattenhut; sie hatte die Aermel aufgestreift, und die gebräunten Hände re¬ gierten den Spaten, daß die Erdschollen flogen. „Monika!“ rief der Unteroffizier halblaut, indem er sich auf einen der Steinblöcke schwang, die das Gitter trugen. Das Mädchen schien aber nicht ge¬ hört zu haben, obschon sie ziemlich nahe stand. Laut zu rufen getraute er sich nicht, er fürchtete den Spott der Wegarbeiter. So stand er und schaute. Ein hellgrüner Zwergwald von Salatstauden zum Ver¬ setzen bedeckte eins der Beete; über die anderen mit ihrer schwarzen, krümeligen, aufgelockerten Erde waren pünktlich in Reihen Fäden gespannt, damit die jun¬ gen Setzlinge in regelmäßigen Abständen ihre neuen Plätze fänden, wo sie Haupt und Wurzel dehnen und strecken konnten. Junge Pfirsichstämme mit grünen, flaumigen, nußgroßen Früchtchen zwischen dem blanken Laub standen in den Gemüsebeeten; doch war der Raum nicht bloß dem Nutzen unterthänig; um den Rabattenrand zogen sich blüthenschwere Rosenstöcke, nicht eben die edelsten, aber dafür die dankbarsten Sorten, — besonders das Bäumchen, neben dem sich jetzt das Mädchen mit ihrem Setzling bückte, breitete sich weit wie eine Laube über den Weg mit seinen zahllosen, vollen, kleinen, weißen Rosen und den kuge¬ ligen, rothen Knospen. Der Unteroffizier war auch ein Gartenfreund, und der Anblick der sorgsam ge¬ pflegten Stelle mit der schönen Pflegerin inmitten that ihm so wohl, daß er eine ganze Weile stand und zuschaute, ehe er wieder rief. Wie die Monika ihre Sache verstand! Kein gelernter Gärtner hätte es besser vermocht, und wie eifrig sie schaffte in der lähmenden Nachmittagshitze, und — für andere, für die Herrschaft! Wie wird sie erst im eignen Garten und Haus sich rühren. Freilich — fleißiger könnt' sie gar nicht sein, aber sie wird doch dann einmal den Kopf heben und ihm zulachen unter dem braunen Schattenhut, — denn der eigne Garten, in dem sie pflanzen wird, das wird ja auch der seinige, draußen im Heimathdorf, in Metzingen, sein, wo sie mit ihm einziehen soll in nicht zu langer Zeit, nein, recht bald sogar, nämlich wenn seine Dienstzeit zu Ende ist, im Oktober, — als seine Frau Schultheißin! Heut' ist der Brief gekommen, vom alten Vaterbruder, daß sie ihn in Metzingen zum Schultheiß wollen, obgleich er noch so jung ist. Ja, und die Neuigkeit muß doch die Monika erfahren, und nun steht sie da, als gäb's nichts als Salathäupter auf der Welt und schaut nicht einmal um, und ihr Fleiß, der ihn eben noch so gefreut hat, fängt an, ihn zu ärgern. „Hör' auch Du, Monika!“ Jetzt endlich hebt sie den Kopf, und wie sie ihn ansieht mit ihren großen, klaren, lachenden Augen, ohne Ueberraschung oder gar Erschrecken, merkt er wohl, der Schelm hab ihn schon längst gesehen. „Grüß Di Gott, Michel,“ nickte sie leichthin, „kommst wegen meiner daher?“ „Ha, nei',“ sagte der Angeredete und zog ein wenig beleidigt die Brauen zusammen, „i han mer d' nui Straß a'sehe wölle, wo do g'macht wird.“ Dabei guckte er blinzelnd in das hübsche, stolze Ge¬ sicht des Mädchens, als wolle er jeden Augenblick in Lachen ausbrechen, sobald sie's ihm nur etwas leichter mache. Aber sie that es nicht; gleichmüthig stand sie da, nur, daß die fleißige Hand jetzt ruhte. „'s ischt e arge Hitz,“ sagte er und rüttelte an den Gitterstäben. „Mir macht's nix, — Hitz oder Kält, mir ist's gleich,“ erwiderte sie, sich leicht über die Stirn fahrend. „Do herin wär' Schatte,“ er wies auf ein dichtes Tannengebüsch, das den Gemüsegarten vom Baumgut trennte. Lachend schüttelte sie den Kopf. „Da gibt's nix! die Pforten is zug'sperrt, und der Herr General hat den Schlüssel in der Taschen, herein kommst nit!“ Der Michel sah aus, als möcht' er wohl über den Zaun springen, wenn er ein Bub jetzt wäre, — plötzlich aber schien er sich seiner Würde und Jahre bewußt zu werden. „Moni, geh' her, laß Dei G'schäft en Augeblick,“ bat er ernsthaft, „i möcht Dir was verzähle.“ Neugierig aufhorchend kam nun das Mädchen an die Hecke: „Ja, was gibt's denn?“ fragte sie und sah durch das verstaubte Gezweig ihm gerade ins Ge¬ sicht, denn sie waren gleich groß und standen nun ganz dicht voreinander, nur durch das Gitter ge¬ trennt. „'s gibt, daß — aber Moni, i moi' fascht, D' seist no saubrer worde“ — unterbrach er sich und reckte sich unwillkürlich, als müsse er ihre blühenden Lippen erreichen. Das Mädchen lachte, aber ein bißchen ärger¬ lich. „Weiter weißt nix?“ fragte sie verwundert, wegwerfend. „Moni, d'r Ohm hot mer en Brief g'schickt, daß i Schultheiß werde soll, wann i heimkomm vom Mi¬ litär.“ flüsterte er mit strahlendem Gesicht, — „jetzt könntescht mer eigetlich e Busserl gebe, gelt?“ Monika wurde roth; ihre Augen, die zwischen blau und braun die Mitte hielten, schienen dunkel vor Aerger: „Du willst mi buksiren, i merk's schon,“ sagte sie heftig, „Du wartst mir wohl, — bis Nacht ist, gelt? Schultheiß oder nit, und übrigens, was hab' ich da davon?“ „Du werscht ebe Frau Schultheiße,“ lachte er, „geh, sei net so wüescht, was willscht au mit em Ge¬ nettel Wortgefecht. — D' weischt, daß i 's ehrlich mit Dir im Sinn han.“ Sie sah ihn mit einem kurzen, scharfen Blick an. „Hast mi gern?“ murmelte sie mit plötzlich nieder¬ geschlagenen Augen. Er streckte seine Hand durch die Stäbe und drückte die ihre, — sie war hartgearbeitet, aber der Druck war so herzhaft, fast hätte sie aufgeschrieen. „Kommscht net e bisle uf d' Straß heut Obed? Du steckscht fascht wie im e Gefängniß,“ bat er. „Daß sie mi recht ausricht'n verklatschen. in der ganzen Nachbarschaft? Nein, ein junges Madel muß vor¬ sichtig sein.“ Dabei sah sie ihn sehnsüchtig an und seufzte, daß ihm ganz heiß wurde. Sie verstand sich auf allerlei Augenspiel, und ihre Augen waren so schön. Michel wollte es ihr eben sagen, als es laut durch den Garten daherscholl: „Monika! Monika!“ Sie verfärbte sich etwas, „'s gnä' Fräulein ruft,“ sagte sie schnell, „man hat keinen Augenblick Ruh, — b'hüt Gott, Michel.“ Da tauchte der rothe Sonnenschirm schon ganz nah aus dem Fichtendickicht hervor, das gnädige Fräulein kam selbst, offenbar in einiger Erregung, auf die Gemüsebeete zugeschritten, das Mädchen mit diensteifriger Eile ihr entgegen. Michel schob sich etwas ins Gebüsch zur Seite; er hoffte, sein Mädchen werde sogleich zurückkehren, — es dünkte ihn noch gar nicht an der Zeit, ihr Liebesgeplauder abzubrechen. Er dachte nicht daran, jetzt zu horchen, aber die helle Stimme des Fräuleins drang ohne Mühe durch die klare Sonnenluft an sein Ohr. „Sehen Sie, Monika, da schickt der Schmied noch einmal seine Rechnung, — warum haben Sie mir die Quittung nicht gebracht, nachdem Sie bezahlt haben?“ Monika sprach leise, die verstand er nicht, wohl aber die Antwort des Fräuleins: „So, Sie haben die Quittung in der Tasche? Nun, da geben Sie nur, da kann die Köchin gleich vorgehen, — es ist aber eine Nachlässigkeit, Monika. Sie müssen so etwas gleich abgeben, damit es ordentlich aufgehoben wird.“ Damit schien die Dame sich zu entfernen; Monika blickte ihr eine Sekunde lang nach; dann kam sie wieder auf ihre Salatbeete zugegangen und griff mit einer fast wüthenden Eile nach dem Spaten. Michel sah deutlich die Spuren des Verdrusses in ihrem Gesicht, und das that ihm leid. „Aber sie ist auch gar empfindlich,“ murmelte er, „das Fräulein hat sie net emol ordentlich verschimpft, und e bisle nachlässig ischt se doch g'wese.“ Kaum getraute er sich, sie anzureden. Als er's zuletzt doch that, blickte sie mit zusammengezogenen Brauen ungeduldig her¬ über. „Bist noch immer da?“ „I geh scho, — b'hüt Gott, Moni, — aber was i no sage will, — descht scheint's e dumme G'schicht mit dem Schmied?“ „Hast's gehört?“ fuhr sie auf und starrte un¬ angenehm betroffen in sein neugieriges Gesicht. „Ja, — Du hascht em, scheint's, sei Guthabe hintrage solle? Wieviel ischt no des g'wese, so bei¬ läufig?“ „Siebenundzwanzig Mark,“ sagte sie trocken. „Siebenundzwanzig Mark!“ wiederholte Michel mit einer gewissen Achtung vor der genannten Summe, „descht Haufe g'nueg, wemmers zwoimal zahle soll! Guet, daß Du d' Quittung bei der Hand g'hett hascht, mit Geldsache no soll mer vorsichtig sei.“ Sein Ton war der einer pedantischen Ehrlichkeit; das Mädchen sah ihn nicht an, sondern schaffte verdrossen weiter. Da wollt' er ihr doch noch ein gutes Wort sagen. „I sieh's wohl, es bizelt ärgert. Di no; jez, was kenne se Dir a'hänge? Dei Quittung hascht, domit ischt alles g'sagt; 's wird scho' recht werde.“ Und als ein freundliches Lächeln über ihr Ge¬ sicht huschte, fuhr er ermuthigt fort: „Was moinscht, Moni, willscht am nächschte Sonntag zur Kommunio' gehe? I geh als au“ — Das Mädchen stützte sich auf den Spaten und sagte: „Ja, warum nit? Sonntag hab i mein' Aus¬ gang, und wenn's in die Kirch' geht, wird mir's der gnädig Herr gern e Stund bälder erlauben.“ Sie lächelte schelmisch. „Er ist a christlicher Herr, der Herr General, der hätt' sollen geistlich werd'n; aber denn gleich a kathol'scher, so wie 's bei mir z'Haus gibt.“ Ein vielsagendes Blinzeln gab ihr bei diesen Worten einen ganz veränderten, alten und welt¬ erfahrenen Ausdruck. Michel sah sie unbehaglich, mit offenem Munde an, er verstand nicht recht, und das war seiner hohen Meinung von sich zuwider. Und dann — sein Pfar¬ rer war die gefürchtete Respektsperson im Dorf, — was gab es jetzt zu lachen? Denn Monika lachte laut und ausgelassen; als sie aber seine Verdutztheit sah, hielt sie inne und sagte: „Gelt, Du weißt nit, warum ich so lachen muß? Ich hab' nämlich an den geistlichen Herrn denken müssen in meinem Heimathsdorf. Was der meine Kam'rädinnen gefragt hat in der Beicht, — 's ist nicht zum sagen.“ Sie lachte in sich hinein und fuhr fort: „Er hat's, scheint's, gethan, daß mir was z' lachen haben. In der ersten Beicht' hat er jede g'fragt, ob sie schon mal 'n Mannsbild im Dunkeln verküßt hab'!“ Sie warf ihren Spaten hin, deckte die Hände vors Gesicht und lachte, aber nicht eben laut, mehr als ob sie sich schäme. „Jetzt, wenn das nit für den gnä' Herrn gepaßt hätt'“ — — Michel schüttelte verwundert den Kopf; sein lang¬ samer Geist war noch bei der sonderbaren Frage des Beichtigers. „'s ischt mer scho liab, daß Du net katholisch bischt,“ sagte er nachdrücklich. „Ha, i denk', fürs Lieben wär's eins,“ warf sie leichtsinnig hin. „Aber fürs Heirathen net,“ meinte er. Eine hohe Röthe überfluthete ihr bräunliches Gesicht. Sie blickte ihn mit funkelnden, sehnsüchtigen Augen an. „Ob Du's ehrlich meinst?“ murmelte sie. „Für was wär' i no daherkomme?“ rief er, sich in die Brust werfend. „Ha, Du wärst der Erste nit, der en armes Mädel zum Besten halten thät,“ sagte sie trotzig. „I moins wie — n — i sag!“ brauste er auf, „no, warum bischt so harb und u'guet mit mer? Oder,“ ein schneller Gedanke flog ihm durch den Sinn, „bischt eppe scho emol so a'komme?“ „I wär' eingangen?“ hineingefallen. Empört starrte sie ihn an, „meinst, i wär' dumm? Frag, wen Du willst, ob ich nit brav bin, wie nur eine!“ Dann schüttelte sie lachend den Hut in den Nacken. „Was stehst da und guckst mich an, so unschul¬ dig, als wärst nit auch e Mannsbild?“ Und als Michel noch stand und nicht wußte, was er eigentlich sagen solle, denn er konnte ihr nicht folgen in all die Gedankensprünge, warf sie plötzlich mit zorniger Miene den Spaten hin: „Jessas, da rufen's scho wieder, nit en Augenblick hat man Ruh in dem Haus!“ Ehe sich's Michel versah, ging sie schon mit gesenktem Kopf weit hinten zwischen den Büschen, und er hätte so gern eine Zusage auf den Abend mitgenommen. Er guckte, so lang er noch einen Schimmer von dem weißen Schurz erhaschen konnte, — dies herbe Geschöpf, das ihm nie ein freundliches Wort gönnte, und ihm doch feurige Blicke zuwarf, hatte es ihm angethan, saß ihm im Blut, daß er's nicht mehr losmachen konnte. Es war schon recht, sie hatte etwas Fremdes; ein Kamerad hatte einmal gemeint, etwas Welsches. Aber nicht schwächlich wie die, nein, großgewachsen und kräftig zur Arbeit, trotz ihrer dunkeln Haut und der starken Brauen über den großen Augen. Und wie sie die zusammenziehen konnte, wenn ihr etwas nicht gefiel! Und wie sie reden konnte! Nicht wie ein Mädel von achtzehn Jahren, nein, wie ein Altes, so erfahren und geschickt. Und weder dummscheu wie die Bauermädchen daheim, die gleich kichern und sich zusammendrängen, wie die Schafe; noch frech wie die Mädchen, die in der Fabrik arbeiten und den Sol¬ daten schon von fern zulachen und winken. Und wie nett in ihrer Kleidung, Alltags wie Sonntags; ja Sonntags hatte er sie oft verwundert angeschaut, wie geputzt sie sei, und dann hatte sie ihm lachend er¬ zählt, nichts Besonderes trage sie an sich, als eine neue Masche, die hab' ihr das gnädige Fräulein ge¬ schenkt. Ob sie's wohl thut und künftigen Sonntag zur Kommunion mit mir geht, dachte er, während er langsam in die Stadt schlenderte. Da muß sie doch allein kommen! Das war der Punkt, über den es schon allerlei Händel zwischen ihnen gegeben hatte. Immer, wenn er sie ausführte, bestand sie darauf, eine Kamerädin mitzubringen. „Sonst wird man gleich ausgerichtet,“ sagte sie entschieden, „o die Leut' sind so schlimm! Und ich hab' auch meinen Stolz, es wird einem gleich was angehängt. Besonders die Köchin, dös ist e Ratschen!“ Klatschbase. Da hatte er ihr, wiewohl ungern, nachgeben müssen, und jetzt war's ihm fast lieber so, denn im Beisein der anderen ließ sie sich weit freier gehen, ja sie war oft recht ausgelassen. Er mußte noch lachen, wie er daran dachte, daß sie das letztemal der Köchin Frapan , Bittersüß. 11 ihren Most zugeschoben und ihr gar noch einen Wein gezahlt hatte, damit sie doch auch einmal „recht lustig“ werde, und wie die alte, dicke Person, die den Mittag ein Essen für zwanzig Gäste hatte bereiten müssen, gar nicht lustig, sondern sehr schläfrig ge¬ worden und endlich im Garten des Bärenwirths in Gaisburg völlig eingeschlafen war. Wie die Monika damals gekichert und mit der Schlafenden ihren Scherz getrieben, und wie sie zuletzt ganz stille neben ihm gesessen und seine Hand gedrückt hatte, immer heißer, immer fester, daß es war, als wüchsen ihre Hände inein¬ ander. Und dazu hatte sie kein Wort mehr geredet, ihn nur angesehen von Zeit zu Zeit mit ihren feurigen, großen Augen. Und er selbst hatte auch nichts schwätzen können, die Kehle war ihm wie zu¬ geschnürt gewesen, und so sehr es ihn verlangt, den Arm um des Mädchens Nacken zu legen, auch das war unmöglich gewesen, so hatten ihre Augen ihn in derselben Stellung festgehalten. In diesen Stun¬ den war es ihm zum erstenmal zur Gewißheit ge¬ worden, daß er sie heirathen müsse, obwohl sie ein ganz armes Mädchen sei. Er war ja zum guten Glück sein eigner Herr und konnte heirathen, wen er wollte. Vater und Mutter waren früh weggestorben; ihm lebten nur der Ohm, der ihn erzogen, und die alte Base, die jetzt daheim mit gemietheten Leuten der Bäckerei vorstand, die ihm von den Eltern her gehörte; und die war gewißlich froh, die Last auf junge Schultern abzuwälzen. Im übrigen, wenn sie dreinschwätzen wollte, er fürchtete sie nicht, — sie war ihm immer so arg gut gewesen, nachsichtiger als eine Mutter. Das schöne Baumgut zu Haus stand ihm vor den Augen, wie er, auf seinem langsamen Schlendergange nach der Stadt, in den Gärten die rothen Aepfel zwischen dem Laube schimmern sah. Die Luiken Mostäpfel. trugen heuer überreich, das mußte dort eine Pracht sein. Er sah die Moni, schlank und sauber, auf der hohen Leiter stehen und Aepfel brechen, er sah sie im schneeweißen Schurz als seine junge Frau Bäckerin, den Kunden die Wecken zuzäh¬ len, er sah sie als seine Frau Schultheißin im feinen, schwarzen Kleide am Sonntag in die Kirche gehen, und Männer und Weiber die Hälse nach ihr recken. Noch zwei Monate, dann konnt' es vor sich gehen! Ihr Mißtrauen schmeichelte ihm mehr, als daß es ihn gekränkt hätte, — sah er doch daraus, daß sie's für etwas rechnete, seine Frau zu werden. Freilich, hätt' er ein schlechtes Gewissen gehabt, er hätte sich nicht mehr unter ihre Augen getraut, so drohend konnte sie ihn anblicken. –– — Ei, wie heiß es noch war! Schon sieben Uhr, aber eine Sonnengluth, eine erstickende, stau¬ bige Schwüle, wie wenn's Mittag wäre. Das 11* Pflaster glühte durch die Stiefelsohlen, die Häuser¬ mauern strahlten die eingesogene Hitze von sich, daß man ihnen nicht nah kommen mochte. Der Unteroffizier Michel Scheitlin fühlte zudem seine Kehle trocken von dem vielen ungewohnten Reden; er war sonst ein Mann von wenig Worten. So ging er denn in eine Weinwirthschaft, setzte sich hinter einem Schoppen Fellbacher nieder und vertiefte sich mehr und mehr in sein behagliches Brüten. Ein lautes Stim¬ mengeräusch weckte ihn daraus. Nein, hier in dem kleinen, schon halb dämmrigen Zimmer war es nicht, es war im Hinterhaus, in der Schmiede, deren Feuer rothe Lichter über den engen dazwischenliegenden Hof mit seinem schwarzen Eisengerümpel warf. Neugierig bog er sich zum offenen Fenster hinaus, da erkannte er in einer dichten, dunkeln Gruppe, unweit der Thür, zwei Frauenzimmer, ein untersetztes, dickes, auf dessen rothes Gesicht der volle Lichtschein fiel, und ein schlankes, dessen weißer Schurz zwischen den schwarzen Schmiedegesellen hell vorleuchtete. „Ha, da ischt ja d' Monika!“ entschlüpfte es ihm ganz laut in der Ueberraschung. Es war aber niemand da, ihn zu hören, die Wirthin stand schon horchend auf dem Hof, Gäste gab es keine. Er faßte nach der Klinke der Hinterthür, sie gab gleich nach, und nun stand er neben der Wirthin und fragte im Vorübergehen: „Ja, was gibt's denn do?“ Und ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er mit beklom¬ menem Gefühl näher und stellte sich hinter der Gruppe auf. 'S ist wegen der Rechnung, fällt ihm ein, ja, ist denn die dumme Geschichte noch nicht erledigt, wenn sie doch die Quittung in Händen hat? Sie schreien so durcheinander, daß man kein Wort recht hört, und was für bitterböse Gesichter die Kerle hin¬ machen! Ballt da nicht gar einer die Faust in die Luft? Michel wird glühroth vor Zorn. Was haben sie mit dem Mädchen zu schaffen, daß sie's so an¬ stieren und gar bedrohen? Es ist ihm arg leid um die Monika. Wenn er ihr doch nur helfen könnt! Freilich steht sie so ruhig da, so fest und schön, — sie müssen's ja sehen, daß nur das gute Gewissen sie hält. „Scht!“ schreit der Meister, ein kleiner, magerer Mann mit nackten Armen und einem blassen, jäh¬ zornigen Gesicht, und als ein bißchen Ruhe ward: „Also, i ben's emol net gewese, — Sie müsse doch wisse, wer Ihne 's Geld abg'nomme hat?“ Monika hebt den Kopf. „Ich kenn' doch Ihnen Ihre Leut nit bei Namen!“ sagt sie in gekränk¬ tem Ton. „Aber vielleicht kenne Sie's G'sicht wieder?“ meint der Schmied. Da schlägt sie lächelnd die Augen nieder. „Ich schau doch die Mannsbilder nit so an!“ Die kann dir antworten! Michel hätte fast Bravo! geschrieen. Nun fängt wieder der Lärm an: „Ben i 's gwe? Oder i? Oder i?“ schreien die Gesellen und drängen sich heran, als wollten sie sich auf Monika stürzen. Michel springt einen Schritt vor, aber es ist unnöthig, sie hat keine Angst, ihr Gesicht ist so rein, wie ihr weißer Schurz; ruhig schüttelt sie den Kopf. „Nein, ich seh ihn hier nit, er ist gar nicht hier, scheint's; ein junger Herr war's, — der hat mir's Geld abgenommen und mir die Quittung ge¬ bracht.“ Der Meister guckt in das Papier, es zittert in seinen Händen. „Aber, um Gotteswille, wer hat denn das unterschriebe?“ ruft er, unschlüssig im Kreise umblickend. Die Gesellen sehen über seine Schultern weg mit in das Blatt. „Descht e Mädeleshandschrift!“ ruft plötzlich einer. Voller Verwunderung blickt ihn Monika an: „'s ist aber doch a junger Mann gewesen!“ Die Köchin, die ihre großen Ohren horchend offen hält und mit ängstlichen weitaufgerissenen Augen von einem zum anderen blickt, will doch auch etwas sagen. „Vielleicht ischt einer weggange von Ihre Leut?“ meint sie. „In de' letzte zwei Monet net.“ Die Gesellen stecken mit finstern Mienen die Köpfe zusammen. Wenn die Monika nicht ein so tapferes Geschöpf wär — — „Vor kaum vierzehn Tagen hab' ich's da bezahlt, da herein, in der Werkstatt,“ erzählt sie nun mit ihrer tiefen, weichen Stimme; „daher,“ sie zeigt auf eine Hinterthür, „ist er kommen, der junge Herr, hat mich erst g'fragt, was ich krieg, hat mir die Rech¬ nung aus der Hand genommen und ist damit dort hinein; nachher hab' ich ihm 's Geld in seine Hand bezahlt und die Quittung empfangen. So gewiß ich hier steh.“ Der Meister schüttelt den Kopf; da geht die Hinterthür auf, und zwei weitere Gesellen treten her¬ ein, eilig und verwundert, und schwarze Schwei߬ tropfen von ihren Stirnen wischend. Der Schmied kümmert sich nicht um ihre Verdutztheit, er schiebt sie an der Schulter vor das Mädchen: „So, weiter hab' i keine Leut! Sind's eppe die g'wese?“ Und dabei wirft er einen furchtbaren Blick auf Monika, daß es Michel kalt überläuft. Unter all' diesen zornigen Männern ist sie die einzige, die ihre Ruhe bewahrt, und gerade sie hätte doch am allermeisten Ursache, zornig zu werden. Sie mustert langsam die vor ihr Stehenden, Michel klopft das Herz, ach, wenn's doch einer von denen wäre! Aber da schüttelt sie wieder den Kopf: „Nein, die sind's auch nit gewesen, ich kenn' mich schon aus; derjenige war größer.“ Der Meister grinst sie sonderbar an, Michel kann's kaum mehr ertragen. Da steht nun das arme Mädle in der größten Verlegenheit, wird bald roth, bald blaß, und niemand kann ihm helfen. Es muß da eine Verwechselung vorgekommen sein, anders kann's ja nicht zugehen. Eben will der Meister etwas Arges sagen, er fährt so zu, und die Zornader auf seiner blassen, knochigen Stirn zittert förmlich, so ge¬ schwellt ist sie. Da vergißt Michel Scheitlin, daß er gar kein Recht habe, hier mitzureden, hier zu sein, er springt vor, indem er die anderen zurückschiebt und schreit in angstvollem Tone: „Sag, Mädle, bischt net eppe in e u'rechte Werkstatt komme? 's ischt no e Schmied do in der Gaß', besser dronte!“ Das Mädchen war zusammengefahren, als sie seine Stimme hörte, — ohne zu antworten, starrte sie ihn an, als wär' er ein Gespenst und nicht der Unteroffizier Michel Scheitlin, zukünftiger Schultheiß in Metzingen und ihr Bräutigam. Aber der plötzliche Schrecken war schnell über¬ wunden, sie zuckte die Achseln und sagte gedehnt: „Ich mein' doch, hier drin wär' ich gewesen, es ist mir da alles so bekannt,“ — sie ließ ihre Augen bescheiden herumgehen, „und wenn ich mich recht auf sein G'sicht b'sinne thät“ — — „Ho, ho! Mädle!“ schrieen die Gesellen und rückten drohend auf sie zu. Einen Augenblick noch herrschte das Schweigen der Rathlosigkeit, dann sagte plötzlich der Meister mit rauher, entschiedener Stimme: „Jetzt, wisset Se was? Se send e Lügnerin! Descht Ihre eigne Handschrift!“ „'s ischt wohr! 's ischt e Mädeleshandschrift!“ wiederholte der Chor der schwarzen Gesellen. Ganz versteinert stand das Mädchen; große Thränen quollen aus ihren dunkeln Augen und rollten, ohne daß sich das Gesicht verzog, über die bräunlichen Wangen. Ueber Michels Augen legte sich's wie ein Schleier, er faßte nach seinem Seitengewehr. „Das hat mir noch kein Mensch gesagt,“ schluchzte das Mädchen, ihr weißes Tüchlein an die Augen drückend, „das kann ich mir nicht gefallen lassen! Meine Ehr' angreifen? Was hab' ich denn weiter als meine Ehr'?“ Und trostlos mit strömen¬ den Augen blickte sie den Beschuldiger an. „Aber 's ischt doch aso!“ schrie der Meister mit einem Schlag in die Luft. Im selben Augenblick aber schlug ihn einer über die Schulter, daß er zusammenknickte, und ein zorn¬ glühendes Gesicht schnaubte ihn an: „Wirscht Dei' Maul halte? So eppes sagt mer net, wemmers net beweise ka'!“ Und während der Schmied sich, verdutzt über den Angriff, besann, auf wen er zuerst losgehen solle, richtete sich Monika auf und rief mit leidenschaftlicher Betheuerung: „Ich will hier nicht gesund vor Ihnen stehen, der Blitz soll mich hier vor Ihren Augen erschlagen, wenn das wahr ist! Ich will gleich todt hinfallen! Gleich auf der Stelle!“ Sie faltete die Hände und betete in sinnloser Aufregung mit zuckenden Lippen: „Ach, daß doch der Blitz herunterkäm' und die Wahr¬ heit an den Tag brächte! Ach, hilf mir doch, lieber Gott!“ Die Köchin zupfte sie am Aermel: „Komm, mer gehe heim, Monika, mer soge 's emol em gnädige Herrn, 's ischt mer u'begreiflich.“ Sie endigte mit einem Schrei, denn der Meister hatte, unbekümmert um die letzten Worte, den Unter¬ offizier angestarrt und versetzte ihm nun plötzlich einen tückischen Faustschlag unter die Nase. Im Augenblick hatte Michel ihn gepackt und bearbeitete ihn mit dem Seitengewehr, die Gesellen suchten ihn von hinten zu¬ rückzuzerren, einer schrie ihm ins Ohr: „'s ischt e Mädeleshandschrift!“ ein anderer höhnte: „Mein Kompliment zu dem Schatz!“ Er rang wie ein Be¬ sessener, wie ein Rasender mit allen Angreifern zu¬ gleich, plötzlich fühlte er seine Arme schlaff werden, er riß die Lider auf, aber er sah nichts mehr, in seinen Ohren war ein dumpfes Brausen, er hörte noch wie aus weiter Ferne die Worte. „Der hat g'nueg,“ dann nichts weiter. Eine schwere, leblose Masse sank er zu Boden. — Als er wieder zu sich kam, fand er sich mit Ver¬ wunderung auf einem Sopha liegen, in Hemdärmeln, einen nassen Lappen auf der Stirn. Er blickte um sich, da war es ein kleines halbdunkles Zimmer, in dem er lag, und wie er sich aufrichtete, sagte jemand in zufriedenem Ton: „No, jetzt, descht g'scheid, daß Se wieder zu sich komme send!“ Und eine Frau in mittleren Jahren erhob sich mit ihrer Näharbeit und kam auf ihn zu: „'s ischt, scheint's, e bissele mild drübe zugange, i ben nämlich d' Frau vom Herrn Scheckg, — junge Leut send scho' e bissele hitzig, u raufe thue se älle gern. No ischt Ihne schlecht worde, u mei Mann, der Schmied u zwei G'selle hänt Se bei Kopf u Füß do herei' g'schleift, jo, daß doch kei Schutzma' dazwische' nei'kommt, jo, u e kloiner Riß ischt in d' Uniform 'nei'komme, no näh i 's Ihne g'schwind zu, jo!“ Michel setzte sich auf und hielt den Kopf mit beiden Händen. Das Besinnen ward ihm noch schwer, sonst fühlte er sich wohl genug, um heimzugehen. Die Rücksicht, die seine Gegner auf ihn genommen, war zwar nicht ganz uneigennützig, aber sie erfüllte ihn dennoch mit Dankbarkeit. Er trat auf die lang¬ sam plaudernde Frau zu und sah sie langsam den Faden durch den Stoff ziehen; der „kleine Riß“ war leider sehr beträchtlich, und dumpfe Beschämung und drückende Sorge überfielen ihn. Was hatte er im Jähzorn alles aufs Spiel gesetzt! Er war ja schwe¬ rer Strafe verfallen, wenn es irgendwie bekannt wurde, daß er von seiner Waffe Gebrauch gemacht. Er fragte, was aus dem Mädchen und ihrer Begleiterin geworden, aber die Frau wußte davon nichts; als sie ihn herübertrugen, war jedenfalls kein Mädchen mehr dagewesen. „’s ischt e kreuzbraves Mädele,“ sagte er zutraulich zu der Frau, während er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, neben ihr stand und Stich um Stich verfolgte, „und e arg netts G’sicht, i ben miter b'kannt,“ er stockte und wurde roth, „da muß ebe e Mißverständniß stecke?“ „'s wird Ihne Ihr Schätzle sei',“ sagte die Frau und blinzelte ihm pfiffig zu, „aber mer lobt keine', außer er brauch es, jo!“ Michel verzog zornig das Gesicht. „D' Wahrheit wird scho a’ Tag komme,“ brummte er. „Wieviel Uhr ischt no?“ Und als er hörte, daß es kaum halb neun geschlagen habe, hellte sich seine Miene auf. So war noch nichts versäumt, und er konnte Monika noch heute sprechen. Er besah die nicht eben glänzend geheilte Wunde seines Uniform¬ rockes, — zum Glück war da ein Soldat, ein gelern¬ ter Schneider, der die Sache säuberlich wieder auf¬ trennen und ohne alles Aufsehen regelrecht flicken würde. Seine Waffe war unbeschädigt, er athmete er¬ leichtert auf, als er sich davon überzeugte, und der dumpfe Kopfschmerz, der ihm von der Ohnmacht zu¬ rückgeblieben, sollte wohl vergehen. Er dankte der Frau, die einigermaßen bedauerte, daß ihr Mann, „der Herr Scheckg,“ nicht von ihm Abschied nehmen könne, da er „nämlich bereits in sei' Kneip' gange sei, jo,“ und wanderte verstörten Gemüthes durch den schwülen Abenddunst wieder nach der Villenstraße hinauf. Die rothen und grünen Lichter der Bahn¬ höfe tanzten ihm vor den Augen, als er von oben auf die Stadt hinabsah; er mußte sich die Stirn wischen, und das Athmen ward ihm schwer. Was mochte inzwischen mit Monika geschehen sein? Er war entschlossen, heut' am Vorderthor zu klingeln, wenn die Hinterpforte verschlossen war, — er mußte sie noch sehen, sprechen, ihr vielleicht beistehen, wenn etwa die Herrschaft sie auch beschuldigen sollte. Aber noch ehe er das Gitterthor erreichte, hörte er ihre Stimme im Garten, sie sprach mit der Köchin, so schien es, und die Freude darüber, daß sie also frei und unbehelligt hier umherging, ließ ihn doppeltlange Schritte machen. Eine einzige Laterne, an dem Bretterhäuschen der Arbeiter hängend, schimmerte in¬ mitten der nun menschenleeren, unfertigen Straße; es war schwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter stand, brauchte er nicht zu rufen, sie hatte ihn auch kommen sehen und drängte ihre ganze kräftige Gestalt gegen die Stäbe, so daß er ihren weißen Schurz hätte erfassen können. „Michel, bist da? Bist gesund?“ rief sie hastig, „ach, hab' ich Angst ausg'standen!“ Und sie streckte die Hand durchs Gitter und drückte seine freie Rechte, wie sie's nie gethan. „Moni gelt. Du kommscht heraus, oder laßt mi ei'?“ bat Michel. Das Mädchen riß einen Schlüssel aus der Tasche der Schürze und flüsterte zärtlich: „Jetzt, wo Du mir so brav beig'standen bist, kann ich Dir nie nix mehr abschlagen! Der gnä' Herr hat seine Hosen zum Ausklopfen hergethan, da ist der Schlüssel heraus¬ g'fallen, g'rad' seh ich ihn liegen.“ Sie steckte ihn Michel durch die Stäbe zu: „Schließ' auf und komm' herein, da ist jetzt noch besserer Schatten als am Nachmittag, gelt?“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er lehnte seine Waffe an einen dicken Baumstamm, dann ließ er sich von Monika an der Hand zu einer Bank führen, die verborgen von den hängenden Aesten einer Schierlingstanne im Gebüsch stand. Nur ein Mond¬ strahl fiel dazwischen und streifte Monikas schönes, glühendes Gesicht, — sie hatte offenbar bitter ge¬ weint, aber nun lag alle Noth und Sorge hinter ihr. „No, was ischt mit em Schmied?“ flüsterte Michel voll Spannung, während er sie in seine Arme zog. Das Mädchen schmiegte sich an ihn, zog seinen Kopf herunter und küßte ihn: „'s ist alles in Ord¬ nung,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzug, „weil der gnä' Herr nichts auf mich kommen läßt!“ Sie kicherte ein bißchen verschämt, dann hing sie sich wieder an ihn und küßte ihn, daß er kaum athmen konnte. So war sie noch nie gewesen. Michel erwiderte ihre Liebkosung, aber dazwischen fragte er doch, was der Herr General mit der Sache zu schaffen habe. „O,“ sagte Monika mit andächtig aufgeschlagenen Augen, „der gnä' Herr ist so brav, es gibt nichts Bräveres! Er hat g'sagt, so ein blitzsaubres Madel könn' nit lügen, da thät er lieber das Geld noch ein¬ mal herlegen, als daß en armer Dienstbot' ins Un¬ glück käm!“ Sie lachte in sich hinein und legte wieder die Arme um seinen Hals. „Descht arg christlich von em,“ sagte Michel voll Freude. Das Mädchen öffnete ihren Schurz, den sie mit Nadeln oben am Gürtel festgesteckt hatte, daß er einen Sack bildete. „Da schau her,“ lächelte sie, „grad' war ich dabei, dem gnä' Herrn Rosen zu schneiden! Die stell ich ihm heut Abend in sein Schlafzimmer, daß er mein dankbares Herz sieht.“ Michel hob eine der Rosen auf und hielt sie an die Nase: „Ja, die schmeckt fei', aber Moni, der Schmied hat Dei' ehrliche' Nam' a'tastet, des därfscht net uf Dir sitze lasse.“ Monika zog finster und nachdenklich die Stirn zusammen. „Ich muß mal hinter den gnä' Herrn gehen,“ sagte sie zuletzt. Dann aber legte sie den Kopf an seine Schulter: „Jetzt weiß ich's, daß Du mich gern hast, Michel, — und die Herrschaft ist zu einer Visit' gangen, 's ist keiner z'Haus als die Köchin.“ Aber sonderbar, Michel hatte gar keine Ruhe heut'. Er preßte zwar die Moni an sich, aber er mußte immer wieder an den Nachmittag denken, und diese sang- und klanglose Rechtfertigung nach so¬ viel öffentlicher Schande schien ihm gar nichts Rechtes. „Jetzt, 's ischt doch merkwürdig, wo des Geld bliebe ischt,“ sagte er vor sich hin. Monika lachte auf, er wußte nicht warum. „Moni, das Geld?“ stotterte er angstvoll, wie von einem furchtbaren Gedanken durchzuckt, „warum lachscht au, Moni?“ „Ho,“ kicherte sie, den Kopf von seiner Brust hebend, „Dir kann ich's schon sagen, gelt? Du ver¬ rath'st mich nit?“ Und wie er athemlos sie anstarrte, flüsterte sie, ihm mit der Hand übers Gesicht streichend: „Ja, was kuckst mich denn an, wie verdonnert? Für sie sind's nur en paar Markeln, en paar lumpige, für mich ist's viel Geld! Und ich muß doch an meine Zukunft denken! Und's is alles so theuer — und sauber möcht' ich doch auch geh'n.“ Und wie er vor Schrecken gar keine Antwort fand, fuhr sie in halb ängstlichem Ton fort: „Schau, Du sprichst vom Hei¬ rathen, — thust, als ob Du mich gern hätt'st, aber nach¬ her würd'st schauen, wenn ich nit emal etwas Weißzeug mitbringen thät!“ Sie streckte schmeichelnd den Arm aus; als sie aber sah, daß er zurückschrak, wurde ihre Stimme hart und kalt. „Oder vielleicht hast nur so geschwätzt vom Gern¬ haben, weil Du was von mir möcht'st?“ fragte sie spöttisch. „O, Ihr Mannsbilder seid überein, alle miteinander! Meinst, ich kennt' Euch nit? Wie ich sieben Jahr g'wesen bin, hab' ich schon alles g'wißt, — nichts sucht Ihr bei uns, als Euer Vergnügen; Ihr geht davon, wie die Katz' vom Taubenschlag, und für uns bleiben die Schmerzen und die Schande.“ „Du hascht Urkundefälschung b'gange, weißt, was des heißt? des heißt“ — Michel brach ab und schluchzte. Frapan , Bittersüß. 12 Nun fing auch das Mädchen herzbrechend zu schluchzen an: „O, ich bin ja die allerärmste Kreatur auf der Welt!“ jammerte sie, „wen hab' ich denn, wenn i mich nit selbst e bisserl um mich annehm? I wär' ja schon als Kind verhungert, bei den Zieheltern, die mich um Gottes Barmherzigkeit willen behalten haben. I weiß nit, wer mein Vater ist, die Zieh¬ mutter sagt, en Fremder sei's g'wesen, en italienischer Arbeiter, der hab' meine Mutter aufm Feld überfallen, wie sie ein Madel mit sechzehn Jahr ist gewesen. Sie mag mich nit, sie hat mich nie a'g'schaut; bei der Ziehmutter ist sie niederkommen, dann ist sie weg und hat mich dort vergessen, hat mich liegen lassen, wie en zerrissenen Schuh. Die Ziehmutter hat selbst nix g'habt, um jeden Bissen hab ich raufen müssen, weil ich denken kann. Sie hat 'en Buben g'habt, — nicht das Kleinste hat er mir gönnt! Er ist mit zehn Jahr g'storben, wie hab' ich mich da gefreut! Er ist drei Jahr älter als ich g'wesen, hat mich g'schlagen und malträtirt den ganzen Tag! Aber wie er todt dag'legen ist, da hab' ich ihn g'hauen, noch im Sarg drin! und er hat sich nit wehren können!“ Die Leidenschaft blitzte ihr aus den Augen, Michel überlief ein Grauen. „Du bischt bös',“ stieß er halblaut hervor und sah sie scheu an. Da ließ sie den Kopf sinken und sagte in dem früheren Klageton: „Nachher ist meine Mutter wieder ins gleiche Dorf kommen, hat geheirath, jetzt hat sie vier Kinder, aber i g'hör nit dazu! Und ein Leben hat sie! Der Mann wirft's ihr den ganzen Tag vor, daß er sie ohn' Vermögen g'nommen hab; er hat auch noch so zwei Bub'n zu versorgen, die ihn an¬ gehen, von früher her. Sie hat oft kein Brot im Haus! Könnt sie mich nit emal anschauen? Ich hab' auch nix!“ Ihre Schultern zitterten vom Weinen, Michel seufzte schwer. „Und so arg ka'scht lüge,“ sagte er trostlos. Da fuhr sie wieder auf mit ausgestrecktem Zeige¬ finger, „Sie lügen alle! Der gnä' Herr, der mir schön thut, wenn ich allein bin und mich anfährt, wenn die gnä' Frau dabei ist, — die gnä' Frau, wenn sie den Preis vom neuen Hut sagen soll, und auf der Rechnung, die ich gesehen hab', zufällig, steht zweimal soviel, — unser gnä' Fräulein, für die ich alle Tag Brief wegtragen muß, postlagernd,“ sie lachte bedeutsam, „und wie meinst, daß mir's gangen wär in dem Fürstenschloß, wo sie mich mit acht Jahr zur Hilf aufg'nommen haben? Es war e große Wohlthat! Wenn's schaffen angangen ist, da heißt's: „sie hat Kräfte, wie ein Erwachsenes.“ Sagt die Köchin: „Mir mußt helfen, das G'schirrputzen ver¬ steh'st besser als en Altes,“ das Zimmermädel schreit: „Zu mir daher, Du hast en jungen Rücken, Dir 12 * macht's Bücken nichts, aber ich hab' derweil mit'm Johann zu reden.“ Das Reden ist stundenlang fort¬ gangen, sie haben scharmirt, ordentlich g'schmatzt haben's, und ich hab' für sie g'schafft. Wenn's aber zu Tisch gangen ist, da bin ich wieder „a kloans Madel“ g'wesen, das essen kann, was die Hund' übrig lassen! Meinst, daß die Dienstleut' einander was gunnen? Glaubst, ich wär' stark und groß wor¬ den, wenn ich mir nit g'nommen hätt', was ich braucht hab'? O, Du bist leicht durch d' Welt kom¬ men, Michel, aber ich! Nur kein uneh'lich's Kind sein! En herrenloses Katzerl hat's besser! Da lernt man's erkennen, wie schlecht die Menschen sind, und 's wird einem alles gleichgültig!“ Sie sah ihn furchtlos an. „Sogar unterrichten hat sie mich lassen, die gnä' Frau Fürstin, zwei ganze Jahr, weil näm¬ lich die gnä' Prinzeß nit hat lernen wollen! O, sie hat können recht lieb sein, hat mir auch manches herg'schenkt von abg'legten Kleidern. Da ist aber emal einer kommen, ein Verwandter, auch so e nob¬ liger Herr, der hat g'meint, die gnä' Prinzeß wär' ich, weil ich bin sauber und groß g'wesen und sie nur en elendes, schieches Ding! Das hat emal en Bum¬ per Lärm, Schlag. geben. Da ist sie nimmer lieb g'wesen! Gleich hab' ich die Kleider herunterthun müssen, und mit den Lehrstunden bei der Fräulein Erzieherin ist's aus g'wesen. Ja, wo der Steg niedrig ist, darüber steigt man gern! Die Prinzeß ist aber drum nit schöner worden!“ Sie lachte höhnisch. „Warum sollt' ich nicht lügen? Ich glaub' ja auch keinem was! Meinst, ich thät' Dir glauben, daß D' mich heirathen willst? Wenn du mich kriegen könnt'st, ohne das, gelt, Dir wär's noch lieber?“ Sie bückte sich, um in seine Augen zu sehen. „O, Moni, Du weißt net, was gut und bös' ischt!“ rief Michel. Sie lachte leichtfertig. „Bös' ist, wenn man nichts zu essen hat, und gut ist, wenn man sich lieben thut,“ scherzte sie und wollte ihn umarmen. Aber er schob sie weg. „'s gaht nemme! 's gaht nemme!“ murmelte er und griff sich an die Stirn. Da warf sie schmollend die Lippe auf: „Hab' ich Dir's nicht g'sagt? Weil ich en arm's Madel bin — o, so eins hat kein Glück! Jetzt hab' ich denkt', der ist treu, dem kannst emal Dein Herz aus¬ schütten —“ und wieder begann sie qualvoll zu weinen. „Wenn i net mei' Ehr ei'g'setzt hätt',“ sagte Michel zu sich selbst; „wenn i net meines Königs Rock b'schmutzt und zerrisse hätt', wenn i net — —“ Das Mädchen unterbrach die jammervolle Klage: „Jetzt, Michel, gib Ruh; ich hab' Dich tausendmal lieber, als vorher, das sag' ich Dir gleich, und wenn's keiner weiß — —“ „Einer weiß scho,“ sagte Michel dumpf. „Ha, Du verrathst mich nit, und der droben, wenn Du den meinst, den gibt's nicht,“ rief das Mädchen zuversichtlich. „Schau, wenn er da wär', hätt' er mir wohl helfen können manch liebes Mal; wann er aber nicht helfen will, soll er auch nicht strafen! 's ist kein Blitz kommen heut Nachmittag!“ fuhr sie fort und warf einen erwartungsvollen Blick nach dem Himmel. Da schlug plötzlich die Kirchenuhr, klar und nah, Michel horchte auf, zählte laut. Er war aufgesprun¬ gen. Als aber das Schlagen gar kein Ende nahm und er nun „elf“ zählte, schrie er Monika an: „Mä¬ dele, ischt des wahr? No ischt jo o' Zeit verpaßt, no komm' i net mehr in d' Kasern!“ Das Mädchen drängte ihn zurück auf die Bank. „So bleibst hier,“ flüsterte sie, „die Herrschaft kommt erst gegen Morgen nach Haus.“ Michel schüttelte sie ab: „No krieg i de erschte Arrest in meiner ganze Dienschtzeit, — und mit em Schultheiß isch erst nex, — i ka' ja tei Schultheiß mehr sei, — i halt's ja mit'er Diebin!“ Er stützte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich. Eine Weile hörte das Mädchen ihm zu, mit verwundertem Warten, wann er sich wohl beruhigen werde. Dann begann sie zu schelten: „Du bist e Lapp! Mit Dir muß man anfan¬ gen! Ach, Du mein Heiland, hätt' ich nur nichts g'sagt! Gelt, wirst mich noch verrathen gar?“ Und sie versuchte, ihm die Hände vom Gesicht zu nehmen. Als er aber nicht nachgab, nur vor sich hin stöhnte und ächzte, wurde sie kleinlaut. „Michel, schlecht bin i net, g'wiß nit schlecht,“ betheuerte sie, „lieber Michel, gelt, nimmst mich doch? Schau, wen ich einmal mag, der hat's gut bei mir, und Dich mag ich einmal, weiß selbst nit, warum!“ Aber er schüttelte ihre schmeichelnde Hand ab und blickte nicht auf. Da stand sie zögernd noch eine Weile und machte sich mit den Rosen zu schaffen. „Da Michel, schau her, sie sind alle verwelkt, hast mich so an Dich 'drückt, jetzt muß ich neue schneiden.“ Und sie fing auch an, um die Büsche herumzugehen; aber die Schere lag auf dem marmornen Garten¬ tischchen, etwas weiter im Gebüsch, die mußte sie holen. Nein, dort auf dem Tischchen war sie nicht mehr, richtig, die Köchin hatte sie mit ins Haus ge¬ tragen. Monika warf noch einen Blick rückwärts auf den versunken Dasitzenden, dann eilte sie dem Hause zu, — „wenn ich zurückkomme, wird er sich schon beruhigt haben,“ dachte sie und hielt sich absichtlich etwas länger auf mit der Köchin, die schlaftrunken neben einem Glase Most ihren dicken Kopf auf den Küchentisch gelegt hatte. Als sie dann wieder in den ganz in Mondschein getauchten Garten hinaustrat, schlugen vorn die Hunde an, aber mit dem eigenthümlich jauchzenden Laut, daß sie erkannte: die Familie kommt schon nach Haus. Mit leisen, schnellen Schritten durchmaß sie nun den Hintergarten, um Michel zu sagen, daß er gehen müsse. Aber sie fand ihn nicht mehr. Die Thür war verschlossen und der Schlüssel an der In¬ nenseite ins Schloß gesteckt, daran hatt' er also ge¬ dacht, ans Abschiednehmen nicht. „Der wartet mir wohl, wenn er's nächste Mal daherkommt,“ brummte sie ärgerlich, aber es war ihr dennoch beklommen zu Muth, und die Köchin, die mit ihr das Zimmer theilte, hörte, wie sie sich im Schlaf stöhnend herum¬ warf. Als Monika früh um sechs Uhr andern Mor¬ gens an die Hinterpforte ging, um die Milch herein¬ zuholen, die dort abgeliefert wurde, sah sie von wei¬ tem schon, daß die Straßenarbeiter in einem dichten Haufen beisammen und um die kleine Bretterhütte her standen. Sie stieg auf einen der Quadersteine, hielt sich am Gitter fest und schaute neugierig hinab. Da starrte sie von der Hüttenwand ein todtenblasses Antlitz an; dort angelehnt stand ein Todter, die ge¬ brochenen Augen gerade auf sie gerichtet. Er hatte sich ins Herz geschossen. An die sonnenbeschienene braune Wand neben seinem Kopf war mit Kreide geschrieben: Lebwohl mein Schatz, du Teufelskind, Bereue Deine Sünden, Ich geh' und klopf' an d' Himmelsthür Und will den Heiland bitten. Mit einem gräßlichen Schrei brach das Mädchen am Gitter zusammen. Klärchen's Frühlingsfahrt. Klärchen Esmarch an die Geschwister in München. Kufstein, 25. März 89. 2 Uhr Mittags. Liebe Große! O wie gut, daß Du mir noch die Correspondenzkarten in mein Umhängtäschchen ge¬ steckt hast, liebe Irene, jetzt kann ich Euch gleich eine schreiben. Ich habe schon so viel gesehen, obgleich wir erst 2½ Stunden von München fort sind, daß mein Kopf ganz wirbelt vor Freude. Gleich, als wir in die Nähe von Rosenheim kamen, merkte ich, daß hier eine andere Welt anfing, nämlich die Berge. O wie weiß sie alle noch sind, man kann nicht dar¬ auf hinsehen, weil es blendet, und der Himmel ganz dunkelblau — ich bin nur so furchtbar traurig, daß Ihr nicht mit seid. Mama auch. Wenn wir nicht den Trost hätten mit der Hochzeitsreise, könnt' ich es gar nicht ertragen. Dieselbe an Dieselben. Ich schreibe gleich noch eine. Aber Rudi, mein armer, süßer Bruder, Du bist ja noch nicht verlobt, wie sollst Du es denn machen? Ach richtig, ich ver¬ gesse schon wieder die Hauptsache: Kinder, Putzi ist über alle Beschreibung! Im Wartesaal war er ja noch ein bischen zu gesprächig, wißt Ihr, so daß ich doch heimlich Angst hatte, aber jetzt, im Wagen, das süßeste stillste Zuckerthier. Wie er in seinem Körb¬ chen sitzt und durch die Löcher guckt mit seinen großen treuen Augen und keinen Laut von sich gibt, so lange ich die Hand auf dem Korbdeckel halte und ihn an¬ sehe! Er läßt sich auch durch den Gitterdeckel füt¬ tern wie ein Tiger! Sein kleines schwarzes Schnäuz¬ chen reckt er immer so hoch wie möglich, das arme Würmchen. Papa fängt schon an, sich damit auszu¬ söhnen, daß er mit ist. Aber er hat so wenig da¬ von. Wie gern hätt' ich ihm das Kaisergebirge ge¬ zeigt, das wir eben gesehen haben, ganz violett, grau und weiß, gewiß muß es das schönste von allen Ge¬ birgen sein. Nun geht es weiter, Papa hat seinen Braten auf, und jetzt kommt die Gepäckrevision. Ich muß Putzi auf den Arm nehmen — unterm Reise¬ mantel ist es ja leicht — damit sein Körbchen die Marke: „Zollfrei“ kriegt. Ich zittere, bis wir glück¬ lich damit durch sind. Verzeiht das Geschmiere. Eure Kläre. Dieselbe an Dieselben. Bozen, 26. März 89. H ô tel Greif, 7 Uhr Morgens. Liebe Evy, liebe Irene und mein armer, süßer Rudi! Papa und Mama schlafen noch, aber ich habe die ganze Nacht gewacht, glaub' ich — ich bin zu glücklich, daß ich mitgekommen bin. Denkt Euch, hier ist schon ganz Frühling! Alle Obstbäume blü¬ hen, rosenroth und weiß und grün ist Alles. O, und was hab' ich unterwegs Alles gesehen. Zuerst 'mal Innsbruck. Aber Ihr könnt es Euch nicht denken, weil Ihr es nicht gesehen habt, und beschreiben kann ich es Euch nicht, aber es ist großartig und liegt um¬ geben von einem Kranz der wundervollsten Berge. Wir stiegen dort aus und aßen zu Mittag. Ich aß in Gedanken drei Brötchen zur Suppe, so daß Mama über mich lachte, aber Papa sagte, das sei immer so, Freude mache Appetit. Es war mir aber doch zu schade um die Zeit, die man da in dem Bahnhofs¬ restaurant versitzt — ich nahm den armen Putzi, der schon ganz steif und wirr sein mußte vom langen Sitzen und Schütteln, aus dem Körbchen und ließ ihn ein bißchen auf dem Perron laufen. Wie dank¬ bar er mich ansah, wie er seinen kleinen schwarzen Zottelpelz schüttelte, es war rührend! Ich glaube, er hat unterwegs viel Kopfweh gehabt, sein Köpfchen war immer heiß, wenn ich es anfühlte — ein paar Mal, wenn ich die Hand vom Korb nahm, hat er heftig geniest, um mich an meine Pflicht zu erinnern, sonst war er musterhaft. Und doch haben mir seinet¬ wegen ein schreckliches Abenteuer ausgestanden, es war zwischen Innsbruck und Matrei, ich werde es nie ver¬ gessen. Als wir nämlich in Innsbruck wieder ein¬ stiegen, guckte ich noch einen Augenblick aus dem Fenster, denn Papa hatte mir die Martinswand ge¬ zeigt. Ihr wißt ja: „Willkommen Tirolerherzen, die Ihr so bieder schlagt!“ und mein Auge hing ganz verzaubert an dem hochgethürmten sagenhaften Felsen — es war mir, als müsse ich die Gestalt des kühnen Kaisersohnes in Alpenjägertracht dort oben zu ent¬ decken suchen! Da wir ganz allein im Coup é waren, hatte ich mich Putzi's wegen in Sorglosigkeit gewiegt. Plötzlich aber höre ich ihn winseln, scharf und lang¬ gezogen, durch die Nase, wie er immer thut, wenn er einen großen Kummer hat. Entsetzt sehe ich mich nach ihm um, da hebt sich der Korbdeckel, und das runde, schwarze Lockenköpfchen kommt zum Vorschein; im selben Augenblick aber, o Schrecken! öffnet sich die Coup é thür, und der Schaffner blickt herein und schreit: „Jemand eingestiegen?“ Ich warf mich über das Körbchen, um Putzi mit meinem Leibe zu decken, aber der Schaffner hatte ihn doch schon gesehen. Und nun denkt Euch diese freundlichen Oesterreicher! Er lachte und fragte mich: „Ist das Ihr Hunderl, gnä Fräu¬ lein?“ Und als ich schuldbewußt nickte: „O, 's macht nix, der darf schon heraußen bleiben aus sei'm Gefängniß, der darf mitfahren, weil er so schön ist!“ Ich hätte ihn umarmen mögen, Papa gab ihm auch gleich ein paar Cigarren, und Mama athmete erleich¬ tert auf und drückte mir die Hand. O, wie schön hätte es nun werden können! Putzi auf meinem Schoß, zwei Pfötchen auf das Fensterrähmchen ge¬ stützt, sah mit seligen Blicken auf die wundervolle Natur hier, die ihm ja auch ganz fremd war; da — es hatte schon zum zweiten Mal geläutet, rasen zwei Herren daher, daß die Rockschöße fliegen, reißen un¬ sere Wagenthür auf, und der Eine plumpst über Papa's Beine mitten in den Wagen hinein — Putzi erschreckt sich furchtbar und springt bellend von mei¬ nem Schoß herunter! Hätte ich ihn nicht noch gepackt, er wäre dem alten Herrn, dem Papa und Mama auf¬ halfen, ins Gesicht geschnellt. Der Herr bedankte sich mit einem Knurren und setzte sich dann mir schräg gegenüber, sein rothes Gesicht sah mich zornig an. Der zweite Reisende, ein junger Mann, so groß wie Papa und sehr ernsthaft, nahm den vierten Fenster¬ platz auf derselben Seite mit mir ein, ihm gegenüber saß Papa, Mama mir gegenüber. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Lampe war angezündet worden, Frapan , Bittersüß. 13 und mir kamen sogleich in einen entsetzlich langen Tunnel. Ich redete Putzi zu, sich nicht zu fürchten, denn er hatte solch' Herzklopfen, daß sein ganzer Körper zitterte. Der alte Herr schien immer böser zu werden, er schoß mir einen zornigen Blick zu und sagte auf einmal: „Thiere gehören übrigens in 'n Viehwagen, wissen Sie das, mein Fräulein?“ Denkt Euch! Gewiß hatte das Hinfallen ihn so geärgert, und nun mußte er an dem unschuldigen Putzelchen seinen Zorn auslassen. „Setz ihn in den Korb, mein Kind,“ flüsterte Mama ängstlich, und ich selbst hatte auch schon die Absicht gehabt. Aber nun nahm der geliebte Papa ganz meine Partei. „Es ist meiner Tochter extra erlaubt worden, dies Schoßhündchen, das Niemanden belästigt, offen mitzunehmen,“ sagte er. „Niemanden belästigt?“ sagte der alte böse Mann, „hätt' mich wohl gern gebissen, wenn das Fräulein ihn nicht festgekriegt hätte.“ — „Er beißt wirklich nie,“ sagte ich zitternd; „aber wenn er Sie genirt, will ich ihn wieder einsperren.“ Und ich that es. Aber er war noch nicht zufrieden. „So Vieh¬ zeug hat immer Mitbewohner,“ rief er, „und ich krieg da immer gleich was ab. Auf der nächsten Station muß ich mich umziehen, es juckt mich schon überall.“ Diese Böswilligkeit brachte mir fast Thränen in die Augen. „Putzi ist wirtlich so sauber“ — sagte ich — da konnte ich nicht mehr! Ein kurzes helles Lachen kam aus der Ecke, wo der junge Mann saß, der dieses unschickliche Gespräch mit angehört hatte. Was mußte er von mir denken! Ich verstummte ganz, wendete kaum die Augen vom Korbe und steckte, als wir aus dem schrecklichen Tunnel heraus waren, zwei Finger durch das Flechtwerk in Putzi's Mund, damit er daran knabbere. Der Alte aber murrte in einem fort: „Wenn ich das bei uns in Neustadt- Eberswalde erzähle, daß ich mit einem Hundeköter in einem Wagen habe fahren müssen — es glaubt mir kein Mensch! Man reist krankheitshalber in dies gräßliche Land, wo es aussieht, als wollten Einem die alten Berge übern Kopf fallen, und denn noch so was! Aber ich will mich doch 'mal beim Stations¬ chef erkundigen, ob sich ein preußischer Landrath hier im Kreuzerlande so was gefallen zu lassen braucht!“ Ich sah immer von Mama auf Papa, aber denkt Euch, der geliebte Papa nickte mir freundlich zu, und kein Vorwurf kam über seine Lippen! Nur, als wir in die Nähe von Matrei kamen, fing er an, unsere Handkoffer und Plaidriemen herunterzunehmen; „wir müssen ein anderes Coup é suchen,“ sagte er halblaut zu uns. „Schade, es war so bequem hier,“ erwi¬ derte Mama, und ich warf einen betrübten Blick in den kleinen engen Raum, wo ich so wunderschöne Stunden verlebt hatte. Der Zug hielt, und der junge Herr sprang zuerst hinaus, Papa folgte, auch 13* der böse Landrath krabbelte, auf Papa gestützt, die steilen Stufen hinab, sein ganzes Gepäck, eine Leder¬ tasche, in der Hand. Wir sahen, wie der junge Mann auf ihn zutrat, lebhaft mit ihm redete und dann mit ihm ein anderes Coup é bestieg. „Kinder, wir sind sie beide los, bleibt nur drinnen!“ rief Papa seelenvergnügt und reichte all' unsere Sachen wieder herein. „Sonderbar, daß der junge Mensch mit dem unangenehmen Alten zusammen geblieben ist!“ meinte Mama. Ich sagte nichts, aber ich glaube fest, er hat sich für uns geopfert — er sah gar nicht danach aus! — Von nun an blieben wir allein bis zum Brenner! O, meine Geliebten, wie soll ich Euch mein Entzücken über all' das Schöne schildern. Irene sagt gewiß wieder: „Na, da haben wir die Con¬ fusionsräthin,“ aber es ist kein Wunder, es ist auch zu viel auf mich eingestürmt in diesen letzten Tagen! Mama sagt auch, wenn auf sie so viel eingestürmt wäre, als sie sechzehn Jahre war, solch' eine Reise nach Italien im Frühling, sie wäre ebenso confus gewesen. O die Berge, die weißen Kuppen, die fürchterlichen Schlünde und Abgründe, und an den Felsen herunter ziehen sich in schimmernden Streifen die Gießbäche und kleinen Wasserfälle, und unten, denkt Euch, ganz dicht neben den Schienen, im hell¬ grünen Moos und Gras, unter den sprossenden Zwei¬ gen der Birken und Buchen steht es blau, so dunkel¬ blau wie der Gebirgshimmel über mir! Wißt Ihr, was das ist? Ich wußt' es erst auch nicht, aber Papa hat es mir gesagt: Enzian! Frühlingsenzian, und dann der große, stengellose, der die Lieblings¬ blume des unglücklichen Königs Ludwig gewesen ist. Hier habt Ihr sie alle beide im Brief, und dazu noch das Rosenrothe, das ist die Steinnelke, die ähnlich wie Syringen aussieht und duftet, nur viel stärker. Und das bläulich Rosa ist die Mehlprimel, Primula farinosa ; es ist merkwürdig, daß Papa Alles kennt. Ich meinte immer, außer den Kelten und ihren Gräberfunden und den Pfahlbauten interessirte ihn nichts; und nun hat er alle Bergblumen bei Namen gewußt und sagt, die meisten hab' er schon als Stu¬ dent gesammelt. — Auf dem Brenner, auf den ich mich ganz besonders gefreut hatte, sieht man aber nichts, weil man nämlich über ihn wegfährt, wißt Ihr; während sonst die Berge immer höher sind rundum, ist es hier im Gegentheil flach, wie bei uns in München, aber prachtvoller Schnee lag überall, ganz bis an die Bahnlinie, und als ich ausstieg, um mich umzusehen, war es so kalt, daß ich einen grä߬ lichen Katarrh bekam, der aber nur bis Brixen dauerte. Der Weg herunter war so entzückend — die ganze Nacht hat mir von den Felsen, den Gletschern und grünen Thälern, den Zacken und brausenden Bächen geträumt. Um Brixen sahen wir schon blü¬ hende Kirschbäume und hellgrüne Buchen, und als wir hierher kamen und die Sonne gerade im Unter¬ gehen auf den Rosengarten schien und die ganze laue Luft von Düften und Vogelgesang voll war, haben Papa und Mama und ich uns im Coup é alle drei umarmt und abgeküßt und immer geschrieen: „Ach, wenn doch die Kinder hier wären.“ Heut' Abend mehr! Mama ruft mich zum Kaffee auf den Bal¬ kon! Putzi springt an mir in die Höhe und sagt, daß ich Euch Allen von ihm drei Küsse schicken soll, den dicksten dem armen Rudi, weil der noch keine Hochzeitsreise in Aussicht hat! Eure glückliche Kläre. Bozen. H ô tel Greif. 26. März, Abends 9 Uhr. Meine Geliebten! Nur noch ein Doppelkärtchen, ehe wir zu Bett gehen. Wir sind heut' den ganzen Tag herumgestreift und haben wieder so viele Aben¬ teuer gehabt! Es ist wirklich, wie ich vermuthete, er hat sich für uns geopfert! Wir sind ihm nämlich wieder begegnet, an der Talferbrücke! Putzi wollte trinken, obgleich das Wasser so merkwürdig roth aus¬ sah, gar nicht appetitlich; aber gerade an der steilsten Stelle guckte er sehnsüchtig hinunter und schwänzelte. Was sollte ich machen? Papa erklärte Mama eben die Gebirge, er war ganz bei den Formationen, und ich mochte ihn nicht stören. Also nehm' ich den Putzi auf und will mit ihm den Abhang hinabklet¬ tern. Plötzlich sagt eine Stimme neben mir: „Ihr Hunderl hat Durst, gelt, gnädiges Fräulein? Blei¬ ben Sie nur, ich hab' meinen Trinkbecher da.“ Und denkt Euch, er klettert hinunter und schöpft Wasser — es sah so gefährlich aus, fast hätt' ich geschrieen. Putzi war ganz verdurstet, der Herr hielt ihm den Becher hin, strich ihm übern Kopf und sagte zwei¬ mal: „Ein netter Kerl!“ Ich bedankte mich, aber weil ich an die „Mitbewohner“ denken mußte, wurde ich sehr verlegen und ging schnell den Eltern nach. Und in Gries war es wundervoll, lauter schmale Wege zwischen hohen Mauern! Wie warm es da war, und wie die Aprikosenbäume darüber guckten mit ihren röthlichen Blüthen! Wir sahen auch noch einige Mandelbäume in Blüthe, und hie und da sin¬ gen schon die Glycinen an, ihre reizenden helllila Trauben zu entfalten. In Gries ließen wir uns einen Tisch mit einer roth und blau gewürfelten Decke vor die Thür des Wirthshauses tragen und tranken Kaffee im warmen Sonnenschein. Die Kellner im „Caf é Vogelweide“ sind sehr freundlich gegen Putzi; einer, ein Italiener, bringt ihm immer ein Stückchen Zucker und trägt ihm seine Tasse Milch überall hin nach. Ich bedanke mich auch immer herz¬ lich dafür, da ja Putzi doch nicht sprechen kann. Papa sagt, im Sommer, wenn viele Reisende kom¬ men, sind die Kellner nicht mehr so nett, sie sind dann zu abgehetzt. Unsere Wirthin hat mir heut' Morgen zum Kaffee ein Sträußchen Bergblumen ge¬ bracht; es sind Orchideen dabei, ich lege Euch ein paar davon ein. Ist es nicht reizend? Wie merk¬ würdig, daß alle Menschen so gut sind gegen Eure, Euch innig liebende Kläre. P. S. Der greuliche Landrath ist in Gries an uns vorübergegangen und hat Putzi durchbohrend angeguckt! Klärchen an Eveline. Bozen, 27. März. 1 Uhr Mittags. H ô tel Greif. O, meine geliebte Evy! tausend, tausend Glück¬ wünsche und Küsse! So ist nun also Dein Edmund ordentlicher Professor! Wie glücklich wir sind über die Nachricht, das sagen keine Worte! Papa und Mama sitzen auch und schreiben Dir, um halb zwei wird gespeist. Schreib Edmund, daß ich schrecklich stolz auf meinen Schwager sei, und besuchen darf ich Euch doch oft, nicht? Würzburg! Wie himmlisch! Mama fürchtete immer, es würde Berlin werden oder gar Königsberg. Nach dem Essen wollen wir auf den Runkelstein, die Freudenbotschaft von Dir hat gleich Mamas Kopfweh vertrieben, das sich heute Morgen beim Spazierengehen in der Sonne eingestellt hatte. Mir thut die Sonne nichts. Ich werde so frisch davon wie eine Eidechse! Die Menschen hier sind reizend! Als ich eben nach Hause kam, ein bis¬ chen hinter den Eltern wie gewöhnlich, sah ich in einem verwahrlosten Garten, in dem ein Haus ge¬ baut wird, einen blühenden Pfirsichbaum stehen. Der arme Baum war ganz kalkbespritzt und verstaubt und blühte doch wie ein schönes Wunder. Ich weiß nicht, ob ich ihn begehrlich angeguckt habe, — genug, auf einmal trat ein kleiner Arbeiter von der Kalkgrube weg auf den Baum zu, brach einen blüthenvollen Zweig ab und reichte ihn mir freundlich lächelnd über den zerbrochenen Zaun. Ich gab ihm die Hand, um mich zu bedanken, und er schüttelte sie ganz ver¬ gnügt und griff noch an die Mütze. Mama war auch nicht wenig erstaunt, als ich mit dem Zweige ankam! Meine Evy, wenn Ihr Eure Hochzeitsreise nicht hierher macht, bin ich Euch ewig böse. Tausend Küsse! Eure Kläre. Klärchen an die Geschwister. Bozen, 28. März. 7 Uhr Morgens. Kinder, ich bin schon wieder bei Euch in Ge¬ danken, weil ich all' dies Schöne allein nicht ertragen kann. Papa und Mama halten sehr zusammen, und wenn Papa seine prachtvollen Erklärungen gibt, und Mama Alles so genau und schnell begreift, stehe ich immer ganz verdutzt daneben und merke nun erst recht, wie dumm ich bin. Ihr drei Aelteren seid sonst so die Mittelglieder zwischen den Eltern und mir, und nun fehlt Ihr mir sehr! Ich tröste mich dann mit Putzi, der auch so wenig weiß, ja fast noch weniger als ich, und dem man es doch nicht übel nehmen kann. Gestern waren wir also auf dem herr¬ lichen Schloß Runkelstein, wo die Geschichte von Tristan und Isolde auf die Wände gemalt ist. Und seht 'mal, das Alles mit der Restaurirung wußte Papa ganz genau, ich aber bin gar nicht recht klug daraus geworden! Isolde erinnerte mich ganz an Dich, meine süße Irene, eben so schlank und dünn war sie wie Du und trug auch solchen großen Hut, wie wir alle drei gern tragen. Aber die Jagd konnte ich gar nicht verstehen, und die Hunde hatten mit Putzi nicht die geringste Aehnlichkeit! Aber man konnte sich doch ganz in die alte Zeit versetzen, wo sich Tristan und Isolde liebten! Es muß sehr schön gewesen sein, nur das mag ich nicht, daß sie den alten König Marke betrogen! Warum hätten sie ihm nicht offen die Wahrheit sagen können? er hätte ihnen gewiß verziehen, denn es war ja ein Liebes¬ trank, und sie konnten nichts dafür. Denke Dir, Irene, wenn Du nun in solch eine schreckliche Lage kämest, würdest Du nicht sofort Deinem Albert Alles erzählen? Wenn ich einmal mit solch einem bösen Gewissen herumlaufen müßte, wie die Isolde, ich hätte an nichts mehr Freude. Aber das wird wohl auch nur im Alterthum und allenfalls noch im Mittelalter vorgekommen sein. Und denkt Euch, als wir nach¬ her um das Schloß herumgingen, wer da unten saß an einem sehr malerischen Thorbogen, überhangen von einem blühenden Apfelbaum? Der junge Herr, unser Retter, und er hatte ein Skizzenbuch auf den Knieen und zeichnete so eifrig, daß er gar nicht auf¬ blickte. Sein Gesicht ist sehr hübsch, braun und et¬ was mager, mit einem lockigen Vollbart, und neulich habe ich auch schon bemerkt, daß er reizende Augen hat, ähnlich wie Putzi's, groß und dunkelbraun. Aber sehr ernsthaft sieht er aus, ja traurig, mit einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen. Ob der greuliche Landrath mit ihm verwandt ist und ihm die Reise verdirbt? Mama glaubt, daß er Maler ist, und ich denke mir, daß er sehr schöne, aber traurige Bilder malt. So etwas bemerkt man auf den ersten Blick; Madonnen und Grablegung Christi, wie die Meister in der alten Pinakothek, und in neuerer Zeit Fugel u. A. m. wißt Ihr. Ich hatte mich so in Acht genommen, ihn zu stören, aber Putzi, der ja sonst der wohlerzogenste Hund der Welt ist, verstand meinen Wink nicht, sondern sprang plötzlich mit freu¬ digem Gebell an ihm in die Höhe, so daß der Maler zusammenfuhr. Papa und Mama waren schon wieder voraus, und ich stand nun da, ganz roth vor Schrecken und entschuldigte Putzi, so gut ich konnte. Der Maler sah mich aber gar nicht an, sondern sagte nur zu Putzi: „Also jetzt bist du auch auf'm Runkel¬ stein gewesen? Wirst du aber ein gelehrtes Hunderl!“ Ob das Spott sein sollte? Nachher fiel mir Allerlei ein, was ich hätte antworten können, jetzt aber wußte ich gar nichts zu sagen und ging schnell weiter. Wie gern hätte ich einen Blick in sein Skizzenbuch gewor¬ fen, aber er sollte nicht glauben, daß ich eben so un¬ delikat sei, wie Putzi; der hatte ihn durch sein un¬ zeitiges Bellen gewiß aus einer Weihestimmung ge¬ rissen ! Ein sehr komisches, nettes Ehepaar aus Pom¬ mern haben wir kennen gelernt, ebenfalls durch Putzi, der die dicke kleine Frau ansprang. Sie schrie erst auf, als sie aber Putzi's Engelsköpfchen erblickte, rief sie: „O, du süßes Thier, willst du mir bange machen?“ und da hob ich ihn auf und zeigte ihn ihr in der Nähe. Nachher beim Abendessen saß sie neben mir und sagte mir, Mama sei die schönste Frau, die ihr begegnet sei, und so etwas ganz Apartes habe sie in der glatten Haartracht und der ganzen Erscheinung. Sie fragte, ob Papa Professor sei, und als ich sagte: „nein, Privatgelehrter“, wußte sie gar nicht recht, was das ist. Ich erzählte ihr auch von Euch, und sie erzählte mir von einem reizenden Lamm, das sie als junges Mädchen gehabt hatte, und das immer mit einem Blumenkranz um den Hals geschmückt und an einem rosa Bande durchs Haus geführt wurde, wenn Sonntag war. Aber einmal, als Alle aus waren, stieg es in die Haferkiste und aß sich so dick und rund, daß es nicht wieder heraus konnte. Der Thierarzt mußte kommen und verschrieb dem Lamm für 50 Pfg. Ricinusöl, da war es wieder gesund. Ach, und noch ein Abenteuer! Denkt Euch, gestern Abend liest Papa uns das schöne Gedicht aus dem Scheffel vor: „Noch heute freut mich's, o Rungl¬ stein“ — das ja nun für uns besonders interessant war. Er kam ganz in Feuer und sprach eben in dumpfem Ton die Zeile: „Betrüblich sehr steht König Marke, der alte“, da klopft es donnernd an die Thür, und ohne „Herein“ abzuwarten, erscheint — der Landrath. Er trug einen Schlafrock, zwei lange rothe Troddeln schleiften hinter ihm her. „Wollt' mir nur erlauben, zu fragen, was hier los ist? Ob die Herrschaften noch nicht bald zu Bett gehen? wol¬ len doch nicht die Nacht durch Theater spielen? Kranker Zimmernachbar hat Anspruch auf Rücksicht!“ Bums, Thür zu! Wir sahen uns ganz versteinert an. „Kinder, es ist wirklich über elf,“ sagte Papa, „lest den Rest für Euch, es thut mir leid, daß dieser Rüpel mir eine Lection in der Lebensart hat geben müssen.“ Mama wollte Einspruch erheben, aber Papa sagte kopfschüttelnd: „H ô tel bleibt H ô tel, da soll man nicht thun, als ob man zu Hause wäre; man vergißt das nur, wenn man lang' nicht gereist ist!“ Aber daß der Landrath auch hier wohnt! Heut Nachmittag geht es weiter nach Trient! Leider regnet es ein bischen, aber ganz lau, nicht kalt wie in München oder gar in unserer geliebten Kinderheimath Eisenach. Die Pfarrkirche mit dem grünen Ziegeldach bimmelt fortwährend, sogar Nachts. Schreibt uns nach Riva. Eure Kläre. P . S . Der Maler steht nicht hier im Fremden¬ buch, ich habe nachgesehen; der Landrath Nietzsche ja, — ich athme auf, sie sind gewiß nicht verwandt. Eugen Schmidthammel an Toni Emmer in München. Trient, 29. März 89. Lieber Junge! Deine Hartnäckigkeit im Fragen hat mich erst erbost, schließlich gerührt, — es fehlt nur, daß ich Thränen vergieße, wie ein frierendes Krokodil! Nun ja, es geht mir leidlich; das alte Trento ist so schön, wie damals, als wir vor drei Jahren im September zusammen hier waren. Wollte nur, ich wär' derselbe, — aber so was schüttelt man nicht ab, wie der Pudel die Prügel! Wie geht's ihr denn? Siehst Du, hörst Du etwas von ihr? Ich will mal ganz offen gegen Dich sein und Dir sagen, — wenn mich die Frage nach ihr nicht immer noch in Unruh' erhielte, — vielleicht hätt' ich Dir auch heut' noch nicht geschrieben. Zudem ist heut' ein Regentag! — gelt, ich bin eine ehrliche Haut? Gemacht hab' ich so gut, wie nichts, — eine Illustration zu einem grauslichen Ritterpoem für die „Fliegenden“, das ist wahrhaftig Alles! Jetzt hab' ich 'n Moralischen zu dem andern, dem Unmoralischen, Du weißt ja! Sag' mir nur, wie sie's trägt, wie sie sich d'rein findet! Sieht man sie wieder zusammen mit —Ihm? Ist sie bleich? leidend? Schreib' mir's! schreib' mir's! Gleich auf der Stelle möcht' ich die Antwort haben! — Mich verdrießt's bis ins Mark, wie ich vor ihm dagestanden bin! Wie ein Schulbub'. Nach dieser Eröffnung! Und das perfide Wort: „Du bist der Erste nicht!“ und dazu dies Hohnlächeln auf seinem blassen Gesicht. Und die Frau, die mir eben gestanden hat, sie liebe mich, was thut sie? Wie nimmt sie die tödtliche Beleidigung auf? Sie ruft mir zu: „Gehen Sie, mein Freund, ich werde meinen Gatten zu versöhnen suchen!“ Und ein Gesicht dazu, wie eine Nonne, die eingemauert werden soll! — Pfui und dreimal pfui! das ist eine schandbare Er¬ innerung! Und wenn man nun Geschöpfe umher¬ wandeln sieht, unbekümmert, heiter, gut, — 's wird Einem schwer ums Herz, daß man sich nicht dazu rechnen darf! Ich habe so eine Familie unterwegs getroffen, ein paarmal. Blühende, freundliche Men¬ schen, riesengroß, mit einem Ausdruck in den Ge¬ sichtern, als wär' alles Schöne in der Welt extra ge¬ schaffen, um sie zu erfreuen, — sie haben einen Hund mit, einen Affenpinscher, der fortwährend kläfft, schwarz mit braunen Pfoten, unten weiß und gelb. Er kennt mich schon von weitem, merkt, daß ich ein¬ mal närrisch auf die Hunde bin. Da schick' ich Dir seine Photographie, 's ist aber Caricatur, weißt ja, daß ich sonst nichts machen kann. Hier in Trento sind sie auch eben aufgetaucht, — ich geh' aber aus'm Weg. Es ist nämlich eine Tochter dabei, — und ich hab' übergenug von der Liebe! Sonst freilich — hätt' ich nicht mit theuren Eiden mir selbst geschworen, — — Eine Gestalt, wie ein Ritterfräulein, ein Ge¬ sicht, wie eine Frühlingsblume, blond, blauäugig, dazu eine zarte Flötenstimme, wie ein kleines Kind oder eine Amsel. — Ach, ich habe gar kein Recht, in so ein unschuldiges Gesicht zu sehen! Und wer weiß, was schließlich dahinter ist! Gebrannte Kinder, — — weißt Du! — Lebwohl, mein Junge, schreib' mir, wie's mit — Selma steht, — ich kann den Namen noch nicht ohne Herzweh schreiben. Verschweig' mir nichts. Ich will nicht geschont sein. Dein alter Eugen. Klärchen an die Geschwister . Riva, 30. März. 12 Uhr Mittags. So lange hab' ich Euch nicht geschrieben, meine armen Verlassenen, und jetzt wird es auch nur ein Kärtchen! Eben sind wir angekommen nach der schönsten Fahrt, die ich in meinem ganzen Leben ge¬ macht. O, der erste Blick auf den Gardasee durch das Thor, und die Olivenbäume und Limonengärten! Jetzt sind wir in Italien, obwohl dies Paradies noch zu Tirol gehört, sagt Papa. Ich natürlich wußt' es nicht, ich weiß gar nichts! Wir lernten die letzten Jahre immer nur amerikanische und afrikanische Frapan , Bittersüß. 14 Geographie. Der junge Maler ist auch mitgekommen in einem Wagen, der immer hinter unserm herfuhr, mit den zwei Pommeranzen, — so nenne ich das pommersche Ehepaar — die süße Pommeranze ist die Frau, — die bittere der Mann, er läßt die arme kleine Dicke immer alle Mäntel, Plaids und Reise¬ taschen allein tragen! Eure selige Kläre. Dieselbe an Dieselben. Riva, Hôtel du Lac , 30. März. 11 Uhr Abends. Der Balkon ist ganz in Mondschein gebadet, ich habe mich hierher gesetzt, Putzi ist auf meinem Schoß, ich schreibe dies ohne Licht, und die Nachtigallen sin¬ gen in allen Büschen des Gartens. Ach, liebe, süße Schwestern, wäret Ihr hier! Ueber die Bäume weg schimmert der See, und es ist Alles ein Duft, denn Syringen und Goldregen blühen. Wie schön! wie schön! Ist es nicht traurig, daß es Menschen gibt, die das nicht fühlen können? Der Maler hat noch immer seine düstere Falte zwischen den Augenbrauen, und der Landrath — Aber das will ich Euch morgen erzählen, ich will den schönen Abend nicht mit dem Bericht entweihen! Was für eine Wohlthat müßte es sein, wenn man hier Verse machen könnte! Mama sagt, ich werde sentimental, aber ich bin ja nur so außer mir vor Freude! Eure Kläre. Dieselbe an Dieselben. Riva, Hôtel du Lac , 31. März. 7 Uhr Morgens auf dem Balkon. Meine süßen Kinder! Eigentlich war es ur¬ komisch, wie ich mich gestern Abend an den Table d'hôte -Tisch setze und plötzlich in meinem Nachbarn zur Rechten, — links saß Mama, — den Feind, den Landrath erkenne! Mein erster Gedanke war: Gott sei Dank, Putzi ist geborgen in meinem Zimmer auf dem Sopha. Da fing der schreckliche Mensch mit vollem Munde an zu sprechen, ganz als ob wir immer die besten Freunde gewesen wären! „Na, wie geht's Ihnen, Fräulein? Haben Sie das Reisen noch nicht bald dick? Mir ist die Geschichte jetzt schon bis übern Hals! — Thür zu!“ brüllte er den Kellner an, „es ist so schon 'ne Hundekälte hier!“ Ich blickte ihn er¬ staunt an, aber er fuhr ganz zornig fort: „Na ja, die Sonne kriecht ja schon um vier Nachmittags hin¬ ter die Berge, wie soll es da nicht kalt sein?“ — „O, es ist im Garten himmlisch,“ wagte ich zu sagen, „die Nachtigallen singen jetzt die ganze Nacht!“ Da legte er Messer und Gabel hin und stotterte er¬ 14 * schrocken: „Was? Wer? Die Nachtigallen singen hier Nachts? Das können sie ja den ganzen Tag thun! Das fehlte mir noch! Ich kann so wie so nicht schlafen, und die wollen noch dazu singen? Ich dreh' ihnen den Hals um!“ Mein Herz klopfte vor Entrüstung, aber ich gab mir Mühe, ganz ruhig zu antworten: „Sie werden sich wohl nicht fangen lassen!“ Zum Glück hörte er es gar nicht, sondern fuhr fort: „Man hat ja schon genug Störungen aus¬ zuhalten, der Nachtruhe, mein' ich, in den H ô tels; fehlt nur noch, daß Sie das Piano bearbeiten, mein kleines Fräulein, wie die Person in Bozen, die mich aus dem „Schwarzen Adler“ vertrieben hat.“ Ich beruhigte ihn über mein Clavierspiel, das ich ja selbst nicht hören mag, aber er war nicht zu be¬ sänftigen. „Ach, es war doch so schön in Bozen,“ sagte ich. — „Schön? Wo denn?“ rief er wüthend, „in den alten, schmalen Gängen zwischen den Mauern?“ — „Auf der Talferbrücke —“ warf ich ein. Er legte wieder Messer und Gabel hin. „Ja, Sie sind doch nicht über das wackelige Ding gegangen? Fällt ja ein, wenn man darauf tritt! Was? auf dem schmalen Steig an der Talfer, wo man immer so einen Fuß vor den andern setzen muß? Hab' mich wohl gehütet, da zu gehen! Bis jetzt hab' ich noch meine gesunden Knochen, das Spierken Rheumatismus zählt doch nicht!“ Ich fragte ihn, ob er die reizen¬ den grünen und braunen Eidechsen gesehen habe, die jetzt hier überall an den Mauern herumschnellen. Da stöhnte er so entsetzlich auf, daß es mir fast ängstlich wurde, obgleich ich nachher lachen mußte. „Das Un¬ geziefer nennen Sie auch noch reizend?“ rief er ver¬ zweifelt, „na, da hört aber doch Alles auf! Solch' Viehzeug gibt es Gottlob in Neustadt-Eberswalde nicht, und da mag es auch Niemand leiden und nennt es reizend!“ Er schob seinen Teller weg. „Und der alte Kalbsbraten ist auch ganz ohne Sauce, solchen hab' ich nu schon jeden Tag gekriegt, dieses Elend mit dem bischen Essen, und nu verderben Sie mir noch ganz den Appetit mit Ihren Eidechsen!“ Er sah aus, als wollte er weinen, ich fragte ihn, ob ihn die Füße sehr schmerzten. Da antwortete er wieder nichts, blickte aber einer Dame nach, die ge¬ rade vom Tisch aufstand und flüsterte ganz vergnügt: „Ist das 'ne Italienerin? Ist sie verheirathet? Ist sie schon lange hier? Einen Ring trägt sie nicht, was? Haben Sie's nicht bemerkt?“ Und plötzlich zog er einen Kneifer heraus und guckte der Dame dadurch nach, ganz neugierig und lustig, und als sie hinausging, ging er auch hinaus, kam aber bald wieder herein, und sagte ganz laut zu mir: „Sie trägt keinen Ring!“ wobei er mich strafend an¬ blickte. Ist das nicht ein sonderbarer Mensch? Mama sagt, er sehnt sich gewiß so sehr nach seiner Familie, darum ist er so brummig, jetzt hat er ja Niemanden, der ihn pflegt. Wie schade, daß nicht seine Frau oder seine Tochter mit ihm gegangen ist! — Jetzt lauf' ich in den Garten, der so schön ist, wie die Gärten in den Märchenbüchern! Er reicht bis an den blauen See, und gegenüber ist der Monte Baldo; ich wandle hier unter Lorbeern und Cypressen, und sie kommen mir gar nicht fremd vor, es ist Alles, wie ich es mir gedacht habe, nur noch viel, viel schöner. Am Berge gegenüber ist eine ganz schmale Straße am Abhang eingesprengt, die Ponalstraße heißt, dorthin gehen wir heut' Nachmittag! Mit tausend Grüßen Kläre. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Riva, 2. April 89. Mein lieber Junge! Hab' Dank für Deine schnelle Antwort. Du hast mich nicht geschont, Du wußtest eben doch nicht, wie nah' mir die Geschichte noch geht. Dein Bericht über das Frühlingsfest der Künstler, wo Selma als Maifee erschien, — nach den Erlebnissen der letzten Monate! und der — Gatte als Maikäfer hat mir ein bitt'res Lächeln auf die Lippen gebracht! So schnell vergessen zu werden, das hatt' ich nicht — gehofft! Ich habe doch die Nacht nicht geschlafen und hatte heut' miserables Kopfweh. Wen führt sie denn jetzt am Bändel? Das vergaßest Du mir mitzutheilen! Ich werd' ihn nicht beneiden. Seiner wartet ein „Unmoralischer“, den kein Hering und kein Sodawasser vertreibt. Uebrigens — Maifee? Mit ihrer Ueppigkeit? Ihrem schwarzen Kraushaar? Was hat sie denn angehabt? Brillant genug mag sie ausgesehen haben! Hat sie ihre Schultern sehr frei¬ gebig gezeigt? Sie that das nie, so lange sie mit mir — Aber nun, wo sie beschäftigt ist, ihren „Gatten zu versöhnen“! Ist Dir das Wort „Gatte“ auch so zuwider? Ich möchte um die Welt nicht so genannt werden! Ach, Du, — Maifee! Jetzt muß ich doch lachen! Nein, nein, dafür paßte sie nicht! Das hätte sie nicht gewählt, so lang' ich ihr Rathgeber in Costüm¬ fragen war. Königin der Nacht, Nachtschatten, Bella¬ donna, aber Maifee? Da weiß ich eine Andre, die für die Rolle paßt. Und sie hat nicht 'mal ein be¬ sonderes Costüm dafür nöthig! In ihrem flattern¬ den, hellbraunen Mantel, in ihrem Reisehut und grauen Schleier, — sie ist immer dieselbe Frühlings¬ blume. Du kannst Dir denken, daß ich von meiner Reisebekanntschaft spreche, — ach, richtig, Du gibst mir ja sogar den guten Rath, mich in sie zu ver¬ lieben! Hör' auf, Toni, sonst hör' ich auf! Nein, ernsthaft, es ist mir unangenehm, daß Du mich zu dem ahnungslosen kleinen Engel in solche Beziehung bringst. Gestern traf ich sie allein, nur Putzi, ihr Pinscherchen war mit, auf der Ponalstraße. Ich saß grade auf einem Bauernwägelchen, neben einer alten Italienerin, die mit ihrem Eselchen vom Ledrothal heraufkam und mich eingeladen hatte, mitzufahren. Ein Bub' saß hinten auf und sang zur Ziehhar¬ monika, die alte madre aus voller Kehle mit. Da kam ihr Putzi daher und kläffte den Esel an. Ihr Erschrecken, ihre Freundlichkeit gegen die armen Bauersleute, und wie sie sogar die Prise Schnupf¬ tabak nahm, die die Alte ihr anbot, und dann nießen mußte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen, all' das war allerliebst. Freilich, sie ist ein Kind, ein Backfisch, aber der Gestalt nach völlig erwachsen und mit einem lieblichen Ernst. Wenn ich nicht Alles abgeschworen hätte — — Aber necke mich nicht mit ihr, mein Junge, es kommt mir hinterlistig vor gegen das Mädchen. Beneidenswerth, wer so eine frische Jugend als erste Liebe auf seinem Weg fin¬ det! Ich wünsch' ihr einen, der keine Selma geliebt hat und von ihr geliebt worden ist. Manchmal krieg' ich einen ganzen Widerwillen gegen mich selbst. — Die Familie kommt aus München, — ich wohne jetzt im gleichen H ô tel wie sie, — wenn ich irgendwie merke, daß sie von der Geschichte gehört haben, dann verschwinde ich aus ihrer Reiseroute. Unmöglich wär's nicht, unser gutes München ist halt ein arges Klatschnest! Dein Freund Eugen. Klärchen an die Geschwister . Riva, 3. April. Im Garten 3 Uhr Nachm. Wie haben wir uns über Eure lieben, langen Briefe gefreut, meine süßen Kleinen! Ach, ich kann mir denken, wie unangenehm es Euch war, in der Suppe ein Haar zu finden! Nicht allein des Haares wegen, als weil Ihr es Kathl habt sagen müssen! Es ist so peinlich, einen Menschen zu beschämen, nicht wahr? Das habe ich vorgestern auch recht empfun¬ den, als mir der junge Maler, — er heißt Herr Eugen Schmidthammer — auf der Ponalstraße, die, in der Nähe besehen, sehr breit ist, entgegengefahren kam. Er saß nämlich auf einem Eselfuhrwerk, auf einem großen Haufen Gras und Futter, und so ge¬ schmückt war das Eselchen mit rothen Troddeln und Bändern, daß es wunderhübsch aussah. Mit Gesang kamen sie daher, und ich wurde so lustig, ich hätte gerne mitgesungen, wenn es nicht italienisch gewesen wäre. Als aber der Maler mich erblickte, wurde er ganz roth und sprang herunter und sagte: „Putzi scheint zu glauben, daß dies hier meine gewöhnliche Beschäftigung ist, und Sie am Ende auch, mein Fräu¬ lein?“ Denkt Euch! Ich lachte natürlich und sagte, ich wisse wohl, daß er Maler sei, aber ich wurde doch ganz verlegen mit und vergaß, auf Putzi zu achten, und plötzlich läuft der Maler hin und reißt ihn von dem steilen Absturz der Straße zurück! Das war ein Schrecken! Putzi, der sich doch sonst von keinem Fremden anrühren läßt, hatte nicht gemuckt, saß ganz ruhig einen Augenblick auf seinem Arm und ließ sich streicheln. Die alte Italienerin hat mir dann eine Prise angeboten, und ich nahm sie ganz ahnungslos und mußte fürchterlich nießen, worüber sie und ihr Junge, der eine Harmonika hatte, jauchzten und in die Hände klatschten. Hätte ich gewußt, wie es krib¬ belt, ich hätte nicht so viel genommen. Dann fuhr der Wagen weiter, aber der Maler stieg nicht wieder auf, und das freute mich, der arme Esel hatte so schon genug zu ziehen. Ich ging weiter, immer höher hinauf; links unten ist der See, blauer fast, als der Himmel, rechts die Felswand, voller Blumen. O, wie Einem die Augen hier groß und weit werden! Nachher geht es immer um Zacken und durch ein paar halbdunkle Tunnels, wenige Leute begegneten mir; zuletzt steht da an der Bergwand, in einem prachtvollen Tunnel, der ein Fenster hat, eine In¬ schrift über den Erbauer dieser großartigen Straße. Dort kehrte ich um, weil es mir einsam wurde, — Papa und Mama machten nämlich ihren Nachmit¬ tagsschlaf, und ich war allein weggelaufen. An einem Wegwärterhäuschen, das ganz verloren neben einem tiefen Schlunde liegt, in den sich ein Wasserfall er¬ gießt, sah ich wieder Herrn Sch. sitzen und zeichnen. Er stand aber auf, als ich heran kam, weil er fertig war, wie er mir erzählte. Da faßte ich mir ein Herz und bat ihn, mir zu zeigen, was er gemacht habe. O, meine Evy, welche Enttäuschung stand mir bevor! Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte! Lauter schreckliche Fratzen waren in seinem Skizzenbuch, Ritter mit ganz dünnen Beinen und furchtbar großen Füßen nach einwärts, und eine dicke, runde Frau, die ein bischen aussah, wie die süße Pommeranze, nur sehr übertrieben, und wen führte sie am Band? Putzi! Aber nicht meinen kleinen schönen Putzi, sondern ein dickes Ungeheuer mit vier Schwefelhölzchen statt der Beine und einem gerin¬ gelten Schwanz, wie eine Wurst! Es kam mir Alles vor, als ob es aus den „Fliegenden Blättern“ ab¬ gezeichnet wäre, und als er mich fragte, was ich dazu meinte, sagte ich ihm das, was gewiß sehr unartig war. Er lachte hell auf und sagte, ich hätte ganz Recht, nur mit dem Unterschied, daß die „Fliegenden Blätter“ diese Sachen von ihm abzeichneten! Nun seht, wie ich mich blamirt habe. Also traurige Bil¬ der malt er nicht, — ich habe ihn danach gefragt, und er hat nein gesagt. Er wunderte sich, daß ich die „Fliegenden“ nicht wundervoll fände; ich sagte, ich möchte sie sehr gern, aber wenn sie so ganz ver¬ dreht und verschroben wären, möchte ich sie nicht, ich möchte überhaupt lieber etwas Schönes, als etwas Lustiges sehen. Dann fragte er plötzlich, wie alt ich wäre. Ich sagte „Sechzehn“; da rieth er mir, nicht so allein herumzulaufen, ganz in dem Ton, wie Du manchmal, mein alter Rudi, und begleitete mich, bis das H ô tel in Sicht war. Ich sehe gar nicht ein, warum; aber ich werde wohl folgen müssen, Papa und Mama hatten sich auch schon geängstigt. Ach, wäret Ihr doch hier! Eure Kläre. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer. Riva, 3. April. Mein lieber Toni! Was redest Du von ver¬ liebt? Weiß ich denn nicht, wie das thut? Ich bin nicht verliebt, ich schwöre es Dir. Nichts von dem dumpfen Drang, der stachelnden Unruhe, dem Fieber im Blut, dem Schwanken zwischen Begier und Wider¬ willen, wie ichs in den selig-unseligen Monaten mit Selma empfunden. Alles ganz anders! Mein Blut ist ruhig, meine Nerven zucken nicht krampfig, wie abgeschnittene Glieder, wenn ich die kleine Kläre da¬ herkommen sehe. Ebensogut könntest Du behaupten, ich sei verliebt in die Frühlingssonne, oder in den Gardasee, oder in die Nachtigall vor meinem Fenster! Sie hat ja auch von allen diesen etwas, aber sie ist dazu noch allerlei Andres. Hat nicht Goethe irgend¬ wo gesagt: „Als Kinder sind wir Alle moralische Ri¬ goristen?“ Diese Kläre, glaub' ich, wird's bleiben ihr Leben lang. Eine süße, kleine Person, die aber einmal von ihrem Manne viel verlangen wird! In aller Unschuld, weißt Du. Ich habe ihr meine un¬ sterblichen Illustrationen gezeigt. Meinst Du, daß sie auch nur ein Wort der Bewunderung dafür gehabt hätte? Du weißt, ich bin nicht eitel, aber sie ist sonst so bereit, zu bewundern! Ich könnte mich ja damit trösten, daß ich sie einfältig fände, aber nein, — ein¬ fältig ist sie nicht. Ich habe ihr offenbar nicht im¬ ponirt mit meinem Können, und so dumm es klingt, — mich ärgert's! Jetzt schwatz' ich so viel davon, jetzt wirst Du erst gar glauben, es sei was an der Geschicht'! Also, noch kein Ersatzmann in Sicht? Arme Selma! Was thut sie nun inzwischen mit dem un¬ ausgefüllten Herzen? Oder ist vielleicht der — Gatte Zwischenbewohner? Mein lieber Junge, sie hat ein paar Briefe von mir, tolles Zeug, drei oder vier nur, — wenn Du sie zurückerbitten und vernichten könntest! Die ihrigen hab' ich ihr stets sofort zurück¬ geben müssen. Sie hieß mich sie küssen und ver¬ brannte sie dann an der bunten Schreibtischkerze in ihrem Boudoir, immer ihr Auge in meines getaucht, immer mich bändigend, der ich ihr in den Arm fallen wollte! Ach, die Komödie! Willst Du mir das thun? Es ist ein arger Freundschaftsdienst, aber als ihr quasi Verwandter? — Dein Freund Eugen. Klärchen an die Geschwister. Riva, 5. April. Im Garten Nachmittags. Ihr Lieben alle! Der verwahrloste Theil des Gartens ist der schönste, — da stehen die Bäume so dicht, und Wurzeln, wie klammernde Arme, spannen sich über die Wege. Hier sitz' ich am liebsten, an einem vertrockneten, moosüberwucherten Brunnen und schreibe Euch. Ach, leider zum letzten Mal heut', denn morgen früh geht es weiter, den See hinab, nach Desenzano! Ich bin so gerne hier gewesen, es ist mir ganz wie ein Abschied. Das bunte Städtchen mit der kleinen Piazza, nach der Seeseite offen, die Kastanienallee, die von uns aus dorthin führt, die Wein- und Oelpflanzungen am Berg hinauf, ja, selbst der Friedhof mit den hohen Cypressen, die wie dunkle Säulen zu beiden Seiten der Pforte stehen, — Alles ist mir vertraut und wird es bleiben, so lang' ich lebe. Die beiden Pommeranzen sind gestern abgereist, die Table d'hôte war heut' mit den zwei leeren Stühlen noch schrecklicher, als gewöhnlich. Man sitzt und ißt anderthalb Stunden, und einige Leute starren Einen so an, daß man sich gar nicht getraut, etwas in den Mund zu stecken. Ich schüttele mich immer, wenn wir damit durch sind. Papa und Mama geht es ebenso, sie sagen, das Table d'hôte -Essen sei — der, die oder das? — einzige draw-back auf Reisen. Der Maler ißt nie mit, er macht Ausflüge und ißt, wo er etwas findet. Das denke ich mir herrlich. — Der Landrath aber sitzt fast täglich neben mir und erzählt mir lauter Sachen, die weder interessant noch hübsch sind, aber ganz freundlich ist er jetzt mit mir, und er will sogar Putzi füttern mit großen Fettstücken und Käserinden, daß ich immer eine Todesangst aus¬ stehe! Glücklicherweise ist das süße Thier so klug, mir die Brocken immer erst vorzuzeigen, so daß ich sie ihm unbemerkt wegnehmen kann. Ich habe immer ein Extra-Taschentuch und eine Papiertüte dazu bei mir. Gestern, als ich im Garten spazieren ging, wehte plötzlich vom Balkon ein Briefblatt herunter. Ich hob es auf, darauf stand: „Liebe Toni!“ Ich dachte, eine Dame habe es vielleicht herunterflattern lassen, als ich es aber auf den Balkon zurücktrug, saß oben der Maler und schrieb. Ich fragte ihn, ob Toni seine Schwester sei, er sagte: „So gut, wie Schwester.“ „So ist sie wohl Ihre Braut?“ fragte ich. Da lachte er und sagte: „Soll ich Ihnen Toni's Bild zeigen?“ Ich nickte, denn ich dachte sie mir sehr hübsch, nach ihm zu urtheilen; da zeigte er mir die Photographie eines jungen Mannes in Tiroler Tracht! „Wer ist das?“ fragte ich. „Toni, mein Freund Toni,“ lachte er. Ich stand recht dumm da. „Bei uns ist Toni ein Mädchenname,“ sagte ich, und dann sprachen wir von Euch, und ich erzählte ihm, daß ich Euch Alles, Alles schreibe, was mir be¬ gegnet. „Haben Sie auch von mir geschrieben?“ fragte er. Ich hatte große Lust, nein zu sagen, aber ich konnte doch nicht lügen! Ich sagte also ja, aber nun wollte er auch noch wissen, ob es Gutes oder Schlimmes gewesen sei. Ich sagte ihm, nun natür¬ lich Gutes, daß er immer so nett gegen Putzi gewesen sei und so weiter. Nun kamen wir in ein ganzes Hundegespräch, er hatte nämlich auch einen Hund ge¬ habt, einen Teckel, ein sehr merkwürdiges Thier, sehr liebenswürdig, aber treulos, ein richtiger Don Juan, der allen Hunden die Köpfe verdrehte und sich dann nicht weiter um sie bekümmerte. Die Hündin seines Onkels, eine sehr zänkische, bissige, alte Jungfer ver¬ liebte sich sterblich in den Don Juan und starb an gebrochenem Herzen. Der Teckel wurde schließlich von einer Dogge todtgebissen, und sein Herr wollte nun keinen Hund wieder haben. Es war Alles sehr spa߬ haft, wie er es erzählte, aber ich konnte doch nicht so recht darüber lachen. Ich sagte ihm, ich möchte lieber treue Hunde, wie Putzi, die andern verdienten gar nicht den edlen Hundenamen; Putzi würde gewiß sterben, wenn ich stürbe, und er solle sich nur ruhig wieder einen Hund anschaffen, einen wie Putzi. Aber er sagte, solchen fände er doch nicht. Nachher kamen Papa und Mama auch aus ihren Zimmern auf den Balkon heraus, und wir plauderten alle vier ganz gemüthlich. Ich habe meistens zugehört, Papa sprach mit dem Maler über italienische Kunst und das in¬ teressirte mich sehr. Herr Schmidthammer kennt die meisten Maler und Zeichner in München und erzählte uns viel Lustiges aus dem Künstlerleben, — er war ganz verwundert, daß mir noch so wenig davon gesehen haben, obwohl wir schon bald ein Jahr dort leben. Er hat Papa um Erlaubniß gebeten, uns in Mün¬ chen besuchen zu dürfen, und so werdet Ihr ihn ja nun auch bald kennen lernen. Er ist noch etwas größer als Rudi, sieht ihm überhaupt gar nicht ähn¬ lich, und doch fühle ich mich so zu ihm hingezogen, Frapan , Bittersüß. 15 als ob ich ihn schon lange kennte. Und Putzi läßt sich von ihm freiwillig auf den Arm nehmen! Das ist doch viel, nicht? — Ich muß Abschied nehmen von den Tauben im Hof, von den zwei Katzen, einer grauen und einer dreifarbigen, — Putzi hat sie so oft erschreckt, wenn sie behaglich blinzelnd im Sonnen¬ schein lagen, das muß ich ihnen vergüten. Und von den herrlichen Bäumen und allen Plätzen im Garten, und vom berankten Balkon und heute Abend von den Nachtigallen. So früh wie dieses Jahr fingen sie sonst auch hier nicht, sagt der Wirth. Die Orangen¬ blüthen, die ich Euch einlege, hat er mir heut' im Gewächshaus geschnitten, dazu auch noch zwei weiße Camelien, aber die sind zu dick. Wie glücklich bin ich hier gewesen! Wie viel hab' ich schon erlebt, seit wir fort sind! Ich komme mir ganz erwachsen vor, und Papa sagte heute auch: „Du wirst auf dieser Reise Deine Kinderschuhe austreten, Kleine.“ Da nahm Mama mich in die Arme und sagte: „Mein armes Kind! nein, nein, noch nicht!“ Was kann sie damit gemeint haben? Ich fragte sie, aber sie sah mich nur an und küßte mich. Eure halb frohe, halb traurige Kläre. Eugen Schmidthammel an Toni Emmer . Verona, 6. April. Lieber Toni! Dein Brief hierher befestigt mich in meinem Entschluß. Sie gibt die Briefe nicht her¬ aus, und so lange ich die Unglücksblätter in ihrem Besitz weiß, fühle ich mich nicht als freier Mensch! Der Gebrauch meiner Glieder ist mir beengt, ge¬ hemmt — als ein Halbgefangener kann ich vor dem süßen Geschöpf nicht umhergehen. Ich muß ver¬ schwinden, jetzt, nachdem ich in einem schwachen Augen¬ blick, hingerissen von ihrer Lieblichkeit, den Vater um Zutritt in die Familie gebeten habe! In welches Licht werd' ich kommen! Was wird das arglose Kind, das nicht einmal untreue Hunde ausstehen mag, von mir denken! Es ist freilich nicht die Briefan¬ gelegenheit allein, die mich vertreibt. Auf dem Dampfer nach Desenzano — wir machten die Fahrt zusammen — und ich hatte ein Gefühl, als machte ich meine Hochzeitsreise mit Klärchen, wenn ich ihr allerlei kleine Dienste leisten, den weggeflogenen Hut ihr wiederholen, den Putzi warten durfte, während sie sich den Mantel zuknöpfte — auf dem Dampfer alfo tauchte in Gargnano plötzlich das unheilverkündende Gesicht der Baronin Hechingen unter den Ankommen¬ den auf. Die schlimmste Zunge unserer theueren Kunstmetropole, die natürlich meine und Selma's Ge¬ 15* schichte bis ins Detail kennt und in selbst zubereiteter pikanter Sauce Bekannten und Unbekannten auftischt. Ich saß wie auf Kohlen, denn ich sah das grinsende Gesicht der Alten noch süßlicher werden, als sie mich erblickte, und wie sie mich von Weitem anrief, wurde mir aufrichtig seekrank. „Sieh' da, Herr Schmidt¬ hammer,“ sagte sie, „warum haben Sie denn unser Künstlerfest versäumt? Die Maifee hat sich nach Ihnen ihre schönen Augen ausgeweint!“ Klärchen war zum Glück an den Frühstückstisch getreten und hörte nichts, und der Papa ist zu harmlos, war auch zu sehr in Betrachtung der Ufer vertieft, um die gif¬ tigen Worte zu hören. Die Mutter aber warf mir einen fragenden Blick zu und flüsterte dann: „Ist das nicht die Hechingen? Ich kenne sie aus einem Wohl¬ thätigkeitsconcert — leider — wenn sie mich nur nicht sieht!“ „Ich will sie unschädlich machen,“ rief ich, stürzte mich auf die Granate, die jeden Augen¬ blick platzen konnte und wich nicht mehr von ihrer Seite, bis wir in Desenzano waren. Ein Jammer um die schöne Fahrt! Sie ist leider gleichfalls nach Verona gekommen, und ich habe, während ich sie überwachte, meine Familie aus den Augen verloren. In Desenzano auf der Station ging der Doktor an mir vorüber, beladen mit warmen Koteletts und Bröt¬ chen, er sah mich nicht und ich — herabgesunken zum Ritter der Hechingen, der ich eben zwei Apfelsinen hielt, während sie die andern in ihre Reisetasche stopfte, wagte kein Lebenszeichen zu geben. — Ich fürchte, es ist Alles aus! Zum Unglück hab' ich seit gestern Abend auch die Hechingen nicht mehr gesehen. Mir ist zu Muth, als sei eine Brillenschlange ent¬ kommen und wolle sich auf mein Lamm stürzen. Dazu Dein Brief! Der Hohn, ich selbst solle die Briefe zurückholen! Aber sie weiß doch, daß ich auf der Reise bin! Versuch' es noch einmal, Toni, mein Freund, mein Bruder. Ich bin sehr unglücklich! Dein Eugen. Klärchen an die Geschwister. Verona, Albergo Lorenzo, 6. April. Meine Lieben! Mama bittet mich, Euch auch noch ein Wörtchen zu schreiben; ich habe zwar einen dummen Kopf, aber einen herzlichen Gruß sollt Ihr doch haben. Unsere Seefahrt war wunderschön, ich war ganz aufgelöst vor Freude. Aber in der zweiten Hälfte der Reise verschwand plötzlich der Maler, Herr Schmidthammer, und hat sich seitdem gar nicht wie¬ der sehen lassen. Es thut mir sehr, sehr leid! Ob wir ihn beleidigt haben, oder ob er uns nicht mehr mochte, als er uns genauer kennen lernte, weiß ich nicht. Ich habe schon Kopfweh vom vielen Grübeln. Nun, morgen bin ich wieder heiter. Eure Euch zärtlich liebende Kläre. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer. Verona, 7. April. Lieber Sohn! Es ist mir doch leid, daß ich gar kein Malzeug mit habe, das ewige Karikiren hol' der Teufel. Gelegenheit gäb's ja hier genug, und ich bin nicht müßig drin, 's ist ja auch Brotarbeit. Aber mir juckt's in den Fingern, auch wieder e bissel zu landschaftern. Gelt, thu mir die Lieb' und schick mir meinen Studienkasten, wie er steht und geht, nach Venedig in den Sandwirth. Das heißt, Du thust einen Blick hinein, ob er nicht ganz leer ist und räumst e bissel ein, was man so braucht! Skizzen¬ leinwand krieg' ich hier — ich könnt' ja auch das Uebrige hier besorgen, aber es wär' doppelte Ausgabe! In vier, fünf Tagen bin ich in Venedig. Gestern in der Arena ist mir die Hechingen begegnet, da gehört sie auch hin zu den andern Schuhus. Aber froh war ich doch an der Begegnung, sie reist nämlich ab, heut schon, nach Vicenza, — das arme Vicenza, ich be¬ neid's nicht um den Besuch! Nun Bog s nej ! wie Freund Alexej sagt! Wenn sie mir nur mein Lamm nicht würgt! Ich hab's nicht wieder gefunden, das weiße Lämmchen und hätte ja allen Grund, in mise¬ rabler Laune zu sein, aber — ich weiß nicht, es geht nicht; ich glaube, das Kind hat mich mit seiner Freu¬ digkeit angesteckt. Wenn ich nur erst einen Brief von Dir hätte — Nachricht, daß sie mich endgültig freigibt. Dein Freund Eugen. Weißt, Landschaft mit Staffage, denk fein dran, wenn Du mir die Tuben zusammensuchst! Klärchen an die Geschwister. Verona, Albergo San Lorenzo, 9. April Nachmittags. Meine Geliebten! Seid nicht böse, daß ich Euch jetzt seltener und kürzer schreibe, wir sind sehr viel unterwegs und haben soviel zu besehen, daß ich es nicht recht bewältigen kann. So schön wie Riva ist Verona nicht, finde ich, obgleich Papa sagt, gerade Verona trage echt italienischen Charakter. So furcht¬ bare blutige Erinnerungen gibt es hier! Wir waren z. B. in der Arena. Erst war es wie ein Traum, dieses riesige Theater, in das die heiße Mittagssonne herunterglühte, daß die Steinsitze ganz warm waren. Ich dachte mir die schönen Gestalten in antiken Ge¬ wändern dazu, und mein Herz zitterte ordentlich vor Freude, solch' eine denkwürdige Stätte zu betreten. Da zeigte Papa uns die dunkeln Gelasse unter den Galerien, wo die wilden Thiere und wohl auch die Verurtheilten, die mit ihnen kämpfen mußten, gefan¬ gen lagen bis zum Beginn des Kampfspiels, und dann wies er uns in der Mitte der Arena im Stein¬ fußboden die Löcher, durch die das Blut abfloß, und da kriegte ich ein Grauen vor den Menschen, die solch' Schauspiel hatten ansehen mögen, und mit aller Freude war es vorbei. Sogar die Leute auf der Piazza d'Erbe, die alle so lebhaft durcheinander rie¬ fen und sprachen und so bunt gekleidet waren, kamen mir nachher unheimlich vor, weil sie doch die Nach¬ kommen jener grausamen Alten sind. Und am an¬ deren Tage, als wir in der Stadt spazieren fuhren, führte uns der Kutscher, der ein alter Soldat war, aus der Festung hinaus und zeigte uns die Schlacht¬ felder von Custozza und S. Lucia und sagte immer: „Hier war ein erbitterter Kampf um eine öster¬ reichische Batterie, bis hierher lagen die Gefallenen, dort an dem weißen Kreuz so hoch übereinander, dieser Bach floß roth von Blut.“ Nun war noch das Aergste, daß zwischen der Saat, auf die er zeigte, viele Adonisröschen blühten, die wie frische Bluts¬ tropfen in der Sonne glänzten — ach, ich sehnte mich zurück in das liebe friedliche Riva, in den Garten mit den Lorbeerbäumen und an den himmlischen See. Es thut mir so leid, daß ich so undankbar bin, ich gebe mir auch alle Mühe, es vor Papa und Mama zu verbergen. Eure dumme Kläre. P. S. Ach, und denkt Euch, mein armes Putzel¬ chen hat eine muserola , einen Maulkorb! Das ist hier Vorschrift, und wir haben ihm einen kaufen müssen! Wie er damit aussieht, was für Anstren¬ gungen er macht, um ihn loszuwerden, und welch' flehende Blicke er mir zuwirft, das ist nicht zu be¬ schreiben! Es war der kleinste Maulkorb, den sie im Laden hatten, und sogar der ist ihm noch zu groß! Eugen Schmidthammer an Toni Emmer. Vicenza, 10. April. Lieber Junge! Wir sind in eine Correspondenz hineingerathen, die wahrhaftig mehr ins vorige Jahr¬ hundert gehört, als in unser Depeschenzeitalter. Aber ich muß mir's von der Seele schreiben, besonders das dumme, das mir jeden Tag passirt. Heut hab' ich etwas Extras angestellt — ich möchte mich prügeln, nur „wenn es noch einmal vor Dir stünde. Du thätst es noch einmal, mein Herz.“ Also Dir ahnt's wohl schon! Hab' die kleine Kläre wiedergesehen, endlich, und wo? — am „Grabe der Julia!“ Da bleib ein Anderer vernünftig. Weiß wohl, was die Gelehrten über den „Sarkophag“ für eine Ansicht haben, aber für sie war dieser antike Schweinetrog so echt, so be¬ wundernswerth, so unantastbare Wirklichkeit! Und ich frage Dich übrigens, warum könnt's nicht wahr sein? Wie ich da in die kleine Kapelle trat, durch das Spitzbogenfenster die Sonne schien auf den alten Mosaikboden und den alten Steintrog, und die Rank¬ rosen draußen ihre zitternden Schatten warfen auf das schlanke Ritterfräulein mit der tiefen Andacht in den kindlichen Zügen, da erschien mir alle Romantik glaubwürdig und als das Wirkliche, Echte im Leben, für das nur unsere Augen stumpf geworden sind! Und als ich gar bemerkte, daß sie sich freute — kurz und gut, ich benahm mich unverantwortlich, und nun sitz' ich da und hab' noch immer keine Nachricht von Dir! Aber, was ist das auch für eine Wirthschaft, daß in unserem verderbten neunzehnten Jahrhundert so reizende Geschöpfe unbewacht umherlaufen, um Einem das bischen Verstand vollends zu verwirren! So etwas sollte verboten werden. Freilich, solche Mustermenschen, wie dieses Elternpaar, urtheilt nach sich, und das Mädchen ist ja auch von einer himm¬ lischen Einfalt! Lebewohl, schilt mich, wie ich's verdiene. Dein Eugen. P . S . Hab's aber nachher wenigstens eingesehen und bin sofort hierher abgedampft. Oder war das nun am Ende wieder verkehrt? Klärchen an die Geschwister . Verona, 10. April. O, meine süßen Kinder, ist es nicht merkwür¬ dig? gerade jetzt, wo wir morgen nach Venedig fah¬ ren, fängt Verona an, mir lieb zu werden! Ich hatte eben das Schönste hier noch nicht gesehen, und das ist das Grab der Julia. Heut war ich dort, allein, denn Papa und Mama haben es früher schon gese¬ hen, und da Papa etwas Kopfweh hatte, wollte Mama lieber bei ihm bleiben. Sogar Putzi blieb zu Haus, denn die alte Muserola ist ihm eine Qual. — Eine ganze Weile war ich schon dort in dem poetischen Kapellchen — andere Leute kamen nicht, und der Aufseher ging draußen pfeifend umher. Ich konnte mich ganz vertiefen und vergaß, wo ich war. Zuletzt kamen Schritte, der Aufseher brachte mir eine Rosenknospe und einen Myrthenzweig aus dem Ge¬ büsch draußen, als „Ricordo della tombal di Giu¬ lietta.“ Hinter ihm trat Jemand hervor, da war es plötzlich der Maler, Herr Schmidthammer! Ich freute mich sehr, sehr! Seit Gargnano hatten wir ihn nicht mehr gesehen. Fragen mocht' ich ihn nicht, er war auch ganz wie sonst, fast noch bekannter. Er be¬ gleitete mich bis an unser H ô tel, wir sprachen soviel zusammen, ich weiß nicht recht was, aber es war Alles interessant. Er fragte mich, ob ich die Baronin Hechingen kenne — ich war ganz verwundert, daß er sie kennt, denn Ihr wißt ja, wie sie Mama unsym¬ pathisch ist. Und mir erst! Er sagte, er kenne sie nur sehr oberflächlich, also ganz wie wir. Ich habe ihm die Rosenknospe geschenkt, er sieht so unbeschreib¬ lich freundlich aus, wenn er bittet. Ich wollte ihm auch den Myrthenzweig geben, aber er sagte, den solle ich behalten. Nun haben wir Beide ein „Ri¬ cordo“! Aber das Grab der Julia würde ich ohne¬ hin nicht vergessen, mir scheint es das Schönste von ganz Verona zu sein! Nächster Brief aus Venedig! Tausend Grüße von Eurer Kläre. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Venedig, 12. April. Jetzt sind wir wieder 'mal Alle beisammen, die Familie, die Hechingen und ich! Es ist zum Platzen! Hielt's nicht aus in Vicenza, sonst meine Lieblings¬ stadt, auf die ich mich gefreut hatte wie auf eine ge¬ liebte lebendige Seele. Palladio's Rathhaus war göttlich wie ehedem, aber das Gefrorene in dem Caf é gegenüber erinnerte mich an die Hechingen, es zog mir den Mund zusammen. Und im römischen Theater trat sie aus einer der Seitencoulissen, und der ganze Chor der Eumeniden schien mir in ihr verkörpert, als sie zu krächzen anfing: „Sie, Schmidthammer, wo haben's denn den Doktor Esmarch und seine liebe Frau gelassen, die so kurzsichtig ist, daß sie die Leut' nimmer wieder erkennt, und das scharmante Klärchen, das so einen langen Hals hinter Ihnen drein machte, als Sie mit mir gingen in Desenzano? Sie sind er¬ kannt, Schwerenöther, Sie! Und ich sollt' Ihnen Grüße bringen von einer gewissen schönen Frau, die ein treueres Gemüth hat als Sie, Schmetterling! Was, eine trauernde Wittwe, so zu sagen, in Mün¬ chen und nun schon wieder — —“ Ich ließ das rö¬ mische Theater im Stich und rannte davon, was ich laufen konnte. In die Rotonda habe ich mich nicht einmal gewagt, ich wußte ja, Klärchen ist nicht da! Und wie hätte gerade sie dorthin gepaßt mit ihrer schlanken Anmuth und ihrer instinktiven Liebe zum Großartigen! — Jetzt liegen die Sachen so: die Hechingen wohnt in der Aurora, ich im Sandwirth, und die Esmarchs, wie ich aus der Fremdenliste er¬ sehe, bei Bauer-Grünwald. Also sämmtlich hingesäet am Canale grande ! Sie, meine Verfolgerin, muß täglich an meinem Haus vorbei, wenn sie stadtein geht — ich, der arme Netzumstellte, bin verurtheilt, Klärchen zu verleugnen und die Hechingen zu cha¬ peronniren, sobald es der einfällt! Das Frauen¬ zimmer wird mich noch zu einer Verzweiflungsthat treiben. Du sollst es erleben. Könntest Du ihr nicht eine Depesche schicken, die sie sofort nach München zurückberuft? Anonym natürlich! Schreib ihr, ihr Haus sei abgebrannt, ihr Sohn sei im Duell gefallen, ihre verheirathete Tochter sei mit einem Anderen durchgegangen, etwas Drastisches muß es schon sein, sonst wirkt es bei ihr nicht. Ach, ich fürchte, Deine angeborene Weichherzigkeit läßt Dich vor jedem Ge¬ waltmittel zurückbeben. Du hast keinen Muth, Toni! Ihr Tyroler seid einmal zu gemüthvoll! Aber frei¬ lich, Du hast den Jammer nicht auszustehen! Die Briefe von — Selma hast Du mir auch noch nicht geschickt, überhaupt keinen Brief! Den Studienkasten auch nicht! Na, Du bist ein netter Kerl! Und ich erst! Dein Eugen. Derselbe an Denselben . Venedig, 13. April. Gottlob, daß ich arbeiten kann! Hast Alles brav gemacht, alter Junge! So werd' ich die Ge¬ witterstimmung am ehesten beschwören. Die Kleine wag' ich nicht wiederzusehen. Nein, nein! Ich halt's zwar nur für einen ihrer — — Selma's — ge¬ wohnten Theatercoups, daß sie Dir sagt, sie bewahre die Briefe zum Hochzeitsgeschenk für meine zukünftige Frau. Dessen ist sie nicht fähig. Sie ist haltlos, charakterlos, aber nicht schlecht. Mir selbst wird sie sie nicht verweigern, es ist mir nur wie der Tod, daß ich noch einmal zu ihr soll. Ach, das bischen Leben, wieviel Angst und Qual hat man davon. Und ich glaubte diese Frau zu lieben. Dein Freund Eugen. Klärchen an ihre Geschwister . Venedig, Bauer-Grünwald, 13. April Nachmittags. Meine geliebten Kleinen! Ganz träg bin ich ge¬ worden im Briefschreiben, nicht wahr? Es muß der Scirocco sein, der seit unserer Ankunft hier weht und uns fast täglich ein Gewitter bringt. Im Anfang war ich wie betäubt von all' den Wundern hier; kann es noch etwas Schöneres, Märchenhafteres geben, als diese Wasserstadt? Jetzt aber macht die Luft mir Kopfweh, und Mama geht es ebenso. Wir sitzen meistens wie matte Fliegen unter den Prokuratien oder essen Granita und füttern die Tauben. Das Fahren in den engen Kanälen ist jetzt bei der Schwüle gar nicht angenehm, die unzähligen Taschen¬ krebse an den Hausmauern sind greulich! ganz wie dicke Riesenspinnen. Wir bleiben nicht lang mehr hier. Von Murano fuhren mir gestern im vollen Ge¬ witter in offener Gondel herüber, nicht eine einzige bedeckte war da. Gestern kam plötzlich die Baronin Hechingen zu uns, als wir im H ô telgarten zu Abend aßen. Sie setzte sich an unseren Tisch, obwohl wir sie gar nicht dazu eingeladen hatten, und nun fing sie an zu klatschen. Soviele häßliche Geschichten, daß mir schlecht wurde. Zum Glück sagte Mama, es sei ihr kalt, ich möchte ihr Tuch herunterholen. Ich ver¬ stand den Wink, gab das Tuch einem Kellner zum Besorgen und blieb auf meinem Zimmer oben. Die Eltern kamen auch bald herauf; nachher gingen wir noch Alle ins Caf é Quadri auf dem Marcusplatz, um — wie Papa sagte — den Abend nicht mit einem Mi߬ ton zu schließen. Es war Concert und sehr belebt, aber wir sahen keine Bekannten. Niemanden als den Landrath, der mit einem Kellner schimpfte. Er hatte sich nämlich an einen Tisch gesetzt, wo es nur Bier gab und verlangte dort Grog. Ich machte mich ganz klein hinter einem Pfeiler, und er sah mich wirklich nicht. Nachher aber, denkt Euch, ging er mit unter den Promenirenden und zwar in eifrigem Gespräch mit der Baronin Hechingen. Papa wies mit der Spitze seines Reiseschirms auf die Beiden und flüsterte uns zu: „Da haben sich ein paar edle Seelen gefunden.“ Das war komisch, nicht? Aber sonst kein bekanntes Gesicht! Seid innig gegrüßt von Eurer Klara. P. S. Was müssen das für himmlische Men¬ schen gewesen sein, die diese Stadt gebaut haben! Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Venedig, 14. April. O, mein Freund, mein Freund! Es hat ein¬ geschlagen, und ich bin ganz zerschmettert. Wir tra¬ fen uns gestern auf dem Dampfer nach dem Lido, zum erstenmal in Venedig. Als ich sie erblickte, ein bischen blaß und ernst und mit suchenden Augen, war wieder alle Ueberlegung dahin, und ich stürmte zu ihnen hinüber. Mir fiel auf, daß der treffliche Dok¬ tor mich fixirte und mir langsam, als koste es ihn Ueberwindung, die Hand bot. Die Frau war ver¬ legen und sprach schnell und bunt durcheinander, Klärchen einzig war wie sonst, nur nicht heiter. Putzi, dessen Schnäuzchen in einem Maulkorb steckte, sah grämlich und mit zuckenden Lippen vom Schoß Frapan , Bittersüß. 16 seiner Herrin herüber. Mein sternschnuppenartiges Auftauchen und Verschwinden war ihnen unverständ¬ lich, das sah ich wohl. Ich mag auch nicht zum Besten ausgesehen haben, denn als wir später am Strande auf- und abgingen — ich war mühsam, durch häufiges Stehenbleiben und Muschelsammeln an Klärchen's Seite gelangt, fragte sie mich, was mir fehle? Da fuhr es mir wie ein Blitz durch den Kopf: Sag' es ihr, sie ist ja kein Kind mehr, besser noch, sie erfährt es durch dich selbst, als durch An¬ dere. Aber so direct wagte ich's doch nicht, ich sagte, das Schicksal eines Freundes gehe mir sehr zu Herzen. „Ist es Ihr Freund Toni?“ Verzeih mir, mein Alter, daß ich ja sagte, es war ein so bequemer Ausweg! „Kann ich's wissen, was ihm fehlt?“ fragte sie, voll Mitgefühl in Ton und Gebärde. Da sagte ich blinder Thor ihr: „Er hat das Unglück ge¬ habt, sich in eine verheirathete Frau zu verlieben!“ Sie riß die Augen auf: „Wie Tristan und Isolde!“ rief sie verwundert. Ich wußte den Augenblick nicht 'mal den genauen Zusammenhang der Geschichte, sagte aber mechanisch ja. „Also sie kannten sich, eh' Isolde den alten König Marke heirathete?“ fragte sie zuver¬ sichtlich. „Nein, das nicht, sie lernten sich erst lange nach ihrer Verheirathung kennen.“ Ihr Gesicht wurde unruhig. „O, aber dann ist es ja ganz an¬ ders! Wurde der Alte denn auch betrogen?“ Das mußte ich leider zugeben, aber ich suchte den Tristan dadurch zu vertheidigen, daß er noch keine rechte Frau kennen gelernt hatte und deshalb dazu kam, sich in diese zu verlieben, die er für gut hielt, weil sie schön war. Aber ich sagte Dir's ja schon, diese Kleine sieht durch drei eiserne Thüren. „Wie konnte er sie für gut halten, wenn er doch wußte, daß sie ihren Mann betrog?“ fragte sie mit tiefem Erröthen. „Und weiter?“ — „Und nun hat mein Freund die Richtige gefunden und fühlt sich nicht mehr werth, sich ihr zu nähern, weil“ — „O,“ flüsterte sie plötz¬ lich mit abgewandtem Gesicht, „die Geschichte hat uns gestern die Baronin Hechingen von Ihnen er¬ zählt, und ich — habe kein Wort davon geglaubt!“ Sie brach in Thränen aus, drehte sich um und ging der Badeanstalt zu, ohne sich weiter umzusehen. Ich wünschte, ich wär' ein Taschenkrebs gewesen und hätte mich in den Sand eingraben können. Jetzt kehrten auch die Eltern um; ich beschleunigte meinen Schritt in derselben Richtung, an der Brücke der Badeanstalt erreichte ich Klärchen. „Nun hab' ich auch noch mei¬ nen Freund verleumdet,“ sagte ich, — ich glaubte, Dir das schuldig zu sein, da sah sie mich mit thränen¬ vollen Augen an und flüsterte: „Ich möchte, es wäre doch lieber er gewesen.“ Ach, mein Junge, wirst Du mir's verzeihen, daß ich von Herzensgrund denselben Wunsch hege? Sie hat dann weiter kein Wort ge¬ 16 * sprochen, und ich habe den Alten eine stumme Ver¬ beugung gemacht und mich gedrückt. Kein Zweifel, ich habe sie verloren! Sie ist zu jung, zu weltun¬ kundig, um nicht durch diese Enttäuschung für immer den Geschmack an mir zu verlieren. Ich sagte Dir's ja, diese reinen Wesen verlangen viel! Eine dumpfe Trauer hat sich meiner bemächtigt; von dem Besten, was einem Manne werden kann, von der reinen un¬ enttäuschten Liebe eines jungen Herzens wie dieses bin ich ausgeschlossen. Was für andere Frauen viel¬ leicht sogar ein pikanter Reiz wäre, für dieses Kind trägt es den Namen Sünde. Ach, und ich geb' ihr Recht! Dein Eugen. Klärchen an die Geschwister . Venedig, 16. April. Meine Lieben! Mama hat Euch einen so herr¬ lichen Brief geschrieben (sie hat ihn mir eben vor¬ gelesen) und Euch diese ganze einzige Stadt so schön darin geschildert, daß ich wirklich gar nichts übrig behalten habe. Vorgestern Abend hatten wir ein großartiges Gewitter, es hielt uns auf dem Lido fest bis in die Nacht hinein, es sah aus, als ob Himmel und Erde vergehen wollten; so schnell und ununter¬ brochen wie sich kreuzende Schwerter zuckten die Blitze. Mir war ganz ruhig dabei, während Papa und Mama sich um mich und das Nachhausekommen sorg¬ ten. Seitdem nun ist der Scirocco verschwunden, es weht eine reine Luft, aber es ist kalt; die Berge in der Ferne sind alle mit Neuschnee bedeckt, und wir haben unsre wärmsten Kleider angezogen. Es ist, als wollte es Herbst werden und war doch eben erst Frühling. Ich habe Sehnsucht nach Euch, trotz all' dem Schönen, das uns hier umgibt. Habt Ihr mich noch so lieb wie als ich wegging? Schreibt Edmund Dir schon viel über Eure Einrichtung, meine Evy? Ich will recht bei der Aussteuer helfen, wenn wir zurück sind, schade, daß ich so wenig Handarbeit ver¬ stehe. Von Albert's Buch haben wir längere Zeit nichts gehört, schick' uns doch die Anzeigen, liebe Irene. Wir freuten uns so, als wir die Broschüre in Bozen in einem Schaufenster liegen sahen! Historisches aus Tyrol muß ja auch die Tyroler in¬ teressiren. Wir gehen heute wieder zu Assunta von Tizian. Das ist doch das allerschönste Bild. Ich denke mich ganz hinein, und manchmal kommt es mir vor, als sei es der Maria schmerzlich, in den Him¬ mel aufzusteigen, wenn sich doch so viele Hände von der Erde ihr nachstrecken. Ich lege Euch eine un¬ aufgezogene Photographie des Bildes ein, sie ist aber sehr schlecht. Wenn Ihr Eure Hochzeitsreise hierher macht, müßt Ihr zuerst zur Assunta gehen. Mit vielen Grüßen Eure Schwester Klara. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Venedig, 16. April. Ich kann Dir nicht sagen, was für eine Offen¬ barung dies Kind für mich ist! Es wäre zwar ver¬ zweifelt unbequem, wenn alle Frauen wären wie sie, aber besser für uns Männer wär's gewiß. Ich schäme mich jedes unreinen Gedankens, seit ich sie kenne; ich denke mit Grauen an die dumpfe Leidenschaft zu Selma, wie an eine schwere Krankheit, die hinter mir liegt, — ich bin überzeugt, sie könnte alles Gute in mir wecken, alles Gemeine allmälig von mir ab¬ streifen, — aber — was hilft es mir — sie will mich ja nicht! Nein, Toni, sie will mich nicht! Sie grüßte mich gestern, als wir uns vor der Assunta trafen, mit einem müden Lächeln, und als ich auf sie zutreten wollte, senkte sie den Kopf, daß ihr großer Hut das Gesicht verdeckte und trat bei Seite. Sie mag mich nicht mehr. Denn daß sie mich früher gemocht hat, erkenn' ich nun wohl, wenn ich an frühere Begegnungen denke. Wie da ihre Augen „Willkommen!“ riefen, und die liebe Hand sich mir entgegenstreckte, schon von Weitem. Nun quält mich die Frage: Hätt' ich besser gethan, ihr die Geschichte zu verschweigen? Aber sie hängt mir doch einmal an, und wenn Selma mich geliebt hätte, statt mit mir zu spielen, so wäre vielleicht, nein, ge¬ wiß — die Scheidung im Gange, und ich wäre in absehbarer Zeit Selma's Mann! Die Thatsache läßt sich doch nicht aus der Welt räumen, so qualvoll sie mir jetzt auch ist. Wie glücklich, daß nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen! Denk' Dir, ich hätte Selma geheirathet, und mir wäre dann Klärchen be¬ gegnet! Ich bin freilich auch so unselig. Dein Eugen. P . S . Ich male, daß es nur so spritzt. Die Hechingen grüß' ich höflich, da ich sie ja doch nicht vergiften kann, was ich lieber thäte. Frau Dr . Esmarch an ihre Kinder . Venedig, 16. April. Meine geliebten Kinder! Klärchen weiß nicht, daß ich Euch dies schreibe, — es ist aber nothwendig, weil ich Euch bitten möchte, in Euren Briefen nicht nach dem Herrn Nietzsche zu fragen. Er ist uns ja erst als ein grober, unschädlicher Polterer erschienen und war gewissermaßen die komische Person auf unsrer Reise. Jetzt aber hat er versucht, sich unserm arg¬ losen Klärchen auf eine unbeschreiblich unzarte Art zu nähern, und das arme Kind ist ganz außer sich. Leider wohnt er wieder in demselben Hôtel wie wir, und als er gestern Abend Klärchen allein im Lese¬ zimmer traf, hat er es unbegreiflicher Weise gewagt, einen Kuß von ihr zu verlangen. Ihr könnt Euch den Schrecken des armen Kindes denken! Sie hat zuerst gesagt: „Aber Sie sind doch nicht mein Gro߬ papa!“ Da ist er zornig aufgesprungen und hat ge¬ sagt: „O, ich bin noch nicht so alt, ich kann noch, was mancher Jüngere nicht kann! Meine Kinder sind alle verheirathet, und mit einer jungen Frau lebt man erst recht wieder auf, Sie sind noch ein bischen kindisch, aber das wollt' ich Ihnen bald abgewöhnen. Die Männer, die heirathen wollen, sind heutzutage rar, und 'ne alte Jungfer wollen Sie doch nicht wer¬ den?“ Klärchen war ganz in eine Ecke verbarricadirt hinter einem Lehnstuhl und mußte die plumpen Reden anhören, bis zum Glück Leute hereinkamen, und sie, zitternd vor Aufregung und Beschämung, in unser Zimmer stürzte. Und trotzdem dieser Mann nun doch gesehen hatte, wie erschrocken das Kind war, hat er Papa im Garten abgefangen und ihm einen förm¬ lichen Heirathsantrag gemacht. Dies nun weiß Klärchen nicht, und ich bitte Euch, es auch nicht zu erwähnen! Wie ist es möglich, daß der älteste un¬ angenehmste Mann sich noch immer gut genug hält für das jüngste und liebste Mädchen! Papa war so zornig, wie ich ihn in den letzten Jahren gar nicht gesehen habe. Und denkt Euch, der unverschämte Mann hat Eure Schwester sogar noch beleidigt, hat gesagt, sie habe ihn aufgemuntert und ihm verliebte Augen zugemacht! Ihr wißt doch, wie Klärchen ist, wie sie der ganzen Welt zulächelt und für Jeden ein freundliches Wort hat, aber daß es so schändlich mi߬ deutet werden könnte, wäre mir nie in den Sinn ge¬ kommen. So lehrt der Verkehr mit Menschen uns eine Vorsicht, die uns zwar beschützt, aber doch auch entstellt. Ihr, meine Aeltesten, die Ihr das Glück habt, mit guten, feinfühlenden Männern verlobt zu sein, werdet meine Bekümmerniß um das arme Klär¬ chen verstehen, und Du, mein lieber Sohn, mein guter Rudi, Dich bitt' ich innig, wo Dich das Leben mit Frauen zusammenführt, sei zart, sei achtsam, wir sind so leicht verletzlich! Denke nicht, jedes freund¬ liche Mädchen, das Dir zulächelt, weil der liebe Gott es zum Lächeln geschaffen hat, sei schon bereit, sich in Dich zu verlieben. Wir reisen morgen früh direct nach Gossensaß, wo wir uns noch einige Zeit aufzuhalten gedenken. Die herbe Gebirgsluft bekommt Klärchen am Besten und ist auch für Papa so anregend, obgleich gerade er Venedig sehr ungern schon verläßt. Ihr wißt ja, ihm ist diese „Pfahlbauerstadt von der höchsten künst¬ lerischen Vollendung,“ wie er sie immer nennt, schon dieser Eigenthümlichkeit wegen ans Herz gewachsen; „das uralte Bauprincip der Seebewohner hat nur diese einzige dauerhafte Blüthe gezeitigt,“ sagte er, „alle übrigen Ansiedlungen sind auf ganz niedrer Kulturstufe stehen geblieben.“ Die Frage, ob denn gar keine Zwischenglieder existirt haben, beschäftigt ihn sehr; wenn wir zurück sind, wird er wohl etwas darüber schreiben. — Liebe Kinder, auch den jungen Maler erwähnt lieber nicht. Ihr wißt, den Herrn Schmidthammer, der sich uns eine Zeit lang an¬ geschlossen und durch sein sympathisches Wesen und seine Zuthunlichkeit sehr für sich eingenommen hatte. Wir haben Allerlei über ihn gehört, was uns sehr mißfällt, und wenn auch die Quelle unrein ist, — es ist die Hechingen — so wird immerhin etwas Wahres daran sein. Ich habe Klärchen gewarnt, aber sie hält sich schon selbst zurück. Lebt wohl, meine gelieb¬ ten Kinder. Ich küsse Euch zärtlich. Eure Ma. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Venedig, 18. April. Du meinst, ich hätt' ihr noch sagen sollen, daß zwischen mir und Selma Alles aus ist? Aber ich bitte Dich, das versteht sich für sie doch ganz von selbst! Nein, ich habe sie verloren, jetzt weiß ich's sicher. Sie wird roth und blaß, wenn wir in Ga¬ lerien und Kirchen zusammentreffen, was doch hie und da geschieht. Und immer sind die Eltern dicht bei ihr und sehen mich fremd und kühl an, als wollten sie mich mit den Blicken in angemessener Entfernung halten, und ich kann's kaum glauben, daß dies die¬ selben Menschen sind, die so unbefangen und freund¬ lich waren und mich in ihr Haus einluden. Ich bin in den Bann gethan! Frag' doch mal beiläufig Selma, wenn Du sie siehst, ob sie mich verflucht hat. Ich möchte wissen, ob ihre Flüche wirken. Was sie übrigens dazu veranlaßt haben könnte, wüßt ich auch gern. Daß ich Klarheit verlangte, ihr ein Entweder — Oder stellte, wer kann mir's verdenken? Daß sie trotz ihrer Liebe zu mir, ihrer sogenannten großen Leidenschaft, es auch mit dem — Gatten nicht ganz verderben wollte, daß sie ihr stattliches Haus, den Luxus, der sie umgab, nicht aufzugeben gedachte, um einem jungen Liebhaber zu folgen, der nicht viel mehr hat als sein Talent, — ist das ihre Schuld oder die meine? — Ich füttere meine hungrige Seele, um sie über die dürre Gegenwart zu täuschen, mit süßen Brocken aus der Vergangenheit. Auf dem Dampfer von Riva nach Gargnano hab' ich eigentlich am ungestör¬ testen in ihr liebes Gesicht schauen dürfen. Und dies beglückte Plaudern! Eine Musikbande war auf dem Schiff, spielte einen Walzer. Klärchen begann mit den Füßen den Tact zu schlagen. Ich fragte sie, ob sie gern tanze? „O ja,“ sagte sie, „sonst nicht so gern, aber mit Ihnen möcht' ich es wohl 'mal pro¬ biren.“ — „Warum mit mir?“ frug ich wie ein eitler Geck. — „Weil Sie meine Größe haben; auf den zwei Bällen, die ich mitgemacht, war es entsetz¬ lich! alle Herren, die mit mir tanzen wollten, kleiner als ich! einige gingen mir geradezu unterm Arm durch!“ Ihre klägliche Miene war zum Küssen. Und heute früh sind sie abgereist! Ich sah sie in einer Gepäckgondel den großen Canal hinein zum Bahnhof fahren, ich schwenkte meinen Hut, aber sie sahen mich nicht. Vielleicht auch wollten sie mich nicht sehen. Dein Eugen. P. S. Hab's nicht lassen können, bin hinein zu Bauer-Grünwald und hab' nach den Herrschaften Es¬ march gefragt. „Soeben abgereist.“ Ich bedauerte aufrichtig, Du weißt, wie aufrichtig! „Wissen Sie zufällig, wohin die Herrschaften gehen?“ frug ich. Der Oberkellner brachte das Fremdenbuch. Da stand's: Gossensaß! Fremdenbücher sind doch eine ausgezeichnete Erfindung, ich habe das nie genug ein¬ gesehen. So sag' denn auch ich der schönen Venezia Lebewohl und fahre meinem Sterne nach! Wohin er mich wohl schließlich führt? Ich bin begierig! Ob nach München? Oder nach Bethlehem? D. O. Baronin Hechingen an Frau Selma Corrodi . Gossensaß, 22. April. Ja, was sagen Sie nur, liebste schönste Frau Selma, daß zu Ihrer Visit statt der dicken Hechingen in Person nur e Brieferl von ihr kommt! Gelt, Sie werden mich schön ausrichten! Die alte Ratschen, werden Sie sagen, wann man's emal braucht, um so e leidige Kaffeevisit e bisserl aufzumuntern, da kommt sie nit! Ja, wenn die Ax' nit brochen wär', gestern Abend an unserm Zug hier bei Gossensaß, so wär' die Hechingen schon kommen, aber 's ist ihr halt nicht geheuer gewesen, nachher in dem reparirten Wagen, wissen's, und so bin ich dablieben. Ach, was hab' ich erlebt; was hab' ich erlebt! Mein Herz hat geschlagen, mehr als das Ihrige, Frau Selma, bei Ihrem ersten Rendez-vous! Es ist zwar schon lang' her, aber vielleicht gedenkt's Ihnen doch noch! Also ich bin vom Regen in die Traufen hereinkommen. Wissen's, ich hab' die Reise hierher gemacht mit einer scharmanten Bekanntschaft von mir, Nize heißt er oder so was und ist ein Landrath, ein grober Kerl, aber man muß lachen. Im Wartesaal in Bozen saß ein junges sauberes Bauermadel, drei geistliche Herren rundum und schneiden ihr die Cour. Ich stoß den Nize an und zeig ihm die Gruppe, da sagt er den biblischen Spruch her von den Adlern, die sich sam¬ meln, wo — na, fein war's nit, aber gar nit übel, ich sag's ja, die Preußen haben Salz. — Also der Landrath und ich, wir geh'n mitsammen ins H ô tel, was man hier so heißt, mir geben sie ein erbärm¬ liches Zimmer, dem Nitz eines daneben, nach dem Nachtessen geh ich bald schlafen. Auf einmal ist ein Gelauf und Getöbse draußen auf der Dorfgasse, daß ich auffahre, und es donnert an die Wand: „Ba¬ ronin, es brennt! Feuer!“ Der Nitz hat's also früher gemerkt als ich! Durch den Vorhang gibt's schon einen rothen Schein, ich war mehr todt als le¬ bendig. „Na, dies ist 'ne Zucht!“ schreit der Nitz immer durch die Wand, „der Wind steht hier her¬ über, nu man alle Mann aus der Bude hier raus!“ Ich sah's nit für so schlimm an, will mich grad noch e bisserl pudern gegen die Nachtluft, da fährt die Wirthin herein und schreit: „Bitt schön, hier sind Sie nicht sicher, 's Haus ist schon 'mal abgebrannt.“ Gelt, die Leut, die gewissenlosen? Quartiren Gäst' in ein Haus ein, das schon einmal abgebrannt ist! Eh ich meinen Zorn an dem Weib auslassen konnt', war sie schon draußen, und ich steh da und schrei um Hülfe, denn wie sollt ich den Koffer wegschaffen? Wenigstens wird doch der Nitzsch so viel Cavalier sein, daß er mir den Koffer nausschafft, denk ich. Aber nein, Frau Selma, in unserm Alter da ist Spiel und Tanz vorbei! Sie werden's auch schon er¬ fahren haben, arme Seel'. Ich allein mit meinen schwachen Kräften mußt' den schweren Handkoffer hinauszerren, und wie ich, — kaum noch konnt' ich schnaufen, — über dem Gang auf der Haustreppe stehe, seh ich den Landrath mit 'em Perspectiv in der Hand auf den Stufen auf seinem eignen Koffer sitzen, und wie ich ihm zurufe, schreit er: „Na, wir können froh sein, daß wir hier trocken sitzen; da geht es bös' her, die alten hölzernen Baracken brennen, als wenn's Kartenhäuser wären.“ Ich setzte mich also neben ihn und kriegte auch mein Perspectiv vor, denn auf der Steintreppe war's nit gefährlich. Sieben Häuser brannten auf einmal, lichterloh, und es war ein Geschrei, daß man sein eigen Wort kaum versteh'n konnt'. Auch im Bräuhaus und in der Post saßen die Gäste mit ihrem Gepäck auf der Treppe, die meisten aber stellten sich in Reih und Glied auf, vom Bach bis zur Brandstätte, und ließen die Feuereimer durch die Hände geh'n, denn eine Feuerspritz schien hier ganz unbekannt zu sein. Die paar Tropferln machten natürlich nicht viel aus, und es brannte immer ärger. Alles kam mit dem bisserl Hausrath auf die Straße heraus, das Vieh brüllte, die Weiber schrien, 's war wie auf dem Theater. Und wissen's, wer der Hauptmann bei der Feuerwehr war, ich meine, bei der improvisirten? Ich wollt' meinen Augen nicht trauen, ein guter Bekannter von Ihnen, Frau Selma, kein Andrer als der Maler Schmidthammer, der mich, scheint's, nit gut leiden kann, weil ich ihn, wann sich's schickt, an Sie er¬ innere! Der Bub muß immer mit dem Feuer spielen! Ich weiß schon, Sie hören's nit gern, Liebste, wann ich von ihm rede, — 's ist halt immer kränkend, wann man einen jungen Anbeter einbüßt. Aber in¬ teressiren wird Sie's doch, daß er hier so romantisch mit 'em Wassereimer umenandergesprungen ist, gelt? Und das Schönste kommt noch! Auf einmal nämlich wird ein Mordsgeschrei: „Das achte Haus hat Feuer gefangen!“ und zwei, drei Weiber stürzen daher und wollen die Schweine wegtreiben, die über die Gasse zotteln, grad auf das Feuer los. Eine jammert, daß es mir grad einen Stich durchs Herz gibt, denn das Schweinsvieh ist ihr entkommen und lauft gradaus. Da springt auf einmal eine hinter ihm drein, packt's um den schmutzigen Leib und will's zurückziehen! „Jessas,“ ruf' ich den Nitsch an, „ist das nicht die junge Person, die das Hunderl hat? das Klärchen Esmarch?“ Und sie ist's, und grad seh' ich sie neben dem brennenden Haus hineinlaufen, dem Schweindel nach! Und hast Du nicht geseh'n, der Schmidt¬ hammer mit dem Feuereimer thut einen Sprung und hinter ihr drein, und hinter dem der Vater, der Es¬ march, und hinter dem wieder die Mutter, alle in den brennenden Stall! Jetzt seh'n Sie, Liebste, so was Dummes kann nur e ganz junges Madel an¬ stellen, denken Sie sich, mir zwei, daß wir auf ein Schweindel Jagd machten, — 's wär' nicht schlecht für die „Fliegenden.“ So einem blutjungen Ding aber steht Alles, und darum halt ich's auch mit der Ju¬ gend. — Ich bin Ihnen aber auch gut, das wissen's doch? Kurz, als sie wieder zum Vorschein kamen, das Märchen, wie sich's gehört, in den Armen von dem jungen Menschen, und der Esmarch mit dem Schweindel, und die Frau Esmarch bald das Klär¬ chen streichelte und bald das Schweindel, da hätt' ich was d'rum gegeben, wenn ich hätt' an dem Klär¬ chen ihrer Stell' sein dürfen! Und Sie auch, gelt, Liebste? Jetzt bin ich begierig, wie sich die Geschicht' weiter machen wird. Ich denk', ich kann Ihnen bald eine fröhliche Verlobung melden, und deswegen bin ich heut' noch hier blieben. Eine Feuerspritz' von Sterzing ist kommen, gleich nach dem Knalleffekt und hat das Feuer ausgelöscht. Wir haben dann noch einen Kaffee machen lassen und schlafen wollen, aber es ging nicht, das ganze Wirthshaus war voll von Bauerbuben, die freie Zeche verlangten, weil sie das Frapan , Bittersüß. 17 Dorf gerettet haben. Sie hätten's aber fein abbren¬ nen lassen, ohne die Fremden, sie hatten ganz den Kopf verloren. Ich hab' mich schon befragt nach den Esmarch's, die im Bräuhaus wohnen, aber sie neh¬ men noch keinen Besuch an, sie haben alle drei leichte Brandwunden erlitten, und nur der Schmidthammer hat nichts. Das heißt, er wird halt ein brennendes Herz haben! — Jetzt bitt' ich schön, daß Sie den Brief, den langmächtigen, in Ihrer Visit heute vor¬ lesen, daß die Hechingen doch dabei gewesen ist. 's ist odios, wenn man alt wird! Das junge Volk freit und läßt sich freien, und wir sitzen daneben. Jetzt sorgen Sie nur, daß Sie Ihre Zeit ausnützen, ein paar Jährle haben Sie immer noch vor sich, aller¬ schönste Maifee! Immer Ihre treue dicke Hechingen. Klärchen an die Geschwister . Gossensatz, 22. April, Nachmittags. Meine süßen Schwestern und mein Herzens¬ bruder! Wir fürchten, daß Ihr etwas über die Brandnacht von gestern in den Zeitungen findet, ehe Ihr wißt, daß es uns ganz gut geht, und deshalb will ich Euch schnell beruhigen! Natürlich haben wir uns bei dem großen Unglück helfend betheiligen wol¬ len; es fehlte namentlich an Wasser, denn der Bach ist seicht, und der Eisak nicht so nah', — es war ein unbeschreiblicher Jammer. Drei arme Familien, die Alles eingebüßt haben, da sie nicht versichert waren, sitzen in Thränen und Verzweiflung in der Küche unsres Wirthshauses. Papa hat unter den Fremden hier eine Collecte gemacht, die ziemlich viel eingebracht hat, und wir sind übereingekommen, unsre Rückreise zu beschleunigen, um das Scherflein zu vergrößern. Ein Glück ist es nur, daß kein Mensch verunglückt, auch außer einigen armen Hühnern kein Vieh ver¬ brannt ist. Wir drei sind, glaub' ich, die Einzigen, die einige Brandwunden haben. Aber meine sind ganz unbedeutend, nur an der linken Hand, und Papa's und Mama's sind noch geringer, wie sie sagen. Liebe, süße Kinder, ich muß es Euch doch sagen, vielleicht wäre es schlimm mit mir geworden, wenn mich Herr Schmidthammer nicht hinausgetragen hätte! Ich war vom Rauch ohnmächtig geworden, und er fand mich und trug mich ins Freie. Ich hab' ihn noch nicht wieder gesehen, aber ich muß immer an ihn denken. Wenn er nicht bald kommt, geh' ich hinüber, wo er wohnt, und erkundige mich, ob er auch ganz unverletzt ist, — oder ich bitte Papa, daß er geht. Ich habe nämlich ein böses Gewissen ihm ge¬ genüber; ich bin ziemlich unfreundlich gegen ihn ge¬ 17 * wesen. Und nun hat er mein Leben gerettet! Ich bin noch ganz betäubt, kann nicht klar denken. Bald mehr, Ihr Geliebten von Eurer Klara. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Gossensaß, 23. April. O, mein Freund, dies Klärchen! Hast Du von der Feuersbrunst gehört, die heut' Nacht hier sieben Häuser in Asche gelegt hat? Denke Dir, die Kleine lief einem Schweinchen nach in einen brennenden Stall, das unbesonnene, hochherzige Kind, — ich war in der Nähe, und hab' sie herausholen dürfen! Mir ist's wie ein Traum, daß ich sie auf den Armen hielt. Aber nun? was soll ich jetzt thun? Mir ihre Dank¬ barkeit zu Nutze machen? Das wäre nicht mein Ge¬ schmack! Soll ich — (Drei Stunden später.) Toni, mein alter Junge, wenn ich je wieder vom geraden Wege weiche, dann heiß' mich einen Schuft, einen Verlorenen, Alles, was Du willst! Denke Dir, sie sind hier gewesen, hier bei mir, alle drei, Vater, Mutter und Kind, um zu sehen, ob ich auch heil und gesund sei! Und nach¬ her hat der Vater mich bei Seite geführt und mir gesagt, er möchte reinen Wein haben über die hä߬ liche Geschichte, die ihnen die Hechingen erzählt. Da hab' ich denn mein Herz erleichtert, Mann dem Manne, und der treffliche Doktor hat zwar stark mit dem grauen Kopf geschüttelt, ist auch, die Hände auf dem Rücken, lange mit mir auf- und abgegangen, endlich aber hat er doch gemeint, er wolle den Um¬ gang mit mir wieder aufnehmen, nur bitt' er sich aus, daß ich dem Klärchen keine Grillen in den Kopf setze. Da hab' ich mich nicht halten können und hab' ihm auch über das Klärchen Alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Da hat er mir geantwortet, wenn ich mein Herz ein Jahr lang prüfen und schweigen wolle, dann werde er nicht dazwischen treten. Darauf hat er seine Frau gerufen und ihr unser Abkommen mit¬ getheilt, und so bin ich nun also der geduldete Be¬ werber um das reizendste Geschöpf dieser Erde! Ich werde ihr sagen: „Liebes Herz, von mir weißt Du's nun wenigstens, daß ich nicht immer viel getaugt habe, und auch wieso nicht, — wenn ein Andrer käme und verschwiege sein Vorleben, und gäbe Dir nicht, wie ich, das Versprechen, gut zu sein, — Du könntest noch weit ärger enttäuscht werden.“ Soll ich das sagen? Oder sie daran erinnern, daß ich acht Jahre älter bin als sie, und deshalb mehr Gelegen¬ heit gehabt habe, zu sündigen? Ach, sie wird mir ewig etwas zu vergeben haben! Was thäten wir ohne die Nachsicht der Frauen! Dein glücklicher Eugen. Klärchen an die Geschwister . Gossensaß, 24. April. Meine süßen Drei! Morgen sind wir bei Euch, alle drei, alle vier! Wer der Vierte ist? Ich sag's nicht, vielleicht könnt Ihr es rathen! Putzi liebt ihn unbeschreiblich, und es ist eine gegenseitige Liebe. Wir haben heut' einen wonnevollen Tag gehabt, Alle zusammen. Mit verbundenen Händen zwar, — Papa's Wunde ist schon fast wieder gut — aber dennoch haben wir Frühlingssträuße gepflückt; am Eisakufer und unter dem Berge, der Hühnerspiel heißt, steht Alles voll der schönsten Alpenblumen. Und ein Him¬ mel, so hoch und weit, und der Feuersteingletscher in der Sonne blendend wie weißes Feuer! Schon wird der Schutt der verbrannten Wohnungen weggeräumt, und es heißt jetzt, der Schaden sei weniger groß, als man anfangs vermuthete. Herr Schmidthammer hat in Venedig sehr schöne Farbenskizzen gemacht, ich hab' ihm ganz Unrecht gethan mit meinem vorschnellen Urtheil über sein Skizzenbuch. Mama sagt, man glaubt einen Menschen zu kennen und kennt ihn noch lange nicht ganz. O, wie wahr das ist. Er ist der beste, liebste, tapferste Mensch, den man sich denken kann. Und so aufrichtig! Ich bin so glücklich Eure kleine Kläre. Eugen Schmidthammer an Toni Emmer . Gossensaß, 24. April. O Freund, sie liebt mich wirklich, Klärchen liebt mich! Als ich die schrecklichen Briefe bekam, die Du mir endlich geschickt hast, — Du mußt mir noch er¬ zählen, wie Du sie ihr entwunden, Freund, — als die Blätter an die Frau, die mein Herz in ihren Händen gehalten, mir zwischen den Fingern brannten, dacht' ich plötzlich: Wie, wenn ich sie Klärchen über¬ gebe, damit sie sieht, daß ich kein Geheimniß vor ihr habe! Es war eine Gewaltprobe, ich wußt' es wohl, denn wenn sie diese tollen Dinge las, wenn ihre Neugier größer war als ihr Vertrauen, dann mußte ich auf das Schlimmste gefaßt sein, dann stand ihre junge Neigung sicher auf dem Spiel. Aber ich war so unruhig, ich wollte Gewißheit haben. So sucht' ich Klärchen auf und gab ihr die Briefe. Und was that sie? O Freund, sie gab sie mir zurück und sagte mit einem himmlischen Lächeln: „Es ist ja vorbei! verbrennen Sie sie; nicht wahr, Sie wollen es niemals wieder thun?“ Wie mich die Kinder¬ worte durchzuckten: ich wäre ihr fast zu Füßen ge¬ fallen! — Toni, Toni, was wirst Du sagen, wenn Du sie siehst! Aber brav muß ich sein, furchtbar brav, mein Lebelang, sonst geht es mir schlimm. Morgen sehen wir uns! Ich rücke Dir gleich auf die Bude und erzähle Dir von ihr, bis Du Dir die Ohren zuhältst! Uebers Jahr Bräutigam. Dein Eugen. Druck von Martin Oldenbourg, Berlin, Adlerstraße 5. Berlin. Druck von Martin Oldenbourg . Adler-Straße 5.