Wilhelm Meisters Lehrjahre . Ein Roman . Herausgegeben von Goethe . Vierter Band. Frankfurt und Leipzig. 1796. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Siebentes Buch. A 2 Erstes Capitel . D er Frühling war in seiner völligen Herr¬ lichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wil¬ helm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Weh¬ muth an. Ach! sagte er zu sich selbst, er¬ scheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt wer¬ den sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn ungerührt ansehen und was kann uns rühren, als die stille Hoffnung, daß die angebohrne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns rührt die Erzählung jeder guten That, uns rührt das Anschauen jedes harmonischen Ge¬ genstandes; wir fühlen dabey, daß wir nicht ganz in der Fremde sind, wir wähnen einer Heimath näher zu seyn, nach der unser Be¬ stes, Innerstes ungedultig hinstrebt. Inzwischen hatte ihn ein Fußgänger ein¬ geholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und, nach einigen gleichgültigen Reden, zu dem Reuter sagte: wenn ich mich nicht irre, so muß ich Sie irgendwo schon gesehen haben. Ich erinnere mich Ihrer auch, versetzte Wilhelm, haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht? — Ganz recht! erwiederte der andere. Wilhelm betrachtete ihn genauer und sag¬ te nach einigem Stillschweigen: ich weiß nicht was für eine Veränderung mit Ihnen vor¬ gegangen seyn mag, damals hielt ich Sie für einen lutherischen Landgeistlichen und jetzt scheinen Sie mir eher einem katholischen ähn¬ lich zu sehen. Heute betrügen Sie sich wenigstens nicht, sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen ließ. Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? sind Sie noch lange bey ihr geblieben? Länger als billig, denn leider wenn ich an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unend¬ liches Leere zu sehen, es ist mir nichts davon übrig geblieben? Darinn irren Sie sich, denn alles was uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bey; doch es ist gefährlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden entweder dabey stolz und läßig, oder niedergeschlagen und klein¬ müthig, und eins ist für die Folge so hin¬ derlich als das andere. Das sicherste bleibt immer, nur das nächste zu thun was vor uns liegt, und das ist jetzt, fuhr er mit einem Lächeln fort, daß wir eilen ins Quartier zu kommen. Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sey, der andere versetzte, daß es hinter dem Berge liege; vielleicht treffe ich Sie dort an, fuhr er fort, ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu be¬ sorgen. Leben Sie so lange wohl; und mit diesen Worten ging er einen steilen Fußpfad, der schneller über den Berg hinüber zu füh¬ ren schien. Ja wohl hat er recht! sagte Wilhelm vor sich, indem er weiter ritt, an das nächste soll man denken und für mich ist wohl jetzt nichts näheres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Laß sehen, ob ich die Re¬ de noch ganz im Gedächtniß habe, die den grausamen Freund beschämen soll? Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen, es fehlte ihm auch nicht eine Sylbe, und je mehr ihm sein Gedächtniß zu statten kam, desto mehr wuchs seine Leiden¬ schaft und sein Muth. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegen¬ wärtig. Geist meiner Freundin! rief er aus, um¬ schwebe mich! und wenn es dir möglich ist, so gieb mir ein Zeichen, daß du besänftigt, daß du versöhnt seyst. Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Höhe des Berges gekommen, und sah an dessen Abhang, an der andern Seite, ein wunderliches Gebäude liegen, das er so¬ gleich für Lothario’s Wohnung hielt. Ein altes unregelmäßiges Schloß, mit einigen Thürmen und Giebeln, schien die erste An¬ lage dazu gewesen zu seyn, allein noch un¬ regelmäßiger waren die neuen Angebäude, die theils nah, theils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch Gallerien und bedeckte Gänge zusammenhin¬ gen. Alle äußere Symmetrie, jedes archi¬ tectonische Ansehn, schien dem Bedürfniß der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu seyn. Weder eine Spur von Wall und Graben war zu sehen, eben so wenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. Ein Gemüse– und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen angelegt. Ein heiteres Dörfchen lag in ei¬ niger Entfernung, Gärten und Felder schie¬ nen durchaus in dem besten Zustande. In seine eignen leidenschaftlichen Betrach¬ tungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel über das was er sah’ nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu. Ein alter Bedienter empfing ihn an der Thüre, und berichtete ihm mit vieler Gutmü¬ thigkeit, daß er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige sei¬ ner Geschäftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich mußte der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zurück, und führte Wilhelmen in einen großen alten Saal. Dort ersuchte er ihn sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeit lang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab, und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. So oft er etwas rauschen hörte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit Würde zu empfangen, ihm erst den Brief zu überreichen, und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen. Mehrmals war er schon getäuscht wor¬ den, und fing wirklich an verdrießlich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitenthür ein wohlgebildeter Mann, in Stiefeln und einem schlichten Überrocke, her¬ austrat. Was bringen Sie mir Gutes? sag¬ te er mit freundlicher Stimme zu Wilhel¬ men; verzeihen Sie, daß ich Sie habe war¬ ten lassen. Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, überreichte ihm das Blatt Aureliens, und sagte: Ich bringe die letzten Worte einer Freundinn, die Sie nicht ohne Rührung lesen werden. Lothario nahm den Brief und ging so¬ gleich in das Zimmer zurück, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne Thüre se¬ hen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und überschrieb, dann Aureliens Brief eröff¬ nete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, ob¬ gleich seinem Gefühl nach die pathetische Re¬ de zu dem natürlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle loß und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetenthüre des Kabinets sich öffnete, und der Geistliche hereintrat. Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt, rief Lothario ihm entgegen; ver¬ zeihn Sie mir, fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, wenn ich in die¬ sem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute Nacht bey uns! und Sie sorgen für unsern Gast, Abbé, daß ihm nichts abgeht. Mit diesen Worten machte er eine Ver¬ beugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bey der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte. Stillschweigend gingen sie durch wunder¬ liche Gänge, und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche führte ihn ein, und verließ ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bey Wilhelmen als seine Bedienung ankündigte und das Abendessen brachte, bey der Aufwartung von der Ordnung des Hau¬ ses, wie man zu frühstücken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergnügen pflegte, man¬ ches erzählte, und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte. So So angenehm der Knabe war, so bald suchte ihn Wilhelm doch los zu werden. Er wünschte allein zu seyn, denn er fühlte sich in seiner Lage äußerst gedrückt und beklom¬ men. Er machte sich Vorwürfe, seinen Vor¬ satz so schlecht vollführt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Versäumte nachzuholen, bald fühlte er daß Lothario’s Gegenwart ihn zu ganz andern Gefühlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wußte sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und öfnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleyer des Geistes hervor, den Mi¬ gnon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. Flieh, Jüngling, flieh! rief er aus, was soll das mystische Wort heißen? was fliehen? wohin fliehen? B Weit besser hätte der Geist mir zugerufen: kehre in dich selbst zurück! Er betrachtete die Englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichgültig sah er über die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein unglücklich strandendes Schiff vor¬ gestellt, ein Vater mit seinen schönen Töch¬ tern erwartete den Tod von den hereindrin¬ genden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien Ähnlichkeit mit jener Amazone zu ha¬ ben, ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er fühlte ein unwidersteh¬ liches Bedürfniß seinem Herzen Luft zu ma¬ chen, Thränen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf überwältigte. Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Gar¬ ten, den er als Knabe öfters besucht hatte, und sah mit Vergnügen die bekannten Al¬ leen, Hecken und Blumenbeete wieder, Ma¬ riane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgend eines ver¬ gangenen Mißverhältnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Mine, die ihm selten war, hieß er den Sohn zwey Stühle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bey der Hand und führte sie nach einer Laube. Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen, er ging sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah, in einem frem¬ den Garten, viele Menschen beysammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Me¬ lina saß unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laer¬ B 2 tes stand neben ihr und zählte Gold aus ei¬ ner Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jener ausgestreckt auf dem Rücken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor, und klatschte über den Kindern in die Hände, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolg¬ te, dann schrie er ängstlich, als der Harfen¬ spieler mit großen, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich loß; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu spät, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die schöne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu, und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen näher gekommen, das Kind brannte über und über, und es fielen feurige Tro¬ pfen von ihm herab. Wilhelm war noch be¬ sorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weißen Schleyer vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gelöscht. Als sie den Schleyer aufhob, spran¬ gen zwey Knaben hervor, die zusammen muthwillig hin und her spielten, als Wil¬ helm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging, und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spatziren sah, die mit hohen Bäumen den ganzen Garten zu umgeben schien; er richtete seinen Weg auf beyde los, und machte mit seiner schönen Begleiterinn den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit großem Gelächter und allerley Possen auf¬ hielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu, der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschwe¬ ben; Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu Hülfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zurück. Wie gern ließ er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne er¬ leuchtet. Zweytes Capitel . D er Knabe lud Wilhelmen zum Frühstück ein, dieser fand den Abbé schon im Saale; Lo¬ thario, hieß es, sey ausgeritten, der Abbé war nicht sehr gesprächig und schien eher nachdenklich zu seyn, er fragte nach Aure¬ liens Tode und hörte mit Theilnahme der Erzählung Wilhelms zu. Ach! rief er aus, wem es lebhaft und gegenwärtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen müssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst so viel als möglich an der Bildung seiner Mitbrüder Theil nimmt, der möchte verzweifeln, wenn er sieht, wie fre¬ ventlich sich oft der Mensch zerstöhrt und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerstöhrt zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zufällige Gabe, daß ich jeden loben möch¬ te, der sie nicht höher als billig schätzt. Er hatte kaum ausgesprochen, als die Thüre mit Heftigkeit sich aufriß, ein junges Frauenzimmer hereinstürzte, und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zurückstieß. Sie eilte grade auf den Abbé zu, und konnte, indem sie ihn beym Arm faßte, für Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: wo ist er? wo habt ihr ihn? es ist eine entsetzliche Ver¬ rätherey! gesteht nur! ich weiß was vor¬ geht! ich will ihm nach! ich will wissen wo er ist. Beruhigen Sie sich mein Kind, sagte der Abbé mit angenommener Gelassenheit, kom¬ men Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur müssen Sie hören können, wenn ich Ihnen erzählen soll. Er bot ihr die Hand an, im Sinne sie wegzuführen. Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen, rief sie aus, ich hasse die Wände, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangen hal¬ tet! und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinaus¬ geritten, seinen Gegner aufzusuchen und viel¬ leicht jetzt eben in diesem Augenblicke! Es war mir etlichemal, als hörte ich schießen. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich fülle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrey. Sie eilte unter den heftigsten Thränen nach dem Fenster, der Abbé hielt sie zurück, und suchte vergebens sie zu besänftigen. Man hörte einen Wagen fahren, sie riß das Fenster auf, er ist todt! rief sie, da bringen sie ihn — er steigt aus! sagte der Abbé. Sie sehen er lebt — er ist verwun¬ det, versetzte sie heftig, sonst käm’ er zu Pferde! sie führen ihn! er ist gefährlich ver¬ wundet! Sie rannte zur Thüre hinaus und die Treppe hinunter, der Abbé eilte ihr nach und Wihelm folgte ihnen, er sah wie die Schöne ihrem heraufkommenden Gelieb¬ ten begegnete. Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich für seinen alten Gönner Jarno erkannte, sprach dem trostlo¬ sen Frauenzimmer gar liebreich und freund¬ lich zu, und indem er sich auch auf sie stütz¬ te, kam er die Treppe langsam herauf, er grüßte Wilhelmen und ward in sein Cabinet geführt. Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen: Sie sind wie es scheint, sagte er, prädestinirt, überall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist. Ich freue mich, versetzte Wilhelm, Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wieder zu finden, ich bin verwundert, erschrocken und ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaßt. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? ist der Baron schwer verwundet? — Ich glaube nicht, versetzte Jarno. Nach einiger Zeit trat der junge Wund¬ arzt aus dem Zimmer. Nun was sagen Sie? rief ihm Jarno entgegen — daß es sehr gefährlich steht, versetzte dieser, und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen. Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunter hing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren, zeichneten dieses Band vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm war überzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit, wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen. Wo haben Sie die Tasche her? rief er aus. Wem gehörte sie vor Ihnen? ich bitte, sagen Sie mir's. — Ich habe sie in einer Auction gekauft, versetzte jener, was küm¬ mert mich, wem sie angehörte? Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: wenn diesem jungen Menschen nur ein wah¬ res Wort aus dem Munde ginge. — So hat er also diese Tasche nicht erstanden? ver¬ setzte Wilhelm. — So wenig als es Gefahr mit Lothario hat, antwortete Jarno. Wilhelm stand in ein vielfaches Nachden¬ ken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sey? Wilhelm erzählte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Both¬ schaft gesprochen hatte, rief jener aus: es ist doch sonderbar, sehr sonderbar! Der Abbé trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hinein zu gehen, und sagte zu Wilhelmen: der Baron läßt Sie ersuchen hier zu bleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Un¬ terhaltung unter diesen Umständen beyzutra¬ gen. Haben Sie nöthig etwas an die Ihri¬ gen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich be¬ sorgt werden, und damit sie diese wunder¬ bare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, muß ich Ihnen erzählen, was eigentlich kein Geheimniß ist. Der Ba¬ ron hatte ein kleines Abentheuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Ne¬ benbuhlerinn entrissen zu haben, allzu leb¬ haft genießen wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bey ihr nicht die nämliche Un¬ terhaltung, er vermied sie, allein bey ihrer heftigen Gemüthsart war es ihr unmöglich ihr Schicksal mit gesetztem Muthe zu tra¬ gen. Bey einem Balle gab es einen öffent¬ lichen Bruch, sie glaubte sich äußerst belei¬ digt, und wünschte gerächet zu werden, kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen hätte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron heraus¬ forderte und heute verwundete, doch ist der Obrist, wie ich höre, noch schlimmer dabey gefahren. Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehöre er zur Familie, behandelt. Drittes Capitel . M an hatte einigemal dem Kranken vorge¬ lesen, Wilhelm leistete diesen kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre Sorgfalt für den Verwundeten verschlang alle ihre übrige Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat, daß man nicht weiter lesen möchte. Ich fühle heute so lebhaft, sagte er, wie thöricht der Mensch seine Zeit verstreichen läßt! Wie manches habe ich mir vorgenom¬ men, wie manches durchgedacht, und wie zaudert man nicht bey seinen besten Vor¬ sätzen! Ich habe die Vorschläge über die Veränderungen gelesen, die ich auf meinen Gütern machen will, und ich kann sagen, ich freue mich vorzüglich deshalb, daß die Kugel keinen gefährlichern Weg genommen hat. Lydie sah ihn zärtlich, ja mit Thränen in den Augen an, als ob sie fragen wollte, ob denn sie , ob seine Freunde nicht auch An¬ theil an der Lebensfreude fordern könnten. Jarno dagegen versetzte: Veränderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten überlegt, bis man sich dazu ent¬ schließt. Lange Überlegungen, versetzte Lothario, zeigen gewöhnlich, daß man den Punct nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, über¬ eilte Handlungen, daß man ihn gar nicht kennt. Ich übersehe sehr deutlich, daß ich in vielen Stücken, bey der Wirthschaft mei¬ ner Güter, die Dienste meiner Landleute nicht entbehren kann, und daß ich auf ge¬ wissen Rechten strack und streng halten muß; ich sehe aber auch, daß andere Befugnisse mir mir zwar vortheilhaft, aber nicht so unent¬ behrlich sind, daß ich davon meinen Leuten auch was gönnen kann, und daß man nicht immer verliert, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine Güter weit besser als mein Vater? werde ich meine Einkünfte nicht noch höher treiben? und soll ich diesen wachsen¬ den Vortheil allein genießen? soll ich dem, der mit und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vortheile gönnen, die uns er¬ weiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit darbietet? Der Mensch ist nun einmal so! rief Jar¬ no, und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch auf dieser Eigenheit ertappe, der Mensch begehrt alles an sich zu reißen, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu kön¬ nen; das Geld, das er nicht selbst ausgiebt, scheint ihm selten wohl angewendet. O ja! versetzte Lothario, wir könnten C manches vom Capital entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willkührlich um¬ gingen. Das einzige, was ich zu erinnern habe, sagte Jarno, und warum ich nicht rathen kann, daß Sie eben jetzt diese Veränderun¬ gen machen, wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, daß Sie selbst noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie ein¬ engt. Ich würde rathen Ihren Plan aufzu¬ schieben, bis Sie völlig im Reinen wären. Und indessen einer Kugel, oder einem Dachziegel zu überlassen, ob er die Resul¬ tate meines Lebens und meiner Thätigkeit auf immer vernichten wollte! o! mein Freund, fuhr Lothario fort, das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, daß sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegen¬ stand wenden mögen. Wozu habe ich Schul¬ den gemacht? warum habe ich mich mit mei¬ nem Oheim entzweyt? meine Geschwister so lange sich selbst überlassen? als um einer Idee willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, über dem Meere glaubte ich nützlich und nothwendig zu seyn; war eine Hand¬ lung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht wür¬ dig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das nächste so werth, so theuer geworden. Ich erinnere mich wohl des Briefes, ver¬ setzte Jarno, den ich noch über das Meer erhielt. Sie schrieben mir: ich werde zurück kehren, und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: hier , oder nirgends ist Ame¬ rika ! Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, daß ich hier nicht so thätig C 2 wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Ver¬ stand, so daß wir das außerordentliche, was jeder gleichgültige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen, und wenn wir es erkennen, doch tausend Entschuldigungen finden es nicht zu thun. Ein verständiger Mensch ist viel für sich, aber fürs Ganze ist er wenig. Wir wollen, sagte Jarno, dem Verstan¬ de nicht zu nahe treten, und bekennen, daß das außerordentliche, was geschieht, meistens thöricht ist. Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das außerordentliche außer der Ordnung thun; so giebt mein Schwager sein Vermögen, in so fern er es veräußern kann, der Brüdergemeinde, und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu befördern; hätte er einen geringen Theil seiner Einkünfte aufgeopfert, so hätte er viel glückliche Menschen machen, und sich und ihnen einen Himmel auf Er¬ den schaffen können. Selten sind unsere Auf¬ opferungen thätig, wir thun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht ent¬ schlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich ge¬ steh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus Überzeugung zu thun, wozu ihn ein ängst¬ licher Wahn treibt, ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie dürfen nur ins reine gebracht werden, neh¬ men Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier gene¬ send oder sterbend dabey bleiben und ausru¬ fen : hier ! oder nirgends ist Herrnhut . Als Lydie ihren Freund von sterben reden hörte, stürzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich, der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wil¬ helmen die Papiere und nöthigte Lydien sich zu entfernen. Ums Himmels willen! rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, was ist das mit dem Grafen? welch ein Graf ist das, der sich unter die Brüdergemeinde begiebt? Den Sie sehr wohl kennen, versetzte Jarno. Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Frömmigkeit jagt, Sie sind der Bösewicht, der sein artiges Weib in ei¬ nen Zustand versetzt, in dem sie erträglich findet, ihrem Manne zu folgen. Und sie ist Lothario's Schwester? rief Wilhelm. Nicht anders. Und Lothario weiß —? Alles. O lassen Sie mich fliehen! rief Wilhelm aus, wie kann ich vor ihm stehen? was kann er sagen? Daß Niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll, und daß niemand lan¬ ge Reden componiren soll, um die Leute zu beschämen, er müßte sie denn vor dem Spie¬ gel halten wollen. Auch das wissen Sie? Wie manches andere, versetzte Jarno lä¬ chelnd; doch diesmal, fuhr er fort, werde ich Sie so leicht nicht wie das vorigemal los lassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu fürchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat hätte ich Ihnen diesen Argwohn nicht ein¬ flößen sollen. Seit der Zeit, daß ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles geändert. Nach dem Tode meines Fürsten, meines ein¬ zigen Freundes und Wohlthäters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verhältnissen herausgerissen. Ich beförderte gern was vernünftig war, verschwieg nicht wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem bösen Maule zu reden. Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr, als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muß ihn bey Seite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hinge¬ hen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter hören. Sie sollen Theil daran nehmen, wenn Sie mögen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? ich sehe, ich fühle Ihnen an, auch Sie ha¬ ben sich verändert. Wie stehts mit Ihrer al¬ ten Grille, etwas Schönes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen? Ich bin gestraft genug! rief Wilhelm aus, erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie völlig diese Menschen mit sich selbst un¬ bekannt sind, wie sie ihr Geschäft ohne Nach¬ denken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Be¬ griff. Nicht allein will jeder der erste, son¬ dern auch der einzige seyn, jeder möchte gerne alle übrigen ausschließen, und sieht nicht, daß er mit ihnen, zusammen kaum et¬ was leistet; jeder dünkt sich wunder Origi¬ nal zu seyn, und ist unfähig sich in etwas zu finden, was außer dem Schlendrian ist; dabey eine immerwährende Unruhe nach et¬ was neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegen einander! und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschränkteste Eigennutz macht, daß sie sich mit einander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht, ein ewiges Mißtrauen wird durch heimliche Tücke und schändliche Reden unter¬ halten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er alles schon selbst besser gewußt! und warum hat er denn immer das Gegentheil gethan? Immer be¬ dürftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr fürch¬ teten als vor Vernunft und gutem Geschmack, und nichts so sehr zu erhalten suchten, als daß Majestätsrecht ihrer persönlichen Will¬ kühr. Wilhelm holte Athem, um seine Litaney noch weiter forzusetzen, als ein unmäßiges Gelächter Jarno’s ihn unterbrach. Die ar¬ men Schauspieler! rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort; die armen gu¬ ten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund, fuhr er fort, nachdem er sich eini¬ germaßen wieder erholt hatte, daß Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben, und daß ich Ihnen aus allen Stän¬ den genug Figuren und Handlungen zu Ih¬ ren harten Pinselstrichen finden wollte? Ver¬ zeihen Sie mir, ich muß wieder lachen, daß Sie glaubten, diese schönen Qualitäten seyen nur auf die Breter gebannt. Wilhelm faßte sich, denn wirklich hatte ihn das unbändige und unzeitige Gelächter Jarno’s verdrossen. Sie können, sagte er, Ihren Menschenhaß nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, daß diese Fehler all¬ gemein seyen. Und es zeigt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinun¬ gen dem Theater so hoch anrechnen. Wahr¬ haftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde, zu gefallen, entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muß den augenblicklichen Beyfall hoch schätzen, denn er erhält keinen andern Lohn; er muß zu glänzen suchen, denn deswegen steht er da. Sie erlauben, versetzte Wilhelm, daß ich wenigstens von meiner Seite lächele. Nie hätte ich geglaubt, daß Sie so billig, so nachsichtig seyn könnten. Nein bey Gott! dies ist mein völliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Men¬ schen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglie¬ der hierüber nicht anstimmen, sie würden heftiger klingen als die Ihrigen. Der Chirurgus kam aus dem Cabinet, und auf Befragen, wie sich der Kranke be¬ finde? sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: recht sehr wohl, ich hoffe ihn bald völlig wieder hergestellt zu sehen; sogleich eilte er zum Saal hinaus, und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund eröfnete, sich nochmals und dringender nach der Brief¬ tasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno, er entdeckte ihm seinen Fall, und bat ihn um seine Beyhülfe. Sie wissen so viel, sagte er, sollten Sie nicht auch das erfahren können? Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: seyn Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der Schönen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lothario’s Zustand, die Sache steht gefährlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich hätte Lydien schon gerne weggeschaft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Heute Abend hoff ich soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter rathschlagen. Viertes Capitel . D er Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen, und dem wir die Mittheilung des interessanten Ma¬ nuscripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten, und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch ließen sie nichts merken, als sie Abends zu Tische kamen. Wilhelm begrüßte ihn aufs freundlichste, und erkundigte sich nach seinem Harfenspie¬ ler. — Wir haben noch Hoffnung, den Un¬ glücklichen zurechte zu bringen, versetzte der Arzt. — Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschränkten und wun¬ derlichen Leben, sagte Jarno, wie ist es ihm weiter ergangen? lassen Sie mich es wissen. Nachdem man Jarno’s Neugierde befrie¬ diget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe ich ein Gemüth in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindesten Antheil genommen, ja fast auf nichts ge¬ merkt, blos in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles leeres Ich, das ihm als ein un¬ ermeßlicher Abgrund erschien. Wie rührend war es, wenn er von diesem traurigen Zu¬ stande sprach! ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir, rief er aus, als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde, kein Gefühl bleibt mir als das Gefühl einer Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes unförmliches Gespenst sich rückwärts sehen läßt. Doch da ist keine Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück, kein Wort drückt diesen immer gleichen Zu¬ stand aus, manchmal ruf ich in der Noth dieser dieser Gleichgültigkeit: Ewig! ewig! mit Hef¬ tigkeit aus, und dieses seltsame unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsterniß meines Zustandes. Kein Strahl einer Gott¬ heit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Thränen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freund¬ schaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, daß die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich seyn möchten. Aber auch diese beyden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu äng¬ stigen, und um mir zuletzt auch das theure Bewußtseyn dieses ungeheuren Daseyns zu rauben. Sie sollten ihn hören, fuhr der Arzt fort, wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der größten Rührung habe ich ihm einigemal zugehört. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn D nöthigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sey vergangen, so scheint er wie er¬ staunt, und dann verwirft er wieder die Veränderung an den Dingen als eine Er¬ scheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied über seine grauen Haare, wir saßen alle um ihn her und weinten. O! schaffen Sie es mir! rief Wiihelm aus. Haben Sie denn aber, fragte Jarno, nichts entdeckt, von dem, was er sein Ver¬ brechen nennt, nicht die Ursache seiner son¬ derbaren Tracht, sein Betragen beym Brande, seine Wuth gegen das Kind? Nur durch Muthmaßungen können wir seinem Schicksale näher kommen; ihn unmit¬ telbar zu fragen, würde gegen unsere Grund¬ sätze seyn. Da wir wohl merken, daß er katholisch erzogen ist, haben wir geglaubt, ihm durch eine Beichte Linderung zu ver¬ schaffen; aber er entfernt sich auf eine son¬ derbare Weise jedesmal, wenn wir ihm den Geistlichen näher zu bringen suchen. Daß ich aber Ihren Wunsch etwas von ihm zu wissen nicht ganz unbefriedigt lasse, will ich Ihnen wenigstens unsere Vermuthungen ent¬ decken. Er hat seine Jugend in dem geist¬ lichen Stande zugebracht, daher scheint er sein langes Gewand und seinen Bart erhal¬ ten zu wollen. Die Freuden der Liebe blie¬ ben ihm die größte Zeit seines Lebens unbe¬ kannt. Erst spät mag eine Verirrung mit ei¬ nem sehr nahe verwandten Frauenzimmer, es mag ihr Tod, der einem unglücklichen Ge¬ schöpfe das Daseyn gab, sein Gehirn völlig zerrüttet haben. Sein größter Wahn ist, daß er überall Unglück bringe, nnd daß ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe; erst fürchtete er sich vor Mignon, eh’ er wußte D 2 daß es ein Mädchen war; nun ängstigte ihn Felix, und da er das Leben bey allem sei¬ nen Elend unendlich liebt, scheint seine Ab¬ neigung gegen das Kind daher entstanden zu seyn. Was haben Sie denn zu seiner Besserung für Hoffnung? fragte Wilhelm. Es geht langsam vorwärts, versetzte der Arzt, aber doch nicht zurück. Seine bestimm¬ ten Beschäftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gewöhnt die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit großer Begierde er¬ wartet. Ich bin auf seine Lieder neugierig, sagte Jarno. Davon werde ich Ihnen verschiedene ge¬ ben können, sagte der Arzt. Der älteste Sohn des Geistlichen, der seinem Vater die Pre¬ digten nachzuschreiben gewohnt ist, hat manche Strophen, ohne von dem Alten bemerkt zu werden, aufgezeichnet, und mehrere Lieder nach und nach zusammengesetzt. Den andern Morgen kam Jarno zu Wil¬ helmen, und sagte zu ihm: Sie müssen uns einen Gefallen thun; Lydie muß einige Zeit entfernt werden, ihre heftige, und, ich darf wohl sagen, unbequeme Liebe und Leiden¬ schaft hindert des Barons Genesung. Seine Wunde verlangt Ruhe und Gelassenheit, ob sie gleich bey seiner guten Natur nicht ge¬ fährlich ist. Sie haben gesehen, wie ihn Ly¬ die mit stürmischer Sorgfalt, unbezwinglicher Angst und nie versiegenden Thränen quält, und — genug, setzte er nach einer Pause, mit einem Lächeln, hinzu, der Medikus ver¬ langt ausdrücklich, daß sie das Haus auf ei¬ nige Zeit verlassen solle. Wir haben ihr ein¬ gebildet, eine sehr gute Freundin halte sich in der Nähe auf, verlange sie zu sehen und erwarte sie jeden Augenblick. Sie hat sich bereden lassen, zu dem Gerichtshalter zu fah¬ ren, der nur zwey Stunden von hier wohnt. Dieser ist unterrichtet, und wird herzlich be¬ dauern, daß Fräulein Therese so eben weg¬ gefahren sey; er wird wahrscheinlich machen, daß man sie noch einholen könne, Lydie wird ihr nacheilen, und, wenn das Glück gut ist, wird sie von einem Orte zum andern geführt werden. Zuletzt, wenn sie drauf besteht, wieder umzukehren, darf man ihr nicht wi¬ dersprechen; man muß die Nacht zu Hülfe nehmen, der Kutscher ist ein gescheiter Kerl, mit dem man noch Abrede nehmen muß. Sie setzen sich zu ihr in den Wagen, unter¬ halten sie und dirigiren das Abentheuer. Sie geben mir einen sonderbaren und be¬ denklichen Auftrag, versetzte Wilhelm, wie ängstlich ist die Gegenwart einer gekränkten, treuen Liebe! und ich soll selbst dazu das Werkzeug seyn? Es ist das erstemal in mei¬ nem Leben, daß ich jemanden auf diese Weise hintergehe. Denn ich habe immer geglaubt, daß es uns zu weit führen könne, wenn wir einmal um des Guten und Nützlichen willen zu betrügen anfangen. Können wir doch Kinder nicht anders er¬ ziehen, als auf diese Weise, versetzte Jarno. Bey Kindern möchte es noch hingehen, sagte Wilhelm, indem wir sie so zärtlich lie¬ ben und offenbar übersehen; aber bey unsers Gleichen, für die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung anruft, möchte es oft gefährlich werden. Doch glauben Sie nicht, fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort, daß ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bey der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand einflößt, bey der Neigung, die ich für Ihren trefflichen Freund fühle, bey dem lebhaften Wunsch, seine Genesung, durch welche Mit¬ tel sie auch möglich sey, zu befördern, mag ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, daß man sein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im Nothfall seine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬ sere liebste Leidenschaft, unsere besten Wün¬ sche sind wir für ihn aufzuopfern schuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Ly¬ diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben. Dagegen erwartet sie auch keine geringe Belohnung, versetzte Jarno, indem Sie Fräu¬ lein Theresen kennen lernen, ein Frauenzim¬ mer, wie es ihrer wenige giebt; sie beschämt hundert Männer, und ich möchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zwey¬ deutigen Kleidung herum gehen. Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬ resen seine Amazone wieder zu finden, um so mehr, als Jarno, von dem er einige Aus¬ kunft verlangte, kurz abbrach, und sich ent¬ fernte. Die neue nahe Hofnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wieder zu sehen, brachte in ihm die sonderbarsten Bewegungen her¬ vor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, für ein Werk ei¬ ner ausdrücklichen Schickung, und der Ge¬ danke, daß er ein armes Mädchen von dem Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftig¬ sten Liebe hinterlistig zu entfernen im Be¬ griff war, erschien ihm nur im Vorüber¬ gehen, wie der Schatten eines Vogels über die erleuchtete Erde wegfliegt. Der Wagen stand vor der Thüre, Lydie zauderte einen Augenblick hinein zu steigen; grüßt euren Herren nochmals, sagte sie zu dem alten Bedienten, vor Abends bin ich wieder zurück. Thränen standen ihr im Auge, als sie im Fortfahren sich nochmals umwendete. Sie kehrte sich darauf zu Wil¬ helmen, nahm sich zusammen, und sagte: Sie werden an Fräulein Theresen eine sehr interessante Person finden. Mich wundert, wie sie in diese Gegend kommt; denn Sie werden wohl wissen, daß sie und der Baron sich heftig liebten. Ohngeachtet der Entfer¬ nung war Lothario oft bey ihr, ich war da¬ mals um sie, es schien als ob sie nur für einander leben würden. Auf einmal aber zer¬ schlug sichs, ohne daß ein Mensch begreifen konnte, warum; er hatte mich kennen lernen, und ich leugne nicht, daß ich Theresen herz¬ lich beneidete, daß ich meine Neigung zu ihm kaum verbarg, und daß ich ihn nicht zurück stieß, als er auf einmal mich statt The¬ resen zu wählen schien. Sie betrug sich ge¬ gen mich, wie ich es nicht besser wünschen konnte, ob es gleich beynahe scheinen mußte, als hätte ich ihr einen so werthen Liebhaber geraubt. Aber auch wie viele tausend Thrä¬ nen und Schmerzen hat mich diese Liebe schon gekostet; erst sahen wir uns nur zu¬ weilen am dritten Orte verstohlen, aber lange konnte ich das Leben nicht ertragen, nur in seiner Gegenwart war ich glücklich, ganz glücklich! fern von ihm hatte ich kein trock¬ nes Auge, keinen ruhigen Pulsschlag. Einst verzog er mehrere Tage, ich war in Ver¬ zweiflung, machte mich auf den Weg, und überraschte ihn hier. Er nahm mich liebevoll auf, und wäre nicht dieser unglückseelige Handel dazwischen gekommen, so hätte ich ein himmlisches Leben geführt; und was ich ausgestanden habe, seitdem er in Gefahr ist, seitdem er leidet, sag ich nicht, und noch in diesem Augenblicke mache ich mir lebhafte Vorwürfe, daß ich mich nur einen Tag von ihm habe entfernen können. Wilhelm wollte sich eben näher nach The¬ resen erkundigen, als sie bey dem Gerichts¬ halter vorfuhren, der an den Wagen kam, und von Herzen bedauerte, daß Fräulein Therese schon abgefahren sey. Er bot den Reisenden ein Frühstück an, sagte aber zu¬ gleich: der Wagen würde noch im nächsten Dorfe einzuholen seyn. Man entschloß sich nachzufahren, und der Kutscher säumte nicht; man hatte schon einige Dörfer zurückgelegt und niemand angetroffen. Lydie bestand nun darauf, man solle umkehren, der Kutscher fuhr zu als verstünde er es nicht. Endlich verlangte sie es mit größter Heftigkeit; Wil¬ helm rief ihm zu und gab das abgeredete Zeichen. Der Kutscher erwiederte: wir ha¬ ben nicht nöthig denselben Weg zurück zu fahren; ich weiß einen nähern, der zugleich viel bequemer ist. Er fuhr nun seitwärts durch einen Wald und über lange Tristen weg. Endlich da kein bekannter Gegenstand zum Vorschein kam, gestand der Kutscher, er sey unglücklicher Weise irre gefahren, wolle sich aber bald wieder zurechte finden, indem er dort ein Dorf sehe. Die Nacht kam herbey, und der Kutscher machte seine Sache so geschickt, daß er überall fragte und nirgends die Antwort abwartete. So fuhr man die ganze Nacht, Lydie schloß kein Auge; bey Mondenschein fand sie überall Ähnlichkeiten, und immer verschwanden sie wieder. Morgens schienen ihr die Gegen¬ stände bekannt, aber desto unerwarteter. Der Wagen hielt vor einem kleinen artig gebau¬ ten Landhause stille, ein Frauenzimmer trat aus der Thüre und öfnete den Schlag. Ly¬ die sah sie starr an, sah sich um, sah sie wieder an und lag ohnmächtig in Wilhelms Armen. Fünftes Capitel . W ilhelm ward in ein Mansardzimmerchen geführt, das Haus war neu, und so klein, als es beynah nur möglich war, äußerst reinlich und ordentlich. In Theresen, die ihn und Lydien an der Kutsche empfangen hatte, fand er seine Amazone nicht, es war ein anderes, ein himmelweit von ihr unterschie¬ denes Wesen. Wohlgebaut, ohne groß zu seyn, bewegte sie sich mit viel Lebhaftigkeit, und ihren hellen, blauen, offnen Augen schien nichts verborgen zu bleiben was vorging. Sie trat in Wilhelms Stube, und fragte, ob er etwas bedürfe? verzeihen Sie, sagte sie, daß ich Sie in ein Zimmer logire, das der Oelgeruch noch unangenehm macht, mein kleines Haus ist eben fertig geworden, und Sie weihen dieses Stübchen ein, das meinen Gästen bestimmt ist. Wären Sie nur bey ei¬ nem angenehmern Anlaß hier! die arme Ly¬ die! wird uns keine guten Tage machen, und überhaupt müssen Sie vorlieb nehmen, meine Köchin ist mir eben zur ganz unrech¬ ten Zeit aus dem Dienste gelaufen, und ein Knecht hat sich die Hand zerquetscht. Es thäte Noth, ich verrichtete alles selbst, und am Ende, wenn man sich darauf einrichtete, müßte es auch gehen. Man ist mit niemand mehr geplagt als mit den Dienstboten; es will niemand dienen, nicht einmal sich selbst. Sie sagte noch manches über verschiedene Gegenstände, überhaupt schien sie gern zu sprechen. Wilhelm fragte nach Lydien, ob er das gute Mädchen nicht sehen und sich bey ihr entschuldigen könnte? Das wird jetzt nicht bey ihr wirken, ver¬ setzte Therese, die Zeit entschuldigt wie sie tröstet, Worte sind in beyden Fällen von wenig Kraft, Lydie will Sie nicht sehen. — Lassen Sie mir ihn ja nicht vor die Augen kommen, rief sie als ich sie verließ, ich möchte an der Menschheit verzweifeln! so ein ehrlich Gesicht, so ein offnes Betragen und diese heimliche Tücke! Lothario ist ganz bey ihr entschuldigt, auch sagt er in einem Briefe an das gute Mädchen: »meine Freun¬ de beredeten mich, meine Freunde nöthigten mich!« Zu diesen rechnet Lidie Sie auch, und verdammt Sie mit den übrigen. Sie erzeigt mir zu viel Ehre, indem sie mich schilt, versetzte Wilhelm, ich darf an die Freundschaft dieses trefflichen Mannes noch keinen Anspruch machen, und bin dies¬ mal nur ein unschuldiges Werkzeug, ich will meine Handlung nicht loben, genug ich konnte sie thun! Es war von der Gesund¬ heit, es war von dem Leben eines Mannes die die Rede, den ich höher schätzen muß als irgend jemand, den ich vorher kannte. O welch ein Mann ist das! Fräulein, und welche Menschen umgeben ihn! in dieser Gesellschaft hab ich, so darf ich wohl sagen, zum erstenmal ein Gespräch geführt, zum erstenmal kam mir der eigenste Sinn meiner Worte aus dem Munde eines andern reich¬ haltiger, voller und in einem größern Um¬ fang wieder entgegen, was ich ahndete ward mir klar, und was ich meynte lernte ich an¬ schauen. Leider ward dieser Genuß erst durch allerley Sorgen und Grillen, dann durch den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich übernahm ihn mit Ergebung, denn ich hielt für Schuldigkeit, selbst mit Aufopferung mei¬ nes Gefühls, diesem trefflichen Kreise von Menschen meinen Einstand abzutragen. Therese hatte unter diesen Worten ihren Gast sehr freundlich angesehen. O! wie süß E ist es! rief sie aus, seine eigne Überzeugung aus einem fremden Munde zu hören! Wie werden wir erst recht wir selbst, wenn uns ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch ich denke über Lothario vollkommen wie Sie, nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬ derfahren, dafür schwärmen aber auch alle die für ihn, die ihn näher kennen, und das schmerzliche Gefühl, das sich in meinen Her¬ zen zu seinem Andenken mischt, kann mich nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein Seufzer erweiterte ihre Brust, indem sie die¬ ses sagte, und in ihrem rechten Auge blinkte eine schöne Thräne. Glauben Sie nicht, fuhr sie fort, daß ich so weich, so leicht zu rühren bin! Es ist nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬ genlied, man hat mir sie glücklich abgebun¬ den, aber das Auge ist seit der Zeit immer schwach geblieben, der geringste Anlaß drängt mir eine Thräne hervor. Hier saß das Wärzchen, Sie sehen keine Spur mehr davon. Er sah keine Spur, aber er sah ihr ins Auge, es war klar wie Cristall, er glaubte bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen. Wir haben, sagte sie, nun das Losungs¬ wort unserer Verbindung ausgesprochen, las¬ sen Sie uns sobald als möglich mit einander völlig bekannt werden. Die Geschichte des Menschen ist sein Character. Ich will Ih¬ nen erzählen, wie es mir ergangen ist, schen¬ ken Sie mir ein kleines Vertrauen, und las¬ sen Sie uns auch in der Ferne verbunden bleiben. Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt, aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns übereinstimmt, mit dem wir auch still¬ schweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten. E 2 Sie eilte fort, und versprach ihn bald zum Spatziergange abzuholen. Ihre Gegen¬ wart hatte sehr angenehm auf ihn gewirkt, er wünschte ihr Verhältniß zu Lothario zu erfahren. Er ward gerufen, sie kam ihm aus ihrem Zimmer entgegen. Als sie die enge und beynahe steile Treppe einzeln hinuntergehen mußten, sagte sie: das könnte alles weiter und breiter seyn, wenn ich das Anerbieten Ihres großmüthigen Freun¬ des hätte hören wollen; doch um seiner werth zu bleiben, muß ich das an mir erhalten, was mich ihm so werth machte. Wo ist der Verwalter? fragte sie, indem sie die Treppe völlig herunter kam. Sie müssen nicht den¬ ken, fuhr sie fort, daß ich so reich bin, um einen Verwalter zu brauchen, die wenigen Äcker meines Freygüthchens kann ich wohl selbst bestellen. Der Verwalter gehört mei¬ nem neuen Nachbar, der das schöne Gut gekauft hat, das ich in- und auswendig kenne; der gute alte Mann liegt krank am Podagra, seine Leute sind in dieser Gegend neu, und ich helfe ihnen gerne sich einrichten. Sie machten einen Spatziergang durch Äcker, Wiesen und einige Baumgärten. The¬ rese bedeutete den Verwalter in allem, sie konnte ihm von jeder Kleinigkeit Rechen¬ schaft geben, und Wilhelm hatte Ursache ge¬ nug sich über ihre Kenntniß, ihre Bestimmt¬ heit und über die Gewandtheit, wie sie in jedem Falle Mittel anzugeben wußte, zu verwundern. Sie hielt sich nirgends auf, eilte immer zu den bedeutenden Puncten, und so war die Sache bald abgethan. Grüßt euren Herrn, sagte sie, als sie den Mann verabschiedete, ich werde ihn sobald als mög¬ lich besuchen, und wünsche vollkommene Bes¬ serung. Da könnte ich nun auch, sagte sie¬ mit Lächeln, als er weg war, bald reich und vielhabend werden, denn mein guter Nach¬ bar wäre nicht abgeneigt mir seine Hand zu geben. Der Alte mit dem Podagra? rief Wil¬ helm, ich wüßte nicht, wie Sie in Ihren Jahren zu so einem verzweifelten Entschluß kommen könnten? — Ich bin auch gar nicht versucht! versetzte Therese. Wohlhabend ist jeder, der dem, was er besitzt, vorzustehen weiß; vielhabend zu seyn ist eine lästige Sache, wenn man es nicht versteht. Wilhelm zeigte seine Verwunderung über ihre Wirthschaftskenntnisse. — Entschiedene Neigung, frühe Gelegenheit, äußerer Antrieb und eine fortgesetzte Beschäftigung in einer nützlichen Sache, machen in der Welt noch viel mehr möglich, versetzte Therese, und wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu belebt hat, so werden Sie sich über das sonderbar scheinende Talent nicht mehr Sie ließ ihn, als sie zu Hause anlangten, in ihrem kleinen Garten, in welchem er sich kaum herumdrehen konnte; so eng waren die Wege, und so reichlich war alles bepflanzt. Er mußte lächeln, als er über den Hof zu¬ rückkehrte, denn da lag das Brennholz so akkurat gesägt, gespalten und geschränkt, als wenn es ein Theil des Gebäudes wäre, und immer so liegen bleiben sollte. Rein standen alle Gefäße an ihren Plätzen, das Häuschen war weiß und roth angestrichen und lustig anzusehen. Was das Handwerk hervorbrin¬ gen kann, das keine schönen Verhältnisse kennt, aber für Bedürfniß, Dauer und Heiterkeit arbeitet, schien auf dem Platze vereinigt zu seyn. Man brachte ihm das Essen auf sein Zimmer, und er hatte Zeit genug Betrach¬ tungen anzustellen. Besonders fiel ihm auf: daß er nun wieder eine so interessante Per¬ son kennen lernte, die mit Lothvrio in einem nahen Verhältnisse gestanden hatte. Billig ist es, sagte er zu sich selbst, daß so ein trefflicher Mann auch treffliche Weiberseelen an sich ziehe! Wie weit verbreitet sich die Wirkung der Männlichkeit und Würde. Wenn nur andere nicht so sehr dabey zu kurz kämen! Ja, gestehe dir nur deine Furcht. Wenn du dereinst deine Amazone wieder antriffst, diese Gestalt aller Gestal¬ ten, du findest sie, trotz aller deiner Hoff¬ nungen und Träume, zu deiner Beschämung und Demüthigung doch noch am Ende — als seine Braut. Sechstes Capitel . W ilhelm hatte einen unruhigen Nachmittag nicht ganz ohne lange Weile zugebracht, als sich gegen Abend seine Thüre öffnete, und ein junger artiger Jägerbursche mit einem Gruße hereintrat. Wollen wir nun spatzie¬ ren gehen? sagte der junge Mensch, und in dem Augenblicke erkannte Wilhelm Theresen an ihren schönen Augen. Verzeihn Sie mir diese Maskerade, fing sie an, denn leider ist es jetzt nur Maske¬ rade. Doch da ich Ihnen einmal von der Zeit erzählen soll, in der ich mich so gerne in dieser Weste sah, will ich mir auch jene Tage auf alle Weise vergegenwärtigen. Kommen Sie! selbst der Platz, an dem wir so oft von unsern Jagden und Spatziergän¬ gen ausruhten, soll dazu beytragen. Sie gingen, und auf dem Wege sagte Therese zu ihrem Begleiter: es ist nicht bil¬ lig, daß Sie mich allein reden lassen, schon wissen Sie genug von mir, und ich weiß noch nicht das mindeste von Ihnen; erzäh¬ len Sie mir indessen etwas von sich, damit ich Muth bekomme Ihnen auch meine Ge¬ schichte und meine Verhältnisse vorzulegen. Leider hab ich, versetzte Wilhelm, nichts zu erzählen als Irrthümer auf Irrthümer, Ver¬ irrungen auf Verirrungen, und ich wüßte nicht, wem ich die Verworrenheiten, in de¬ nen ich mich befand und befinde, lieber ver¬ bergen möchte als Ihnen; Ihr Blick und alles was Sie umgiebt, Ihr ganzes Wesen und Ihr Betragen zeigt mir, daß Sie sich Ihres vergangenen Lebens freuen können, daß Sie auf einem schönen reinen Wege in einer sichern Folge gegangen sind, daß Sie keine Zeit verlohren, daß Sie sich nichts vorzuwerfen haben. Therese lächelte und versetzte: wir müssen abwarten, ob Sie auch noch so denken, wenn Sie meine Geschichte hören. Sie gin¬ gen weiter, und unter einigen allgemeinen Gesprächen fragte ihn Therese: sind Sie frey? ich glaube es zu seyn, versetzte er, aber ich wünsche es nicht. Gut! sagte sie, das deutet auf einen complicirten Roman, und zeigt mir, daß Sie auch etwas zu erzählen haben. Unter diesen Worten stiegen sie den Hü¬ gel hinan und lagerten sich bey einer großen Eiche, die ihren Schatten weit umher ver¬ breitete. Hier, sagte Therese, unter diesem deutschen Baume will ich Ihnen die Ge¬ schichte eines deutschen Mädchens erzählen, hören Sie mich geduldig an: Mein Vater war ein wohlhabender Edelmann dieser Pro¬ vinz, ein heiterer, klarer, thätiger, wackrer Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher Freund, ein trefflicher Wirth, an dem ich nur den einzigen Fehler kannte, daß er ge¬ gen eine Frau zu nachsichtig war, die ihn nicht zu schätzen wußte. Leider muß ich das von meiner eigenen Mutter sagen! Ihr Wesen war dem seinigen ganz entgegenge¬ setzt. Sie war rasch, unbeständig, ohne Nei¬ gung weder für ihr Haus, noch für mich ihr einziges Kind, verschwenderisch, aber schön, geistreich, voller Talente, das Entzücken ei¬ nes Zirkels, den sie um sich zu versammeln wußte. Freylich war ihre Gesellschaft nie¬ mals groß, oder blieb es nicht lange. Die¬ ser Zirkel bestand meist aus Männern, denn keine Frau befand sich wohl neben ihr, und noch weniger konnte sie das Verdienst ir¬ gend eines Weibes dulden. Ich glich mei¬ nem Vater an Gestalt und Gesinnungen. Wie eine junge Ente gleich das Wasser sucht, so war von der ersten Jugend an die Küche, die Vorrathskammer, die Scheunen und Bö¬ den mein Element. Die Ordnung und Rein¬ lichkeit des Hauses schien, selbst da ich noch spielte, mein einziger Instinkt, mein einziges Augenmerk zu seyn. Mein Vater freute sich darüber, und gab meinem kindischen Bestre¬ ben stufenweise die zweckmäßigsten Beschäf¬ tigungen, meine Mutter dagegen liebte mich nicht, und verheelte es keinen Augenblick. Ich wuchs heran, mit den Jahren ver¬ mehrte sich meine Thätigkeit und die Liebe meines Vaters zu mir. Wenn wir allein waren, auf die Felder gingen, wenn ich ihm die Rechnungen durchsehen half, dann konnte ich ihm recht anfühlen wie glücklich er war. Wenn ich ihm in die Augen sah, so war es als wenn ich in mich selbst hinein sähe, denn eben die Augen waren es, die mich ihm voll¬ kommen ähnlich machten. Aber nicht eben den Muth, nicht eben den Ausdruck behielt er in der Gegenwart meiner Mutter, er ent¬ schuldigte mich gelind, wenn sie mich heftig und ungerecht tadelte; er nahm sich meiner an, nicht als wenn er mich beschützen, son¬ dern als wenn er meine guten Eigenschaften nur entschuldigen könnte. So setzte er auch keiner ihrer Neigungen Hindernisse entgegen; sie fing an mit größter Leidenschaft sich auf das Schauspiel zu werfen, ein Theater ward erbauet, an Männern fehlte es nicht von allen Altern und Gestalten, die sich mit ihr auf der Bühne darstellten, an Frauen hin¬ gegen mangelte es oft. Ldyie , ein artiges Mädchen, das mit mir erzogen worden war, und das gleich in ihrer ersten Jugend reizend zu werden versprach, mußte die zweyten Rollen übernehmen, und eine alte Kammer¬ frau die Mütter und Tanten vorstellen, in¬ deß meine Mutter sich die ersten Liebha¬ berinnen, Heldinnen und Schäferinnen aller Art vorbehielt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lächerlich mir es vorkam, wenn die Menschen, die ich alle recht gut kannte, sich verkleidet hatten, da droben standen, und für etwas anders als sie waren gehalten seyn wollten. Ich sah immer nur meine Mutter und Lydien, diesen Baron und jenen Secretair, sie mochten nun als Fürsten und Grafen, oder als Bauern erscheinen, und ich konnte nicht begreifen, wie sie mir zumuthen wollten zu glauben, daß es ihnen wohl oder wehe sey, daß sie verliebt oder gleichgültig, geizig oder freygebig seyen, da ich doch meist von dem Gegentheile genau unterrichtet war. Deswegen blieb ich auch sehr selten unter den Zuschauern, ich putzte ihnen immer die Lich¬ ter, damit ich nur etwas zu thun hatte, be¬ sorgte das Abendessen, und hatte des andern Morgens, wenn sie noch lange schliefen, schon ihre Garderobe in Ordnung gebracht, die sie des Abends gewöhnlich übereinander geworfen zurückließen. Meiner Mutter schien diese Thätigkeit ganz recht zu seyn, aber ihre Neigung konnte ich nicht erwerben, sie verachtete mich, und ich weiß noch recht gut, daß sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: wenn die Mutter so ungewis seyn könnte als der Va¬ ter, so würde man wohl schwerlich diese Magd für meine Tochter halten. Ich leug¬ nete nicht, daß ihr Betragen mich nach und nach ganz von ihr entfernte, ich betrachtete ihre Handlungen wie die Handlungen einer fremden Person, und da ich gewohnt war wie ein Falke das Gesinde zu beobachten, denn, im Vorbeygehen gesagt, darauf be¬ ruht eigentlich der Grund aller Haushaltung; so so fielen mir natürlich auch die Verhältnisse meiner Mutter und ihrer Gesellschaft auf. Es ließ sich wohl bemerken, daß sie nicht alle Männer mit ebendenselben Augen an¬ sah, ich gab schärfer acht, und bemerkte bald, daß Lydie Vertraute war, und bey die¬ ser Gelegenheit selbst mit einer Leidenschaft bekannter wurde, die sie von ihrer ersten Jugend an so oft vorgestellt hatte. Ich wußte alle ihre Zusammenkünfte, aber ich schwieg, und sagte meinem Vater nichts, den ich zu betrüben fürchtete, endlich aber ward ich dazu genöthigt. Manches konnten sie nicht unternehmen, ohne das Gesinde zu bestechen. Dieses fing an mir zu trotzen, die Anordnungen meines Vaters zu vernachläs¬ sigen und meine Befehle nicht zu vollziehen; die Unordnungen, die daraus entstanden, waren mir unerträglich, ich entdeckte, ich klagte alles meinem Vater. F Er hörte mich gelassen an; gutes Kind! sagte er zuletzt mit Lächeln, ich weiß alles, sey ruhig, ertrag es mit Geduld, denn es ist nur um deinetwillen, daß ich es leide. Ich war nicht ruhig, ich hatte keine Ge¬ duld. Ich schalt meinen Vater im Stillen, denn ich glaubte nicht, daß er um irgend einer Ursache willen so etwas zu dulden brauche, ich bestand auf der Ordnung, und ich war entschlossen, die Sache aufs äußerste kommen zu lassen. Meine Mutter war reich von sich, ver¬ zehrte aber doch mehr als sie sollte, und dies gab, wie ich wohl merkte, manche Er¬ klärung zwischen meinen Eltern. Lange war der Sache nicht geholfen, bis die Leiden¬ schaften meiner Mutter selbst eine Art von Entwickelung hervorbrachten. Der erste Liebhaber ward auf eine ekla¬ tante Weise ungetreu; das Haus, die Ge¬ gend, ihre Verhältnisse waren ihr zuwider. Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da war es ihr zu einsam; sie wollte nach der Stadt, da galt sie nicht genug. Ich weiß nicht, was alles zwischen ihr und meinem Vater vorging, genug er entschloß sich end¬ lich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr, in eine Reise, die sie nach dem südlichen Frankreich thun wollte, einzuwilligen. Wir waren nun frey und lebten wie im Himmel; ja ich glaube, daß mein Vater nichts verlohren hat, wenn er ihre Gegenwart auch schon mit einer ansehnlichen Summe ab¬ kaufte. Alles unnütze Gesinde ward abge¬ schaft, und das Glück schien unsere Ordnung zu begünstigen; wir hatten einige sehr gute Jahre, alles gelang nach Wunsch. Aber leider dieser frohe Zustand dauerte nicht lange, ganz unvermuthet ward mein Vater von einem Schlagflusse befallen, der ihm F 2 die rechte Seite lähmte, und den reinen Ge¬ brauch der Sprache benahm. Man mußte alles errathen, was er verlangte, denn er brachte nie das Wort hervor, das er im Sinne hatte. Sehr ängstlich waren mir da¬ her manche Augenblicke, in denen er mit mir ausdrücklich allein seyn wollte; er deutete mit heftiger Gebärde, daß jedermann sich entfernen sollte, und wenn wir uns allein sahen, war er nicht im Stande das rechte Wort hervor zu bringen; seine Ungeduld stieg aufs äußerste und sein Zustand betrübte mich im innersten Herzen. So viel schien mir gewiß, daß er mir etwas zu vertrauen hatte, das mich besonders anging. Welches Ver¬ langen fühlt’ ich nicht es zu erfahren! Sonst konnt ich ihm alles an den Augen ansehen; aber jetzt war es vergebens, selbst seine Au¬ gen sprachen nicht mehr! nur so viel war mir deutlich: er wollte nichts, er begehrte nichts, er strebte nur mir etwas zu entdecken, das ich leider nicht erfuhr. Sein Übel wieder¬ holte sich, er ward bald darauf ganz unthä¬ tig und unfähig; und nicht lange, so war er todt. Ich weiß nicht, wie sich bey mir der Ge¬ danke festgesetzt hatte, daß er irgendwo ei¬ nen Schatz niedergelegt habe, den er mir nach seinem Tode lieber als meiner Mutter gönnen wollte; ich suchte schon bey seinen Lebzeiten nach, allein ich fand nichts, nach seinem Tode ward alles versiegelt. Ich schrieb meiner Mutter und bot ihr an als Verwal¬ ter im Hause zu bleiben, sie schlug es aus und ich mußte das Gut räumen. Es kam ein wechselseitiges Testament zum Vorschein, wodurch sie im Besitz und Genuß von allem, und ich, wenigstens ihre ganze Lebenszeit über, von ihr abhängig blieb. Nun glaubte ich erst recht die Winke meines Vaters zu verstehn; ich bedauerte ihn, daß er so schwach gewesen war, auch nach seinem Tode unge¬ recht gegen mich zu seyn. Denn einige mei¬ ner Freunde wollten sogar behaupten, es sey beynah nicht besser, als ob er mich ent¬ erbt hätte, und verlangten ich sollte das Testament angreifen, wozu ich mich aber nicht entschließen konnte. Ich verehrte das Andenken meines Vaters zu sehr, ich ver¬ traute dem Schicksal, ich vertraute mir selbst. Ich hatte mit einer Dame in der Nach¬ barschaft, die große Güther besaß, immer in gutem Verhältnisse gestanden, sie nahm mich mit Vergnügen auf, und es ward mir leicht, bald ihrer Haushaltung vorzustehn. Sie lebte sehr regelmäßig und liebte die Ordnung in allem, und ich half ihr treulich in dem Kampf mit Verwalter und Gesinde. Ich bin weder geizig noch mißgünstig, aber wir Weiber bestehn überhaupt viel ernsthafter als selbst ein Mann darauf, daß nichts ver¬ schleudert werde. Jeder Unterschleif ist uns unerträglich, wir wollen daß jeder nur ge¬ nieße, in so fern er dazu berechtigt ist. Nun war ich wieder in meinem Elemente, und trauerte still über den Tod meines Va¬ ters. Meine Beschützerin war mit mir zu¬ frieden, nur ein kleiner Umstand störte meine Ruhe. Lydie kam zurück, meine Mutter war grausam genug das arme Mädchen ab¬ zustoßen, nachdem sie aus dem Grunde ver¬ dorben war. Sie hatte bey meiner Mutter gelernt Leidenschaften als Bestimmung anzu¬ sehen, sie war gewöhnt sich in nichts zu mäßigen. Als sie unvermuthet wieder er¬ schien, nahm meine Wohlthäterin auch sie auf; sie wollte mir an Handen gehn und konnte sich in nichts schicken. Um diese Zeit kamen die Verwandten und künftigen Erben meiner Dame oft ins Haus, und belustigten sich mit der Jagd. Auch Lothario war manchmal mit ihnen, ich be¬ merkte gar bald, wie sehr er sich vor allen andern auszeichnete, jedoch ohne die mindeste Beziehung auf mich selbst. Er war gegen alle höflich, und bald schien Lydie seine Aufmerk¬ samkeit auf sich zu ziehen. Ich hatte immer zu thun und war selten bey der Gesellschaft; in seiner Gegenwart sprach ich weniger als gewöhnlich, denn ich will nicht läugnen, daß eine lebhafte Unterhaltung von jeher mir die Würze des Lebens war. Ich sprach mit meinem Vater gern viel über alles was be¬ gegnete. Was man nicht bespricht, bedenkt man nicht recht. Keinem Menschen hatte ich jemals lieber zugehört als Lothario, wenn er von seinen Reisen, von seinen Feldzügen erzählte. Die Welt lag ihm so klar, so of¬ fen da, wie mir die Gegend, in der ich ge¬ wirthschaftet hatte. Ich hörte nicht etwa die wunderlichen Schicksale des Abentheurers, die übertriebenen Halbwahrheiten eines be¬ schränkten Reisenden, der immer nur seine Person an die Stelle des Landes setzt, wo¬ von er uns ein Bild zu geben verspricht; er erzählte nicht, er führte uns an die Orte selbst, ich habe nicht leicht ein so reines Ver¬ gnügen empfunden. Aber unaussprechlich war meine Zufrie¬ denheit, als ich ihn eines Abends über die Frauen reden hörte. Das Gespräch machte sich ganz natürlich; einige Damen aus der Nachbarschaft hatten uns besucht und über die Bildung der Frauen die gewöhnlichen Gespräche geführt. Man sey ungerecht ge¬ gen nnser Geschlecht, hieß es, die Männer wollten alle höhere Kultur für sich behalten, man wolle uns zu keinen Wissenschaften zu¬ lassen, man verlange, daß wir nur Tändel¬ puppen oder Haushälterinnen seyn sollten. Lothario sprach wenig zu allem diesem; als aber die Gesellschaft kleiner ward, sagte er auch hierüber offen seine Meynung. Es ist sonderbar, rief er aus, daß man es dem Manne verargt, der eine Frau an die höchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen fähig ist: und welche ist höher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit äußern Verhältnissen quält, wenn er die Besitzthümer herbey schaffen und beschützen muß, wenn er sogar an der Staatsverwal¬ tung Antheil nimmt, überall von Umstän¬ den abhängt, und, ich möchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch seyn muß, wo er gern vernünf¬ tig wäre, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu seyn wünschte, wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schönste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muß, indessen herrscht eine vernünftige Hausfrau im Innern wirk¬ lich, und macht einer ganzen Familie jede Thätigkeit, jede Zufriedenheit möglich. Was ist das höchste Glück des Menschen, als daß wir das ausführen, was wir als recht und gut einsehen? daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind. Und wo sollen, wo können unsere nächsten Zwecke liegen, als innerhalb des Hauses? alle im¬ mer wiederkehrenden, unentbehrlichen Be¬ dürfnisse, wo erwarten wir, wo fordern wir sie, als da, wo wir aufstehn und uns nie¬ derlegen, wo Küche und Keller und jede Art von Vorrath für uns und die unsrigen im¬ mer bereit seyn soll? Welche regelmäßige Thätigkeit wird erfordert, um diese immer wiederkehrende Ordnung in einer unverrück¬ ten lebendigen Folge durchzuführen? wie we¬ nig Männern ist es gegeben, gleichsam als ein Gestirn regelmäßig wiederzukehren, und dem Tage, so wie der Nacht vorzustehn? sich ihre häuslichen Werkzeuge zu bilden, zu pflanzen und zu erndten, zu verwahren und auszuspenden, und den Kreis immer mit Ruhe, Liebe und Zweckmäßigkeit zu durch¬ wandlen. Hat ein Weib einmal diese innere Herrschaft ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch zum Herrn; ihre Aufmerksamkeit erwirbt alle Kenntnisse und ihre Thätigkeit weiß sie alle zu benutzen. So ist sie von niemand abhängig und ver¬ schafft ihrem Manne die wahre Unabhängig¬ keit, die häusliche, die innere; das was er besitzt, sieht er gesichert, das was er erwirbt gut benutzt, und so kann er sein Gemüth nach großen Gegenständen wenden, und, wenn das Glück gut ist, das dem Staate seyn, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht. Er machte darauf eine Beschreibung, wie er sich eine Frau wünsche. Ich ward roth, denn er beschrieb mich, wie ich leibte und lebte. Ich genoß im Stillen meinen Triumph, um so mehr, da ich aus allen Umständen sah, daß er mich persönlich nicht gemeint hatte, daß er mich eigentlich nicht kannte, Ich erinnere mich keiner angenehmern Em¬ pfindung in meinem ganzen Leben, als daß ein Mann, den ich so sehr schätzte, nicht meiner Person, sondern meiner innersten Na¬ tur den Vorzug gab. Welche Belohnung fühlte ich! welche Aufmunterung war mir geworden! Als sie weg waren, sagte meine würdige Freundin lächelnd zu mir: Schade daß die Männer oft denken und reden, was sie doch nicht zur Ausführung kommen lassen, sonst wäre eine treffliche Partie für meine liebe Therese geradezu gefunden. Ich scherzte über ihre Äußerung, und fügte hinzu, daß zwar der Verstand der Männer sich nach Haus¬ hälterinnen umsehe, daß aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft sich nach andern Ei¬ genschaften sehne, und daß wir Haushälte¬ rinnen eigentlich gegen die liebenswürdigen und reizenden Mädchen keinen Wettstreit aushalten können. Diese Worte sagte ich Lydien zum Gehör, denn sie verbarg nicht, daß Lothario großen Eindruck auf sie ge¬ macht habe, und auch er schien bey jedem neuen Besuch immer aufmerksamer auf sie zu werden. Sie war arm, sie war nicht von Stande, sie konnte an keine Heirath mit ihm denken, aber sie konnte der Wonne nicht widerstehen, zu reizen und gereizt zu werden. Ich hatte nie geliebt und liebte auch jetzt nicht; ob es mir schon unendlich angenehm war, zu sehen, wohin meine Na¬ tur von einem so verehrten Manne gestellt und gerechnet werde, will ich doch nicht läugnen, daß ich damit nicht ganz zufrieden war Ich wünschte nun auch, daß er mich kennen, daß er persönlich Antheil an mir nehmen möchte. Es entstand bey mir dieser Wunsch ohne irgend einen bestimmten Ge¬ danken, was daraus folgen könnte. Der größte Dienst, den ich meiner Wohl¬ thäterin leistete, war, daß ich die schönen Waldungen ihrer Güter in Ordnung zu brin¬ gen suchte. In diesen köstlichen Besitzungen, deren großen Werth Zeit und Umstände im¬ mer vermehren, ging es leider nur immer nach dem alten Schlendrian fort, nirgends war Plan und Ordnung, und des Stehlens und des Unterschleifs kein Ende, manche Berge standen öde, und einen gleichen Wuchs hatten nur noch die ältesten Schläge. Ich beging alles selbst mit einem geschickten Forst¬ mann, ich ließ die Waldungen messen, ich ließ schlagen, säen, pflanzen, und in kurzer Zeit war alles im Gange. Ich hatte mir, um leichter zu Pferde fort zu kommen und auch zu Fuße nirgends gehindert zu seyn, Mannskleider machen lassen, ich war an vie¬ len Orten, und man fürchtete mich überall. Ich hörte daß die Gesellschaft junger Freunde mit Lothario wieder ein Jagen an¬ gestellt hatte, zum erstenmal in meinem Le¬ ben fiel mirs ein zu scheinen , oder daß ich mir nicht unrecht thue, in den Augen des trefflichen Mannes für das zu gelten, was ich war. Ich zog meine Mannskleider an, nahm die Flinte auf den Rücken und ging mit unserm Jäger hinaus, um die Ge¬ sellschaft an der Grenze zu erwarten. Sie kam, Lothario kannte mich nicht gleich, einer von den Neffen meiner Wohlthäterinn stellte mich ihm als einen geschickten Forstmann vor, scherzte über meine Jugend und trieb sein sein Spiel zu meinem Lobe so lange, bis endlich Lothario mich erkannte. Der Neffe secundirte meine Absicht, als wenn wir es abgeredet hätten, umständlich erzählte er, und dankbar, was ich für die Güter der Tante und also auch für ihn gethan hatte. Lothario hörte mit Aufmerksamkeit zu, unterhielt sich mit mir, fragte nach allen Verhältnissen der Güter und der Gegend, und ich war froh, meine Kenntnisse vor ihm ausbreiten zu können; ich bestand in meinem Examen sehr gut, ich legte ihm einige Vor¬ schläge zu gewissen Verbesserungen zur Prü¬ fung vor, er billigte sie, erzählte mir ähn¬ liche Beyspiele, und verstärkte meine Gründe durch den Zusammenhang, den er ihnen gab; meine Zufriedenheit wuchs mit jedem Augen¬ blick. Aber glücklicher Weise wollte ich nur gekannt, wollte nicht geliebt seyn, denn — wir kamen nach Hause, und ich bemerkte G mehr als sonst, daß die Aufmerksamkeit, die er Lydien bezeigte, eine heimliche Neigung zu verrathen schien. Ich hatte meinen End¬ zweck erreicht, und war doch nicht ruhig; er zeigte von dem Tage an eine wahre Ach¬ tung und ein schönes Vertrauen gegen mich, er redete mich in Gesellschaft gewöhnlich an, fragte mich um meine Meinung und schien besonders in Haushaltungssachen das Zu¬ trauen zu mir zu haben, als wenn ich alles wisse. Seine Theilnahme munterte mich außerordentlich auf; sogar wenn von allge¬ meiner Landesökonomie und von Finanzen die Rede war, zog er mich ins Gespräch, und ich suchte in seiner Abwesenheit mehr Kenntnisse von der Provinz, ja von dem ganzen Lande zu erlangen; es ward mir leicht, denn es wiederholte sich nur im Großen was ich im Kleinen so genau wußte und kannte. Er kam von dieser Zeit an öfter in unser Haus. Es ward, ich kann wohl sagen, von allem gesprochen, aber gewissermaßen ward unser Gespräch zuletzt immer ökonomisch, wenn auch nur im uneigentlichen Sinne. Was der Mensch durch konsequente Anwen¬ dung seiner Kräfte, seiner Zeit, seines Gel¬ des, selbst durch geringscheinende Mittel für ungeheure Wirkungen hervorbringen könne, darüber ward viel gesprochen. Ich widerstand der Neigung nicht, die mich zu ihm zog, und ich fühlte leider nur zu bald, wie sehr, wie herzlich, wie rein und aufrichtig meine Liebe war, da ich im¬ mer mehr zu bemerken glaubte, daß seine öftern Besuche Lydien und nicht mir galten. Sie wenigstens war auf das lebhafteste, da¬ von überzeugt, sie machte mich zu ihrer Ver¬ trauten, und dadurch fand ich mich noch ei¬ nigermaßen getröstet. Das, was sie so sehr G 2 zu ihrem Vortheile auslegte, fand ich kei¬ nesweges bedeutend; von der Absicht einer ernsthaften, dauernden Verbindung zeigte sich keine Spur, um so deutlicher sah ich den Hang des leidenschaftlichen Mädchens um jeden Preis die seinige zu werden. So standen die Sachen, als mich die Frau vom Hause mit einem unvermutheten Antrag überraschte; Lothario, sagte sie, bie¬ tet Ihnen seine Hand an, und wünscht Sie in seinem Leben immer zur Seite zu haben. Sie verbreitete sich über meine Eigenschaf¬ ten, und sagte mir, was ich so gerne an¬ hörte: daß Lothario überzeugt sey, in mir die Person gefunden zu haben, die er so lange gewünscht hatte. Das höchste Glück war nun für mich er¬ reicht, ein Mann verlangte mich, den ich so sehr schätzte, bey dem und mit dem ich eine völlige freye, ausgebreitete, nützliche Wirkung meiner angebohrnen Neigung, mei¬ nes durch Übung erworbenen Talents vor mir sah; die Summe meines ganzen Daseyns schien sich ins Unendliche vermehrt zu haben. Ich gab meine Einwilligung, er kam selbst, er sprach mit mir allein, er reichte mir seine Hand, er sah mir in die Augen, er umarmte mich und drückte einen Kuß auf meine Lip¬ pen. Es war der erste und letzte. Er ver¬ traute mir seine ganze Lage, was ihn sein Amerikanischer Feldzug gekostet, welche Schul¬ den er auf seine Güter geladen, wie er sich mit seinem Großoheim einigermaßen darüber entzweyt habe, wie dieser würdige Mann für ihn zu sorgen denke, aber freylich auf seine eigene Art, er wolle ihm eine reiche Frau geben, da einem wohldenkenden Mann doch nur mit einer haushältischen gedient sey; er hoffe durch seine Schwester den Al¬ ten zu bereden. Er legte mir den Zustand seines Vermögens, seine Plane, seine Aus¬ sichten vor, und erbat sich meine Mitwir¬ kung. Nur bis zur Einwilligung seines Oheims sollte es ein Geheimniß bleiben. Kaum hatte er sich entfernt, so fragte mich Lydie: ob er etwa von ihr gesprochen habe? Ich sagte nein, und machte ihr lange Weile mit Erzählung von ökonomischen Ge¬ genständen. Sie war unruhig, mißlaunig, und sein Betragen, als er wieder kam, ver¬ besserte ihren Zustand nicht. Doch ich sehe, daß die Sonne sich zu ih¬ rem Untergange neigt! Es ist Ihr Glück, mein Freund, Sie hätten sonst die Geschich¬ te, die ich mir so gerne selbst erzähle, mit allen ihren kleinen Umständen durchhören müssen. Lassen Sie mich eilen, wir nahen einer Epoche, bey der nicht gut zu verwei¬ len ist. Lothario machte mich mit seiner trefflichen Schwester bekannt, und diese wußte mich auf eine schickliche Weise beym Oheim einzu¬ führen; ich gewann den Alten, er willigte in unsere Wünsche, und ich kehrte, mit einer glücklichen Nachricht, zu meiner Wohlthä¬ terin zurück. Die Sache war im Hause nun kein Geheimnis mehr, Lydie erfuhr sie, sie glaubte etwas Unmögliches zu vernehmen. Als sie endlich daran nicht mehr zweifeln konnte, verschwand sie auf einmal, und man wußte nicht, wohin sie sich verlohren hatte. Der Tag unserer Verbindung nahte her¬ an, ich hatte ihn schon oft um sein Bildniß gebeten, und ich erinnerte ihn, eben als er wegreiten wollte, nochmals an sein Ver¬ sprechen; Sie haben vergessen, sagte er, mir das Gehäuse zu geben, wohinein Sie es ge¬ paßt wünschen. Es war so: ich hatte ein Geschenk von einer Freundin, das ich sehr werth hielt. Von ihren Haaren war ein verzogener Nahme unter dem äußern Glase befestigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemahlt werden sollte, als sie mir unglücklicher Weise durch den Tod entrissen wurde. Lothario’s Neigung beglückte mich in dem Augenblicke, da mir ihr Verlust noch sehr schmerzhaft war, und ich wünschte die Lücke, die sie mir in ihrem Geschenk zurückgelassen hatte, durch das Bild meines Freundes auszufüllen. Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckkästchen, und eröfne es in seiner Ge¬ genwart; kaum sieht er hinein, so erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauen¬ zimmers, er nimmt es in die Hand, betrach¬ tet es mit Aufmerksamkeit, und fragt hastig: wen soll dies Portrait vorstellen? — Meine Mutter, versetzte ich — hätt’ ich doch ge¬ schworen, rief er aus, es sey das Portrait einer Frau von Saint Alban, die ich vor einigen Jahren in der Schweitz antraf — es ist einerley Person, versetzte ich lächelnd, und Sie haben also Ihre Schwiegermutter, ohne es zu wissen, kennen gelernt. Saint Alban ist der romantische Nahme, unter dem meine Mutter reist, sie befindet sich unter denselben noch gegenwärtig in Frank¬ reich. Ich bin der unglücklichste aller Menschen! rief er aus, indem er das Bild in das Käst¬ chen zurück warf, seine Augen mit der Hand bedeckte und sogleich das Zimmer verließ. Er warf sich auf sein Pferd, ich lief auf den Balkon und rief ihm nach, er kehrte sich um warf mir eine Hand zu, entfernte sich ei¬ lig — und ich habe ihn nicht wieder gesehen. Die Sonne ging unter, Therese sah mit unverwandtem Blick in die Gluth, und ihre beyden schönen Augen füllten sich mit Thränen. Therese schwieg, und legte auf ihres neuen Freundes Hände ihre Hand, er küßte sie mit Theilnehmung, sie trocknete ihre Thrä¬ nen, und stand auf. Lassen Sie uns zurück ge¬ hen, sagte sie, und für die Unsrigen sorgen! Das Gespräch auf dem Wege war nicht lebhaft; sie kamen zur Gartenthüre herein, und sahen Lydien auf einer Bank sitzen, sie stand auf, wich ihnen aus, und begab sich ins Haus zurück, sie hatte ein Papier in der Hand, und zwey kleine Mädchen waren bey ihr. Ich sehe, sagte Therese, sie trägt ihren einzigen Trost, den Brief Lothario’s, noch immer bey sich, ihr Freund verspricht ihr, daß sie gleich, sobald er sich wohl befindet, wieder an seiner Seite leben soll, er bittet sie, so lange ruhig bey mir zu verweilen. An diesen Worten hängt sie, mit diesen Zeilen tröstet sie sich, aber seine Freunde sind übel bey ihr angeschrieben. Indessen waren die beyden Kinder heran¬ gekommen, begrüßten Theresen, und gaben ihr Rechenschaft von allem, was in ihrer Abwesenheit im Hause vorgegangen war. Sie sehen hier noch einen Theil meiner Be¬ schäftigung, sagte Therese, ich habe mit Lo¬ thario’s trefflicher Schwester einen Bund ge¬ macht, wir erziehen eine Anzahl Kinder ge¬ meinschaftlich, ich bilde die lebhaften und dienstfertigen Haushälterinnen, und sie über¬ nimmt diejenigen, an denen sich ein ruhige¬ res und feineres Talent zeigt, denn es ist billig, daß man auf jede Weise für das Glück der Männer und der Haushaltung sorge. Wenn Sie meine edle Freundin ken¬ nen lernen, so werden Sie ein neues Leben anfangen, ihre Schönheit, ihre Güte macht sie der Anbetung einer ganzen Welt würdig. Wilhelm getraute sich nicht zu sagen, daß er leider die schöne Gräfin schon kenne, und daß ihn sein vorübergehendes Verhältnis zu ihr auf ewig schmerzen werde; er war sehr zufrieden, daß Therese das Gespräch nicht fortsetzte, und daß ihre Geschäfte sie in das Haus zurück zu gehen nöthigten. Er befand sich nun allein, und die letzte Nachricht, daß die junge, schöne Gräfin auch schon genö¬ thigt sey durch Wohlthätigkeit den Mangel an eignem Glück zu ersetzen, machte ihn äußerst traurig, er fühlte, daß es bey ihr nur eine Nothwendigkeit war sich zu zer¬ streuen, und an die Stelle eines frohen Le¬ bensgenusses die Hoffnung fremder Glückse¬ ligkeit zu setzen. Er pries Theresen glücklich, daß selbst bey jener unerwarteten traurigen Veränderung keine Veränderung in ihr selbst vorzugehen brauchte. Wie glücklich ist der über alles! rief er aus, der, um sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu setzen, nicht sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬ fen braucht. Therese kam auf sein Zimmer, und bat um Verzeihung, daß sie ihn störe, hier in dem Wandschrank, sagte sie, steht meine ganze Bibliothek, es sind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬ die verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darun¬ ter. Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Noth geistlich seyn, sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet, sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause los werden kann; ich aber ge¬ stehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬ griff als von einer Diät, die eben dadurch nur Diät ist, wenn ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht außer Augen lasse. Sie suchten unter den Büchern, und fan¬ den einige sogenannte Erbauungsschriften. Die Zuflucht zu diesen Büchern, sagte The¬ rese, hat Lydie von meiner Mutter gelernt; Schauspiel und Roman waren ihr Leben, so lang der Liebhaber treu blieb, seine Entfer¬ nung brachte sogleich diese Bücher wieder in Credit. Ich kann überhaupt nicht begreifen, fuhr sie fort, wie man hat glauben können, daß Gott durch Bücher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittel¬ bar eröffnet, was sie für ein Verhältnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind unsern Irrthü¬ mern Nahmen zu geben. Sie ließ Wilhelmen allein, und er brachte seinen Abend mit Revision der kleinen Bi¬ bliothek zu, sie war wirklich bloß durch Zu¬ fall zusammen gekommen. Therese blieb die wenigen Tage, die Wil¬ helm bey ihr verweilte, sich immer gleich, sie erzählte ihm die Folgen ihrer Begebenheit in verschiedenen Absätzen sehr umständlich, ihrem Gedächtniß war Tag und Stunde, Platz und Nahme gegenwärtig, und wir ziehen, was unsern Lesern zu wissen nöthig ist, hier ins kurze zusammen. Die Ursache von Lothario’s rascher Ent¬ fernung ließ sich leider leicht erklären, er war Theresens Mutter auf ihrer Reise be¬ gegnet, ihre Reize zogen ihn an, sie war nicht karg gegen ihn, und nun entfernte ihn dieses unglückliche, schnell vorübergegangene Abentheuer, von der Verbindung mit einem Frauenzimmer, das die Natur selbst für ihn gebildet zu haben schien. Therese blieb in dem reinen Kreise ihrer Beschäftigung und ihrer Pflicht, man erfuhr, daß Lydie sich heimlich in der Nachbarschaft aufgehalten habe, sie war glücklich, als die Heirath, ob¬ gleich aus unbekannten Ursachen, nicht voll¬ zogen wurde, sie suchte sich Lothario zu nä¬ hern, und es schien, daß er mehr aus Ver¬ zweiflung, als aus Neigung, mehr überrascht, als mit Überlegung, mehr aus langer Wei¬ le, als aus Vorsatz ihren Wünschen begeg¬ net sey. Therese war ruhig darüber, sie machte keine weitern Ansprüche auf ihn, und selbst wenn er ihr Gatte gewesen wäre, hätte sie vielleicht Muth genug gehabt, ein solches Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre häusliche Ordnung nicht gestört hätte; we¬ nigstens äußerte sie oft, daß eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne Manne jede kleine Phantasie nachsehen, und von seiner Rückkehr jederzeit gewis seyn könne. Theresens Mutter hatte bald die Angele¬ genheiten ihres Vermögens in Unordnung gebracht, ihre Tochter mußte es entgelten, denn sie erhielt wenig von ihr; die alte Da¬ me, Theresens Beschützerinn, starb, hinter¬ ließ ihr das kleine Freygut und ein artiges Capital zum Vermächtniß. Therese wußte sich sogleich in den engen Kreiß zu finden, Lothario bot ihr ein besseres Besitzthum an, Jarno machte den Unterhändler, sie schlug es aus; ich will, sagte sie, im Kleinen zei¬ gen, daß ich werth war, das Große mit ihm zu theilen, aber das behalte ich mir vor, daß, wenn der Zufall mich um mein oder anderer Willen in Verlegenheit setzt, ich zu¬ erst zu meinem werthen Freund, ohne Be¬ denken, die Zuflucht nehmen könne. H Nichts bleibt weniger verborgen und un¬ genutzt, als zweckmäßige Thätigkeit. Kaum hatte sie sich auf ihrem kleinen Gute einge¬ richtet, so suchten die Nachbarn schon ihre nähere Bekanntschaft und ihren Rath, und der neue Besitzer der angrenzenden Güter gab nicht undeutlich zu verstehen, daß es nur auf sie ankomme, ob sie seine Hand an¬ nehmen und Erbe des größten Theils seines Vermögens werden wolle. Sie hatte schon gegen Wilhelmen dieses Verhältnisses er¬ wähnt, und scherzte gelegentlich über Heira¬ then und Mißheirathen mit ihm. Es giebt, sagte sie, den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Hei¬ rath geschieht, die sie nach ihrer Art eine Mißheirath nennen können, und doch sind die Mißheirathen viel gewöhnlicher als die Heirathen; denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar mißlich aus. Die Vermischung der Stän¬ de durch Heirathen verdienen nur in so fern Mißheirathen genannt zu werden, als Ein Theil an der angebohrnen, angewohnten und gleichsam nothwendig gewordenen Existenz des andern keinen Theil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Le¬ bensweisen, die sie nicht mit einander thei¬ len noch verwechseln können, und das ists, warum Heirathen dieser Art besser nicht ge¬ schlossen werden; aber Ausnahmen und recht glückliche Ausnahmen sind möglich. So ist die Heirath eines jungen Mädchens mit ei¬ nem bejahrten Manne immer mißlich, und doch habe ich sie recht gut ausschlagen sehen. Für mich kenne ich nur Eine Mißheirath, wenn ich feyern und repräsentiren müßte; ich wollte lieber jeden ehrbaren Pächterssohn aus der Nachbarschaft heirathen. Wilhelm gedachte nunmehr zurück zu keh¬ H 2 ren, und bat seine neue Freundin ihm noch ein Abschiedswort von Lydien zu verschaffen. Das leidenschaftliche Mädchen ließ sich bewe¬ gen, er sagte ihr einige freundliche Worte, sie versetzte: den ersten Schmerz hab ich über¬ wunden, Lothario wird mir ewig theuer seyn; aber seine Freunde kenne ich, es ist mir leid, daß er so umgeben ist. Der Abbé wäre fä¬ hig, wegen einer Grille die Menschen in Noth zu lassen, oder sie gar hinein zu stür¬ zen, der Arzt möchte gern alles ins Gleiche bringen, Jarno hat kein Gemüth, und Sie — wenigstens keinen Character! fahren Sie nur so fort, und lassen Sie sich als Werkzeug dieser drey Menschen brauchen, man wird Ihnen noch manche Execution auftragen. Lange, mir ist es recht wohl bekannt, war ihnen meine Gegenwart zuwider, ich hatte ihr Geheimniß nicht entdeckt, aber ich hatte beobachtet, daß sie ein Geheimniß verbar¬ gen. Wozu diese verschlossenen Zimmer? diese wunderlichen Gänge? warum kann nie¬ mand zu dem großen Thurm gelangen? Warum verbannten sie mich, so oft Sie nur konnten, in meine Stube? Ich will ge¬ stehen, daß Eifersucht zuerst mich auf diese Entdeckung brachte, ich fürchtete eine glück¬ liche Nebenbuhlerin sey irgendwo versteckt. Nun glaube ich das nicht mehr, ich bin über¬ zeugt, daß Lothario mich liebt, daß er es redlich mit mir meint, aber eben so gewis bin ich überzeugt, daß er von seinen künst¬ lichen und falschen Freunden betrogen wird. Wenn Sie sich um ihn verdient machen wol¬ len, wenn Ihnen verziehen werden soll, was Sie an mir verbrochen haben, so befreien Sie ihn aus den Händen dieser Menschen. Doch was hoffe ich! »überreichen Sie ihm diesen Brief, wiederholen Sie, was er ent¬ hält: daß ich ihn ewig lieben werde, daß ich mich auf sein Wort verlasse. Ach! rief sie aus, indem sie aufstand und am Halse The¬ resens weinte; er ist von meinen Feinden umgeben, sie werden ihn zu bereden suchen, daß ich ihm nichts aufgeopfert habe; o! der beste Mann mag gerne hören, daß er jedes Opfer werth ist, ohne dafür dankbar seyn zu dürfen. Wilhelms Abschied von Theresen war heiterer, sie wünschte ihn bald wieder zu sehen. Sie kennen mich ganz! sagte sie, Sie haben mich immer reden lassen, es ist das nächstemal Ihre Pflicht meine Aufrich¬ tigkeit zu erwiedern. Auf seiner Rückreise hatte er Zeit genug, diese neue, helle Erscheinung lebhaft in der Erinnerung zu betrachten. Welch ein Zu¬ trauen hatte sie ihm eingeflößt! Er dachte an Mignon und Felix, wie glücklich die Kin¬ der unter einer solchen Aufsicht werden könn¬ ten, dann dachte er an sich selbst, und fühlte, welche Wonne es seyn müsse, in der Nähe eines so ganz klaren menschlichen Wesens zu leben. Als er sich dem Schloß näherte, fiel ihm der Thurm mit den vielen Gängen und Seitengebäuden mehr als sonst auf, er nahm sich vor, bey der nächsten Gelegenheit Jarno oder den Abbé darüber zur Rede zu stellen. Siebentes Capitel . A ls Wilhelm nach dem Schlosse kam, fand er den edlen Lothario auf dem völligen Wege der Besserung, der Arzt und der Abbé wa¬ ren nicht zugegen, Jarno allein war geblie¬ ben. In kurzer Zeit ritt der Genesende schon wieder aus, bald allein, bald mit seinen Freunden. Sein Gespräch war ernsthaft und gefällig, seine Unterhaltung belehrend und erquickend, oft bemerkte man Spuren einer zarten Fühlbarkeit, ob er sie gleich zu ver¬ bergen suchte, und, wenn sie sich wider sei¬ nen Willen zeigte, beynah zu mißbilligen schien. So war er eines Abends still bey Tische, ob er gleich heiter aussah. Sie haben heute gewis ein Abentheuer gehabt? sagte endlich Jarno, und zwar ein angenehmes. Wie Sie sich auf Ihre Leute verstehen! versetzte Lothario: Ja, es ist mir ein sehr angenehmes Abentheuer begegnet. Zu einer andern Zeit hätte ich es vielleicht nicht so reizend gefunden, als diesmal, da es mich so empfänglich antraf. Ich ritt gegen Abend jenseit des Wassers durch die Dörfer, einen Weg, den ich oft genug in frühern Jahren besucht hatte. Mein körperliches Leiden muß mich mürber gemacht haben, als ich selbst glaubte. Ich fühlte mich weich, und, bey wieder auflebenden Kräften, wie neugeboh¬ ren. Alle Gegenstände erschienen mir in eben dem Lichte, wie ich sie in frühern Jah¬ ren gesehen hatte; alle so lieblich, so anmu¬ thig, so reizend, wie sie mir lange nicht er¬ schienen sind. Ich merkte wohl, daß es Schwachheit war, ich ließ mir sie aber ganz wohlgefallen, ritt sachte hin, und es wurde mir ganz begreiflich, wie Menschen eine Krankheit lieb gewinnen können, welche uns zu süßen Empfindungen stimmt. Sie wissen vielleicht, was mich ehmals so oft diesen Weg führte? Wenn ich mich recht erinnere, versetzte Jarno, so war es ein kleiner Liebeshandel, der sich mit der Tochter eines Pachters ent¬ sponnen hatte. Man dürfte es wohl einen großen nen¬ nen, versetzte Lothario, denn wir hatten uns beyde sehr lieb, recht im Ernste, und auch ziemlich lange. Zufälligerweise traf heute al¬ les zusammen, mir die ersten Zeiten unserer Liebe recht lebhaft darzustellen. Die Knaben schüttelten eben wieder Maykäfer von den Bäumen, und das Laub der Eschen war nicht weiter als eben an dem Tage, da ich sie zum erstenmale sah. Nun war es lange, daß ich Margarethen nicht gesehen habe; denn sie ist weit weg verheirathet, nur hörte ich zufällig, sie sey mit ihren Kindern vor wenigen Wochen gekommen, ihren Vater zu besuchen. So war ja wohl dieser Spatzierritt nicht so ganz zufällig? Ich leugne nicht, sagte Lothario, daß ich sie anzutreffen wünschte. Als ich nicht weit von dem Wohnhaus war, sah ich ihren Va¬ ter vor der Thüre sitzen, ein Kind von ohn¬ gefähr Einem Jahre stand bey ihm. Als ich mich näherte, sah eine Frauensperson schnell oben zum Fenster heraus, und als ich gegen die Thüre kam, hörte ich jemand die Treppe herunter springen. Ich dachte gewiß, sie sey es, und, ich wills nur gestehen, ich schmei¬ chelte mir, sie habe mich erkannt, und sie komme mir eilig entgegen. Aber wie be¬ schämt war ich, als sie zur Thüre heraus sprang, das Kind, dem die Pferde näher ka¬ men, anfaßte, und in das Haus hineintrug. Es war mir eine unangenehme Empfindung, und nur wurde meine Eitelkeit ein wenig getröstet, als ich, wie sie hinweg eilte, an ihrem Nacken und an dem freystehenden Ohr eine merkliche Röthe zu sehen glaubte. Ich hielt still und sprach mit dem Vater, und schielte indessen an den Fenstern herum, ob sie sich nicht hier oder da blicken ließe; allein ich bemerkte keine Spur von ihr. Fra¬ gen wollt ich auch nicht, und so ritt ich vor¬ bey. Mein Verdruß wurde durch Verwun¬ derung einigermaßen gemildert, denn ob ich gleich kaum das Gesicht gesehen hatte, so schien sie mir fast gar nicht verändert, und zehn Jahre sind doch eine Zeit! ja sie schien mir jünger, eben so schlank, eben so leicht auf den Füßen, der Hals wo möglich noch zierlicher als vorher, ihre Wange eben so leicht der liebenswürdigen Röthe empfäng¬ lich, dabey Mutter von sechs Kindern, viel¬ leicht noch von mehrern; es paßte diese Er¬ scheinung so gut in die übrige Zauberwelt, die mich umgab, daß ich nur um so mehr mit einem verjüngten Gefühl weiter ritt, und an dem nächsten Walde erst umkehrte, als die Sonne im Untergehen war. So sehr mich auch der fallende Thau an die Vor¬ schrift des Arztes erinnerte, und es wohl räthlicher gewesen wäre gerade nach Hause zu kehren, so nahm ich doch wieder meinen Weg nach der Seite des Pachthofs zurück. Ich bemerkte, daß ein weibliches Geschöpf in dem Garten auf und nieder ging, der mit einer leichten Hecke umzogen ist. Ich ritt auf dem Fußpfade nach der Hecke zu, und ich fand mich eben nicht weit von der Person, nach der ich verlangte. Ob mir gleich die Abendsonne in den Au¬ gen lag, sah ich doch, daß sie sich am Zaune beschäftigte, der sie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an sie kam, hielt ich still, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Rosen, die eine leise Luft hin und her wehte, machten mir ihre Gestalt undeut¬ lich. Ich redete sie an, und fragte wie sie lebe? Sie antwortete mir mit halber Stim¬ me: ganz wohl. Indeß bemerkte ich, daß ein Kind hinter dem Zaune beschäftigt war Blumen auszureissen, und nahm die Gele¬ genheit sie zu fragen: wo denn ihre übrigen Kinder seyen? Es ist nicht mein Kind, sagte sie, das wäre früh! und in diesem Augen¬ blick schickte sichs, daß ich durch die Zweige ihr Gesicht genau sehen konnte, und ich wußte nicht, was ich zu der Erscheinung sa¬ gen sollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Fast jünger, fast schöner als ich sie vor zehen Jahren gekannt hatte. Sind Sie denn nicht die Tochter des Pachters? fragte ich halb verwirrt. Nein, sagte sie, ich bin ihre Muhme. Aber Sie gleichen einander so außeror¬ dentlich, versetzte ich. Das sagt jedermann, der sie vor zehen Jahren gekannt hat. Ich fuhr fort sie verschiedenes zu fragen, mein Irrthum war mir angenehm, ob ich ihn gleich schon entdeckt hatte. Ich konnte mich von dem lebendigen Bilde voriger Glück¬ seeligkeit, das vor mir stand, nicht los reissen. Das Kind hatte sich indessen von ihr ent¬ fernt, und war Blumen zu suchen nach dem Teiche gegangen. Sie nahm Abschied, und eilte dem Kinde nach. Indessen hatte ich doch erfahren, daß meine alte Geliebte noch wirklich in dem Hause ihres Vaters sey, und indem ich ritt, beschäftigte ich mich mit Muthmaßungen, ob sie selbst, oder die Muhme das Kind vor den Pferden gesichert habe? Ich wiederholte mir die ganze Geschichte mehrmals im Sinne, und ich wüßte nicht leicht, daß irgend etwas angenehmer auf mich gewirkt hätte. Aber ich fühle wohl, ich bin noch krank, und wir wollen den Doctor bitten, daß er uns von dem Überreste dieser Stimmung erlöse. Es pflegt in vertraulichen Bekenntnissen anmuthiger Liebesbegebenheiten wie mit Ge¬ spenstergeschichten zu gehen, ist nur erst eine erzählt, so fließen die übrigen von selbst zu. Unsere kleine Gesellschaft fand in der Rückerinnerung vergangener Zeiten manchen Stoff dieser Art. Lothario hatte am meisten zu erzählen. Jarno’s Geschichten trugen alle einen eignen Character, und was Wilhelm zu gestehen hatte, wissen wir schon. Indes¬ sen war ihm bange, daß man ihn an die Ge¬ Geschichte mit der Gräfin erinnern möchte, allein niemand dachte derselben auch nur auf die entfernteste Weise. Es ist wahr, sagte Lothario, angenehmer kann keine Empfindung in der Welt seyn, als wenn das Herz nach einer gleichgültigen Pause sich der Liebe zu einem neuen Gegen¬ stande wieder eröfnet, und doch wollt ich diesem Glück für mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen hätte verbinden wollen. Man ist nicht immer Jüngling, und man sollte nicht immer Kind seyn. Dem Manne, der die Welt kennt, der weiß, was er darin zu thun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann ihm er¬ wünschter seyn, als eine Gattin zu finden, die überall mit ihm wirkt, und die ihm alles vorzubereiten weiß, deren Thätigkeit dasje¬ nige aufnimmt, was die seinige liegen lassen muß, deren Geschäftigkeit sich nach allen J Seiten verbreitet, wenn die seinige nur ei¬ nen geraden Weg fortgehen darf; welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen geträumt, nicht den Himmel eines schwärmerischen Glücks, sondern eines sichern Lebens auf der Erde. Ordnung im Glück, Muth im Un¬ glück, Sorge für das Geringste, und eine Seele, fähig das Größte zu fassen und wie¬ der fahren zu lassen. O! ich sah in ihr gar wohl di e Anlagen, deren Entwickelung wir bewundern, wenn wir in der Geschichte Frauen sehen, die uns weit vorzüglicher als alle Männer erscheinen; diese Klarheit über die Umstände; diese Gewandtheit in allen Fällen; diese Sicherheit im einzelnen, wodurch das Ganze sich immer so gut befindet, ohne daß sie jemals daran zu denken scheinen. Sie können wohl, fuhr er fort, indem er sich lächelnd gegen Wilhelmen wendete, mir ver¬ zeihen, wenn Therese mich Aurelien entführte, mit jener konnte ich ein heitres Leben hof¬ fen, da bey dieser auch nicht an eine glück¬ liche Stunde zu denken war. Ich leugne nicht, versetzte Wilhelm, daß ich mit großer Bitterkeit im Herzen gegen Sie hierher gekommen bin, und daß ich mir vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen Aurelien sehr streng zu tadeln. Auch verdient es Tadel, versetzte Lotha¬ rio, ich hätte meine Freundschaft zu ihr nicht mit dem Gefühl der Liebe verwechseln sollen, ich hätte nicht an die Stelle der Achtung, die sie verdiente, eine Neigung eindrängen sollen, die sie weder erregen, noch erhalten konnte. Ach! sie war nicht liebenswürdig, wenn sie liebte, und das ist das größte Un¬ glück, das einem Weibe begegnen kann. Es sey drum, versetzte Wilhelm, wir kön¬ nen nicht immer das Tadelnswerthe vermei¬ den, nicht vermeiden, daß unsere Gesinnun¬ J 2 gen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer natürlichen und guten Rich¬ tung abgelenkt werden; aber gewisse Pflich¬ ten sollten wir niemals aus den Augen setzen. Die Asche der Freundin ruhe sanft, wir wol¬ len, ohne uns zu schelten und sie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab streuen. Aber bey dem Grabe, in welchem die unglückliche Mutter ruht, lassen Sie mich fragen, war¬ um sie sich des Kindes nicht annehmen? ei¬ nes Sohnes, dessen sich jedermann erfreuen würde, und den sie ganz und gar zu ver¬ nachläßigen scheinen. Wie können Sie, bey Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬ ben diese ganze Zeit noch mit keiner Sylbe an das köstliche Geschöpf gedacht, von des¬ sen Anmuth so viel zu erzählen wäre. Von wem reden Sie? versetzte Lothario, ich verstehe Sie nicht. Von wem anders, als von Ihrem Sohne, dem Sohne Aureliens, dem schönen Kinde, dem zu seinem Glücke nichts fehlt, als daß ein zärtlicher Vater sich seiner annimmt? Sie irren sehr, mein Freund, versetzte Lothario, Aurelie hatte keinen Sohn, am we¬ nigsten von mir, ich weiß von keinem Kinde, sonst würde ich mich dessen mit Freuden an¬ nehmen, aber auch im gegenwärtigen Falle will ich gern das kleine Geschöpf als eine Verlassenschaft von ihr ansehen, und für seine Erziehung sorgen; hat sie sich denn ir¬ gend etwas merken lassen, daß der Knabe ihr, daß er mir zugehöre? Nicht daß ich mich erinnere, ein ausdrück¬ liches Wort von ihr gehört zu haben, es war aber einmal so angenommen, und ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt. Ich kann, fiel Jarno ein, einigen Auf¬ schluß hierüber geben; ein altes Weib, das Sie oft müssen gesehen haben, brachte das Kind zu Aurelien, sie nahm es mit Leiden¬ schaft auf, und hoffte ihre Leiden durch seine Gegenwart zu lindern: auch hat es ihr man¬ chen vergnügten Augenblick gemacht. Wilhelm war durch diese Entdeckung sehr unruhig geworden, er gedachte des guten Mignons neben dem schönen Felix auf das lebhafteste, er zeigte seinen Wunsch, die bey¬ den Kinder aus der Lage, in der sie sich be¬ fanden, heraus zu ziehen. Wir wollen damit bald fertig seyn, ver¬ setzte Lothario, das wunderliche Mädchen übergeben wir Theresen, sie kann unmöglich in bessere Hände gerathen, und was den Knaben betrifft, den, dächt’ ich, nähmen Sie selbst zu sich; denn was selbst die Frauen an uns ungebildet zurück lassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben. Überhaupt dächte ich, versetzte Jarno, Sie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben. Wilhelm war betroffen, er mußte sich zu¬ sammen nehmen, denn Jarno’s harte Worte hatten seine Eigenliebe nicht wenig verletzt. Wenn Sie mich davon überzeugen, versetzte er mit gezwungenen Lächeln, so werden Sie mir einen Dieust erweisen, ob es gleich nur ein trauriger Dienst ist, wenn man uns aus einem Lieblingstraume aufschüttelt. Ohne viel weiter darüber zu reden, ver¬ setzte Jarno, möchte ich Sie nur antreiben, erst die Kinder zu holen, das übrige wird sich schon geben. Ich bin bereit dazu, versetzte Wilhelm, ich bin unruhig und neugierig, ob ich nicht von dem Schicksal des Knaben etwas nähe¬ res entdecken kann; ich verlange das Mäd¬ chen wieder zu sehen, das sich mit so vieler Eigenheit an mich angeschlossen hat. Man ward einig, daß er bald abreisen sollte. Den andern Tag hatte er sich dazu vor¬ bereitet, das Pferd war gesattelt, nur wollte er noch von Lothario Abschied nehmen. Als die Essenzeit herbey kam, setzte man sich wie gewöhnlich zu Tische, ohne auf ihn zu war¬ ten, er kam erst spät, und setzte sich zu ihnen. Ich wollte wetten, sagte Jarno, Sie ha¬ ben heute Ihr zärtliches Herz wieder auf die Probe gestellt, Sie haben der Begierde nicht widerstehen können, Ihre ehemalige Geliebte wieder zu sehen. Errathen! versetzte Lothario. Lassen Sie uns hören, sagte Jarno, wie ist es abgelaufen? ich bin äußerst neugierig. Ich leugne nicht, versetzte Lothario, daß mir das Abentheuer mehr als billig auf dem Herzen lag, ich faßte daher den Entschluß nochmals hinzureiten, und die Person wirk¬ lich zu sehen, deren verjüngtes Bild mir eine so angenehme Illusion gemacht hatte. Ich stieg schon in einiger Entfernung vom Hause ab, und ließ die Pferde bey Seite führen, um die Kinder nicht zu stöhren, die vor dem Thore spielten. Ich ging in das Haus, und von ohngefähr kam sie mir entgegen, denn sie war es selbst, und ich erkannte sie ohn¬ geachtet der großen Veränderung wieder. Sie war stärker geworden, und schien größer zu seyn; ihre Anmuth blickte durch ein ge¬ setztes Wesen hindurch, und ihre Munterkeit war in ein stilles Nachdenken übergegangen. Ihr Kopf, den sie sonst so leicht und frey trug, hing ein wenig gesenkt, und leise Fal¬ ten waren über ihre Stirne gezogen. Sie schlug die Augen nieder, als sie mich sah, aber keine Röthe verkündigte eine in¬ nere Bewegung des Herzens. Ich reichte ihr die Hand, sie gab mir die ihrige; ich fragte nach ihrem Manne, er war abwesend, nach ihren Kindern, sie trat an die Thüre und rief sie herbey, alle kamen und versam¬ melten sich um sie. Es ist nichts reizender, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrwürdiger, als eine Mutter unter vielen Kindern. Ich fragte nach den Nahmen der Kleinen, um doch nur etwas zu sagen, sie bat mich hin¬ ein zu treten und auf ihren Vater zu war¬ ten. Ich nahm es an; sie führte mich in die Stube, wo ich beynahe noch alles auf dem alten Platze fand, und — sonderbar! die schöne Muhme, ihr Ebenbild, saß auf eben dem Schemmel hinter dem Spinnrocken, wo ich meine Geliebte in eben der Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines Mäd¬ chen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüthen und Früchte stufenweis neben ein¬ ander leben. Die Muhme ging hinaus, ei¬ nige Erfrischung zu holen, ich gab dem ehe¬ mals so geliebten Geschöpfe die Hand, und sagte zu ihr: ich habe eine rechte Freude, Sie wieder zu sehen. — Sie sind sehr gut, mir das zu sagen, versetzte sie; aber auch ich kann Ihnen versichern, daß ich eine un¬ aussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, Sie nur noch Einmal in meinem Leben wieder zu sehen, ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich für meine letzten hielt; sie sagte das mit einer gesetzten Stimme, ohne Rührung, mit jener Natür¬ lichkeit, die mich ehemals so sehr an ihr ent¬ zückte. Die Muhme kam wieder, ihr Vater dazu — und ich überlasse euch zu denken, mit welchem Herzen ich blieb, und mit wel¬ chem ich mich entfernte. Achtes Capitel . W ilhelm hatte auf seinem Wege nach der Stadt die edlen weiblichen Geschöpfe, die er kannte und von denen er gehört hatte, im Sinne, ihre sonderbaren Schicksale, die we¬ nig erfreuliches enthielten, waren ihm schmerz¬ lich gegenwärtig. Ach! rief er aus, arme Mariane! was werde ich noch von dir er¬ fahren müssen? und dich, herrliche Amazone, edler Schutzgeist, dem ich so viel schuldig bin, dem ich überall zu begegnen hoffe, und den ich leider nirgends finde, in welchen traurigen Umständen treff ich dich vielleicht, wenn du mir einst wieder begegnest. In der Stadt war niemand von seinen Bekannten zu Hause; er eilte auf das Thea¬ ter; er glaubte, sie in der Probe zu finden, alles war still, das Haus schien leer, doch sah er einen Laden offen. Als er auf die Bühne kam, fand er Aureliens alte Diene¬ rinn beschäftigt Leinwand zu einer neuen De¬ coration zusammen zu nähen, es fiel nur so viel Licht herein, als nöthig war ihre Arbeit zu erhellen; Felix und Mignon saßen neben ihr auf der Erde, beyde hielten ein Buch, und indem Mignon laut las, sagte ihr Fe¬ lix alle Worte nach, als wenn er die Buch¬ staben kennte, als wenn er auch zu lesen verstünde. Die Kinder sprangen auf und begrüßten den Ankommenden; er umarmte sie aufs zärt¬ lichste, und führte sie näher zu der Alten. Bist Du es? sagte er zu ihr mit Ernst, die dieses Kind Aurelien zugeführt hatte; sie sah von ihrer Arbeit auf, und wendete ihr Ge¬ sicht zu ihm, er sah sie in vollem Lichte, er¬ schrack, trat einige Schritte zurück, es war die alte Barbara. Wo ist Mariane? rief er aus, — weit von hier, versetzte die Alte. Und Felix? Ist der Sohn dieses unglücklichen nur all¬ zuzärtlich liebenden Mädchens? Möchten Sie niemals empfinden, was Sie uns gekostet haben, möchte der Schatz, den ich Ihnen überliefere, Sie so glücklich machen, als er uns unglücklich gemacht hat. Sie stand auf, um wegzugehen, Wilhelm hielt sie fest; ich denke Ihnen nicht zu ent¬ laufen, sagte Sie, lassen Sie mich ein Do¬ cument holen, das Sie erfreuen und schmer¬ zen wird. Sie entfernte sich, und Wilhelm sah den Knaben mit einer ängstlichen Freude an, er durfte sich das Kind noch nicht zu¬ eignen. Er ist Dein, rief Mignon, er ist Dein! und drückte das Kind an Wilhelms Knie. Die Alte kam, und überreichte ihm einen Brief. Hier sind Marianens letzte Worte, sagte sie. Sie ist todt! rief er aus. Todt! sagte die Alte; möchte ich Ihnen doch alle Vorwürfe ersparen können. Überrascht und verwirrt erbrach Wilhelm den Brief; er hatte aber kaum die ersten Worte gelesen, als ihn ein bittrer Schmerz ergriff, er ließ den Brief fallen, stürzte auf eine Rasenbank, und blieb eine Zeit lang liegen. Mignon bemühte sich um ihn. In¬ dessen hatte Felix den Brief aufgehoben, und zerrte seine Gespielinn so lange, bis diese nachgab, und zu ihm kniete und ihm vorlas. Felix wiederholte die Worte, und Wilhelm war genöthigt sie zweymal zu hören. »Wenn dieses Blatt jemals zu Dir kommt, so be¬ daure Deine unglückliche Geliebte, Deine Liebe hat ihr den Tod gegeben, der Knabe, dessen Geburt ich nur wenige Tage überlebe, ist ist Dein, ich sterbe Dir treu, so sehr der Schein auch gegen mich sprechen mag; mit Dir verlohr ich alles, was mich an das Le¬ ben fesselte. Ich sterbe zufrieden, da man mir versichert, das Kind sey gesund und werde leben. Höre die alte Barbara, verzeih ihr, leb wohl und vergiß mich nicht.« Welch ein schmerzlicher und noch zu sei¬ nem Troste halb räzelhafter Brief! dessen Inhalt ihm erst recht fühlbar ward, da ihn die Kinder stockend und stammelnd vortru¬ gen und wiederholten. Da haben Sie es nun! rief die Alte, ohne abzuwarten, bis er sich erholt hatte; danken Sie dem Himmel, daß, nach dem Verluste eines so guten Mädchens, Ihnen noch ein so vortreffliches Kind übrig bleibt. Nichts wird Ihrem Schmerze gleichen, wenn Sie vernehmen, wie das gute Mädchen Ih¬ nen bis ans Ende treu geblieben, wie un¬ K glücklich sie geworden ist, und was sie Ih¬ nen alles aufgeopfert hat. Laß mich den Becher des Jammers und der Freuden, rief Wilhelm aus, auf einmal trinken! überzeuge mich, ja überrede mich nur, daß sie ein gutes Mädchen war, daß sie meine Achtung wie meine Liebe verdiente, und überlaß mich dann meinen Schmerzen über ihren unersetzlichen Verlust. Es ist jetzt nicht Zeit, versetzte die Alte, ich habe zu thun, und wünschte nicht, daß man uns beysammen fände. Lassen Sie es ein Geheimniß seyn, daß Felix Ihnen ange¬ hört; ich hätte über meine bisherige Verstel¬ lung zu viel Vorwürfe von der Gesellschaft zu erwarten; Mignon verräth uns nicht, sie ist gut und verschwiegen. Ich wußte es lange und sagte nichts, ver¬ setzte Mignon, — Wie ist es möglich, rief die Alte — woher? fiel Wilhelm ein. Der Geist hat mir’s gesagt. Wie? wo? Im Gewölbe, da der Alte das Messer zog, rief mirs zu: Rufe seinen Vater, und da fielst Du mir ein. Wer rief denn? Ich weiß nicht, im Herzen, im Kopfe, ich war so Angst, ich zitterte, ich betete, da riefs, und ich verstands. Wilhelm druckte sie an sein Herz, em¬ pfahl ihr Felix, und entfernte sich. Er be¬ merkte erst zuletzt, daß sie viel blässer und magerer geworden war, als er sie verlassen hatte. Madame Melina fand er von seinen Bekannten zuerst, sie begrüßte ihn aufs freundlichste. O! daß Sie doch alles, rief sie aus, bey uns finden möchten, wie Sie wünschen! Ich zweifle daran, sagte Wilhelm, und erwartete es nicht. Gestehen Sie nur, man K 2 hat alle Anstalten gemacht mich entbehren zu können. Warum sind Sie auch weggegangen! ver¬ setzte die Freundin. Man kann die Erfahrung nicht früh ge¬ nug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist. Welche wichtige Personen glau¬ ben wir zu seyn! Wir denken allein den Kreis zu beleben, in welchem wir wirken; in unserer Abwesenheit muß, bilden wir uns ein, Leben, Nahrung und Athem stocken, und die Lücke, die entsteht, wird kaum be¬ merkt, sie füllt sich so geschwind wieder aus, ja sie wird oft nur der Platz, wo nicht für etwas besseres, doch für etwas angeneh¬ meres. Und die Leiden unserer Freunde bringen wir nicht in Anschlag? Auch unsere Freunde thun wohl, wenn sie sich bald finden, wenn sie sich sagen: da wo du bist, da wo du bleibst, wirke was du kannst, sey thätig und gefällig, und laß dir die Gegenwart heiter seyn. Bey näherer Erkundigung fand Wilhelm, was er vermuthet hatte: die Oper war ein¬ gerichtet, und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich. Seine Rollen waren inzwischen durch Laertes und Horatio besetzt worden, und beyde lockten den Zuschauern einen weit lebhaftern Beyfall ab, als er je¬ mals hatte erlangen können. Laertes trat herein, und Madame Me¬ lina rief aus! sehn Sie hier diesen glücklichen Menschen, der bald ein Capitalist, oder Gott weiß was werden wird. Wilhelm umarmte ihn, und fühlte ein vortrefflich feines Tuch an seinem Rocke, seine übrige Kleidung war einfach, aber alles vom besten Zeuge. Lösen Sie mir das Räthsel! rief Wil¬ helm aus. Es ist noch Zeit genug, versetzte Laertes, um zu erfahren, daß mir mein Hin– und her¬ laufen nunmehr bezahlt wird, daß ein Pa¬ tron eines großen Handelshauses von mei¬ ner Unruhe, meinen Kenntnissen und Be¬ kanntschaften Vortheil zieht, und mir einen Theil davon abläßt; ich wollte viel drum geben, wenn ich mir dabey auch Zutrauen gegen die Weiber ermäkeln könnte, denn es ist eine hübsche Nichte im Hause, und ich merke wohl, wenn ich wollte, könnte ich bald ein gemachter Mann seyn. Sie wissen wohl noch nicht, sagte Ma¬ dame Melina, daß sich indessen auch unter uns eine Heirath gemacht hat? Serlo ist wirklich mit der schönen Otilie öffentlich ge¬ traut, da der Vater ihre heimliche Vertrau¬ lichkeit nicht gut heißen wollte. So unterhielten sie sich über manches, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er konnte gar wohl bemerken, daß er, dem Geist und dem Sinne der Ge¬ sellschaft nach, wirklich längst verabschiedet war. Mit Ungedult erwartete er die Alte, die ihm tief in der Nacht ihren sonderbaren Be¬ such angekündigt hatte. Sie wollte kommen, wenn alles schlief, und verlangte solche Vor¬ bereitungen und Vorsichten, eben als wenn das jüngste Mädchen sich zu einem Gelieb¬ ten schleichen wollte. Er las indeß Maria¬ nens Brief wohl hundertmal durch, las mit unaussprechlichem Entzücken das Wort Treue von ihrer geliebten Hand, und mit Entsetzen die Ankündigung ihres Todes, dessen An¬ näherung sie nicht zu fürchten schien. Mitternacht war vorbey, als etwas an der halboffnen Thüre rauschte, und die Alte mit einem Körbchen hereintrat: ich soll Euch, sagte sie, die Geschichte unserer Leiden er¬ zählen, und ich muß erwarten, daß Ihr un¬ gerührt dabey sitzt, daß Ihr nur, um Eure Neugierde zu befriedigen, mich so sorgsam erwartet, und daß Ihr Euch jetzt, wie da¬ mals, in Eure kalte Eigenliebe hüllet, wenn uns das Herz bricht. Aber seht her! so brachte ich an jenem glücklichen Abend die Champagnerflasche hervor, so stellte ich die drey Gläser auf den Tisch, und so fingt Ihr an, uns mit gutmüthigen Kindergeschichten zu täuschen und einzuschläfern, wie ich Euch jetzt mit traurigen Wahrheiten aufklären und wach erhalten muß. Wilhelm wußte nicht, was er sagen sollte, als die Alte wirklich den Stöpsel springen ließ, und die drey Gläser vollschenkte. Trinkt! rief sie, nachdem sie ihr schäu¬ mendes Glas schnell ausgeleert hatte, trinkt! eh’ der Geist verraucht! dieses dritte Glas soll zum Andenken meiner unglücklichen Freun¬ din ungenossen verschäumen. Wie roth wa¬ ren ihre Lippen, als sie Euch damals Be¬ scheid that! Ach! und nun auf ewig ver¬ blaßt und erstarrt! Sibylle! Furie! rief Wilhelm aus, indem er aufsprang und mit der Faust auf den Tisch schlug, welch ein böser Geist besitzt und treibt Dich? für wen hältst Du mich, daß Du denkst, die einfachste Geschichte von Ma¬ rianens Tod und Leiden werde mich nicht empfindlich genug kränken, daß Du noch solche höllische Kunstgriffe brauchst, um meine Marter zu schärfen. Geht Deine unersätt¬ liche Völlerey so weit, daß Du beym Tod¬ tenmahle schwelgen mußt, so trink und rede! Ich habe Dich von je her verabscheut, und noch kann ich mir Marianen nicht unschul¬ dig denken, wenn ich Dich, ihre Gesellschaf¬ terin, nur ansehe. Gemach, mein Herr! versetzte die Alte: Sie werden mich nicht aus meiner Fassung bringen. Sie sind uns noch sehr verschul¬ det, und von einem Schuldner läßt man sich nicht übel begegnen. Aber Sie haben recht, auch meine einfachste Erzählung ist Strafe genug für Sie. So hören Sie denn den Kampf und den Sieg Marianens, um die Ihrige zu bleiben. Die Meinige! rief Wilhelm aus, welch ein Mährchen willst Du beginnen? Unterbrechen Sie mich nicht, fiel sie ein, hören Sie mich, und dann glauben Sie, was Sie wollen, es ist ohnedem jetzt ganz einerley. Haben Sie nicht am letzten Abend, als Sie bey uns waren, ein Billet gefun¬ den und mitgenommen? Ich fand das Blatt erst, als ich es mit¬ genommen hatte, es war in das Halstuch verwickelt, das ich aus inbrünstiger Liebe in den Busen steckte. Was enthielt das Papier? Die Aussichten eines verdrießlichen Lieb¬ habers, in der nächsten Nacht besser, als gestern aufgenommen zu werden. Und daß man ihm Wort gehalten hat, habe ich mit eignen Augen gesehen, denn er schlich früh vor Tage aus Eurem Hause hinweg. Sie können ihn gesehen haben; aber was bey uns vorging, wie traurig Mariane diese Nacht, wie verdrießlich ich sie zubrachte, das werden Sie erst jetzt erfahren. Ich will ganz aufrichtig seyn, weder leugnen noch beschöni¬ gen, daß ich Marianen beredete, sich einem gewissen Norberg zu ergeben, sie folgte, ja ich kann sagen sie gehorchte mir mit Wider¬ willen; er war reich, er schien verliebt, und ich hoffte er werde beständig seyn. Gleich darauf mußte er eine Reise machen, und Mariane lernte Sie kennen, was hatte ich da nicht auszustehen! was zu hindern! was zu erdulden! o! rief sie manchmal, hättest du meiner Jugend, meiner Unschuld nur noch vier Wochen geschont, so hätte ich einen würdigen Gegenstand meiner Liebe gefunden, ich wäre seiner würdig gewesen, und die Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußt¬ seyn geben dürfen, was ich jetzt wider Wil¬ len verkauft habe. Sie überließ sich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob sie glücklich waren? Ich hatte eine un¬ eingeschränkte Gewalt über ihren Verstand, denn ich kannte alle Mittel ihre kleinen Nei¬ gungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht über ihr Herz, denn niemals billigte sie, was ich für sie that, wozu ich sie bewegte, wenn ihr Herz widersprach, nur der unbezwing¬ lichen Noth gab sie nach, und die Noth er¬ schien ihr bald sehr drückend. In den ersten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt, ihre Familie verlohr durch eine Verwickelung von Umständen ihr Vermögen, das arme Mädchen war an mancherley Be¬ dürfnisse gewöhnt, und ihrem kleinen Ge¬ müth waren gewisse gute Grundsätze einge¬ prägt, die sie unruhig machten, ohne ihr viel zu helfen. Sie hatte nicht die mindeste Gewandtheit in weltlichen Dingen, sie war unschuldig im eigentlichen Sinne; sie hatte keinen Begriff, daß man kaufen könne, ohne zu bezahlen, für nichts war ihr mehr bange, als wenn sie schuldig war, sie hätte immer lieber gegeben als genommen, und nur eine solche Lage machte es möglich, daß sie ge¬ nöthigt ward, sich selbst hinzugeben, um eine Menge kleiner Schulden los zu werden. Und hättest Du, fuhr Wilhelm auf, sie nicht retten können? O ja, versetzte die Alte, mit Hunger und Noth, mit Kummer und Entbehrung, und darauf war ich niemals eingerichtet. Abscheuliche, niederträchtige Kupplerinn! so hast Du das unglückliche Geschöpf ge¬ opfert? so hast Du sie Deiner Kehle, Dei¬ nem unersättlichen Heißhunger hingegeben? Ihr thätet besser Euch zu mäßigen, und mit Schimpfreden inne zu halten, versetzte die Alte. Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure großen vornehmen Häuser, da wer¬ det Ihr Mütter finden, die recht ängstlich besorgt sind, wie sie für ein liebenswürdiges, himmlisches Mädchen den allerabscheulich¬ sten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme Geschöpf vor seinem Schicksale zittern und beben, und nirgends Trost finden, als bis ihr irgend eine erfahrne Freundin begreiflich macht, daß sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, über ihr Herz und ihre Person künftig nach Gefallen disponiren zu können. Schweig! rief Wilhelm, glaubst Du denn, daß ein Verbrechen durch das andere ent¬ schuldigt werden könne? erzähle! ohne wei¬ tere Anmerkungen zu machen. So hören Sie, ohne mich zu tadeln! Mariane ward wider meinen Willen die Ihre. Bey diesem Abentheuer habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen. Norberg kam zurück, er eilte Marianen zu sehen, die ihn kalt und verdrießlich aufnahm, und ihm nicht einen Kuß erlaubte. Ich brauchte meine ganze Kunst, um ihr Betragen zu entschul¬ digen, ich ließ ihn merken, daß ein Beicht¬ vater ihr das Gewissen geschärft habe, und daß man ein Gewissen, so lange es spricht, respectiren. müsse. Ich brachte ihn dahin, daß er ging, und ich versprach ihm mein Bestes zu thun. Er war reich und roh, aber er hatte einen Grund von Gutmüthigkeit, und liebte Marianen auf das äußerste. Er versprach mir Geduld, und ich arbeitete desto lebhafter, um ihn nicht zu sehr zu prüfen. Ich hatte mit Marianen einen harten Stand, ich überredete sie, ja ich kann sagen, ich zwang sie endlich, durch die Drohung daß ich sie verlassen würde, an ihren Liebhaber zu schreiben, und ihn auf die Nacht einzu¬ laden. Sie kamen und rafften zufälliger Weise seine Antwort in dem Halstuch auf. Ihre unvermuthete Gegenwart hatte mir ein böses Spiel gemacht. Kaum waren Sie weg, so ging die Qual von neuem an, sie schwur, daß sie Ihnen nicht untreu werden könne, und war so leidenschaftlich, so außer sich, daß sie mir ein herzliches Mitleid ablockte; ich versprach ihr endlich, daß ich auch diese Nacht Norbergen beruhigen, und ihn unter allerley Vorwändeu entfernen wollte; ich bat sie zu Bette zu gehen, allein sie schien mir nicht zu trauen: sie blieb angezogen, und und schlief zuletzt, bewegt und ausgeweint, wie sie war, in ihren Kleidern ein. Norberg kam, ich suchte ihn abzuhalten, ich stellte ihm ihre Gewissensbisse, ihre Reue mit den schwärzesten Farben vor, er wünschte sie nur zu sehen, und ich ging in das Zim¬ mer, um sie vorzubereiten, er schritt mir nach, und wir traten beyde zu gleicher Zeit vor ihr Bette. Sie erwachte, sprang mit Wuth auf und entriß sich unsern Armen; sie beschwur und bat, sie flehte, drohte und ver¬ sicherte, daß sie nicht nachgeben würde. Sie war unvorsichtig genug, über ihre wahre Lei¬ denschaft einige Worte fallen zu lassen, die der arme Norberg im geistlichen Sinne deu¬ ten mußte. Endlich verließ er sie, und sie schloß sich ein. Ich behielt ihn noch lange bey mir, und sprach mit ihm über ihren Zu¬ stand, daß sie guter Hoffnung sey, und daß man das arme Mädchen schonen müsse. Er L fühlte sich so stolz auf seine Vaterschaft, er freute sich so sehr auf einen Knaben, daß er alles einging, was sie von ihm verlangte, und daß er versprach lieber einige Zeit zu verreisen, als seine Geliebte zu ängstigen, und ihr durch diese Gemüthsbewegungen zu schaden. Mit diesen Gesinnungen schlich er Morgens früh von mir weg, und Sie, mein Herr, wenn Sie Schildwache gestanden ha¬ ben, so hätte es zu ihrer Glückseeligkeit nichts weiter bedurft, als in den Busen ih¬ res Nebenbuhlers zu sehen, den Sie so be¬ günstigt, so glücklich hielten, und dessen Er¬ scheinung Sie zur Verzweiflung brachte. Redest Du wahr? sagte Wilhelm. So wahr, sagte die Alte, als ich noch hoffe Sie zur Verzweiflung zu bringen. Ja gewis Sie würden verzweifeln, wenn ich Ihnen das Bild unsers nächsten Morgens recht lebhaft darstellen könnte. Wie heiter wachte sie auf! wie freundlich rief sie mich herein! wie lebhaft dankte sie mir! wie herz¬ lich drückte sie mich an ihren Busen! Nun, sagte sie, indem sie lächelnd vor den Spie¬ gel trat, darf ich mich wieder an mir selbst, mich an meiner Gestalt freuen, da ich wie¬ der mir, da ich meinem einzig geliebten Freund angehöre. Wie ist es so süß über¬ wunden zu haben! welch eine himmlische Em¬ pfindung ist es seinem Herzen zu folgen! Wie dank ich dir, daß du dich meiner ange¬ nommen, daß du deine Klugheit, deinen Verstand auch einmal zu meinem Vortheil angewendet hast! steh mir bey, und ersinne, was mich ganz glücklich machen kann. Ich gab ihr nach, ich wollte sie nicht rei¬ zen, ich schmeichelte ihrer Hoffnung, und sie liebkoßte mich auf das anmuthigste. Ent¬ fernte sie sich einen Augenblick vom Fenster, so mußte ich Wache stehen, denn Sie soll¬ L 2 ten nun ein für allemal vorbey gehen, man wollte Sie wenigstens sehen, so ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬ wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz gewis, ich paßte schon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand sie zu meiner Verwunde¬ rung in ihrer Officierstracht, sie sah unglaub¬ lich heiter und reizend aus. Verdien’ ich nicht, sagte sie, heute in Mannstracht zu erscheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬ ten. Mein Geliebter soll mich heute wie das erstemal sehen, ich will ihn so zärtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken, als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr die seine als damals, da mich ein edler Ent¬ schluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber, fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu, noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß ich erst das Äußerste wagen, um seiner werth, um seines Besitzes gewis zu seyn; ich muß ihm alles entdecken, meinen ganzen Zustand offenbaren, und ihm alsdann überlassen, ob er mich behalten oder verstoßen will, diese Scene bereite ich ihm, bereite ich mir zu, und wäre sein Gefühl mich zu verstoßen fä¬ hig; so würde ich alsdann ganz wieder mir selbst angehören, ich würde in meiner Strafe meinen Trost finden, und alles erdulden, was das Schicksal mir auferlegen wollte. Mit diesen Gesinnungen, mit diesen Hoff¬ nungen, mein Herr, erwartete Sie das lie¬ benswürdige Mädchen, Sie kamen nicht; o! wie soll ich den Zustand des Wartens und Hoffens beschreiben? Ich sehe dich noch vor mir, mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunst du von dem Manne sprachst, dessen Grau¬ samkeit du noch nicht erfahren hattest. Gute liebe Barbara, rief Wilhelm, in¬ dem er aufsprang und die Alte bey der Hand faßte: es ist nun genug der Verstellung, ge¬ nug der Vorbereitung! Dein gleichgültiger, Dein ruhiger, Dein zufriedner Ton hat Dich verrathen. Gieb mir Marianen wieder, sie lebt, sie ist in der Nähe. Nicht umsonst hast Du diese späte einsame Stunde zu Dei¬ nem Besuche gewählt, nicht umsonst hast Du mich durch diese entzückende Erzählung vor¬ bereitet. Wo hast Du sie? wo verbirgst Du sie? ich glaube Dir alles, ich verspreche Dir alles zu glauben, wenn Du mir sie zeigst, wenn Du sie meinen Armen wieder giebst. Ihren Schatten habe ich schon im Fluge ge¬ sehen, laß mich sie wieder in meine Arme fassen! Ich will vor ihr auf den Knien lie¬ gen, ich will sie um Vergebung bitten, ich will ihr zu ihrem Kampfe, zu ihrem Siege über sich und dich Glück wünschen, ich will ihr meinen Felix zuführen. Komm! wo hast Du sie versteckt? laß sie , laß mich nicht län¬ ger in Ungewisheit, Dein Endzweck ist er¬ reicht, wo hast Du sie verborgen? Komm, daß ich sie mit diesem Licht beleuchte! daß ich wieder ihr holdes Angesicht sehe! Er hatte die Alte vom Stuhl aufgezo¬ gen, sie sah ihn starr an, die Thränen stürz¬ ten ihr aus den Augen, und ein ungeheurer Schmerz ergriff sie. Welch ein unglücklicher Irrthum, rief sie aus, läßt Sie noch einen Augenblick hoffen! — Ja, ich habe sie ver¬ borgen, aber unter die Erde, weder das Licht der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird ihr holdes Angesicht jemals wieder erleuch¬ ten. Führen Sie den guten Felix an ihr Grab, und sagen Sie ihm, da liegt deine Mutter, die dein Vater ungehört verdammt hat. Das liebe Herz schlägt nicht mehr vor Ungeduld Sie zu sehen, nicht etwa in einer benachbarten Kammer wartet sie auf den Ausgang meiner Erzählung, oder meines Mährchens, die dunkle Kammer hat sie auf¬ genommen, wohin kein Bräutigam folgt, woraus man keinem Geliebten entgegen geht. Sie warf sich auf die Erde an einem Stuhle nieder, und weinte bitterlich; Wil¬ helm war zum erstenmale völlig überzeugt, daß Mariane todt sey, er befand sich in ei¬ nem traurigen Zustande. Die Alte hub sich auf. Ich habe Ihnen weiter nichts zu sa¬ gen, rief sie, und warf ein Packet auf den Tisch, hier diese Briefschaften mögen völlig Ihre Grausamkeit beschämen, lesen Sie diese Blätter mit trocknen Augen durch, wenn es Ihnen möglich ist. Sie schlich leise fort, und Wilhelm hatte diese Nacht das Herz nicht, die Brieftasche zu öffnen, er hatte sie selbst Marianen geschenkt, er wußte, daß sie jedes Blättchen, das sie von ihm erhalten hatte, sorgfältig darinn aufhob. Den andern Mor¬ gen vermochte er es über sich, er lößte das Band, und es fielen ihm kleine Zettelchen mit Bleystift von seiner eigenen Hand ge¬ schrieben entgegen, und riefen ihm jede Si¬ tuation von dem Ersten Tage ihrer anmu¬ thigen Bekanntschaft, bis zu dem letzten ih¬ rer grausamen Trennung, wieder herbey. Al¬ lein nicht ohne die lebhaftesten Schmerzen durchlas er eine kleine Sammlung von Bil¬ leten, die an ihn geschrieben waren, und die, wie er aus dem Inhalt sah, von Wer¬ nern waren zurückgewiesen worden. Keines meiner Blätter hat bis zu Dir durchdringen können, mein Bitten und Fle¬ hen hat Dich nicht erreicht; hast Du selbst diese grausamen Befehle gegeben? soll ich Dich nie wieder sehen? noch einmal versuch ich es, ich bitte Dich: komm, o komm! ich verlange Dich nicht zu behalten, wenn ich Dich nur noch einmal an mein Herz drücken kann. Wenn ich sonst bey Dir saß, Deine Hände hielt, Dir in die Augen sah, und mit vollem Herzen der Liebe und des Zu¬ trauens zu Dir sagte: lieber, lieber guter Mann! das hörtest Du so gern, ich mußt’ es Dir so oft wiederholen, ich wiederhole es noch einmal; lieber, lieber guter Mann! sey gut, wie Du warst, komm und laß mich nicht in meinem Elende verderben. Du hältst mich für schuldig, ich bin es auch, aber nicht wie Du denkst. Komm, da¬ mit ich nur den einzigen Trost habe, von Dir ganz gekannt zu seyn, es gehe mir nach¬ her wie es wolle. Nicht um meinet willen, allein auch um Dein selbst willen fleh ich Dich an, zu kom¬ men. Ich fühle die unerträglichen Schmer¬ zen, die Du leidest, indem Du mich fliehst; komm, daß unsere Trennung weniger grau¬ sam werde! Ich war vielleicht nie Deiner würdig, als eben in dem Augenblick, da Du mich in ein grenzenloses Elend zurück stößest. Bey allem, was heilig ist, bey allem, was ein menschliches Herz rühren kann, ruf ich Dich an! es ist um eine Seele, es ist um ein Leben zu thun, um zwey Leben, von denen Dir eins ewig theuer seyn muß. Dein Argwohn wird auch das nicht glauben, und doch werde ich es in der Stunde des Todes aussprechen: das Kind, das ich unter dem Herzen trage, ist Dein. Seitdem ich Dich liebe, hat kein anderer mir auch nur die Hand gedrückt; o daß Deine Liebe, daß Deine Rechtschaffenheit die Gefährten mei¬ ner Jugend gewesen wären! Du willst mich nicht hören? so muß ich denn zuletzt wohl verstummen, aber diese Blätter sollen nicht untergehen, vielleicht können sie noch zu Dir sprechen, wenn das Leichentuch schon meine Lippe bedeckt, und wenn die Stimme Deiner Reue nicht mehr zu meinem Ohr reichen kann. Durch mein trauriges Leben bis an den letzten Augen¬ blick wird das mein einziger Trost seyn: daß ich ohne Schuld gegen Dich war, wenn ich mich auch nicht unschuldig nennen durfte. Wilhelm konnte nicht weiter, er überließ sich ganz seinem Schmerz, aber noch mehr war er bedrängt, als Laertes herein trat, dem er seine Empfindungen zu verbergen suchte. Dieser brachte einen Beutel mit Du¬ caten hervor, zählte und rechnete, und ver¬ sicherte Wilhelmen: es sey nichts schöneres in der Welt, als wenn man eben auf dem Wege sey reich zu werden, es könne uns auch alsdenn nichts stören oder abhalten. Wilhelm erinnerte sich seines Traums und lächelte; aber zugleich gedachte er auch mit Schaudern: daß in jenem Traumgesichte Ma¬ riane ihn verlassen, um seinem verstorbenen Vater zu folgen, und daß beyde zuletzt wie Geister schwebend sich um den Garten be¬ wegt hatten. Laertes riß ihn aus seinem Nachdenken, und führte ihn auf ein Kaffeehaus, wo sich sogleich mehrere Personen um ihn versam¬ melten, die ihn sonst gern auf dem Theater gesehen hatten, sie freuten sich seiner Ge¬ genwart, bedauerten aber, daß er, wie sie hörten, die Bühne verlassen wolle; sie spra¬ chen so bestimmt und vernünftig von ihm und seinem Spiele, von dem Grade seines Talentes, von ihren Hoffnungen, daß Wil¬ helm nicht ohne Rührung zuletzt ausrief: o wie unendlich werth wäre mir diese Theil¬ nahme vor wenig Monaten gewesen! wie belehrend und wie erfreuend! niemals hätte ich mein Gemüth so ganz von der Bühne abgewendet, und niemals wäre ich so weit gekommen, am Publiko zu verzweifeln. Dazu sollte es überhaupt nicht kommen, sagte ein ältlicher Mann, der hervortrat, das Publikum ist groß, wahrer Verstand und wahres Gefühl sind nicht so selten als man glaubt, nur muß der Künstler niemals einen unbedingten Beyfall für das, was er her¬ vorbringt, verlangen, denn eben der unbe¬ dingte ist am wenigsten werth, und den be¬ dingten wollen die Herren nicht gerne. Ich weiß wohl, im Leben wie in der Kunst muß man mit sich zu Rathe gehen, wenn man etwas thun und hervorbringen soll; wenn es aber gethan oder vollendet ist, so darf man mit Aufmerksamkeit nur viele hören, und man kann sich mit einiger Übung aus diesen vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urtheil zusammen setzen, denn diejenigen, die uns diese Mühe ersparen könnten, halten sich meist stille genug. Das sollten sie eben nicht, sagte Wil¬ helm, ich habe so oft gehört, daß Menschen, die selbst über gute Werke schwiegen, doch beklagten und bedauerten, daß geschwiegen wird. So wollen wir heute laut werden, rief ein junger Mann, Sie müssen mit uns spei¬ sen, und wir wollen alles einholen, was wir Ihnen und manchmal der guten Aurelie schul¬ dig geblieben sind. Wilhelm lehnte die Einladung ab, und begab sich zu Madame Melina, die er we¬ gen der Kinder sprechen wollte, indem er sie von ihr wegzunehmen gedachte. Das Geheimnis der Alten war nicht zum besten bey ihm verwahrt. Er verrieth sich, als er den schönen Felix wieder ansichtig ward. O! mein Kind ! rief er aus, mein lie¬ bes Kind! er hub ihn auf, und drückte ihn an sein Herz. Vater! was hast Du mir mit¬ gebracht, rief das Kind. Mignon sah beyde an, als wenn es sie warnen wollte, sich nicht zu verrathen. Was ist das für eine neue Erscheinung? sagte Madame Melina. Man suchte die Kinder bey Seite zu bringen, und Wilhelm, der der Alten das strengste Geheimnis nicht schuldig zu seyn glaubte, entdeckte seiner Freundin das ganze Verhältnis. Madame Melina sah ihn lächelnd an. O! über die leichtglaubigen Männer! rief sie aus, wenn nur etwas auf ihrem Wege ist; so kann man man es ihnen sehr leicht aufbürden, aber dafür sehen sie sich auch ein andermal weder rechts noch links um, und wissen nichts zu schätzen, als was sie vorher mit dem Stem¬ pel einer willkührlichen Leidenschaft bezeich¬ net haben. Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, und wenn Wilhelm nicht ganz blind gewesen wäre, so hätte er eine nie ganz besiegte Neigung in ihrem Betragen erkennen müssen. Er sprach nun mehr mit ihr von den Kin¬ dern, wie er Felix bey sich zu behalten und Mignon auf das Land zu thun gedächte. Frau Melina, ob sie sich gleich ungerne von beyden zugleich trennte, fand doch den Vor¬ schlag gut, ja nothwendig; Felix verwilderte bey ihr, und Mignon schien einer freyen Luft und anderer Verhältnisse zu bedürfen, das gute Kind war kränklich und konnte sich nicht erholen. M Lassen Sie sich nicht irren, fuhr Madame Melina fort, daß ich einige Zweifel, ob Ih¬ nen der Knabe wirklich zugehöre, leichtsinnig geäußert habe. Der Alten ist freylich wenig zu trauen, doch kann eins, das Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, auch einmal wahr reden, wenn es die Wahrheiten nützlich fin¬ det. Aurelien hatte die Alte vorgespiegelt, Felix sey ein Sohn Lothario’s, und die Ei¬ genheit haben wir Weiber, daß wir die Kin¬ der unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen, oder sie von Herzen hassen. Felix kam her¬ ein gesprungen, sie drückte ihn an sich, mit einer Lebhaftigkeit, die ihr sonst nicht ge¬ wöhnlich war. Wilhelm eilte nach Hause, und bestellte die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in der Dämmerung, zu besuchen versprach; er em¬ pfing sie verdrießlich, und sagte zu ihr: Es ist nichts schändlichers in der Welt, als sich auf Lügen und Mährchen einzurichten! schon hast Du viel Böses damit gestiftet, und jetzt, da Dein Wort das Glück meines Lebens ent¬ scheiden könnte, jetzt steh ich zweifelhaft, und wage nicht das Kind in meine Arme zu schließen, dessen ungetrübter Besitz mich äußerst glücklich machen würde. Ich kann Dich, schändliche Kreatur, nicht ohne Haß und Verachtung ansehen. Euer Betragen kommt mir, wenn ich auf¬ richtig reden soll, versetzte die Alte, ganz unerträglich vor. Und wenns nun Euer Sohn nicht wäre, so ist es das schönste, an¬ genehmste Kind von der Welt, das man gern für jeden Preis kaufen möchte, um es nur immer um sich zu haben. Ist es nicht werth, daß Ihr Euch seiner annehmt? ver¬ diene ich für meine Sorgfalt, für meine Mühe mit ihm, nicht einen kleinen Unter¬ M 2 halt für mein künftiges Leben? O! ihr Her¬ ren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Gradheit reden; aber wie eine arme Kreatur, deren geringstem Bedürfniß nichts entgegen kommt, die in ihren Verle¬ genheiten keinen Freund, keinen Rath, keine Hülfe sieht, wie die sich durch die selbstischen Menschen durchdrücken, und im Stillen dar¬ ben muß — davon würde manches zu sagen seyn, wenn ihr hören wolltet und könntet. Haben Sie Marianens Briefe gelesen? es sind dieselbigen, die sie zu jener unglücklichen Zeit schrieb. Vergebens suchte ich mich Ih¬ nen zu nähern, vergebens Ihnen diese Blät¬ ter zuzustellen, Ihr grausamer Schwager hatte Sie so umlagert, daß alle List und Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er mir und Marianen mit dem Gefängniß droh¬ te, mußte ich wohl alle Hoffnung aufgeben. Trifft nicht alles mit dem überein, was ich erzählt habe? und setzt nicht Norbergs Brief die ganze Geschichte außer allem Zweifel? Was für ein Brief? fragte Wilhelm. Haben Sie ihn nicht in der Brieftasche gefunden? versetzte die Alte. Ich habe noch nicht alles durchlesen. Geben Sie nur die Brieftasche her, auf dieses Document kömmt alles an. Norbergs unglückliches Billet hat die traurige Verwir¬ rung gemacht, ein anderes von seiner Hand mag auch den Knoten lösen, in so fern am Faden noch etwas gelegen ist. Sie nahm ein Blatt aus der Brieftasche, Wilhelm er¬ kannte jene verhaßte Hand, er nahm sich zusammen und las. »Sag mir nur, Mädchen, wie vermagst Du das über mich? hätt’ ich doch nicht ge¬ glaubt, daß eine Göttinn selbst mich zum seufzenden Liebhaber umschaffen könnte. An statt mir mit offenen Armen entgegen zu ei¬ len, ziehst Du Dich zurück; man hätte es wahrhaftig für Abscheu nehmen können, wie Du Dich betrugst. Ists erlaubt, daß ich die Nacht mit der alten Barbara auf einem Kof¬ fer in einer Kammer zubringen mußte? und mein geliebtes Mädchen war nur zwey Thü¬ ren davon. Es ist zu toll, sag ich Dir! Ich habe versprochen Dir einige Bedenkzeit zu lassen, nicht gleich in Dich zu dringen, und ich möchte rasend werden über jede verlohrne Viertelstunde. Habe ich Dir nicht geschenkt, was ich wußte und konnte? zweifelst Du noch an meiner Liebe? was willst Du haben, sag es nur? es soll Dir an nichts fehlen. Ich wollte der Pfaffe müßte verstummen und verblinden, der Dir solches Zeug in den Kopf gesetzt hat. Mußtest Du auch grade an so einen kommen! Es giebt so viele, die jungen Leuten etwas nachzusehen wissen. Ge¬ nug ich sage Dir, es muß anders werden, in ein paar Tagen muß ich Antwort wissen, denn ich gehe bald wieder weg, und wenn Du nicht wieder freundlich und gefällig bist, so sollst Du mich nicht wieder sehen.« — In dieser Art ging der Brief noch lange fort, drehte sich zu Wilhelms schmerzlicher Zufriedenheit immer um denselben Punct herum, und zeugte für die Wahrheit der Geschichte, die er von Barbara vernommen hatte. Ein zweytes Blatt bewies deutlich, daß Mariane auch in der Folge nicht nach¬ gegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus diesen und mehreren Papieren nicht ohne tie¬ fen Schmerz die Geschichte des unglücklichen Mädchens bis zur Stunde ihres Todes. Die Alte hatte den rohen Menschen nach und nach zahm gemacht, indem sie ihm den Tod Marianens meldete, und ihm den Glau¬ ben ließ, als wenn Felix sein Sohn sey; er hatte ihr einigemal Geld geschickt, das sie aber für sich behielt, da sie Aurelien die Sorge für des Kindes Erziehung aufgeschwatzt hatte. Aber leider dauerte dieser heimliche Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch ein wildes Leben den größten Theil seines Vermögens verzehrt, und wiederholte Lie¬ besgeschichten sein Herz gegen seinen ersten, eingebildeten Sohn verhärtet. So wahrscheinlich das alles lautete, und so schön es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu überlas¬ sen, er schien sich vor einem Geschenke zu fürchten, das ihm ein böser Genius dar¬ reichte. Ihre Zweifelsucht, sagte die Alte, die seine Gemüthsstimmung errieth, kann nur die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein fremdes an, und geben Sie desto genauer auf ihn acht, bemerken Sie seine Gaben, seine Natur, seine Fähigkeiten, und wenn Sie nicht nach und nach sich selbst wieder erkennen, so müssen Sie schlechte Augen ha¬ ben. Denn das versichre ich Sie, wenn ich ein Mann wäre, mir sollte niemand ein Kind unterschieben, aber es ist ein Glück für die Weiber, daß die Männer in diesen Fäl¬ len nicht so scharfsichtig sind. Nach allem diesen setzte sich Wilhelm mit der Alten aus einander, er wollte den Felix mit sich nehmen, sie sollte Mignon zu The¬ resen bringen, und hernach eine kleine Pen¬ sion, die er ihr versprach, wo sie wollte, ver¬ zehren. Er ließ Mignon rufen, um sie auf diese Veränderung vorzubereiten. — Meister! sagte sie, behalte mich bey Dir, es wird mir wohl thun und weh. Er stellte ihr vor, daß sie nun heran ge¬ wachsen sey, und daß doch etwas für ihre weitere Bildung gethan werden müsse; — ich bin gebildet genug, versetzte sie, um zu lie¬ ben und zu trauern. Er machte sie auf ihre Gesundheit auf¬ merksam, daß sie eine anhaltende Sorgfalt und die Leitung eines geschickten Arztes be¬ dürfe. — Warum soll man für mich sor¬ gen, sagte sie, da so viel zu sorgen ist. Nachdem er sich viele Mühe gegeben, sie zu überzeugen, daß er sie jetzt nicht mit sich nehmen könne, daß er sie zu Personen bringen wolle, wo er sie öfters sehen werde, schien sie von allem dem nichts gehört zu haben. Du willst mich nicht bey Dir? sagte sie, vielleicht ist es besser, schicke mich zum alten Harfenspieler, der arme Mann ist so allein. Wilhelm suchte ihr begreiflich zu machen, daß der Alte gut aufgehoben sey; — ich sehne mich jede Stunde nach ihm, versetzte das Kind. Ich habe aber nicht bemerkt, sagte Wil¬ helm, daß Du ihm so geneigt seyst, als er noch mit uns lebte — ich fürchtete mich vor ihm, wenn er wachte, ich konnte nur seine Augen nicht sehen, aber wenn er schlief, setzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm die Fliegen, und konnte mich nicht satt an ihm sehen. O! er hat mir in schrecklichen Augenblicken beygestanden, es weiß niemand, was ich ihm schuldig bin. Hätt’ ich nur den Weg gewußt, ich wäre schon zu ihm ge¬ laufen. Wilhelm stellte ihr die Umstände weit¬ läuftig vor, und sagte: sie sey so ein ver¬ nünftiges Kind, sie mögte doch auch diesmal seinen Wünschen folgen. — Die Vernunft ist grausam, versetzte sie, das Herz ist besser, ich will hingehen, wohin Du willst, aber laß mir Deinen Felix. Nach vielem Hin- uud Wiederreden war sie immer auf ihrem Sinne geblieben, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschliessen die beyden Kinder der Alten zu übergeben, und sie zusammen an Fräulein Therese zu schicken. Es ward ihm das um so leichter, als er sich noch immer fürchtete, den schönen Felix sich als seinen Sohn zuzueignen, er nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum, das Kind mochte gern vor den Spiegel gehoben seyn, und, ohne sich es zu gestehen, trug Wilhelm ihn gern vor den Spiegel, und suchte dort Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde auszuspähen. Ward es ihm denn einen Au¬ genblick recht wahrscheinlich, so drückte er den Knaben an seine Brust, aber auf ein¬ mal, erschreckt durch den Gedanken, daß er sich betrügen könne, setzte er das Kind nie¬ der, und ließ es hinlaufen. O! rief er aus, wenn ich mir dieses unschätzbare Gut zueig¬ nen könnte, und es würde mir dann ent¬ rissen, so wäre ich der Unglücklichste aller Menschen. Die Kinder waren weggefahren, und Wilhelm wollte nun seinen förmlichen Ab¬ schied vom Theater nehmen, als er fühlte daß er schon abgeschieden sey, und nur zu gehen brauchte. Mariane war nicht mehr, seine zwey Schutzgeister hatten sich entfernt, und seine Gedanken eilten ihnen nach. Der schöne Knabe schwebte wie eine reizende un¬ gewisse Erscheinung vor seiner Einbildungs¬ kraft, er sah ihn, an Theresens Hand, durch Felder und Wälder laufen, in der freyen Luft und neben einer freyen und heitern Be¬ gleiterinn sich bilden; Therese war ihm noch viel werther geworden, seitdem er das Kind in ihrer Gesellschaft dachte. Selbst als Zu¬ schauer im Theater erinnerte er sich ihrer mit Lächeln, beynahe war er in ihrem Falle, die Vorstellungen machten ihm keine Illusion mehr. Serlo und Melina waren äußerst höflich gegen ihn, sobald sie merkten, daß er an seinen vorigen Platz keinen weitern Anspruch machte; ein Theil des Publikums wünschte ihn nochmals auftreten zu sehen, es wäre ihm unmöglich gewesen, und bey der Gesell¬ schaft wünschte es niemand, als allenfalls Frau Melina. Er nahm nun wirklich Abschied von die¬ ser Freundin, er war gerührt, und sagte: Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte irgend etwas für die Zukunft zu ver¬ sprechen! das geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist. Wie schäme ich mich, wenn ich denke, was ich Ihnen allen zusammen in jener unglücklichen Nacht versprach, da wir beraubt, krank, verletzt und verwundet in eine elende Sch enke zusammen gedrängt waren. Wie erhöhte damals das Unglück meinen Muth, und welchen Schatz glaubte ich in meinem guten Willen zu finden; nun ist aus allem dem nichts, gar nichts ge¬ worden! Ich verlasse Sie als Ihr Schuld¬ ner, und mein Glück ist, daß man mein Versprechen nicht mehr achtete, als es werth war, und daß niemand mich jemals deshalb gemahnt hat. Seyn Sie nicht ungerecht gegen sich selbst, versetzte Frau Melina; wenn niemand er¬ kennt, was Sie für uns gethan hatten, so werde ich es nicht verkennen; denn unser ganzer Zustand wäre völlig anders, wenn wir Sie nicht besessen hätten. Geht es doch unsern Vorsätzen, wie unsern Wünschen. Sie sehen sich gar nicht mehr ähnlich, wenn sie ausgeführt, wenn sie erfüllt sind, und wir glauben nichts gethan, nichts erlangt zu haben. Sie werden, versetzte Wilhelm, durch Ihre freundschaftliche Auslegung mein Ge¬ wissen nicht beruhigen, und ich werde mir immer als Ihr Schuldner vorkommen. Es ist auch wohl möglich, daß Sie es sind, versetzte Madame Melina, nur nicht auf die Art, wie Sie es denken. Wir rech¬ nen uns zur Schande ein Versprechen nicht zu erfüllen, das wir mit dem Munde ge¬ than haben. O, mein Freund, ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zu viel! Das Vertrauen, das er hervor lockt, die Neigung, die er ein¬ flößt, die Hoffnungen, die er erregt, sind unendlich, er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen. Leben Sie wohl. Wenn unsere äußeren Umstände sich unter Ihrer Leitung recht glücklich hergestellt haben; so entsteht in meinen Innern durch Ihren Ab¬ schied eine Lücke, die sich so leicht nicht wie¬ der ausfüllen wird. Wilhelm Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitläuftigen Brief an Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hörten sie zuletzt auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder genähert, er war im Begriff dasjenige zu thun, was je¬ ner so sehr wünschte, er konnte sagen: ich verlasse das Theater, und verbinde mich mit Männern, deren Umgang mich, in jedem Sinne, zu einer reinen und sichern Thätig¬ keit führen muß. Er erkundigte sich nach seinem Vermögen, und es schien ihm nun¬ mehr sonderbar, daß er so lange sich nicht darum bekümmert hatte. Er wußte nicht, daß es die Art aller der Menschen sey, de¬ nen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist, daß sie die äußeren Verhältnisse ganz und gar vernachlässigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle befunden, er schien nunmehr N zum erstenmal zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wir¬ ken. Er reiste fort mit einem ganz andern Sinn, als das erstemal; die Aussichten, die sich ihm zeigten, waren reizend, und er hoffte auf seinem Wege etwas frohes zu erleben. Neuntes Capitel . A ls er nach Lothario’s Gut zurückkam, fand er eine große Veränderung. Jarno kam ihm entgegen mit der Nachricht, daß der Oheim gestorben, daß Lothario hingegangen sey, die hinterlassenen Güter in Besitz zu nehmen. Sie kommen eben zur rechten Zeit, sagte er, um mir und dem Abbé beyzustehn. Lothario hat uns den Handel um wichtige Güter in unserer Nachbarschaft aufgetragen; es war schon lange vorbereitet, und nun finden wir Geld und Credit eben zur rechten Stunde; das einzige war dabey bedenklich, daß ein auswärtiges Handelshaus auch schon auf dieselben Güter Absicht hatte, nun sind wir kurz und gut entschlossen mit jenen ge¬ meine Sache zu machen, denn sonst hätten N 2 wir uns ohne Noth und Vernunft hinaufge¬ trieben. Wir haben, so scheint es, mit ei¬ nem klugen Manne zu thun. Nun machen wir Calkuls und Anschläge, auch muß öko¬ nomisch überlegt werden, wie wir die Güter theilen können, so daß jeder ein schönes Be¬ sitzthum erhält. Es wurden Wilhelmen die Papiere vorgelegt, man besah die Felder, Wiesen, Schlösser, und obgleich Jarno und der Abbé die Sache sehr gut zu verstehen schienen, so wünschte Wilhelm doch, daß Fräulein Therese von der Gesellschaft seyn möchte. Sie brachten mehrere Tage mit diesen Arbeiten zu, und Wilhelm hatte kaum Zeit, seine Abentheuer und seine zweifelhafte Va¬ terschaft den Freunden zu erzählen, die eine ihm so wichtige Begebenheit gleichgültig und leichtsinnig behandelten. Er hatte bemerkt, daß sie manchmal in vertrauten Gesprächen, bey Tische und auf Spatziergängen, auf einmal inne hielten, ih¬ ren Worten eine andere Wendung gaben, und dadurch wenigstens anzeigten, daß sie unter sich manches abzuthun hatten, das ihm verborgen sey. Er erinnerte sich an das, was Lydie gesagt hatte, und glaubte um so mehr daran, als eine ganze Seite des Schlos¬ ses vor ihm immer unzugänglich gewesen war. Zu gewissen Gallerien und besonders zu dem alten Thurm, den er von außen recht gut kannte, hatte er bisher vergebens Weg und Eingang gesucht. Eines Abends sagte Jarno zu ihm: wir können Sie nun so sicher als den unsern ansehen, daß es unbillig wäre, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse ein¬ führten. Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Gra¬ de steht, dann ist es vortheilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verliehren lernt, wenn er lernt um anderer willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Thä¬ tigkeit zu vergessen. Da lernt er sich erst selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern. Sie sollen bald erfahren, welch eine kleine Welt sich in Ih¬ rer Nähe befindet, und wie gut Sie in die¬ ser kleinen Welt gekannt sind; morgen früh, vor Sonnenaufgang, seyn Sie angezogen und bereit. Jarno kam zur bestimmten Stunde, und führte ihn durch bekannte und unbekannte Zimmer des Schlosses, dann durch einige Gallerien, und sie gelangten endlich vor eine große alte Thüre, die stark mit Eisen be¬ schlagen war. Jarno pochte, die Thüre that sich ein wenig auf, so daß eben ein Mensch hineinschlüpfen konnte. Jarno schob Wilhel¬ men hinein, ohne ihm zu folgen. Dieser fand sich in einem dunkeln und engen Be¬ hältnisse, es war finster um ihn, und als er einen Schritt vorwärts gehen wollte, stieß er schon wieder. Eine nicht ganz unbekannte Stimme rief ihm zu: tritt herein! und nun bemerkte er erst, daß die Seiten des Raums, in dem er sich befand, nur mit Teppichen behangen waren, durch welche ein schwaches Licht hindurch schimmerte. Tritt herein! rief es nochmals, er hob den Teppich auf, und trat hinein. Der Saal, in dem er sich nunmehr be¬ fand, schien ehemals eine Capelle gewesen zu seyn, an statt des Altars stand ein großer Tisch, auf einigen Stufen mit einem grünen Teppich behangen, darüber schien ein zuge¬ zogener Vorhang ein Gemälde zu bedecken; an den Seiten waren schön gearbeitete Schränke mit feinen Drathgittern verschlos¬ sen, wie man sie in Bibliotheken zu sehen pflegt, nur sah er an statt der Bücher viele Rollen aufgestellt. Niemand befand sich in dem Saal; die aufgehende Sonne fiel, durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen, und begrüßte ihn freundlich. Setze Dich! rief eine Stimme, die von dem Altare her zu tönen schien. Wilhelm setzte sich auf einen kleinen Armstuhl, der wi¬ der den Vorschlag des Eingangs stand, es war kein anderer Sitz im ganzen Zimmer, er mußte sich darein ergeben, ob ihn schon die Morgensonne blendete, der Sessel stand fest, er konnte nur die Hand vor die Augen halten. Indem eröfnete sich, mit einem kleinen Geräusche, der Vorhang über dem Altar, und zeigte, innerhalb eines Rahmens, eine leere, dunkle Öfnung. Es trat ein Mann hervor in gewöhnlicher Kleidung, der ihn begrüßte, und zu ihm sagte: sollten Sie mich nicht wieder erkennen? sollten Sie, un¬ ter andern Dingen, die Sie wissen möchten, nicht auch zu erfahren wünschen, wo die Kunstsammlung Ihres Großvaters sich gegen¬ wärtig befindet? Erinnern Sie sich des Ge¬ mäldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke Königssohn wohl jetzo schmachten? Wilhelm erkannte leicht den Fremden, der, in jener bedeutenden Nacht, sich mit ihm im Gasthause unterhal¬ ten hatte. Vielleicht, fuhr dieser fort, kön¬ nen wir jetzt über Schicksal und Charakter eher einig werden? Wilhelm wollte eben antworten, als der Vorhang sich wieder rasch zusammen zog. Sonderbar! sagte er bey sich selbst, sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang ha¬ ben? und das, was wir Schicksal nennen, sollte es blos Zufall seyn? wo mag sich mei¬ nes Großvaters Sammlung befinden? und warum erinnert man mich in diesen feyer¬ lichen Augenblicken daran? Er hatte nicht Zeit weiter zu denken, denn der Vorhang eröfnete sich wieder, und es stand ein Mann vor seinen Augen, den er sogleich für den Landgeistlichen erkannte, der mit ihm und der lustigen Gesellschaft jene Wasserfahrt gemacht hatte; er glich dem Abbé, ob er gleich nicht dieselbe Per¬ son schien. Mit einem heitern Gesichte und einem würdigen Ausdruck fing der Mann an: nicht vor Irrthum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den irrenden leiten, ja ihn seinen Irrthum aus vollen Bechern ausschlurfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irr¬ thum nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist. Der Vorhang schloß sich abermals, und Wil¬ helm hatte Zeit nachzudenken. Von welchem Irrthum kann der Mann sprechen? sagte er zu sich selbst, als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, daß ich da Bil¬ dung suchte, wo keine zu finden war, daß ich mir einbildete ein Talent erwerben zu können, zu dem ich nicht die geringste An¬ lage hatte. Der Vorhang riß sich schneller auf, ein Officier trat hervor, und sagte nur im Vor¬ beygehen: lernen Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann! Der Vorhang schloß sich, und Wilhelm brauchte sich nicht lange zu besinnen, um diesen Offi¬ cier für denjenigen zu erkennen, der ihn in des Grafen Park umarmt hatte, und Schuld gewesen war, daß er Jarno für einen Wer¬ ber hielt. Wie dieser hierher gekommen? und wer er sey, war Wilhelmen völlig ein Rätzel. — Wenn so viele Menschen an dir Theil nah¬ men, deinen Lebensweg kannten und wu߬ ten, was darauf zu thun sey, warum führ¬ ten sie dich nicht strenger? warum nicht ern¬ ster? warum begünstigten sie deine Spiele, an statt dich davon wegzuführen. Rechte nicht mit uns! rief eine Stimme; Du bist gerettet, und auf dem Wege zum Ziel; Du wirst keine Deiner Thorheiten be¬ reuen und keine zurück wünschen, kein glück¬ licheres Schicksal kann einem Menschen wer¬ den. Der Vorhang riß sich von einander, und, in voller Rüstung, stand der alte Kö¬ nig von Dännemark in dem Raume. Ich bin der Geist Deines Vaters, sagte das Bildnis, und scheide getrost, da meine Wün¬ sche für Dich, mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt sind. Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern. Lebe wohl, und gedenke mein, wenn Du genießest, was ich Dir vorbereitet habe. Wilhelm war äußerst betroffen, er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören, und doch war sie es auch nicht, er befand sich durch die Gegenwart und die Erinnerung in der verworrensten Lage. Nicht lange konnte er nachdenken, als der Abbé hervortrat, und sich hinter den grünen Tisch stellte. Treten Sie herbey! rief er seinem verwunderten Freunde zu. Er trat herbey, und stieg die Stufen hinan. Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. Hier ist Ihr Lehrbrief, sagte der Abbé, beherzigen Sie ihn, er ist von wichtigem Inhalt. Wil¬ helm nahm ihn auf, eröfnete ihn und las: Lehrbrief. Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urtheil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Handeln ist leicht, denken schwer; nach dem Gedachten handeln unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Er¬ wartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angebohren, das Nachahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur Ein Theil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel, wer sie ganz besitzt, mag nur thun und redet selten oder spät. Jene haben keine Geheim¬ nisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie ge¬ backenes Brod schmackhaft und sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht ver¬ mahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Hand¬ lung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. Niemand weiß was er thut, wenn er recht handelt, aber des Un¬ rechten sind wir uns immer bewußt. Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten. Des ächten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die That. Der ächte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte ent¬ wickeln, und nähert sich dem Meister. Genug! rief der Abbé, das übrige zu seiner Zeit. Jetzt sehen Sie sich in jenen Schränken um. Wilhelm ging hin, und las die Aufschrif¬ ten der Rollen. Er fand mit Verwunde¬ rung: Lothario’s Lehrjahre , Jarno’s Lehrjahre und seine eignen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern, de¬ ren Nahmen ihm unbekannt waren. Darf ich hoffen, in diese Rollen einen Blick zu werfen? Es ist für Sie nunmehr in diesem Zim¬ mer nichts verschlossen. Darf ich eine Frage thun? Ohne Bedenken! und Sie können ent¬ scheidende Antwort erwarten, wenn es eine Angelegenheit betrifft, die Ihnen zunächst am am Herzen liegt, und am Herzen liegen soll. Gut denn, ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viele Geheim¬ nisse dringt, könnt Ihr mir sagen, ob Felix wirklich mein Sohn sey? — Heil Ihnen über diese Frage! rief der Abbé, indem er vor Freuden die Hände zu¬ sammenschlug, Felix ist Ihr Sohn! bey dem Heiligsten, was unter uns verborgen liegt, schwör ich Ihnen, Felix ist Ihr Sohn, und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwerth; empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, glücklich zu seyn. Wilhelm hörte ein Geräusch hinter sich, er kehrte sich um, und sah ein Kindergesicht schalkhaft durch die Teppiche des Eingangs hervor gucken. Es war Felix! Der Knabe W. Meisters Lehrj. 4. O versteckte sich sogleich scherzend, als er ge¬ sehen wurde. Komm hervor! rief der Abbé. Er kam gelaufen, sein Vater stürzte ihm entgegen, nahm ihn in die Arme, und drückte ihn an sein Herz. Ja ich fühl’s, rief er aus, Du bist mein! welche Gabe des Himmels habe ich meinen Freunden zu verdanken! Wo kommst Du her, mein Kind, gerade in diesem Augenblick? Fragen Sie nicht! sagte der Abbé. Heil Dir junger Mann! Deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat Dich losgesprochen. Wilhelm Meisters Lehrjahre . Achtes Buch . O 2 Erstes Capitel . F elix war in den Garten gesprungen, Wil¬ helm folgte ihm mit Entzücken, der schönste Morgen zeigte jeden Gegenstand mit neuen Reizen, und Wilhelm genoß den heitersten Augenblick. Felix war neu in der freyen und herrlichen Welt, und sein Vater nicht viel bekannter mit den Gegenständen, nach de¬ nen der Kleine wiederholt und unermüdet fragte. Sie gesellten sich endlich zum Gärt¬ ner, der die Nahmen und den Gebrauch mancher Pflanzen hererzählen mußte; Wil¬ helm sah die Natur durch ein neues Organ, und die Neugierde, die Wißbegierde des Kindes ließen ihn erst fühlen, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich genommen hatte, wie wenig er kannte und wußte. An diesem Tage, dem vergnüg¬ testen seines Lebens schien auch seine eigne Bildung erst anzufangen, er fühlte die Noth¬ wendigkeit sich zu belehren, indem er zu leh¬ ren aufgefordert ward. Jarno und der Abbé hatten sich nicht wieder sehen lassen; Abends kamen sie, und brachten einen Fremden mit, Wilhelm ging ihm mit Erstaunen entgegen, er traute sei¬ nen Augen nicht, es war Werner, der gleich¬ falls einen Augenblick anstand, ihn anzuer¬ kennen. Beyde umarmten sich aufs zärtlichste, und beyde konnten nicht verbergen, daß sie sich wechselsweise verändert fanden. Werner behauptete, sein Freund sey größer, stärker, gerader, in seinen Wesen gebildeter und in seinem Betragen angenehmer geworden, — etwas von seiner alten Treuherzigkeit ver¬ miß ich, setzte er hinzu. — Sie wird sich auch schon wieder zeigen, wenn wir uns nur von der ersten Verwunderung erholt haben, sagte Wilhelm. Es fehlte viel, daß Werner einen gleich vortheilhaften Eindruck auf Wilhelmen ge¬ macht haben sollte. Der gute Mann schien eher zurück als vorwärts gegangen zu seyn. Er war viel magerer, als ehemals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu seyn, seine Stirn und sein Scheitel wa¬ ren von Haren entblößt, seine Stimme hell, heftig und schreyend, und seine eingedruckte Brust, seine vorfallenden Schultern, seine farblosen Wangen ließen keinen Zweifel übrig, daß ein arbeitsamer Hypochondriste gegen¬ wärtig sey. Wilhelm war bescheiden genug, um sich über diese große Veränderung sehr mäßig zu erklären, da der andere hingegen seiner freundschaftlichen Freude völlig den Lauf ließ. Wahrhaftig! rief er aus, wenn Du Deine Zeit schlecht angewendet, und, wie ich ver¬ muthe, nichts gewonnen hast, so bist Du doch indessen ein Persönchen geworden, das sein Glück machen kann und muß, verschlen¬ dere und verschleudere nur auch das nicht wieder; Du sollst mir mit dieser Figur eine reiche und schöne Erbin erkaufen. — Du wirst doch, versetzte Wilhelm lächelnd, Dei¬ nen Character nicht verleugnen! kaum fin¬ dest Du nach langer Zeit Deinen Freund wieder, so siehst Du ihn schon als eine Waare, als einen Gegenstand Deiner Spe¬ culation an, mit dem sich etwas gewinnen läßt. Jarno und der Abbé schienen über diese Erkennung feinesweges verwundert, und ließen beyde Freunde sich nach Belieben über das Vergangene und Gegenwärtige ausbrei¬ ten. Werner ging um seinen Freund her¬ um, drehte ihn hin und her, so, daß er ihn fast verlegen machte. Nein! nein! rief er aus, so was ist mir noch nicht vorgekom¬ men! und doch weiß ich wohl, daß ich mich nicht betrüge. Deine Augen sind tiefer, Deine Stirn ist breiter, Deine Nase feiner und Dein Mund liebreicher geworden. Seht nur einmal, wie er steht! wie das alles paßt und zusammenhängt! wie doch das Faullen¬ zen gedeihet! ich armer Teufel dagegen — er besah sich im Spiegel — wenn ich diese Zeit her nicht recht viel Geld gewonnen hätte, so wäre doch auch gar nichts an mir. Werner hatte Wilhelms letzten Brief nicht empfangen, ihre Handlung war das fremde Haus, mit welchem Lothario die Güter in Gemeinschaft zu kaufen die Absicht hatte. Dieses Geschäft führte Wernern hierher, er hatte keine Gedanken, Wilhelmen auf sei¬ nem Wege zu finden. Der Gerichtshalter kam, die Papiere wurden vorgelegt, und Werner fand die Vorschläge billig. Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es scheint, gut meynen, sagte er, so sorgen Sie selbst dafür, daß unser Theil nicht verkürzt werde; es soll von meinem Freunde abhän¬ gen, ob er das Gut annehmen und einen Theil seines Vermögens daran wenden will. Jarno und der Abbé versicherten, daß es dieser Erinnerung nicht bedürfe. Man hatte die Sache kaum im allgemeinen verhandelt, als Werner sich nach einer Parthie Lombre sehnte, wozu sich denn auch gleich der Abbé und Jarno mit hinsetzten; er war es nun einmal so gewohnt, er konnte des Abends ohne Spiel nicht leben. Als die beyden Freunde nach Tische al¬ lein waren, befragten und besprachen sie sich sehr lebhaft über alles, was sie sich mitzu¬ theilen wünschten. Wilhelm rühmte seine Lage und das Glück seiner Aufnahme unter so trefflichen Menschen. Werner schüttelte dagegen den Kopf, und sagte: man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen sieht! Mehr als Ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, Du lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm Schauspielerinnen zu, helfest ihm sein Geld durchbringen, und seyest schuld, daß er mit seinen sämmtlichen Anverwandten ge¬ spannt sey. — Es würde mich um meinet- und um der guten Menschen willen ver¬ drießen, daß wir so verkannt werden, ver¬ setzte Wilhelm, wenn mich nicht meine thea¬ tralische Laufbahn mit jeder übeln Nachrede versöhnt hätte. Wie sollten die Menschen unsere Handlungen beurtheilen, die ihnen nur einzeln und abgerissen erscheinen, wovon sie das wenigste sehen, weil Gutes und Bö¬ ses im Verborgenen geschieht, und eine gleich¬ gültige Erscheinung meistens nur an den Tag kommt. Bringt man ihnen doch Schauspie¬ ler und Schauspielerinnen auf erhöhte Bre¬ ter, zündet von allen Seiten Licht an, das ganze Werk ist in wenig Stunden abge¬ schlossen, und doch weiß selten jemand ei¬ gentlich, was er daraus machen soll. Nun ging es an ein Fragen nach der Familie, nach den Jugendfreunden und der Vaterstadt. Werner erzählte, mit großer Hast, alles was sich verändert hatte, und was noch bestand und geschah. Die Frauen im Hause, sagte er, sind vergnügt und glück¬ lich, es fehlt nie an Geld, die eine Hälfte der Zeit bringen sie zu sich zu putzen, und die andere Hälfte sich geputzt sehen zu las¬ sen. Haushältisch sind sie so viel als billig ist, meine Kinder lassen sich zu gescheuten Jungen an. Ich sehe sie im Geiste schon sitzen und schreiben, und rechnen, laufen, han¬ deln und trödeln, einem jeden soll sobald als möglich ein eignes Gewerbe eingerichtet werden! und was unser Vermögen betrifft, daran sollst Du Deine Lust sehen. Wenn wir mit den Gütern in Ordnung sind, mußt Du gleich mit nach Hause; denn es sieht doch aus, als wenn Du, mit einiger Ver¬ nunft, in die menschlichen Unternehmungen eingreifen könntest. Deine neuen Freunde sollen gepriesen seyn, daß sie Dich auf den rechten Weg gebracht haben. Ich bin ein närrischer Teufel, und merke erst, wie lieb ich Dich habe, da ich mich nicht satt an Dir sehen kann, daß Du so wohl und so gut aussiehst. Das ist doch noch eine andere Gestalt, als das Portrait, das Du einmal an die Schwester schicktest, und worüber im Hause großer Streit war. Mutter und Toch¬ ter fanden den jungen Herrn allerliebst, mit offnem Halse, halbfreyer Brust, großer Krau¬ se, herumhängendem Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und schlotternden langen Hosen, indessen ich behauptete, das Kostum sey nur noch zwey Finger breit vom Hans¬ wurst. Nun siehst Du doch aus wie ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich Deine Haare einzubinden bitte, sonst hält man Dich denn doch einmal unterweges als Juden an, und fordert Zoll und Geleite von Dir. Felix war indessen in die Stube gekom¬ men, und hatte sich, als man auf ihn nicht achtete, aufs Kanapee gelegt, und war ein¬ geschlafen. Was ist das für ein Wurm? fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Au¬ genblicke den Muth nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust eine doch immer zweydeu¬ tige Geschichte einem Manne zu erzählen, der von Natur nichts weniger als gläu¬ big war. Die ganze Gesellschaft begab sich nun¬ mehr auf die Güter, um sie zu besehen und den Handel abzuschließen. Wilhelm ließ sei¬ nen Felix nicht von der Seite, und freute sich, um des Knaben willen, recht lebhaft des Besitzes, dem man entgegen sah. Die Lüsternheit des Kindes nach den Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerten ihn an die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den sei¬ nigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaf¬ fen und zu erhalten. Mit welchem Inter¬ esse betrachtete er die Baumschulen und die Gebäude, wie lebhaft sann er darauf, das Vernachlässigte wieder herzustellen und das Verfallne zu erneuern. Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Ge¬ bäude nicht mehr für eine geschwind zusam¬ mengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, was er anzulegen ge¬ dachte, sollte dem Knaben entgegen wachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben. Er fühlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. O! der unnöthigen Strenge der Moral! rief er aus, da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir seyn sollen. O! der seltsamen Anforderun¬ gen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet, und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert. Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksam¬ sten Mittel wahrer Bildung zerstöhrt, und uns auf das Ende hinweißt, an statt uns auf dem Wege selbst zu beglücken. So So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobach¬ tung des Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als eine Menge ausgeschütteter Würfel vorge¬ kommen, deren jeder einzeln auf seiner Ober¬ fläche bald mehr, bald weniger bedeutet, und die allenfalls, zusammengezählt, eine Summe machen. Hier im Kinde lag ihm, konnte man sagen, ein einzelner Würfel vor, auf dessen vielfachen Seiten der Werth und der Unwerth der menschlichen Natur so deut¬ lich eingegraben war. Das Verlangen des Kindes nach Unter¬ scheidung wuchs mit jedem Tage. Da es einmal erfahren hatte, daß die Dinge Nah¬ men haben, so wollte es auch den Nahmen von allem hören, es glaubte nicht anders sein Vater müsse alles wissen, quälte ihn oft W. Meisters Lehrj. 4. P mit Fragen, und gab ihm Anlaß sich nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch der eingebohrne Trieb, die Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich früh bey dem Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme? war dem Vater seine eigene Be¬ schränkung erst recht lebendig, er wünschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch mit seinen Gedanken wagen, und wovon er hof¬ fen dürfe sich und andern jemals Rechen¬ schaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es irgend einem lebendigen Wesen Un¬ recht geschehen sah, erfreute den Vater höch¬ lich, als das Zeichen eines trefflichen Ge¬ müths. Das Kind schlug heftig nach dem Küchenmädchen, das einige Tauben abge¬ schnitten hatte; dieser schöne Begriff wurde denn freylich bald wieder zerstöhrt, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit Frösche todt schlug und Schmetterlinge zer¬ rupfte. Es erinnerte ihn dieser Zug an so viele Menschen, die höchst gerecht erscheinen, wenn sie ohne Leidenschaft sind, und die Handlungen anderer beobachten. Dieses angenehme Gefühl, daß der Knabe so einen schönen und wahren Einfluß auf sein Daseyn habe, ward einen Augenblick gestöhrt, als Wilhelm im Kurzen bemerkte, daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe; er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er war nicht im Stande ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten; noch machte das Kind die Thüre niemals hinter sich zu, noch wollte er seinen Teller P 2 nicht abessen, und sein Behagen war nie¬ mals größer, als wenn man ihm nachsah, daß er den Bissen unmittelbar aus der Schüs¬ sel nehmen, das volle Glas stehen lassen und aus der Flasche trinken konnte; so war er auch ganz allerliebst, wenn er sich mit einem Buche in die Ecke setzte, und sehr ernsthaft sagte: ich muß das gelehrte Zeug studiren! ob er gleich die Buchstaben noch lange weder unterscheiden konnte noch wollte. Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind gethan hatte, wie we¬ nig er zu thun fähig sey, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein ganzes Glück auf¬ zuwiegen im Stande war. Sind wir Män¬ ner denn, sagte er zu sich, so selbstisch ge¬ bohren, daß wir unmöglich für ein Wesen außer uns Sorge tragen können? Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabey habe ich es aufs grausamste ver¬ nachlässigt. Was that ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? nichts! Ich über¬ ließ es sich selbst und allen Zufälligkeiten, denen es, in einer ungebildeten Gesellschaft, nur ausgesetzt seyn konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so merkwürdig war, ehe er dir so werth seyn konnte, hat dich denn dein Herz geheißen auch nur jemals das geringste für ihn zu thun? Es ist nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zu¬ sammen, und denke was du für dich und die guten Geschöpfe zu thun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte. Eigentlich war dieses Selbstgespräch nur eine Einleitung, sich zu bekennen, daß er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewählt hatte, er konnte nicht länger anstehen, sich es selbst zu gestehen. Nach oft vergebens wiederholtem Schmerz über den Verlust Ma¬ rianens, fühlte er nur zu deutlich, daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse, und daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte dieses vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Gehülfin schien die einzige zu seyn, der man sich und die seinen anvertrauen könnte. Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonder¬ bares Schicksal auf ewig getrennt, Therese hielt sich für frey, und hatte von einer Hei¬ rath zwar mit Gleichgültigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von selbst versteht. Nachdem er lange mit sich zu Rathe ge¬ gangen war, nahm er sich vor, ihr von sich zu sagen, so viel er nur wußte. Sie sollte ihn kennen lernen, wie er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte durch¬ zudenken, sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im Ganzen jedes Bekänntniß so wenig zu seinem Vortheil, daß er mehr als Einmal von dem Vorsatz abzustehn im Be¬ griff war. Endlich entschloß er sich die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Thurme von Jarno zu verlangen; dieser sagte: es ist eben zur rechten Zeit, und Wilhelm erhielt sie. Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch, mit Bewußtseyn, auf dem Puncte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt werden soll. Alle Übergänge sind Crisen, und ist eine Crise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des vergan¬ genen Übels. Wilhelm war indessen vorbe¬ reitet genug, die Umstände hatten schon leb¬ haft zu ihm gesprochen, seine Freunde hat¬ ten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast auf¬ rollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umständliche Ge¬ schichte seines Lebens in großen scharfen Zü¬ gen geschildert, weder einzelne Begebenhei¬ ten, noch beschränkte Empfindungen verwirr¬ ten seinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬ trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum ersten¬ mal sein Bild außer sich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweytes Selbst, sondern wie im Portrait, ein anderes Selbst; man bekennt sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht, und daß es länger als wir selbst dauren kann. Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem alle Umstände durch dieß Manuscript in sein Gedächtniß zurück kamen, die Geschichte sei¬ nes Lebens für Theresen aufzusetzen, und er schämte sich fast, daß er gegen ihre große Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine zweckmäßige Thätigkeit beweisen konnte. So umständlich er in dem Aufsatze war, so kurz faßte er sich in dem Briefe, den er an sie schrieb; er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenns möglich wäre, er bot ihr seine Hand an, und bat sie um baldige Ent¬ scheidung. Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbé bera¬ then solle? entschied er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war für ihn zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urtheil des vernünftigsten und besten Mannes unterwerfen mögen; ja sogar brauchte er die Vorsicht, seinen Brief auf der näch¬ sten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte ihm der Gedanke, daß er in so vielen Um¬ ständen seines Lebens, in denen er frey und im Verborgnen zu handeln glaubte, beobach¬ tet, ja sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht undeutlich erschien, eine Art von unangenehmer Em¬ pfindung gegeben, und nun wollte er, we¬ nigstens zu Theresens Herzen, rein vom Her¬ zen reden, und ihrer Entschließung und Ent¬ scheidung sein Schicksal schuldig seyn, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wäch¬ ter und Aufseher in diesem wichtigen Puncte wenigstens zu umgehen. Zweytes Capitel . K aum war der Brief abgesendet, als Lo¬ thario zurück kam Jedermann freuete sich die vorbereiteten wichtigen Geschäfte abge¬ schlossen und bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so viele Fäden theils neu geknüpft, theils auf¬ gelöst, und nun sein eignes Verhältniß auf die Zukunft bestimmt werden sollte. Lotha¬ rio begrüßte sie alle aufs beste, er war völ¬ lig wieder hergestellt und heiter, er hatte das Ansehen eines Mannes, der weiß was er thun soll, und dem in allem, was er thun will, nichts im Wege steht. Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruß nicht zurück geben. Dies ist, mußte er zu sich selbst sagen, der Freund, der Ge¬ liebte, der Bräutigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrängen denkst. Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck aus¬ zulöschen oder zu verbannen? — Wäre der Brief noch nicht fort gewesen, er hätte viel¬ leicht nicht gewagt ihn abzulassen. Glück¬ licher Weise war der Wurf schon gethan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die Entfernung deckte noch eine glückliche Vollendung mit ihrem Schleyer. Gewinn und Verlust mußten sich bald entscheiden. Er suchte sich durch alle diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewe¬ gungen seines Herzens beynahe fieberhaft. Nur wenig Aufmerksamkeit konnte er auf das wichtige Geschäft wenden, woran ge¬ wissermaßen das Schicksal seines ganzen Ver¬ mögens hing. Ach! wie unbedeutend erscheint dem Menschen in leidenschaftlichen Augen¬ blicken alles was ihn umgiebt, alles was ihm angehört. Glücklicher Weise für ihn behandelte Lo¬ thario die Sache groß und Werner mit Leich¬ tigkeit. Dieser hatte bey seiner heftigen Be¬ gierde zum Erwerb eine lebhafte Freude über den schönen Besitz, der ihm oder vielmehr seinem Freunde werden sollte. Lothario von seiner Seite schien ganz andere Betrachtun¬ gen zu machen. Ich kann mich nicht sowohl über einen Besitz freuen, sagte er, als über die Rechtmäßigkeit desselben. Nun, beym Himmel! rief Werner, wird denn dieser unser Besitz nicht rechtmäßig genug? Nicht ganz! versetzte Lothario. Geben wir denn nicht unser baares Geld dafür? Recht gut! sagte Lothario, auch werden Sie dasjenige, was ich zu erinnern habe, vielleicht für einen leeren Scrupel halten. Mir kommt kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Theil abträgt. Wie? sagte Werner, so wollten Sie also lieber, daß unsere freygekauften Güter steuer¬ bar wären? Ja! versetzte Lothario, bis auf einen ge¬ wissen Grad, denn durch diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen, entsteht ganz allein die Sicherheit des Besitzes. Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den Besitz des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen, als den seini¬ gen? nur den, daß jener nicht belastet ist, und auf ihn lastet. Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Capitals aussehen, versetzte Werner. Um nichts schlimmer! sagte Lothario, wenn uns der Staat gegen eine billige regelmäßige Abgabe das Lehns-Hokus-Pokus erlassen, und uns mit unsern Gütern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daß wir sie nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie unter unsere Kinder gleicher vertheilen könnten, um alle in eine lebhafte freye Thätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und beschränken¬ den Vorrechte zu hinterlassen, welche zu ge¬ nießen wir immer die Geister unserer Vor¬ fahren hervorrufen müssen. Wie viel glück¬ licher wären Männer und Frauen, wenn sie mit freyen Augen umher sehen, und bald ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen Jüngling, ohne andere Rücksichten, durch ihre Wahl erheben könnten. Der Staat würde mehr, vielleicht bessere Bürger haben, und nicht so oft um Köpfe und Hände verlegen seyn. Ich kann Sie versichern, sagte Werner, daß ich in meinem Leben nie an den Staat gedacht habe, meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich nur so bezahlt, weil es ein¬ mal hergebracht ist. Nun sagte Lothario, ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu machen; denn wie der nur ein guter Vater ist, der bey Tische erst seinen Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter Bürger, der vor allen andern Aus¬ gaben das, was er dem Staate zu entrich¬ ten hat, zurücklegt. Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern Geschäfte nicht auf¬ gehalten, vielmehr beschleunigt. Als sie ziem¬ lich damit zu Stande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: ich muß Sie nun an einen Ort schicken, wo Sie nöthiger sind als hier, meine Schwester läßt Sie ersuchen sobald als möglich zu ihr zu kommen, der arme Mignon scheint sich zu verzehren, und man glaubt Ihre Gegenwart könnte vielleicht noch dem dem Übel Einhalt thun. Meine Schwester schickte mir dieses Billet noch nach, wor¬ aus Sie sehen können, wie viel ihr daran gelegen ist. Lothario überreichte ihm ein Blättchen. Wilhelm, der schon in der grö߬ ten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte sogleich an diesen flüchtigen Bleistiftzügen die Hand der Gräfin, und wußte nicht, was er antworten sollte. Nehmen Sie Felix mit, sagte Lothario, damit die Kinder sich unter einander aufhei¬ tern. Sie müßten morgen früh bey Zeiten weg, der Wagen meiner Schwester, in wel¬ chem meine Leute hergefahren sind, ist noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen Sie Post. Leben Sie recht wohl, und richten viele Grüße von mir aus. Sagen Sie dabey meiner Schwe¬ ster, ich werde sie bald wieder sehen, und sie soll sich überhaupt auf einige Gäste vor¬ W. Meisters Lehrj. 4. Q bereiten. Der Freund unseres Großoheims, der Markese Cipriani, ist auf dem Wege hierher zu kommen, er hoffte den alten Mann noch am Leben anzutreffen, und sie wollten sich zusammen an der Erinnerung früherer Verhältnisse ergötzen, und sich ihrer gemeinsamen Kunstliebhaberey erfreuen. Der Markese war viel jünger als mein Oheim, und verdankte ihm den besten Theil seiner Bildung, wir müssen alles aufbieten, um einigermaßen die Lücke auszufüllen, die er finden wird, und das wird am besten durch eine größere Gesellschaft geschehen. Lothario ging darauf mit dem Abbé in sein Zimmer, Jarno war vorher weggerit¬ ten, Wilhelm eilte auf seine Stube, er hatte niemand, dem er sich vertrauen, niemand durch den er einen Schritt, vor dem er sich so sehr fürchtete, hätte abwenden können. Der kleine Diener kam, und ersuchte ihn einzupacken, weil sie noch diese Nacht auf¬ binden wollten, um mit Anbruch des Tages wegzufahren. Wilhelm wußte nicht, was er thun sollte, endlich rief er aus: Du willst nur machen, daß Du aus diesem Hause kommst, unterweges überlegst Du, was zu thun ist, und bleibst allenfalls auf der Hälfte des Weges liegen, schickst einen Bothen zu¬ rück, schreibst was Du Dir nicht zu sagen getraust, und dann mag werden was will. Ohngeachtet dieses Entschlusses brachte er eine schlaflose Nacht zu, nur ein Blick auf den so schön ruhenden Felix gab ihm einige Erquickung. O! rief er aus, wer weiß, was noch für Prüfungen auf mich warten, wer weiß wie sehr mich begangene Fehler noch quälen, wie oft mir gute und vernünftige Plane für die Zukunft mißlingen sollen, aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbittliches, oder unerbittliches Schick¬ Q 2 sal! wäre es möglich, daß dieser beste Theil von mir selbst vor mir zerstöhrt, daß dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden könnte, so lebe wohl Verstand und Ver¬ nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde du Trieb zur Erhaltung! alles, was uns vom Thier unterscheidet, verliehre sich! und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freywillig zu endigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das Bewußt¬ seyn auf, ehe der Tod, der es auf immer zerstöhrt, die lange Nacht herbeyführt. Er faßte den Knaben in seine Arme, küßte ihn, drückte ihn an sich und benetzte ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freund¬ licher Blick rührten den Vater aufs innigste. Welche Scene steht mir bevor, rief er aus, wenn ich Dich der schönen unglücklichen Grä¬ fin vorstellen soll, wenn sie Dich an ihren Busen drückt, den Dein Vater so tief ver¬ letzt hat. Muß ich nicht fürchten, sie stößt Dich wieder von sich mit einem Schrey, so¬ bald Deine Berührung ihren wahren oder eingebildeten Schmerz erneuert. Der Kutscher ließ ihm nicht Zeit weiter zu denken oder zu wählen, er nöthigte ihn vor Tage in den Wagen; nun wickelte er seinen Felix wohl ein, der Morgen war kalt aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in seinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Er¬ staunen über den ersten feurigen Blick, über die wachsende Gewalt des Lichts, seine Freude und seine wunderlichen Bemerkungen erfreu¬ ten den Vater, und ließen ihn einen Blick in das Herz thun, vor welchem die Sonne wie über einem reinen stillen See empor¬ steigt und schwebt. In einer kleinen Stadt spannte der Kut¬ scher aus und ritt zurück. Wilhelm nahm sogleich ein Zimmer in Besitz, und fragte sich nun, ob er bleiben oder vorwärts ge¬ hen solle? In dieser Unentschlossenheit wagte er das Blättchen wieder hervor zu nehmen, das er bisher nochmals anzusehen nicht ge¬ traut hatte, es enthielt folgende Worte: Schicke mir Deinen jungen Freund ja bald; Mignon hat sich diese beyden letzten Tage eher verschlimmert. So traurig diese Gele¬ genheit ist, so soll michs doch freuen ihn kennen zu lernen. Die letzten Worte hatte Wilhelm beym ersten Blick nicht bemerkt. Er erschrack dar¬ über, und war sogleich entschieden, daß er nicht gehen wollte. Wie, rief er aus, Lo¬ thario, der das Verhältniß weiß, hat ihr nicht eröfnet wer ich bin. Sie erwartet nicht mit gesetztem Gemüth einen Bekannten, den sie lieber nicht wieder sähe, sie erwartet ei¬ nen Fremden, und ich trete hinein! Ich sehe sie zurückschaudern, ich sehe sie erröthen! Nein es ist mir unmöglich dieser Scene ent¬ gegen zu gehen. So eben wurden die Pferde herausgeführt und eingespannt; Wil¬ helm war entschlossen abzuhacken und hier zu bleiben. Er war in der größten Bewe¬ gung. Als er ein Mädchen zur Treppe her¬ auf kommen hörte, die ihm anzeigen wollte, daß alles fertig sey, sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hier zu bleiben nö¬ thigte, und seine Augen ruhten ohne Auf¬ merksamkeit auf dem Billet, das er in der Hand hielt. Um Gottes Willen! rief er aus, was ist das? das ist nicht die Hand der Gräfin, es ist die Hand der Amazone! Das Mädchen trat herein, bat ihn her¬ unter zu kommen, und führte Felix mit sich fort. Ist es möglich? rief er aus, ist es wahr? was soll ich thun? bleiben und ab¬ warten und aufklären? oder eilen? eilen! und mich einer Entwicklung entgegenstürzen? Du bist auf dem Wege zu ihr, und kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen, und willst dich freywillig ins Gefängniß ein¬ sperren? Es ist ihre Hand, ja sie ists! diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu führen, nun lößt sich das Rätzel: Lothario hat zwey Schwestern. Er weiß mein Verhältniß zu der einen; wie viel ich der andern schuldig bin, ist ihm un¬ bekannt. Auch sie weiß nicht, daß der ver¬ wundete Vagabund, der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause ihres Bruders so unverdient gü¬ tig aufgenommen worden ist. Felix, der sich unten im Wagen schau¬ kelte, rief: Vater komm! o komm! sieh die schönen Wolken, die schönen Farben! ja ich komme, rief Wilhelm, indem er die Treppe hinunter sprang, und alle Erscheinungen des Himmels, die Du gutes Kind noch sehr be¬ wunderst, sind nichts gegen den Anblick, den ich erwarte. Im Wagen sitzend rief er nun alle Ver¬ hältnisse in sein Gedächtniß zurück. So ist also auch diese Natalie die Freundin There¬ sens! welch’ eine Entdeckung, welche Hoff¬ nung und welche Aussichten. Wie seltsam, daß die Furcht, von der einen Schwester re¬ den zu hören, mir das Daseyn der andern ganz und gar verbergen konnte! Mit welcher Freude sahe er seinen Felix an, er hoffte für den Knaben wie für sich die beste Auf¬ nahme. Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht der beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war einge¬ schlafen, und neue Sorgen und Zweifel stie¬ gen in dem Busen unseres Freundes auf. Von welchem Wahn, von welchen Einfällen wirst du beherrscht? sagte er zu sich selbst, eine ungewisse Ähnlichkeit der Handschrift macht dich auf einmal sicher, und giebt dir Gelegenheit das wunderbarste Mährchen aus¬ zudenken. Er nahm das Billet wieder vor, und bey dem abgehenden Tageslichte glaubte er wieder die Handschrift der Gräfin zu er¬ kennen, seine Augen wollten im Einzelnen nicht wieder finden, was ihm sein Herz im Ganzen auf einmal gesagt hatte. — So ziehen dich denn doch diese Pferde zu einer schrecklichen Scene! wer weiß ob sie dich nicht in wenig Stunden schon wieder zurück führen werden? und wenn du sie nur noch allein anträfest; aber vielleicht ist ihr Ge¬ mahl gegenwärtig, vielleicht die Baronesse? wie verändert werde ich sie finden! werde ich vor ihr auf den Füßen stehen können? Nur eine schwache Hoffnung, daß er sei¬ ner Amazone entgegen gehe, konnte manch¬ mal durch die trüben Vorstellungen durch¬ blicken. Es war Nacht geworden, der Wa¬ gen rasselte in einen Hof hinein, und hielt still; ein Bedienter, mit einer Wachsfackel, trat aus einem prächtigen Portal hervor, und kam die breiten Stufen herunter, bis an den Wagen. Sie werden schon lange erwartet, sagte er, indem er das Leder auf¬ schlug. Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix auf den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweyten, der mit einem Lichte in der Thüre stand: führe den Herrn gleich zur Baronesse. Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: welch ein Glück! es sey vorsätzlich oder zufällig, die Baronesse ist hier! ich soll sie zuerst sehen! wahrscheinlich schläft die Gräfin schon! ihr guten Geister helft, daß der Augenblick der größten Verlegenheit leid¬ lich vorübergehe. Er trat in das Haus, und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach, dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhängende blendende Laterne er¬ leuchtete eine breite sanfte Treppe, die ihm entgegenstand, und sich oben beym Umwen¬ den in zwey Theile teilte. Marmorne Sta¬ tuen und Büsten standen auf Piedestalen und in Nischen geordnet. Einige schienen ihm bekannt. Jugendeindrücke verlöschen nicht auch in ihren kleinsten Theilen. Er erkannte eine Muse, die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an ihrem Werth, doch an einem restaurirten Arme und an den neueingesetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Mährchen erlebte. Das Kind ward ihm schwer, er zauderte auf den Stufen, und kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer au¬ genblicklichen Erholung. Er konnte kaum sich wieder aufheben. Der vorleuchtende Be¬ diente wollte ihm das Kind abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen. Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das wohlbe¬ kannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nöthigte ihn durch ein paar Zimmer in ein Kabinet. Dort, hinter einem Lichtschirme, der sie be¬ schattete, saß ein Frauenzimmer und las. O daß sie es wäre! sagte er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick. Er setzte das Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu nähern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das Frauenzimmer stand auf und kam ihm ent¬ gegen. Die Amazone war’s! er konnte sich nicht halten, stürzte auf seine Knie, und rief aus: sie ist’s! er faßte ihre Hand, und küßte sie mit unendlichem Entzücken. Das Kind lag zwischen ihnen beyden auf dem Teppich und schlief sanft. Felix ward auf das Kanapee gebracht, Natalie setzte sich zu ihm, sie hieß Wilhel¬ men auf den Sessel sitzen, der zunächst da¬ bey stand. Sie bot ihm einige Erfrischun¬ gen an, die er ausschlug, indem er nur be¬ schäftigt war, sich zu versichern, daß sie es sey, und ihre, durch den Lichtschirm beschat¬ teten Züge, genau wieder zu sehen, und sicher wieder zu erkennen. Sie erzählte ihm von Mignons Krankheit im allgemeinen, daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daß es bey seiner großen Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und gefährlich leide, daß dieses erste Organ des Lebens, bey unvermutheten Gemüthsbewegungen, manchmal plötzlich stille stehe, und keine Spur der heilsamen Lebens¬ regung in dem Busen des guten Kindes ge¬ fühlt werden könne; sey dieser ängstliche Krampf vorbey, so äußere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen, und ängstige das Kind nunmehr durch Übermaß, wie es vorher durch Mangel gelitten habe. Wilhelm erinnerte sich einer solchen krampf¬ haften Scene, und Natalie bezog sich auf den Arzt, der weiter mit ihm über die Sache sprechen, und die Ursache, warum man den Freund und Wohlthäter des Kindes gegen¬ wärtig herbeygerufen, umständlicher vorle¬ gen würde. Eine sonderbare Veränderung, fuhr Natalie fort, werden Sie an ihr fin¬ den, sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien. Wie haben Sie das erreicht? fragte Wilhelm. Wenn es wünschenswerth war, so sind wir es nur dem Zufall schuldig. Hören Sie, wie es zugegangen ist. Sie wissen vielleicht, daß ich immer eine Anzahl junger Mädchen um mich habe, deren Gesinnungen ich, in¬ dem sie neben mir aufwachsen, zum Guten und Rechten zu bilden wünschte. Aus mei¬ nem Munde hören sie nichts, als was ich selber für wahr halte, doch kann ich und will ich nicht hindern, daß sie nicht auch von andern manches vernehmen, was als Irrthum, als Vorurtheil in der Welt gäng und gäbe ist. Fragen sie mich darüber, so suche ich, so viel nur möglich ist, jene frem¬ den ungehörigen Begriffe irgendwo an ei¬ nem richtigen anzuknüpfen, um sie dadurch, wo nicht nützlich doch unschädlich zu machen. Schon seit einiger Zeit hatten meine Mäd¬ chen, aus dem Munde der Bauerkinder, gar manches von Engeln, vom Knechte Ruprecht, vom vom Heiligen Christe vernommen, die zu ge¬ wissen Zeiten in Person erscheinen, gute Kin¬ der beschenken und unartige bestrafen sollten. Sie hatten eine Vermuthung, daß es ver¬ kleidete Personen seyn müßten, worin ich sie denn auch bestärkte, und, ohne mich viel auf Deutungen einzulassen, mir vornahm, ihnen bey der ersten Gelegenheit ein solches Schauspiel zu geben. Es fand sich eben, daß der Geburtstag von Zwillingschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie sowohl verdient hätten. Sie waren äußerst gespannt auf diese Erschei¬ nung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem be¬ stimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust, W. Meisters Lehrj. 4. R und an einem gleichen Diadem in den Haa¬ ren. Anfangs wollte ich die Flügel weglas¬ sen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar große goldene Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in der einen Hand, und mit einem Körbchen in der andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mädchen, und überraschte mich selbst. Da kommt der Engel, sagte ich. Die Kinder traten gleichsam alle zurück! Endlich riefen sie aus: es ist Mignon, und getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde näher zu treten. Hier sind eure Gaben, sagte sie, und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie. Bist Du ein Engel? fragte das eine Kind. Ich wollte ich wär’ es, versetzte Mignon. Warum trägst Du eine Lilie? So rein und offen sollte mein Herz seyn, dann wär’ ich glücklich. Wie ist’s mit den Flügeln? laß sie sehen! Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind. Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neu¬ gierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war, und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zit¬ ter, setzte sich hier auf diesen hohen Schreib¬ tisch hinauf, und sang ein Lied mit unglaub¬ licher Anmuth. So laßt mich scheinen bis ich werde, Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile, von der schönen Erde Hinab in jenes feste Haus. R 2 Dort ruh ich eine kleine Stille, Dann öffnet sich der frische Blick, Ich lasse dann die reine Hülle, Den Gürtel und den Kranz zurück. Und jene himmlische Gestalten Sie fragen nicht nach Mann und Weib, Und keine Kleider, keine Falten Umgeben den verklärten Leib. Zwar lebt’ ich ohne Sorg und Mühe Doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung. Vor Kummer altert ich zu frühe, Macht mich auf ewig wieder jung. Ich entschloß mich sogleich, fuhr Natalie fort, ihr das Kleid zu lassen, und ihr noch einige der Art anzuschaffen, in denen sie nun auch geht, und in denen, wie es mir scheint, ihr Wesen einen ganz andern Ausdruck hat. Da es schon spät war, entließ Natalie den Ankömmling, der nicht ohne einige Ban¬ gigkeit sich von ihr trennte. Ist sie verhei¬ rathet oder nicht? dachte er bey sich selbst. Er hatte gefürchtet, so oft sich etwas regte, eine Thüre möchte sich aufthun, und der Gemahl hereintreten. Der Bediente, der ihn in sein Zimmer einließ, entfernte sich schneller, als er Muth gefaßt hatte, nach diesem Verhältniß zu fragen. Die Unruhe hielt ihn noch eine Zeit lang wach, und er beschäftigte sich das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen gegenwärtigen Freun¬ din zu vergleichen. Sie wollten noch nicht mit einander zusammenfließen; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses schien fast ihn umschaffen zu wollen. Drittes Capitel. D en andern Morgen, da noch alles stille und ruhig war, ging er sich im Hause um¬ zusehen. Es war die reinste, schönste, wür¬ digste Baukunst, die er gesehen hatte. Ist doch wahre Kunst, rief er aus, wie gute Gesellschaft; sie nöthigt uns auf die ange¬ nehmste Weise das Maaß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist. Unglaublich angenehm war der Eindruck, den die Statuen und Büsten seines Großva¬ ters auf ihn machten. Mit Verlangen eilte er dem Bilde vom kranken Königssohn entgegen, und noch immer fand er es reizend und rührend. Der Bediente öffnete ihm ver¬ schiedene andere Zimmer, er fand eine Bi¬ bliothek, eine Naturaliensammlung, ein phy¬ sikalisches Kabinet. Er fühlte sich so fremd vor allen diesen Gegenständen. Felix war indessen erwacht und ihm nachgesprungen; der Gedanke, wie und wann er Theresens Brief erhalten werde, machte ihm Sorge, er fürchtete sich vor dem Anblick Mignons, gewissermaßen vor dem Anblick Nataliens. Wie ungleich war sein gegenwärtiger Zustand mit jenen Augenblicken, als er den Brief an Theresen gesiegelt hatte, und mit frohem Muth sich ganz einem so edlen Wesen hingab. Natalie ließ ihn zum Frühstück einladen. Er trat in ein Zimmer, in welchem verschie¬ dene reinlich gekleidete Mädchen, alle, wie es schien, unter zehen Jahren, einen Tisch zu rechte machten, indem eine ältliche Per¬ son verschiedene Arten von Getränken her¬ einbrachte. Wilhelm beschaute ein Bild, das über dem Kanapee hing, mit Aufmerksamkeit, er mußte es für das Bild Nataliens erkennen, so wenig es ihm genug thun wollte. Nata¬ lie trat herein, und die Ähnlichkeit schien ganz zu verschwinden. Zu seinem Troste hatte es ein Ordenskreuz an der Brust, und er sah ein gleiches an der Brust Nataliens. Ich habe das Portrait hier angesehen, sagte er zu ihr, und mich verwundert, wie ein Mahler zugleich so wahr und so falsch seyn kann. Das Bild gleicht Ihnen, im All¬ gemeinen, recht sehr gut, und doch sind es weder Ihre Züge noch ihr Character. Es ist zu verwundern, versetzte Natalie, daß es noch so viel Ähnlichkeit hat; denn es ist gar mein Bild nicht, es ist das Bild ei¬ ner Tante, die mir noch in ihrem Alter glich, da ich erst ein Kind war. Es ist gemahlt, als sie ohngefähr meine Jahre hatte, und beym ersten Anblick glaubt jedermann mich zu sehen. Sie hätten diese treffliche Person kennen sollen. Ich bin ihr so viel schuldig. Eine sehr schwache Gesundheit, vielleicht zu viel Beschäftigung mit sich selbst, und dabey eine sittliche und religiöse Ängstlichkeit ließen sie das der Welt nicht seyn, was sie unter andern Umständen hätte werden können. Sie war ein Licht, das nur wenigen Freunden und mir besonders leuchtete. Wäre es möglich, versetzte Wilhelm, der sich einen Augenblick besonnen hatte, indem nun auf einmal so vielerley Umstände ihm zusammentreffend erschienen, wäre es mög¬ lich, daß jene schöne herrliche Seele, deren stille Bekenntnisse auch mir mitgetheilt wor¬ den sind, Ihre Tante sey? Sie haben das Heft gelesen? fragte Natalie. Ja! versetzte Wilhelm, mit der größten Theilnahme und nicht ohne Wirkung auf mein ganzes Leben. Was mir am meisten aus dieser Schrift entgegen leuchtete, war, ich möchte so sagen, die Reinlichkeit des Daseyns, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen, was sie umgab. Diese Selbstständigkeit ihrer Natur und die Un¬ möglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war. So sind Sie, versetzte Natalie, billiger, ja ich darf wohl sagen, gerechter gegen diese schöne Natur, als manche andere, denen man auch dieses Manuscript mitgetheilt hat. Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er an sich und andern mit einer gewissen Ro¬ heit zu kämpfen hat, wie viel ihn seine Bil¬ dung kostet, und wie sehr er doch in gewis¬ sen Fällen nur an sich selbst denkt und ver¬ gißt, was er andern schuldig ist. Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe, und doch wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu seyn. Und doch sind die Menschen dieser Art, außer uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, son¬ dern zum Nachstreben. Man lacht über die Reinlichkeit der Holländerinnen, und doch wäre Freundin Therese nicht was sie ist, wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem Hauswesen immer vorschwebte. So finde ich also, rief Wilhelm aus, in Theresens Freundin jene Natalie vor mir, an welcher das Herz jener köstlichen Ver¬ wandten hing, jene Natalie, die von Ju¬ gend an so theilnehmend, so liebevoll und hülfreich war. Nur aus einem solchen Ge¬ schlecht konnte eine solche Natur entstehen! Welch eine Aussicht eröfnet sich vor mir, da ich auf einmal Ihre Voreltern und den gan¬ zen Kreis, dem Sie angehören, überschaue. Ja! versetzte Natalie, Sie könnten in ei¬ nem gewissen Sinne nicht besser von uns unterrichtet seyn, als durch den Aufsatz un¬ serer Tante; freylich hat ihre Neigung zu mir sie zu viel Gutes von dem Kinde sagen lassen. Wenn man von einem Kinde redet, spricht man niemals den Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen aus. Wilhelm hatte indessen schnell überdacht, daß er nun auch von Lothario’s Herkunft und früher Jugend unterrichtet sey; die schöne Gräfin erschien ihm als Kind mit den Per¬ len ihrer Tante um den Hals; auch er war diesen Perlen so nahe gewesen, als ihre zar¬ ten liebevollen Lippen sich zu den seinigen herunter neigten; er suchte diese schönen Er¬ innerungen durch andere Gedanken zu ent¬ fernen. Er lief die Bekanntschaften durch‚ die ihm jene Schrift verschafft hatte. So bin ich denn, rief er aus, in dem Hause des würdigen Oheims! Es ist kein Haus, es ist ein Tempel, und Sie sind die würdige Prie¬ sterinn, ja der Genius selbst; ich werde mich des Eindrucks von gestern Abend zeitlebens erinnern, als ich hereintrat, und die alten Kunstbilder der frühsten Jugend wieder vor mir standen. Ich erinnerte mich der mitlei¬ digen Marmorbilder in Mignons Lied; aber diese Bilder hatten über mich nicht zu trauern, sie sahen mich mit hohem Ernst an, und schlossen meine früheste Zeit unmittelbar an diesen Augenblick. Diesen unsern alten Fa¬ milienschatz, diese Lebensfreude meines Gro߬ vaters finde ich hier, zwischen so vielen an¬ dern würdigen Kunstwerken aufgestellt, und mich, den die Natur zum Liebling dieses guten alten Mannes gemacht hatte, mich Unwürdigen, finde ich nun auch hier! o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft. Die weibliche Jugend hatte nach und nach das Zimmer verlassen, um ihren klei¬ nen Beschäftigungen nachzugehn. Wilhelm, der mit Natalien allein geblieben war, mußte ihr seine letzten Worte deutlicher erklären. Die Entdeckung, daß ein schätzbarer Theil der aufgestellten Kunstwerke seinem Gro߬ vater angehört hatte, gab eine sehr heitere gesellige Stimmung. So wie er durch jenes Manuscript mit dem Hause bekannnt wor¬ den war, so fand er sich nun auch gleichsam in seinem Erbtheile wieder, wünschte Mignon zu sehen, die Freundinn bat ihn sich noch so lange zu gedulden, bis der Arzt, der in die Nachbarschaft gerufen worden, wieder zurück käme. Man kann leicht denken, daß es der¬ selbe kleine thätige Mann sey, den wir schon kennen, und dessen auch die Bekennt¬ nisse einer schönen Seele erwähnten. Da ich mich, fuhr Wilhelm fort, mitten in jenem Familienkreis befinde, so ist ja wohl der Abbé, dessen jene Schrift erwähnt, auch der wunderbare, unerklärliche Mann, den ich in dem Hause Ihres Bruders, nach den seltsamsten Ereignissen, wiedergefunden habe. Vielleicht geben Sie mir einige nähere Auf¬ schlüsse über ihn? Natalie versetzte: über ihn wäre vieles zu sagen; wovon ich am genauesten unter¬ richtet bin, ist der Einfluß, den er auf un¬ sere Erziehung gehabt hat. Er war, wenig¬ stens eine Zeit lang, überzeugt, daß die Er¬ ziehung sich nur an die Neigung anschließen müsse; wie er jetzt denkt, kann ich nicht sa¬ gen. Er behauptete: das erste und letzte am Menschen sey Thätigkeit, und man könne nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibe. Man giebt zu, pflegte er zu sagen, daß Poeten gebohren werden, man giebt es bey allen Künsten zu, weil man muß, und weil jene Wirkungen der menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft werden können; aber, wenn man es genau betrachtet, so wird jede auch nur die geringste Fähigkeit uns ange¬ bohren, und es giebt keine unbestimmte Fä¬ higkeit. Nur unsere zweydeutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewis, sie erregt Wünsche statt Triebe zu beleben, und, anstatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ih¬ nen bemüht, nicht übereinstimmen. Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln. Fin¬ den jene, entweder durch sich selbst, oder durch Anleitung, den rechten Weg, das ist den , der ihrer Natur gemäß ist, so werden sie sie ihn nie verlassen, an statt daß diese je¬ den Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzuschütteln, und sich einer unbeding¬ ten Freyheit zu übergeben. Es ist sonderbar, sagte Wilhelm, daß dieser merkwürdige Mann auch an mir Theil genommen, und mich, wie es scheint, nach seiner Weise, wo nicht geleitet, doch wenig¬ stens eine Zeit lang in meinen Irrthümern gestärkt hat. Wie er es künftig verantwor¬ ten will, daß er, und wie es scheint meh¬ rere, mich gleichsam zum besten hatten, muß ich wohl mit Geduld erwarten. Ich habe mich nicht über diese Grille, wenn sie eine ist, zu beklagen, sagte Nata¬ lie; denn ich bin freylich unter meinen Ge¬ schwistern am besten dabey gefahren. Auch seh’ ich nicht, wie mein Bruder Lothario hätte schöner ausgebildet werden können, nur hätte vielleicht meine gute Schwester, die W. Meisters Lehrj. 4. S Gräfin, anders behandelt werden sollen, viel¬ leicht hätte man ihrer Natur etwas mehr Ernst und Stärke einflößen können. Was aus Bruder Friedrich werden soll, läßt sich gar nicht denken; ich fürchte, er wird das Opfer dieser pädagogischen Versuche werden. Sie haben noch einen Bruder? rief Wilhelm. Ja! versetzte Natalie, und zwar eine sehr lustige, leichtfertige Natur, und da man ihn nicht abgehalten hatte in der Welt herum¬ zufahren, so weiß ich nicht, was aus diesem losen, lockern Wesen werden soll. Ich habe ihn seit langer Zeit nicht gesehen. Das ein¬ zige beruhigt mich, daß der Abbé, und über¬ haupt die Gesellschaft meines Bruders, je¬ derzeit unterrichtet sind, wo er sich aufhält und was er treibt. Wilhelm war eben im Begriff über die sonderbaren Meinungen sowohl Nataliens Gedanken zu erforschen, als auch über die geheimnißvolle Gesellschaft von ihr Auf¬ schlüsse zu begehren, als der Medikus her¬ eintrat, und nach dem ersten Willkommen sogleich von Mignons Zustande zu sprechen anfing. Natalie, die darauf den Felix bey der Hand nahm, sagte, sie wolle ihn zu Mignon führen, und das Kind auf die Erscheinung seines Freundes vorbereiten. Der Arzt war nunmehr mit Wilhelm al¬ lein, und fuhr fort: Ich habe Ihnen wun¬ derbare Dinge zu erzählen, die Sie kaum vermuthen. Natalie läßt uns Raum, damit wir freyer von Dingen sprechen können, die, ob ich sie gleich nur durch sie selbst erfahren konnte, doch in ihrer Gegenwart so frey nicht abgehandelt werden dürften. Die son¬ derbare Natur des guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beynah nur aus S 2 einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wieder zu sehen, und das Ver¬ langen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irrdische an ihr, beydes greift nur in eine unendliche Ferne, beyde Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüth. Sie mag in der Gegend von Mailand zu Hause seyn, und ist in sehr früher Jugend, durch eine Gesell¬ schaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt wor¬ den. Näheres kann man von ihr nicht er¬ fahren, theils weil sie zu jung war, um Ort und Nahmen genau angeben zu können, be¬ sonders aber, weil sie einen Schwur gethan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Woh¬ nung und Herkunft näher zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die sie in der Irre fanden, und denen sie ihre Wohnung so ge¬ nau beschrieb, mit so dringenden Bitten sie nach Hause zu führen, nahmen sie nur desto eiliger mit sich fort, und scherzten Nachts in der Herberge, da sie glaubten das Kind schlafe schon, über den guten Fang, und be¬ theuerten, daß es den Weg zurück nicht wie¬ der finden sollte. Da überfiel das arme Ge¬ schöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die Mutter Gottes erschien, und ihm versicherte, daß sie sich seiner annehmen wolle. Es schwur darauf bey sich selbst ei¬ nen heiligen Eid, daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte er¬ zählen und in der Hoffnung einer unmittel¬ baren göttlichen Hülfe leben und sterben wolle. Selbst dieses, was ich Ihnen hier erzähle, hat sie Natalien nicht ausdrücklich vertraut; unsere werthe Freundin hat es aus einzelnen Äusserungen, aus Liedern und kind¬ lichen Unbesonnenheiten, die gerade das ver¬ rathen, was sie verschweigen wollen, zusam¬ men gebaut. Wilhelm konnte sich nunmehr manches Lied, manches Wort dieses guten Kindes er¬ klären. Er bat seinen Freund aufs drin¬ gendste, ihm ja nichts vorzuenthalten, was ihm von den sonderbaren Gesängen und Be¬ kenntnissen des einzigen Wesens bekannt worden sey. O! sagte der Arzt, bereiten Sie sich auf ein sonderbares Bekenntniß, auf eine Ge¬ schichte, an der Sie, ohne sich zu erinnern, viel Antheil haben, die, wie ich fürchte, für Tod und Leben dieses guten Geschöpfs ent¬ scheidend ist. Lassen Sie mich hören, versetzte Wilhelm, ich bin äußerst ungeduldig. Erinnern Sie sich, sagte der Arzt eines geheimen, nächtlichen, weiblichen Besuchs nach der Aufführung des Hamlets? Ja ich erinnere mich dessen wohl! rief Wilhelm beschämt, aber ich glaubte nicht in diesem Augenblick daran erinnert zu werden. Wissen Sie, wer es war? Nein! Sie erschrecken mich! ums Him¬ mels willen doch nicht Mignon? wer war’s? sagen Sie mir’s. Ich weiß es selbst nicht. Also nicht Mignon? Nein, gewiß nicht, aber Mignon war im Begriff sich zu Ihnen zu schleichen, und mußte, aus einem Winkel, mit Entsetzen sehen, daß eine Nebenbuhlerinn ihr zuvor kam. Eine Nebenbuhlerinn! rief Wilhelm aus, reden Sie weiter, Sie verwirren mich ganz und gar. Seyn Sie froh, sagte der Arzt, daß Sie diese Resultate so schnell von mir erfahren können. Natalie und ich, die wir doch nur einen entferntern Antheil nehmen, wir wa¬ ren genug gequält, bis wir den verworre¬ nen Zustand dieses guten Wesens, dem wir zu helfen wünschten, nur so deutlich einsehen konnten. Durch leichtsinnige Reden Phili¬ nens und der andern Mädchen, durch ein gewisses Liedchen aufmerksam gemacht, war ihr der Gedanke so reizend geworden, eine Nacht bey dem Geliebten zuzubringen, ohne daß sie dabey etwas weiter als eine ver¬ trauliche, glückliche Ruhe zu denken wußte. Die Neigung für Sie, mein Freund, war in dem guten Herzen schon lebhaft und ge¬ waltsam, in ihren Armen hatte das gute Kind schon von manchem Schmerzen ausge¬ ruht, sie wünschte sich nun dieses Glück in seiner ganzen Fülle. Bald nahm sie sich vor, sie freundlich darum zu bitten, bald hielt sie ein heimlicher Schauder wieder davon zu¬ rück. Endlich gab ihr der lustige Abend und die Stimmung des häufig genossenen Weins, den Muth das Wagestück zu versuchen, und sich jene Nacht bey Ihnen einzuschleichen. Schon war sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen, al¬ lein als sie eben die Treppe hinaufgekom¬ men war, hörte sie ein Geräusch, sie ver¬ barg sich, und sah ein weißes, weibliches Wesen in ihr Zimmer schleichen. Sie kamen selbst bald darauf, und sie hörte den großen Riegel zuschieben. Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenschaft¬ lichen Eifersucht mischten sich zu dem uner¬ kannten Verlangen einer dunkeln Begierde, und griffen die halb entwickelte Natur ge¬ waltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬ sucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken, und drückte, wie eine bleyerne Last, ihren Busen, sie konnte nicht zu Athem kommen, sie wußte sich nicht zu helfen, sie hörte die Harfe des Alten, eilte zu ihm unter das Dach, und brachte die Nacht zu seinen Füßen unter entsetzlichen Zuckungen hin. Der Arzt hielt einen Augenblick inne, und da Wilhelm stille schwieg, fuhr er fort: Natalie hat mir versichert, es habe sie in ihrem Leben nichts so erschreckt und ange¬ griffen, als der Zustand des Kindes bey die¬ ser Erzählung; ja unsere edle Freundin machte sich Vorwürfe, daß sie durch ihre Fragen und Anleitungen diese Bekenntnisse hervorgelockt, und durch die Erinnerung die lebhaften Schmerzen des guten Mädchens so grausam erneuert habe. Das gute Geschöpf, so erzählte mir Na¬ talie, war kaum auf diesem Punkte seiner Erzählung, oder vielmehr seiner Antworten auf meine steigenden Fragen, als es auf einmal vor mir niederstürzte, und, mit der Hand am Busen, über den wiederkehrenden Schmerz jener schrecklichen Nacht sich be¬ klagte. Es wand sich wie ein Wurm an der Erde, und ich mußte alle meine Fassung zusammen nehmen, um die Mittel, die mir für Geist und Körper unter diesen Umstän¬ den bekannt waren, zu denken und anzu¬ wenden. Sie setzen mich in eine bängliche Lage, versetzte Wilhelm, indem Sie mich, in dem Augenblicke, da ich das liebe Geschöpf wie¬ der sehen soll, mein vielfaches Unrecht ge¬ gen dasselbe so lebhaft fühlen lassen. Soll ich sie sehen, warum nehmen Sie mir den Muth ihr mit Freyheit entgegen zu treten; und soll ich Ihnen gestehen, da Ihr Ge¬ müth so gestimmt ist, so seh ich nicht ein, was meine Gegenwart helfen soll? sind Sie als Arzt überzeugt, daß jene doppelte Sehn¬ sucht ihre Natur so weit untergraben hat, daß sie sich vom Leben abzuscheiden droht, warum soll ich durch meine Gegenwart ihre Schmerzen erneuern, und vielleicht ihr Ende beschleunigen? Mein Freund! versetzte der Arzt, wo wir nicht helfen können, sind wir doch schul¬ dig zu lindern, und wie sehr die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungs¬ kraft ihre zerstöhrende Gewalt nimmt, und die Sehnsucht in ein ruhiges Schauen ver¬ wandelt, davon habe ich die wichtigsten Beyspiele. Alles mit Maaß und Ziel! Denn eben so kann die Gegenwart eine verlö¬ schende Leidenschaft wieder anfachen. Sehen Sie das gute Kind, betragen Sie sich freund¬ lich, und lassen Sie uns abwarten, was daraus entsteht. Natalie kam eben zurück, und verlangte, daß Wilhelm ihr zu Mignon folgen sollte. Sie scheint mit Felix ganz glücklich zu seyn, und wird den Freund, hoffe ich, gut em¬ pfangen. Wilhelm folgte nicht ohne einiges Widerstreben, er war tief gerührt von dem, was er vernommen hatte, und fürchtete eine leidenschaftliche Scene. Als er hineintrat, ergab sich gerade das Gegentheil. Mignon im langen weißen Frauenge¬ wande, theils mit lockigen, theils aufgebun¬ denen, reichen, braunen Haaren, saß, hatte Felix auf dem Schoße und drückte ihn an ihr Herz, sie sah völlig aus wie ein abge¬ schiedner Geist, und der Knabe wie das Le¬ ben selbst, es schien als wenn Himmel und Erde sich umarmten. Sie reichte Wilhelmen lächelnd die Hand, und sagte: ich danke Dir, daß Du mir das Kind wieder bringst, sie hatten ihn Gott weiß wie entführt, und ich konnte nicht leben zeither. So lange mein Herz auf der Erde noch was bedarf, soll dieser die Lücke ausfüllen. Die Ruhe, womit Mignon ihren Freund empfangen hatte, versetzte die Gesellschaft in große Zufriedenheit. Der Arzt verlangte, daß Wilhelm sie öfters sehen, und daß man sie sowohl körperlich als geistig im Gleichge¬ wicht erhalten sollte. Er selbst entfernte sich, und versprach in kurzer Zeit wieder zu kommen. Wilhelm konnte nun Natalien in ihrem Kreise beobachten, man hätte sich nichts bes¬ seres gewünscht, als neben ihr zu leben, ihre Gegenwart hatte den reinsten Einfluß auf junge Mädchen und Frauenzimmer von ver¬ schiedenem Alter, die theils in ihrem Hause wohnten, theils aus der Nachbarschaft sie mehr oder weniger zu besuchen kamen. Der Gang Ihres Lebens, sagte Wilhelm einmal zu ihr, ist wohl immer sehr gleich gewesen? denn die Schilderung, die Ihre Tante von Ihnen als Kind macht, scheint, wenn ich nicht irre, noch immer zu passen. Sie haben sich, man fühlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt. Sie waren nie genöthigt einen Schritt zurück zu thun. Das bin ich meinem Oheim und dem Abbé schuldig, versetzte Natalie, die meine Eigenheiten so gut zu beurteilen wußten. Ich erinnere mich von Jugend an kaum ei¬ nes Eindrucks als des lebhaftesten, daß ich überall die Bedürfnisse der Menschen sah, und ein unüberwindliches Verlangen em¬ pfand sie auszugleichen. Das Kind, das noch nicht auf seinen Füßen stehen konnte, der Alte, der sich nicht mehr auf den seini¬ gen erhielt, das Verlangen einer reichen Fa¬ milie nach Kindern, die Unfähigkeit einer ar¬ men die ihrigen zu erhalten, jedes stille Ver¬ langen nach einem Gewerbe, den Trieb zu einem Talente, die Anlagen zu hundert klei¬ nen nothwendigen Fähigkeiten, diese überall zu entdecken, schien mein Auge von der Na¬ tur bestimmt. Ich sah, worauf mich nie¬ mand aufmerksam gemacht hatte, ich schien aber auch nur gebohren, um das zu sehen. Die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beynah noch weniger die Reize der Kunst, meine ange¬ nehmste Empfindung war und ist es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfniß in der Welt darstellte, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine Hülfe auf¬ zufinden. Sah ich einen Armen in Lumpen, so fie¬ len mir die überflüssigen Kleider ein, die ich in den Schränken der Meinigen hatte hän¬ gen sehen; sah ich Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, so erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich, bey Reichthum und Bequemlichkeit, Lange¬ Langeweile abgemerkt hatte; sah ich viele Menschen in einem engen Raum eingesperrt, so dachte ich sie müßten in die großen Zim¬ mer mancher Häuser und Paläste einquartirt werden. Diese Art zu sehen war bey mir ganz natürlich, ohne die mindeste Reflexion, so daß ich darüber, als Kind, das wunder¬ lichste Zeug von der Welt machte, und mehr als einmal, durch die sonderbarsten Anträge, die Menschen in Verlegenheit setzte. Noch eine Eigenheit war es, daß ich das Geld nur mit Mühe, und spät, als ein Mittel die Bedürfnisse zu befriedigen, ansehen konnte, alle meine Wohlthaten bestanden in Natu¬ ralien, und ich weiß daß oft genug über mich gelacht worden ist. Nur der Abbé schien mich zu verstehen, er kam mir überall entgegen, er machte mich mit mir selbst, mit diesen Wünschen und Neigungen bekannt, und lehrte mich, sie zweckmäßig befriedigen. W. Meisters Lehrj. 4. T Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bey der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt, auch die Grundsätze jener sonderbaren Män¬ ner angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden? lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe thun, sich glücklich am Ziel finden, oder un¬ glücklich in die Irre verliehren? Nein! sagte Natalie, diese Art mit Men¬ schen zu handeln würde ganz gegen meine Gesinnungen seyn. Wer nicht im Augen¬ blick hilft, scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rath giebt, nie zu ra¬ then. Eben so nöthig scheint es mir gewisse Gesetze auszusprechen, und den Kindern ein¬ zuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beynah behaup¬ ten: es sey besser nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkühr unserer Natur hin und her treibt, und wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine Lücke zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz aus¬ gefüllt werden kann. So ist also Ihre Handelsweise, sagte Wilhelm, völlig von jener verschieden, welche unsere Freunde beobachten. Ja! versetzte Natalie, Sie können aber hieraus die unglaubliche Toleranz jener Män¬ ner sehen, daß sie eben auch mich, auf mei¬ nem Wege, gerade deswegen, weil es mein Weg ist, keinesweges stören, sondern mir in allem, was ich nur wünschen kann, entge¬ genkommen. Einen umständlichern Bericht, wie Nata¬ lie mit ihren Kindern verfuhr, versparen wir auf eine andere Gelegenheit. Mignon verlangte oft in der Gesellschaft zu seyn, und man vergönnte es ihr um so lieber, als sie sich nach und nach wieder an T 2 Wilhelmen zu gewöhnen, ihr Herz gegen ihn aufzuschließen und überhaupt heiterer und lebenslustiger zu werden schien. Sie hing sich, beym Spazierengehen, da sie leicht müde ward, gern an seinen Arm. Nun, sagte sie, Mignon klettert und springt nicht mehr, und doch fühlt er noch immer die Be¬ gierde über die Gipfel der Berge wegzuspa¬ zieren, von einem Hause aufs andere, von einem Baume auf den andern zu schreiten. Wie beneidenswerth sind die Vögel, beson¬ ders wenn sie so artig und vertraulich ihre Nester bauen. Es ward nun bald zur Gewohnheit, daß Mignon seinen Freund mehr als einmal in den Garten lud. War dieser beschäftigt oder nicht zu finden, so mußte Felix die Stelle vertreten, und wenn das gute Mädchen in manchen Augenblicken ganz von der Erde los schien, so hielt sie sich in andern gleich¬ sam wieder fest an Vater und Sohn, und schien eine Trennung von diesen mehr als alles zu fürchten. Natalie schien nachdenklich. Wir haben gewünscht durch Ihre Gegenwart, sagte sie, das arme gute Herz wieder aufzuschließen; ob wir wohl gethan haben, weiß ich nicht. Sie schwieg und schien zu erwarten, daß Wilhelm etwas sagen sollte. Auch ihm fiel ein, daß durch seine Verbindung mit There¬ sen, Mignon, unter den gegenwärtigen Um¬ ständen, aufs äußerste gekränkt werden müsse; allein er getraute sich in seiner Un¬ gewißheit nichts von diesem Vorhaben zu sprechen, er vermuthete nicht, daß Natalie davon unterrichtet sey. Eben so wenig konnte er mit Freyheit des Geistes die Unterredung verfolgen, wenn seine edle Freundin von ihrer Schwester sprach, ihre guten Eigenschaften rühmte und ihren Zustand bedauerte. Er war nicht we¬ nig verlegen, als Natalie ihm ankündigte, daß er die Gräfin bald hier sehen werde. Ihr Gemahl, sagte sie, hat nun keinen an¬ dern Sinn, als den abgeschiedenen Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch Einsicht und Thätigkeit diese große Anstalt zu unter¬ stützen und weiter aufzubauen, er kommt mit ihr zu uns, um eine Art von Abschied zu nehmen, er wird nachher die verschiede¬ nen Orte besuchen, wo die Gemeinde sich niedergelassen hat, man scheint ihn nach sei¬ nen Wünschen zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner armen Schwester eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vor¬ gänger recht ähnlich zu werden, und da er einmal schon beynah überzeugt ist, daß ihm nicht viel fehle ein Heiliger zu seyn, so mag ihm der Wunsch manchmal vor der Seele schweben, wo möglich zuletzt auch noch als Märtyrer zu glänzen. Viertes Capitel . O ft genug hatte man bisher von Fräulein Therese gesprochen, oft genug ihrer im Vor¬ beygehen erwähnt, und fast jedesmal war Wilhelm im Begriff seiner neuen Freundinn zu bekennen, daß er jenem trefflichen Frauen¬ zimmer sein Herz und seine Hand angeboten habe. Ein gewisses Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, hielt ihn zurück, er zau¬ derte so lange, bis endlich Natalie selbst, mit dem himmlischen, bescheidnen, heitern Lächeln, das man an ihr zu sehen gewohnt war, zu ihm sagte: so muß ich denn doch zuletzt das Stillschweigen brechen, und mich in Ihr Vertrauen gewaltsam eindrängen! Warum machen Sie mir ein Geheimnis, mein Freund, aus einer Angelegenheit, die Ihnen so wichtig ist, und die mich selbst so nahe angeht? Sie haben meiner Freundin Ihre Hand angeboten, ich mische mich nicht ohne Beruf in diese Sache, hier ist meine Legitimation, hier ist der Brief, den sie Ihnen schreibt, den sie durch mich Ihnen sendet. Einen Brief von Theresen! rief er aus. Ja, mein Herr, und Ihr Schicksal ist entschieden, Sie sind glücklich. Lassen Sie mich Ihnen und meiner Freundin Glück wünschen. Wilhelm verstummte, und sah vor sich hin. Natalie sah ihn an, sie bemerkte, daß er blaß ward. Ihre Freude ist stark, fuhr sie fort, sie nimmt die Gestalt des Schreckens an, sie raubt Ihnen die Sprache. Mein Antheil ist darum nicht weniger herzlich, weil er mich noch zum Worte kommen läßt. Ich hoffe Sie werden dankbar seyn, denn ich darf Ihnen sagen: mein Einfluß auf There¬ sens Entschließung war nicht gering, sie fragte mich um Rath, und, sonderbarer Weise, waren Sie eben hier, ich konnte die wenigen Zweifel, die meine Freundin noch hegte, glücklich besiegen, die Bothen gingen lebhaft hin und wieder, hier ist ihr Ent¬ schluß! hier ist die Entwicklung! und nun sollen Sie alle ihre Briefe lesen, Sie sollen in das schöne Herz Ihrer Braut einen freyen, reinen Blick thun. Wilhelm entfaltete das Blatt, das sie ihm unversiegelt überreichte, es enthielt die freundlichen Worte: Ich bin die Ihre, wie ich bin und wie Sie mich kennen. Ich nenne Sie den mei¬ nen, wie Sie sind und wie ich Sie kenne. Was an uns selbst, was an unsern Verhält¬ nissen der Ehestand verändert, werden wir durch Vernunft, frohen Muth und guten Willen zu übertragen wissen. Da uns keine Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen zusammen führt, so wagen wir weniger als tausend andere. Sie verzeihen mir gewis, wenn ich mich manchmal meines alten Freun¬ des herzlich erinnere, dafür will ich Ihren Sohn als Mutter an meinen Busen drücken. Wollen Sie mein kleines Haus sogleich mit mir theilen, so sind Sie Herr und Meister, indessen wird der Gutskauf abgeschlossen. Ich wünschte, daß dort keine neue Einrichtung ohne mich gemacht würde, um sogleich zu zeigen, daß ich das Zutrauen verdiene, das Sie mir schenken. Leben Sie wohl, lieber, lieber Freund! Geliebter Bräutigam, ver¬ ehrter Gatte! Therese drückt Sie an ihre Brust mit Hoffnung und Lebensfreude. Meine Freundin wird Ihnen mehr, wird Ihnen alles sagen. Wilhelm, dem dieses Blatt seine Therese wieder völlig vergegenwärtigt hatte, war auch wieder völlig zu sich selbst gekommen. Unter dem Lesen wechselten die schnellsten Gedanken in seiner Seele. Mit Entsetzen fand er lebhafte Spuren einer Neigung ge¬ gen Natalien in seinem Herzen, er schalt sich, er erklärte jeden Gedanken der Art für Unsinn, er stellte sich Theresen in ihrer gan¬ zen Vollkommenheit vor, er las den Brief wieder, er ward heiter, oder vielmehr er erholte sich so weit, daß er erscheinen konnte. Natalie legte ihm die gewechselten Briefe vor, aus denen wir einige Stellen ausziehen wollen. Nachdem Therese ihren Bräutigam nach ihrer Art geschildert hatte, fuhr sie fort: So stelle ich mir den Mann vor, der mir jetzt seine Hand anbietet. Wie er von sich selbst denkt, wirst Du künftig aus den Papieren sehen, in welchen er sich mir ganz offen beschreibt; ich bin überzeugt, daß ich mit ihm glücklich seyn werde. Was den Stand betrifft, so weißt Du, wie ich von je her drüber gedacht habe. Ei¬ nige Menschen fühlen die Mißverhältnisse der äußern Zustände fürchterlich, und kön¬ nen sie nicht übertragen. Ich will nieman¬ den überzeugen, so wie ich nach meiner Über¬ zeugung handeln will. Ich denke kein Bey¬ spiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Bey¬ spiel handle. Mich ängstigen nur die innern Mißverhältnisse, ein Gefäß, das sich zu dem, was es enthalten soll, nicht schickt; viel Prunk und wenig Genuß, Reichthum und Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pe¬ danterei, Bedürfnis und Ceremonien, diese Verhältnisse wärens, die mich vernichten könn¬ ten, die Welt mag sie stempeln und schätzen wie sie will. Wenn ich hoffe, daß wir zusammen pas¬ sen werden, so gründe ich meinen Ausspruch vorzüglich darauf, daß er Dir, liebe Nata¬ lie, die ich so unendlich schätze und verehre, daß er Dir ähnlich ist. Ja er hat von Dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen. Wie oft habe ich Dich nicht im Stillen getadelt, daß Du diesen oder jenen Menschen anders behandeltest, daß Du in diesem oder jenen Fall Dich anders betrugst, als ich würde ge¬ than haben, und doch zeigte der Ausgang meist, daß Du Recht hattest. Wenn wir, sagtest Du, die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie was sie seyn sollten, so bringen wir sie dahin, wo¬ hin sie zu bringen sind. Ich kann weder so sehen noch handeln, das weiß ich recht gut. Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das ist meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno sagte: Therese dressirt ihre Zög¬ linge, Natalie bildet sie. Ja er ging so weit, daß er mir einst die drey schönen Ei¬ genschaften Glaube, Liebe und Hoffnung völ¬ lig absprach. Statt des Glaubens, sagte er, hat sie die Einsicht, statt der Liebe, die Be¬ harrlichkeit und statt der Hoffnung das Zu¬ trauen. Auch will ich Dir gerne gestehen, ehe ich Dich kannte, kannte ich nichts Hö¬ heres in der Welt als Klarheit und Klug¬ heit, nur Deine Gegenwart hat mich über¬ zeugt, belebt, überwunden, und Deiner schö¬ nen hohen Seele tret ich gerne den Rang ab. Auch meinen Freund verehre ich in eben demselben Sinn, seine Lebensbeschrei¬ bung ist ein ewiges Suchen und nicht fin¬ den; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmüthige Suchen begabt ihn, er wähnt man könne ihm das geben, was nur von ihm kommen kann. So meine Liebe schadet mir auch diesmal meine Klar¬ heit nichts, ich kenne meinen Gatten besser, als er sich selbst kennt, und ich achte ihn nur um desto mehr. Ich sehe ihn, aber ich übersehe ihn nicht, und alle meine Einsicht reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken kann. Wenn ich an ihn denke, vermischt sich sein Bild immer mit dem Deinigen, und ich weiß nicht wie ich es werth bin zwey solchen Menschen anzugehören. Aber ich will es werth seyn, dadurch daß ich meine Pflicht thue, dadurch daß ich erfülle, was man von mir erwarten und hoffen kann. Ob ich Lothario’s gedenke? Lebhaft und täglich, ihn kann ich in der Gesellschaft, die mich im Geiste umgiebt, nicht einen Augen¬ blick missen. O wie bedaure ich den treff¬ lichen Mann, der durch einen Jugendfehler mit mir verwandt ist, daß die Natur ihn Dir so nahe gewollt hat. Warlich ein We¬ sen wie Du, wäre seiner mehr werth als ich, Dir könnt ich, Dir müßt ich ihn abtre¬ ten, laß uns ihm seyn, was nur möglich ist, bis er eine würdige Gattin findet, und auch dann laß uns zusammen seyn und zusam¬ men bleiben. Was werden nun aber unsre Freunde sa¬ gen? begann Natalie. — Ihr Bruder weiß nichts davon? — Nein! so wenig als die Ihrigen, die Sache ist diesmal nur unter uns Weibern verhandelt worden. Ich weiß nicht, was Lydie Theresen für Grillen in den Kopf gesetzt hat, sie scheint dem Abbé und Jarno zu mißtrauen. Lydie hat ihr gegen gewisse geheime Verbindungen und Plane, von denen ich wohl im Allgemeinen weiß, weiß, in die ich aber niemals einzudringen gedachte, wenigstens einigen Argwohn ein¬ geflößt, und bey diesem entscheidenden Schritt ihres Lebens wollte sie niemand als mir ei¬ nigen Einfluß verstatten. Mit meinem Bru¬ der war sie schon früher überein gekommen, daß sie sich wechselsweise ihre Heirath nur melden, sich darüber nicht zu Rathe ziehen wollten. Natalie schrieb nun einen Brief an ihren Bruder, sie lud Wilhelmen ein einige Worte dazu zu setzen, Therese hatte sie darum ge¬ beten. Man wollte eben siegeln, als Jarno sich unvermuthet anmelden ließ. Aufs freund¬ lichste ward er empfangen, auch schien er sehr munter und scherzhaft, und konnte end¬ lich nicht unterlassen zu sagen: eigentlich komme ich hieher, um Ihnen eine sehr wun¬ derbare, doch angenehme Nachricht zu brin¬ gen; sie betrifft unsere Therese. Sie haben W. Meisters Lehrj. 4. U uns manchmal getadelt, schöne Natalie! daß wir uns um so vieles bekümmern, nun aber sehen Sie wie gut es ist überall seine Spione zu haben. Rathen Sie, und lassen Sie uns einmal Ihre Sagacität sehen! Die Selbstgefälligkeit, womit er diese Worte aussprach, die schalkhafte Mine, wo¬ mit er Wilhelmen und Natalien ansah, über¬ zeugten beyde, daß ihr Geheimniß entdeckt sey. Natalie antwortete lächelnd: wir sind viel künstlicher als Sie denken, wir haben die Auflösung des Rätzels, noch ehe es uns aufgegeben wurde, schon zu Papiere gebracht. Sie überreichte ihm, mit diesen Worten, den Brief an Lothario, und war zufrieden der kleinen Überraschung und Beschämung, die man ihnen zugedacht hatte, auf diese Weise zu begegnen. Jarno nahm das Blatt, mit einiger Verwunderung, überlief es nur, staunte, ließ es aus der Hand sinken, und sah sie beyde mit großen Augen, mit einen Ausdruck der Überraschung, ja des Entsetzens an, den man auf seinem Gesichte nicht ge¬ wohnt war. Er sagte kein Wort. Wilhelm und Natalie waren nicht wenig betroffen, Jarno ging in der Stube auf und ab. Was soll ich sagen? rief er aus, oder soll ich’s sagen? Es kann kein Geheimniß bleiben, die Verwirrung ist nicht zu vermei¬ den. Also denn Geheimniß gegen Geheim¬ niß! Überraschung gegen Überraschung! The¬ rese ist nicht die Tochter ihrer Mutter! das Hinderniß ist gehoben, ich komme hierher sie zu bitten, das edle Mädchen zu einer Ver¬ bindung mit Lothario vorzubereiten. Jarno sah die Bestürzung der beyden Freunde, welche die Augen zur Erde nieder¬ schlugen. Dieser Fall ist einer von denen, sagte er, die sich in Gesellschaft am schlech¬ testen ertragen lassen. Was jedes dabey zu U 2 denken hat, denkt es am besten in der Ein¬ samkeit, ich wenigstens erbitte mir auf eine Stunde Urlaub. Er eilte in den Garten, Wilhelm folgte ihm mechanisch, aber in der Ferne. Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich wieder zusammen. Wilhelm nahm das Wort und sagte: da ich ohne Zweck und Plan leicht, ja leichtfertig lebte, kamen mir Freundschaft, Liebe, Neigung, Zutrauen mit offenen Armen entgegen, ja sie drängten sich zu mir; jetzt, da es Ernst wird, scheint das Schicksal mit mir einen andern Weg zu neh¬ men: der Entschluß, Theresen meine Hand anzubieten, ist vielleicht der erste, der ganz rein aus mir selbst kommt. Mit Überlegung machte ich meinen Plan, meine Vernunft war völlig damit einig, und durch die Zu¬ sage des trefflichen Mädchens wurden alle meine Hoffnungen erfüllt. Nun drückt das sonderbarste Geschick meine ausgestreckte Hand nieder, Therese reicht mir die ihrige von ferne, wie im Traume, ich kann sie nicht fassen, und das schöne Bild verläßt mich auf ewig. So lebe denn wohl du schönes Bild! und ihr Bilder der reichsten Glück¬ seligkeit, die ihr euch darum her versam¬ meltet! Er schwieg einen Augenblick still, sah vor sich hin, und Jarno wollte reden. Lassen Sie mich noch etwas sagen, fiel Wilhelm ihm ein, denn um mein ganzes Geschick wird ja doch diesmal das Loos geworfen. In die¬ sem Augenblick kommt mir der Eindruck zu Hülfe, den Lothario’s Gegenwart, beym er¬ sten Anblick, mir einprägte, und der mir beständig geblieben ist. Dieser Mann ver¬ dient jede Art von Neigung und Freund¬ schaft, und ohne Aufopferung läßt sich keine Freundschaft denken. Um seinetwillen war es mir leicht ein unglückliches Mädchen zu bethören, um seinetwillen soll mir möglich werden der würdigsten Braut zu entsagen. Gehen Sie hin, erzählen Sie ihm die son¬ derbare Geschichte, und sagen Sie ihm wozu ich bereit bin. Jarno versetzte hierauf: in solchen Fällen, halte ich dafür, ist schon alles gethan, wenn man sich nur nicht übereilt. Lassen Sie uns keinen Schritt ohne Lothario’s Einwilligung thun! Ich will zu ihm, erwarten Sie meine Zurückkunft oder seine Briefe ruhig. Er ritt weg, und hinterließ die beyden Freunde in der größten Wehmuth. Sie hat¬ ten Zeit sich diese Begebenheit auf mehr als Eine Weise zu wiederholen, und ihre Be¬ merkungen darüber zu machen. Nun fiel es ihnen erst auf, daß sie diese wunderbare Er¬ klärung so gerade von Jarno angenommen, und sich nicht um die nähern Umstände er¬ kundigt hatten. Ja Wilhelm wollte sogar einigen Zweifel hegen; aber aufs höchste stieg ihr Erstaunen, ja ihre Verwirrung, als den andern Tag ein Bothe von Theresen ankam, der folgenden sonderbaren Brief an Natalien mitbrachte: »So seltsam es auch scheinen mag, so muß ich doch meinem vorigen Briefe sogleich noch einen nachsenden, und Dich ersuchen mir meinen Bräutigam eilig zu schicken. Er soll mein Gatte werden, was man auch für Plane macht mir ihn zu rauben. Gieb ihm inliegenden Brief! Nur vor keinem Zeugen, es mag gegenwärtig seyn wer will.« Der Brief an Wilhelmen enthielt folgen¬ des: »Was werden Sie von Ihrer Therese denken? wenn sie auf einmal, leidenschaft¬ lich, auf eine Verbindung dringt, die der ruhigste Verstand nur eingeleitet zu haben schien. Lassen Sie sich durch nichts abhal¬ ten, gleich nach dem Empfang des Brie¬ fes abzureisen. Kommen Sie, lieber, lieber Freund, nun dreyfach Geliebter, da man mir Ihren Besitz rauben oder wenigstens er¬ schweren will.« Was ist zu thun? rief Wilhelm aus, als er diesen Brief gelesen hatte. Noch in keinem Fall, versetzte Natalie, nach einigem Nachdenken, hat mein Herz und mein Verstand so geschwiegen, als in diesem, ich wüßte nichts zu thun, so wie ich nichts zu rathen weiß. Wäre es möglich? rief Wilhelm mit Hef¬ tigkeit aus, daß Lothario selbst nichts davon wüßte, oder wenn er davon weiß, daß er mit uns das Spiel versteckter Plane wäre? Hat Jarno, indem er unsern Brief gesehen, das Mährchen aus dem Stegreife erfunden? Würde er uns was anders gesagt haben, wenn wir nicht zu voreilig gewesen wären? Was kann man wollen? was für Absichten kann man haben? Was kann Therese für einen Plan meynen? Ja es läßt sich nicht läugnen, Lothario ist von geheimen Wir¬ kungen und Verbindungen umgeben, ich habe selbst erfahren, daß man thätig ist, daß man sich, in einem gewissen Sinne, um die Handlungen, um die Schicksale mehrerer Menschen bekümmert, und sie zu leiten weiß. Von den Endzwecken dieser Geheimnisse ver¬ stehe ich nichts, aber diese neuste Absicht, mir Theresen zu entreißen, sehe ich nur allzu deutlich. Auf einer Seite mahlt man mir das mögliche Glück Lothario’s, vielleicht nur zum Scheine, vor, auf der andern sehe ich meine Geliebte, meine verehrte Braut, die mich an ihr Herz ruft. Was soll ich thun? Was soll ich unterlassen? Nur ein wenig Geduld! sagte Natalie, nur eine kurze Bedenkzeit. In dieser son¬ derbaren Verknüpfung weiß ich nur so viel: daß wir das, was unwiederbringlich ist, nicht übereilen sollen. Gegen ein Mährchen, ge¬ gen einen künstlichen Plan stehen Beharr¬ lichkeit und Klugheit uns bey, es muß sich bald aufklären, ob die Sache wahr oder ob sie erfunden ist. Hat mein Bruder wirklich Hoffnung sich mit Theresen zu verbinden, so wäre es grausam, sie ihm auf ewig zu ent¬ reißen, da sie ihm so freundlich erscheint. Lassen Sie uns nur abwarten, ob er etwas davon weiß, ob er selbst glaubt, ob er selbst hofft. Diesen Gründen ihres Raths kam glück¬ licherweise ein Brief von Lothario zu Hülfe: Ich schicke Jarno nicht wieder zurück, schrieb er, von meiner Hand eine Zeile, ist Dir mehr als die umständlichsten Worte eines Bothen. Ich bin gewiß, daß Therese nicht die Tochter ihrer Mutter ist, und ich kann die Hoffnung, sie zu besitzen, nicht aufgeben, bis sie auch überzeugt ist, und alsdann zwi¬ schen mir und dem Freunde mit ruhiger Überlegung entscheidet. Laß ihn, ich bitte Dich, nicht von Deiner Seite! das Glück, das Leben eines Bruders hängt davon ab. Ich verspreche Dir, diese Ungewißheit soll nicht lange dauern. Sie sehen, wie die Sache steht, sagte sie freundlich zu Wilhelmen, geben Sie mir Ihr Ehrenwort nicht aus dem Hause zu gehn. Ich gebe es! rief er aus, indem er ihr die Hand reichte, ich will dieses Haus wider Ihren Willen nicht verlassen. Ich danke Gott und meinem guten Geist, daß ich dies¬ mal geleitet werde und zwar von Ihnen. Natalie schrieb Theresen den ganzen Ver¬ lauf, und erklärte: daß sie ihren Freund nicht von sich lassen werde, sie schickte zu¬ gleich Lothario’s Brief mit. Therese antwortete: »Ich bin nicht we¬ nig verwundert, daß Lothario selbst über¬ zeugt ist, denn gegen seine Schwester wird er sich nicht auf diesen Grad verstellen. Ich bin verdrießlich, sehr verdrießlich. Es ist besser, ich sage nichts weiter. Am besten ists, ich komme zu Dir, wenn ich nur erst die arme Lydie untergebracht habe, mit der man grausam umgeht. Ich fürchte, wir sind alle betrogen, und werden so betrogen, um nie ins Klare zu kommen. Wenn der Freund meinen Sinn hätte, so entschlüpfte er Dir doch, und würfe sich an das Herz seiner Therese, die ihm dann niemand entreißen sollte; aber ich fürchte ich soll ihn verlieren und Lohario nicht wieder gewinnen. Diesem entreißt man Lydien, indem man ihm die Hoffnung, mich besitzen zu können, von Wei¬ ten zeigt. Ich will nichts weiter sagen, die Verwirrung wird noch größer werden. Ob nicht indessen die schönsten Verhältnisse so verschoben, so untergraben und so zerrüttet werden, daß auch dann, wenn alles im Kla¬ ren seyn wird, doch nicht wieder zu helfen ist, mag die Zeit lehren. Reißt sich mein Freund nicht los, so komme ich in wenigen Tagen, um ihn bey Dir aufzusuchen und fest zu halten. Du wunderst Dich, wie diese Leidenschaft sich Deiner Therese bemächtiget hat. Es ist keine Leidenschaft, es ist Über¬ zeugung, daß, da Lothario nicht mein wer¬ den konnte, dieser neue Freund das Glück meines Lebens machen wird. Sag ihm das! im Nahmen des kleinen Knaben, der mit ihm unter der Eiche saß und sich seiner Theil¬ nahme freute. Sag ihm das im Nahmen Theresens, die seinem Antrage mit einer herzlichen Offenheit entgegen kam. Mein erster Traum, wie ich mit Lothario leben würde, ist weit von meiner Seele wegge¬ rückt, der Traum, wie ich mit meinem neuen Freund zu leben gedachte, steht noch ganz gegenwärtig vor mir. Achtet man mich so wenig, daß man glaubt, es sey so was leichtes diesen mit jenem aus dem Stegreife wieder umzutauschen. Ich verlasse mich auf Sie, sagte Natalie zu Wilhelmen, indem sie ihm den Brief Theresens gab, Sie entfliehen mir nicht. Bedenken Sie, daß Sie das Glück meines Lebens in Ihrer Hand haben! Mein Da¬ seyn ist mit dem Daseyn meines Bruders so innig verbunden und verwurzelt, daß er keine Schmerzen fühlen kann, die ich nicht empfinde, keine Freude, die nicht auch mein Glück macht. Ja ich kann wohl sagen, daß ich allein durch ihn empfunden habe, daß das Herz gerührt und erhoben, daß auf der Welt Freude, Liebe und ein Gefühl seyn kann, das über alles Bedürfniß hinaus befriedigt. Sie hielt inne, Wilhelm nahm ihre Hand und rief: O fahren Sie fort, es ist die rechte Zeit zu einem wahren wechselseitigen Vertrauen, wir haben nie nöthiger gehabt uns genauer zu kennen. Ja, mein Freund! sagte sie lächelnd, mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Ho¬ heit, es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, daß alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Mährchen erschienen sey. Sie haben nicht geliebt? rief Wilhelm aus. Nie oder immer! versetzte Natalie. Fünftes Capitel . S ie waren unter diesem Gespräch im Gar¬ ten auf- und abgegangen, Natalie hatte verschiedene Blumen, von seltsamer Gestalt, gebrochen, die Wilhelmen völlig unbekannt waren, und nach deren Nahmen er fragte. Sie vermuthen wohl nicht, sagte Nata¬ lie, für wen ich diesen Strauß pflücke? er ist für meinen Oheim bestimmt, dem wir ei¬ nen Besuch machen wollen. Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der Vergangenheit, ich muß sie diesen Augen¬ blick hineinführen, und ich gehe niemals hin, ohne einige von denen Blumen, die mein Oheim besonders begünstigte, mitzubringen. Es war ein sonderbarer Mann und der ei¬ gensten Eindrücke fähig. Für gewisse Pflanzen und und Thiere, für gewisse Menschen und Ge¬ genden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er eine entschiedene Neigung, die selten er¬ klärlich war. Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mir von Jugend auf so sehr wi¬ derstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins Weite und All¬ gemeine auszubilden, so wäre ich der be¬ schränkteste und unerträglichste Mensch ge¬ worden, denn nichts ist unerträglicher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Thätigkeit fordern kann. Und doch mußte er selbst ge¬ stehen, daß ihm gleichsam Leben und Athem ausgehen würde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit nachsähe, und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. Es ist meine Schuld nicht, sagte er, wenn ich meine Triebe und meine Ver¬ W. Meisters Lehrj. 4. X nunft nicht völlig habe in Einstimmung brin¬ gen können. Bey solchen Gelegenheiten pflegte er meist über mich zu scherzen und zu sagen: Natalien kann man bey Leibes¬ leben selig preisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht. Unter diesen Worten waren sie wieder in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte ihn durch einen geräumigen Gang auf eine Thüre zu, vor der zwey Sphinxe von Gra¬ nit lagen. Die Thüre selbst war, auf Ägyp¬ tische Weise, oben ein wenig enger als un¬ ten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen Anblick vor; wie angenehm ward man da¬ her überrascht, als diese Erwartung sich in die reinste Heiterkeit auflöste, indem man in einen Saal trat, in welchem Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab aufhoben. In die Wände waren verhältni߬ mäßige Bogen vertieft, in denen größere Sarkophagen standen, in den Pfeilern da¬ zwischen sah man kleinere Öfnungen, mit Aschenkästchen und Gefäßen geschmückt; die übrigen Flächen der Wände und des Ge¬ wölbes sah man in regelmäßige Felder ab¬ getheilt und zwischen heitern und mannig¬ faltigen Einfassungen, Kränzen und Zierra¬ then heitere und bedeutende Gestalten, in Feldern von verschiedener Größe, gemahlt. Die architectonischen Glieder waren mit dem schönen gelben Marmor, der ins röthliche hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen von einer glücklichen chemischen Composition ahmten den Lasurstein nach, und gaben, in¬ dem sie gleichsam in einem Gegensatz das Auge befriedigten, dem Ganzen Einheit und Ver¬ bindung. Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architectonischen Verhältnissen X 2 dar, und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu seyn, indem er durch die zusammentreffende Kunst, erst er¬ fuhr, was der Mensch sey und was er seyn könne. Der Thüre gegenüber sahe man auf einem prächtigen Sarkophagen das Marmorbild ei¬ nes würdigen Mannes, an ein Polster ge¬ lehnt. Er hielt eine Rolle vor sich, und schien mit stiller Aufmerksamkeit darauf zu blicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: Gedenke zu leben . Natalie, indem sie einen verwelkten Straus wegnahm, legte den frischen vor das Bild des Oheims. Denn er selbst war in der Fi¬ gur vorgestellt, und Wilhelm glaubte sich noch der Züge des alten Herrn zu erinnern, den er damals im Walde gesehen hatte. Hier brachten wir manche Stunde zu, sagte Natalie, bis dieser Saal fertig war. In seinen letzten Jahren hatte er einige geschickte Künstler an sich gezogen, und seine beste Unterhaltung war die Zeichnungen und Car¬ tone zu diesen Gemählden aussinnen und be¬ stimmen zu helfen. Wilhelm konnte sich nicht genug der Ge¬ genstände freuen, die ihn umgaben. Welch ein Leben, rief er aus, in diesem Saale der Vergangenheit! man könnte ihn eben so gut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles und so wird alles seyn! Nichts ist vergänglich, als der Eine der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben, nach Jahrhunderten vielleicht er¬ freut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt, und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen, und bey ihren stil¬ len Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬ chen, ob er hereintreten darf. Wilhelms Augen schweiften auf unzäh¬ lige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬ higen abgeschiedenen Ernste des Weisen, konnte man, in schöner lebendigen Folge, sehen wie der Mensch keine angebohrne Nei¬ gung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brau¬ chen und zu nutzen. Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt den Krug aus dem klaren Wasser wieder herauf zu heben, und indessen ihr Bild ge¬ fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬ lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬ gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬ tare anrufen. Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stätte um¬ gab, und außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten erregten, außer den Empfindungen, welche sie einflößten, schien noch etwas anders gegenwärtig zu seyn, wo¬ von der ganze Mensch sich angegriffen fühlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu können. Was ist das? rief er aus, das, unabhängig von aller Bedeutung, frey von allem Mitgefühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schick¬ sale einflößen, so stark und zugleich so an¬ muthig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus je¬ dem Theile mich an, ohne daß ich jenes be¬ greifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte! Welchen Zauber ahnd’ ich in diesen Flächen, diesen Linien, diesen Hö¬ hen und Breiten, diesen Massen und Far¬ ben! Was ist es, das diese Figuren, auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierrath so erfreulich macht! Ja ich fühle, man könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen fassen, sich glücklich finden und ganz etwas anders fühlen und denken, als das, was vor Augen steht. Und gewis! könnten wir beschreiben wie glücklich alles eingetheilt war, wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegen¬ satz, durch Einfärbigkeit oder Buntheit alles bestimmt, so und nicht anders erschien, als es erscheinen sollte, und eine so vollkommne als deutliche Wirkung hervorbrachte; so wür¬ den wir den Leser an einen Ort versetzen, von dem er sich sobald nicht zu entfernen wünschte. Vier große marmorne Candelaber stan¬ den in den Ecken des Saals, vier kleinere in der Mitte, um einen sehr schön gearbei¬ teten Sarkophag, der seiner Größe nach eine junge Person von mittlererer Gestalt enthalten haben sollte. Natalie blieb bey diesem Monumente ste¬ hen, und indem sie die Hand darauf legte, sagte sie: mein guter Oheim hatte große Vorliebe zu diesem Werke des Alterthums. Er sagte manchmal: nicht allein die ersten Blüthen fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Räumen verwahren könnt, sondern auch Früchte, die uns, am Zweige hängend, noch lange die schönste Hoffnung geben, in¬ dem ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstöhrung vorbereitet. Ich fürchte, fuhr sie fort, er hat auf das liebe Mädchen geweissagt, das sich unserer Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu neigen scheint. Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: ich muß Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Bemerken Sie diese halbrunden Öfnungen in der Höhe auf bey¬ den Seiten! hier können die Chöre der Sän¬ ger verborgen stehen, und diese ehrenen Zier¬ rathen unter dem Gesimse dienen die Tep¬ piche zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bey jeder Bestattung aufge¬ hängt werden sollen. Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne Gesang leben, und hatte dabey die Eigenheit, daß er die Sänger nicht sehen wollte. Er pflegte zu sagen: das Theater verwöhnt uns gar zu sehr, die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen, bey Oratorien und Conzerten stöhrt uns immer die Gestalt des Musikus, die wahre Musik ist allein fürs Ohr, eine schöne Stimme ist das Allgemeinste was sich denken laßt, und indem das einge¬ schränkte Individuum, das sie hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstöhrt es den reinen Effect jener Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch, dessen Gestalt und Character die Rede werth oder unwerth macht, hingegen wer mir singt, soll unsicht¬ bar seyn, seine Gestalt soll mich nicht be¬ stechen oder irre machen. Hier spricht nur ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht eine tausendfältige Welt zum Auge, nicht ein Himmel zum Menschen. Eben so wollte er auch bey Instrumentalmu¬ siken die Orchester so viel als möglich ver¬ steckt haben, weil man durch die mechani¬ schen Bemühungen und durch die nothdürf¬ tigen, immer seltsamen Gebärden der In¬ strumentenspieler so sehr zerstreut und ver¬ wirrt werde. Er pflegte daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören, um sein ganzes Daseyn auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu con¬ centriren. Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange heftig lau¬ fen und den Felix rufen hörten: nein ich! nein ich! Mignon warf sich zuerst zur geöffneten Thüre herein, sie war außer Athem, und konnte kein Wort sagen, Felix, noch in ei¬ niger Entfernung, rief: Mutter Therese ist da! Die Kinder hatten, so schien es, die Nach¬ richt zu überbringen, einen Wettlauf ange¬ stellt. Mignon lag in Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam. Böses Kind! sagte Natalie, ist Dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? sieh, wie Dein Herz schlägt? Laß es brechen! sagte Mignon, mit ei¬ nem tiefen Seufzer, es schlägt schon zu lange. Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Bestürzung kaum erholt, als Therese hereintrat. Sie flog auf Nata¬ lien zu, umarmte sie und das gute Kind. Dann wendete sie sich zu Wilhelmen, sah ihn mit ihren klaren Augen an, und sagte: nun, mein Freund, wie steht es, Sie haben sich doch nicht irre machen lassen? Er that einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn loß und hing an seinem Halse. O meine Therese! rief er aus. Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja auf ewig die Deine, rief sie unter den lebhaftesten Küssen. Felix zog sie am Rocke und rief: Mutter Therese, ich bin auch da! Natalie stand und sah vor sich hin, Mignon fuhr auf ein¬ mal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig aus¬ streckte, fiel sie mit einem Schrey zu Nata¬ liens Füßen für todt nieder. Der Schrecken war groß, keine Bewe¬ gung des Herzens noch des Pulses war zu spüren. Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf, der schlotternde Körper hing über seine Schultern. Die Ge¬ genwart des Arztes gab wenig Trost, er und der junge Wundarzt, den wir schon kennen, bemühten sich vergebens. Das liebe Ge¬ schöpf war nicht ins Leben zurück zu rufen. Natalie winkte Theresen. Diese nahm ih¬ ren Freund bey der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Er war stumm und ohne Sprache, und hatte den Muth nicht ihren Augen zu begegnen. So saß er neben ihr auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zu¬ erst angetroffen hatte. Er dachte mit großer Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er dachte nicht, er ließ das auf seine Seele wirken, was er nicht ent¬ fernen konnte. Es giebt Augenblicke des Le¬ bens, in welchen die Begebenheiten, gleich geflügelten Weberschiffchen, vor uns sich hin und wieder bewegen, und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder we¬ niger selbst gesponnen und angelegt haben. Mein Freund, sagte Therese! mein Gelieb¬ ter, indem sie das Stillschweigen unterbrach, und ihn bey der Hand nahm, laß uns die¬ sen Augenblick fest zusammenhalten, wie wir noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen, werden zu thun haben. Dieß sind die Er¬ eignisse, welche zu ertragen man zu zwey in der Welt seyn muß. Bedenke, mein Freund, fühle! daß Du nicht allein bist, zeige, daß Du Deine Therese liebst zuerst dadurch, daß Du Deine Schmerzen ihr mittheilst. Sie umarmte ihn und schloß ihn sanft an ihren Busen, er faßte sie in seine Arme, und drückte sie mit Heftigkeit an sich. Das arme Kind, rief er aus, suchte in traurigen Au¬ genblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen, laß die Sicherheit des Dei¬ nigen mir in dieser schrecklichen Stunde zu gute kommen. Sie hielten sich fest umschlos¬ sen, er fühlte ihr Herz an seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es öde und leer, nur die Bilder Mignons und Na¬ taliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft. Natalie trat herein. Gieb uns Deinen Seegen! rief Therese, laß uns in diesem traurigen Augenblicke vor Dir verbunden seyn. Wilhelm hatte sein Gesicht an There¬ sens Halse verborgen, er war glücklich ge¬ nug weinen zu können. Er hörte Natalien nicht kommen, er sah sie nicht, nur bey dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Thränen. Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden, sagte Natalie lächelnd, aber verbinden kann ich euch nicht, und kann kann nicht loben, daß Schmerz und Nei¬ gung die Erinnerung an meinen Bruder völ¬ lig aus euren Herzen zu verbannen scheint. Wilhelm riß sich bey diesen Worten aus den Armen Theresens. Wo wollen Sie hin, riefen beyde Frauen. Lassen Sie mich das Kind sehen, rief er aus, das ich getödtet habe. Das Unglück, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als wenn unsere Einbil¬ dungskraft das Übel gewaltsam in unser Ge¬ müth einsenkt, lassen Sie uns den abgeschie¬ denen Engel sehen! seine heitere Mine wird uns sagen, daß ihm wohl ist! Da die Freun¬ dinnen den bewegten Jüngling nicht abhal¬ ten konnten, folgten sie ihm, aber der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entge¬ gen kam, hielt sie ab sich der Verblichenen zu nähern, und sagte: Halten Sie Sich von diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daß ich den Resten W. Meisters Lehrj. 4. Y dieses sonderbaren Wesens, so viel meine Kunst vermag, einige Dauer gebe. Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht allein zu balsamiren, sondern ihm auch ein leben¬ diges Ansehn zu erhalten, bey diesem gelieb¬ ten Geschöpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraus sahe, habe ich alle Anstal¬ ten gemacht, und mit diesem Gehülfen hier soll mir’s gewiß gelingen. Erlauben Sie mir nur noch einige Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben. Der junge Chirurgus hatte jene merk¬ würdige Instrumententasche wieder in Hän¬ den. Von wem kann er sie wohl haben, fragte Wilhelm den Arzt. Ich kenne sie sehr gut, versetzte Natalie, er hat sie von seinem Vater, der Sie damals im Walde verband. O so habe ich mich nicht geirrt, rief Wil¬ helm, ich erkannte das Band sogleich. Tre¬ ten Sie mir es ab! es brachte mich zuerst wieder auf die Spur von meiner Wohlthä¬ terinn. Wie viel Wohl und Wehe über¬ dauert nicht ein solches lebloses Wesen! bey wie viel Schmerzen war dies Band nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer. Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen. Es war gegenwärtig in einem der schönsten Augen¬ blicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag, und Ihre hülfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit blutigen Haren, mit der zärtlichsten Sorgfalt für mein Leben besorgt war, dessen frühzeitigen Tod wir nun beweinen. Die Freunde hatten nicht lange Zeit, sich über diese traurige Begebenheit zu unterhal¬ Y 2 ten, und Fräulein Theresen über das Kind und über die wahrscheinliche Ursache seines unerwarteten Todes aufzuklären; denn es wurden Fremde gemeldet, die, als sie sich zeigten, keinesweges fremd waren. Lothario, Jarno, der Abbé traten herein. Natalie ging ihrem Bruder entgegen, unter den übri¬ gen entstand ein augenblickliches Stillschwei¬ gen. Therese sagte lächelnd zu Lothario: Sie glaubten wohl kaum mich hier zu fin¬ den, wenigstens ist es eben nicht räthlich, daß wir uns in diesem Augenblick aufsuchen, in¬ dessen seyn Sie mir, nach einer so langen Abwesenheit, herzlich gegrüßt. Lothario reichte ihr die Hand, und ver¬ setzte: wenn wir einmal leiden und entbeh¬ ren sollen, so mag es immerhin auch in der Gegenwart des geliebten, wünschenswerthen Gutes geschehen, ich verlange keinen Ein¬ fluß auf Ihre Entschließung, und mein Ver¬ trauen auf Ihr Herz, auf Ihren Verstand und reinen Sinn ist noch immer so groß, daß ich Ihnen mein Schicksal und das Schick¬ sal meines Freundes gerne in die Hand lege. Das Gespräch wendete sich sogleich zu allgemeinen, ja, man darf sagen, zu unbe¬ deutenden Gegenständen. Die Gesellschaft trennte sich bald, zum Spaziren gehen, in einzelne Paare. Natalie war mit Lothario, Therese mit dem Abbé gegangen und Wil¬ helm war mit Jarno auf dem Schlosse geblieben. Die Erscheinung der drey Freunde, in dem Augenblick da Wilhelmen ein schwerer Schmerz auf der Brust lag, hatte ihn, statt ihn zu zerstreuen, in äußerst schlimme Laune versetzt, er war verdrießlich und argwöh¬ nisch, und konnte und wollte es nicht ver¬ helen, als Jarno ihn über sein mürrisches Stillschweigen zur Rede setzte. Was braucht's da weiter? rief Wilhelm aus. Lothario kommt mit seinen Beyständen, und es wäre wun¬ derbar, wenn jene geheimnißvollen Mächte des Thurms, die immer so geschäftig sind, jetzt nicht auf uns wirken, und ich weiß nicht was für einen seltsamen Zweck mit und an uns ausführen sollten. So viel ich diese heiligen Männer kenne, scheint es je¬ derzeit ihre löbliche Absicht das Verbundene zu trennen und das Getrennte zu verbinden. Was daraus für ein Gewebe entstehen kann, mag wohl unsern unheiligen Augen ewig ein Rätzel bleiben. Sie sind verdrießlich und bitter, sagte Jarno, das ist recht schön und gut. Wenn Sie nur erst einmal recht böse werden, wird es noch besser seyn. Dazu kann auch Rath werden, versetzte Wilhelm, und ich fürchte sehr, daß man Lust hat meine angebohrne und angebildete Ge¬ duld diesmal aufs Äußerste zu reizen. So möchte ich Ihnen denn doch, sagte Jarno, indessen, bis wir sehen wo unsere Geschichten hinaus wollen, etwas von dem Thurme erzählen, gegen den Sie ein so großes Mißtrauen zu hegen scheinen. Es steht bey Ihnen, versetzte Wilhelm, wenn Sie es auf meine Zerstreuung hin wa¬ gen wollen. Mein Gemüth ist so vielfach beschäftigt, daß ich nicht weiß, ob es an diesen würdigen Abentheuern den schuldigen Theil nehmen kann. Ich lasse mich, sagte Jarno, durch Ihre angenehme Stimmung nicht abschrecken, Sie über diesen Punct aufzuklären. Sie halten mich für einen gescheuten Kerl, und Sie sol¬ len mich auch noch für einen ehrlichen hal¬ ten, und, was mehr ist, diesmal hab’ ich Auftrag. — Ich wünschte, versetzte Wil¬ helm, Sie sprächen aus eigner Bewegung und aus gutem Willen mich aufzuklären; da ich Sie nicht ohne Mißtrauen hören kann, warum soll ich Sie anhören? — Wenn ich jetzt nichts besseres zu thun habe, sagte Jarno, als Mährchen zu erzählen, so ha¬ ben Sie ja auch wohl Zeit ihnen einige Auf¬ merksamkeit zu widmen, vielleicht sind Sie dazu geneigter, wenn ich Ihnen gleich an¬ fangs sage: alles was Sie im Thurme ge¬ sehen haben, sind eigentlich nur noch Reli¬ quien von einem jugendlichen Unternehmen, bey dem es anfangs den meisten Eingeweih¬ ten großer Ernst war, und über das nun alle gelegentlich nur lächeln. Also mit diesen würdigen Zeichen und Worten spielt man nur, rief Wilhelm aus, man führt uns mit Feyerlichkeit an einen Ort, der uns Ehrfurcht einflößt, man läßt uns die wunderlichsten Erscheinungen sehen, man giebt uns Rollen voller herrlichen, ge¬ heimnißreichen Sprüche, davon wir freylich das wenigste verstehn, man eröfnet uns: daß wir bisher Lehrlinge waren, man spricht uns los, und wir sind so klug wie vorher. — Haben Sie das Pergament nicht bey der Hand? fragte Jarno, es enthält viel Gu¬ tes; denn jene allgemeinen Sprüche sind nicht aus der Luft gegriffen, freylich scheinen sie demjenigen leer und dunkel, der sich kei¬ ner Erfahrung dabey erinnert. Geben Sie mir den sogenannten Lehrbrief doch, wenn er in der Nähe ist. — Gewiß ganz nah, versetzte Wilhelm, so ein Amulet sollte man immer auf der Brust tragen. — Nun, sagte Jarno lächelnd: wer weiß ob der Inhalt nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen Platz findet. Jarno blickte hinein, und überlief die erste Hälfte mit den Augen. Diese, sagte er, bezieht sich auf die Ausbildung des Kunstsinnes, wovon andere sprechen mögen; der zweyte handelt vom Leben, und da bin ich besser zu Hause. Er fing darauf an Stellen zu lesen, sprach dazwischen und knüpfte Anmerkungen und Erzählungen mit ein: Die Neigung der Ju¬ gend zum Geheimnis, zu Ceremonien und großen Worten ist außerordentlich, und oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charak¬ ters. Man will in diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbe¬ stimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der Jüngling, der vieles ahnet, glaubt in ei¬ nem Geheimnisse viel zu finden, in ein Ge¬ heimniß viel legen und durch dasselbe wirken zu müssen. In diesen Gesinnungen bestärkte der Abbé eine junge Gesellschaft, theils nach seinen Grundsätzen, theils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im Verborgenen gewirkt haben mochte. Ich konnte mich am wenigsten in dieses We¬ sen finden. Ich war älter als die andern, ich hatte von Jugend auf klar gesehen, und wünschte in allen Dingen nichts als Klar¬ heit, ich hatte kein ander Interesse, als die Welt zu kennen wie sie war; und steckte mit dieser Liebhaberey die übrigen besten Gefähr¬ ten an, und fast hätte darüber unsere gan¬ ze Bildung eine falsche Richtung genommen; denn wir fingen an nur die Fehler der an¬ dern und ihre Beschränkung zu sehen, und uns selbst für treffliche Wesen zu halten. Der Abbé kam uns zu Hülfe und lehrte uns: daß man die Menschen nicht beobach¬ ten müsse, ohne sich für ihre Bildüng zu in¬ teressiren, und daß man sich selbst eigentlich nur in der Thätigkeit zu beobachten und zu erlau¬ schen im Stande sey. Er rieth uns jene erste Formen der Gesellschaft beyzubehalten, es blieb daher etwas gesetzliches in unsern Zusammen¬ künften, man sah wohl die ersten mystischen Eindrücke auf die Einrichtung des Ganzen, nachher nahm es, wie durch ein Gleichniß, die Gestalt eines Handwerks, das sich bis zur Kunst erhob, an. Daher kamen die Be¬ nennungen von Lehrlingen, Gehülfen und Meistern. Wir wollten mit eignen Augen sehen, und uns ein eigenes Archiv unserer Weltkenntnis bilden, daher entstanden die vielen Confessionen, die wir theils selbst schrieben, theils wozu wir andere veranla߬ ten, und aus denen nachher die Lehrjahre zusammengesetzt wurden: Nicht allen Men¬ schen ist es eigentlich um ihre Bildung zu thun, viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Recepte zum Reichthum und zu jeder Art von Glückseligkeit. Alle diese, die nicht auf ihre Füße gestellt seyn wollten, wurden mit Mystificationen und anderm Hokus Pokus theils aufgehalten, theils bey Seite gebracht. Wir sprachen nur nach unserer Art diejenigen los, die leb¬ haft fühlten und deutlich bekannten, wozu sie gebohren seyen, und die sich genug geübt hatten, um, mit einer gewissen Fröhlichkeit und Leichtigkeit, ihren Weg zu verfolgen. So haben Sie sich mit mir sehr übereilt, versetzte Wilhelm, denn was ich kann, will oder soll, weiß ich, grade seit jenem Augen¬ blick, am allerwenigsten. — Wir sind ohne Schuld in diese Verwirrung gerathen, das gute Glück mag uns wieder heraushelfen; indessen hören Sie nur: Derjenige, an dem viel zu entwickeln ist, wird später über sich und die Welt aufgeklärt. Es sind nur we¬ nige, die den Sinn haben und zugleich zur That fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt, die That belebt, aber beschränkt. Ich bitte Sie, fiel Wilhelm ein, lesen Sie mir von diesen wunderlichen Worten nichts mehr! Diese Phrasen haben mich schon verwirrt genug gemacht. — So will ich bey der Erzählung bleiben, sagte Jarno, indem er die Rolle halb zuwickelte, und nur manch¬ mal einen Blick hinein that. Ich selbst habe der Gesellschaft und den Menschen am we¬ nigsten genutzt, ich bin ein sehr schlechter Lehrmeister, es ist mir unerträglich zu sehen, wenn jemand ungeschickte Versuche macht, einem Irrenden muß ich gleich zurufen, und wenn es ein Nachtwandler wäre, den ich in Gefahr sähe auf dem rechten Wege den Hals zu brechen. Darüber hatte ich nun immer meine Noth mit dem Abbé, der be¬ hauptet, der Irrthum könne nur durch das Irren geheilt werden. Auch über Sie haben wir uns oft gestritten, er hatte Sie beson¬ ders in Gunst genommen, und es will schon etwas heißen in dem hohen Grade seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; Sie müs¬ sen mir nachsagen, daß ich Ihnen, wo ich Sie antraf, die reine Wahrheit sagte. — Sie haben mich wenig geschont, sagte Wil¬ helm, und Sie scheinen Ihren Grundsätzen treu zu bleiben. Was ist denn da zu scho¬ nen, versetzte Jarno, wenn ein junger Mensch, von mancherley guten Anlagen, eine ganz falsche Richtung nimmt? — Verzeihen Sie, sagte Wilhelm, Sie haben mir streng genug alle Fähigkeit zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich bey mir selbst doch dazu nicht für ganz un¬ fähig erklären. — Und bey mir, sagte Jarno, ist es doch so rein entschieden: daß wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Nahmen. So haben Sie, zum Beyspiel, den Hamlet und einige an¬ dere Rollen recht gut gespielt, bey denen Ihnen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks zu gute kamen. Das wäre nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen an¬ dern Weg vor sich sähe. Man soll sich, fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle sah, vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin so weit bringen, als man will, so wird man doch immer zu¬ letzt, wenn uns einmal das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften, die man auf eine solche Pfu¬ scherey gewendet hat, schmerzlich bedauren. Lesen Sie nichts! sagte Wilhelm, ich bitte Sie inständig, sprechen Sie fort, erzählen Sie mir, klären Sie mich auf! Und so hat also der Abbé mir zum Hamlet geholfen, in¬ dem er einen Geist herbeyschaffte? — Ja, denn denn er versicherte, daß es der einzige Weg sey Sie zu heilen, wenn Sie heilbar wä¬ ren. — Und darum ließ er mir den Schleyer zurück, und hieß mich fliehen? — Ja, er hoffte sogar mit der Vorstellung des Ham¬ lets sollte ihre ganze Lust gebüßt seyn, Sie würden nachher das Theater nicht wieder be¬ treten, behauptete er; ich glaubte das Ge¬ gentheil und behielt Recht. Wir stritten noch selbigen Abend nach der Vorstellung darü¬ ber. — Und Sie haben mich also spielen sehen? — O gewis! — Und wer stellte denn den Geist vor? — Das kann ich selbst nicht sagen, entweder der Abbé oder sein Zwil¬ lingsbruder, doch glaub ich dieser, denn er ist um ein weniges größer; — Sie haben also auch Geheimnisse unter einander? — Freunde können und müssen Geheimnisse vor einander haben, sie sind einander doch kein Geheimnis. W. Meisters Lehrj. 4. Z Es verwirrt mich schon das Andenken dieser Verworrenheit. Klären Sie mich über den Mann auf, dem ich so viel schuldig bin, und dem ich so viel Vorwürfe zu machen habe. Was ihn uns so schätzbar macht, ver¬ setzte Jarno, was ihm gewissermaßen die Herrschaft über uns alle erhält, ist der freye und scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen: Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und zu befördern. Da muß ich doch wieder in die Rolle sehen! fuhr Jarno fort: Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusam¬ mengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zu¬ sammen, und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten thierischen Handwerkstriebe, bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes, bis zur treffiichsten Äusserung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Kna¬ ben bis zu den ungeheuren Anstalten, wo¬ durch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüch¬ tigsten Liebe, bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahndungen und Hoffnungen der ent¬ ferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen, und muß aus¬ gebildet werden; aber nicht in Einem, son¬ Z 2 dern in vielen. Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche be¬ fördert, so machen beyde zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle könnens nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellens dar, und viele bedürfens. Halten Sie inne, rief Wilhelm, ich habe das alles gelesen. — Nur noch einige Zei¬ len, versetzte Jarno, hier find ich den Abbé ganz wieder: Eine Kraft beherrscht die an¬ dere, aber keine kann die andere bilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft sich zu vollenden; das verstehen so wenig Men¬ schen, die doch lehren und wirken wollen. — Und ich verstehe es auch nicht, versetzte Wil¬ helm: — Sie werden über diesen Text den Abbé noch oft genug hören, und so lassen Sie uns nur immer recht deutlich sehen und fest halten, was an uns ist, und was wir an uns ausbilden können; lassen Sie uns gegen die andern gerecht seyn, denn wir sind nur in so fern zu achten, als wir zu schätzen wissen. — Um Gottes willen! keine Sentenzen weiter! ich fühle sie sind ein schlechtes Heilmittel für ein verwundetes Herz. Sagen Sie mir lieber mit Ihrer grausamen Bestimmtheit, was Sie von mir erwarten, und wie und auf welche Weise Sie mich aufopfern wollen. — Jeden Ver¬ dacht, ich versichere Sie, werden Sie uns künftig abbitten. Es ist Ihre Sache zu prü¬ fen und zu wählen, und die unsere Ihnen beyzustehn. — Der Mensch ist nicht glück¬ lich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begränzung bestimmt. Nicht an mich halten Sie sich, sondern an den Abbé, nicht an sich denken Sie, sondern an das, was Sie umgiebt. Lernen Sie zum Bey¬ spiel Lothario’s Trefflichkeit einsehen, wie sein Überblick und seine Thätigkeit unzer¬ trennlich mit einander verbunden sind, wie er immer im Fortschreiten ist, wie er sich ausbreitet und jeden mit fortreißt. Er führt, wo er auch sey, eine Welt mit sich, seine Gegenwart belebt und feuert an. Sehen Sie unsern guten Medikus dagegen! es scheint gerade die entgegengesetzte Natur zu seyn. Wenn jener nur ins Ganze und auch in die Ferne wirkt, so richtet dieser seinen hellen Blick nur auf die nächsten Dinge, er ver¬ schafft mehr die Mittel zur Thätigkeit, als daß er die Thätigkeit hervorbrächte und be¬ lebte, sein Handeln sieht einem guten Wirth¬ schaften vollkommen ähnlich, seine Wirksam¬ keit ist still, indem er einen jeden in seinem Kreis befördert ; sein Wissen ist ein bestän¬ diges Sammlen und Ausspenden, ein Neh¬ men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht könnte Lothario in Einem Tage zerstöhren, woran dieser Jahre lang gebaut hat; aber vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬ genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬ stöhrte hundertfältig wieder herzustellen. — Es ist ein trauriges Geschäft, sagte Wilhelm, wenn man über die reinen Vorzüge der an¬ dern in einem Augenblicke denken soll, da man mit sich selbst uneins ist; solche Betrach¬ tungen stehen dem ruhigen Manne wohl an, nicht dem, der von Leidenschaft und Unge¬ wisheit bewegt ist. — Ruhig und vernünf¬ tig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬ züge anderer zu denken, stellen sich die un¬ sern unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬ tasie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬ gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren Geist von allem Argwohn und aller Ängst¬ lichkeit! Dort kommt der Abbé, seyn Sie ja freundlich gegen ihn, bis Sie noch mehr erfahren, wie viel Dank Sie ihm schuldig sind. Der Schalk! da geht er zwischen Na¬ talien und Theresen, ich wollte wetten, er denkt sich was aus. So wie er überhaupt gern ein wenig das Schicksal spielt, so läßt er auch nicht von der Liebhaberey, manch¬ mal eine Heirath zu stiften. Wilhelm, dessen leidenschaftliche und ver¬ drießliche Stimmung durch alle die klugen und guten Worte Jarno’s nicht verbessert worden war, fand höchst undelikat, daß sein Freund, gerade in diesem Augenblick, eines solchen Verhältnisses erwähnte, und sagte zwar lächelnd, doch nicht ohne Bitterkeit: ich dächte man überließe die Liebhaberey, Heirathen zu stiften, Personen die sich lieb haben. Sechstes Capitel . D ie Gesellschaft hatte sich eben wieder be¬ gegnet, und unsere Freunde sahen sich genö¬ thigt, das Gespräch abzubrechen. Nicht lange, so ward ein Curier gemeldet, der einen Brief in Lothario’s eigene Hände übergeben wollte; der Mann ward vorgeführt, er sah rüstig und tüchtig aus, seine Livree war sehr reich und geschmackvoll. Wilhelm glaubte ihn zu kennen, und er irrte sich nicht, es war der¬ selbe Mann, den er damals Philinen und der vermeinten Mariane nachgeschickt hatte, und der nicht wieder zurück gekommen war. Eben wollte er ihn anreden, als Lothario, der den Brief gelesen hatte, ernsthaft und fast verdrießlich fragte: wie heißt sein Herr? Das ist unter allen Fragen, versetzte der Curier mit Bescheidenheit, auf die ich am wenigsten zu antworten weiß, ich hoffe der Brief wird das nöthige vermelden; mündlich ist mir nichts aufgetragen. Es sey wie ihm sey, versetzte Lothario mit Lächeln, da sein Herr das Zutrauen zu mir hat, mir so hasenfüßig zu schreiben, so soll er uns willkommen seyn. Er wird nicht lange auf sich warten lassen, versetzte der Curier mit einer Verbeugung, und ent¬ fernte sich. Vernehmet nur, sagte Lothario, die tolle abgeschmackte Bothschaft. Da unter allen Gästen, so schreibt der Unbekannte, ein gu¬ ter Humor der angenehmste Gast seyn soll, wenn er sich einstellt, und ich denselben als Reisegefährten beständig mit mir herum führe, so hoffe ich, der Besuch, den ich Ew. Gna¬ den und Liebden zugedacht habe, wird nicht übel vermerkt werden, vielmehr hoffe ich mit der sämmtlichen hohen Familie vollkom¬ mener Zufriedenheit anzulangen, und gele¬ gentlich mich wieder zu entfernen, der ich mich, und so weiter, Graf von Schneckenfuß. Das ist eine neue Familie, sagte der Abbé. Es mag ein Vikariatsgraf seyn, versetzte Jarno. Das Geheimnis ist leicht zu errathen, sagte Natalie, ich wette es ist Bruder Frie¬ drich, der uns schon seit dem Tode des Oheims mit einem Besuche droht. Getroffen! schöne und weise Schwester, rief jemand aus einem nahen Busche, und zugleich trat ein angenehmer, heiterer, jun¬ ger Mann hervor, Wilhelm konnte sich kaum eines Schreyes enthalten. Wie? rief er, unser blonder Schelm, der soll mir auch hier noch erscheinen? Friedrich ward auf¬ merksam, sah Wilhelmen an und rief: wahr¬ lich, weniger erstaunt wär ich gewesen, die berühmten Pyramiden, die doch in Ägypten so fest stehen, oder das Grab des Königs Mausolus, das, wie man mir versichert hat, gar nicht mehr existirt, hier in dem Garten meines Oheims zu finden, als Euch meinen alten Freund und vielfachen Wohlthäter. Seyd mir besonders und schönstens gegrüßt. Nachdem er rings herum alles bewill¬ kommt und geküßt hatte, sprang er wieder auf Wilhelmen los, und rief: Haltet mir ihn ja warm diesen Helden, Heerführer und dramatischen Philosophen. Ich habe ihn bey unsrer ersten Bekanntschaft schlecht, ja, ich darf wohl sagen, mit der Hechel frisirt, und er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht Schläge erspart. Er ist großmüthig wie Scipio, freygebig wie Alexander, gelegent¬ lich auch verliebt, doch ohne seine Neben¬ buhler zu hassen. Nicht etwa, daß er seinen Feinden Kohlen aufs Haupt sammelte, wel¬ ches, wie man sagt, ein schlechter Dienst seyn soll, den man jemanden erzeigen kann, nein, er schickt vielmehr den Freunden, die ihm sein Mädchen entführen, gute und treue Diener nach, damit ihr Fuß an keinen Stein stoße. In diesem Geschmack fuhr er unaufhalt¬ sam fort, ohne daß jemand ihm Einhalt zu thun im Stande gewesen wäre, und da nie¬ mand in dieser Art ihm erwiedern konnte, so behielt er das Wort ziemlich allein. Ver¬ wundert euch nicht, rief er aus, über meine große Belesenheit in heiligen und profan Scribenten, ihr sollt erfahren, wie ich zu diesen Kenntnissen gelangt bin. Man wollte von ihm wissen, wie es ihm gehe? wo er herkomme? allein er konnte vor lauter Sit¬ tensprüchen und alten Geschichten nicht zur deutlichen Erklärung gelangen. Natalie sagte leise zu Theresen: seine Art von Lustigkeit thut mir wehe, ich wollte wetten, daß ihm dabey nicht wohl ist. Da Friedrich, außer einigen Späßen, die ihm Jarno erwiederte, keinen Anklang für seine Possen in der Gesellschaft fand, sagte er: es bleibt mir nichts übrig, als mit der ernsthaften Familie auch ernsthaft zu wer¬ den, und weil mir, unter solchen bedenk¬ lichen Umständen, sogleich meine sämmtliche Sündenlast schwer auf die Seele fällt, so will ich mich kurz und gut zu einer Gene¬ ralbeichte entschließen, wovon Ihr aber, meine werthen Herren und Damen, nichts verneh¬ men sollt. Dieser edle Freund hier, dem schon einiges von meinem Leben und Thun bekannt ist, soll es allein erfahren, um so mehr als er darnach allein zu fragen einige Ursache hat. Wäret Ihr nicht neugierig zu wissen, fuhr er gegen Wilhelmen fort, wie und wo? wer? wann und warum? wie siehts mit der Conjugation des griechischen Verbi Phileo, Philoo? und mit den Derivativis dieses allerliebsten Zeitwortes aus? Somit nahm er Wilhelmen beym Arme, führte ihn fort, indem er ihn auf alle Weise drückte und küßte. Kaum war Friedrich auf Wilhelms Zim¬ mer gekommen, als er im Fenster ein Pu¬ dermesser liegen fand, mit der Inschrift: ge ¬ denket mein . Ihr hebt Eure werthen Sa¬ chen gut auf, sagte er, wahrlich das ist Phi¬ linens Pudermesser, das sie Euch jenen Tag schenkte, als ich Euch so gerauft hatte. Ich hoffe Ihr habt des schönen Mädchens fleißig dabey gedacht, und ich versichere Euch, sie hat Euch auch nicht vergessen, und wenn ich nicht jede Spur von Eifersucht schon lange aus meinem Herzen verbannnt hätte, so würde ich Euch nicht ohne Neid ansehen. Reden Sie nichts mehr von diesem Ge¬ schöpfe, versetzte Wilhelm. Ich leugne nicht, daß ich den Eindruck ihrer angenehmen Ge¬ genwart lange nicht los werden konnte, aber das war auch alles. Pfui! schämt Euch, rief Friedrich, wer wird eine Geliebte verläugnen? und Ihr habt sie so complet geliebt, als man es nur wünschen konnte. Es verging kein Tag, daß Ihr ihr nicht etwas schenktet, und wenn der Deutsche schenkt, liebt er gewiß. Es blieb mir nichts übrig, als sie Euch zuletzt wegzu¬ putzen, und dem rothen Officierchen ist es denn auch endlich geglückt. Wie? Sie waren der Officier, den wir bey Philinen antrafen, und mit dem sie wegreiste? Ja, versetzte Friedrich, den Sie für Ma¬ rianen hielten. Wir haben genug über den Irrthum gelacht. Welche Welche Grausamkeit! rief Wilhelm, mich in einer solchen Ungewisheit zu lassen. Und noch dazu den Curier, den Sie uns nachschickten, gleich in Dienste zu nehmen! versetzte Friedrich. Es ist ein tüchtiger Kerl, und ist diese Zeit nicht von unserer Seite gekommen. Und das Mädchen lieb ich noch immer so rasend wie jemals. Mir hat sie’s ganz eigens angethan, daß ich mich ganz nahe zu in einem mythologischen Falle be¬ finde, und alle Tage fürchte verwandelt zu werden. Sagen Sie mir nur, fragte Wilhelm, wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehr¬ samkeit her? Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu, die Sie angenom¬ men haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen. Auf die lustigste Weise, sagte Friedrich, bin ich gelehrt und zwar sehr gelehrt gewor¬ W. Meisters Lehrj. 4. A a den. Philine ist nun bey mir, wir haben einem Pachter das alte Schloß eines Ritter¬ gutes abgemiethet, worin wir, wie die Ko¬ bolde, aufs lustigste leben. Dort haben wir eine zwar compendiöse, aber doch ausge¬ suchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine Bibel in Folio, Gottfrieds Chronik, zwey Bände Theatrum Europaeum , die Acerra Philologica , Gryphii Schriften und noch ei¬ nige minder wichtige Bücher. Nun hatten wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten, manchmal lange Weile, wir wollten lesen, und ehe wir’s uns versahen, ward unsere lange Weile noch länger. Endlich hatte Phi¬ line den herrlichen Einfall, die sämmtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschla¬ gen, wir setzten uns gegeneinander und la¬ sen gegeneinander, und immer nur stellen¬ weise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! wir glaub¬ ten wirklich in guter Gesellschaft zu seyn, wo man für unschicklich hält irgend eine Materie zu lange fortsetzen, oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen. Wir glaubten in lebhafter Gesellschaft zu seyn, wo keins das andere zum Wort kommen läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage, und werden dadurch nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber ver¬ wunderten. Schon finden wir nichts neues mehr unter der Sonne, zu allem bietet uns unsere Wissenschaft einen Beleg an. Wir variiren, diese Art uns zu unterrichten, auf gar vielerley Weise. Manchmal lesen wir nach einer alten verdorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten ausgelaufen ist. Schnell dreht sie das andere herum, und fängt aus einem Buche zu lesen an, und kaum ist wie¬ der der Sand im untern Glase, so beginnt das andere schon wieder seinen Spruch, und A a 2 so studiren wir wirklich auf wahrhaft acade¬ mische Weise, nur daß wir kürzere Stun¬ den haben, und unsere Studien äußerst man¬ nigfaltig sind. Diese Tollheit begreife ich wohl, sagte Wilhelm, wenn einmal so ein lustiges Paar beysammen ist; wie aber das lockere Paar so lange beysammen bleiben kann, das ist mir nicht sobald begreiflich. Das ist, rief Friedrich, eben das Glück und das Unglück, Philine darf sich nicht se¬ hen lassen, sie mag sich selbst nicht sehen, sie ist guter Hoffnung. Unförmlicher und lächerlicher ist nichts in der Welt als sie. Noch kurz ehe ich weg ging, kam sie zufäl¬ liger Weise vor den Spiegel. Pfui Teufel, sagte sie, und wendete das Gesicht ab, die leibhaftige Frau Melina! das garstige Bild! Man sieht doch ganz niederträchtig aus. Ich muß gestehen, versetzte Wilhelm lä¬ chelnd, daß es ziemlich komisch seyn mag, Euch als Vater und Mutter beysammen zu sehen. Es ist ein recht närrischer Streich, sagte Friedrich, daß ich noch zuletzt als Vater gel¬ ten soll. Sie behauptets, und die Zeit trifft auch. Anfangs machte mich der verwünschte Besuch, den sie Euch nach dem Hamlet ab¬ gestattet hatte, ein wenig irre. Was für ein Besuch? Ihr werdet das Andenken daran doch nicht ganz und gar verschlafen haben? das allerliebste, fühlbare Gespenst jener Nacht, wenn Ihrs noch nicht wißt, war Philine. Die Geschichte war mir freylich eine harte Mitgift, doch wenn man sich so etwas nicht gefallen lassen kann, so muß man gar nicht lieben. Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf der Überzeugung, ich bin überzeugt und also bin ich Vater. Da seht Ihr, daß ich die Logik auch am rechten Orte zu brau¬ chen weiß. Und wenn das Kind sich nicht gleich nach der Geburt auf der Stelle zu Tode lacht; so kann es wo nicht ein nütz¬ licher doch angenehmer Weltbürger werden. Indessen die Freunde sich auf diese lustige Weise von leichtfertigen Gegenständen un¬ terhielten, hatte die übrige Gesellschaft ein ernsthaftes Gespräch begonnen. Kaum hat¬ ten Friedrich und Wilhelm sich entfernt, als der Abbé die Freunde unvermerkt in einen Gartensaal führte, und, als sie Platz ge¬ nommen hatten, seinen Vortrag begann. Wir haben, sagte er, im Allgemeinen be¬ hauptet, daß Fräulein Therese nicht die Tochter ihrer Mutter sey; es ist nöthig, daß wir uns hierüber auch nun im Einzelnen er¬ klären. Hier ist die Geschichte, die ich so¬ dann auf alle Weise zu belegen und zu be¬ weisen mich erbiete. Frau von *** lebte die ersten Jahre ih¬ res Ehestandes mit ihrem Gemahl in dem besten Vernehmen, nur hatten sie das Un¬ glück, daß die Kinder, zu denen einigemal Hoffnung war, todt zur Welt kamen, und bey dem dritten die Ärzte schon beynahe der Mutter den Tod verkündigten, und ihn bey einem folgenden als ganz unvermeidlich weis¬ sagten. Man war genöthigt sich zu ent¬ schließen, man wollte das Eheband nicht aufheben, man befand sich, bürgerlich ge¬ nommen, zu wohl. Frau von *** suchte in der Ausbildung ihres Geistes, in einer gewissen Repräsentation, in den Freuden der Eitelkeit, eine Art von Entschädigung für das Mutterglück, das ihr versagt war. Sie sah ihrem Gemahl mit sehr viel Heiterkeit nach, als er Neigung zu einem Frauenzim¬ mer faßte, welche die ganze Haushaltung versah, eine schöne Gestalt und einen sehr soliden Charakter hatte. Frau von *** bot nach kurzer Zeit einer Einrichtung selbst die Hände, nach welcher das gute Mädchen sich Theresens Vater überließ, in der Besorgung des Hauswesens fortfuhr und gegen die Frau vom Hause fast noch mehr Dienstfer¬ tigkeit und Ergebung als vorher bezeigte. Nach einiger Zeit erklärte sie sich guter Hoffnung, und die beyden Eheleute kamen bey dieser Gelegenheit, ob wohl aus ganz verschiedenen Anlässen, auf einerley Gedan¬ ken. Herr von *** wünschte das Kind sei¬ ner Geliebten als sein rechtmäßiges im Hause einzuführen, und Frau von ***, verdrie߬ lich, daß durch die Indiscretion ihres Arztes ihr Zustand in der Nachbarschaft hatte ver¬ lauten wollen, dachte durch ein untergescho¬ benes Kind sich wieder in Ansehn zu setzen, und durch eine solche Nachgiebigkeit ein Über¬ gewicht im Hause zu erhalten, das sie unter den übrigen Umständen zu verliehren fürch¬ tete. Sie war zurückhaltender als ihr Ge¬ mahl, sie merkte ihm seinen Wunsch ab, und wußte, ohne ihm entgegen zu gehn, eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte ihre Bedingungen, und erhielt fast alles, was sie verlangte, und so entstand das Te¬ stament, worin so wenig für das Kind ge¬ sorgt zu seyn schien. Der alte Arzt war ge¬ storben, man wendete sich an einen jungen, thätigen, gescheuten Mann, er ward gut belohnt, und er konnte selbst eine Ehre darin suchen, die Unschicklichkeit und Übereilung seines abgeschiedenen Collegen herauszusetzen und zu verbessern. Die wahre Mutter wil¬ ligte nicht ungern ein, man spielte die Ver¬ stellung sehr gut, Therese kam zur Welt, und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, in¬ deß ihre wahre Mutter ein Opfer dieser Verstellung ward, indem sie sich zu früh wieder heraus wagte, starb, und den guten Mann trostlos hinterließ. Frau von *** hatte indessen ganz ihre Absicht erreicht, sie hatte vor den Augen der Welt ein liebenswürdiges Kind, mit dem sie übertrieben paradirte, sie war zugleich eine Nebenbuhlerinn los geworden, deren Verhältniß sie denn doch mit neidischen Au¬ gen ansah, und deren Einfluß sie, für die Zukunft wenigstens, heimlich fürchtete, sie überhäufte das Kind mit Zärtlichkeit, und wußte ihren Gemahl, in vertraulichen Stun¬ den, durch eine so lebhafte Theilnahme an seinem Verlust dergestalt an sich zu ziehen, daß er sich ihr, man kann wohl sagen, ganz ergab, sein Glück und das Glück ihres Kin¬ des in ihre Hände legte, und kaum kurze Zeit vor seinem Tode, und noch gewisser¬ maßen nur durch seine erwachsene Tochter, wieder Herr im Hause ward. Das war, schöne Therese, das Geheimniß, daß Ihnen Ihr kranker Vater wahrscheinlich so gern entdeckt hätte, das ists, was ich Ihnen jetzt, eben da der junge Freund, der durch die sonderbarste Verknüpfung von der Welt Ihr Bräutigam geworden ist, in der Gesellschaft fehlt, umständlich vorlegen wollte. Hier sind die Papiere, die aufs strengste bewei¬ sen, was ich behauptet habe. Sie werden daraus zugleich erfahren, wie lange ich schon dieser Entdeckung auf der Spur war, und wie ich doch erst jetzt zur Gewißheit kom¬ men konnte, wie ich nicht wagte, meinem Freund etwas von der Möglichkeit des Glücks zu sagen, da es ihn zu tief gekränkt haben würde, wenn diese Hoffnung zum zweyten¬ male verschwunden wäre. Sie werden Ly¬ diens Argwohn begreifen; denn ich gestehe gern, daß ich die Neigung unseres Freun¬ des zu diesem guten Mädchen keinesweges begünstigte, seitdem ich seiner Verbindung mit Theresen wieder entgegen sah. Niemand erwiederte etwas auf diese Ge¬ schichte. Die Frauenzimmer gaben die Pa¬ piere nach einigen Tagen zurück, ohne der¬ selben weiter zu erwähnen. Man hatte Mittel genug in der Nähe, die Gesellschaft, wenn sie beysammen war, zu beschäftigen, auch bot die Gegend so manche Reize dar, daß man sich gern darin theils einzeln, theils zusammen, zu Pferde, zu Wagen oder zu Fuße umsah. Jarno richtete, bey einer solchen Gelegenheit, sei¬ nen Auftrag an Wilhelmen aus, legte ihm die Papiere vor, schien aber weiter keine Entschließung von ihm zu verlangen. In diesem höchst sonderbaren Zustand, in dem ich mich befinde, sagte Wilhelm darauf, brauche ich Ihnen nur das zu wiederholen, was ich gleich Anfangs, in Gegenwart Na¬ taliens, und gewis mit einem reinen Herzen, gesagt habe: Lothario und seine Freunde können jede Art von Entsagung von mir fordern, ich lege Ihnen hiermit alle meine Ansprüche an Theresen in die Hand, ver¬ schaffen Sie mir dagegen meine förmliche Entlassung. O! es bedarf, mein Freund, keines großen Bedenkens mich zu entschließen. Schon diese Tage hab ich gefühlt, daß The¬ rese Mühe hat nur einen Schein der Leb¬ haftigkeit, mit der sie mich zuerst hier be¬ grüßte, zu erhalten. Ihre Neigung ist mir entwendet, oder vielmehr ich habe sie nie besessen. Solche Fälle möchten sich wohl besser, nach und nach, unter Schweigen und Er¬ warten aufklären, versetzte Jarno, als durch vieles Reden, wodurch immer eine Art von Verlegenheit und Gährung entsteht. Ich dächte vielmehr, sagte Wilhelm, daß gerade dieser Fall der ruhigsten und der reinsten Entscheidung fähig sey. Man hat mir so oft den Vorwurf des Zauderns und der Ungewisheit gemacht; warum will man jetzt, da ich entschlossen bin, geradezu einen Fehler, den man an mir tadelte, gegen mich selbst begehn? giebt sich die Welt nur darum so viel Mühe uns zu bilden, um uns füh¬ len zu lassen, daß sie sich nicht bilden mag? Ja, gönnen Sie mir recht bald das heitere Gefühl, ein Mißverhältniß los zu werden, in das ich mit den reinsten Gesinnungen von der Welt gerathen bin. Ohngeachtet dieser Bitte vergingen einige Tage, in denen er nichts von dieser Sache hörte, noch auch eine weitere Veränderung an seinen Freunden bemerkte, die Unter¬ haltung war vielmehr bloß allgemein und gleichgültig. Siebentes Capitel . E inst saßen Natalie, Jarno und Wilhelm zusammen, und Natalie begann: Sie sind nachdenklich Jarno, ich kann es Ihnen schon einige Zeit abmerken. Ich bin es, versetzte der Freund, und ich sehe ein wichtiges Geschäft vor mir, das bey uns schon lange vorbereitet ist, und jetzt wohl angegriffen werden muß. Sie wissen schon etwas im Allgemeinen davon, und ich darf wohl vor unserm jungen Freunde davon reden, weil es auf ihm ankommen soll, ob er Theil daran zu nehmen Lust hat. Sie werden mich nicht lange mehr sehen, denn ich bin im Begriff nach Amerika überzu¬ schiffen. Nach Amerika? versetzte Wilhelm lächelnd; ein solches Abentheuer hätte ich nicht von Ihnen erwartet, noch weniger daß Sie mich zum Gefährten aussehen würden. Wenn Sie unsern Plan ganz kennen, versetzte Jarno, so werden Sie ihm einen bessern Nahmen geben, und vielleicht für ihn eingenommen werden. Hören Sie mich an. Man darf nur ein wenig mit den Welt¬ händeln bekannt seyn, um zu bemerken, daß uns große Veränderungen bevorstehn, und daß die Besitzthümer beynah nirgends mehr recht s i cher sind. Ich habe keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln, fiel Willhelm ein, und habe mich erst vor kurzen um meine Besitz¬ thümer bekümmert. Vielleicht hätte ich wohl gethan, sie mir noch länger aus dem Sinne zu schlagen, da ich bemerken muß, daß die Sorge für ihre Erhaltung so hypochondrisch macht. Hören Hören Sie mich aus, sagte Jarno, die Sorge geziemt dem Alter, damit die Jugend eine Zeit lang sorglos seyn könne. Das Gleichgewicht in den menschlichen Handlun¬ gen kann leider nur durch Gegensätze herge¬ stellt werden. Es ist gegenwärtig nichts we¬ niger als räthlich, nur an Einem Ort zu be¬ sitzen, nur Einem Platze sein Geld anzuver¬ trauen, und es ist wieder schwer an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben uns deswegen etwas anders ausgedacht, aus unserm alten Thurm soll eine Societät aus¬ gehen, die sich in alle Theile der Welt aus¬ breiten, in die man aus jedem Theile der Welt eintreten kann. Wir assecuriren uns unter einander unsere Existenz, auf den ein¬ zigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitzthü¬ mern völlig vertriebe. Ich gehe nun hin¬ über nach Amerika, um die guten Verhält¬ W. Meisters Lehrj. 4. B b nisse zu benutzen, die sich unser Freund bey seinem dortigen Aufenthalt gemacht hat. Der Abbé will nach Rußland gehn, und Sie sollen die Wahl haben, wenn Sie sich an uns anschließen wollen, ob Sie Lothario in Deutschland beystehn, oder mit mir gehen wollen. Ich dächte Sie wählten das letzte. Denn eine große Reise zu thun ist für einen jungen Mann äußerst nützlich. Wilhelm nahm sich zusammen und ant¬ wortete: Der Antrag ist aller Überlegung werth, denn mein Wahlspruch wird doch nächstens seyn; je weiter weg, je besser! Sie werden mich, hoffe ich, mit Ihrem Plane näher bekannt machen. Es kann von meiner Unbekanntschaft mit der Welt herrühren; mir scheinen aber einer solchen Verbindung sich unüberwindliche Schwierigkeiten entge¬ gen zu setzen. Davon sich die meisten nur dadurch he¬ ben werden, versetzte Jarno, daß unserer bis jetzt nur wenig sind, redliche, gescheute und entschlossene Leute, die einen gewissen, allgemeinen Sinn haben, aus dem allein der gesellige Sinn entstehen kann. Friedrich, der bisher nur zugehört hatte, versetzte darauf: und wenn Ihr mir ein gu¬ tes Wort gebt, gehe ich auch mit. Jarno schüttelte den Kopf. Nun, was habt Ihr an mir auszusetzen? fuhr Friedrich fort. Bey einer neuen Colonie werden auch junge Colonisten erfordert, und die bring ich gleich mit; auch lustige Colo¬ nisten, das versichre ich Euch. Und dann wüßte ich noch ein gutes junges Mädchen, das hierüber nicht mehr am Platz ist, die süße reizende Lydie. Wo soll das arme Kind mit seinem Schmerz und Jammer hin, wenn sie ihn nicht gelegentlich in die Tiefe des Meeres werfen kann, und wenn sich nicht B b 2 ein braver Mann ihrer annimmt? Ich dächte mein Jugendfreund, da Ihr doch im Gange seyd, Verlassene zu trösten, Ihr entschlößt Euch! jeder nähme sein Mädchen unter den Arm, und wir folgten dem alten Herrn. Dieser Antrag verdroß Wilhelmen. Er antwortete mit verstellter Ruhe: weiß ich doch nicht einmal ob sie frey ist, und da ich überhaupt im Werben nicht glücklich zu seyn scheine, so möchte ich einen solchen Versuch nicht machen. Natalie sagte darauf: Bruder Friedrich Du glaubst, weil Du für Dich so leichtsinnig handelst, auch für andere gelte Deine Ge¬ sinnung. Unser Freund verdient ein weib¬ liches Herz, das ihm ganz angehöre, das nicht an seiner Seite von fremden Erinne¬ rungen bewegt werde; nur mit einem höchst vernünftigen und reinen Charakter, wie The¬ resens, war ein Wagestück dieser Art zu rathen. Was Wagestück! rief Friedrich. In der Liebe ist alles Wagestück. Unter der Laube, oder vor dem Altar, mit Umarmungen, oder goldenen Ringen, beym Gesange der Heim¬ chen oder bey Trompeten und Pauken; es ist alles nur ein Wagestück, und der Zufall thut alles. Ich habe immer gesehen, versetzte Nata¬ lie, daß unsere Grundsätze nur ein Supple¬ ment zu unsern Existenzen sind. Wir hän¬ gen unsern Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes um. Gieb nur Acht, welchen Weg Dich die Schöne noch führen wird, die Dich auf eine so gewaltsame Weise angezogen hat und fest hält. Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege, versetzte Friedrich, auf dem Wege zur Hei¬ ligkeit. Es ist freylich ein Umweg, aber desto lustiger und sichrer; Maria von Mag¬ dala ist ihn auch gegangen, und wer weiß wie viel andere. Überhaupt, Schwester, wenn von Liebe die Rede ist, solltest Du Dich gar nicht drein mischen. Ich glaube Du heirathest nicht eher, als bis einmal ir¬ gendwo eine Braut fehlt, und Du giebst Dich alsdann, nach Deiner gewohnten Gut¬ herzigkeit, auch als Supplement irgend ei¬ ner Existenz hin. Also laß uns nur jetzt, mit diesem Seelenverkäufer da, unsern Han¬ del schließen, und über unsere Reisegesell¬ schaft einig werden. Sie kommen mit Ihren Vorschlägen zu spät, sagte Jarno, für Lydien ist gesorgt. Und wie? fragte Friedrich. Ich habe ihr selbst meine Hand angebo¬ ten, versetzte Jarno. Alter Herr, sagte Friedrich, da macht Ihr einen Streich, zu dem man, wenn man ihn als ein Substantivum betrachtet, ver¬ schiedene Adjectiva, und folglich, wenn man ihn als Subject betrachtet, verschiedene Prä¬ dicate finden könnte. Ich muß aufrichtig gestehen, versetzte Na¬ talie, es ist ein gefährlicher Versuch, sich ein Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke, da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt. Ich habe es gewagt, versetzte Jarno, sie wird unter einer gewissen Bedingung mein. Und, glauben Sie mir, es ist in der Welt nichts schätzbarer als ein Herz, das der Liebe und der Leidenschaft fähig ist. Ob es ge¬ liebt habe? ob es noch liebe? Darauf kommt es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, ist mir beynah reizender als die, mit der ich geliebt werden könnte; ich sehe die Kraft, die Gewalt eines schönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick trübt. Haben Sie Lydien in diesen Tagen schon gesprochen? versetzte Natalie. Jarno nickte lächelnd, Natalie schüttelte den Kopf und sagte, indem sie aufstand: ich weiß bald nicht mehr, was ich aus Euch machen soll, aber mich sollt Ihr gewiß nicht irre machen. Sie wollte sich eben entfernen, als der Abbé mit einem Brief in der Hand herein¬ trat, und zu ihr sagte: bleiben Sie! ich habe hier einen Vorschlag, bey dem Ihr Rath willkommen seyn wird. Der Markese, der Freund Ihres verstorbenen Oheims, den wir seit einiger Zeit erwarten, muß in die¬ sen Tagen hier seyn. Er schreibt mir, daß ihm doch die deutsche Sprache nicht so ge¬ läufig sey, als er geglaubt, daß er eines Gesellschafters bedürfe, der sie vollkommen nebst einigen andern besitze; da er mehr wünsche in wissenschaftliche als politische Ver¬ bindungen zu treten, so sey ihm ein solcher Dolmetscher unentbehrlich. Ich wüßte nie¬ mand geschickter dazu als unsern jungen Freund. Er kennt die Sprache, ist sonst in vielem unterrichtet, und es wird für ihn selbst ein großer Vortheil seyn, in so guter Gesellschaft und unter so vortheilhaften Um¬ ständen Deutschland zu sehen. Wer sein Vaterland nicht kennt, hat keinen Maaßstab für fremde Länder. Was sagen Sie, meine Freunde? was sagen Sie, Natalie? Niemand wußte gegen den Antrag etwas einzuwenden. Jarno schien seinen Vorschlag, nach Amerika zu reisen, selbst als kein Hin¬ derniß anzusehn, indem er ohnehin nicht so¬ gleich aufbrechen würde. Natalie schwieg, und Friedrich führte verschiedene Sprüchwör¬ ter über den Nutzen des Reisens an. Wilhelm war über diesen neuen Vor¬ schlag im Herzen so entrüstet, daß er es kaum verbergen konnte. Er sah eine Ver¬ abredung, ihn bald möglichst los seyn zu wollen, nur gar zu deutlich, und was das schlimmste war, man ließ sie so offenbar, so ganz ohne Schonung sehen. Auch der Ver¬ dacht, den Lydie bey ihm erregt, alles, was er selbst erfahren hatte, wurde wieder aufs neue vor seiner Seele lebendig, und die na¬ türliche Art, wie Jarno ihm alles ausgelegt hatte, schien ihm auch nur eine künstliche Darstellung zu seyn Er nahm sich zusammen und antwortete: Dieser Antrag verdient allerdings eine reif¬ liche Überlegung. Eine geschwinde Entschließung möchte nö¬ thig seyn, versetzte der Abbé. Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt, antwor¬ tete Wilhelm. Wir können die Ankunft des Mannes abwarten, und dann sehen, ob wir zusammen passen. Eine Hauptbedingung aber muß man zum voraus eingehen, daß ich meinen Felix mitnehmen, und ihn überall mit hinführen darf. Diese Bedingung wird schwerlich zuge¬ standen werden, versetzte der Abbé. Und ich sehe nicht, rief Wilhelm aus, warum ich mir von irgend einem Menschen sollte Bedingungen vorschreiben lassen? und warum ich, wenn ich einmal mein Vater¬ land sehen will, einen Italiener zur Gesell¬ schaft brauche? Weil ein junger Mensch, versetzte der Abbé, mit einem gewissen imponirenden Ernste, immer Ursache hat sich anzuschließen. Wilhelm, der wohl merkte, daß er län¬ ger an sich zu halten nicht im Stande sey, da sein Zustand nur durch die Gegenwart Nataliens noch einigermaßen gelindert ward, ließ sich hierauf mit einiger Hast verneh¬ men: man vergönne mir nur noch kurze Be¬ denkzeit, und ich vermuthe es wird sich ge¬ schwinde entscheiden, ob ich Ursache habe mich weiter anzuschließen, oder ob nicht viel¬ mehr Herz und Klugheit mir unwiderstehlich gebieten, mich von so mancherley Banden loszureißen, die mir eine ewige, elende Ge¬ fangenschaft drohen. So sprach er, mit einem lebhaft beweg¬ ten Gemüth. Ein Blick auf Natalien beru¬ higte ihn einigermaßen, indem sich in die¬ sem leidenschaftlichen Augenblick, ihre Gestalt und ihr Werth nur desto tiefer bey ihm ein¬ drückten. Ja, sagte er zu sich selbst, indem er sich allein fand, gestehe dir nur, du liebst sie, und du fühlst wieder, was es heiße, wenn der Mensch mit allen Kräften lieben kann. So liebte ich Marianen, und ward so schreck¬ lich an ihr irre; ich liebte Philinen und mußte sie verachten. Aurelien achtete ich, und konnte sie nicht lieben; ich verehrte The¬ resen, und die väterliche Liebe nahm die Gestalt einer Neigung zu ihr an, und jetzt da in deinem Herzen alle Empfindungen zu¬ sammentreffen, die den Menschen glücklich machen sollten, jetzt bist du genöthigt zu fliehen! Ach! warum muß sich zu diesen Empfindungen, zu diesen Erkenntnissen das unüberwindliche Verlangen des Besitzes ge¬ sellen? und warum richten, ohne Besitz, eben diese Empfindungen, diese Überzeugungen jede andere Art von Glückseligkeit völlig zu Grunde? Werde ich künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücksgutes genießen? wirst du nicht immer zu dir sagen: Natalie ist nicht da! und doch wird leider Natalie dir immer gegenwärtig seyn. Schließest du die Augen, so wird sie sich dir darstellen; öfnest du sie, so wird sie vor allen Gegenständen hinschweben, wie die Erscheinung, die ein blendendes Bild im Auge zurück läßt. War nicht schon früher die schnell vorübergegangene Gestalt der Amazone deiner Einbildungskraft immer ge¬ genwärtig? und du hattest sie nur gesehen, du kanntest sie nicht. Nun da du sie kennst, da du ihr so nahe warst, da sie so vielen Antheil an dir gezeigt hat, nun sind ihre Eigenschaften so tief in dein Gemüth ge¬ prägt, als ihr Bild jemals in deine Sinne. Ängstlich ist es immer zu suchen, aber viel ängstlicher gefunden zu haben und verlassen zu müssen. Wornach soll ich in der Welt nun weiter fragen? wornach soll ich mich weiter umsehen? welche Gegend, welche Stadt verwahrt einen Schatz, der diesem gleich ist? und ich soll reisen, um nur immer das Geringere zu finden? Ist denn das Le¬ ben blos wie eine Rennbahn, wo man so¬ gleich schnell wieder umkehren muß, wenn man das äußerste Ende erreicht hat? Uns steht das Gute, das Vortreffliche nur wie ein festes, unverrücktes Ziel da, von dem man sich eben so schnell mit raschen Pferden wieder entfernen muß, als man es erreicht zu haben glaubt, an statt daß jeder andere, der nach irdischen Waaren strebt, sie in den verschiedenen Himmelsgegenden, oder wohl gar auf der Messe und dem Jahrmarkt an¬ schaffen kann. Komm, lieber Knabe! rief er seinem Sohn entgegen, der eben daher gesprungen kam, sey und bleibe Du mir alles! Du warst mir zum Ersatz Deiner geliebten Mutter gegeben, Du solltest mir die zweyte Mutter ersetzen, die ich Dir bestimmt hatte, und nun hast Du noch die größere Lücke auszufüllen. Be¬ schäftige mein Herz, beschäftige meinen Geist mit Deiner Schönheit, Deiner Liebenswür¬ digkeit, Deiner Wißbegierde und Deinen Fähigkeiten. Der Knabe war mit einem neuen Spiel¬ werke beschäftigt, der Vater suchte es ihm besser, ordentlicher, zweckmäßiger einzurich¬ ten; aber auch in dem Augenblicke verlohr das Kind die Lust daran. Du bist ein wah¬ rer Mensch! rief Wilhelm aus, komm mein Sohn! komm mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können. Sein Entschluß sich zu entfernen, das Kind mit sich zu nehmen, und sich an den Gegenständen der Welt zu zerstreuen, war nun sein fester Vorsatz. Er schrieb an Wer¬ nern, ersuchte ihn um Geld und Creditbriefe, und schickte Friedrichs Curier mit dem ge¬ schärften Auftrage weg, bald wieder zu kom¬ men. So sehr er gegen die übrigen Freunde auch verstimmt war, so rein blieb sein Ver¬ hältniß zu Natalien. Er vertraute ihr seine Absicht; auch sie nahm für bekannt an, daß er gehen könne und müsse, und wenn ihn auch gleich diese scheinbare Gleichgültigkeit an ihr schmerzte, so beruhigte ihn doch ihre gute gute Art und ihre Gegenwart vollkommen. Sie rieth ihm verschiedene Städte zu be¬ suchen, um dort einige ihrer Freunde und Freundinnen kennen zu lernen. Der Curier kam zurück, brachte was Wilhelm verlangt hatte, obgleich Werner mit diesem neuen Ausflug nicht zufrieden zu seyn schien. Meine Hoffnung, daß Du vernünftig werden wür¬ dest, schrieb dieser, ist nun wieder eine gute Weile hinaus geschoben. Wo schweift Ihr nun alle zusammen herum? und wo bleibt denn das Frauenzimmer, zu dessen wirth¬ schaftlichem Beystande Du mir Hoffnung machtest? Auch die übrigen Freunde sind nicht gegenwärtig; dem Gerichtshalter und mir ist das ganze Geschäft aufgewälzt. Ein Glück, daß er eben ein so guter Rechtsmann ist, als ich ein Finanzman bin, und daß wir beyde etwas zu schleppen gewohnt sind. Lebe wohl. Deine Ausschweifungen sollen W. Meisters Lehrj. 4. C c Dir verziehen seyn, da doch ohne sie unser Verhältnis in dieser Gegend nicht hätte so gut werden können. Was das Äußere betraf, hätte er nun immer abreisen können, allein sein Gemüth war noch durch zwey Hindernisse gebunden. Man wollte ihm ein für allemal Mignons Körper nicht zeigen, als bey den Exequien, welche der Abbé zu halten gedachte, zu wel¬ cher Feyerlichkeit noch nicht alles bereit war. Auch war der Arzt, durch einen sonderbaren Brief des Landgeistlichen, abgerufen worden. Es betraf den Harfenspieler, von dessen Schicksalen Wilhelm näher unterrichtet seyn wollte. In diesem Zustande fand er weder bey Tag noch bey Nacht Ruhe der Seele oder des Körpers. Wenn alles schlief, ging er in dem Hause hin und her. Die Gegenwart der alten bekannten Kunstwerke zog ihn an, und stieß ihn ab. Er konnte nichts, was ihn umgab, weder ergreifen noch lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den gan¬ zen Ring seines Lebens, nur lag er leider zerbrochen vor ihm, und schien sich auf ewig nich t schließen zu wollen. Diese Kunstwerke, die sein Vater verkauft hatte, schienen ihm ein Symbol, daß auch er von einem ruhi¬ gen und gründlichen Besitz des wünschens¬ werthen in der Welt theils ausgeschlossen, theils desselben durch eigne oder fremde Schuld beraubt werden sollte. Er verlohr sich so weit in diesen sonderbaren und trau¬ rigen Betrachtungen, daß er sich selbst manch¬ mal wie ein Geist vorkam, und selbst, wenn er die Dinge außer sich befühlte und be¬ tastete, sich kaum des Zweifels erwehren konnte, ob er denn auch wirklich lebe und da sey. Nur der lebhafte Schmerz, der ihn manch¬ C c 2 mal ergriff, daß er alles das Gefundene und Wiedergefundene so freventlich und doch so nothwendig verlassen müsse, nur seine Thränen gaben ihm das Gefühl seines Da¬ seyns wieder, vergebens rief er sich den glücklichen Zustand, in dem er sich doch ei¬ gentlich befand, vors Gedächtniß. So ist denn alles nichts! rief er aus, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen alles übrige werth ist. Der Abbé verkündigte der Gesellschaft die Ankunft des Markese. Sie sind zwar, wie es scheint, sagte er zu Wilhelmen, mit Ihrem Knaben allein abzureisen entschlossen, lernen Sie jedoch wenigstens diesen Mann kennen, der Ihnen, wo Sie ihn auch unter¬ weges antreffen, auf alle Fälle nützlich seyn kann. Der Markese erschien, es war ein Mann noch nicht hoch in Jahren, eine von den wohlgestalteten, gefälligen lombardischen Figuren. Er hatte als Jüngling mit dem Oheim, der schon um vieles älter war, bey der Armee, dann in Geschäften Bekannt¬ schaft gemacht, sie hatten nachher einen großen Theil von Italien zusammen durch¬ reist, und die Kunstwerke, die der Markese hier wieder fand, waren, zum großen Theil, in seiner Gegenwart, und unter manchen glücklichen Umständen, deren er sich noch wohl erinnerte, gekauft und angeschafft worden. Der Italiener hat überhaupt ein tieferes Gefühl für die hohe Würde der Kunst als andere Nationen; jeder, der nur irgend et¬ was treibt, will Künstler, Meister und Pro¬ fessor heißen, und bekennt wenigstens durch diese Titelsucht, daß es nicht genug sey nur etwas durch Überlieferung zu erhaschen, oder durch Übung irgend eine Gewandheit zu er¬ langen; er gesteht, daß jeder vielmehr über das, was er thut, auch fähig seyn solle zu denken, Grundsätze aufzustellen, und die Ur¬ sachen, warum dieses oder jenes zu thun sey, sich selbst und andern deutlich zu machen. Der Fremde ward gerührt, so schöne Be¬ sitzthümer ohne den Besitzer wieder zu fin¬ den, und erfreut den Geist seines Freundes aus den vortrefflichen Hinterlassenen sprechen zu hören. Sie gingen die verschiedenen Werke durch, und fanden eine große Be¬ haglichkeit sich einander verständlich machen zu können. Der Markese und der Abbé führten das Wort, Natalie, die sich wieder in die Gegenwart ihres Oheims versetzt fühlte, wußte sich sehr gut in ihre Meinungen und Gesinnungen zu finden. Wilhelm mußte sichs in theatralische Terminologie übersetzen, wenn er etwas davon verstehen sollte. Man hatte Noth Friedrichs Scherze in Schranken zu halten. Jarno war selten zugegen. Bey der Betrachtung, daß vortreffliche Kunstwerke in der neuern Zeit so selten seyen, sagte der Markese: es läßt sich nicht leicht denken und übersehen, was die Umstände für den Künstler thun müssen, und dann sind bey dem größten Genie, bey dem ent¬ scheidensten Talente noch immer die Forde¬ rungen unendlich, die er an sich selbst zu machen hat, unsäglich der Fleiß, der zu sei¬ ner Ausbildung nöthig ist. Wenn nun die Umstände wenig für ihn thun, wenn er be¬ merkt, daß die Welt sehr leicht zu befriedi¬ gen ist, und selbst nur einen leichten, gefäl¬ ligen, behaglichen Schein begehrt; so wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlich¬ keit und Eigenliebe ihn bey dem Mittelmäßi¬ gen fest hielten, es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaaren Geld und Lob eintauschen, als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder weniger zu einem kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬ gen bieten die Künstler unserer Zeit nur im¬ mer an, um niemals zu geben. Sie wollen immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles ist nur angedeutet, und man findet nirgends Grund noch Ausführung. Man darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in einer Gallerie verweilen, und beobachten, nach welchen Kunstwerken sich die Menge zieht, welche gepriesen und welche vernach¬ läßigt werden, so hat man wenig Lust an der Gegenwart, und für die Zukunft wenig Hoffnung. Ja, versetzte der Abbé, und so bilden sich Liebhaber und Künstler wechselsweise; der Liebhaber sucht nur einen allgemeinen unbe¬ stimmten Genuß, das Kunstwerk soll ihm ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk zu genießen, bildeten sich eben so von selbst aus, wie die Zunge und der Gaum, man urtheile über ein Kunstwerk, wie über eine Speise, und man begreift nicht, was für einer andern Kultur es be¬ darf, um sich zum wahren Kunstgenusse zu erheben. Das schwerste finde ich die Art von Absonderung, die der Mensch in sich selbst bewirken muß, wenn er sich überhaupt bilden will, deswegen finden wir so viel ein¬ seitige Kulturen, wovon doch jede sich an¬ maßt über das Ganze abzusprechen. Was Sie da sagen, ist mir nicht ganz deutlich, sagte Jarno, der eben hinzutrat. Auch ist es schwer, versetzte der Abbé, sich in der Kürze bestimmt hierüber zu er¬ klären. Ich sage nur so viel: sobald der Mensch an mannigfaltige Thätigkeit oder mannigfaltigen Genuß Anspruch macht, so muß er auch fähig seyn mannigfaltige Or¬ gane an sich gleichsam unabhängig von ein¬ ander auszubilden. Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit thun oder genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedig¬ ten Streben hinbringen. Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute Natur, ein treffliches Gemählde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs wil¬ len zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Ge¬ bäudes um seiner eigenen Harmonie und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist nur die Menschen die ent¬ scheidendsten Werke der Kunst gerade zu be¬ handeln, als wenn es ein weicher Thon wäre. Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor sogleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zusammenzie¬ hen, ein Gemählde soll lehren, ein Schau¬ spieler bessern und alles soll alles werden. Eigentlich aber weil die meisten Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie den Gegenständen ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören. Alles reduciren sie zuletzt auf den sogenannten Ef¬ fect, alles ist relativ, und so wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abge¬ schmacktheit, die denn auch ganz absolut regiert. Ich verstehe Sie, versetzte Jarno, oder vielmehr ich sehe wohl ein, wie das, was Sie sagen, mit den Grundsätzen zusammen¬ hängt, an denen Sie so fest halten; ich kann es aber mit den armen Teufeln von Men¬ schen unmöglich so genau nehmen. Ich kenne freylich ihrer genug, die sich bey den grö߬ ten Werken der Kunst und der Natur so¬ gleich ihres armseligsten Bedürfnisses erin¬ nern, ihr Gewissen und ihre Moral mit in die Oper nehmen, ihre Liebe und Haß vor einem Säulengange nicht ablegen, und das Beste und Größte, was ihnen von außen gebracht werden kann, in ihrer Vorstellungs¬ art erst möglichst verkleinern müssen, um es mit ihrem kümmerlichen Wesen nur einiger¬ maßen verbinden zu können. Achtes Capitel . A m Abend lud der Abbé zu den Exequien Mignons ein. Die Gesellschaft begab sich in den Saal der Vergangenheit, und fand denselben auf das sonderbarste erhellt und ausgeschmückt. Mit himmelblauen Teppichen waren die Wände fast von oben bis unten bekleidet, so daß nur Sockel und Frieß her¬ vorschienen. Auf den vier Candelabern in den Ecken brannten große Wachsfackeln, und so nach Verhältnis auf den vier kleinern, die den mittlern Sarkophagen umgaben. Ne¬ ben diesem standen vier Knaben, himmelblau mit Silber gekleidet, und schienen einer Fi¬ gur, die auf dem Sarkophagen lag, mit breiten Fächern von Straußenfedern Luft zuzuwehn. Die Gesellschaft setzte sich, und zwey unsichtbare Chöre fingen mit holdem Gesang an zu fragen: Wen bringt ihr uns zur stillen Gesellschaft? Die vier Kinder ant¬ worteten mit lieblicher Stimme: Einen mü¬ den Gespielen bringen wir euch, laßt ihn unter euch ruhen, bis das Jauchzen himmli¬ scher Geschwister ihn dereinst wieder aufweckt. Chor. Erstling der Jugend in unserm Kreise, sey willkommen! mit Trauer willkommen! Dir folge kein Knabe, kein Mädchen nach! Nur das Alter nahe sich willig und gelassen der stillen Halle, und in ernster Gesellschaft ruhe das liebe, liebe Kind. Knaben. Ach! wie ungern brachten wir ihn her! Ach! und er soll hier bleiben! laßt uns auch bleiben, laßt uns weinen, weinen an seinem Sarge! Chor . Seht die mächtigen Flügel doch an! seht das leichte reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt! seht die schöne, die würdige Ruh! Knaben . Ach! die Flügel heben sie nicht, im leich¬ ten Spiele flattert das Gewand nicht mehr: als wir mit Rosen kränzten ihr Haupt, blickte sie hold und freundlich nach uns. Chor . Schaut mit den Augen des Geistes hinan! in euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf über die Sterne das Leben trägt. Knaben . Aber ach! wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht mehr. Laßt uns weinen, wir lassen sie hier! laßt uns weinen und bey ihr bleiben. Chor . Kinder kehret ins Leben zurück! Eure Thränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist das Loos der Lebendigen. Knaben . Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt, und der nächtliche Schlaf uns erquickt. Chor . Kinder! eilet ins Leben hinan! In der Schönheit reinem Gewande begegn’ euch die Liebe Liebe mit himmlischem Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit. Die Knaben waren schon fern, der Abbé stand von seinem Sessel auf, und trat hin¬ ter den Sarg. Es ist die Verordnung, sagte er, des Mannes, der diese stille Wohnung bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit Feyerlichkeit empfangen werden soll. Nach ihm, dem Erbauer dieses Hauses, dem Er¬ richter dieser Stätte, haben wir zuerst einen jungen Fremdling hierher gebracht, und so faßt schon dieser kleine Raum zwey ganz verschiedene Opfer der strengen, willkühr¬ lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach bestimmten Gesetzen treten wir ins Leben ein, die Tage sind gezählt, die uns zum Anblicke des Lichts reif machen, aber für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden zieht sich in unerwartete Länge, und den stärksten zerschneidet gewaltsam die W. Meisters Lehrj. 4. D d Schere einer Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint. Von dem Kinde, das wir hier bestatten, wissen wir wenig zu sa¬ gen. Noch ist uns unbekannt, woher es kam, seine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl seiner Lebensjahre vermuthen wir nur. Sein tiefes verschlossenes Herz ließ uns seine in¬ nersten Angelegenheiten kaum errathen, nichts war deutlich an ihm, nichts offenbar, als die Liebe zu dem Mann, der es aus den Händen eines Barbaren rettete. Diese zärt¬ liche Neigung, diese lebhafte Dankbarkeit schien die Flamme zu seyn, die das Öl ihres Lebens aufzehrte; die Geschicklichkeit des Arz¬ tes konnte das schöne Leben nicht erhalten, die sorgfältigste Freundschaft vermochte nicht es zu fristen. Aber wenn die Kunst den schei¬ denden Geist nicht zu fesseln vermochte; so hat sie alle ihre Mittel angewandt, den Körper zu erhalten und ihn der Vergänglich¬ keit zu entziehen. Eine balsamische Masse ist durch alle Adern gedrungen, und färbt nun an der Stelle des Bluts die so früh verblichenen Wangen. Treten Sie näher, meine Freunde, und sehen Sie das Wunder der Kunst und Sorgfalt! Er hub den Schleyer auf, und das Kind lag in seinen Engelkleidern, wie schlafend, in der angenehmsten Stellung. Alle traten herbey, und bewunderten diesen Schein des Lebens. Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er empfand durfte er nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstöhren zu wollen. Die Rede war um des Markese willen französisch gesprochen worden. Dieser trat mit den andern herbey, und betrachtete die Ge¬ stalt mit Aufmerksamkeit. Der Abbé fuhr fort: mit einem heiligen Vertrauen war auch D d 2 dieses gute, gegen die Menschen so verschlos¬ sene Herz, beständig zu seinem Gott gewen¬ det. Die Demuth, ja eine Neigung sich äußer¬ lich zu erniedrigen, schien ihm angebohren. Mit Eifer hing es an der katholischen Reli¬ gion, in der es gebohren und erzogen war. Oft äußerte sie den stillen Wunsch, auf ge¬ weihtem Boden zu ruhen, und wir haben nach den Gebräuchen der Kirche dieses mar¬ morne Behältniß und die wenige Erde ge¬ weihet, die in ihrem Kopfkissen verborgen ist. Mit welcher Inbrunst küßte sie in ih¬ ren letzten Augenblicken das Bild des Ge¬ kreuzigten, das auf ihren zarten Armen mit vielen hundert Punkten sehr zierlich abgebil¬ det steht. Er streifte zugleich, indem er das sagte, ihren rechten Arm auf, und ein Cru¬ zifix, von verschiedenen Buchstaben und Zei¬ chen begleitet, sah man blaulich auf der weißen Haut. Der Markese betrachtete diese neue Er¬ scheinung ganz in der Nähe. O Gott! rief er aus, indem er sich aufrichtete, und seine Hände gen Himmel hob, armes Kind! un¬ glückliche Nichte! finde ich Dich hier wieder! welche schmerzliche Freude, Dich, auf die wir schon lange Verzicht gethan hatten, diesen guten lieben Körper, den wir lange im See einen Raub der Fische glaubten, hier wieder zu finden, zwar todt, aber erhalten. Ich wohne Deiner Bestattung bey, die so herr¬ lich durch ihr Äußeres, und noch herrlicher durch die guten Menschen wird, die Dich zu Deiner Ruhestätte begleiten. Und wenn ich werde reden können, sagte er mit gebrochner Stimme, werde ich ihnen danken. Die Thränen verhinderten ihn, etwas weiter hervorzubringen. Durch den Druck einer Feder versenkte der Abbé den Körper in die Tiefe des Marmors. Vier Jünglinge, bekleidet wie jene Knaben, traten hinter den Teppichen hervor, hoben den schweren, schön verzierten Deckel auf den Sarg, und fingen zugleich ihren Gesang an. Die Jünglinge . Wohl verwahrt ist nun der Schatz! das schöne Gebild der Vergangenheit! hier im Marmor ruht es unverzehrt, auch in euren Herzen lebt es, wirkt es fort. Schreitet, schreitet ins Leben zurück! nehmet den heili¬ gen Ernst mit hinaus, denn der Ernst, der heilige, macht allein das Leben zur Ewigkeit. Das unsichtbare Chor fiel in die letzten Worte mit ein, aber niemand von der Ge¬ sellschaft vernahm die stärkenden Worte, je¬ des war zu sehr mit den wunderbaren Ent¬ deckungen und seinen eignen Empfindungen beschäftigt. Der Abbé und Natalie führten den Markese, Therese und Lothario Wilhel¬ men hinaus, und erst als der Gesang ihnen völlig verhallte, fielen die Schmerzen, die Betrachtungen, die Gedanken, die Neugierde sie mit aller Gewalt wieder an, und sehn¬ lich wünschten sie sich in jenes Element wie¬ der zurück. Neuntes Capitel . D er Markese vermied von der Sache zu reden, hatte aber heimliche und lange Ge¬ spräche mit dem Abbé. Er erbat sich, wenn die Gesellschaft beysammen war, öfters Mu¬ sik, man sorgte gern dafür, weil jedermann zufrieden war des Gesprächs überhoben zu seyn. So lebte man einige Zeit fort, als man bemerkte, daß er Anstalt zur Abreise mache. Eines Tages sagte er zu Wilhelmen: ich verlange nicht die Reste des guten Kin¬ des zu beunruhigen, es bleibe an dem Orte zurück, wo es geliebt und gelitten hat, aber seine Freunde müssen mir versprechen, mich in seinem Vaterlande, an dem Platze zu be¬ suchen, wo das arme Geschöpf gebohren und erzogen wurde, sie müssen die Säulen und Statuen sehen, von denen ihm noch eine dunkle Idee übrig geblieben ist. Ich will Sie in die Buchten führen, wo sie so gern die Steinchen zusammenlas. Sie werden sich, lieber junger Mann, der Dank¬ barkeit einer Familie nicht entziehen, die Ihnen so viel schuldig ist. Morgen reise ich weg. Ich habe dem Abbé die ganze Geschichte vertraut, er wird sie Ihnen wieder erzäh¬ len, er konnte mir verzeihen, wenn mein Schmerz mich unterbrach, und er wird als ein Dritter die Begebenheiten mit mehr Zu¬ sammenhang vortragen. Wollen Sie mir noch, wie der Abbé vorschlug, auf meiner Reise durch Deutschland folgen, so sind Sie willkommen. Lassen Sie Ihren Knaben nicht zurück, bey jeder kleinen Unbequemlichkeit, die er uns macht, wollen wir uns Ihrer Vorsorge für meine arme Nichte wieder erinnern. Noch selbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überrascht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat, und sie, ob sie gleich vorbereitet war, hielt sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie sonderbar einfach war ihr Anzug, und wie verändert ihre Gestalt! Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken, sie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Markese war bey Zeiten zu Bette gegangen, und die Gesellschaft hatte noch keine Lust sich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬ nuscript hervor. Ich habe, sagte er, sogleich die sonderbare Geschichte, wie sie mir anver¬ traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigsten Tinte und Feder sparen soll, das ist beym Aufzeichnen einzelner Umstände merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬ richtete die Gräfin, wovon die Rede sey, und der Abbé las: Meinen Vater, sagte der Markese, muß ich, so viel Welt ich auch gesehen habe, im¬ mer für einen der wunderbarsten Menschen halten. Sein Charakter war edel und gerad, seine Ideen weit, und man darf sagen groß; er war streng gegen sich selbst, in allen sei¬ nen Planen fand man eine unbestechliche Folge, an allen seinen Handlungen eine un¬ unterbrochene Schrittmäßigkeit. So gut sich daher von einer Seite mit ihm umgehen, und ein Geschäft verhandeln ließ, so wenig konnte er, um eben dieser Eigenschaften wil¬ len, sich in die Welt finden, da er vom Staate, von seinen Nachbarn, von Kindern und Gesinde die Beobachtung aller der Ge¬ setze forderte, die er sich selbst auferlegt hatte. Seine mäßigsten Forderungen wurden über¬ trieben durch seine Strenge, und er konnte nie zum Genuß gelangen, weil nichts auf die Weise entstand, wie er sichs gedacht hatte. Ich habe ihn in dem Augenblick, da er einem Palast bauete, einen Garten an¬ legte, ein großes neues Gut in der schön¬ sten Lage erwarb, innerlich, mit dem ernste¬ sten Ingrimm überzeugt, gesehen, das Schick¬ sal habe ihn verdammt, enthaltsam zu seyn und zu dulden. In seinem Äußerlichen be¬ obachtete er die größte Würde; wenn er scherzte, zeigte er nur die Überlegenheit sei¬ nes Verstandes, es war ihm unerträglich ge¬ tadelt zu werden, und ich habe ihn nur ein¬ mal in meinem Leben ganz außer aller Fas¬ sung gesehen, da er hörte, daß man von einer seiner Anstalten wie von etwas Lächer¬ lichem sprach. In eben diesem Geiste hatte er über seine Kinder und sein Vermögen disponirt. Mein ältester Bruder ward als ein Mann erzogen, der künftig große Güter zu hoffen hatte. Ich sollte den geistlichen Stand ergreifen, und der jüngste Soldat werden. Ich war lebhaft, feurig, thätig, schnell, zu allen körperlichen Übungen geschickt. Der jüngste schien zu einer Art von schwärmeri¬ scher Ruhe geneigter, den Wissenschaften, der Musik und der Dichtkunst ergeben. Nur nach dem härtsten Kampf, nach der völlig¬ sten Überzeugung der Unmöglichkeit gab der Vater, wiewohl mit Widerwillen, nach, daß wir unsern Beruf umtauschen dürften, und ob er gleich jeden von uns beyden zufrieden sah, so konnte er sich doch nicht drein fin¬ den, und versicherte, daß nichts gutes dar¬ aus entstehen werde. Je älter er ward, desto abgeschnittener fühlte er sich von aller Ge¬ sellschaft. Er lebte zuletzt fast ganz allein. Nur ein alter Freund, der unter den Deut¬ schen gedient, im Feldzuge seine Frau ver¬ lohren hatte, und eine Tochter mitbrachte, die ohngefähr zehn Jahr alt war, blieb sein einziger Umgang. Dieser kaufte sich ein ar¬ tiges Gut in der Nachbarschaft, sah meinen Vater zu bestimmten Tagen und Stunden der Woche, in denen er auch manchmal seine Tochter mitbrachte. Er widersprach meinem Vater niemals, der sich zuletzt völlig an ihn gewöhnte, und ihn als den einzigen erträg¬ lichen Gesellschafter duldete. Nach dem Tode unseres Vaters merkten wir wohl, daß die¬ ser Mann von unserm Alten trefflich ausge¬ stattet worden war, und seine Zeit nicht um¬ sonst zugebracht hatte; er erweiterte seine Güter, seine Tochter konnte eine schöne Mit¬ gift erwarten. Das Mädchen wuchs heran, und war von sonderbarer Schönheit, mein älterer Bruder scherzte oft mit mir, daß ich mich um sie bewerben sollte. Indessen hatte Bruder Augustin im Klo¬ ster seine Jahre in dem sonderbarsten Zu¬ stande zugebracht, er überließ sich ganz dem Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen halb geistigen, halb physischen Empfindun¬ gen, die, wie sie ihn eine Zeit lang in den dritten Himmel erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend versinken ließen. Bey meines Vaters Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬ ken, und was hätte man wünschen oder vor¬ schlagen sollen? Nach dem Tode unsers Va¬ ters besuchte er uns fleißig; sein Zustand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles erträglicher, denn die Vernunft hatte gesiegt. Allein je sichrer sie ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur versprach, desto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von seinen Gelübden befreyen sollten; er gab zu verstehen, daß seine Absicht auf Spe¬ rata, unsere Nachbarin, gerichtet sey. Mein älterer Bruder hatte zu viel durch die Härte unseres Vaters gelitten, als daß er hätte bey dem Zustande des jüngsten un¬ gerührt bleiben können. Wir sprachen mit dem Beichtvater unserer Familie, einem al¬ ten würdigen Manne, entdeckten ihm die doppelte Absicht unseres Bruders, und baten ihn die Sache einzuleiten und zu befördern. Wider seine Gewohnheit zögerte er, und als endlich unser Bruder in uns drang, und wir die Angelegenheit dem Geistlichen lebhafter empfahlen, mußte er sich entschließen uns die sonderbare Geschichte zu entdecken. Sperata war unsre Schwester, und zwar sowohl von Vater als Mutter; Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in spä¬ teren Jahren nochmals überwältigt, in wel¬ chen das Recht der Ehegatten schon verlo¬ schen zu seyn scheint; über einen ähnlichen Fall hatte man sich kurz vorher in der Ge¬ gend gend lustig gemacht, und mein Vater, um sich nicht gleichfalls dem Lächerlichen auszu¬ setzen, beschloß diese späte, gesetzmäßige Frucht der Liebe mit eben der Sorgfalt zu verheim¬ lichen, als man sonst die frühern zufälligen Früchte der Neigung zu verbergen pflegt. Unsere Mutter kam heimlich nieder, das Kind wurde aufs Land gebracht, und der alte Hausfreund, der nebst dem Beichtvater allein um das Geheimniß wußte, ließ sich leicht bereden, sie für seine Tochter auszu¬ geben. Der Beichtvater hatte sich nur aus¬ bedungen, im äustersten Fall das Geheimniß entdecken zu dürfen. Der Vater war gestor¬ ben, das zarte Mädchen lebte unter der Aufsicht einer alten Frau, wir wußten daß Gesang und Musik unsern Bruder schon bey ihr eingeführt hatten, und da er uns wie¬ derholt aufforderte, seine alten Bande zu trennen, um das neue zu knüpfen, so war W. Meisters Lehrj. 4. E e es nöthig, ihn, sobald als möglich, von der Gefahr zu unterrichten, in der er schwebte. Er sah uns mit wilden, verachtenden Blicken an. Spart eure unwahrscheinlichen Mährchen! rief er aus, für Kinder und leicht¬ glaubige Thoren; mir werdet ihr Speraten nicht vom Herzen reissen, sie ist mein. Ver¬ leugnet sogleich euer schreckliches Gespenst, das mich nur vergebens ängstigen würde. Sperata ist nicht meine Schwester, sie ist mein Weib. Er beschrieb uns mit Entzücken, wie ihn das himmlische Mädchen aus dem Zustande der unnatürlichen Absonderung von den Menschen in das wahre Leben geführt, wie beyde Gemüther gleich beyden Kehlen zusammen stimmten, und wie er alle seine Leiden und Verirrungen segnete, weil sie ihn von allen Frauen bis dahin entfernt ge¬ halten, und weil er nun ganz und gar sich dem liebenswürdigsten Mädchen ergeben könne. Wir entsetzten uns über die Ent¬ deckung, uns jammerte sein Zustand, wir wußten uns nicht zu helfen, er versicherte uns mit Heftigkeit, daß Sperata ein Kind von ihm im Busen trage. Unser Beichtva¬ ter that alles, was ihm seine Pflicht eingab, aber das Übel ward dadurch nur schlimmer. Die Verhältnisse der Natur und der Reli¬ gion, der sittlichen Rechte und der bürger¬ lichen Gesetze wurden von meinem Bruder aufs heftigste durchgefochten. Nichts schien ihm heilig als das Verhältnis zu Sperata, nichts schien ihm würdig als der Nahme Vater und Gattin. Diese allein, rief er aus, sind der Natur gemäß, alles andere sind Grillen und Meinungen. Gab es nicht edle Völker, die eine Heirath mit der Schwe¬ ster billigten? Nennt eure Götter nicht, rief er aus, ihr braucht die Nahmen nie, als wenn ihr uns bethören, uns von dem E e 2 Wege der Natur abführen, und die edelsten Triebe, durch schändlichen Zwang, zu Ver¬ brechen entstellen wollt. Zur größten Ver¬ wirrung des Geistes, zum schändlichsten Mi߬ brauche des Körpers nöthigt ihr die Schlach¬ opfer , die ihr lebendig begrabt. Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchsten süßesten Fülle der Schwärmerey bis zu den fürchterlichen Wüsten der Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung und Verzweiflung, von den höchsten Ahndungen überirdischer Wesen, bis zu dem völligsten Unglauben, dem Unglau¬ ben an mir selbst. Allen diesen entsetzlichen Bodensatz des am Rande schmeichelnden Kelchs habe ich ausgetrunken, und mein ganzes We¬ sen war bis in ihr Innerstes vergiftet; nun da mich die gütige Natur durch ihre größten Gaben, durch die Liebe, wieder geheilt hat, da ich an dem Busen eines himmlischen Mäd¬ chens wieder fühle, daß ich bin, daß sie ist, daß wir eins sind, daß aus dieser lebendi¬ gen Verbindung ein drittes entstehen und uns entgegenlächeln soll, nun eröfnet ihr die Flammen eurer Höllen, eurer Fegefeuer, die nur eine kranke Einbildungskraft versen¬ gen können, und stellt sie dem lebhaften, wahren, unzerstöhrlichen Genuß der reinen Liebe entgegen. Begegnet uns unter jenen Cypressen, die ihre ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden, besucht uns an jenen Spa¬ lieren, wo die Citronen und Pomeranzen neben uns blühn, wo die zierliche Myrthe uns ihre zarten Blumen darreicht, und dann wagt es, uns mit euren trüben, grauen von Menschen gesponnenen Netzen zu ängstigen. So bestand er lange Zeit auf einem hart¬ näckigen Unglauben unserer Erzählung, und zuletzt, da wir ihm die Wahrheit derselben betheuerten, da sie ihm der Beichtvater selbst versicherte, ließ er sich doch dadurch nicht irre machen, vielmehr rief er aus: Fragt nicht den Wiederhall eurer Kreuzgänge, nicht euer vermodertes Pergament, nicht eure ver¬ schränkten Grillen und Verordnungen, fragt die Natur und euer Herz, sie wird euch leh¬ ren, vor was ihr zu schaudern habt, sie wird euch mit dem strengsten Finger zeigen, wor¬ über sie ewig und unwiederruflich ihren Fluch ausspricht. Seht die Lilien an, entspringt nicht Gatte und Gattin auf Einem Stengel? verbindet beyde nicht die Blume, die beyde gebahr, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld, und ist ihre geschwisterliche Verei¬ nigung nicht fruchtbar? Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es laut aus; das Geschöpf, das nicht seyn soll, kann nicht werden, das Geschöpf, das falsch lebt, wird früh zerstöhrt. Unfruchtbarkeit, kümmerliches Daseyn, frühzeitiges Zerfallen, das sind ihre Flüche, die Kenzeichen ihrer Strenge. Nur durch unmittelbare Folgen straft sie. Da! seht um euch her, und was verboten, was verflucht ist, wird euch in die Augen fallen. In der Stille des Klosters und im Geräu¬ sche der Welt sind tausend Handlungen ge¬ heiligt und geehrt, auf denen ihr Fluch ruht. Auf bequemem Müssiggang so gut, als über¬ strengte Arbeit, auf Willkühr und Überfluß, wie auf Noth und Mangel sieht sie mit traurigen Augen nieder, zur Mäßigkeit ruft sie, wahr sind alle ihre Verhältnisse, und ruhig alle ihre Wirkungen. Wer gelitten hat, wie ich, hat das Recht frey zu seyn. Sperata ist mein, nur der Tod soll mir sie nehmen. Wie ich sie behalten kann? wie ich glücklich werden kann? das ist eure Sorge! Gleich jetzt geh ich zu ihr, um mich nicht wieder von ihr zu trennen. Er wollte nach dem Schiffe, um zu ihr überzusetzen, wir hielten ihn ab, und baten ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der die schrecklichsten Folgen haben könnte. Er solle überlegen, daß er nicht in der freyen Welt seiner Gedanken und Vorstellungen, sondern in einer Verfassung lebe, deren Ge¬ setze und Verhältnisse die Unbezwinglichkeit eines Naturgesetzes angenommen haben. Wir mußten dem Beichtvater versprechen, daß wir den Bruder nicht aus den Augen, noch weniger aus dem Schlosse lassen wollten, darauf ging er weg, und versprach in eini¬ gen Tagen wieder zu kommen. Was wir vorausgesehen hatten, traf ein, der Verstand hatte unsern Bruder stark gemacht, aber sein Herz war weich; die frühern Eindrücke der Religion wurden lebhaft, und die ent¬ setzlichsten Zweifel bemächtigten sich seiner. Er brachte zwey fürchterliche Tage und Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder zu Hülfe, umsonst! Der ungebundene freye Verstand sprach ihn los, sein Gefühl, seine Religion, alle gewohnten Begriffe erklärten ihn für einen Verbrecher. Eines Morgens fanden wir sein Zimmer leer, ein Blatt lag auf dem Tische, worinn er uns erklärte, daß er, da wir ihn mit Ge¬ walt gefangen hielten, berechtigt sey, seine Freyheit zu suchen; er entfliehe, er gehe zu Sperata, er hoffe mit ihr zu entkommen, er sey auf alles gefaßt, wenn man sie tren¬ nen wollte. Wir erschracken nicht wenig, allein der Beichtvater bat uns ruhig zu seyn. Unser armer Bruder war nahe genug beobachtet worden; die Schiffer, an statt ihn überzu¬ setzen, führten ihn in sein Kloster. Ermüdet von einem vierzigstündigen Wachen schlief er ein, sobald ihn der Kahn im Monden¬ schein schaukelte, und erwachte nicht früher, als bis er sich in den Händen seiner Brüder sahe, er erholte sich nicht eher, als bis er die Klosterpforte hinter sich zuschlagen hörte. Schmerzlich gerührt von dem Schicksal unseres Bruders machten wir unserm Beicht¬ vater die lebhaftesten Vorwürfe, allein dieser ehrwürdige Mann wußte uns bald mit den Gründen des Wundarztes zu überreden, daß unser Mitleid für den armen Kranken tödt¬ lich sey. Er handle nicht aus eigner Will¬ kühr, sondern auf Befehl des Bischoffs und des hohen Rathes. Die Absicht war: alles öffentliche Ärgerniß zu vermeiden, und den traurigen Fall mit dem Schleyer einer ge¬ heimen Kirchenzucht zu verdecken. Sperata sollte geschont werden, sie sollte nicht erfah¬ ren, daß ihr Geliebter zugleich ihr Bruder sey. Sie ward einem Geistlichen anempfoh¬ len, dem sie vorher schon ihren Zustand ver¬ traut hatte. Man wußte ihre Schwanger¬ schaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war als Mutter in dem kleinen Geschöpfe ganz glücklich. So wie die meisten unserer Mäd¬ chen konnte sie weder schreiben, noch Ge¬ schriebenes lesen, sie gab daher dem Pater Aufträge, was er ihrem Geliebten sagen sollte. Dieser glaubte den frommen Betrug einer säugenden Mutter schuldig zu seyn, er brachte ihr Nachrichten von unserm Bruder, den er niemals sah, ermahnte sie in seinem Nahmen zur Ruhe, bat sie für sich und das Kind zu sorgen, und wegen der Zukunft Gott zu vertrauen. Sperata war von Natur zur Religiosität geneigt. Ihr Zustand, ihre Einsamkeit ver¬ mehrten diesen Zug, der Geistliche unter¬ hielt ihn, um sie nach und nach auf eine ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren Körper stark genug, die ängstlichsten See¬ lenleiden zu ertragen, so fing er an das Vergehen ihr mit schrecklichen Farben vorzu¬ mahlen, das Vergehen sich einem Geistlichen ergeben zu haben, das er als eine Art von Sünde gegen die Natur, als einen Incest behandelte. Denn er hatte den sonderbaren Gedanken, ihre Reue jener Reue gleich zu machen, die sie empfunden haben würde, wenn sie das wahre Verhältnis ihres Fehl¬ trittes erfahren hätte. Er brachte dadurch so viel Jammer und Kummer in ihr Ge¬ müth, er erhöhte die Idee der Kirche und ihres Oberhauptes so sehr vor ihr, er zeigte ihr die schrecklichen Folgen für das Heil aller Seelen, wenn man in solchen Fällen nach¬ geben, und die Straffälligen durch eine recht¬ mäßige Verbindung noch gar belohnen wolle; er zeigte ihr, wie heilsam es sey, einen sol¬ chen Fehler in der Zeit abzubüßen, und da¬ für dereinst die Krone der Herrlichkeit zu er¬ werben, daß sie endlich wie eine arme Sün¬ derinn ihren Nacken dem Beil willig dar¬ reichte, und inständig bat, daß man sie auf ewig von unserm Bruder entfernen möchte. Als man so viel von ihr erlangt hatte, ließ man ihr, doch unter einer gewissen Aufsicht, die Freiheit, bald in ihrer Wohnung, bald in dem Kloster zu seyn, je nachdem sie es für gut hielte. Ihr Kind wuchs heran, und zeigte bald eine sonderbare Natur. Es konnte sehr früh laufen, und sich mit aller Geschicklichkeit be¬ wegen, es sang bald sehr artig, und lernte die Zither gleichsam von sich selbst. Nur mit Worten konnte es sich nicht ausdrücken, und es schien das Hindernis mehr in seiner Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen zu liegen. Die arme Mutter fühlte indessen ein trauriges Verhältnis zu dem Kinde, die Behandlung des Geistlichen hatte ihre Vor¬ stellungsart so verwirrt, daß sie, ohne wahn¬ sinnig zu seyn, sich in den seltsamsten Zu¬ ständen befand. Ihr Vergehen schien ihr im¬ mer schrecklicher und straffälliger zu werden, das oft wiederholte Gleichniß des Geistlichen vom Inceste hatte sich so tief bey ihr einge¬ prägt, daß sie einen solchen Abscheu em¬ pfand, als wenn ihr das Verhältniß selbst bekannt gewesen wäre. Der Beichtvater dünkte sich nicht wenig über das Kunststück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬ schöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬ sehen, wie die Mutterliebe, die über das Daseyn des Kindes sich so herzlich zu er¬ freuen geneigt war, mit dem schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht da seyn sollte. Bald stritten diese beyden Ge¬ fühle zusammen, bald war der Abscheu über die Liebe gewaltig. Man hatte das Kind schon lange von ihr weggenommen, und zu guten Leuten unten am See gegeben, und in der mehrern Freiheit, die es hatte, zeigte sich bald seine besondre Lust zum klettern. Die höchsten Gipfel zu ersteigen, auf den Rändern der Schiffe wegzulaufen und den Seiltänzern, die sich manchmal in dem Orte sehen ließen, die wunderlichsten Kunststücke nachzumachen, war ein natürlicher Trieb. Um das alles leichter zu üben, liebte sie mit den Knaben die Kleider zu wechseln, und ob es gleich von ihren Pflegeeltern höchst unanständig und unzuläßig gehalten wurde, so ließen wir ihr doch so viel als möglich nachsehen. Ihre wunderlichen Wege und Sprünge führten sie manchmal weit, sie ver¬ irrte sich, sie blieb aus, und kam immer wieder. Meistentheils wenn sie zurückkehrte, setzte sie sich unter die Säulen des Portals vor einem Landhause in der Nachbarschaft; man suchte sie nicht mehr, man erwartete sie. Dort schien sie auf den Stufen auszu¬ ruhen, dann lief sie in den großen Saal, besahe die Statuen, und wenn man sie nicht besonders aufhielt, eilte sie nach Hause. Zuletzt ward denn doch unser Hoffen ge¬ täuscht, und unsere Nachsicht bestraft. Das Kind blieb aus, man fand seinen Hut auf dem Wasser schwimmen, nicht weit von dem Orte, wo ein Gießbach sich in den See stürzt. Man vermuthete, daß es bey sei¬ nem Klettern zwischen den Felsen verun¬ glückt sey, bey allem Nachforschen konnte man den Körper nicht finden. Durch das unvorsichtige Geschwätz ihrer Gesellschafterinnen erfuhr Sperata bald den Tod ihres Kindes, sie schien ruhig und hei¬ ter, und gab nicht undeutlich zu verstehen, sie freue sich, daß Gott das arme Geschöpf zu zu sich genommen und so bewahrt habe, ein größeres Unglück zu erdulden oder zu stiften. Bey dieser Gelegenheit kamen alle Mähr¬ chen zur Sprache, die man von unsern Was¬ sern zu erzählen pflegt. Es hieß: der See müsse alle Jahre ein unschuldiges Kind ha¬ ben, er leide keinen todten Körper, und werfe ihn früh oder spät ans Ufer, ja sogar das letzte Knöchelchen, wenn es zu Grunde gesunken sey, müsse wieder heraus. Man erzählte die Geschichte einer untröstlichen Mutter, deren Kind im See ertrunken sey, und die Gott und seine Heiligen angerufen habe, nur wenigstens ihr die Gebeine zum Begräbniß zu gönnen; der nächste Sturm habe den Schädel, der folgende den Rumpf ans Ufer gebracht, und nachdem alles bey¬ sammen gewesen, habe sie sämmtliche Ge¬ beine in einem Tuch zur Kirche getragen, aber, o Wunder! als sie in den Tempel ge¬ W. Meisters Lehrj. 4. F f treten, sey das Paket immer schwerer gewor¬ den, und endlich als sie es auf die Stufen des Altars gelegt, habe das Kind zu schreyen angefangen, und habe sich zu jedermanns Erstaunen aus dem Tuche losgemacht, nur ein Knöchelchen des kleinen Fingers, an der rechten Hand habe gefehlt, welches denn die Mutter nachher noch sorgfältig aufgesucht und gefunden, das denn auch noch zum Ge¬ dächtniß unter andern Reliquien in der Kirche aufgehoben werde. Auf die arme Mutter machten diese Ge¬ schichten großen Eindruck, ihre Einbildungs¬ kraft fühlte einen neuen Schwung, und be¬ günstigte die Empfindung ihres Herzens. Sie nahm an, daß das Kind nunmehr für sich und seine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch und Strafe, die bisher auf ihnen geruht, nunmehr gänzlich gehoben sey, daß es nur darauf ankomme, die Gebeine des Kindes wieder zu finden, um sie nach Rom zu brin¬ gen, so würde das Kind auf den Stufen des großen Altars der Peterskirche wieder, mit seiner schönen frischen Haut umgeben, vor dem Volke dastehn. Es werde mit sei¬ nen eignen Augen wieder Vater und Mut¬ ter schauen, und der Papst, von der Ein¬ stimmung Gottes und seiner Heiligen über¬ zeugt, werde unter dem lauten Zuruf des Volks, den Eltern die Sünde vergeben, sie lossprechen und sie verbinden. Nun waren ihre Augen und ihre Sorg¬ falt immer nach dem See und dem Ufer ge¬ richtet. Wenn Nachts im Mondschein sich die Wellen umschlugen, glaubte sie jeder blinkende Saum treibe ihr Kind hervor, es mußte jemand zum Scheine hinablaufen, um es am Ufer aufzufangen. So war sie auch des Tages unermüdet an den Stellen, wo das kießichte Ufer flach F f 2 in die See ging, sie sammelte in ein Körb¬ chen alle Knochen, die sie fand. Niemand durfte ihr sagen, daß es Thierknochen seyen; die großen begrub sie, die kleinen hub sie auf. In dieser Beschäftigung lebte sie un¬ ablässig fort. Der Geistliche, der durch die unerläßliche Ausübung seiner Pflicht ihren Zustand verursacht hatte, nahm sich auch ih¬ rer nun aus allen Kräften an. Durch sei¬ nen Einfluß ward sie in der Gegend für eine Entzückte, nicht für eine Verrückte, ge¬ halten, man stand mit gefalteten Händen, wenn sie vorbeyging, und die Kinder küßten ihr die Hand. Ihrer alten Freundin und Begleiterin war von dem Beichtvater die Schuld, die sie bey der unglücklichen Verbindung beyder Personen gehabt haben mochte, nur unter der Bedingung erlassen, daß sie, unablässig treu, ihr ganzes künftiges Leben die Un¬ glückliche begleiten solle, und sie hat mit einer bewundernswürdigen Geduld und Ge¬ wissenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt ausgeübt. Wir hatten unterdessen unsern Bruder nicht aus den Augen verlohren, weder die Ärzte noch die Geistlichkeit seines Klosters wollten uns erlauben, vor ihm zu erschei¬ nen; allein um uns zu überzeugen, daß es ihm nach seiner Art wohl gehe, konnten wir ihn, so oft wir wollten, in dem Garten, in den Kreuzgängen, ja durch ein Fenster an der Decke seines Zimmers belauschen. Nach vielen schrecklichen und sonderbaren Epochen, die ich übergehe, war er in einen seltsamen Zustand der Ruhe des Geistes und der Unruhe des Körpers gerathen. Er saß fast niemals, als wenn er seine Harfe nahm und darauf spielte, da er sie denn meistens mit Gesang begleitete. Übrigens war er im¬ mer in Bewegung, und in allem äußerst lenksam und folgsam, denn alle seine Lei¬ denschaften schienen sich in der einzigen Furcht des Todes aufgelöst zu haben. Man konnte ihn zu allem in der Welt bewegen, wenn man ihm mit einer gefährlichen Krankheit oder mit dem Tode drohte. Außer dieser Sonderbarkeit, daß er un¬ ermüdet im Kloster hin und her ging, und nicht undeutlich zu verstehen gab: daß es noch besser seyn würde, über Berg und Thä¬ ler so zu wandeln, sprach er auch von einer Erscheinung, die ihn gewöhnlich ängstigte. Er behauptete nämlich, daß bey seinem Er¬ wachen, zu jeder Stunde der Nacht, ein schöner Knabe unten an seinem Bette stehe, und ihm mit einem blanken Messer drohe. Man versetzte ihn in ein anderes Zimmer, allein er behauptete, auch da und zuletzt so¬ gar an andern Stellen des Klosters stehe der Knabe im Hinterhalt. Sein Auf– und Abwandeln ward unruhiger, ja man erin¬ nerte sich nachher, daß er in der Zeit öfters als sonst an dem Fenster gestanden und über den See hinüber gesehen habe. Unsere arme Schwester indessen schien von dem einzigen Gedanken, von der beschränk¬ ten Beschäftigung nach und nach aufgerieben zu werden, und unser Arzt schlug vor, man sollte ihr, nach und nach, unter ihre übrigen Gebeine die Knochen eines Kinderskelets mi¬ schen, um dadurch ihre Hoffnung zu vermeh¬ ren. Der Versuch war zweifelhaft, doch schien wenigstens so viel dabey gewonnen, daß man sie, wenn alle Theile beysammen wären, von dem ewigen Suchen abbringen, und ihr zu einer Reise nach Rom Hoffnung machen könnte. Es geschah, und ihre Begleiterin ver¬ tauschte unmerklich die ihr anvertrauten klei¬ nen Reste mit den gefundenen, und eine un¬ glaubliche Wonne verbreitete sich über die arme Kranke, als die Theile sich nach und nach zusammen fanden, und man diejenigen bezeichnen konnte, die noch fehlten. Sie hatte mit großer Sorgfalt jeden Theil, wo er hingehörte, mit Fäden und Bändern be¬ festigt, sie hatte, wie man die Körper der Heiligen zu ehren pflegt, mit Seide und Stickerey die Zwischenräume ausgefüllt. So hatte man die Glieder zusammen kommen lassen, es fehlten nur wenige der äußeren Enden. Eines Morgens, als sie noch schlief, und der Medikus gekommen war, nach ihrem Befinden zu fragen, nahm die Alte die verehrten Reste aus dem Käst¬ chen weg, das in der Schlafkammer stand, um dem Arzte zu zeigen, wie sich die gute Kranke beschäftige. Kurz darauf hörte man sie aus dem Bette springen, sie hob das Tuch auf, und fand das Kästchen leer. Sie warf sich auf ihre Knie, man kam und hörte ihr freudiges, inbrünstiges Gebet. Ja! es ist wahr, rief sie aus, es war kein Traum, es ist wirklich! freuet euch meine Freunde mit mir, ich habe das gute, schöne Geschöpf wieder lebendig gesehen. Es stand auf, und warf den Schleyer von sich, sein Glanz er¬ leuchtete das Zimmer, seine Schönheit war verklärt, es konnte den Boden nicht betre¬ ten, ob es gleich wollte. Leicht ward es empor gehoben, und konnte mir nicht ein¬ mal seine Hand reichen. Da rief es mich zu sich, und zeigte mir den Weg, den ich gehen soll. Ich werde ihm folgen und bald folgen, ich fühl es, und es wird mir so leicht ums Herz. Mein Kummer ist verschwun¬ den, und schon das Anschauen meines wieder Auferstandenen hat mir einen Vorschmack der himmlischen Freude gegeben. Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth mit den heitersten Aussichten beschäftigt, auf keinen irrdischen Gegenstand richtete sie ihre Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige Speisen, und ihr Geist machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los. Auch fand man sie zuletzt unvermuthet erblaßt und ohne Empfindung, sie öfnete die Augen nicht wieder, sie war, was wir todt nennen. Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald un¬ ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, ver¬ wandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken, daß man sie sogleich für seelig, ja für heilig halten müsse. Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaub¬ licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigstens ihr Kleid berühren. In dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten verschiedene Kranke die Übel nicht, von de¬ nen sie sonst gequält wurden, sie hielten sich für geheilt, sie bekannten’s, sie priesen Gott und seine neue Heilige. Die Geistlichkeit war genöthigt, den Körper in eine Capelle zu stellen, das Volk verlangte Gelegenheit seine Andacht zu verrichten, der Zudrang war unglaublich; die Bergbewohner, die oh¬ nedies zu lebhaften, religiösen Gefühlen ge¬ stimmt sind, drangen aus ihren Thälern her¬ bey; die Andacht, die Wunder, die Anbe¬ tung vermehrten sich mit jedem Tage. Die bischöfflichen Verordnungen, die einen solchen neuen Dienst einschränken und nach und nach niederschlagen sollten, konnten nicht zur Aus¬ führung gebracht werden; bey jedem Wi¬ derstand war das Volk heftig, und gegen jeden Ungläubigen bereit in Thätlichkeiten auszubrechen. Wandelte nicht auch, riefen sie, der heilige Borromäus unter unsern Vor¬ fahren? erlebte seine Mutter nicht die Wonne seiner Seligsprechung? hat man nicht durch jenes große Bildniß auf dem Felsen bey Arona uns seine geistige Größe sinnlich ver¬ gegenwärtigen wollen? leben die seinigen nicht noch unter uns? und hat Gott nicht zugesagt unter einem gläubigen Volke seine Wunder stets zu erneuern? Als der Körper nach einigen Tagen keine Zeichen der Fäulnis von sich gab, und eher weißer und gleichsam durchsichtig ward, er¬ höhte sich das Zutrauen der Menschen im¬ mer mehr, und es zeigten sich unter der Menge verschiedene Kuren, die der aufmerk¬ same Beobachter selbst nicht erklären, und auch nicht geradezu als Betrug ansprechen konnte. Die ganze Gegend war in Bewe¬ gung, und wer nicht selbst kam, hörte we¬ nigstens eine Zeit lang von nichts anderm reden. Das Kloster, worin mein Bruder sich be¬ fand, erscholl so gut als die übrige Gegend von diesen Wundern, und man nahm sich um so weniger in Acht, in seiner Gegenwart davon zu sprechen, als er sonst auf nichts aufzumerken pflegte, und sein Verhältnis niemanden bekannt war. Diesmal schien er aber mit großer Genauigkeit gehört zu ha¬ ben, er führte seine Flucht mit solcher Schlau¬ heit aus, daß niemals jemand hat begreifen können, wie er aus dem Kloster herausge¬ kommen sey. Man erfuhr nachher, daß er sich mit einer Anzahl Wallfahrer übersetzen lassen, und daß er die Schiffer, die nichts weiter Verkehrtes an ihm wahrnahmen, nur um die größte Sorgfalt gebeten, daß das Schiff nicht umschlagen möchte. Tief in der Nacht kam er in jene Capelle, wo seine un¬ glückliche Geliebte von ihrem Leiden aus¬ ruhte, nur wenige Andächtige knieten in den Winkeln, ihre alte Freundin saß zu ihren Häupten, er trat hinzu und grüßte sie, und fragte: wie sich ihre Gebieterin befände? Ihr seht es, versetzte diese nicht ohne Ver¬ legenheit. Er blickte den Leichnam nur von der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm er ihre Hand. Erschreckt von der Kälte, ließ er sie sogleich wieder fahren, er sah sich un¬ ruhig um, und sagte zu der Alten: ich kann jetzt nicht bey ihr bleiben, ich habe noch ei¬ nen sehr weiten Weg zu machen, ich will aber zur rechten Zeit schon wieder da seyn, sag ihr das, wenn sie aufwacht. So ging er hinweg, wir wurden nur spät von diesem Vorgange benachrichtigt, man forschte nach, wo er hingekommen sey, aber vergebens! Wie er sich durch Berge und Thäler durchgearbeitet haben mag, ist unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fan¬ den wir in Graubünden eine Spur von ihm wieder, allein zu spät, und sie verlohr sich bald. Wir vermutheten, daß er nach Deutschland sey, allein der Krieg hatte solche schwache Fußtapfen gänzlich verwischt. Zehntes Capitel . D er Abbé hörte zu lesen auf, und niemand hatte ohne Thränen zugehört. Die Gräfin brachte ihr Tuch nicht von den Augen, zu¬ letzt stand sie auf und verließ mit Natalien das Zimmer. Die übrigen schwiegen, und der Abbé sprach: Es entsteht nun die Frage, ob man den guten Markese soll abreisen las¬ sen, ohne ihm unser Geheimnis zu entdecken. Denn wer zweifelt wohl einen Augenblick daran, daß Augustin und unser Harfenspieler Eine Person sey. Es ist zu überlegen, was wir thun, sowohl um des unglücklichen Man¬ nes als der Familie willen. Mein Rath wäre nichts zu übereilen, abzuwarten, was uns der Arzt, den wir eben von dort zurück¬ erwarten, für Nachrichten bringt. Jeder¬ Jedermann war derselben Meynung, und der Abbé fuhr fort: eine andere Frage, die vielleicht schneller abzuthun ist, entsteht zu gleicher Zeit, der Markese ist unglaublich gerührt über die Gastfreundschaft, die seine arme Nichte bey uns, besonders bey unserm jungen Freunde gefunden hat. Ich habe ihm die ganze Geschichte umständlich, ja wieder¬ holt erzählen müssen, und er zeigte seine lebhafteste Dankbarkeit. Der junge Mann, sagte er, hat ausgeschlagen mit mir zu rei¬ sen, ehe er das Verhältniß kannte, das un¬ ter uns besteht. Ich bin ihm nun kein Frem¬ der mehr, von dessen Art zu seyn, und von dessen Laune er etwa nicht gewis wäre; ich bin sein Verbundener, wenn Sie wollen sein Verwandter, und da sein Knabe, den er nicht zurück lassen wollte, erst das Hinder¬ nis war, das ihn abhielt sich zu mir zu ge¬ sellen, so lassen Sie jetzt dieses Kind zum W. Meisters Lehrj. 4 G g schönern Bande werden, das uns nur desto fester aneinander knüpft. Über die Verbind¬ lichkeit, die ich nun schon habe, sey er mir noch auf der Reise nützlich, er kehre mit mir zurück, mein älterer Bruder wird ihn mit Freuden empfangen, er verschmähe die Erb¬ schaft seines Pflegekindes nicht, denn nach einer geheimen Abrede unseres Vaters mit seinem Freunde ist das Vermögen, das er seiner Tochter zugewendet hatte, wieder an uns zurückgefallen, und wir wollen dem Wohlthäter unserer Nichte gewiß das nicht vorenthalten, was er verdient hat. Therese nahm Wilhelmen bey der Hand, und sagte: wir erleben abermals hier so ei¬ nen schönen Fall, daß uneigennütziges Wohl¬ thun die höchsten und schönsten Zinsen bringt. Folgen Sie diesem sonderbaren Ruf, und in¬ dem Sie sich um den Markese doppelt ver¬ dient machen, eilen Sie einem schönen Lande entgegen, das Ihre Einbildungskraft und Ihr Herz mehr als Einmal an sich gezo¬ gen hat. Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und Ihrer Führung, sagte Wilhelm; es ist vergebens in dieser Welt nach eigenem Wil¬ len zu streben. Was ich fest zu halten wünschte, muß ich fahren lassen, und eine unverdiente Wohlthat drängt sich mir auf. Mit einen Druck auf Theresens Hand machte Wilhelm die seinige los. Ich über¬ lasse Ihnen ganz, sagte er zu dem Abbé, was Sie über mich beschließen, wenn ich meinen Felix nicht von mir zu lassen brauche, so bin ich zufrieden überall hinzugehn, und alles, was man für recht hält, zu unter¬ nehmen. Auf diese Erklärung entwarf der Abbé sogleich seinen Plan. Man solle, sagte er, den Markese abreisen lassen, Wilhelm solle G g 2 die Nachricht des Arztes abwarten, und als¬ dann, wenn man überlegt hätte, was zu thun sey, könne Wilhelm mit Felix nachrei¬ sen. So bedeutete er auch den Markese, un¬ ter einem Vorwand, daß die Einrichtungen des jungen Freundes zur Reise ihn nicht ab¬ halten müßten, die Merkwürdigkeiten der Stadt indessen zu besehn. Der Markese ging ab, nicht ohne wiederholte lebhafte Versicherung seiner Dankbarkeit, wovon die Geschenke, die er zurückließ, und die aus Juwelen, geschnittenen Steinen und gestick¬ ten Stoffen bestunden, einen genugsamen Beweis gaben. Wilhelm war nun auch völlig reisefertig, und man war um so mehr verlegen, daß keine Nachrichten von dem Arzt kommen wollten, man befürchtete dem armen Har¬ fenspieler möchte ein Unglück begegnet seyn, zu eben der Zeit als man hoffen konnte, ihn durchaus in einen bessern Zustand zu ver¬ setzen. Man schickte den Curier fort, der kaum weggeritten war, als am Abeud der Arzt mit einem Fremden hereintrat, dessen Gestalt und Wesen bedeutend, ernsthaft und auffallend war, und den niemand kannte. Beyde Ankömmlinge schwiegen eine Zeit lang stille, endlich ging der Fremde auf Wilhel¬ men los, reichte ihm die Hand und sagte: Kennen Sie Ihren alten Freund nicht mehr? Es war die Stimme des Harfenspielers, aber von seiner Gestalt schien keine Spur übrig geblieben zu seyn. Er war in der gewöhn¬ lichen Tracht eines Reisenden, reinlich und anständig gekleidet, sein Bart war verschwun¬ den, seinen Locken sah man einige Kunst an, und was ihn eigentlich ganz unkenntlich machte, war, daß an seinem bedeutenden Gesichte die Züge des Alters nicht mehr er¬ schienen. Wilhelm umarmte ihn mit der leb¬ haftesten Freude, er ward den andern vor¬ gestellt, und betrug sich sehr vernünftig, und wußte nicht, wie bekannt er der Gesellschaft noch vor kurzem geworden war. Sie wer¬ den Geduld mit einem Menschen haben, fuhr er mit großer Gelassenheit fort, der, so erwachsen er auch aussieht, nach einem lan¬ gen Leiden erst wie ein unerfahrnes Kind in die Welt tritt. Diesem wackren Mann bin ich schuldig, daß ich wieder in einer mensch¬ lichen Gesellschaft erscheinen kann. Man hieß ihn willkommen, und der Arzt veranlaßte sogleich einen Spaziergang, um das Gespräch abzubrechen, und ins Gleich¬ gültige zu lenken. Als man allein war, gab der Arzt fol¬ gende Erklärung: Die Genesung dieses Man¬ nes ist uns durch den sonderbarsten Zufall geglückt. Wir hatten ihn lange nach unse¬ rer Überzeugung moralisch und physisch be¬ handelt, es ging auch bis auf einen gewissen Grad ganz gut, allein die Todesfurcht war noch immer groß bey ihm, und seinen Bart und sein langes Kleid wollte er uns nicht aufopfern; übrigens nahm er mehr Theil an den weltlichen Dingen, und seine Gesänge schienen, wie seine Vorstellungsart, wieder dem Leben sich zu nähern. Sie wissen, welch ein sonderbarer Brief des Geistlichen mich von hier abrief, ich kam, ich fand unsern Mann ganz verändert, er hatte freywillig seinen Bart hergegeben, er hatte erlaubt seine Locken in eine hergebrachte Form zu¬ zuschneiden; er verlangte gewöhnliche Klei¬ der, und schien auf einmal ein anderer Mensch geworden zu seyn. Wir waren neu¬ gierig die Ursache dieser Verwandlung zu er¬ gründen, und wagten doch nicht uns mit ihm selbst darüber einzulassen; endlich ent¬ deckten wir zufällig das sonderbare Verhält¬ nis. Ein Glas flüssiges Opium fehlte in der Hausapotheke des Geistlichen, man hielt für nöthig die strengste Untersuchung anzustellen, jedermann suchte sich des Verdachtes zu er¬ wehren, es gab unter den Hausgenossen hef¬ tige Scenen. Endlich trat dieser Mann auf, und gestand, daß er es besitze; man fragte ihn, ob er davon genommen habe? er sagte nein! fuhr aber fort: Ich danke diesem Be¬ sitz, die Wiederkehr meiner Vernunft, es hängt von euch ab mir dieses Fläschchen zu nehmen, und ihr werdet mich ohne Hoff¬ nung in meinen alten Zustand wieder zurück¬ fallen sehen. Das Gefühl, daß es wün¬ schenswerth sey die Leiden dieser Erde durch den Tod geendigt zu sehen, brachte mich zu¬ erst auf den Weg der Genesung; bald darauf entstand der Gedanke, sie durch einen frey¬ willigen Tod zu endigen, und ich nahm in dieser Absicht das Glas hinweg; die Mög¬ lichkeit, sogleich die großen Schmerzen auf ewig aufzuheben, gab mir Kraft die Schmer¬ zen zu ertragen, und so habe ich, seitdem ich den Talismann besitze, mich durch die Nähe des Todes wieder in das Leben zurückge¬ drängt? Sorgt nicht, sagte er, daß ich Ge¬ brauch davon mache, sondern entschließt Euch, als Kenner des menschlichen Herzens, mich, indem Ihr mir die Unabhängigkeit vom Leben zugesteht, erst vom Leben recht abhängig zu machen. Nach reiflicher Über¬ legung drangen wir nicht weiter in ihn, und er führt nun in einem festen, geschliffnen Glasfläschchen dieses Gift als das sonder¬ barste Gegengift bey sich. Man unterrichtete den Arzt von allem, was indessen entdeckt worden war, und man beschloß gegen Augustin das tiefste Still¬ schweigen zu beobachten. Der Abbé nahm sich vor, ihn nicht von seiner Seite zu las¬ sen, und ihn auf dem guten Wege, den er betreten hatte, fortzuführen. Indessen sollte Wilhelm die Reise durch Deutschland mit dem Markese vollenden. Schien es möglich Augustinen eine Neigung zu seinem Vaterlande wieder einzuflößen, so wollte man seinen Verwandten den Zustand entdecken, und Wilhelm sollte ihn den Sei¬ nigen wieder zuführen. Dieser hatte nun alle Anstalten zu seiner Reise gemacht, und wenn es im Anfang wunderbar schien, daß Augustin sich freute, als er vernahm, wie sein alter Freund und Wohlthäter sich sogleich wieder entfernen sollte, so entdeckte doch der Abbé bald den Grund dieser seltsamen Gemüthsbewegung. Augustin konnte seine alte Furcht, die er vor Felix hatte, nicht überwinden, und wünschte den Knaben je eher, je lieber ent¬ fernt zu sehen. Nun waren nach und nach so viele Men¬ schen angekommen, so daß man sie im Schloß und in den Seitengebäuden kaum alle un¬ terbringen konnte, um so mehr als man nicht gleich Anfangs auf den Empfang so vieler Gäste die Einrichtung gemacht hatte. Man frühstückte, man speiste zusammen, und hätte sich gern beredet, man lebe in einer vergnüglichen Übereinstimmung, wenn schon in der Stille die Gemüther sich gewisser¬ maßen auseinander sehnten. Therese war manchmal mit Lothario, noch öfters aber al¬ lein ausgeritten, sie hatte in der Nachbar¬ schaft schon alle Landwirthe und Landwir¬ thinnen kennen lernen; es war ihr Haushal¬ tungsprinzip, und sie mochte nicht unrecht haben, daß man mit Nachbarn und Nach¬ barinnen im besten Vernehmen und immer in einem ewigen Gefälligkeitswechsel stehen müsse. Von einer Verbindung zwischen ihr und Lothario schien gar die Rede nicht zu seyn, die beyden Schwestern hatten sich viel zu sagen, der Abbé schien den Umgang des Harfenspielers zu suchen. Jarno hatte mit dem Arzt öftere Conferenzen, Friedrich hielt sich an Wilhelmen, und Felix war überall, wo es ihm gut ging. So vereinigten sich auch meistentheils die Paare auf dem Spa¬ ziergang, indem die Gesellschaft sich trennte, und wenn sie zusammen seyn mußten, so nahm man geschwind seine Zuflucht zur Mu¬ sik, um alle zu verbinden, indem man jeden sich selbst wieder gab. Unversehens vermehrte der Graf die Ge¬ sellschaft, seine Gemahlin abzuholen, und, wie es schien, einen feyerlichen Abschied von seinen weltlichen Verwandten zu nehmen. Jarno eilte ihm bis an den Wagen entge¬ gen, und als der Ankommende fragte, was er für Gesellschaft finde? so sagte jener in einem Anfall von toller Laune, die ihn im¬ mer ergriff, sobald er den Grafen gewahr ward. Sie finden den ganzen Adel der Welt beysammen, Markesen, Marqui’s, Mi¬ lord’s und Baronen, es hat nur noch an ei¬ nen Grafen gefehlt. So ging man die Treppe hinauf, und Wilhelm war die erste Person, die ihnen im Vorsaal entgegen kam. Mi¬ lord! sagte der Graf zu ihm auf französisch, nachdem er ihn einen Augenblick betrachtet hatte, ich freue mich sehr, Ihre Bekannt¬ schaft unvermuthet zu erneuern; denn ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie nicht im Gefolge des Prinzen sollte in meinem Schlosse gesehen haben. — Ich hatte das Glück Ew. Exzellenz damals aufzuwarten, versetzte Wilhelm, nur erzeigen Sie mir zu viel Ehre, wenn Sie mich für einen Eng¬ länder und zwar vom ersten Range halten, ich bin ein Deutscher, und— zwar ein sehr braver junger Mann, fiel Jarno sogleich ein. Der Graf sah Wilhelmen lächelnd an, und wollte eben etwas erwiedern, als die übrige Gesellschaft herbey kam, und ihn aufs freund¬ lichste begrüßte. Man entschuldigte sich, daß man ihm nicht sogleich ein anständiges Zim¬ mer anweisen könne, und versprach den nö¬ thigen Raum ungesäumt zu verschaffen. Ey ey! sagte er lächelnd, ich sehe wohl, daß man dem Zufalle überlassen hat, den Fourierzettel zu machen; mit Vorsicht und Einrichtung, wie viel ist da nicht möglich! Jetzt bitte ich Euch, rührt mir keinen Pan¬ toffel vom Platze, denn sonst, seh ich wohl, giebt es eine große Unordnung, jedermann wird unbequem wohnen, und das soll nie¬ mand um meinetwillen wo möglich auch nur eine Stunde. Sie waren Zeuge, sagte er zu Jarno, und auch Sie Mister, indem er sich zu Wilhelmen wandte, wie viele Menschen ich damals auf meinem Schlosse bequem untergebracht habe. Man gebe mir die Liste der Personen und Bedienten, man zeige mir an, wie jedermann gegenwärtig einquartirt ist, ich will einen Dislokations¬ plan machen, daß mit der wenigsten Bemü¬ hung jedermann eine geräumliche Wohnung finde, und daß noch Platz für einen Gast bleiben soll, der sich zufälligerweise bey uns einstellen könnte. Jarno machte sogleich den Adjutanten des Grafen, verschaffte ihm alle nöthigen Notizen, und hatte nach seiner Art den größten Spaß, wenn er den alten Herrn mitunter irre machen konnte. Dieser gewann aber bald einen großen Triumph. Die Ein¬ richtung war fertig, er ließ in seiner Gegen¬ wart die Nahmen über alle Thüren schrei¬ ben, und man konnte nicht leugnen, daß mit wenig Umständen und Veränderungen der Zweck völlig erreicht war. Auch hatte es Jarno unter andern so geleitet, daß die Personen, die in dem gegenwärtigen Augen¬ blick ein Interesse an einander nahmen, zu¬ sammen wohnten. Nachdem alles eingerichtet war, sagte der Graf zu Jarno: Helfen Sie mir auf die Spur wegen des jungen Mannes, den Sie da Meister nennen, und der ein Deutscher seyn soll. Jarno schwieg still, denn er wußte recht gut, daß der Graf einer von denen Leuten war, die, wenn sie fragen, eigentlich belehren wollen, auch fuhr dieser, ohne Ant¬ wort abzuwarten, in seiner Rede fort: Sie hatten mir ihn damals vorgestellt, und im Nahmen des Prinzen bestens empfohlen. Wenn seine Mutter auch eine Deutsche war, so hafte ich dafür, daß sein Vater ein Eng¬ länder ist, und zwar von Stande; wer wollte das englische Blut alles berechnen, das seit dreyßig dreyßig Jahren in deutschen Adern herum fließt; ich will weiter nicht darauf dringen, Ihr habt immer solche Familiengeheimnisse, doch mir wird man in solchen Fällen nichts aufbinden. Darauf erzählte er noch ver¬ schiedenes, was damals mit Wilhelmen auf seinem Schloß vorgegangen seyn sollte, wozu Jarno gleichfalls schwieg, obgleich der Graf ganz irrig war, und Wilhelmen mit einem jungen Engländer in des Prinzen Gefolge mehr als einmal verwechselte. Der gute Herr hatte in frühern Zeiten ein vortreff¬ liches Gedächtniß gehabt, und war noch im¬ mer stolz darauf, sich der geringsten Um¬ stände seiner Jugend erinnern zu können; nun bestimmte er aber mit eben der Gewi߬ heit wunderbare Combinationen und Fabeln als wahr, die ihm bey zunehmender Schwäche seines Gedächtnisses seine Einbildungskraft einmal vorgespiegelt hatte. Übrigens war er W. Meisters Lehrj. 4. H h sehr mild und gefällig geworden, und seine Gegenwart wirkte recht günstig auf die Ge¬ sellschaft. Er verlangte, daß man etwas Nützliches zusammen lesen sollte, ja sogar gab er manchmal kleine Spiele an, die er, wo nicht mitspielte, doch mit großer Sorg¬ falt dirigirte, und da man sich über seine Herablassung verwunderte, sagte er: es sey die Pflicht eines jeden, der sich in Haupt¬ sachen von der Welt entferne, daß er in gleichgültigen Dingen sich ihr destomehr gleich stelle. Wilhelm hatte unter diesen Spielen mehr als Einen bänglichen und verdrießlichen Au¬ genblick, der leichtsinnige Friedrich ergriff manche Gelegenheit, um auf eine Neigung Wilhelms gegen Natalien zu deuten. Wie konnte er darauf fallen? wodurch war er dazu berechtigt? und mußte nicht die Gesell¬ schaft glauben, daß, weil beyde viel mit einander umgingen, Wilhelm ihm eine so unvorsichtige und unglückliche Confidenz ge¬ macht habe. Eines Tages waren sie bey einem solchen Scherze heiterer als gewöhnlich, als Au¬ gustin auf einmal zur Thüre, die er aufriß, mit gräßlicher Gebärde herein stürzte; sein Angesicht war blaß, sein Auge wild, er schien reden zu wollen, die Sprache ver¬ sagte ihm. Die Gesellschaft entsetzte sich, Lothario und Jarno, die eine Rückkehr des Wahnsinns vermutheten, sprangen auf ihn los, und hielten ihn fest. Stotternd und dumpf, dann heftig und gewaltsam sprach und rief er: nicht mich haltet, eilt! helft! rettet das Kind! Felix ist vergiftet! Sie ließen ihn los, er eilte zur Thüre hinaus, und voll Entsetzen drängte sich die Gesellschaft ihm nach. Man rief nach dem Arzte, Augustin richtete seine Schritte nach H h 2 dem Zimmer des Abbés, man fand das Kind, das erschrocken und verlegen schien, als man ihm schon von weitem zurief: was hast Du angefangen? Lieber Vater! rief Felix, ich habe nicht aus der Flasche, ich habe aus dem Glase getrunken, ich war so durstig. Augustin schlug die Hände zusammen, rief: er ist verlohren! drängte sich durch die Um¬ stehenden, und eilte davon. Sie fanden ein Glas Mandelmilch auf dem Tische stehen, und eine Karavine dar¬ neben, die über die Hälfte leer war, der Arzt kam, er erfuhr, was man wußte, und sah mit Entsetzen das wohlbekannte Fläsch¬ chen, worin sich das flüssige Opium befun¬ den hatte, leer auf dem Tische liegen, er ließ Essig herbey schaffen, und rief alle Mit¬ tel seiner Kunst zu Hülfe. Natalie ließ den Knaben in ein Zimmer bringen, sie bemühte sich ängstlich um ihn Der Abbé war fortgerannt, Augustinen auf¬ zusuchen, und einige Aufklärungen von ihm zu erdringen. Eben so hatte sich der un¬ glückliche Vater vergebens bemüht, und fand, als er zurückkam, auf allen Gesichtern Ban¬ gigkeit und Sorge. Der Arzt hatte indessen die Mandelmilch im Glase untersucht, es entdeckte sich die stärkste Beymischung von Opium, das Kind lag auf dem Ruhebette und schien sehr krank, es bat den Vater, daß man ihm nur nichts mehr einschütten, daß man es nur nicht mehr quälen möchte. Lo¬ thar hatte seine Leute ausgeschickt und war selbst weggeritten, um der Flucht Augustins auf die Spur zu kommen. Natalie saß bey dem Kinde, es flüchtete auf ihren Schooß, und bat sie flehentlich um Schutz, flehentlich um ein Stückchen Zucker, der Essig sey gar zu sauer! Der Arzt gab es zu; man müsse das Kind, das in der entsetzlichsten Bewe¬ gung war, sagte er, einen Augenblick ruhen lassen, es sey alles räthliche geschehen, er wolle das mögliche thun. Der Graf trat mit einigem Unwillen, wie es schien, herbey, er sah ernst, ja feyerlich aus, legte die Hände auf das Kind, blickte gen Himmel, und blieb einige Augenblicke in dieser Stellung. Wil¬ helm, der trostlos in einem Sessel lag, sprang auf, warf einen Blick voll Verzweiflung auf Natalien und ging zur Thüre hinaus. Kurz darauf verließ auch der Graf das Zimmer. Ich begreife nicht, sagte der Arzt nach einiger Pause, daß sich auch nicht die geringste Spur eines gefährlichen Zustandes am Kinde zeigt. Auch nur mit einem Schluck muß es eine ungeheure Dose Opium zu sich genom¬ men haben, und nun finde ich an seinem Pulse keine weitere Bewegung, als ich mei¬ nen Mitteln und der Furcht zuschreiben kann, in die wir das Kind versetzt haben. Bald darauf trat Jarno mit der Nach¬ richt herein, daß man Augustin auf dem Oberboden in seinem Blute gefunden habe, ein Schermesser habe neben ihm gelegen, wahrscheinlich habe er sich die Kehle abge¬ schnitten. Der Arzt eilte fort und begegnete den Leuten, welche den Körper zur Treppe herunterbrachten. Er ward auf ein Bett gelegt und genau untersucht, der Schnitt war in die Luftröhre gegangen, auf einen starken Blutverlust war eine Ohnmacht gefolgt, doch ließ sich bald bemerken, daß noch Leben, daß noch Hoffnung übrig sey. Der Arzt brachte den Körper in die rechte Lage, fügte die ge¬ trennten Theile zusammen, und legte den Verband auf. Die Nacht ging allen schlaf¬ los und sorgenvoll vorüber. Das Kind wollte sich nicht von Natalien trennen lassen. Wilhelm saß vor ihr auf einem Schemel; er hatte die Füße des Knaben auf seinem Schoße, Kopf und Brust lagen auf dem ih¬ rigen, so theilten sie die angenehme Last und die schmerzlichen Sorgen, und verharrten bis der Tag anbrach, in der unbequemen und traurigen Lage. Natalie hatte Wilhelmen ihre Hand gegeben, sie sprachen kein Wort, sahen auf das Kind, und sahen einander an. Lothario und Jarno saßen am andern Ende des Zimmers, und führten ein sehr bedeuten¬ des Gespräch, das wir gern, wenn uns die Begebenheiten nicht zu sehr drängten, unsern Lesern hier mittheilten. Der Knabe schlief sanft, erwachte am frühen Morgen ganz hei¬ ter, sprang auf und verlangte ein Butter¬ brodt. Sobald Augustin sich einigermaßen erholt hatte, suchte man einige Aufklärung von ihm zu erhalten, man erfuhr nicht ohne Mühe, und nur nach und nach: daß, als er bey der unglücklichen Dislocation des Gra¬ fen in Ein Zimmer mit dem Abbé versetzt worden, er das Manuscript gefunden habe, worin er seine Geschichte las, sein Entsetzen sey ohne gleichen gewesen, und er habe sich nun überzeugt, daß er nicht länger leben dürfe, sogleich habe er seine gewöhnliche Zuflucht zum Opium genommen, habe es in ein Glas Mandelmilch geschüttet, und habe doch, als er es an den Mund gesetzt, geschaudert; darauf habe er es stehen lassen, um nochmals durch den Garten zu laufen und die Welt zu sehen, bey seiner Zurückkunft habe er das Kind gefunden, eben beschäftigt, das Glas, woraus es getrunken, wieder voll zu gießen. Man bat den Unglücklichen, ruhig zu seyn, er faßte Wilhelmen krampfhaft bey der Hand; ach! sagte er, warum habe ich dich nicht längst verlassen, ich wußte wohl, daß ich den Knaben tödten würde, und er mich. Der Knabe lebt! sagte Wilhelm. Der Arzt, der aufmerksam zugehört hatte, fragte Augustinen, ob alles Getränke vergiftet ge¬ wesen? Er versetzte, nein! nur das Glas. So hat durch den glücklichsten Zufall, rief der Arzt, das Kind aus der Flasche getrun¬ ken! Ein guter Genius hat seine Hand ge¬ führt, daß es nicht nach den Tode griff, der so nahe zubereitet stand! Nein! nein! rief Wilhelm mit einem Schrey, indem er die Hände vor die Augen hielt, wie fürchterlich ist diese Aussage! ausdrücklich sagte das Kind: daß es nicht aus der Flasche, sondern aus dem Glase getrunken habe. Seine Ge¬ sundheit ist nur ein Schein, es wi rd uns un¬ ter den Händen wegsterben. Er eilte fort, der Arzt ging hinunter und fragte, indem er das Kind liebkoste, nicht wahr, Felix, du hast aus der Flasche getrunken und nicht aus dem Glase? das Kind fing an zu weinen. Der Arzt erzählte Natalien im stillen, wie sich die Sache verhalte, auch sie bemühte sich vergebens, die Wahrheit von dem Kinde zu erfahren, es weinte nur heftiger, und so lange bis es einschlief. Wilhelm wachte bey ihm, die Nacht ver¬ ging ruhig. Den andern Morgen fand man Augustinen todt in seinem Bette, er hatte die Aufmerksamkeit seiner Wärter durch eine scheinbare Ruhe betrogen, den Verband still aufgelöst, und sich verblutet. Natalie ging mit dem Kinde spatzieren, es war munter wie in seinen glücklichsten Tagen. Du bist doch gut, sagte Felix zu ihr, du zankst nicht, du schlägst mich nicht, ich will dirs nur sagen, ich habe aus der Flasche getrunken; Mutter Aurelie schlug mich immer auf die Finger, wenn ich nach der Karavine griff, der Vater sah so bös aus, ich dachte, er würde mich schlagen. Mit beflügelten Schritten eilte Natalie zu dem Schlosse, Wilhelm kam ihr, noch vol¬ ler Sorgen, entgegen. Glücklicher Vater! rief sie laut, indem sie das Kind aufhob und es ihm in die Arme warf, da hast du deinen Sohn! er hat aus der Flasche getrunken, seine Unart hat ihn gerettet. Man erzählte den glücklichen Ausgang dem Grafen, der aber nur mit lächelnder, stillen, bescheidnen Gewißheit zuhörte, mit der man den Irrthum guter Menschen er¬ tragen mag. Jarno, aufmerksam auf alles, konnte diesmal eine solche hohe Selbstgenüg¬ samkeit nicht erklären, bis er endlich nach manchen Umschweifen erfuhr: der Graf sey überzeugt, das Kind habe wirklich Gift ge¬ nommen, er habe es aber durch sein Gebet und durch das Auflegen seiner Hände, wun¬ derbar am Leben erhalten. Nun beschloß er auch sogleich wegzugehn, gepackt war bey ihm alles wie gewöhnlich in Einem Augen¬ blicke, und beym Abschied faßte die schöne Gräfin Wilhelms Hand, ehe sie noch die Hand der Schwester los ließ, drückte alle vier Hände zusammen, kehrte sich schnell um, und stieg in den Wagen. So viel schreckliche und wunderbare Be¬ gebenheiten, die sich eine über die andere drängten, zu einer ungewohnten Lebensart nöthigten, und alles in Unordnung und Ver¬ wirrung setzten, hatten eine Art von fieber¬ hafter Schwingung in das Haus gebracht. Die Stunden des Schlafens und Wachens, des Essens, Trinkens und geselligen Zusam¬ menseyns waren verrückt und umgekehrt. Außer Theresen war niemand in seinem Geleise geblieben, die Männer suchten durch geistige Getränke ihre gute Laune wieder herzustellen, und, indem sie sich eine künstliche Stimmung gaben, entfernten sie die natür¬ liche, die uns allein wahre Heiterkeit und Thätigkeit gewährt. Wilhelm war durch die heftigsten Leiden¬ schaften bewegt und zerrüttet, die unvermu¬ theten und schreckhaften Anfälle hatten sein Innerstes ganz aus aller Fassung gebracht, einer Leidenschaft zu wiederstehn, die sich des Herzens so gewaltsam bemächtigt hatte. Felix war ihm wiedergegeben, und doch schien ihm alles zu fehlen, die Briefe von Wer¬ nern mit den Anweisungen waren da, ihm mangelte nichts zu seiner Reise, als der Muth sich zu entfernen. Alles drängte ihn zu die¬ ser Reise. Er konnte vermuthen, daß Lo¬ thario und Therese nur auf seine Entfernung warteten, um sich trauen zu lassen. Jarno war wieder seine Gewohnheit still, und man hätte beynahe sagen können, es habe sich etwas von seiner gewöhnlichen Heiterkeit verlohren. Glücklicherweise half der Arzt unserm Freunde einigermaßen aus der Ver¬ legenheit, indem er ihn für krank erklärte, und ihm Arzney gab. Die Gesellschaft kam immer Abends zu¬ sammen, und Friedrich, der ausgelassene Mensch, der gewöhnlich mehr Wein als bil¬ lig trank, bemächtigte sich des Gesprächs, und brachte nach seiner Art, mit hundert Zi¬ taten und eulenspiegelhaften Anspielungen, die Gesellschaft zum Lachen, und setzte sie auch nicht selten in Verlegenheit, indem er laut zu denken sich erlaubte. An die Krankheit seines Freundes schien er gar nicht zu glauben. Einst, als sie alle beysammen waren, rief er aus: Wie nennt ihr das Übel, Doktor, das unsern Freund angefallen hat? paßt hier keiner von den dreytausend Nahmen, mit denen ihr eure Unwissenheit ausputzt? An ähnlichen Bey¬ spielen wenigstens hat es nicht gefehlt. Es kommt, fuhr er mit einem emphathischen Tone fort, ein solcher Kasus in der ägypti¬ schen oder babylonischen Geschichte vor. Die Gesellschaft sah einander an und lächelte. Wie hieß der König? rief er aus, und hielt einen Augenblick inne. Wenn ihr mir nicht einhelfen wollt, fuhr er fort, so werde ich mir selbst zu helfen wissen. Er riß die Thürflügel auf, und wies nach dem großen Bilde im Vorsaal. Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort, der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt? Wie heißt die Schöne, die herein tritt, und in ihren sittsamen Schelmenaugen Gift und Gegengift zugleich führt? Wie heißt der Pfuscher von Arzt, dem erst in diesem Au¬ genblicke ein Licht aufgeht, der das erstemal in seinem Leben Gelegenheit findet, ein ver¬ nünftiges Recept zu verordnen, eine Arzney zu zu reichen, die aus dem Grunde curirt, und die eben so wohlschmeckend als heilsam ist? In diesem Tone fuhr er fort zu schwa¬ droniren. Die Gesellschaft nahm sich so gut als möglich zusammen, und verbarg ihre Verlegenheit hinter einem gezwungenen Lä¬ cheln. Eine leichte Röthe überzog Nataliens Wangen, und verrieth die Bewegungen ih¬ res Herzens. Glücklicherweise ging sie mit Jarno auf und nieder; als sie an die Thüre kam, schritt sie mit einer klugen Bewegung hinaus, einigemal in dem Vorsaale hin und wieder, und ging sodann auf ihr Zimmer. Die Gesellschaft war still. Friedrich fing an zu tanzen und zu singen: O Ihr werdet Wunder sehn! Was geschehn ist, ist geschehn, Was gesagt ist, ist gesagt. Eh es tagt, Sollt Ihr Wunder sehn. W. Meisters Lehrj. 4. I i Therese war Natalien nachgegangen, Frie¬ drich zog den Arzt vor das große Gemälde, hielt eine lächerliche Lobrede auf die Medi¬ cin, und schlich davon. Lothario hatte bisher in einer Fensterver¬ tiefung gestanden, und sah, ohne sich zu rühren, in den Garten hinunter. Wilhelm war in der schrecklichsten Lage. Selbst, da er sich nun mit seinem Freunde allein sah, blieb er eine Zeit lang still, er überlief mit flüchtigem Blick seine Geschichte, und sah zuletzt mit Schaudern auf seinen gegenwär¬ tigen Zustand, endlich sprang er auf und rief: bin ich Schuld an dem, was vorgeht, an dem, was mir und Ihnen begegnet, so strafen Sie mich! Zu meinen übrigen Lei¬ den entziehen Sie mir Ihre Freundschaft, und lassen Sie mich ohne Trost in die weite Welt hinaus gehen, in der ich mich lange hätte verlieren sollen. Sehen Sie aber in mir das Opfer einer grausamen zufälligen Ver¬ wicklung, aus der ich mich heraus zu winden unfähig war, so geben Sie mir die Versiche¬ rung Ihrer Liebe, Ihrer Freundschaft auf eine Reise mit, die ich nicht länger verschie¬ ben darf. Es wird eine Zeit kommen, wo ich Ihnen werde sagen können, was diese Tage in mir vorgegangen ist, vielleicht leide ich eben jetzt diese Strafe, weil ich mich Ih¬ nen nicht früh genug entdeckte, weil ich ge¬ zaudert habe, mich Ihnen ganz zu zeigen, wie ich bin; Sie hätten mir beygestanden, Sie hätten mir zur rechten Zeit los geholfen. Aber und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und im¬ mer umsonst. Wie sehr verdiente ich die Strafrede Jarno’s! Wie glaubte ich sie ge¬ faßt zu haben, wie hoffte ich sie zu nutzen, ein neues Leben zu gewinnen! Konnte ichs? Sollte ichs? Vergebens klagen wir Menschen I i 2 uns selbst, vergebens das Schicksal an! Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht völlig einerley, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen. Leben Sie wohl, ich werde keinen Augenblick länger in dem Hause verweilen, in welchem ich das Gastrecht, wi¬ der meinen Willen, so schrecklich verletzt ha¬ be, die Indiskretion Ihres Bruders ist un¬ verzeihlich, sie treibt mein Unglück auf den höchsten Grad, sie macht mich verzweifeln. Und wenn nun, versetzte Lothario, indem er ihn bey der Hand nahm, Ihre Verbin¬ dung mit meiner Schwester die geheime Be¬ dingung wäre, unter welcher sich Therese entschlossen hat, mir ihre Hand zu geben? Eine solche Entschädigung hat Ihnen das edle Mädchen zugedacht; sie schwur, daß dieses doppelte Paar an Einem Tage zum Altare gehen sollte. Sein Verstand hat mich gewählt, sagte sie, sein Herz fordert Nata¬ lien, und mein Verstand wird seinem Herzen zu Hülfe kommen. Wir wurden einig, Na¬ talien und sie zu beobachten, wir machten den Abbé zu unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu dieser Verbindung zu thun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen. Wir haben es ge¬ than. Die Natur hat gewirkt, und der tolle Bruder hat nur die reife Frucht abgeschüt¬ telt. Lassen Sie uns, da wir einmal so wunderbar zusammen kommen, nicht ein ge¬ meines Leben führen, lassen Sie uns zusam¬ men auf eine würdige Weise thätig seyn! Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere thun kann, wenn er, ohne herrschen zu wollen, das Gemüth hat Vormund von Vielen zu seyn, sie leitet das¬ jenige zur rechten Zeit zu thun, was sie doch alle gerne thun möchten, und sie zu ih¬ ren Zwecken führt, die sie meistentheils recht gut im Auge haben, und nur meist die Wege dazu verfehlen. Lassen Sie uns hierauf einen Bund schließen, es ist keine Schwärmerey, es ist eine Idee, die recht gut ausführbar ist, und die öfters, nur nicht immer mit kla¬ rem Bewustseyn, von guten Menschen aus¬ geführt wird. Meine Schwester Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beyspiel. Unerreichbar wird immer die Handelsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele vorgeschrie¬ ben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennah¬ men vor vielen andern, mehr, wenn ich sa¬ gen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu der Zeit, als unser guter Arzt jenes Ma¬ nuscript so rubricirte, die schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten. Indeß hat Natalie sich entwickelt, und die Mensch¬ heit freut sich einer solchen Erscheinung. Er wollte weiter reden, aber Friedrich sprang mit großem Geschrey herein. Welch einen Kranz verdien ich? rief er aus, und wie werdet Ihr mich belohnen? Myrthen, Lorbeer, Epheu, Eichenlaub, das frischeste, das Ihr finden könnt, windet zusammen! so viel Verdienste habt Ihr in mir zu krönen. Natalie ist Dein! ich bin der Zauberer, der diesen Schatz gehoben hat. Er schwärmt, sagte Wilhelm, und ich gehe. Hast Du Auftrag? sagte der Baron, in¬ dem er Wilhelmen fest hielt. Aus eigner Macht und Gewalt, versetzte Friedrich, auch von Gottes Gnaden, wenn Ihr wollt; so war ich Freyersmann, so bin ich jetzt Gesandter, ich habe an der Thüre gehorcht, sie hat sich ganz dem Abbé entdeckt. Unverschämter! sagte Lothario, wer heißt Dich horchen. Wer heißt sie sich einschließen! versetzte Friedrich; ich hörte alles ganz genau, Na¬ talie war sehr bewegt. In der Nacht, da das Kind so krank schien, und halb auf ih¬ rem Schoße ruhte, als Du trostlos vor ihr saßest, und die geliebte Bürde mit ihr theil¬ test, that sie das Gelübde, wenn das Kind stürbe, Dir ihre Liebe zu bekennen, und Dir selbst die Hand anzubieten; jetzt da das Kind lebt, warum soll sie ihre Gesinnung verän¬ dern? Was man einmal so verspricht, hält man unter jeder Bedingung. Nun wird der Pfaffe kommen, und wunder denken, was er für Neuigkeiten bringt. Der Abbé trat ins Zimmer. Wir wissen alles, rief Friedrich ihm entgegen, macht es kurz, denn ihr kommt bloß um der Formali¬ tät willen, zu weiter nichts werden die Her¬ ren verlangt. Er hat gehorcht, sagte der Baron. — Wie ungezogen! rief der Abbé! Nun geschwind, versetzte Friedrich, wie sieht’s mit den Ceremonien aus? die lassen sich an den Fingern herzählen, ihr müßt rei¬ sen, die Einladung des Markese kommt euch herrlich zu statten. Seyd ihr nur einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles, die Menschen wissen’s euch Dank, wenn ihr etwas wunderliches unternehmt, ihr verschafft ihnen eine Unterhaltung, die sie nicht zu be¬ zahlen brauchen. Es ist eben, als wenn ihr eine Freyredoute gäbt, es können alle Stände daran Theil nehmen. Ihr habt euch freylich mit solchen Volks festen schon sehr ums Publikum verdient ge¬ macht, versetzte der Abbé, und ich komme, so scheint es heute, nicht mehr zum Wort. Ist nicht alles wie ich’s sage; versetzte Friedrich, so belehrt uns eines bessern. Kommt herüber, kommt herüber! wir müssen sie se¬ hen und uns freuen. Lothario umarmte seinen Freund und führte ihn zu der Schwester, sie kam mit Theresen ihnen entgegen, alles schwieg. Nicht gezaudert, rief Friedrich, in zwey Tagen könnt ihr reisefertig seyn. Wie meint ihr Freund, fuhr er fort, indem er sich zu Wilhelmen wendete, als wir Bekanntschaft machten, als ich euch den schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß ihr je¬ mals eine solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet? Erinnern Sie mich nicht in diesem Augen¬ blicke des höchsten Glückes an jene Zeiten! Deren ihr euch nicht schämen sollet, so wenig man sich seiner Abkunft zu schämen hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe, du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand. Ich kenne den Werth eines Königreichs nicht, versetzte Wilhelm, aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte. Bei Johann Friedrich Unger sind folgende neue Werke zur Michae¬ lis-Messe 1796 fertig geworden. Beleuchtung, (nähere) des dem Freiherrn von Mack zugeschriebenen Operationsplans für den Feldzug 1794 des österr. franz. Krieges, freimüthig und wahr, 3ter und letzter Bd. gr. 8. mit Plane, l thl. 12 gr. Deutschland, fürs Jahr 1796. 6, 7, 8s Heft. Der Jahrgang aus 12 Stück bestehend 8. broschirt, kostet 5 thlr. Girtanners D. Christoph historische Nachrich¬ ten über die franz. Revolution. 8ter Bd. 8. Neue Aufl. Mit einem Plane der Thuil¬ lerien. 1 thl. 8 gr. Desselben 12ter Band. 8. l thl. 12. gr. Göthe’s neue Schriften. 6ter Band. 8. Desselben Wilhelm Meisters Lehrjahre. 4ter und letzter Band. 8. 2 thl. Handbuch der Staats-Wirthschaft, zum Ge¬ brauch akademischer Vorlesungen. Nach Adam Smiths Grundsätzen ausgearbeitet, von Georg Sartorius . 8. 20 gr. Hoffmann (des Herrn Geh. Rath von) einige kurze allgemeine Bemerkungen über den Staat, in Rücksicht seiner Aufnahme. 8. 6 gr. Herzensergießungen eines kunstliebenden Klo¬ sterbruders. Mit dem Bildniß Raphaels. 20 gr. Kochbuch (neuestes Berlinisches) oder Anwei¬ sung Speisen, Saucen und Gebackenes schmackhaft zuzurichten. 1r Band. Dritte Auflage. 12 gr. Oeuvres choisies de Mr de Florian recueillies á l’usage de la jeunesse. 8. 16 gr. Recueil de tous les Traités, Conventions, Mémoires et Notes, conclus et publiés par la Couronne de Danemarc depuis l’avène¬ ment au trône du roi régnant jusqu’ à l’époque actuelle, ou de l’année 1766 jus¬ qu’en 1794 inclusivement. gr. 8. 1 thl. 12. gr . 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