Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Herausgegeben von J. G. Herder . Dritte Sammlung. Riga, 1794. bei Johann Friedrich Hartknoch . 27. S ie fuͤrchten, daß man dem Wort Humani- taͤt einen Fleck anhaͤngen werde S. das Ende des vorigen Briefes. A. d. H. ; koͤnnten wir nicht das Wort aͤndern? Menschheit , Menschlichkeit , Menschenrechte , Menschenpflichten , Menschenwuͤr - de , Menschenliebe ? Menschen sind wir allesammt, und tragen sofern die Menschheit an uns, oder wir gehoͤren zur Menschheit . Lei- A 3 der aber hat man in unserer Sprache dem Wort Mensch , und noch mehr dem barm- herzigen Wort Menschlichkeit so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwaͤche und falschem Mitleid angehaͤngt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist. „ Der Mensch !“ Adelung hat sogar dem verbannenswuͤrdi- gen Ausdruck „ das Mensch “ einen langen Artikel einraͤumen muͤssen. A. d. H. sagen wir jammernd oder verachtend und glauben einen guten Mann aufs lindeste mit dem Ausdruck zu entschuldigen: „es habe ihn die Menschlichkeit uͤbereilet.“ Kein Vernuͤnftiger billigt es, daß man den Charakter des Geschlechts, zu dem wir ge- hoͤren, so barbarisch hinabgesetzt hat; man hat hiemit unweiser gehandelt, als wenn man den Namen seiner Stadt oder Lands- mannschaft zum Eckelnamen machte. Wir also wollen uns huͤten, daß wir zu Befoͤr- derung solcher Menschlichkeit keine Briefe schreiben. Der Name Menschenrechte kann ohne Menschenpflichten nicht genannt werden; beide beziehen sich auf einander, und fuͤr beide suchen wir Ein Wort. So auch Menschenwuͤrde und Men - schenliebe . Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch seyn wird, hat seinem groͤßesten Theil nach keine Wuͤrde; man darf es eher bemitlei- den, als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts , mit- hin auch zu dessen Werth und Wuͤrde gebildet werden. Das schoͤne Wort Men - schenliebe ist so trivial worden, daß man meistens die Menschen liebt, um keinen A 4 unter den Menschen wirksam zu lieben. Alle diese Worte enthalten Theilbegriffe unseres Zwecks, den wir gern mit Einem Ausdruck bezeichnen moͤchten. Also wollen wir bei dem Wort Hu - manitaͤt bleiben, an welches unter Al- ten und Neuern die besten Schriftsteller so wuͤrdige Begriffe geknuͤpft haben. Hu- manitaͤt ist der Charakter unsres Ge - schlechts ; er ist uns aber nur in Anla- gen angebohren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Uebungen, unser Werth seyn: denn eine Angelitaͤt im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Daͤmon, der uns regiert, kein humaner Daͤmon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Goͤttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanitaͤt ; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Kuͤnstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Be- obachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitge- holfen. Humanitaͤt ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemuͤhungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlech - tes . Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablaͤßig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, hoͤhere und niedere Staͤnde, zur rohen Thierheit, zur Brutalitaͤt zuruͤck. Sollte das Wort Humanitaͤt also un- sre Sprache verunzieren? Alle gebildete Nationen haben es in ihre Mundart auf- genommen; und wenn unsre Briefe einem Fremden in die Hand kaͤmen, muͤßten sie A 5 ihm wenigstens unverfaͤnglich scheinen: denn Briefe zu Befoͤrderung der Brutalitaͤt wird doch kein Ehrliebender Mensch wollen geschrieben haben. 28. G ern nehme ich mit Ihnen das Wort Humanitaͤt in unsre Sprache, wenig- stens im Kreise unsrer Gesellschaft auf; der Begriff, den es ausdruͤckt, noch mehr aber dessen Geschichte scheint ihm das Buͤrgerrecht zu geben. So lange der Mensch, dies wunderbare Raͤthsel der Schoͤpfung, sich seinem sichtba- ren Zustande nach betrachtete, und sich da- bei mit dem was in ihm lag, mit seinen Anlagen und Willenskraͤften oder gar mit aͤußern Gegenstaͤnden der daurenden Na- tur verglich, so ward er auf das Gefuͤhl der Hinfaͤlligkeit , der Schwaͤche und Krankheit zuruͤckgestoßen; daher in meh- reren morgenlaͤndischen Schriften dieser Begriff dem Namen unsres Geschlechts urspruͤnglich beigesellet ist. Der Mensch ist von Erde , eine zerbrechliche , von einem fluͤchtigen Othem durchhauchte Leim - huͤtte ; sein Leben ist ein Schatte , sein Loos ist Muͤhe auf Erden . Schon dieser Begriff fuͤhrte zur Menschlichkeit , d. i. zum erbarmenden Mitgefuͤhl des Leidens seiner Nebenmen- schen, zur Theilnahme an den Unvollkom- menheiten ihrer Natur, mit dem Bestre- ben, diesen zuvorzukommen oder ihnen ab- zuhelfen. Die Morgenlaͤnder sind so reich an Sittenspruͤchen und Einkleidungen, die dies Menschengefuͤhl als Pflicht einschaͤr- fen oder als eine unserm Geschlecht unent- behrliche Tugend empfehlen, daß es sehr ungerecht waͤre, ihnen Humanitaͤt abzu- sprechen, weil sie dies Wort nicht be- saßen. Die Griechen hatten fuͤr den Menschen einen edleren Namen: ανϑϱωπος ein Auf - waͤrtsblickender , der sein Antlitz und Auge aufrecht empor traͤgt, oder wie Plato es noch kuͤnstlicher deutet, Einer, der, in- dem er sieht, auch uͤberzaͤhlt und rechnet. Sie konnten indessen eben so wenig um- hin, in diesem aufrechtblickenden, Vernunft- artigen Geschlecht alle die Maͤngel zu be- merken, die zum bedaurenden Mitgefuͤhl, also zur Humanitaͤt und zur Gesellung fuͤhren. In Homer und allen ihren Dich- tern kommen die zaͤrtlichsten Klagen uͤber das Loos der Menschheit vor. Erinnern Sie sich der Worte Apolls, wenn er die armen Sterblichen beschreibt, — Wie sie, gleich den Blaͤttern des Baums, jetzt gruͤnen und frisch sind, Von den Fruͤchten der Erde sich naͤhrend; dann aber in Kurzem Welken und fallen entseelet dahin — Oder wenn Jupiter selbst die unsterb- lichen Rosse Achills bedauret, die um ih- ren Gebieter trauren: — Er sprach im Innern der Seele: Arme, warum doch gaben wir euch dem Koͤnige Peleus, Einem Sterblichen, Euch, die niemals altern und sterben? Wars, mit den ungluͤckseligen Menschen euch leiden zu sehen? Denn elender ist nirgend ein Wesen, als es der Mensch ist; Keines von allen, die uͤber der Erde sich regen und athmen. — In demselben Ton singen ihre lyrische Dichter. Naͤchst der Selbsterhaltung ward es al- so die erste Pflicht der Menschheit, den Schwaͤchen unserer Nebengeschoͤpfe beizu- springen und sie gegen die Uebel der Na- tur oder die rohen Leidenschaften ihres eig- nen Geschlechts in Schutz zu nehmen. Dahin ging die Sorge ihrer Gesetzgeber und Weisen, daß sie in Worten und Ge- braͤuchen den Menschen diese unentbehrli- chen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmen- schen anempfahlen, und dadurch das aͤlteste Menschen - und Voͤlkerrecht gruͤnde- ten. Religion wars, vom Morde sich zu enthalten, dem Schwachen beizuspringen, dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen, des Verwundeten zu pflegen, den Todten zu begraben. In Religion wurden die Pflichten des Ehebundes, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, des Einheimischen gegen die Fremden ein- gehuͤllet, und allmaͤlig dies Erbarmen auch auf Feinde verbreitet Heyne hat diesen Zweck alter griechischer Institute in mehreren seiner opuscul. aca- demic. vortreflich gezeiget. A. d. H. . Was Poesie, und Gesetzgebende Weisheit begonnen hatten, entwickelte die Philosophie endlich; und wir haben es insonderheit der Sokratischen Schule zu danken, daß in Form so man- nichfaltiger Lehrgebaͤude die Kenntniß der Natur des Menschen , seiner wesentlichen Beziehungen und Pflichten das Studium der erlesensten Geister ward. Was Sokrates bei den Griechen that, brachten bei andern Voͤl- kern Andre zu Stande; Confucius z. B. ist der Sokrates der Sineser, Menu der Indier worden; denn uͤberhaupt sind die Gesetze der Menschenpflicht keinem Volk der der Erde unbekannt geblieben. In jeder Staatsverfassung aber hat sie nach Lage und Zeit das sogenannte Beduͤrfniß des Staats Theils befoͤrdert, Theils aufgehalten und verderbet. Unter den Roͤmern also, denen das Wort Humanitaͤt eigentlich gehoͤrt, fand der Begriff Anlaß gnug, sich bestimmter auszubilden. Rom hatte harte Gesetze ge- gen Knechte, Kinder, Fremde, Feinde; die obern Staͤnde hatten Rechte gegen das Volk, u. f. Wer diese Rechte mit groͤße- ster Strenge verfolgte, konnte gerecht seyn, er war aber dabei nicht mensch - lich . Der Edle, der von diesen Rechten, wo sie unbillig waren, von selbst nachließ, der gegen Kinder, Sklaven, Niedre, Frem- de, Feinde nicht als Roͤmischer Buͤrger oder Patricier, sondern als Mensch handelte, der war humanus, humanissimus, nicht etwa in Dritte Samml. B Gespraͤchen nur und in der Gesellschaft, sondern auch in Geschaͤften, in haͤuslichen Sitten, in der ganzen Handlungsweise. Und da hiezu das Studium und die Liebe der griechischen Weltweisheit viel that, daß sie den rauhen, strengen Roͤmer nachgebend, sanft, gefaͤllig, billigdenkend machte, konnte den bildenden Wissenschaften ein schoͤnerer Name gegeben werden, als daß man sie menschliche Wissenschaften nannte? Gewiß war von ihnen die Philosophie nicht ausgeschlossen Ernesti Rede de humanitatis disciplina ist hieruͤber bekannt. A. d. H. ; vielmehr war sie dieser bildenden Wissenschaften Erzieherinn und Gesellinn, bald ihre Mutter, bald ihre Tochter gewesen. Da bei den Roͤmern also die Huma - nitaͤt zuerst als eine Bezaͤhmerinn harter buͤrgerlicher Gesetze und Rechte, als die ei- gentliche Tochter der Philosophie und bil- denden Wissenschaften einen Namen ge- wonnen hat, der sich mit diesen nachher weiter vererbte: so lassen Sie uns ja Na- men und Sache ehren. Auch in den aber- glaͤubigsten, dunkelsten Zeiten erinnerte der Name humaniora an den ernsten und schoͤ- nen Zweck, den die Wissenschaften befoͤr- dern sollten; diesen wollen wir, da wir menschliche Wissenschaften doch nicht wohl sagen koͤnnen, mit und ohne dem Wort Humanitaͤt, nie vergessen, nie auf- geben. Wir beduͤrfen dessen eben so wohl als die Roͤmer. Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die Geschichte; es kam eine Zeit, da das Wort Mensch (homo) einen ganz andern Sinn bekam, es hieß ein Pflichttraͤger , ein Unterthan , ein Vasall , ein Die - B 2 ner Daher noch der Ausdruck: er ist ein homo! Du homo! „u. f.“ A. d. H. . Wer dies nicht war, der genoß keines Rechts, der war seines Lebens nicht sicher; und die, denen jene dienende Men- schen zugehoͤrten, waren Uebermen - schen . Der Eid, den man ihnen ablegte, hieß Menschenpflicht (homagium) und wer ein freier Mann seyn wollte, mußte durch den Mann - Rechtsbrief bewei- sen, daß er kein homo, kein Mensch sei. Wundern Sie sich nun, daß dem Wort Mensch in unsrer Sprache ein so niedriger Begriff anklebt? seiner Abstammung selbst heißt es ja nichts anders als ein verachte- ter Mann, Mennisk', ein Maͤnnlein Weder Wachter noch Adelung haben diesen Ursprung der Endung im Wort Men- nisk bemerkt; er scheint aber der wahre: denn wenn man das Wort Mensch nach . Auch Leute , Leutlein wurden nur als Anhaͤngsel des Landes betrachtet, das sie bebauen mußten, auf welchem sie starben. Der Fuͤrst, der Edle war Herr und Eigen- thuͤmer uͤber Land und Leute; und seine Seckeltraͤger, Canzlisten, Capellane, Vasal- len und Clienten waren homines, Men - schen oder Menschlein , mit mancher- lei Nebenbestimmungen, die ihnen blos das Verhaͤltniß gab, nach welchem sie Ihm angehoͤrten S. hieruͤber Du Fresne Glossar. artic. Homo : Homines denariales, chartularii, fiscales, ecclesiastici, de corpore, pertinen- tes, commendati, casati, feudales, exerci- tales, ligii, de manu mortua, de suis ma- nibus, de manupastu etc. . Lassen Sie uns ja zum Niedersaͤchsischer, d. i. der alten und aͤchten Art ausspricht, so heißt es Mens -ch (Mensk) d. i. ein elender unbewehrter Mann, ein Maͤnnlein. A. d. H. B 3 Begriff der Humanitaͤt bei Griechen und Roͤmern uͤbergehen: denn bei diesem bar- barischen Menschenrecht wird uns angst und bange. 29. D as Hauptgut wollen wir ja nicht ver- gessen, das uns die tiefere Betrachtung der Menschennatur fuͤr alle Zeiten erwor- ben hat; es ist die Erkenntniß unsrer Kraͤfte und Anlagen , unsres Be - rufes und unsrer Pflicht . Eben in dem, wodurch der Mensch von Thieren sich unterscheidet, liegt sein Charakter, sein Adel, seine Bestimmung; er kann sich da- von so wenig als von der Menschheit selbst lossagen. Dies ist das wahre studi- um humanitatis, in welchem uns Griechen und Roͤmer vortreflich vorgegangen sind; Schande, wenn wir ihnen nachbleiben wollten! B 4 Der Mensch hat einen Willen, er ist des Gesetzes faͤhig: seine Vernunft ist ihm Gesetz. Ein heiliges, unverbruͤchliches Ge- setz, dem er sich nie entziehen darf, dem er sich nie entziehen soll. Er ist nicht etwa nur ein mechanisches Glied der Naturkette; sondern der Geist, der die Natur beherrscht, ist Theilweise in ihm. Jener soll er fol- gen; die Dinge um ihn her, insonderheit seine eigne Handlungen soll er dem allge- meinen Principium der Welt gemaͤß anord- nen. Hierinn ist er keinem Zwange unter- worfen, ja er ist keines Zwanges faͤhig. Er constituiret sich selbst; er constituirt mit andern ihm Gleichgesinnten nach heiligen, unverbruͤchlichen Gesetzen eine Gesellschaft. Nach solchen ist er Freund, Buͤrger, Ehe- mann, Vater; Mitbuͤrger endlich der gro- ßen Stadt Gottes auf Erden, die nur Ein Gesetz, Ein Daͤmon, der Geist einer allgemeinen Vernunft und Huma - nitaͤt beherrschet, ordnet, lenket. Doch warum spreche ich? und lasse nicht lieber den menschenfreundlichen Kaiser spre- chen, der in seinen Betrachtungen uͤber sich selbst mehr als in seiner Sta- tue vor dem Capitol als Gesetzgeber der Welt dem Menschengeschlecht sanftmuͤthig- groß gebietet. Mark-Antonin uͤber sich selbst. „Von Apollonius habe ich gelernt, frei zu seyn, und ohne Wankelmuth unbeweglich; auf nichts anders, auch mit dem kleinsten Seitenblick hinzusehen, als auf die Ver- nunft; immer Derselbe zu seyn, unter den heftigsten Schmerzen, beym Verlust eines Kindes, in langwierigen Krankheiten. Wie in einem lebendigen Muster habe ich an ihm deutlich ersehen, wie Derselbe Mann B 5 sehr strenge und doch auch nachgebend seyn koͤnne. Ich habe von ihm gelernt, wie man von Freunden sogenannte Gefaͤlligkei- ten annehmen koͤnne, daß man ihnen we- der verhaftet werde, noch solche Gefuͤhllos zuruͤckweisen duͤrfe.“ „Vom Sextus lernte ich Wohlwollen; ich empfing das Muster einer vaͤterlichen Hausverwaltung, und den Sinn, nach der Natur zu leben. Ich lernte, ernst seyn ohne Steifheit, mich in Freunde schicken ohne Laune, Unwissende und vom Wahn Ge- leitete dulden. An ihm sah ich, was Ge- faͤlligkeit gegen Jedermann sey: denn sein Umgang war angenehmer als alle Schmei- chelei, und doch blieb er zu eben der Zeit bei allen in Achtung.“ „Von meinem Bruder Severus lernte ich Verwandte, Recht und Wahrheit lie- ben. Durch ihn lernte ich einen Thrasea , Helvidius , Cato , Dion und Bru - tus kennen: ich empfing die Idee eines Staats, der nach gleichen Gesetzen und Rechten verwaltet wird, einer Regierung, die der Freiheit ihrer Unterthanen die hoͤch- ste Achtung erweiset. Von ihm lernte ich standhaft und ohne Scheu die Philosophie hochschaͤtzen, gutthaͤtig seyn auf die beste reichste Weise, jederzeit das Beste hoffen, und auf die Liebe der Freunde trauen; es ihnen gestehen, worinn man mit ihnen un- zufrieden sei; was man wolle oder nicht wolle, sie nicht errathen lassen, sondern es ihnen klar sagen.“ „Haben wir den Verstand mit einan- der gemein, so ist uns auch die Vernunft gemein, durch die wir vernuͤnftig sind. Ist dieses: so ist uns auch die Vernunft gemein, die vorschreibt, was wir zu thun und nicht zu thun haben. Ist dies, so haben wir auch ein gemeinschaftliches Ge- setz. Ist das, so sind wir Buͤrger und nehmen an Einem gemeinschaftlichen Staate Theil. Dieser Staat ist die Welt: denn was fuͤr einen andern Staat koͤnnte je- mand nennen, an dem das ganze Menschen- geschlecht Theil nehme? Aus diesem ge- meinschaftlichen Staat also haben wir alle denselben Verstand, dieselbe Vernunft, die- selbe Gesetzgebende Vernunft: denn woher haͤtten wir sie sonst? Wie das Irrdische an mir, das Feuchte, das Luftige, das Feurige jedes aus der Quelle seines Ele- ments kommt, und dahin gehoͤret: so muß auch der Verstand irgend woher seyn und dazu gehoͤren.“ „Was Dir fuͤglich ist, o Weltall, ist auch mir bequem. Nichts kommt mir zu fruͤhe, nichts zu spaͤt, was dir recht ist. Alles ist mir Frucht, o Natur, was Deine Horen mir bringen. Aus dir kommt alles, in dir ist alles, in dich kehrt alles zuruͤck. Wenn jener sagte: o du geliebte Ce - crops - Stadt , sollte ich nicht sagen: o du geliebte Gottes - Stadt !“ „Der Geist des Weltalls ist ein Ge- meinheit-Stifter. Das Schlechtere hat er des Bessern wegen hervorgebracht, das Bes- sere harmonisch zu einander geordnet. Du siehest, wie er unter-wie er zusammenord- nete, wie er jedem Dinge nach Wuͤrde das seinige zutheilte, und die edelsten Wesen zum einstimmigen Wohlwollen , zum Gleichsinn gegen einander verknuͤpft hat.“ „Stehest du des Morgens ungern auf, so ermuntere dich mit dem Gedanken: ich erwache zum Werk des Menschen ! Sollte ich mit Unwillen dran gehen, Das zu thun, deßhalb ich gebohren, dazu ich in die Welt kommen bin? „Die Ruhe ist aber angenehm.“ Bist du zum Genießen geboh- ren? oder nicht vielmehr zum Thun, zum Wirken? Siehest du nicht, wie Gewaͤchse, Voͤgel, Ameisen, Spinnen, Bienen die Welt auf ihrem Platze mitzieren? und du, ein Mensch, wolltest deinen Menschenberuf nicht erfuͤllen? Du eilst nicht zu dem, was deine Natur von dir fodert? Du liebst dich also nicht selbst, da du deine Natur, und ihr Ge- setz nicht liebest. Andre, die ihre Kunst lie- ben, zehren sich in Ausuͤbung derselben ab, sie vergessen Speise und Trank; du aber schaͤtzest deine Menschennatur geringer, als der Drechsler die Drehekunst, der Taͤnzer die Tanzkunst, der Geizige das Geld, der Ehr- suͤchtige ein wenig Ehre. Scheinen Dir Ar- beiten zum gemeinen Wohlseyn zu ge- ringe, als daß sie gleichen Fleißes beduͤrf- ten?“ „Siehe zu, daß du nicht verkaisert werdest: nimm die Tinctur nicht an. Denn das geschieht leicht! Erhalte dich einfach, gut, unverfaͤlscht, ernsthaft, Prachtlos, Rechtliebend, Gottverehrend, sanftmuͤthig, liebend die Deinigen, tapfer zu jedem wohl- anstaͤndigen Werk. Kaͤmpfe, daß du Der bleibest, zu dem dich die Philosophie machen wollte. Verehre die Goͤtter, erhalte die Men- schen. Kurz ist das Leben; und es giebt nur Eine Frucht des irrdischen Lebens: ein heili- ges Gemuͤth und zum Wohl der Gesellschaft dienende Werke.“ „Glaube nicht, daß wenn dir etwas schwer duͤnkt, es dem Menschen unmoͤg- lich sey; und was dem Menschen je moͤglich war, das halte auch dir moͤglich.“ „Gegen unvernuͤnftige Thiere, uͤberhaupt auch bei allen vorkommenden Vernunftlosen Dingen und Geschaͤften betrage dich als ei- ner, der Vernunft hat, großmuͤthig und frei. Gegen Menschen aber, als gegen vernuͤnf- tige Wesen, betrage dich mit gemeinschaftli- cher, geselliger Vernunft.“ „Die Menschen sind um einander willen da. Belehre sie also, oder ertrage sie.“ „Fange endlich einmal an ein Mensch zu seyn; huͤte dich aber eben so wohl, den Men- schen zu schmeicheln, als uͤber sie zu zuͤrnen. Beides ist wider die Pflicht der Gesellschaft; beides ist schaͤdlich.“ „Welche Macht und Wuͤrde hat der Mensch! Nichts zu thun, als was die Gott- heit selbst billigen wuͤrde; und alles aufzu- nehmen, was ihm Gott anweiset.“ „Mensch! Du warest in diesem großen Staate Gottes ein Mitbuͤrger; was kuͤm- mert es dich, daß du es nur fuͤnf Jahre lang warest? Was nach Gesetzen geschieht, thut Niemandem unrecht. Was ist denn Schreck- liches liches darinn, daß dich nicht ein Tyrann, noch ein ungerechter Richter sondern die Na- tur wegruft, die dich in diesen Staat ein- fuͤhrte? eben wie den Schauspieler, den der Praͤtor dung, der Praͤtor auch von der Schaubuͤhne entlaͤßt. — „Aber die fuͤnf Acte des Stuͤcks sind von mir noch nicht geendet; sondern nur drei. „Wohl! Im Leben sind drei Acte auch ein Stuͤck. Was ein Ganzes seyn soll, bestimmet der, der einst Compositeur, jetzt Aufloͤser des Spiels ist. Du bist keins von beiden. Geh' also zufrie- den fort; auch Er entlaͤßt dich zufrieden.“ — So spricht Mark-Antonin auf allen Blaͤttern. Wir wollen nicht sagen: „Hei- liger bitte fuͤr uns; sondern: menschlicher Kaiser , sei uns ein Muster .“ Dritte Samml. C 30. W er vermag die Wuͤrde von solchen Dingen, dem Geiste Ihrer Erfindung gemaͤß, ein Lied zu dichten? Und wer hat Kraft im Busen, und Worte der Zunge, zu stroͤmen ein Loblied Jenem vortreflichen Mann, der solche Schaͤtze der Wahrheit, Die sich sein Herz erworben, uns zum Ge- schenke gelaßen? Moͤcht' es auch einer wagen, von sterblichem Blute gebohren? Wenn der Dinge Gewicht, die sein hoher Geist uns entdeckt hat, Ihren vortreflichen Werth wir bedenken, so war er ein Gott uns, Ja ein Gott wars, ruhmvoller Memmius! welcher zuerst uns Jenen erhabenen Weg des Lebens gezeiget, den jetzt wir Weisheit nennen; und der, durch ihre Huͤlfe, das Leben Aus dem Dunkel der Nacht, aus wogenden Fluthen gerettet, Und in den friedlichen Port, in klares Licht es gestellt hat. Nimm die Erfindungen andrer, die man fuͤr goͤttlich erkannt hat; Ceres pflanzte die Aehren; es lehrte die Sterb- lichen Bacchus Den gekelterten Most aus der Rebe druͤcken; da dennoch Ohne Gebrauch von diesen Dingen das Leben bestehn mag, Wie mans an Voͤlkern ersieht, die jetzt noch ihrer entbehren. Ist die Brust dir nicht rein, so suchst du ver- gebens ein Gluͤck dir, C 2 Denkest umsonst an Lebensgenuß. Drum scheint er ein Gott uns, Und mit mehrerem Recht als jene, von dem in die Herzen Aller Voͤlker so suͤßer Trost fuͤr das Leben geflossen. Sollte dir aber duͤnken, es gingen des Herkules Thaten Diesen weit noch voran, so wuͤrdest du groͤ- ber dich irren: Denn was hat des Nemaͤischen Loͤwen gefuͤrch- teter Rachen Schreckbares jetzt fuͤr uns? und der Zahn des arkadischen Keilers? Was aus Kreta der Stier? was des lernaͤi- schen Sumpfes Giftige Pest, die Hydra, mit zischenden Nat- tern umguͤrtet? Was kann die Riesenbrust des dreifachen Geryon, was die Rosse, die Flammen schnauben, die uͤber Thra- ciens Felder Auf die Bistonischen Fluren und auf die Frucht- reichen Saaten, Wo sich Ismarus hebt, Tod brachten und wil- des Verderben? Wodurch moͤchten der Stymphaliden gebogene Krallen Uns noch fuͤrchterlich werden? wodurch der hesperische Drache, Der um den Baum gewunden in ungeheuren Kreisen, Tod aus den Augen blitzend, die goldenen Aep- fel bewachet? Was moͤcht' dieser uns schaden an seiner at- lantischen Kuͤste, An dem unwirthbaren Ufer, wo keiner von uns den Fuß hin- Setzet, das der Barbar selbst zu betreten sich scheuet. Also verhaͤlt es sich auch mit den uͤbrigen Abentheuern. Haͤtte sie keiner bestanden, wer moͤchte sie jetzt noch bestehen? C 3 Niemand, wie ich glaube. Was sollten sie Schaden uns bringen? Noch ist voll die Welt von Ungeheuern, es herrschet Noch in den Thaͤlern, den Waͤldern, den tiefen Kluͤften der Berge Raubbegierige Wut; allein was gehet sie uns an? Aber welche Gefahr, und welche toͤdtende Zwietracht Schleicht sich in eine Brust, die von Leiden- schaften nicht rein ist! Wie zerfleischen das Herz die aͤngstlichen, scharfen Begierden! Wie zernaget die Sorge den Menschen! wie quaͤlet die Furcht ihn! Welche Verwuͤstungen richtet der Stolz nicht an, und die Geilheit, Und der Uebermuth, das Prassen, die niedrige Faulheit! Alles dieses hat Er, mit Waffen nicht, aber mit Worten, Tief aus dem Herzen hinweggeraͤumet und sel- ber gebaͤndigt; Und ihm gebuͤhrete nicht der Dank, der Goͤt- tern gebuͤhret? Ihm, dem Manne, der selbst mit Goͤtterzunge von ihnen Oft gesprochen und ganz der Dinge Natur uns enthuͤllt hat. Auf die Spuren von seinem Pfade tret' ich — So pries ein Roͤmischer Dichter, Lu - krez , Einen seiner Lieblinge der Vorwelt, und er hat mehrere derselben als Genien unsres Geschlechts, als Goͤtter und Sterne an den Himmel gesetzt, weil sie Lebens - weisheit und Humanitaͤt unter den Menschen gegruͤndet oder befoͤrdert haben. Keiner seiner edeln Mitbuͤrger ist ihm hie- bei in Wort und That nachgeblieben. C 4 Viele Oden des Horaz, noch mehr aber seine Sermonen und sogenannte Satyren sind feine Bearbeitungen der Mensch - heit ; sie haben alle, wenigstens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge- bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Person, dieser Staͤnde nach dem Richtmaas des Wahren und Guten, des Anstaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen. Persius, Juvenal, Lucan und andre wir- ken dahin, jeder nach seiner Weise; vor allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann, seine Gesaͤnge mit einem zarten Druck der Menschenliebe. Unmoͤglich ists, daß ein Mann oder Juͤngling, dem das Innere dieser Heiligthuͤmer aufgeschlossen wird, sein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es ist, als ob jenen großen Autoren die Menschheit reiner vorstand, oder als ob sie mehr Kraft gehabt haͤtten, auch unter allen Unarten der Zeit, ihre wahre Gestalt lebhafter an- zuerkennen, staͤrker und reiner zu schildern; wozu denn, nebst vielem andern, auch ihre Sprache und der Begriff beitrug, den sie sich von Poesie machten. Doch nicht bei Poesie allein blieb diese Bildung stehen; Trotz alles Harten und Druͤckenden zeigt sie sich auch in der Roͤ - mischen Geschichte . Man lese im Cor - nelius des Atticus, in Sallust Catili- na's, in Tacitus Agrikola's Leben, vor allen aber den letzten, den wegen seiner dunkeln Haͤrte so beruͤchtigten Tacitus ; und man muͤßte ein entschiedner Barbar seyn, wenn man in ihnen die tiefen Zuͤge aͤchter Humanitaͤt nicht bemerkte. Tacitus beschreibt die Graͤuelvollsten Zeiten, die lasterhaftsten Charaktere; er deckt einen C 5 Abgrund von Sitten und einer Regierungs- form auf, vor dem man schaudert; zeige man in ihm aber ein einziges Gemaͤhlde solcher Unthaten und verderbten Seelen, das er nicht in das Licht gestellt haͤtte, dahin es gehoͤret! Livia, Tiber, Sejan, Caligula, Claudius, und wie die Unmen- schen weiter heissen; gegentheils jede unter- druͤckte Sprosse des Guten, die sich auf diesem abscheulichen Boden zeigte, alle sind von ihm, wenn auch nur mit Einem Wort, in Einem Zuge, dem unpartheiischen Mit- oder Gegengefuͤhl nahe gebracht; sie stehen auf ewig in der Classe menschlicher , halb - und unmenschlicher Wesen , wo sie stehen sollten. Wer uns keine Um- schreibung, sondern eine Uebersetzung die- ses Geschichtschreibers ganz in seinen Um- rissen, in seiner Physiognomie gaͤbe, koͤnnte nicht anders, als den Sinn der Mensch - heit auch fuͤr unsre Zeit tausendfach er- wecken und bilden. Lassen Sie uns also glauben, daß Jung und Alt in beiden Geschlechtern, wenn es die Schriften der Alten in ihrem Geist lie- set, nicht anders als zur Humanitaͤt bear- beitet werden koͤnne. Die barbarische Rin- de des Herkommens, die uns von aussen angesetzt ist, muß einigermaaßen gebrochen werden, wenn wir andre Menschen zu ei- ner andern aͤußerst verderbten Zeit maͤnn- licher denken, wuͤrdiger sprechen hoͤren. Wir werden, aus unserm Todesschlafe ge- weckt, und lernen in strengern Umrissen kennen: Quid sumus, aut quidnam victuri gignimur, ordo quis datus, aut metae quam mollis flexus, et unde, quis modus argento, quid fas optare, quid asper utile nummus habet, patriae carisque pro- pinquis quantum elargiri deceat, quem te Deus esse iussit et humana qua parte locatus es in re — Discite, o miseri, et caussas cognoscite re- rum. 31. D ie Griechen hatten das Wort Humani- taͤt nicht; seit aber Orpheus sie durch den Klang seiner Leyer aus Thieren zu Men- schen gemacht hatte, war der Begrif die- ses Worts die Kunst ihrer Musen . Ich bin weit entfernt, die Griechischen Sitten und Verfassungen zu jeder Zeit und allenthalben als Muster zu preisen; das kann indessen nicht gelaͤugnet werden, daß das emollit mores nec sinit esse feros mittelbar oder unmittelbar der Endzweck gewesen, auf den ihre edelsten Dichter, Gesetzgeber und Weise wirkten. Von Ho- mer bis auf Plutarch und Longin ist ihren be- sten Schriften bei einer großen Bestimmtheit der Begriffe eine so reizende Cultur der Seele eingepraͤget, daß, wie sich an ihnen die Roͤmer bildeten, sie auch uns kaum ungebildet lassen moͤgen. Einzelne Blaͤtter, die mir uͤber die Humanitaͤt einiger Griechischen Dichter und Philosophen in die Haͤnde gekommen sind, sollen Ihnen zu einer andern Zeit zukommen; jetzt bemerke ich nur, daß wenn in spaͤtern Zeiten bei irgend einem Schriftsteller, er sei Geschaͤfts- mann, Arzt, Theolog oder Rechtslehrer, eine feinere, ich moͤchte sagen, classische Bildung sich aͤußerte, diese meistens auch auf classischem Boden, in der Schule der Griechen und Roͤmer erworben, der Sproͤß- ling ihres Geistes gewesen. Wie die Grie- chische Kunst unuͤbertroffen, und in Absicht der Reinheit ihrer Umrisse, des Großen, Schoͤnen und Edlen ihrer Gestalten, allen Zeiten das Muster geblieben: fast also ists auch, Weniges ausgenommen, mit den Vorstellungsarten des menschlichen Geistes. Was wir kraus sagen und verwickelt den- ken, gaben sie hell und rein an den Tag; ein kleiner Satz, eine schlichtvorgetragene Erfahrung enthaͤlt bei ihnen, wenn mans zu finden weiß, oft mehr als unsre verworrenste Deductionen, die Probleme neuere Staats- kunst verwickelt vortraͤgt, sind in der Grie- chischen Geschichte hell und klar auseinan- dergesetzt, und durch die Erfahrung laͤngst entschieden. Die Kritik des Geschmacks endlich, ja die reinste Philosophie des Le- bens, woher stammen sie als von den Grie chen? In den schoͤnsten Seelen dieser Na- tion bildeten sie sich; hie und da hat sich ihr Geist schwesterlichen Seelen mitgetheilet. So lange uns also die Griechen nicht ge- raubt, und da sie bisher dem Sturz der Zeiten, der Vertilgung wilder Barbaren und Schwaͤrmer entronnen sind, wird wahre Humanitaͤt nie von der Erde vertilgt werden. Immer wird mir wohl, wenn ich auch in unsern Zeiten einen reinen Nachklang der Weisheit Griechischer und Roͤmischer Mu- sen hoͤre. Eine Ausgabe, eine Uebersetzung, eine wahre Erlaͤuterung dieses oder jenes Dichters, Philosophen und Geschichtschrei- bers halte ich fuͤr ein Bruchstuͤck des gro- ßen Gebaͤudes der Bildung unsres Ge- schlechts fuͤr unsre und die zukuͤnftige Zei- ten. Eine verstaͤndige Stimme, die uͤber unsre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung spricht, ist mir mehr, als ob ein Barde weissagte. 32. A us Ihren Briefen, meine Freunde, ziehe ich mir folgendes: 1. Das weiche Mitgefuͤhl mit den Schwaͤchen unsres Geschlechts, das wir gewoͤhnlicher Weise Menschlichkeit nen- nen, macht die ganze Humanitaͤt nicht aus. Zu rechter Zeit, am rechten Ort ziert es den Menschen allerdings; da Sympathie in reinem Verstande, d. i. eine lebhafte, schnelle Versetzung in den Zustand des Fehlenden, Irrenden, Leidenden, Gequaͤl- ten, der zarteste Kitt der Vereinigung aͤhn- licher Geschoͤpfe, und unter Menschen das lindeste Band ihrer Verbindung ist. Nichts Dritte Samml. D stoͤßt mehr zuruͤck, als Gefuͤhllose, stolze Haͤrte. Ein Betragen, als ob man hoͤhe- ren Stammes und ganz andrer, oder gar eigner Art sei, erbittert Jeden, und ziehet dem Uebermenschen das unvermeidliche Ue- bel zu, daß sein Herz ungebrochen, leer, und ungebildet bleibt, daß Jedermann zu- letzt ihn hasset oder verachtet. So nothwendig indessen eine menschli- che Lindigkeit und Milde gegen die Fehler und Leiden unsrer Nebengeschoͤpfe bleibt: so muß sie doch, wenn sie zu weich und ausschließend wird, den Charakter er- schlaffen, und kann eben dadurch die haͤr- teste Grausamkeit werden. Ohne Gerech- tigkeit bestehet Billigkeit nicht; eine Nach - sicht ohne Einsicht der Schwaͤchen und Fehler ist eine Verzaͤrtelung, die eiternde Wunden mit Rosen bedeckt, und eben da- durch Schmerzen und Gefahr mehrt. 2. Auch ist Humanitaͤt Ihnen nicht bloß jene leichte Geselligkeit , ein sanftes Zuvorkommen im Umgange , so viel Reize dies auch dem taͤglichen Leben ge- waͤhret. Vielmehr ist sie, subjectiv be- trachtet, 3. Ein Gefuͤhl der menschlichen Natur in ihrer Staͤrke und Schwaͤ - che , in Maͤngeln und Vollkommen - heiten , nicht ohne Thaͤtigkeit , nicht ohne Einsicht . Was zum Charakter un- sres Geschlechts gehoͤrt, jede moͤgliche Aus- bildung und Vervollkommung desselben, dies ist das Objekt, das der humane Mann vor sich hat, wornach er strebet, wozu er wir- ket. Da unser Geschlecht selbst aus sich machen muß, was aus ihm werden kann und soll: so darf keiner, der zu ihm gehoͤrt, dabei muͤssig bleiben. Er muß am Wohl und Weh des Ganzen Theil nehmen, und D 2 seinen Theil Vernunft, sein Pensum Thaͤ- tigkeit mit gutem Willen dem Genius sei- nes Geschlechts opfern. 4. Zum Besten der gesammten Mensch- heit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht , was aus ihm wer - den kann und soll ; jeder also muß den Garten der Humanitaͤt zuerst auf dem Beet, wo er als Baum gruͤnet, oder als Blume bluͤhet, pflegen und warten. Wir tragen alle ein Ideal in und mit uns, was Wir seyn sollten, und nicht sind; die Schlacken, die wir ablegen, die Form, die wir erlan- gen sollen, kennen wir alle. Und da, was wir werden sollen, wir nicht anders als durch uns und andre, von ihnen erlangend, auf sie wirkend, werden koͤnnen: so wird nothwendig unsre Humanitaͤt mit der Hu- manitaͤt andrer Eins, und unser ganzes Leben eine Schule, ein Uebungsplatz der- selben. Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist, was wohllautet, ist etwa eine Tu- gend, ist etwa ein Lob, dessen beflei- ßigt euch, sagt selbst ein Apostel. 5. Alle Einrichtungen der Menschen, alle Wissenschaften und Kuͤnste koͤnnen, wenn sie rechter Art sind, keinen andern Zweck haben, als uns zu humanisiren , d. i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum Menschen zu machen, und unserm Ge- schlecht zuerst in kleinen Theilen die Form zu geben, die die Vernunft billigt, die Pflicht fodert, nach der unser Beduͤrfniß strebet. Daß die Wissenschaften, die man humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib oder zu eitelm Putz ausgeartet sind, ist ein Mißbrauch, den schon ihr Name strafet. Urspruͤnglich war dies nicht also. Vollends D 3 Kuͤnste und Wissenschaften, die den ange- bohrnen Stolz, die freche Anmaaßung, das blinde Vorurtheil, die Unvernunft und Un- sittlichkeit staͤrken, verschleiern, schmuͤcken, beschoͤnen, sollte man brutalisirende Kuͤnste und Wissenschaften nennen, werth von Sklaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menschliche Thierheit ruhe. Es freuet mich, daß Sie den Dichter, der den unmenschlichen Achill besang, aus der Reihe humanisirender Weisen nicht ausschließen wollen; das Theater der Alten und ihre Gesetzgebung wird davon gewiß auch nicht ausgeschlossen seyn. Das Gemuͤth laͤutert, hebet und staͤrkt sich durch die Betrachtung: „wir sind Menschen. Nichts mehr, aber auch nichts minderes, als dieser Name saget.“ Nachschrift . Fragment eines Gespraͤches des Lords Shaftesburi. T heokles. Kann eine Freundschaft so heroisch seyn, als die gegen das mensch- liche Geschlecht? Halten Sie die Liebe ge- gen Freunde uͤberhaupt und gegen unser Vaterland fuͤr nichts? Oder glauben Sie, daß die besondre Freundschaft ohne sol- che erweiterte Neigung und ohne das Ge- D 4 fuͤhl der Verbindlichkeit gegen die Gesell- schaft bestehen koͤnne? Philokles . Daß man Verbindlich- keiten gegen das menschliche Geschlecht habe, wird niemand leugnen, der auf den Namen eines Freundes Anspruch macht. Schwerlich wuͤrde ich dem nur den Na- men Mensch zugestehen, der nie Jeman- den Freund genannt oder nie selbst Freund geheißen hat. Aber wer sich als ein wah- rer Freund bewaͤhrt, der ist Mensch ge- nug und wird es der Gesellschaft an sich nicht fehlen lassen. Fuͤr meine Person sehe ich so wenig Großes und Liebenswuͤrdiges an dem menschlichen Geschlecht, und habe eine so gleichguͤltige Meinung von dem großen Haufen der Gesellschaft, daß ich mir sehr wenig Vergnuͤgen von der Liebe zu beiden versprechen kann. Th. Rechnen Sie denn Guͤte und Dankbarkeit unter die Handlungen der Freundschaft und des Wohlwollens? Ph. Ohne Zweifel; sie sind ja die vor- nehmsten. Th. Gesetzt also der Verpflichtete ent- deckte Fehler an seinem Wohlthaͤter, wuͤrde dies jenen von seiner Dankbarkeit los- sprechen? Ph. Nicht im geringsten. Th. Oder macht es die Ausuͤbung der Dankbarkeit weniger angenehm? Ph. Mich duͤnkt vielmehr das Gegen- theil. Denn wenn mirs an allen andern Mitteln der Vergeltung fehlte, so wuͤrde ich mich freuen, wenigstens dadurch meine Dankbarkeit gegen meinen Wohl- thaͤter sicher zeigen zu koͤnnen, daß ich seine Fehler als ein Freund ertruͤge. D 5 Th. Und was die Guͤte betrift, sagen Sie mir, mein Freund, sollen wir denn blos denen Gutes thun, die es verdienen? Etwa bloß einem guten Nachbar oder Verwandten, einem guten Vater, Kinde oder Bruder? Oder lehrt Natur, Ver- nunft und Menschlichkeit uns nicht viel- mehr, einem Vater bloß weil er Vater, einem Kinde bloß weil es Kind ist, Gutes zu thun? Und so in jedem Verhaͤltniß des menschlichen Lebens. Ph. Ich glaube, das letzte ist das richtigste. Th. O Philokles! Bedenken Sie also, was Sie sagten, da Sie die Liebe gegen das menschliche Geschlecht der menschlichen Gebrechen wegen verwarfen, und den gro- ßen Haufen seines elenden Zustandes we- gen verachteten. Sehen Sie nun, ob diese Gesinnung mit der Menschlichkeit bestehen kann, die Sie sonst so hoch schaͤtzen und ausuͤben. Wo kann Edelmuth statt finden, wenn nicht hier? Wo koͤnnen wir je Freundschaft beweisen, wenn nicht an die- sem Hauptgegenstande derselben? Gegen wen werden wir treu und dankbar seyn, wenn nicht gegen das menschliche Geschlecht und gegen die Gesellschaft, welcher wir so stark verpflichtet sind? Welche Gebrechen oder Fehler koͤnnen eine solche Unterlassung entschuldigen, oder in einem dankbaren Herzen je das Vergnuͤgen vermindern, wel- ches aus liebevoller Erwiederung empfan- gener Wohlthaten entspringt? Koͤnnen Sie, bloß aus guter Lebensart, aus ei- nem natuͤrlichguten Temperament Vergnuͤ- gen daran finden, Hoͤflichkeit, Gefaͤlligkeit, Dienstfertigkeit zu beweisen, Gegenstaͤnde des Mitleidens selbst aufsuchen und wo es in Ihrer Macht steht, selbst Unbekannten dienen; kann es auch in fremden Laͤndern oder, wenns Auswaͤrtige betrifft, auch hier Sie entzuͤcken, allen die es beduͤrfen, auf die leutseligste, freundschaftlichste Art zu helfen, zu rathen, beizustehen; und sollte Ihr Vaterland oder was noch mehr ist, Ihr ganzes Geschlecht weniger Wohlwollen von Ihnen fodern koͤnnen, weniger Ach- tung von Ihnen verdienen, als Einer von jenen Gegenstaͤnden, die Ihnen von unge- faͤhr in den Wurf kommen? — Ph. Ich befuͤrchte, daß ich auf diese Art nie ein Freund oder Liebhaber werde. Eine Liebe gegen eine einzelne Person kann ich so ziemlich fassen; aber diese zusammen- gesetzte, allgemeine Art von Liebe, (ich ge- stehe es, Theokles,) ist mir zu hoch. Ich kann das Individuum, aber nicht die ganze Gattung, ich kann nichts lieben, wovon ich nicht irgend ein sinnliches Bild habe. Th. Wie, Philokles? Sie koͤnnten nie anders lieben, als auf diese Art? War Palaͤmons Charakter Ihnen gleich- guͤltig, da er Sie zu dem langen Brief- wechsel vermochte, der Ihrer neuerlichen persoͤnlichen Bekanntschaft voranging? Ph. Ich kann dies nicht laͤugnen; und jetzt, duͤnkt mich, verstehe ich Ihr Geheim- niß, und begreife wie ich mich dazu vor- bereiten muß. Denn eben wie ich damals als ich Palaͤmon zu lieben anfing, mich ge- noͤthigt sah, mir eine Art von materiellem Gegenstande zu bilden und immer ein sol- ches Bild im Kopf hatte, so oft ich an ihn dachte: eben so muß ichs in diesem Falle zu machen suchen — Th. Mich duͤnkt, Sie koͤnnten immer so viel Gefaͤlligkeit gegen das menschliche Geschlecht haben, als gegen die alten Roͤ- mer, in welche Sie, aller ihrer Fehler un- geachtet, doch immer verliebt gewesen sind, besonders unter der Vorstellung eines schoͤnen Juͤnglings, der Genius des Volks genannt. Ph. Waͤre mirs moͤglich, meiner Seele ein solches Bild einzudruͤcken, es moͤchte nun das menschliche Geschlecht oder die Natur bedeuten, so wuͤrde das ver- muthlich auf mich wirken, und mich zum Liebhaber nach Ihrer Art machen. Noch besser aber, wenn Sie es so veranstalten koͤnnten, daß die Liebe zwischen uns wech- selseitig wuͤrde; wenn Sie mich uͤberreden koͤnnten, zu glauben, dieser Genius sei nicht gleichguͤltig gegen meine Liebe und faͤhig sie zu erwiedern — Th. Gut! ich nehme die Bedingung an. Morgen, wenn die oͤstliche Sonne, wie die Dichter sagen, mit ihren ersten Stralen den Gipfel jenes Huͤgels vergol- det, dann wollen wir, wenns Ihnen be- liebt, mit Huͤlfe der Nymphen des Hains dieser unsrer Liebe nachspuͤren, erst den Genius des Orts anrufen, und dann ver- suchen, ob wir nicht wenigstens eines schwachen, fernen Anblicks des hoͤchsten Genius und der ersten Urschoͤnheit gewuͤrdigt werden. Sollte es Ihnen gluͤcken, nur Einmal diese zu sehen: so stehe ich da- fuͤr, alle jene widrige Zuͤge und Haͤßlich- keiten sowohl der Natur als des menschlichen Geschlechts werden Augenblicks verschwin- den. Ihr Herz wird ganz mit der Liebe erfuͤllt werden, die ich Ihnen wuͤnsche. So weit dies Gespraͤch. Wie Theo- kles seinen Zweck bewirkt habe, moͤgen Sie in der vortreflichen Rhapsodie: die Mo - ralisten beim edeln Shaftesburi selbst lesen Meiner Gesinnung nach ist es Eines der schoͤnsten Verdienste Spaldings , daß Er, zu jener Zeit 1745. in seiner Lage uns Shaftesburi's Moralisten bekannt machte. Mehr als dreißig Jahre nachher ist zuerst die Uebersetzung des ganzen Shaftes- buri gefolget. Shaftesburi philoso - phische Werke , Leipzig . 1776-79. A. d. H. . 33. M it Recht nennen Sie Shaftesburi einen edeln Schriftsteller; ob ihn gleich hie und da, sein Stand, ich moͤchte sagen, seine Lordschaft uͤbereilte. Sein zuwei- len Zwangvoller Styl, manche Spaͤsse, die er sich uͤber die Geistlichkeit erlaubte, sein Einfall, „Witz und Humor zum Pruͤfstein aller, auch der ernstesten Wahrheit zu ma- chen,“ haben Tadler und Widerleger gnug gefunden; uͤber seinen Kunst-Geschmack waͤre auch Manches zu sagen. Die bessere philosophische Seele aber, die in ihm wohnte, sein honestum und decorum in der Moral, hundert feine Bemerkungen uͤber Dritte Samml. E Grundsaͤtze, Sitten, Composition und Le- bensweise sind nach allem Tadel unwider- legt geblieben. Ich kann mir nicht vor- stellen, daß ein unbefangener honetter Mann diesen Schriftsteller ohne innige Ach- tung aus der Hand legen sollte; und fuͤr Juͤnglinge wuͤnschte ich in unsrer Sprache zum uͤbersetzten Shaftesburi eine Zugabe, „ wie Shaftesburi zu lesen und was in ihm zu berichtigen seyn moͤchte .“ Wie Leibnitz , so hielten Di - derot , Leßing , Mendelssohn , von diesem Virtuoso der Humanitaͤt viel; auf die besten Koͤpfe unsres Jahrhunderts, auf Maͤnner, die sich fuͤrs Wahre, Schoͤne und Gute mit entschiedner Redlichkeit bemuͤh- ten, hat er auszeichnend gewirket. Und doch, m. F. duͤnkt mir sein System der Moral unzureichend, sofern es sich bloß auf das decorum et honestum als auf ein Gefuͤhl gruͤndet. Es kommen starke Stel- len daruͤber, auch als Pflicht, als Gesetz betrachtet, in ihm vor; im Ganzen aber, scheint mirs, hat er, um seine Moral lie- benswuͤrdig zu machen, mit der menschli- chen Natur etwas zu sehr getaͤndelt. Hier muß man hinter allem doch endlich mit der Stoischen Philosophie zum alten Wort Gottes zuruͤckgehen: „ Du sollt ! du sollt nicht !“ sofern uns dies nicht Con- venienz, Geschmack und Vergnuͤgen, son- dern Pflicht und Vernunft vorhaͤlt. Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu Handen, wo mir zuerst folgende Stelle in die Augen fiel: Sei liebreich mit Vernunft; nur weise Huld ist aͤcht, Giebt Jedem was sie soll und kraͤnket keines Recht. E 2 Kein Schimmer aͤußrer Macht, kein Geld, das Sklaven ruͤhret, Haͤlt den Gerechten ab, zu thun was ihm gebuͤhret. Gleich feurig zu dem Schutz des Edlen als des Knechts, Ist er der treue Freund des menschlichen Geschlechts. Unfaͤhig zu der Kunst, die den Vertrag ver- drehet, Haͤlt er dem Fuͤrsten Wort, wie dem der nackend gehet; Bei ihm ist was du hast so sicher als bei dir, Das ihm geliehne Gut zieht er dem eignen fuͤr; Im kleinsten Werk getreu, verschwiegen bis zur Baare, Und zu des Freundes Dienst bereit bis zum Altare. Hoͤrt, Buͤrger der Natur, den Inhalt aller Pflicht: Lernt die Gerechtigkeit ! vergeßet Gottes nicht ! Gereitzt durch diese Stelle, schlug ich wei- ter zuruͤck und fand die Geschichte der Humanitaͤt so vorgetragen: Vernunft, der Gottheit Stral, der rohen Voͤl- kern schien, Hieß aus des Waldes Nacht sie in die Staͤdte ziehn; Gab Ordnung und Gesetz, schuf Menschen aus Barbaren, Gebot den Wilden selbst, Vertraͤge zu bewah- ren. Dies hob der Weisen Ruhm in Griechenland empor, Und rief aus Scythien den Anacharsis vor. So war der Menschheit Recht der Leitstern alter Weisen; Doch keiner wagte sich es andern anzuprei- sen — — Die Welt verdankt Dirs nie, unsterblicher Sokrat! Dein Fuß betrat zuerst den ungebahnten Pfad. E 3 Der alte Philosoph, vertieft in Zahl und Sternen, Erhielt von dir die Kunst, sich selbst be - schaun zu lernen . Es sah der Mensch das Licht, das laͤngst in ihm gebrannt, Und das, vom Wahn umwoͤlkt, nur Traͤgheit nicht erkannt. Da fuͤhlte sich Athen, und lernte Platons Lehren, Des Weisen von Stagyr, des Epiktets vereh- ren, Da tratest du auch auf, erhabner Epikur, Der Tugend aͤchter Freund und Kenner der Natur. — Verehrungswuͤrdges Rom! groß durch er- fochtne Kronen, Noch groͤßer durch den Geist gepries'ner Cice- ronen, O Rom, Europa selbst, von deiner Herrschaft Joch Vorlaͤngst entlediget, ehrt dein Gesetze noch. Aus Quellen der Natur sind deines Rechtes Lehren Urspruͤnglich hergefuͤhrt; sie muͤssen ewig waͤh- ren! Die Nacht der Barbarei verfinsterte dies Licht, Die Welt verwilderte und sah die Tugend nicht. Ein schwarzes Wunderthier, der Ketzereifer, siegte, Der Dummheit Tugend hieß und mit der Wahrheit kriegte; Bis ihr verstaͤrkter Glanz der Welt mehr Ein- sicht gab; Da fielen der Vernunft die schweren Fesseln ab. Der Dichter nennt Baco , Grotius , Puffendorf u. a. mit verdientem Ruhm: er gehet die Pflichten durch, gegen Seele und Leib, gegen Gott und andre. Ueber Irrthum und Unwissenheit, Klugheit und E 4 Thorheit, uͤber die Verbindlichkeit zur Wis- senschaft und zu allgemeinen Begriffen, uͤber Erfahrung, Vernunft, Geschichte, Fabel, Selbsterkenntniß, als Mittel zu Besserung des Verstandes und Willens, enthaͤlt sein Gedicht schoͤne Stellen. Deß- gleichen uͤber einzelne Pflichten, die Maͤ- ßigkeit, Sittsamkeit, Gnuͤgsamkeit, Ver- bindlichkeit zur Arbeit, uͤber Pflichten in Gluͤck und Ungluͤck, uͤber die Dankbarkeit gegen Gott, das Vertrauen auf die Vor- sehung, uͤber gesellige Huͤlfe, Sanftmuth, Großmuth, Wahrheitliebe, Freigebigkeit u. f.; wobei sowohl die entgegenstehenden Laster, als die Grenzen der Tugend be- merkt oder geschildert werden. Es sind Lehren in ihm, die der Jugend Gedaͤcht- nißspruͤche werden sollten, indem sie die Grundvesten aller moralischen Wahrheit enthalten: z. B. Es ward ein gleicher Trieb in aller Herz gelegt, Und allen Sterblichen die Regel eingepraͤgt: Du sollt das Gute thun , du sollt das Boͤse lassen ; In diesen Goͤtterspruch laͤßt das Gesetz sich fassen, Das die Natur uns schrieb. Er haͤlt ein Recht in sich: Beginne , denke , flieh , begehre , schweige , sprich . Nicht Erz, das Rost verzehrt, nicht Blaͤt- ter, die veralten, Kein Stein hat dies Gesetz der Menschen auf- behalten! Der Allmacht Tochter grub mit ewigheller Schrift, Es in die Seelen ein, die nie Verwesung trift. Ein ewiges Gebot, darinn ich wandeln muͤßte, Wenn, welches ferne sei! ich auch von Gott nichts wuͤßte! — E 5 Zu wuͤnschen waͤre es, daß der Verfasser sich durchaus auf diesem strengen Pfade gehalten haͤtte. Da er aber das sogenannte System der Vollkommenheiten als Grund der Moral annimmt: so wird sein Gebaͤude hie und da schwankend. Aller- dings vervollkommt uns die Ausuͤbung der Pflicht; nicht aber muͤssen wir sie thun, um uͤber Gewinn an Vollkommenheiten zu markten. Das Gebot heißt: Du sollt ! nicht: Du wirst ! welches bloß eine hoͤfli- che Bettelei waͤre. Sie halten vielleicht dies schoͤne Lehr- gedicht fuͤr ein Manuscript; leider ists seit seiner Bekanntmachung im Jahr 1758. fuͤr Viele ein Manuscript geblieben. Es heißt „ Lichtwehrs Recht der Ver - nunft ,“ und scheint unsrer poetischen Welt so veraltet, wie Hallers , Hage - dorns , Kaͤstners , Uz , Witthofs , ja uͤberhaupt die Lehrgedichte . Unser Publikum ist jung; es liebt Taͤndeleien der Jugend. 34. D ie Blaͤtter uͤber die Humanitaͤt Ho - mers , die Sie zu sehen wuͤnschen, nehme ich aus einer unvollendeten, groͤßern Schrift, die ihr Verfasser Jonien ge- nannt hat, deren weitern Inhalt ich aber hier nicht zu verrathen habe. Ueber die Humanitaͤt Homers in seiner Iliade. Wir kommen allmaͤlich wieder in die Zeiten zuruͤck, da man von Homers Roh- heit nicht gnug reden konnte. In Frank- reich warf man ihm vormals nur Mangel an Geschmack vor; in Deutschland scheint es ein Lieblingsgesichtspunkt zu werden, in den Sitten seiner Helden, mithin wohl gar in Homer selbst Mangel an Bildung , an moralischem Geschmack zu finden und dies unsterbliche Gedicht endlich nur als die „ historische Tradition wil - der Zeiten “ zu behandeln, die, wie man sich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil- dungskraft aufnahm und veststellte. So viel Wahres dieser Gesichtspunkt in man- chem Betracht zeigen mag, so zeigt er ge- wiß nicht alles Wahre, und sein Weniges gewiß nicht auf die nuͤtzlichste Weise. Dazu gehoͤrt keine Kunst, hie und da Ueberein- stimmung der Zeiten, die er besang, mit Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt, niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin- den, diese gefundene Aehnlichkeit zu uͤber- treiben, und dabei das Auge vor allem sittlichen Gefuͤhl, insonderheit aber vor der Kunst und Weisheit zuzuschließen, die Ho- mer unstreitig auf die Composition seines Gedichts gewandt hat. Bei jeder Kunstcomposition fragt man: wozu hat sie der Kuͤnstler componiret? was war dabei seine Idee? und wie setzte er die Theile seines Werks zusammen? Sind Homers Rhapsodieen die rohe Stim- me eines griechischen Barden, der einem rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten vorsingt, um diese mit ihren Unfoͤrmlichkei- ten ja nicht untergehen zu lassen; warum wandte man Jahrtausende hindurch auf ihn so viele Muͤhe? Waren die Griechen, die Roͤmer, und unter andern Nationen die feinsten Denker, waren unter den Grie- chen Gesetzgeber, Kuͤnstler, Weise, Dichter nicht aberglaͤubig und bloͤdsinnig, daß sie aus einer Tradition vergangener Unmensch- lichkeiten so viel Wesens machten, und ei- nen unreinen Schlam in so viel Baͤche ableiteten? Das hieße ja die Unmensch- heit oder Halbmenschheit um so gefaͤhrli- cher vesthalten, weil sie mit Homers Far- ben geschmuͤckt war. Fragt man bei jeder Geschichte, bei je- dem Drama: „wer spricht dies? wenn? „wozu spricht er's in welchem Charakter „handelt er? wozu stellte ihn der Geschicht- „schreiber oder Dichter auf?“ wie? und bei der groͤßesten Composition der Welt wollte man nicht also fragen? Was besingt Homer? nicht den Tro- janischen Krieg, nicht eine Geschichte alter Zeiten als solche; auch nicht Achilles Ge- schichte; sondern Den Zorn, des Peleiden Achilles Schaͤdlichen Zorn, der tausend Jammer den Griechen gebracht hat, Und viel tapfere Seelen der Helden zum Or- kus hinabstieß, Ihre Leiber den Hunden und allem Gevoͤgel zum Raube Gab — wahrlich, das heißt doch den Unmuth Achills, er moͤge gerecht oder ungerecht seyn, nicht unbedingt preisen. Sogleich bezeichnet ihn der Dichter, als eine ver - derbliche Plage der Goͤtter , die um so bedaurenswuͤrdiger war, weil sie bloß aus einem unseligen Zwist entstand, den sein Held mit dem Koͤnige Agamem- non hatte — Und wer ist Schuld an diesem Zwiste? Homer eroͤfnet sein Gedicht mit einer Er- zaͤhlung, die keinen Leser oder Zuhoͤrer im Zweifel lassen kann. Ein Vater, ein Priester Apolls, Apolls, ein Schonenswuͤrdiger, unantastba- rer Greis kommt unter dem Schutz seines Gottes, um seine geraubte Tochter zu bit- ten. Er spricht weder Mitleid noch Er- barmen an; er will sie nur, und zwar uͤber- reichlich loskaufen. Seine kurze Bitte ist so geziemend, so artig; und welche harte, ungeziemende Antwort giebt der Koͤnig der Griechen dem flehenden Alten. Alter! Daß ich dich nie bei den holen Schif- fen erblicke! Treff' ich ferner dich an; es sei, du weilest noch jetzo, Oder du kehrest ein andermal wieder: so moͤchte der Goldstab Mit dem Kranze des Gotts dich nicht mehr schuͤtzen. Die Tochter Geb' ich nicht los, bis einst in unsrer Woh- nung in Argos Dritte Samml. F Sie, von ihrem Geburtsland fern, bei Spin- del und Webstuhl Und mein Lager bedienend, veraltet. Du aber entfliehe! Reize mich nicht zum Zorn, wenn noch dein Leben dir lieb ist. Nicht den Vater, den Fremden, den Bit- tenden, den Greis beleidigt diese Antwort allein; sie beleidigt den Gott in seinem Priester und ist wirklich die Rede eines uͤbermuͤthigen Atriden. Nun steigt der Gott vom Olymp; die Pfeile fliegen, die Menschen sterben, die Holzstoͤße flammen; Achill, den die Noth des Heers jammert, ruft die Versammlung zusammen, um die Ursache auszukunden, warum ein Gott auf sie alle jetzt also er- grimmt sei? Kann Achill edler auf den Schauplatz gebracht werden, als also? Der Hirte der Voͤlker war durch seinen Trotz ihr Verderben worden; sein koͤnigli- ches Herz machte sich keinen Vorwurf, ob Er vielleicht an ihrem Untergange Schuld sey, noch suchte er Mittel dagegen; den großherzigen Achill allein kuͤmmert die Sa- che des Ganzen. Als solcher erscheint er sofort in seinen Reden, unbefangen, wie es die Großher- zigkeit ist, und gerade. Da der weiseste Seher sich nicht erkuͤhnt zu sprechen, weil er sich vor dem Unwillen des Maͤchtigsten, dessen Gemuͤthsart ihm bekannt ist, fuͤrchtet, nimmt ihn Achill fuͤr das gemeine Beste in Schutz; worauf denn der Uebermuth des Koͤnigs zuerst auf den Seher, sogleich nach einer sehr billigen Rede des Achilles auf diesen herfaͤllt. Und da Achill nicht ge- schaffen war, sich vor der Versammlung oder sonst schmaͤhen, beleidigen, das Seine sich rauben zu lassen, am wenigsten aber F 2 vom stolzen Duͤnkel eines uͤbermuͤthigen Atriden; so entbrennet der Zwist, so folgt die Erbitterung, bei der, (ich wage es zu sagen) Achill auch im wildesten Feuer ge- recht bleibet. Pallas erscheint ihm zu rech- ter Zeit, ihn bei der blonden Haarlocke zu ergreifen; und als der unbesonnene Fuͤrst, auch nachdem er Zeit zu besserer Ueberle- gung gehabt hatte, sein unbefugtes Macht- wort vollfuͤhret, und ihm sein Eigenthum, seine geliebte Briseis raubet, betraͤgt sich Achill gegen die Herolde mit einer hohen Maͤßigung. Ungern wie Briseis dahingeht, sehn wir sie hingehn, und setzen uns mit dem Gekraͤnkten weinend ans Ufer. Da hoͤren wir ihn der Mutter klagen, und theilen mit ihr den Jammer um einen so herrlichen Sohn, den bei einem kurzen Le- ben, ohne seine Schuld, diese oͤffentliche Beleidigung, dieser Gram, dieser Unmuth treffen muͤßte. Mit Freuden sehen wir den Vater der Goͤtter den großen Wink thun, und den Gekraͤnkten in Schutz nehmen. Wenn nun, ganze Gesaͤnge der Iliade hindurch, unschuldige, tapfre, edle Maͤnner, wenn liebe Soͤhne, junge Gatten, bluͤhende Juͤnglinge fallen; wer ist an ihrem Tode, wer an der Trauer, den Thraͤnen, dem Verlust ihrer Eltern und Gatten und Braͤute Schuld? Achilles nicht; er streitet bloß nicht mit, und kann und darf als ein oͤf- fentlich und ungerecht Gekraͤnkter, nicht mitstreiten. Unmuthig sitzt er in seinem Zelt, und seine Myrmidonen murren zuletzt um ihn her, daß er sie nicht zum Streit fuͤhre. Der uͤbermuͤthige Koͤnig allein ists, der dadurch die Voͤlker stuͤrzt, daß er nicht nur jenen Helden beleidigte, sondern sogleich auch, im Wahn seines Ruhms, zu zeigen, F 3 daß er Achills nicht beduͤrfe, seine geliebten Voͤlker zur Schlachtbank hinfuͤhrt. Unglaublich ists, wenn man es nicht saͤhe, mit welcher moralischen Zartheit Ho- mer dies alles einleitet und beschreibet. Eben dieselbe Mutter des Beleidigten, die den hoͤchsten Gott anfleht, hatte dem Dich- ter Raum gemacht, einen falschen Traum vom Himmel kommen zu lassen, der dem Koͤnige einbilde, Er koͤnne jetzt, dem Achill zum Trotz, Troja im Hui erobern. Dagegen erhebt sich nun freilich der alte Nestor — Und sagte mit Weisheit: Haͤtte den Traum von allen Achaͤern ein andrer erzaͤhlet, Wuͤrden wir sagen: du luͤgst! und ihn unwil- lig verschmaͤhen Aber ihn sah der Koͤnig — Und sogleich steht der Koͤnig von sei- nem Sitz auf, stuͤtzet sich auf seinen uͤber Alles gepriesenen Scepter, hat sogar eine herrliche List erdacht, die Anhaͤnglichkeit der Griechen an Ihn, an seinen Bruder Menelaus, und dessen Weib, Helena zu pruͤfen, uͤberzeugt, daß sie sich ihm nicht anders als zum Opfer geben wuͤrden. Die koͤnigliche Persvasion mißraͤth; der kluge Ulysses, mit dem noch unveralteten Scep- ter Agamemnons in der Faust kann sie kaum wieder zu ihren verlassenen Sitzen bringen; wo denn Thersites aufsteht, und Er allein, auf die unschicklichste Art der Sache Achills erwaͤhnet. So Mancherlei uͤber diesen haͤßlich- laͤcherlichen Thersit geschrieben worden; so sieht Jedermann das vor Augen, daß den Edelsten der Schlechtste, den Herrlichsten der Haͤßlichste allein und aufs Nie - F 4 drigste vertheidigt. Jeder goͤnnet diesem die Schlaͤge des Ulysses; es ist aber große Weisheit des Homers, daß er sie dem Thersites zukommen laͤßt, indeß alle Fuͤr- sten des Heers, deren keiner Agamemnons Betragen gegen Achill loben konnte, dazu schwiegen. Allen bekommt dies Schwei- gen, die ganze Iliade hindurch, sehr un- wohl; ihren Voͤlkern aber noch uͤbler. Es wird in einem andern Kapitel da- von die Rede seyn, wie Homer, der uͤber- haupt keinen Groll gegen ein menschliches Geschoͤpf, geschweige gegen den Koͤnig sei- ner Griechen heget, den Agamemnon al- lenthalben nicht nur geschont, sondern, wo er irgend konnte, koͤniglich und festlich aus- geschmuͤckt habe. Zum Treffen laͤßt er ihn ziehen: Ganz an Augen und Haupt dem Donnerbe- waffneten Zevs gleich, Um den Guͤrtel dem Mars, an Brust und Schultern dem Meergott; Wie der fuͤhrende Stier sich in der versamm- leten Heerde Ausnimmt; unter den Rindern der Erst' und Groͤßte von Ansehn. Er laͤßet ihn den tapfersten Kriegern, ei- nem Diomedes sogar, Verweise geben; doch das Alles thut nichts zur Sache. Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der alte Nestor mit dem Bekaͤnntniß doch heraus: — Ich denke noch heute, so wie ich schon vormals Dachte, zur Zeit, o Koͤnig, als du die junge Briseis Aus des erzuͤrnten Achilles Gezelten gewaltsam entfuͤhrtest, F 5 Nicht nach unserm Ermessen ; ich rieth es mit vielen und starken Gruͤnden dir ab; doch du, vom hohen Muthe bemeistert, Kraͤnktest die Ehre des Helden, der selbst von Goͤttern geehrt war, Und noch hast du bei dir den Siegslohn, den du ihm raubtest. Er schlaͤgt zur Aussoͤhnung Geschenke und schmeichelnde Worte vor; Achilles schlaͤgt sie aus und muß sie ausschlagen; ja waͤre Agamemnon selbst in sein Zelt gekommen, er haͤtte einen boͤsen Weg da- raus gefunden. Nun hatte dieser Raum seine Wunder der Tapferkeit und Ober- herrschaft zu erweisen, die aber alle dahin- ausgingen, daß nach Niederlagen von al- len Seiten, die Mauer der Griechen er- stuͤrmt ward und Hektor, ans Schiff des Protesilaus greifend, ausrief: „bringt Feuer!“ — Hier war das Ziel. Nicht Agamemnons Geschenke, noch eines schlauen Ulysses Reden; Achilles eigner Entschluß, mit welchem sich seines Freundes Patro- klus Thraͤnen verbanden, hemmte die aͤu- ßerste Gefahr des Heeres. Jetzt gab Achill dem Patroklus seine Waffen, mit dem gemessenen Befehl, wie weit er gehen sollte. Als Patroklus diesen uͤberschritten hatte und den Feinden erlag, als Hektor in die Waffen Achills zu seinem eignen Verderben gekleidet dastand, und die Nach- richt vom Tode des Freundes, endlich auch seine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager kam: da war aller Groll dahin; im Him- mel und auf der Erde war Friede. In neue Waffen gekleidet, erscheint er in der Versammlung; und wie klein ist gegen ihn Agamemnon, ob er sich gleich noch jetzt, zur Entschuldigung seines Fehlers, in einem Maͤhrchen von der Ate , dem Jupiter gleichstellt. Wie groß dagegen ist Achilles und wie zart! zart in den Klagen um sei- nen Freund, in den Klagen an seine Mut- ter; groß in der Versoͤhnung mit seinem Feinde, in der Anordnung des Begraͤbnis- ses seines Freundes, Laßt Patroklus Gebein, des Menoͤtiaden, uns sammlen, Mit sorgfaͤltiger Wahl; es ist nicht schwer zu erkennen. Dieses legen wir bei in goldner Urne, bis ich auch Sinke zum Hause des Pluto — — Dann erhoͤhn wir den Huͤgel zum Grabmahl; aber ich wuͤnsch' ihn Nicht von stolzer Groͤße, nur maͤßig. Breiter und hoͤher Moͤget ihr, Freund', ihn kuͤnftig erbaun, so viele von euch mich Ueberleben — — Groß endlich in den Kampfspielen, in der Ueberwindung sein selbst, da er den Leich- nam Hektors zuruͤckgiebt, in der Behand- lung Priamus dabei, groß von Anfange des Gedichts bis zu Ende. Scherzend spricht er zu Priamus: Greis, wie schlaͤfst du so unbekuͤmmert, kein Uebel befuͤrchtend, Wenn dich allhier Agamemnon entdeckt und die andern Achaͤer! — Dies ist das letztemal, da Agamemnons in der Ilias gedacht wird; wie tief steht er unter Achill, in dessen Zelte sein Feind ru- hig schlaͤft. Ich weiß wohl, daß man die gedrohete Mißhandlung am Leichnam Hektors dem Achilles hoch aufnimmt; aber preiset sie Homer? und verhindern sie die Goͤtter nicht selbst, denen Achilles sogleich wie ein Kind gehorchet? Und was hatte Hektor mit Patroklus Leiche im Sinn, uͤber die ein so hitziger Kampf war? — Man ist gewohnt, Achill und Hektor zum Nachtheil des Ersten zu vergleichen; nach welchem Maasstabe? Nicht nur waren es verschiedene Charaktere, und zu Achills Charakter gehoͤrte, was er war, untrennbar; sondern Hektor war auch ein Trojaner. Daß in Troja, dem alten asia- tischen Koͤnigssitze, ein groͤßerer Reichthum, eine weichere Lebensart herrschte, als in den meisten griechischen Staaten seyn konn- te, zeigt sich in mehreren Stellen der Iliade; der Charakter des ersten Trojaners mußte diesem Zustande gemaͤß seyn. Der Spie- gel Homers, in welchem sich alle Dinge der Welt gleich klar und rein darstellen, zeigt alle Gestalten gleich menschlich und milde. Bei voͤlligen Gegensaͤtzen scheint eine Vergleichung kaum moͤglich; und doch wirft Homer auf alle, wo irgend er kann, den milden Stral der Menschheit. Sein Gedicht endet, ehe Troja erobert wird, ehe wir also die Graͤuelthaten der Griechen in dieser eroberten Stadt gewahr werden. Selbst sein Held hatte das gute Schicksal, die schreckliche Folge seiner Tap- ferkeit nicht zu erleben; er fiel, wie wir aus andern wissen, im Thore von Troja. Und bei Homer, sobald Achill mit seinen neuen Waffen dahergeht, geht er zum Tode. Dies weissagt ihm seine Mutter, seine weinenden Rosse, der sterbende Hektor, und er selbst weiß es. Sein Leben ist an Patroklus Leben geknuͤpft; Ein Huͤgel soll sie decken, und eine goldne Urne beider Asche am Troischen Strande vereinen. Was uͤberhaupt der Glaube an ein Schicksal, was die Thaten der Goͤtter, ihre Huͤlfe und Feindschaft gegen Voͤlker und Menschen, in die Composition Homers an Ruhe, Milde und hohe Ergebenheit brin- gen, ist unsaͤglich. Man nehme diese goͤttliche Farce, wie manche sie genannt haben, (μωϱον) aus seiner Iliade; und das Ganze wird widrig oder platt, wie fast alle politische Geschichte. Und doch ist alles Zuwirken der Goͤtter bei ihm so mensch- lich, so natuͤrlich! Nirgend ein zerstoͤren- des Wunder; allenthalben nur der Gang des Menschengemuͤths, der Menschenkraͤfte, sofern er ans Zufaͤllige, ans Unvorgesehene, ans Unendliche reichet. Was zumal die Goͤtter uͤber die Sterblichen, und uͤber Achills Rosse sprechen, die einem Sterbli- chen dienen, ist Seelezerschneidend. Menschlicher Homer, wie liebe ich dich in allen deinen Formen und Gestalten! Auch Paris, auch die Suͤnderin Helena hast hast du nicht verschmaͤhet, und beide in das schoͤnste Licht gestellt, in welchem sie stehen konnten. Nicht vergessen sind ihre Bruͤder Castor und Pollux; ihr Menelaus, samt Ulyß, sind mit allen Wuͤrden geschmuͤckt, deren sie auf der Ebne vor Troja faͤhig waren. So Ajax, Diomed, Idomeneus, Nestor; jeder erscheint an seinem Orte, zu seiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes. Kurz oder lange leuchtet sein Schein; aber er geht nach Verdienst auf und nieder. Drei Lehren druͤckst du schweigend vor allen uns ins Herz: 1. Discite justitiam, miseri, et non tem- nere divos, welches ich hier so uͤbersetzen moͤchte: Lernt, ihr Fuͤrsten, gerecht seyn und treffliche Maͤnner verehren. Dritte Samml. G Dies lehrt uns mit seinem Uebermuth der praͤchtige Agamemnon in der ganzen Iliade. Er graͤnzt an alle Ausschweifungen, die Aristoteles Ethik kannte, an die Hab - begierde (Akolasie) den Neid , die Schaamlosigkeit und Beifallge - bung , die Pralsucht ; doch graͤnzt er nur daran, denn der weise Homer hat ihn vor jedem Zuge des Veraͤchtlichen bewah- ret. Er ist und bleibt bei ihm ein un - straͤflicher Koͤnig. Achilles dagegen be- sitzt den Kern dessen, was die Griechen Tugend nannten, Großherzigkeit (μεγαλοψυχια) und edlen Stolz , ho - hes Selbstgefuͤhl und die aͤußerste Wahrheitliebe . Er ist freigebig und auf eine anstaͤndige Art praͤchtig , hoͤflich in seinem Zelt und bis zur Schaam bescheiden ; dabei gebildeter als alle Griechen: denn er war Chirons Zoͤgling und ergoͤtzte mitten im Unmuth sein schwer- beladnes Herz durch Toͤne. Der waͤrmste Freund seines Freundes , an Staͤrke, Tapferkeit, Schoͤnheit und Ruhmliebe uͤber alle Griechen erhaben. Und an diesem Gottgeliebten Sohn einer Goͤttinn und ei- nes Helden zeigt uns Homer μηνιν 2. die erschreckliche Plage des har- ten, obwohl gerechten Unmuths . Achill konnte ihm nicht entweichen: denn der Vorfall, der ihn dazu reizte, drang auf ihn, ohne daß er ihn suchte. Er kann, die ganze Iliade hindurch, als Achill nicht an- ders handeln, als er handelt. Das Unan- genehme aber dieses Unmuths fuͤr ihn und fuͤr andre entwickelt der Saͤnger durch Worte aus des guten Phoͤnix, ja aus Achills eignem Munde und durch Erfolge in lauter lebendigen Situationen. Sogar das herbeieilende letzte Schicksal des Edel- G 2 zuͤrnenden sehen wir in diese Reihe der Dinge verflochten, in diesen ihm unver- meidlichen Unfall. Konnte ein zarterer Punct des menschlichen Herzens und Le- bens zarter behandelt werden, als es der Dichter gethan hat? Gemeine Seelen wissen nichts vom edeln, goͤttlichen Unmuth; wie manchem groͤßeren Gemuͤth aber ist er die Klippe des Gluͤcks, seiner Brauchbar- keit fuͤrs gemeine Wesen, des haͤuslichen und taͤglichen Wohlseyns, ja endlich des Lebens selbst worden! Mehr als Ein Ge- kraͤnkter hat die Klagen angestimmt, die Achill am Ufer des Meers seiner Mutter zuseufzte; er konnte aber keinen andern Trost hoͤren, als jenem die Goͤttin selbst zu geben vermochte. 3. Endlich, welch eine boͤse Sache ist der Krieg! Und wie mißlich ist jede Re- gierungsart unter den Menschen, so un- umgaͤnglich sie ist im Kriege und Frieden! Beides hat uns Homer so vorzuͤglich und hell dargelegt, daß wir auch hier den Mei- ster sehen, der in die rohesten Dinge Weis- heit und Menschlichkeit brachte. G 3 35. S ohn! Dir werden die siegende Staͤrke, nach ihrem Gefallen, Pallas und Juno verleihn; du aber bezaͤhme des Herzens Stolzaufwallenden Muth: denn guͤtige Triebe sind edler. Diese Lehre laͤßt Homer den alten Pe- leus seinem Achilles auf den Zug vor Troja mitgeben und die ganze Iliade ist eigent- lich ein Lob der Philophrosyne d. i. gefaͤlliger, Menschenfreundlicher Gesinnung: Unmuth ist dem Homer eine Plage des Le- bens, selbst wenn es ein gerechter, goͤttli- licher Unmuth (μηνις) waͤre. Er frißt am Herzen, und naget ab die Bluͤthe des Le- bens; bei den menschlichsten Gesinnungen wird der Gekraͤnkte wider seinen Willen ein Unmensch. Die aͤlteste griechische Phi- losophie ging dahinaus, das Gemuͤth der Menschen vor jedem Aeußersten zu bewah- ren; die aͤlteste Philosophie der Griechen aber war bei den Dichtern. Mit Recht- schaffenheit, Ruhm und Gesundheit ein heiteres, frohes Leben fuͤhren zu koͤnnen, stelleten sie als den hoͤchsten Wunsch der Sterblichen dar, und warnten vor jedem Uebermaaße, vor jeder zu hart angesessenen Neigung. Wie klar muß es in der Seele Homers gewesen seyn, da er, sein ganzes Gedicht hindurch, gleichsam die Waage Jupiters in der Hand haltend, die Nei- gungen und Charaktere der Menschen gegen einander im Streit und in Folgen abwog! G 4 Der Schild Achilles zeigt bei ihm, wie er sich die Welt dachte; unbefangen sah er ihre mancherlei, einander oft nahe entge- gengesetzten Scenen; froͤhliche und traurige, ruhige und stuͤrmische Scenen, und schil- dert sie, wie dort Vulkan sie hammerte, glaͤnzend und unvergaͤnglich. Wem Homers Muse den Nebel vom Auge nimmt, ge- winnet uͤber die Dinge der Welt gewiß eine große, weise und am Ende froͤliche Aussicht. Wie Achill mit seiner Leyer den Un- muth sich zu zerstreuen suchte: so war es das Amt der lyrischen Dichter der Menschen Herz zur Maͤßigung in Gluͤck und Ungluͤck zu stimmen und es zur Freu- de, Freundschaft und Heiterkeit zu ermun- tern. Leider sind die meisten derselben un- tergegangen; die uͤbriggebliebenen Reste aber zeigen diese Bestimmung. Pindar selbst, ob er gleich laute Siege besingt, hat so manchen Spruch in seinen Gesaͤngen, der zur Maͤßigung im Gluͤck, zum behut- samen Gebrauch des Lebens einladet; so manchen, der dem Unmuthe zuvorzukom- men sucht, oder nach Erfahrungen des- selben die Seele des Kaͤmpfers edel erquicket. Das feine Echo der Griechen, (wie Einer unserer Freunde ihn nannte) Horaz thut ein Gleiches. Es waͤre zu wuͤnschen, daß er in seiner wohlgefaͤlligen, einschmei- chelnden Art auch uns eigen werden koͤnn- te; vielleicht ist dies aber unmoͤglich: denn die Meisten seiner Oden sind zu kuͤnstlich eingelegte Musivische Arbeit. Mehrere derselben, wissen Sie, sind nach dem Lateinischen in Musik gesetzt; ich woll- te, daß auch aus den fuͤr uns nicht ganz brauchbaren Oden alle rein-menschliche G 5 Strophen, alle beruhigende, troͤstende, auf- heiternde Spruͤche und Empfindungen la- tein componirt wuͤrden. Stellen aus Vir- gil deßgleichen. Ich erinnere mich aus Luther, daß ihm einige Worte der sterben- den Dido in der Musik einen unvergeßba- ren Eindruck gemacht hatten; wem wuͤr- den nicht jene ewigen Spruͤche der Alten, mit welchen sie im einfachsten, kraͤftigsten Ausdruck das Menschengemuͤth staͤrken, ei- nen nach- und wiedertoͤnenden Eindruck geben? Durch Musik ist unser Geschlecht humanisirt worden; durch Musik wird es noch humanisiret. Was dem Unmuthigen, dem Lichtlos-Verstockten die Rede nicht sagen darf: sagen ihm vielleicht Worte auf Schwingen lieblicher Toͤne. Wenn dies von Gesaͤngen der Alten gilt, sollte es nicht vielmehr von Sprachen gel- ten, deren Genius uns vertraulicher und naͤher Laute des Trostes und der Weisheit zulispelt? Kein Zweifel. In den Dichtern der Italiener, Spanier, Gallier schlummern Toͤne, die, wenn sie durch Musik und Anwen- dung zur Weisheit des Lebens wuͤrden, Voͤl- ker und Staͤnde menschlich machen muͤßten. Auch in unsern lyrischen Dichtern sind Strophen, die der Sokratischen Schule wuͤrdig sind; warum leben sie so wenig im Ohr der Nation? warum schlafen sie mit ihren Erfindern vergessen im Staube? Die Ursache ist leicht zu finden: „weil nur ein so kleiner Theil unsrer Nation cultivirt ist, und bei einem andern die scheinbare Cultur zu einem falschen Schmuck frem- der Ueppigkeit geworden ist.“ Wir wollen es uns nicht bergen; man spricht viel von Cultur und Aufklaͤrung; man affectirt und fuͤrchtet sie so gar, vielleicht weil man an sich selbst weiß, daß sie nicht tief gehet, daß sie selten von rechter Art ist. Denn wirklich gebildete Gemuͤther , (in dem Verstande, wie Griechen und Roͤmer dies Wort uns zugebracht haben,) koͤnnen am Nutzen der aͤchten Bildung nicht zweifeln. Doch wo gerathe ich hin? Lassen Sie uns schnell zu unsrer Materie, zu dem unver- faͤnglichen Wunsch nach Compositionen schoͤner Stellen aus lateinischen Dichtern zuruͤckkehren. Oft, gar oft wenn ich geistliche Musiken uͤber lateinische Moͤnchsworte hoͤrte, regte sich das Ver- langen in mir, auch altroͤmische Stellen mit solcher Musik begleitet zu hoͤren; und als in Reichardts Todtenfeier auf Frie- derich nach Lucchesini 's Worten alt Roͤ- mische Tugenden, Eine nach der Andern, auf des Unsterblichen Grab auch in Toͤnen sich zudraͤngten, ward der Wunsch aufs neue in mir lebendig. Strophen aus Horaz, (z. B. B. 1. Ode 7. V. 21-32. B. 2. Ode 10. V. 13-24.) oder ganze Stuͤcke mit Zweckmaͤßiger Abwechselung, (wie vielleicht B. 1. Ode 9. 24. 26. B. 2. Ode 3. 11. 14. 16. 19. 20. B. 3. Ode 2. 9. 21. B. 4. Ode 7. Epode 7.) wuͤrden der Musik nothwendig den eigenthuͤmlichen Schwung geben, der ihr bei unsern ver- brauchten Sylbenmaaßen zu finden oft schwer wird. Der Hoͤrer wuͤrde dadurch gewissermaaßen in die Roͤmische Welt, oder wenigstens in Zeiten seiner Jugend ver- setzt, in welchen er Horaz zuerst lieben lernte. Wie gluͤcklich war uͤberhaupt dieser Dichter! Nicht nur im Leben, sondern auch in der Reihe von Wirkungen, die ihm nach seinem Tode das Schicksal an- wies. Die lyrischen Dichter der Griechen sind untergegangen; Er fast allein hat uns mehrere Formen ihrer Gedanken, ihrer Em- pfindungen, ihres Ausdrucks, ihrer Syl- benmaaße in seinen Nachbildungen geret- tet; und was damit fuͤr ein Schatz geret- tet sei, hat die Zeitfolge erwiesen. Die Pindarische Form, die Form der griechi- schen Scholien und Choͤre war und blieb den Sprachen Europa's unanwendbar; in der Horazischen Form erhob sich die Ode, selbst zu einer Zeit, da die Nationalspra- chen der Europaͤischen Voͤlker ungebildet dalagen. In allen Laͤndern schlossen sich die Geister des Gesanges dem Venusini- schen Schwan an, und druͤckten zuerst in der geliehenen lateinischen Sprache Gesin- nungen aus, die sie in ihrer Landessprache noch nicht auszudruͤcken vermochten. Wie niedrig ists, was Balde u. a. Deutsch san- gen; wie edler, wo sie das von Horaz geheiligte Werkzeug der Sprache anwen- den konnten! Ohne ihn haͤtten wir keinen Sarbievius , dessen Oden, von Goͤtz u. a. wiederum in unsre Sprache uͤbertragen, immer noch den Roͤmisch-Griechischen Geist athmen. Gehen Sie in diesem Gesichts- punkt die Sammlungen durch, die Gru - ter u. a. von den lateinischen Dichtern der Italiaͤner , Gallier , Belgen , Deutschen , Daͤnen , Schotten , Eng - laͤnder u. f. gegeben haben; unter vielem Wortgeklingel werden Sie unstreitig wahre delicias finden. Jeder edlere Dichter ver- gaß gleichsam den Lauf der Dinge um ihn her; uͤber die Vorurtheile seines Landes, seiner Secte, seines Ordens hinausgesetzt, mußte er gleichsam mit dem Roͤmischen Dichter auch Roͤmisch denken. Was spaͤ- terhin in unsrer Sprache eben auch durch die Horazische Form geweckt und in ihr vorgetragen sei, darf ich Ihnen aus Klop - stock , Goͤtz , Uz , Ramler u. a. nicht anfuͤhren. Horaz ist Saͤnger der Hu - manitaͤt gleichsam Vorzugsweise, die Form seiner Gedanken ist das erwaͤhlte Lieblingsmaaß der lyrischen Muse worden. O daß wir also schon Stellen, wie solche: Vitae summa breuis — nil desperandum — Tu ne quaesieris — felices ter et amplius — quod si Threicio — linquenda tellus — ae- quam memento — rebus angustis — eheu fugaces — tecum vivere amem, tecum obeam libens — in lateinischer Sprache componirt hoͤrten! Hier Eine von Sarbievs unschaͤtzba- ren Oden auch in der Form des Roͤmers: An die Weisheit . Die du, hoͤchste Vernunft, weise die Schik- kung lenkst! Wie zuweilen der Ernst deiner Verfuͤ- gungen Uns ergetzet, ergetzen So die menschliche Spiele Dich? Mit Mit freigebiger Hand streuest du Guͤter aus. Und wir raffen sie auf, wenn sie ge- fallen sind, Wie die Jugend die Nuͤsse Mit kurzweiligem Zanke rafft. Wer jetzt Kronen erhascht, bricht sie; wer Zepter kriegt, Sieht sie wieder entfuͤhrt, eh er sie tragen kann. Welt! so schwankst du, zerrissen Von den Haͤnden der Maͤchtigen. Was das geizige Gluͤck unter die Voͤlker theilt, Ist ein Puͤnktchen. O laß, Weisheit, ich flehe Dir! Mich, indeß sie so zanken, Mit dir lachen und froͤhlich seyn. Dritte Samml. H 36. E in zweites Fragment aus der Handschrift Ionien handelt Von der Humanitaͤt Homers in Ansehung des Krieges und der Kriegfuͤhrenden seiner Iliade . Lassen Sie es jetzt statt meines Briefes gelten. Selbst in dem Heldengedicht, das groͤß- tentheils Thaten der Krieger besingt, dachte Homer uͤber Krieg und Frieden mensch - lich . Nicht nur, daß er jenen so oft den Thraͤnenreichen , Maͤnnerfressen - den , verderblichen , harten , boͤsen Krieg nennet; er laͤßt keine Gelegenheit vorbei, ihn seiner Natur nach, mit allen begleitenden Uebeln, durch Thatsachen zu schildern. I. Die Iliade beginnt mit einem Greise, der um seine geraubte , liebe Tochter vergebens flehet; und bald wird es nicht verschwiegen, daß die Griechen alle benach- barte Kuͤsten und Inseln gepluͤndert, daß sie die neun Jahre her großentheils vom Raube gelebt haben. Schon faulet das Holz an ihren Schiffen, die Seile vermo- dern; Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder Schmachten, sie wiederzusehn — daher denn, als Agamemnon ihnen den Vorschlag that, nach neun Jahren vergeb- licher Arbeit wieder die Schiffe zu bestei- gen und H 2 — zu fliehn zum werthen Geburtsland; so hatte er kaum das Wort gesprochen, als die Versammlung es in freudigem Ernst befolgte: — Der Staub stieg unter den Fuͤßen der Maͤnner Wallend empor, und einer ermahnte den an- dern zur Eile, Daß sie die Schiff' erreichten und bald ins Wasser sie zoͤgen. Nur durch vieles Zureden und durch den gebietenden Stab des Koͤnigs konnte die Kriegssatte Schaar wieder in die Versamm- lung, durch neue dringende Vorstellungen von Schande, Ruhm und Hoffnung wie- der ins Feld gebracht werden. 2. Denn es hatte sich zur Last des Krie- ges auch die Plage der Pest gefunden; eben sie unterlaͤßt Homer nicht im Anfange der Iliade schreckhaft zu zeichnen. — Die Voͤlker aus Argos Fielen bei Haufen dahin; die scharfen Pfeile des Gottes Flogen toͤdtend umher im ganzen achaͤischen Kriegsheer, Daß man taͤglich die Leichen, gethuͤrmt in Haufen verbrannte. Denn wem ist unbekannt, daß anstecken- de Krankheiten, das gewoͤhnliche Gefolge aller Kriegsheere sind, und elender metzeln, als das Schwert des Feindes? 3. Als die Goͤttinn endlich im Busen der Griechen die Streitlust wieder erweckt, Daß sie nach unablaͤssigem Kampf und Schlach- ten sich sehnen, und ihnen der Krieg wiederum viel suͤßer duͤnkt, — als vormals Ihnen die Ruͤckfahrt schien zum werthen Lande der Heimath, H 3 will der Dichter dem blutigen Gefechte noch durch eine billige Auskunft zuvor- kommen. Menelaus und Paris , de- ren Sache es eigentlich allein ist, um de- ren willen Menschen hingeopfert werden, sollen durch einen Zweikampf den Zwist entscheiden. — Ihn hoͤrten mit Freude die Griechen und Trojer Hoffend, das Ende zu sehn des Elendbringen- den Krieges. 4. Da dies Mittel aber nicht gelang, und die Heere gegen einander ziehen muͤs- sen, von wem laͤßt sie der Dichter empoͤ- ren? Die Trojer von Mars , den sein Vater, Jupiter, selbst spaͤterhin also an- redet: Wisse, dich haß' ich am meisten von allen Be- wohnern des Himmels: Denn du findest nur Lust an Zank und Krie- gen und Schlachten. Aehnlich bist du der Mutter am unertraͤgli- chen Starrsinn, Der nie weichet und kaum von mir durch Worte gezaͤhmt wird. Die Griechen regt Pallas auf, und mit beiden Aufregern sind — Das Schrecken , die Furcht , die rastloswuͤtende Zwietracht , Schwester des Menschenverderbenden Mars und seine Gehuͤlfinn, Die erst klein sich immer erhebt, bis endlich ihr Haupt sich Hoch in Wolken verbirgt, indem sie die Erde bewandelt; H 4 Diese durcheilte die Heer' und saͤ'te zu beider Verderben Streitgier unter sie aus, und mehrte der Krie- ger Getuͤmmel. Sind diese Namen hier allegorische Kunst- werke? Gespenster sinds, die Homer eben deßwegen schreckhaft einfuͤhret, weil durch Personen, die in bestimmten Umris- sen erscheinen, die Wirkung nicht hervor- zubringen war, die er hervorbringen wollte. So scheint er zu andrer Zeit den Zorn , die Schadenfreude , das schrecklicher- greifende Todesverhaͤngniß zu perso- nificiren; zu gleichem Endzweck, unsere Begriffe naͤmlich zu verwirren durch diese unumschriebene Wortlarven. Der Zorn ist ihm wie ein Rauch, und die Zwie - tracht erhebt sich gleicher Gestalt zwischen Himmel und Erde. — Von allen Kuͤnst- ler-Ideen weggesehen, wie wahr und wie graͤßlich! Aus einem Nichts entspringet die Zwietracht und wird in kurzem uner- meßlich. Nie umschrieben in ihrem Wesen kommt sie vielleicht aus Einer Kammer hervor und durcheilt Staaten, durcheilt Heere, saͤet Verderben und Streitgier um- her, immer das Haupt in hohen, unabseh- lichen Wolken verborgen. Selten wissen die Menschen, weßhalb sie streiten; je laͤn- ger aber, desto hartnaͤckiger hadern sie: denn von Schritt zu Schritt waͤchst die unersaͤttliche Eris. 5. Jetzo trafen sie nah' auf Einem Raume zusammen, Schild und Lanzen begegneten sich und Kraͤfte der starken Eisengepanzerten Maͤnner. Es stiessen die baͤuchigen Schilde Wechselnd gegen einander, und ward ein schreck- lich Getoͤse. H 5 Laut ertoͤnte zugleich das Jammern und Jauch- zen der Krieger, Schlagender und Erschlagner; es stroͤmte von Blute die Erde. Da sich Homers Iliade einem großen Theil nach mit diesem Gemetzel beschaͤf- tigt: so wird das Menschengemuͤth des Dichters hier vorzuͤglich fuͤhlbar. Seine Todte laͤßt er nie als Thiere fallen; er be- zeichnet, so viel er kann, in einigen Ver- sen als Menschenfreund ihr trauriges Schicksal. Dieser wird nie mehr zu sei- nen geliebten Eltern, zu seinen Bruͤdern, seiner Gattinn, seinen Kindern wiederkeh- ren; jener hat Reichthum, Wohlstand, eine gluͤckliche Ruhe verlassen, die er nie mehr genießen wird. Einen andern zeichnet er als Kuͤnstler, als einen geschick- ten, schoͤnen, Gottbegabten Mann; seine Kunst ist dahin, seine Schoͤnheit verwelket, der Goͤtter Gaben werden mit der Asche begraben. Jenen hat falsche Hoffnung, eine truͤgliche Weissagung ins Feld gelockt; der Tod ergreift ihn, schwarze Nacht um- huͤllet sein Auge. Und ferner. Mehrere dieser Erinnerungen sind so zart, daß sie Inschriften zu den Grabmaͤlern der Erschlagenen seyn koͤnnten, wenn arme Kriegserschlagene Grabmal und Urne erhielten. 6. Merkwuͤrdig ist hiebei, daß Homer dieses zaͤrtliche Andenken am meisten den Trojanern schenket. Er ein Grieche, der den Ruhm griechischer Helden verewigen wollte, war zugleich ein Asiat, ein Jonier, ein Mensch, und ich moͤchte sagen ein Be- daurer des Trojanischen Schicksals. Weit entfernt von der barbarischen Kleinmuth, seine Feinde verunglimpfend zu beluͤgen, zeichnet er ihr zarteres Gemuͤth, die groͤ- ßere Weichlichkeit ihres Klima, ihre Fami- lienneigungen, ihre Kuͤnste, ihr Wohlbeha- gen zu Friedenszeiten, in Zuͤgen, an denen sich offenbar das Auge des Dichters selbst ergoͤtzte. Die armen Trojaner sind ihm eine Heerde Schaafe, die von Woͤlfen an- gefallen wird; unter ihnen sind viele frem- de Bundsgenossen, die am Schicksal der bedraͤngten Koͤnigsstadt nur aus nachbar- lichem Mitleid Theil nehmen. Uns den inneren Wohlstand Troja's zu zeigen, un- ser Herz fuͤr die Bedraͤngten mitfuͤhlend zu machen, fuͤhrt er seinen edlen Hektor im Anfange des Treffens in die Stadt zuruͤck. Er zeigt uns Priamus und seiner Soͤhne Wohnungen, zeigt uns die Helena selbst in einer zwar erniedrigten, aber nicht unwuͤr- digen Gestalt; so die Aeltesten der Stadt, so endlich Andromache und ihr Kind. Ruͤh- render ist wohl kein Abschied geschildert worden, als den Hektor von ihnen beiden nahm; und es ist eine Ueberkritik der Grammatiker, daß in der Andromache Rede einige Verse zu allgemein und zu viel seyn sollen. Bei dem Dichter spricht sie im Namen aller Trojanischen Frauen, fuͤr sie und ihre verwaiseten, gefangenen Kinder. Auch hat sich Homer wohl gehuͤ- tet, uns die Unthaten selbst zu erzaͤhlen, die dieser traurige Abschied nur vorahnet, ob sich gleich der Grund seiner ganzen Odyssee, die ungluͤckliche Ruͤckfahrt der Griechen, großen Theils auf sie bezog. Weder mit der Graͤuelthat des Ajax vor dem Bilde der Pallas, noch mit des Pria- mus, der Polyxena und Andrer unwuͤrdi- gem Morde hat seine Muse sich befleckt; die Kuͤnstler und tragischen Dichter nah- men ihre Vorstellung dieser Scenen aus andern sogenannten cyklischen Dichtern. Hektors letzter Gang nach Troja ist bei Homer in jedem Schritte groß und heilig. Der Edle will die zornige Goͤttinn versoͤh- nen und seine geliebte Vaterstadt entsuͤn- digen; daher er auch den Missethaͤter Pa- ris ins Feld fodert, bis am Skaͤischen Thore endlich, an diesem Ungluͤcksorte, der traurige Abschied die Scene endet — — Homer war keiner von denen, die ih- rem Lieblingshelden die ganze Welt auf- opfern. Seinen Achilles kleidet er in Gottaͤhnliche Groͤße; Hektor dagegen in alle Wuͤrde und Zierde des Vertheidigers seiner Geburtsstadt. Beide Helden konn- ten in dem Menschenverderblichen Kriege nicht auf Einmal glaͤnzen; indeß Jener also einige Tage ruhet, laͤßet er diesen sein Gluͤck aufs hoͤchste treiben; bis er durch Anlegung der Waffen Achills die Nemesis reizet, und dem Tode ein Opfer dasteht. So uͤbertrieb Patroklus seine Be- stimmung und sank; nicht von Hektor, sondern zuerst von Apollo selbst Ruͤckwaͤrts getroffen, daß Achills Waffen von ihm fielen. So sollte, hinter Homers Iliade, Achilles, da sein Ziel erreicht war, auch sinken. Das Schicksal aller Dreien, der edelsten Maͤnner, ist in einander verwebt, und der Tod Eines ein Verkuͤndiger vom Tode des Andern. Im Leben und Tode ehrt Jupiter den Hektor. Da er vom Zorn der Juno ihn nicht erretten kann, opfert er seinen eignen geliebten Sohn Sarpedon mit ihm zugleich auf, und sei- nen Leichnam entzieht er der Rache Achills auf die edelste Weise. Und wie den Hektor, so hat Homer den alten Priamus und alle seine Kin- der geehret. Deiphobus ist vom Apoll begeistert, wie keiner im griechischen Heere; selbst Paris Vorzuͤge werden bei al- lem Tadel, der ihm gebuͤhrt, nicht ver- schwiegen. 7. Warum untersagt Priamus bei dem Begraͤbniß der Erschlagenen seinem Heer die weinende Trauerklage? Offenbar lag dies Verbot in der Situation der Troja- ner. Sie, eine Versammlung Asiatischer, weicherer Voͤlker, an die laut-weinende Trauerklage mehr noch als die Griechen gewoͤhnet, sie, die in der Naͤhe ihrer Ver- wandten, Kinder und Weiber, vor Troja's Mauern ihre naͤchsten Freunde und Lands- leute bestatten, und in ihrem Tode ihr eignes Schicksal voraussahen, sie hatten ein solches Verbot noͤthiger als die haͤrteren Griechen, die der angreifende Theil waren, und fern von den Ihrigen nur ihre Mitstreiter be- gruben. Um Patroklus Leiche weinen die Griechen, insonderheit die Myrmidonen, am am heftigsten Achilles; auch Briseis weint und die uͤbrigen Weiber, letztere aber Um Patroklus zum Schein, im Grund' um eigenes Elend. 8. Noch mehr zeigt die Menschlichkeit Homers sich in der Weisheit, mit der er uͤber das Schicksal des Krieges dachte. Alles Kriegsungluͤck laͤßt er durch Fehler entstehen, durch Fehler und Lei- denschaften der Goͤtter und Menschen. Das alte Troja wird vom Jupiter dem Eigen- sinn eines unversoͤhnlichen Weibes aufge- opfert, die eine Reihe ihrer Lieblingsstaͤdte hingeben will, wenn Jupiter hier nur ih- ren Willen erfuͤllet. Die keuscheste, stolzeste Goͤttinn erroͤthet nicht, ihre Umarmung zum Netz des Betruges zu machen, aus tiefem Groll lieblos Liebe zu heucheln, mit ge- borgtem Schmuck an offnem Tage aus der Dritte Samml. I Gattin eine beruͤckende Buhlerin zu wer- den, nur damit Einige Trojaner mehr blu- ten, indeß ihr bestochener Kaͤmmerling, der Schlaf, dem Schicksalwaͤgenden Gott die Augen zuschließt. Das Aeußerste der Rache eines Weibes! Gegen Troja stehen zwo Weiber, fuͤr Troja zwei Maͤnner; wer zwei- felt, wenn es auf Haß ankommt, welche Par- thei zum Ziel gelangen werde? Ging es in den hartnaͤckigsten Kriegen der Erde je anders? In der menschlichen Scene hangen, wie vorher gezeigt worden, der Griechen Unfaͤlle bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn des Koͤniges ab, dem keiner der Rathge- benden Fuͤrsten sich zu widersetzen ge- traute. Ein falscher Traum ist seine be- lehrende Gottheit; sonst erscheinet ihm keine, (deren mehrere doch andern erschei- nen) waͤhrend der ganzen Iliade. Dieser falsche Traum heißt Duͤnkel , dem Aga- memnon, schon seinem Namen nach ein Jupiter auf Erden, zum Verderben seines Volkes gehorchet. Den aͤltesten Rathge- ber besticht er damit, daß der Traum in seiner Gestalt erschienen sei; andre Fuͤrsten schweigen, oder wetteifern thoͤricht mit Achilles Ruhme. So kommt durch Einen, durch Wenige das ganze Heer an den Rand des Abgrundes. Zu spaͤt wird gesprochen, zu spaͤt geweinet; und unter diesem allen ist und bleibt Agamemnon der sorgsamste Hirte der Voͤlker. O Homer, so oft ich von neuem Deine Iliade lese, finde ich in ihr neue Zuͤge der ordnenden Weisheit, Klugheit und Menschenliebe, mit der du wilde Verhaͤltnisse eines rohen Zeit- alters erzaͤhlest. Und keine Lehre, keine Warnung entfließt deinen Lippen, als ob sie die deinige waͤre; jedes Laster, jede Thorheit, jede Leidenschaft selbst lehret und warnet. I 2 Diderot uͤber die Einfalt in Homer . „Die Natur hat mir Geschmack an der Einfalt gegeben und ich bemuͤhe mich, die- sen Geschmack durch das Lesen der Alten vollkommner zu machen. O mein Freund, wie schoͤn ist die Ein- falt! Wie uͤbel haben wir gethan, uns davon zu entfernen! Wollen Sie hoͤren, was der Schmerz einem Vater eingiebt, der jetzt seinen Sohn verlohren hat? Hoͤren Sie den Priamus. Wollen Sie wissen, wie sich ein Vater ausdruͤckt, der dem Moͤrder seines Sohns fußfaͤllig flehet? Hoͤren Sie eben den Priamus zu den Fuͤßen des Achilles. Was ist in diesen Reden? Kein Witz, aber so viel Wahrheit, daß man fast glau- ben sollte, man wuͤrde eben so wohl als Homer darauf gefallen seyn. Wir aber, die wir die Schwierigkeit und das Ver- dienst, so einfaͤltig zu seyn, ein wenig ken- nen, moͤgen diese Stellen nur lesen, moͤgen sie mit Bedacht lesen, und hernach alle unsre Schreibereien nehmen und ins Feuer werfen. Das Genie laͤßt sich fuͤhlen, aber nicht nachahmen.“ — Was Diderot hier von Homers Ein- falt sagt, moͤchte ich von seiner Humani- taͤt sagen. Man lese seine Beschreibun- gen des Todes der Erschlagnen, man lese Hektors Abschied von seinem Weibe und Kinde, man bemerke jeden Zug, mit dem der Dichter des Achills erwaͤhnet, inson- derheit wenn er ihn selbst redend einfuͤh- ret, auch was er hie und da uͤber das Gluͤck und Ungluͤck des menschli - chen Lebens , uͤber Reichthum , Ehre , Adel der Seele und des Geschlechts , I 3 uͤber Gerechtigkeit , Tapferkeit , Ge - duld , Weisheit , Maͤßigung , Sanft - muth , Gastfreundschaft , Verschwie - genheit , Treue , Wahrheit , uͤber die Verehrung der Goͤtter , die Erge - bung in den Willen des Schicksals , und die ihnen entgegengesetzten Thorheiten und Laster einstreuet; welch eine Schule der Humanitaͤt ist in ihm! 37. L eßings Emilia Galotti hat mich wie- der einmal ins Theater gelockt; wie zufrie- den ja gesaͤttigt bin ich hinausgegangen! Ein Theaterstuͤck muß gesehen, nicht gele- sen werden: denn wenn es ist, was es seyn soll, so ist ja eben auf die Vorstel- lung alles berechnet. Ich kann mir nicht einbilden, daß wenn Stuͤcke dieser Art, (aber auch keine andre als solche) woͤchent- lich nur Einmal, auf die leidlich-vollkom- menste Weise gegeben wuͤrden, und diese Stuͤcke lauter Staͤnde und Situationen un- srer Welt, wie dieses, enthielten, das Publi- cum ungebildet, unerleuchtet bleiben koͤnnte. I 4 Bei der zweiten Ausgabe des Dide - rotschen Theaters bezeugte Leßing diesem Schriftsteller oͤffentlich seine Dankbarkeit als dem Manne, der an der Bildung sei- nes Geschmacks großen Antheil habe. Denn, faͤhrt er fort, es mag mit diesem auch beschaffen seyn, wie es will: so bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderots Muster und Lehren eine ganz andre Richtung wuͤrde bekommen haben. Vielleicht eine eignere; aber doch schwer- lich eine, mit der am Ende mein Verstand zufriedener gewesen waͤre.“ Und setzt so- dann weiter den Einfluß ins Licht, den Di - derots Stuͤcke, insonderheit sein Haus - vater auf das Deutsche Theater gehabt habe. Sie wissen, wieviel Diderot darauf hielt, daß Staͤnde aufs Theater gebracht werden sollten, und was Leßing in seiner Dramaturgie dabei zu erinnern fand. Na- tuͤrlich koͤnnen Staͤnde ohne bestimmte Cha- raktere auf dem Theater keine Wirkung thun; aber bilden sich die Charaktere der Menschen nicht in und nach Staͤnden? und welcher Stand haͤtte auf den Charakter mehr Einfluß, als der Stand eines Prinzen? Hier hatte also Leßing ein weites Feld, das phi - losophische Allgemeine , dadurch Aristoteles die Poesie von der nackten Ge- schichte unterscheidet, als Philosoph und Dichter zu bearbeiten. Er zeigt den Cha- rakter des Prinzen in seinem Stande, den Stand in seinem Charakter, beide von mehreren Seiten, in mehreren Situationen. Nicht nur bringt er den Prinzen in seiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthsstimmung mit den verschiedensten Personen, Maͤnnern und Weibern, mit Kuͤnstler und Canzler, Kam- merherr und Kammerdiener, mit einer Geliebten, die er jetzt nicht geliebt haben, I 5 und einer andern, die jetzt von ihm eben nicht geliebt seyn will, mit dem Vater, der Mutter, dem Braͤutigam derselben, ja mit sich selbst in Gespraͤch und Handlung; er unterlaͤßt auch keine Gelegenheit, in jeder dieser Situationen eigentlich nach dem Ringe zu rennen, und wenn mir der Aus- druck erlaubt ist, das Prinzliche dabei zu charakterisiren. Niemand wird unver- schaͤmt gnug seyn, deßhalb das Stuͤck eine Satyre auf die Prinzen zu nennen: denn nur dieser Prinz, ein Italiaͤnischer, jun- ger, eben zu vermaͤhlender Prinz ists, der sich diese Spaͤße giebt und bei Marinelli andre zulaͤßt. Auch ist sein Stand, seine Wuͤrde, selbst sein persoͤnlicher Charakter in Allem zart gehalten, und mit wahrer Freundlichkeit geschonet. Am Ende des Stuͤcks aber, wenn der Prinz sein veraͤcht- liches Werkzeug selbst verachtend von sich weiset, und dabei ausruft: „Gott! Gott! ist es zum Ungluͤcke so mancher nicht genug, daß Fuͤrsten Menschen sind; muͤssen sich auch noch Teufel in ihren Freund ver- stellen?“ und die unschuldige Braut dabei im Blut liegt, der Vater, ihr Moͤrder, sich eben vor diesen Fuͤrsten, als vor seinen Richter stellt, Marinelli, der Unterhaͤndler dieses Gewerbes, sich noch bedenkt, den Dolch aufzuheben; wer ist, dem, wenn in solcher Situation der Vorhang sinkt, nicht noch andre Gedanken, außer dem, den der Prinz sagt, in die Seele stroͤmen? Noth- wendig fragt man sich, wie wird das Ge- richt uͤber den alten Odoardo ablaufen? wie lange wird Marinelli entfernt seyn? d. i. wie bald wird er, wenn sein Dienst abermals brauchbar ist, wiederkehren? u. f. Es ist vielleicht das hoͤchste Verdienst der Poesie, insonderheit des Drama, Staͤnde und Charaktere aller Art (wenn mir das niedrige Gleichniß erlaubt ist) an dem fein- sten Spieß, aufs langsamste am Feuer eig- ner Thorheiten, Neigungen und Leiden- schaften umzuwenden. In der Seele des Zuschauers werden diese Staͤnde und Cha- raktere dadurch gahr , oder, mit einem edleren Ausdruck, geruͤndet . Man sie- het, was an der Figur Ernst oder Scherz, Wort oder That ist; man blickt auf den Grund hinunter, und greift das Bestaͤn- dige oder Unstatthafte ihres Charakters, ihre Versatilitaͤt und innere Ehrlichkeit gleichsam mit Haͤnden. Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus, durch Darstellung unerwartet-schrecklicher Koͤnigsunfaͤlle und Katastrophen die Ur- theile der Menschen zu berichtigen, ihre Grundsaͤtze zu sichern, und das poco piu und poco meno der Leidenschaften, der Furcht und des Mitleids, dem Zuschauer auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen. Die neuere Tragoͤdie, wenn sie gleich ihren Bogen nicht so scharf spannen und ihre Kaͤule so rasch schwingen kann, als die alte, hat dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie spricht zum innersten Gefuͤhl, zur treuesten Ehrlichkeit des Menschen; die Uebelthat kann sie auch jenseit der Gesetze verfolgen, so wie das Lustspiel die Thorheit auch jen- seit der Gesetze straft. Beide sind Spre- cherinnen vor dem erhabensten Richterstuhl unsres Geschlechts, vor der Humanitaͤt selbst, und ventiliren, bescheinigen und ge- genbescheinigen vor ihr auf die schaͤrfste, freieste Weise. Leßing kannte diesen Proceß uͤber die innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs genaueste; sein Tellheim ist ein von al- len Seiten gepruͤfter, militairischer Cha- rakter; alles, was um ihn steht, was ihm begegnet, sichtet ihn das ganze Stuͤck hin- durch moralisch. Wen solche Komoͤdien und Trauerspiele nicht bearbeiten koͤnnen, der moͤchte durch Worte schwerlich zu be- arbeiten seyn. Man ruͤckt Leßingen vor, daß er die zarteste Weiblichkeit, das uͤber allen Aus- druck Reizende je ne scais quoi des schoͤnen Geschlechts nicht gekannt, und solches eben so wohl in der Emilie, als der Minna, der Recha als der Orsina verfehlt habe. Sie sind, sagt man, bei ihm Kinder oder Maͤnner, Helden oder schwache Geschoͤpfe. — — Ich kann uͤber diesen Punkt nicht entscheiden. Sollte es aber keinen Unter- schied geben, wie ein weiblicher Charakter im Roman und auf der Buͤhne erscheinen darf? Das neuere Theater ist bei allen Voͤlkern Europa's, vorzuͤglich Spaniern und Franzosen, aus romanhaften Erzaͤh- lungen und Sitten entstanden; sollte es diese nicht ablegen duͤrfen? ja sollte es sie endlich nicht ablegen muͤssen, da diese fremde Schminke aus der wirklichen Welt Theils schon verbannet ist, Theils in Man- chem offenbar ihrer Verbannung zueilet? Das Theater der Alten kannte diese ro- mantische Schminke nicht, und doch waren ihre Weiber Weiber. Wie dem auch sei, in diesem Stuͤck getraute ich mir den Charakter der Emilie, Orsina, geschweige der Claudia voͤllig ver- theidigen zu koͤnnen; ja es bedarf dieser Vertheidigung nicht, da sich hier Alles in der Sphaͤre eines Prinzen, um seine Per- son, um seine Liebe, Treue und Affection drehet. Wer kennt die Uebermacht dieses Standes beim schoͤnen Geschlechte nicht? und wer darf es der Emilie in diesen Augenblicken einer solchen Situation ver- argen, wenn sie den Dolch ihres Vaters einer kuͤnftigen Gefahr vorziehet? Das flatternde Voͤgelchen, (verzeihen Sie das Naturhistorische Gleichniß) fuͤrchtet nicht etwa nur den anziehenden Hauch der na- hen großen glaͤnzenden Schlange; es fuͤh- let denselben schon, sieht ihren auf sie ge- richteten Blick — oder ohne Gleichniß, sie glaubt sich schon umschlungen von tausend feinen Netzen liebenswuͤrdiger Eigenschaf- ten, weiß, wie der Prinz ihre Empfindun- gen der Religion selbst vorm Altar stoͤrte, und wagt wie eine Heilige den Sprung in die Fluth. Wie Verstandvoll hat Le- ßing das Herz der Emilie mit Religion verwebet, um auch hier die Staͤrke und Schwaͤche einer solchen Stuͤtze zu zeigen! Wie Wie uͤberlegt laͤßt er den Prinzen sie am heiligen Ort aufsuchen, sie in der Kapelle vor aller Welt anreden, und stellt die schwache Mutter, den strengen, grollhaften Fuͤrstenfeind, Odoardo neben sie. Ihr Tod ist lehrreich-schrecklich, ohne aber daß da- durch die Handlung des Vaters zum ab- soluten Muster der Besonnenheit werde. Nichts weniger! Der Alte hat eben so wohl, als das erschrockene Maͤdchen in der betaͤubenden Hofluft den Kopf verloh- ren; und eben diese Verwirrung, die Ge- fahr solcher Charaktere in solcher Naͤhe wollte der Dichter schildern. So erlaube ich auch der Orsina, (die nothwendig mit Maͤßigung gespielt werden muß) ihre Verhoͤnung des Marinelli, selbst ihre hoͤllische Phantasie im siebenden Auf- tritte des vierten Acts. Wenn sie nicht den Mund oͤfnet, wer soll ihn oͤffnen? Und Dritte Samml. K sie darfs, die gewesene Gebieterin eines Prinzen, die in seiner Sphaͤre an Willkuͤhr gewoͤhnt ist. Als eine Beleidigte, Verach- tete muß sie anjetzt uͤbertreiben, und bleibt in der groͤßesten Tollheit die redende Ver- nunft selbst, ein Meisterwerk der Erfindung. So auch das Uebereilen des Plans, das Hineintappen des Prinzen, und vor Allem, seine unbescholtene Rechtfertig- keit, Alles veranlaßt, gebilligt, und am Ende doch, nachdem der Plan verungluͤckt, nichts befohlen, nichts gethan zu haben. In wenigen Tagen, fuͤrchte ich, hat er sich selbst ganz rein gefunden, und in der Beichte ward er gewiß absolviret. Bei der Ver- maͤhlung mit der Fuͤrstin von Massa war Marinelli zugegen, vertrat als Kammer- herr vielleicht gar des Prinzen Stelle, sie abzuholen. Appiani dagegen ist todt; Odoardo hat sich in seiner Emilie sieben- fach das Herz durchboret, so daß es kei- nes Bluturtheiles weiter bedarf. Schreck- lich! — Als ich voll dieses Eindrucks nach Hause kam, fiel Diderot mir in die Hand, und zwar folgende Stelle: „Der Schauplatz ist der einzige Ort, wo sich die Thraͤnen des Tugendhaften und des Boͤsen vermischen. Hier laͤßt sich der Boͤse wider Ungerechtigkeiten aufbringen, die er selbst begangen haͤtte; hier hat er bei Ungluͤcksfaͤllen Mitleiden, die er selbst veranlaßt haͤtte; hier ergrimmt er gegen Personen von seinem eigenen Charakter. Aber der Eindruck ist geschehen, und er bleibt, auch wider unsern Willen; der Boͤse gehet also aus dem Schauplatze, weit we- niger geneigt uͤbels zu thun, als wenn ihm ein ernster und strenger Redner eine Straf- predigt gehalten haͤtte. K 2 „Der Dichter, der Romanschreiber, der Schauspieler dringen verstohlner Weise ans Herz, und treffen es um so gewisser und staͤrker, je weniger es den Streich ver- muthet, je mehr Bloͤße es folglich giebt. Die Ungluͤcksfaͤlle, durch die man mich ruͤhrt, sind erdichtet: was thut das? Sie ruͤhren mich doch. Jede Zeile in dem Ehrlichen Manne , der sich der Welt entzogen , im Dechant von Killerine , im Cleveland erregt in mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un- gluͤcksfaͤllen der Tugend, und kostet mich Thraͤnen. — Koͤnnte es eine unseligere Kunst geben, als die, die mich zum Mit- schuldigen des Lasterhaften machte? Aber wo ist auch eine schaͤtzbarere Kunst als die, die mich unvermerkt fuͤr das Schicksal des rechtschaffenen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und suͤßen Fassung, in der ich mich befand, reißet, um mich mit ihm umherzutreiben, mich in die Hoͤlen zu versetzen, in die er fluͤchten muß, mich zum Mitgenossen der Unfaͤlle zu machen, durch die es dem Dichter beliebt, seine Bestaͤn- digkeit auf die Probe zu stellen. Wie sehr ersprießlich wuͤrde es fuͤr die Menschen seyn, wenn sich alle Kuͤnste der Nachahmung einen gemeinschaftlichen Ge- genstand waͤhlten und sich einmal mit den Gesetzen dahin verbaͤnden, uns die Tugend liebenswuͤrdig und das Laster verhaßt zu machen! Des Philosophen Pflicht ist es, sie dazu einzuladen; er muß sich an den Dichter, an den Mahler, an den Tonkuͤnst- ler wenden und ihnen auf das nachdruͤck- lichste zurufen: „o ihr von hoͤheren Faͤhig- keiten, warum hat euch der Himmel be- gabt?“ — Wird er gehoͤrt, so werden gar bald die Mauern unsrer Pallaͤste nicht K 3 mehr von Gemaͤhlden der schaͤndlichsten Wohllust bedeckt seyn; unsre Stimmen wer- den nicht laͤnger die Verkuͤndigerinnen des Lasters seyn; und Geschmack und Tugend werden dabei gewinnen. „Ich habe manchmal gedacht, daß man gar wohl die wichtigsten Stuͤcke der Moral auf dem Theater abhandeln koͤnnte, ohne dadurch dem feurigen und reissenden Fort- gange der dramatischen Handlung zu schaden. „Nicht Worte, sondern Eindruͤcke will ich aus dem Schauplatze mitnehmen. Das vortreflichste Gedicht ist dasjenige, dessen Wirkung am laͤngsten in mir dauert. „O dramatische Dichter! Der wahre Beifall, nach dem ihr streben muͤßt, ist nicht das Klatschen der Haͤnde, das sich ploͤtzlich nach einer schimmernden Zeile hoͤ- ren laͤßt, sondern der tiefe Seufzer, der nach dem Zwange eines langen Stillschwei- gens aus der Seele dringt und sie erleich- tert. Ja es giebt einen noch heftigern Eindruck, den sich aber nur die vorstellen koͤnnen, die fuͤr ihre Kunst gebohren sind, und es vorauswissen, wie weit ihre Zaube- rei gehen kann: diesen naͤmlich, das Volk in einen Stand der Unbehaͤglichkeit zu setzen; so daß Ungewißheit, Bekuͤmmerniß, Verwirrung in allen Gemuͤthern herrschen, und eure Zuschauer den Ungluͤcklichen glei- chen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Haͤuser wanken sehen, und die Erde ihnen einen vesten Tritt verweigern fuͤh- len.“ — — K 4 38. A ls Swift uͤber Gullivers Reisen bruͤ- tete, schrieb er an Pope : ”ich habe ganze Nationen, ganze Professionen und Zuͤnfte immer gehasset; meine Liebe gehet nur auf einzelne Personen. Z. B. ich hasse die Zunft der Rechtsgelehrten, aber ich liebe den Rath N. den Richter N N. So habe ichs, (von meiner eignen Profession nichts zu sagen) mit den Aerzten, mit den Solda- ten, den Englaͤndern, Schotten, Franzosen u. f. Vornehmlich aber hasse und verab- scheue ich das Geschoͤpf, der Mensch ge- nannt, obschon ich den Johann, den Pe- ter, Thomas u. f. von Herzen liebe. An dieses System habe ich mich (unter uns gesagt) nun viele Jahre her gehalten, und werde mich immer daran halten. Ich habe Materialien zu einer Abhandlung gesamm- let, welche zeigen soll, daß man den Men- schen unrecht durch ein vernuͤnftiges Thier definirt, und daß man bloß ein Vernunftfaͤhiges Thier setzen sollte. Auf dies starke und feste Fundament der Misanthropie, (wie wohl nicht nach Ti - mons Manier) gruͤndet sich das ganze Gebaͤude meiner Reisen; und ich werde nimmer ruhig seyn, bis alle ehrliche Leute hieruͤber meiner Meinung sind. Die Sache ist so klar, daß sie keinen Widerspruch lei- det; ja ich will Hundert gegen Eins setzen, daß Sie und ich in dem Puncte uͤberein- stimmen.“ Diese Uebereinstimmung war ein freund- schaftlicher Wahn, oder ein Compliment, K 5 das der von seiner Meinung durchdrun- gene Swift sich selbst machte. Pope schien ihm Recht zu geben, aͤußerte aber zugleich, daß er Maximen schreiben wollte, die Rochefoucaults Grundsaͤtzen ins- gesammt entgegengesetzt waͤren; wogegen Swift in noch haͤrteren Ausdruͤcken den Rochefoucault , als seinen Liebling, in welchem er seinen ganzen Character gefun- den, heftig in Schutz nimmt. Bei Swift naͤmlich war diese Men- schenfeindschaft nicht witzige Laune, son- dern ein bittrer Ernst, wie seine Schrif- ten, wie sein Leben es zeiget. Er hatte einen so tiefen Groll gegen die menschliche Gesellschaft gefaßt, daß selbst seine Men- schenfreundschaft, seine strenge Sorge fuͤr die von der Natur und dem Staat ver- wahrloseten Ungluͤcklichen sich in dies rauhe Gewand kleidete; er schien ein Zuchtmei- ster, auch wenn er ein wohlwollender Freund war. Es hieße, Worte verschwenden, wenn man uͤber das von Swift aufgestellte Paradoxon in der Form disputiren wollte; jedermann siehet, was in ihm wahr oder uͤbertrieben sei. Eine andre oft aufgeworfene Frage: ob es besser sei, von den Menschen zu gut oder zu schlimm zu denken? d. i. den Men- schen zu schmeicheln, oder sie mit Schaͤrfe zu behandeln? fuͤhrt, wie mich duͤnkt, ihre Aufloͤsung auch mit sich. Man muß keins von Beiden, und eben hierinn bestehet die Philosophie und Kunst des Lebens. Alle Uebertreibungen sind eben so unwahr, als schaͤdlich; meistens fallen sie auch zusam- men und loͤsen einander auf. Young z. B. der in seiner Schrift uͤber die Ori- ginalwerke den armen Swift heftig und in der Gestalt des Menschenfreundes selbst Menschenfeindlich angriff, hat sich gegen das von ihm verehrte Geschlecht eben so versuͤndigt, da er ihm in seinem jetzi- gen Zustande die Wuͤrde des Seraphs an- schmeicheln, als Swift , da er es zum Yahoc erniedrigen wollte. Jener, um sein System zu verfolgen, ward gezwungen, den Lorenzo zu einem Teufel zu machen, damit der erdichtete Engel in sein Licht traͤte; dieser muste seine vernuͤnftigen Pferde mit allen Vollkommenheiten schmuͤcken, die er doch nur im Menschengeschlecht kannte. Dem guten Rousseau ist es in seinen Uebertreibungen nicht anders gegangen; in der Phantasie ein Idealist fuͤrs Gute mußte er in einzelnen Urtheilen und im Betragen des Lebens ein leidendes Kind werden. Zwischen zwei Aeußersten giebt es kei- nen andern Weg der Vernunft und Recht- schaffenheit, als die Mittelstraße. Man sage so viel Gutes, man schreibe so viel Boͤses vom Menschen, als man wolle; lediglich kommts auf den Gebrauch an, den man von beiderlei Urtheilen macht; wie man sie durch thaͤtige Guͤte, und Weisheit zusammen vereinet. Das edlere Schauspiel der Griechen hatte zum Zweck, zwischen beiden Extre- men eine weise und tugendhafte Mitte im Menschen zu bevestigen; o haͤtten wir Me- nanders und Philemons Schauspiele! Die uͤbriggebliebenen wenigen Stellen und Spruͤche zeigen, daß in ihnen der Mensch von allen Seiten betrachtet und zur Lehre aufgestellet worden, wie es denn auch Te- renz, der halbirte Menander klar an den Tag leget: Dritte Samml. L Spruͤche aus Philemon . Beschwerlich ist ein unverstaͤndiger Zuhoͤrer; vor dir sitzend, tadelt er Aus Thorheit nie sich selbst. — Viel leichter, eine Krankheit, als den Gram ertragen. — Der Seele Kummer wird durch Rede leicht. Wer unter uns dort außerhalb der Stadt Der Menschen Graͤber sieht, der sage sich: Auch Jeder dieser sprach einst zu sich selbst: „Ich werde, wenn die Zeit kommt, schiffen, pflanzen, „Die Mauer brechen und besitzen.“ Jetzt Besitzen sie ein Grab. Ihr Goͤtter, welch ein wohlgeartet Thier Ist eine Schnecke. Kommt auf ihrem Gange Sie einem boͤsen Nachbar nah; sie hebt Ihr Haus und wandert weiter. Darum wohnt Sie Sorgenlos, weil sie die Boͤsen immer flieht. Er ist ein Knecht; hat aber Fleisch und Blut Wie Du: denn keiner ward durch die Geburt ein Knecht; Ungluͤcklich Schicksal macht zum Sklaven nur. Ein boͤser Diener wird der Strafe nicht entgehn; Du aber sei der Strafe Buͤttel nicht. Dein Wort, o Freund, hat deine schoͤne That Geschmaͤht; des Reichen That hat Bettlers Wort vernichtet. Ruͤhmst du die Gabe selbst, die du dem Freun- de gabst, L 2 So warst in Thaten du ein Feldherr, und im Wort Ein Moͤrder. — Sprich nicht: „das will ich geben.“ Denn wer spricht, Der giebt noch nicht und hindert andrer Ga- ben. Mit rechter Unterscheidung gib und nimm. Das kleineste Geschenk, es wird das Groͤßeste, Wenn du's wohlmeinend giebst. Den Armen haß' ich, der dem Reichen schenkt; Er schilt das Gluͤck, die Unersaͤttliche! — Sei einem Alten, der da fehlt, nicht hart; Ein alter Baum ist zu verpflanzen schwer. Im Alter kommt der Reichthum uns zu gut, Er fuͤhrt den Alten gluͤcklich an der Hand. Was graͤmest du dich, Freund? du weißt es ja, Daß eben wenn das Gluͤck den Menschen lacht, Zu jedem Ungluͤck es die Pforte finde. Auch uͤber Keines Ungluͤck freue dich: Denn alles mischt und kehrt das Schicksal um. Nie schilt das Gluͤck. Du weißt, zu boͤser Zeit Gehn auch der Goͤtter Sachen selbst nicht wohl. Gesundheit ist mein erster Wunsch; der zweite L 3 Gluͤck im Geschaͤft; der dritte Freude; dann Noch Einer: „keinem je verpflichtet seyn! —“ Erst sieht, bewundert, dann betrachtet man Und faͤllt in Hoffnung, und zuletzt in Liebe. „Sag' an, wie soll ich Gott gedenken mir?“ Daß Er, der alles sieht, unsichtbar sei. „Was machst du, Syra? Wie befindst du dich?“ Kannst du noch also fragen einen Greis? Ein Greis ist nimmer wohl. Man sagt mit Recht, Und kann es sagen: „auch der Tod ist gut.“ „Was ist es denn? warum will er mich sehn?“ Ists, wie die Kranken, wenn der Schmerz sie quaͤlt, Und sie den Arzt erblicken, besser sind? So der Betruͤbte; siehet er den Freund, Nur neben sich; gleich lindert sich sein Gram. Auf Erden lebt kein Mensch, nicht Einer lebt, Der Boͤses nicht erfuhr, wie? oder noch Erfahren wird. Nur wer, was ihm begegnet, Aufs leichtste nimmt, nur der ist weis' und gluͤcklich. Erkenne was der Mensch ist, und du wirst Doch gluͤcklich seyn. Hier hoͤrst du Einen todt; Dort ist ein anderer gebohren; diese Gebar nicht, jenem ging es uͤbel; der Hat Husten; jener weint. Das alles bringt Die Menschheit mit sich; fliehe nur den Gram. Viel Ungluͤck ist in vielen Haͤusern, das, Wenn man es gut ertraͤgt, uns Gutes bringt. L 4 Der Menschen Viele machen sich das Uebel Noch groͤßer, als es ist. Dem starb ein Sohn; Dem eine Mutter; dem, beim Jupiter! Gar ein Verwandter. Naͤhm' ers, wie es ist, So starb ein Mensch. Das ist an sich das Uebel. Nun aber ruft er aus: „das Leben ist fuͤr mich Kein Leben mehr! Er ist dahin! Ich werd' ihn Nie wieder sehn!“ Er sieht den Ungluͤcksfall Allein in sich und haͤuft auf Uebel Uebel. Wer alles mit Vernunft betrachtet, wie Es an sich selbst, und nicht fuͤr ihn nur sei, Empfaͤngt das Gluͤck und haͤlt das Ungluͤck fern. In Traurigkeit sein selbst noch Meister seyn; Dies ists, was mich erhaͤlt und was den Men- schen macht. Wir armen Menschen! Unser Daseyn ist Ein Leben ohne Leben. Meinungen Beherrschen uns, seit wir Gesetze fanden, Der Vor- und Nachwelt Meinungen. Wir suchen Dem Uebel zu entgehn und finden uns Zum Uebel Vorwand. Wer was er sagen soll, nicht saget, der Ist immer lang und spraͤch' er nur zwei Sylben. Wer gut sagt, was er saget; ob er viel Und lang' auch spraͤche, der spricht nie zu lang. Sieh den Homer. Er schrieb viel tausend Worte, Und wem schrieb er zu viel? L 5 Wenn was wir haben, wir nicht brauchen, und Was wir nicht haben, suchen; ach so raubt Das Gluͤck uns Jenes, Dieses wir uns selbst. Gerecht ist nicht, der niemand Unrecht thut; Der ists, der Unrecht thun kann und nicht will. Nicht der, der kleinen Raubes sich enthaͤlt; Der ists, der großen Raub mit Muth ver- schmaͤht, Wenn er ihn haben und behalten kann. Nicht der ists, der dies alles nur befolgt, Der ists, der ungeschminkten, reinen Sinns, Seyn ein Gerechter und nicht scheinen will. So viele Kuͤnste es, o Laches gab; Kein Lehrer, alle lehrte sie die Zeit. Nicht Koͤrper nur; es wachsen mit der Zeit Auch Dinge! — Endlich den Hauptspruch: Ανϑϱωπος ων, τȣτ´ ισϑι, ϰαι μεμνησ´ αει. Du bist ein Mensch; das wiß' und denke stets daran. 39. N eben den Griechen ist schwer zu stehen, und doch haben auch Wir Stuͤcke, die ne- ben ihnen stehen koͤnnen und duͤrfen. Menschentugend . Die Ohren und die Herzen willig her, Ihr Menschen! Euer Gott hat mich gelehrt, Was Tugend sei; ich lehr' es, Menschen, Euch! Dem Nackenden von zweien Linnen Eins Um seine Bloͤße selbst ihm schmiegen, und Von zweien Broten Eins dem Hungrigen Darreichen, und aus seinem Quell dem Mann, Der frisches Wasser bittet, einen Trunk Selbst schoͤpfen, floͤß' er noch so tief im Thal. Ihr meine liebe Menschen, Tugend ist: Dem Huͤlfeduͤrftigen zuvor mit Gold Und Weisheit kommen; seine Seele sehn, Und seinen Kummer messen; und sich freun, Daß etwa Gold und etwa Weisheit ihn Der Freude wiederbringen; ihn auch nicht, Wer seines Kummers Ueberwinder war, Erfahren lassen — Menschen, Tugend ist: Und wenn die Boͤsen alle gegen euch In ihrer Bosheit wuͤteten, und sich Verschworen haͤtten alle gegen euch, Von Menschenliebe nicht zu Menschenhaß Hinuͤbergehen; immer, immer gut Den Boͤsen seyn; dem undankbaren Mann Exempel werden edler Dankbarkeit. Ihr meine lieben Menschen, Tugend ist: Dem Gotterschaffenen Erhalter seyn, Lebendigen das Leben fristen, rohen Stoff Umwenden, so daß er durch euren Fleiß Einst Leben zu dem Leben bringen muß. Ihr meine lieben Menschen, Tugend ist: Die Summe jedes Guten, welches Gott In seine Welt gelegt, an seinem Theil Vermehren; wenn und wo und wie sie nur Vermehret werden kann. Vermehrest Du Die Summe dieses Guten, dann, o dann Sei Koͤnig oder Bettler, Du gefaͤllst Dem Schoͤpfer alles Guten, deinem Gott. Du willst ihm nicht gefallen? wie? du willst Des Guten Summe nicht vermehren? willst Des Boͤsen, welches Gott in seiner Welt Zum Guten lenkt, Vermehrer seyn? Sei es! Du wirst dich schaͤmen einst und es bereun. So unser Gleim in seinem Halla - dat , oder rothen Buche , dem wir jetzt lieber einen andern Namen geben wollen; es enthaͤlt Blaͤtter zum aͤchten Koran der Menschenguͤte . Und dieser Lehrer spricht nicht nur, er thut auch also. Inhalt der dritten Sammlung . Br. 27. Ueber das Wort und den Begriff der Humanitaͤt. S. 5 — 28. Fortsetzung. S. 11 — 29. Fortsetzung. Einige Ausspruͤche des humansten Kaisers. S. 23 — 30. Lucrez von einem Genius der Menschheit. Humanitaͤt der Roͤmi- schen Dichtkunst und Geschichte. S. 34 — 31. Humanitaͤt der Griechen. S. 45 — 32. Resultate. Fragment eines Gespraͤches von Shaftesburi . S. 49 — 33. Ueber Shaftesburi. Ein Lehrgedicht vom Rechte der Vernunft. S. 65 Br. 34. Ueber die Humanitaͤt Homers in der Iliade. S. 76 — 35. Vom Unmuth. Von Compositionen. Musik nach Roͤmischen Dichtern. S. 102 — 36. Fortsetzung des Fragments uͤber die Humanitaͤt Homers in der Iliade. Diderot uͤber die Einfalt in Ho - mer . S. 114 — 37. Von Leßings Emilia Galotti. Di- derot uͤber die Moralitaͤt der Schaubuͤhne. S. 135 — 38. Swift uͤber die Humanitaͤt. Spruͤ- che aus Philemon. S. 158 — 39. Menschentugend, von Gleim . S. 168