Gespräche mit Goethe. Zweyter Theil . Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823 — 1832. Von Johann Peter Eckermann. Zweyter Theil . Leipzig : F. A. Brockhaus . 1836. 1828 . II . 1 Sonntag, den 15. Juny 1828. W ir hatten nicht lange am Tisch gesessen, als Herr Seidel mit den Tyrolern sich melden ließ. Die Saͤn¬ ger wurden ins Gartenzimmer gestellt, so daß sie durch die offenen Thuͤren gut zu sehen, und ihr Gesang aus dieser Ferne gut zu hoͤren war. Herr Seidel setzte sich zu uns an den Tisch. Die Lieder und das Gejodel der heiteren Tyroler behagte uns jungen Leuten; Fraͤulein Ulrike und mir gefiel besonders der Strauß und Du , du liegst mir im Herzen , wovon wir uns den Text ausbaten. Goethe selbst erschien keineswegs so entzuͤckt als wir Andern. „Wie Kirschen und Beeren behagen, sagte er, muß man Kinder und Sperlinge fragen.“ Zwischen den Liedern spielten die Tyroler allerlei natio¬ nale Taͤnze, auf einer Art von liegenden Zittern, von einer hellen Querfloͤte begleitet. Der junge Goethe wird hinausgerufen und kommt bald wieder zuruͤck. Er geht zu den Tyrolern und ent¬ laͤßt sie. Er setzt sich wieder zu uns an den Tisch. 1* Wir sprechen von Oberon , und daß so viele Menschen von allen Ecken herbeygestroͤmt, um diese Oper zu sehen, so daß schon Mittags keine Billets mehr zu haben ge¬ wesen. Der junge Goethe hebt die Tafel auf. „Lieber Vater, sagt er, wenn wir aufstehen wollten! Die Her¬ ren und Damen wuͤnschten vielleicht etwas fruͤher ins Theater zu gehen.“ Goethen erscheint diese Eile wun¬ derlich, da es noch kaum vier Uhr ist, doch fuͤgt er sich und steht auf, und wir verbreiten uns in den Zimmern. Herr Seidel tritt zu mir und einigen Anderen, und sagt leise und mit betruͤbtem Gesicht: „Eure Freude auf das Theater ist vergeblich, es ist keine Vorstellung, der Großherzog ist todt ! auf der Reise von Berlin hie¬ her ist er gestorben.“ Eine allgemeine Bestuͤrzung ver¬ breitete sich unter uns. Goethe kommt herein, wir thun als ob nichts passirt waͤre und sprechen von gleichguͤlti¬ gen Dingen. Goethe tritt mit mir ans Fenster und spricht uͤber die Tyroler und das Theater. „Sie gehen heut in meine Loge, sagte er, Sie haben Zeit bis sechs Uhr; lassen Sie die Andern und bleiben Sie bey mir, wir schwaͤtzen noch ein wenig.“ Der junge Goethe sucht die Gesellschaft fortzutreiben, um seinem Vater die Er¬ oͤffnung zu machen, ehe der Canzler, der ihm vorhin die Bothschaft gebracht, zuruͤckkommt. Goethe kann das wunderliche Eilen und Draͤngen seines Sohnes nicht begreifen und wird daruͤber verdrießlich. „Wollt Ihr denn nicht erst Euren Kaffee trinken, sagt er, es ist ja kaum vier Uhr!“ Indeß gingen die Uebrigen und auch ich nahm meinen Hut. „Nun? wollen Sie auch gehen?“ sagte Goethe, indem er mich verwundert ansah. Ja, sagte der junge Goethe, Eckermann hat auch vor dem Theater noch etwas zu thun. Ja, sagte ich, ich habe noch etwas vor. „So geht denn, sagte Goethe, indem er bedenklich den Kopf schuͤttelte, aber ich begreife Euch nicht.“ Wir gingen mit Fraͤulein Ulrike in die oberen Zim¬ mer; der junge Goethe aber blieb unten, um seinem Vater die unselige Eroͤffnung zu machen. Ich sah Goethe darauf spaͤt am Abend. Schon ehe ich zu ihm ins Zimmer trat, hoͤrte ich ihn seufzen und laut vor sich hinreden. Er schien zu fuͤhlen, daß in sein Daseyn eine unersetzliche Luͤcke gerissen wor¬ den. Allen Trost lehnte er ab und wollte von derglei¬ chen nichts wissen. „Ich hatte gedacht, sagte er, ich wollte vor Ihm hingehen; aber Gott fuͤgt es, wie er es fuͤr gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu tragen und uns empor zu halten so gut und so lange es gehen will.“ Die Großherzogin Mutter traf die Todesnachricht in ihrem Sommeraufenthalte zu Wilhelmsthal, den jungen Hof in Rußland. Goethe ging bald nach Dornburg , um sich den taͤglichen betruͤbenden Eindruͤcken zu ent¬ ziehen und sich in einer neuen Umgebung durch eine frische Thaͤtigkeit wieder herzustellen. Durch bedeutende ihn nahe beruͤhrende literarische Anregungen von Seiten der Franzosen ward er von Neuem in die Pflanzenlehre getrieben, bey welchen Studien ihm dieser laͤndliche Aufenthalt, wo ihm bey jedem Schritt ins Freye die uͤppigste Vegetation rankender Weinreben und sprossen¬ der Blumen umgab, sehr zu Statten kam. Ich besuchte ihn dort einige Mal in Begleitung sei¬ ner Schwiegertochter und Enkel. Er schien sehr gluͤck¬ lich zu seyn und konnte nicht unterlassen, seinen Zustand und die herrliche Lage des Schlosses und der Gaͤrten wiederholt zu preisen. Und in der That! man hatte aus den Fenstern von solcher Hoͤhe hinab einen reizenden Anblick. Unten das mannigfaltig belebte Thal mit der durch Wiesen sich hinschlaͤngelnden Saale. Gegenuͤber nach Osten waldige Huͤgel, uͤber welche der Blick ins Weite schweifte, so daß man fuͤhlte, es sey dieser Stand am Tag der Beobachtung vorbeyziehender und sich im Weiten verlierender Regenschauer, so wie bey Nacht der Betrachtung des oͤstlichen Sternenheers und der auf¬ gehenden Sonne besonders guͤnstig. „Ich verlebe hier, sagte Goethe, so gute Tage wie Naͤchte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege im offenen Fenster, um mich an der Pracht der jetzt zusammenstehenden drey Planeten zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenroͤthe zu erquicken. Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freyen, und halte geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken sagen und wovon ich Euch wunder¬ liche Dinge mittheilen koͤnnte. Auch mache ich wieder Gedichte, die nicht schlecht sind, und moͤchte uͤberall, daß es mir vergoͤnnt waͤre, in diesem Zustande so fort¬ zuleben.“ Donnerstag, den 11. September 1828. Heute zwey Uhr, bey dem herrlichsten Wetter, kam Goethe von Dornburg zuruͤck. Er war ruͤstig und ganz braun von der Sonne. Wir setzten uns bald zu Tisch, und zwar in dem Zimmer, das unmittelbar an den Garten stoͤßt, und dessen Thuͤren offen standen. Er er¬ zaͤhlte von mancherley gehabten Besuchen und erhaltenen Geschenken, und schien sich uͤberall in zwischen gestreu¬ ten leichten Scherzen zu gefallen. Blickte man aber tiefer, so konnte man eine gewisse Befangenheit nicht verkennen, wie sie derjenige empfindet, der in einen alten Zustand zuruͤckkehrt, der durch mancherley Verhaͤlt¬ nisse, Ruͤcksichten und Anforderungen bedingt ist. Wir waren noch bey den ersten Gerichten, als eine Sendung der Großherzogin Mutter kam, die ihre Freude uͤber Goethe's Zuruͤckkunft zu erkennen gab, mit der Meldung, daß sie naͤchsten Dienstag das Vergnuͤgen haben werde, ihn zu besuchen. Seit dem Tode des Großherzogs hatte Goethe Nie¬ manden von der fuͤrstlichen Familie gesehen. Er hatte zwar mit der Großherzogin Mutter in fortwaͤhrendem Briefwechsel gestanden, so daß sie sich uͤber den erlitte¬ nen Verlust gewiß hinlaͤnglich ausgesprochen hatten. Allein jetzt stand das persoͤnliche Wiedersehen bevor, das ohne einige schmerzliche Regungen von beyden Seiten nicht wohl abgehen konnte, und das demnach im Voraus mit einiger Apprehension mochte empfunden werden. So auch hatte Goethe den jungen Hof noch nicht ge¬ sehen und als neuer Landesherrschaft gehuldigt. Dieses alles stand ihm bevor, und wenn es ihn auch als gro¬ ßen Weltmann keineswegs genieren konnte, so genierte es ihn doch als Talent, das immer in seinen angebore¬ nen Richtungen und in seiner Thaͤtigkeit leben moͤchte. Zudem drohten Besuche aus allen Gegenden. Das Zusammenkommen beruͤhmter Naturforscher in Berlin hatte viele bedeutende Maͤnner in Bewegung gesetzt, die, in ihren Wegen Weimar durchkreuzend, sich theils hat¬ ten melden lassen und deren Ankunft zu erwarten war. Wochenlange Stoͤrungen, die den inneren Sinn hinnah¬ men und aus der gewohnten Bahn lenkten, und was sonst fuͤr Unannehmlichkeiten mit uͤbrigens so werthen Besuchen in Verbindung stehen mochten, dieses alles mußte von Goethe gespenstisch voraus empfunden wer¬ den, so wie er wieder den Fuß auf die Schwelle setzte und die Raͤume seiner Zimmer durchschritt. Was aber alles dieses Bevorstehende noch laͤstiger machte, war ein Umstand, den ich nicht uͤbergehen darf. Die fuͤnfte Lieferung seiner Werke, welche auch die Wanderjahre enthalten soll, muß auf Weihnachten zum Druck abgeliefert werden. Diesen fruͤher in Einem Bande erschienenen Roman hat Goethe gaͤnzlich umzu¬ arbeiten angefangen, und das Alte mit so viel Neuem verschmolzen, daß es als ein Werk in drey Baͤnden in der neuen Ausgabe hervorgehen soll. Hieran ist nun zwar bereits viel gethan, aber noch sehr viel zu thun. Das Manuscript hat uͤberall weiße Papierluͤcken, die noch ausgefuͤllt seyn wollen. Hier fehlt etwas in der Exposition, hier ist ein geschickter Uebergang zu fin¬ den, damit dem Leser weniger fuͤhlbar werde, daß es ein collectives Werk sey; hier sind Fragmente von gro¬ ßer Bedeutung, denen der Anfang, andere, denen das Ende mangelt, und so ist an allen drey Baͤnden noch sehr viel nachzuhelfen, um das bedeutende Buch zugleich annehmlich und anmuthig zu machen. Goethe theilte mir vergangenes Fruͤhjahr das Ma¬ nuscript zur Durchsicht mit; wir verhandelten damals sehr viel uͤber diesen wichtigen Gegenstand muͤndlich und schriftlich; ich rieth ihm, den ganzen Sommer der Voll¬ endung dieses Werkes zu widmen, und alle anderen Ar¬ beiten so lange zur Seite zu lassen; er war gleichfalls von dieser Nothwendigkeit uͤberzeugt und hatte den festen Entschluß, so zu thun. Dann aber starb der Großher¬ zog; in Goethe's ganze Existenz war dadurch eine un¬ geheure Luͤcke gerissen, an eine so viele Heiterkeit und ruhigen Sinn verlangende Composition war nicht mehr zu denken, und er hatte nur zu sehen, wie er sich per¬ soͤnlich oben halten und wieder herstellen wollte. Jetzt aber, da er mit Herbstes Anfang von Dorn¬ burg zuruͤckkehrend die Zimmer seiner Weimarischen Woh¬ nung wieder betrat, mußte ihm auch der Gedanke an die Vollendung seiner Wanderjahre, wozu ihm nur noch die kurze Frist weniger Monate vergoͤnnet war, lebendig vor die Seele treten, und zwar im Conflict mit den mannigfaltigen Stoͤrungen, die ihm bevorstanden und einem reinen ruhigen Walten und Wirken seines Ta¬ lentes im Wege waren. Faßt man nun alles Dargelegte zusammen, so wird man mich verstehen, wenn ich sage, daß in Goethe, trotz seiner leichten heiteren Scherze bey Tisch, eine tiefer liegende Befangenheit nicht sey zu verkennen gewesen. Warum ich aber diese Verhaͤltnisse beruͤhre, hat noch einen anderen Grund. Es steht mit einer Aeußerung Goethe's in Verbindung, die mir sehr merkwuͤrdig er¬ schien, die seinen Zustand und sein eigenthuͤmliches We¬ sen aussprach, und wovon ich nun reden will. Professor Abeken zu Osnabruͤck hatte mir in den Tagen vor dem 28. August einen Einschluß zugesendet, mit dem Ersuchen, ihn Goethe zu seinem Geburtstage zu schicklicher Stunde zu uͤberreichen. Es sey ein An¬ denken in Bezug auf Schiller , das gewiß Freude verursachen werde. Als nun Goethe heute bey Tisch von den mannig¬ faltigen Geschenken erzaͤhlte, die ihm zu seinem Geburts¬ tag nach Dornburg gesendet worden, fragte ich ihn, was das Paket von Abeken enthalten. „Es war eine merkwuͤrdige Sendung, sagte Goethe, die mir viele Freude gemacht hat. Ein liebenswuͤrdiges Frauenzimmer, bey der Schiller den Thee getrunken, hat die Artigkeit gehabt, seine Aeußerungen niederzuschreiben. Sie hat alles sehr huͤbsch aufgefaßt und treu wiederge¬ geben, und das lieset sich nun nach so langer Zeit gar gut, indem man dadurch unmittelbar in einen Zustand versetzt wird, der mit tausend anderen bedeutenden vor¬ uͤbergegangen ist, in diesem Fall aber gluͤcklicherweise in seiner Lebendigkeit auf dem Papiere gefesselt worden.“ „Schiller erscheint hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur; er ist so groß am Thee¬ tisch, wie er es im Staatsrath gewesen seyn wuͤrde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frey heraus ohne Ruͤcksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch seyn! — Wir Andern dagegen fuͤh¬ len uns immer bedingt; die Personen, die Gegenstaͤnde, die uns umgeben, haben auf uns ihren Einfluß; der Theeloͤffel geniert uns, wenn er von Gold ist, da er von Silber seyn sollte, und so, durch tausend Ruͤcksich¬ ten paralysirt, kommen wir nicht dazu, was etwa Großes in unserer Natur seyn moͤchte, frey auszulassen. Wir sind die Sclaven der Gegenstaͤnde, und erscheinen ge¬ ringe oder bedeutend, je nachdem uns diese zusammen¬ ziehen oder zu freyer Ausdehnung Raum geben.“ Goethe schwieg, das Gespraͤch mischte sich anders, ich aber bedachte diese merkwuͤrdigen, auch mein eigenes Innere beruͤhrenden und aussprechenden Worte in mei¬ nem Herzen. Mittwoch, den 1. October 1828. Herr Hoͤnninghausen aus Crefeld, Chef eines großen Handelshauses, zugleich Liebhaber der Naturwissenschaf¬ ten, besonders der Mineralogie, ein durch große Reisen und Studien vielseitig unterrichteter Mann, war heute bey Goethe zu Tisch. Er kam von der Versammlung der Naturforscher aus Berlin zuruͤck, und es ward uͤber dahinschlagende Dinge, besonders uͤber mineralogische Gegenstaͤnde manches gesprochen. Auch von den Vulkanisten war die Rede und von der Art und Weise, wie die Menschen uͤber die Natur zu Ansichten und Hypothesen kommen; bey welcher Ge¬ legenheit denn großer Naturforscher und auch des Aristoteles gedacht wurde, uͤber welchen sich Goethe also aussprach. „Aristoteles, sagte er, hat die Natur besser gesehen als irgend ein Neuerer, aber er war zu rasch mit seinen Meinungen. Man muß mit der Natur langsam und laͤßlich verfahren, wenn man ihr etwas abgewinnen will.“ „Wenn ich bey Erforschung naturwissenschaftlicher Gegenstaͤnde zu einer Meinung gekommen war, so ver¬ langte ich nicht, daß die Natur mir sogleich Recht geben sollte; vielmehr ging ich ihr in Beobachtungen und Ver¬ suchen pruͤfend nach, und war zufrieden, wenn sie sich so gefaͤllig erweisen wollte, gelegentlich meine Meinung zu bestaͤtigen. That sie es nicht, so brachte sie mich wohl auf ein anderes Aper ç uͤ, welchem ich nachging und welches zu bewahrheiten sie sich vielleicht williger fand.“ Freitag, den 3. October 1828. Ich sprach diesen Mittag bey Tisch mit Goethe uͤber Fouqu é 's Saͤngerkrieg auf der Wartburg , den ich auf seinen Wunsch gelesen. Wir kamen darin uͤber¬ ein, daß dieser Dichter sich zeitlebens mit altdeutschen Studien beschaͤftiget, und daß am Ende keine Cultur fuͤr ihn daraus hervorgegangen. „Es ist in der altdeutschen duͤsteren Zeit, sagte Goethe, eben so wenig fuͤr uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und aͤhnlichen barbarischen Volks¬ poesieen gewonnen haben. Man liest es und interessirt sich wohl eine Zeitlang dafuͤr, aber bloß um es abzu¬ thun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird uͤberhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verduͤstert, als daß er noͤthig haͤtte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu thun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es thut ihm noth, daß er sich zu solchen Kunst- und Literatur-Epochen wende, in denen vorzuͤgliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so daß es ihnen selber wohl war, und sie die Seligkeit ihrer Cultur wieder auf Andere auszugießen im Stande sind.“ „Wollen Sie aber von Fouqu é eine gute Meinung bekommen, so lesen Sie seine Undine , die wirklich allerliebst ist. Freylich war es ein guter Stoff, und man kann nicht einmal sagen, daß der Dichter alles daraus gemacht haͤtte, was darinne lag; aber doch, die Undine ist gut und wird Ihnen gefallen.“ Es geht mir unguͤnstig mit der neuesten deutschen Literatur, sagte ich. Zu den Gedichten von Egon Ebert kam ich aus Voltaire, dessen erste Bekanntschaft ich ge¬ macht, und zwar durch die kleinen Gedichte an Perso¬ nen, die gewiß zu dem Besten gehoͤren, was er je ge¬ schrieben. Nun mit Fouqu é geht es mir nicht besser. Vertieft in Walter Scotts Fair maid of Perth , gleich¬ falls das Erste, was ich von diesem großen Schriftsteller lese, bin ich veranlaßt, dieses an die Seite zu legen und mich in den Saͤngerkrieg auf der Wartburg zu begeben. „Gegen so große Auslaͤnder, sagte Goethe, koͤnnen freylich die neueren Deutschen keine Probe halten; aber es ist gut, daß Sie sich nach und nach mit allem In- und Auslaͤndischen bekannt machen, um zu sehen, wo denn eigentlich eine hoͤhere Weltbildung, wie sie der Dichter bedarf, zu holen ist.“ Frau von Goethe trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch. „Aber nicht wahr? fuhr Goethe heiter fort, Walter Scott's Fair maid of Perth ist gut! — Das ist gemacht! Das ist eine Hand! — Im Ganzen die sichere Anlage und im Einzelnen kein Strich, der nicht zum Ziele fuͤhrte. Und welch ein Detail! sowohl im Dialog als in der beschreibenden Darstellung, die beyde gleich vor¬ trefflich sind. — Seine Scenen und Situationen glei¬ chen Gemaͤlden von Teniers ; im Ganzen der Anord¬ nung zeigen sie die Hoͤhe der Kunst, die einzelnen Figuren haben eine sprechende Wahrheit und die Ausfuͤhrung erstreckt sich mit kuͤnstlerischer Liebe bis aufs Kleinste, so daß uns kein Strich geschenkt wird. — Bis wie weit haben Sie jetzt gelesen?“ Ich bin bis zu der Stelle gekommen, sagte ich, wo Henri Smith das schoͤne Zittermaͤdchen durch Straßen und Umwege nach Hause fuͤhrt, und wo ihm zu seinem Aerger der Muͤtzenmacher Proutfut und der Apotheker Dwining begegnen. „Ja, sagte Goethe, die Stelle ist gut! — Daß der widerstrebende ehrliche Waffenschmied so weit gebracht wird, neben dem verdaͤchtigen Maͤdchen zuletzt selbst das Huͤndchen mit aufzuhocken, ist einer der groͤßten Zuͤge, die irgend in Romanen anzutreffen sind. Es zeugt von einer Kenntniß der menschlichen Natur, der die tiefsten Geheimnisse offenbar liegen.“ Als einen hoͤchst gluͤcklichen Griff, sagte ich, muß ich auch bewundern, daß Walter Scott den Vater der Heldin einen Handschuhmacher seyn laͤßt, der durch den Handel mit Fellen und Haͤuten mit den Hochlaͤndern seit lange in Verkehr gestanden und noch steht. „Ja, sagte Goethe, das ist ein Zug der hoͤchsten Art. Es entspringen daraus fuͤr das ganze Buch die guͤnstigsten Verhaͤltnisse und Zustaͤnde, die dadurch alle zugleich eine reale Basis erhalten, so daß sie die uͤber¬ zeugendste Wahrheit mit sich fuͤhren. Ueberall finden Sie bey Walter Scott die große Sicherheit und Gruͤnd¬ lichkeit in der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntniß der realen Welt hervorgeht, wozu er durch lebenslaͤngliche Studien und Beobachtungen und ein taͤgliches Durchsprechen der wichtigsten Verhaͤltnisse ge¬ langt ist. Und nun sein großes Talent und sein um¬ fassendes Wesen! — Sie erinnern sich des englischen Critikers, der die Poeten mit menschlichen Saͤnger¬ Stimmen vergleicht, wo Einigen nur wenig gute Toͤne zu Gebote staͤnden, waͤhrend Andere den hoͤchsten Um¬ fang von Tiefe und Hoͤhe in vollkommener Gewalt haͤt¬ ten. Dieser letzteren Art ist Walter Scott. In dem Fair maid of Perth werden Sie nicht eine einzige schwache Stelle finden, wo es Ihnen fuͤhlbar wuͤrde, es habe seine Kenntniß und sein Talent nicht ausgereicht. Er ist seinem Stoff nach allen Richtungen hin gewachsen. Der Koͤnig, der koͤnigliche Bruder, der Kronprinz, das Haupt der Geistlichkeit, der Adel, der Magistrat, die Buͤrger und Handwerker, die Hochlaͤnder, sie sind alle mit gleich sicherer Hand gezeichnet und mit gleicher Wahrheit getroffen.“ Die Englaͤnder, sagte Frau v. Goethe, lieben beson¬ ders den Character des Henri Smith, und Walter Scott scheint ihn auch zum Helden des Buchs gemacht zu haben. Mein Favorit ist er nicht; mir koͤnnte der Prinz gefallen. Der Prinz, sagte ich, bleibt bey aller Wildheit im¬ mer noch liebenswuͤrdig genug, und er ist vollkommen so gut gezeichnet wie irgend ein Anderer. „Wie er zu Pferde sitzend, sagte Goethe, das huͤb¬ sche Zittermaͤdchen auf seinen Fuß treten laͤßt, um sie zu einem Kuß zu sich heranzuheben, ist ein Zug von der verwegensten englischen Art. Aber Ihr Frauen habt Unrecht, wenn Ihr immer Partey macht; Ihr leset ge¬ woͤhnlich ein Buch, um darin Nahrung fuͤr Euer Herz II . 2 zu finden, einen Helden, den Ihr lieben koͤnntet! So soll man aber eigentlich nicht lesen, und es kommt gar nicht darauf an, daß Euch dieser oder jener Character gefalle, sondern daß Euch das Buch gefalle.“ Wir Frauen sind nun einmal so, lieber Vater, sagte Frau von Goethe, indem sie uͤber den Tisch neigend ihm die Hand druͤckte. „Man muß Euch schon in Eurer Liebenswuͤrdigkeit gewaͤhren lassen, erwiederte Goethe.“ Das neueste Stuͤck des Globe lag neben ihm, das er zur Hand nahm. Ich sprach derweile mit Frau v. Goethe uͤber junge Englaͤnder, deren Bekanntschaft ich im Theater gemacht. „Was aber die Herren vom Globe fuͤr Menschen sind, begann Goethe wieder mit einigem Feuer, wie die mit jedem Tage groͤßer, bedeutender werden und alle wie von Einem Sinne durchdrungen sind, davon hat man kaum einen Begriff. In Deutschland waͤre ein solches Blatt rein unmoͤglich. Wir sind lauter Particu¬ liers; an Übereinstimmung ist nicht zu denken; Jeder hat die Meinungen seiner Provinz, seiner Stadt, ja seines eigenen Individuums, und wir koͤnnen noch lange warten, bis wir zu einer Art von allgemeiner Durch¬ bildung kommen.“ Dienstag, den 7. October 1828. Heute bey Tisch war die heiterste Gesellschaft. Außer den Weimarischen Freunden waren auch einige von Ber¬ lin zuruͤckkehrende Naturforscher zugegen, unter denen Herr von Martius aus Muͤnchen, der an Goethe's Seite saß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigsten Dinge wurde hin und her gescherzt und gesprochen. Goethe war von besonders guter Laune und uͤberaus mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, Moses von Rossini, ward viel beredet. Man tadelte das Suͤjet, man lobte und tadelte die Musik; Goethe aͤußerte sich folgendermaßen. „Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder, sagte er, wie Ihr Suͤjet und Musik trennen und jedes fuͤr sich genießen koͤnnt. Ihr sagt, das Suͤjet tauge nicht, aber Ihr haͤttet es ignorirt und Euch an der trefflichen Musik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung Eurer Natur, und wie Eure Ohren im Stande sind, anmuthigen Toͤnen zu lauschen, waͤhrend der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenstaͤnden geplagt wird.“ „Und daß Euer Moses doch wirklich gar zu absurd ist, werdet Ihr nicht laͤugnen. So wie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! — Dieß ist sehr unpassend. Wenn Du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kaͤmmerlein und schleuß die Thuͤr hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten.“ 2* „Ich haͤtte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen und das Stuͤck ganz anders anfangen lassen. Ich haͤtte Euch zuerst gezeigt, wie die Kinder Israel, bey schwerem Frohndienst, von der Tyranney der egyptischen Voͤgte zu leiden haben, damit es nachher desto anschau¬ licher wuͤrde, welche Verdienste sich Moses um sein Volk erworben, das er aus so schaͤndlichem Druck zu befreyen gewußt.“ Goethe fuhr fort mit großer Heiterkeit die ganze Oper Schritt vor Schritt durch alle Scenen und Acte aufzubauen, immer geistreich und voller Leben, im histo¬ rischen Sinne des Suͤjets, und zum freudigen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die den unaufhaltsamen Fluß seiner Gedanken und den heiteren Reichthum seiner Er¬ findungen zu bewundern hatte. Es ging alles zu rasch voruͤber um es aufzufassen, doch ist mir der Tanz der Egyptier im Gedaͤchtniß geblieben, den Goethe nach der uͤberstandenen Finsterniß, als Freude uͤber das wieder¬ gegebene Licht, eintreten ließ. Das Gespraͤch lenkte sich von Moses zuruͤck auf die Suͤndfluth, und so nahm es bald, durch den geistreichen Naturforscher angeregt, eine naturhistorische Wendung. „Man will, sagte Herr von Martius, auf dem Ararat ein Stuͤck von der Arche Noahs versteinert ge¬ funden haben, und es sollte mich wundern, wenn man nicht auch die versteinerten Schaͤdel der ersten Menschen finden sollte.“ Diese Aeußerung gab zu aͤhnlichen Anlaß, und so kam die Unterhaltung auf die verschiedenen Menschen¬ ra ç en, wie sie als Schwarze, Braune, Gelbe und Weiße die Laͤnder der Erde bewohnen; so daß man mit der Frage schloß, ob denn wirklich anzunehmen, daß alle Menschen von dem einzigen Paare Adam und Eva abstammen? Herr v. Martius war fuͤr die Sage der heiligen Schrift, die er als Naturforscher durch den Satz zu be¬ staͤtigen suchte, daß die Natur in ihren Productionen hoͤchst oͤconomisch zu Werke gehe. „Dieser Meinung, sagte Goethe, muß ich wider¬ sprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur sich immer reichlich, ja verschwenderisch erweise, und daß es weit mehr in ihrem Sinne sey, anzunehmen, sie habe, statt eines einzigen armseligen Paares, die Menschen gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen.“ „Als naͤmlich die Erde bis zu einem gewissen Punkt der Reife gediehen war, die Wasser sich verlaufen hat¬ ten und das Trockene genugsam gruͤnete, trat die Epoche der Menschwerdung ein, und es entstanden die Menschen durch die Allmacht Gottes uͤberall wo der Boden es zuließ, und vielleicht auf den Hoͤhen zuerst. Anzuneh¬ men, daß dieses geschehen, halte ich fuͤr vernuͤnftig; allein daruͤber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich fuͤr ein unnuͤtzes Geschaͤft, das wir denen uͤberlassen wollen, die sich gerne mit unaufloͤsbaren Problemen beschaͤftigen, und die nichts besseres zu thun haben.“ Wenn ich auch, sagte Herr v. Martius mit einiger Schalkheit, mich als Naturforscher von der Ansicht Eurer Excellenz gerne uͤberzeugen ließ, so fuͤhle ich mich doch als guter Christ in einiger Verlegenheit, zu einer Mei¬ nung uͤberzutreten, die mit den Aussagen der Bibel nicht wohl zu vereinigen seyn moͤchte. „Die heilige Schrift, erwiederte Goethe, redet aller¬ dings nur von Einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tage erschaffen. Allein die begabten Maͤnner, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bi¬ bel uͤberliefert, hatten es zunaͤchst mit ihrem auserwaͤhl¬ ten Volke zu thun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keinesweges streitig machen. Wir andern aber, so wie auch die Neger und Lapplaͤnder, und schlanke Menschen, die schoͤner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urvaͤter; wie denn die werthe Gesellschaft gewiß zugeben wird, daß wir uns von den echten Abkoͤmmlingen Adams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden, und daß sie, beson¬ ders was das Geld betrifft, es uns allen zuvorthun.“ Wir lachten; das Gespraͤch mischte sich allgemein; Goethe, durch Herrn v. Martius zu Widerspruͤchen an¬ geregt, sagte noch manches bedeutende Wort, das, den Schein des Scherzes tragend, dennoch aus dem Grund eines tieferen Hinterhaltes hervorging. Nach aufgehobener Tafel ließ sich der preußische Minister, Herr v. Jordan, melden und wir zogen uns in das angrenzende Zimmer. Mittwoch, den 8. October 1828. Tieck , mit Gemahlin und Toͤchtern und Graͤfin Finkenstein, von seiner Rheinreise zuruͤckkommend, wurde heute bei Goethe zu Tisch erwartet. Ich traf in den Vorzimmern mit ihnen zusammen. Tieck sah sehr wohl aus, die Rheinbaͤder schienen eine gute Wirkung auf ihn gehabt zu haben. Ich erzaͤhlte ihm, daß ich in der Zwischenzeit den ersten Roman von Walter Scott gelesen, und welche Freude ich uͤber dieses außerordent¬ liche Talent empfunden. „Ich zweifle, sagte Tieck, daß dieser neueste Roman, den ich noch nicht kenne, das Beste sey, was Walter Scott geschrieben; allein dieser Schriftsteller ist so bedeutend, daß das Erste, was man von ihm lieset, immer in Erstaunen setzet, man mag zu ihm gelangen von welcher Seite man wolle.“ Professor Goͤttling trat herein, von seiner italie¬ nischen Reise ganz frisch zuruͤckgekehrt. Ich hatte große Freude ihn wieder zu sehen und zog ihn an ein Fenster, daß er mir erzaͤhlen moͤchte. „Nach Rom ! sagte er, nach Rom muͤssen Sie, um etwas zu werden! Das ist eine Stadt! das ist ein Leben! das ist eine Welt! — Alles was in unserer Natur Kleines ist, kann in Deutsch¬ land nicht herausgebracht werden. Aber sobald wir in Rom eintreten, geht eine Umwandlung mit uns vor und wir fuͤhlen uns groß wie die Umgebung.“ Warum sind Sie nicht laͤnger dort geblieben? fragte ich. „Geld und Urlaub, entgegnete er, waren zu Ende. Aber es ward mir wunderlich zu Muthe, als ich, das schoͤne Italien im Ruͤcken, den Fuß wieder uͤber die Alpen setzte.“ Goethe kam und begruͤßte die Anwesenden. Er sprach Verschiedenes mit Tieck und den Seinigen, und bot so¬ dann der Graͤfin den Arm, um sie zu Tisch zu fuͤhren. Wir Andern folgten und machten, indem wir uns setz¬ ten, bunte Reihe. Die Unterhaltung war lebhaft und ungenirt, von dem jedoch, was gesprochen worden, weiß ich mich wenig zu erinnern. Nach aufgehobener Tafel ließen sich die Prinzen von Oldenburg melden. Wir gingen alle hinauf in die Zim¬ mer der Frau v. Goethe, wo Fraͤulein Agnes Tieck sich zum Fluͤgel setzte, und das schoͤne Lied: Im Felde schleich' ich still und wild ꝛc. mit einer trefflichen Alt-Stimme so im Geiste der Situation vortrug, daß es einen Eindruck ganz eigener unvergeßlicher Art machte. Donnerstag, den 9. October 1828. Diesen Mittag bey Tisch war ich mit Goethe und Frau v. Goethe allein. Und wie ein Gespraͤch fruͤherer Tage wohl wieder aufgenommen und fortgefuͤhrt wird so geschah es auch heute. Der Moses von Rossini kam abermals zur Sprache und wir erinnerten uns gerne Goethe's heiterer Erfindung von vorgestern. „Was ich in Scherz und guter Laune uͤber den Moses geaͤußert haben mag, sagte Goethe, weiß ich nicht mehr; denn so etwas geschieht ganz unbewußt. Aber so viel ist gewiß, daß ich eine Oper nur dann mit Freuden genießen kann, wenn das Suͤjet eben so vollkommen ist wie die Musik, so daß beyde mit einander gleichen Schritt ge¬ hen. Fragt Ihr mich, welche Oper ich gut finde, so nenne ich Euch den Wassertraͤger ; denn hier ist das Suͤjet so vollkommen, daß man es ohne Musik als ein bloßes Stuͤck geben koͤnnte und man es mit Freuden sehen wuͤrde. Diese Wichtigkeit einer guten Unterlage begreifen entweder die Componisten nicht, oder es fehlt ihnen durchaus an sachverstaͤndigen Poeten, die ihnen mit Bearbeitung guter Gegenstaͤnde zur Seite traͤten. Waͤre der Freyschuͤtz kein so gutes Suͤjet, so haͤtte die Musik zu thun gehabt, der Oper den Zulauf der Menge zu verschaffen, wie es nun der Fall ist, und man sollte daher dem Herrn Kind auch einige Ehre erzeigen.“ Es ward noch Verschiedenes uͤber diesen Gegenstand gesprochen, dann aber gedachten wir des Professor Goͤtt¬ ling und seiner italienischen Reise. „Ich kann es dem Guten nicht verargen, sagte Goethe, daß er von Italien mit solcher Begeisterung redet; weiß ich doch wie mir selber zu Muthe gewesen ist! Ja ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfun¬ den habe, was eigentlich ein Mensch sey. — Zu dieser Hoͤhe, zu diesem Gluͤck der Empfindung bin ich spaͤter nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh ge¬ worden.“ „Doch wir wollen uns nicht melancholischen Be¬ trachtungen hingeben, fuhr Goethe nach einer Pause fort; wie geht es mit Ihrem Fair maid of Perth ? Wie haͤlt es sich? Wie weit sind Sie? Erzaͤhlen Sie mir und geben Sie Rechenschaft.“ Ich lese langsam, sagte ich; ich bin jedoch bis zu der Scene vorgeruͤckt, wo Proutfut in der Ruͤstung von Henri Smith, dessen Gang und dessen Art zu pfeifen er nachahmt, erschlagen und am andern Morgen von den Buͤrgern in den Straßen von Perth gefunden wird, die ihn fuͤr Henri Smith halten und daruͤber die ganze Stadt in Allarm setzen. „Ja, sagte Goethe, die Scene ist bedeutend, sie ist eine der besten.“ Ich habe dabey besonders bewundert, fuhr ich fort, in wie hohem Grade Walter Scott das Talent besitzt, verworrene Zustaͤnde mit großer Klarheit auseinander zu setzen, so daß alles zu Massen und zu ruhigen Bildern sich absondert, die einen solchen Eindruck in uns hin¬ terlassen, als haͤtten wir dasjenige, was zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten geschieht, gleich allwissenden We¬ sen, von oben herab mit Einem Male uͤbersehen. „Überhaupt, sagte Goethe, ist der Kunstverstand bey Walter Scott sehr groß, weßhalb denn auch wir und unsers Gleichen, die darauf, wie etwas gemacht ist, ein besonderes Augenmerk richten, an seinen Sachen ein doppeltes Interesse und davon den vorzuͤglichsten Gewinn haben. Ich will Ihnen nicht vorgreifen, aber Sie wer¬ den im dritten Theile noch einen Kunstpfiff der ersten Art finden. Daß der Prinz im Staatsrath den klugen Vorschlag gethan, die rebellischen Hochlaͤnder sich unter einander todt schlagen zu lassen, haben Sie bereits ge¬ lesen, auch daß der Palm-Sonntag festgesetzt worden, wo die beyden feindlichen Staͤmme der Hochlaͤnder nach Perth herabkommen sollen, um dreyßig gegen dreyßig auf Tod und Leben mit einander zu fechten. Nun sollen Sie bewundern, wie Walter Scott es macht und ein¬ leitet, daß am Tage der Schlacht an der einen Partey ein Mann fehlt, und mit welcher Kunst er es von fern her anzustellen weiß, seinen Helden Henri Smith an den Platz des fehlenden Mannes unter die Kaͤmpfenden zu bringen! — Dieser Zug ist uͤberaus groß, und Sie werden sich freuen, wenn Sie dahin kommen.“ „Wenn Sie aber mit dem Fair maid of Perth zu Ende sind, so muͤssen Sie sogleich den Waverley lesen, der freylich noch aus ganz anderen Augen sieht, und der ohne Frage den besten Sachen an die Seite zu stel¬ len ist, die je in der Welt geschrieben worden. Man sieht, es ist derselbige Mensch, der die Fair maid of Perth gemacht hat, aber es ist derjenige, der die Gunst des Publicums erst noch zu gewinnen hatte, und der sich daher zusammen nimmt, so daß er keinen Zug thut, der nicht vortrefflich waͤre. Die Fair maid of Perth dage¬ gen ist mit einer breiteren Feder geschrieben, der Autor ist schon seines Publicums gewiß, und er laͤßt sich schon etwas freyer gehen. Wenn man den Waverley gelesen hat, so begreift man freylich wohl, warum Walter Scott sich noch jetzt immer den Verfasser jener Production nennt; denn darin hat er gezeigt, was er konnte, und er hat spaͤter nie etwas geschrieben, das besser waͤre, oder das diesem zuerst publicirten Romane nur gleich kaͤme.“ Donnerstag, den 9. October 1828. Zu Ehren Tiecks war diesen Abend in den Zim¬ mern der Frau v. Goethe ein sehr unterhaltender Thee. Ich machte die Bekanntschaft des Grafen und der Graͤfin Medem ; letztere sagte mir, daß sie am Tage Goethe gesehen und wie sie von diesem Eindruck noch im Innersten begluͤckt sey. Der Graf interessirte sich beson¬ ders fuͤr den Faust und dessen Fortsetzung, uͤber welche Dinge er sich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt. Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck et¬ was lesen wuͤrde, und so geschah es auch. Die Gesell¬ schaft begab sich sehr bald in ein entfernteres Zimmer, und nachdem jeder es sich in einem weiten Kreis auf Stuͤhlen und Sopha's zum Anhoͤren bequem gemacht, las Tieck den Clavigo . Ich hatte das Stuͤck oft gelesen und empfunden, doch jetzt erschien es mir durchaus neu, und that eine Wirkung wie fast nie zuvor. Es war mir, als hoͤrte ich es vom Theater herunter, allein besser; die einzelnen Charactere und Situationen waren vollkommener ge¬ fuͤhlt; es machte den Eindruck einer Vorstellung, in der jede Rolle ganz vortrefflich besetzt worden. Man koͤnnte kaum sagen, welche Partieen des Stuͤckes Tieck besser gelesen, ob solche, in denen sich Kraft und Leidenschaft der Maͤnner entwickelt, ob ruhig klare Ver¬ standes-Scenen, oder ob Momente gequaͤlter Liebe. Zu dem Vortrag letzterer Art standen ihm jedoch ganz be¬ sondere Mittel zu Gebot. Die Scene zwischen Marie und Clavigo toͤnet mir noch immer vor den Ohren; die gepreßte Brust, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halb erstickte Worte und Laute, das Hau¬ chen und Seufzen eines in Begleitung von Thraͤnen heißen Athems, alles dieses ist mir noch vollkommen gegenwaͤrtig und wird mir unvergeßlich seyn. Jeder¬ mann war im Anhoͤren versunken und davon hingeris¬ sen; die Lichter brannten truͤbe, Niemand dachte daran, oder wagte es, sie zu putzen, aus Furcht vor der leise¬ sten Unterbrechung; Thraͤnen in den Augen der Frauen, die immer wieder hervorquollen, zeugten von des Stuͤckes tiefer Wirkung, und waren wohl der gefuͤhlteste Tribut, der dem Vorleser wie dem Dichter gezollt werden konnte. Tieck hatte geendigt und stand auf, sich den Schweiß von der Stirne wischend, die Hoͤrenden aber waren noch immer wie gefesselt auf ihren Stuͤhlen; jeder schien in dem, was ihm so eben durch die Seele gegangen war, noch zu tief begriffen, als daß er passende Worte des Dankes fuͤr den haͤtte bereit haben sollen, der eine so wunderbare Wirkung auf alle hervorgebracht hatte. Nach und nach fand man sich wieder; man stand auf und sprach und ging erheitert durch einander; dann aber begab man sich zu einem Soup é , das in den Ne¬ benzimmern auf kleinen Tischen bereit stand. Goethe selbst war diesen Abend nicht gegenwaͤrtig; aber sein Geist und sein Andenken war unter uns allen lebendig. Er sendete Tieck seine Entschuldigung, dessen beyden Toͤchtern Agnes und Dorothea aber zwey Tuch¬ nadeln mit seinem Bildniß und rothen Bandschleifen, die Frau v. Goethe uͤberreichte und wie kleine Orden ihnen vorsteckte. Freytag, den 10. October 1828. Von Herrn William Fraser in London, Heraus¬ geber des Foreign Review , gelangten diesen Morgen zwey Exemplare des dritten Stuͤcks jener periodischen Schrift zu mir, wovon ich das eine Exemplar diesen Mittag Goethen uͤberreichte. Ich fand wieder eine heitere Tischgesellschaft geladen, zu Ehren Tiecks und der Graͤfin, die auf das Bitten Goethe's und der uͤbrigen Freunde noch einen Tag zu¬ gegeben hatten, waͤhrend der uͤbrige Theil dieser Familie schon am Morgen nach Dresden vorausgereiset war. Ein besonderer Gegenstand der Unterhaltung bey Tisch war die englische Literatur und namentlich Walter Scott, bey welcher Gelegenheit Tieck unter andern sagte, daß er vor zehn Jahren das erste Exemplar des Waverley nach Deutschland gebracht habe. Sonnabend, den 11. October 1828. Das gedachte Foreign Review des Herrn Fraser ent¬ hielt unter vielen bedeutenden und interessanten Gegen¬ staͤnden auch einen hoͤchst wuͤrdigen Aufsatz uͤber Goethe von Carlyle , den ich diesen Morgen studirte. Ich ging Mittags ein wenig fruͤher zu Tisch, um vor der Ankunft der uͤbrigen Gaͤste mich mit Goethe daruͤber zu bereden. Ich fand ihn, wie ich wuͤnschte, noch allein, in Er¬ wartung der Gesellschaft. Er trug seinen schwarzen Frack und Stern, worin ich ihn so gerne sehe; er schien heute besonders jugendlich heiter, und wir fingen sogleich an von unserm gemeinsamen Interesse zu reden. Goethe sagte mir, daß er Carlyle's Aufsatz uͤber ihn gleichfalls diesen Morgen betrachtet, und so waren wir denn im Stande, uͤber die Bestrebungen der Auslaͤnder manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen. „Es ist eine Freude, zu sehen, sagte Goethe, wie die fruͤhere Pedanterie der Schotten sich in Ernst und Gruͤndlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carly¬ le's Verdienste um die deutsche Literatur erwaͤge, so ist es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Besseren geschehen ist.“ An Carlyle, sagte ich, muß ich vor allem den Geist und Character verehren, der seinen Richtungen zum Grunde liegt. Es ist ihm um die Cultur seiner Nation zu thun, und da fragt er denn bey den literarischen Erzeugnissen des Auslandes, womit er seine Landsleute bekannt zu machen wuͤnscht, weniger nach Kuͤnsten des Talents, als nach der Hoͤhe sittlicher Bildung, die aus solchen Werken zu gewinnen. „Ja, sagte Goethe, die Gesinnung aus der er handelt, ist besonders schaͤtzbar. Und wie ist es ihm Ernst! und wie hat er uns Deutsche studirt! Er ist in unserer Literatur fast besser zu Hause als wir selbst; zum wenigsten koͤnnen wir mit ihm in unsern Bemuͤ¬ hungen um das Englische nicht wetteifern.“ Der Aufsatz, sagte ich, ist mit einem Feuer und Nachdruck geschrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß in England noch viele Vorurtheile und Widerspruͤche zu bekaͤmpfen sind. Den Wilhelm Meister zumal scheinen uͤbelwollende Critiker und schlechte Übersetzer in kein guͤnstiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt sich nun Carlyle sehr gut. Der dummen Nachrede, daß keine wahre Edelfrau den Meister lesen duͤrfe, wider¬ spricht er sehr heiter mit dem Beyspiele der letzten Koͤ¬ nigin von Preußen , die sich mit dem Buche ver¬ traut gemacht, und die doch mit Recht fuͤr eine der ersten Frauen ihrer Zeit gelte. Verschiedene Tischgaͤste traten herein, die Goethe be¬ gruͤßte. Er wendete seine Aufmerksamkeit mir wieder zu und ich fuhr fort. Freylich, sagte ich, hat Carlyle den Meister studirt, und so, durchdrungen von dem Werth des Buches wie er ist, moͤchte er gerne, daß es sich allgemein verbrei¬ tete, er moͤchte gerne, daß jeder Gebildete davon glei¬ chen Gewinn und Genuß haͤtte. Goethe zog mich an ein Fenster, um mir zu ant¬ worten. „Liebes Kind, sagte er, ich will Ihnen etwas ver¬ II . 3 trauen, das Sie sogleich uͤber Vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslaͤnglich zu Gute kommen soll. Meine Sachen koͤnnen nicht popular werden ; wer daran denkt und dafuͤr strebt, ist in einem Irrthum. Sie sind nicht fuͤr die Masse geschrieben, sondern nur fuͤr einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und die in aͤhnlichen Richtungen begriffen sind.“ Er wollte weiter reden; eine junge Dame trat heran, ihn unterbrechend und ihn in ein Gespraͤch ziehend. Ich wendete mich zu Anderen, worauf wir uns bald zu Tisch setzten. Von dem, was gesprochen wurde, wuͤßte ich nichts zu sagen; Goethe's Worte lagen mir im Sinn und be¬ schaͤftigten ganz mein Inneres. Freylich, dachte ich, ein Schriftsteller wie Er, ein Geist von solcher Hoͤhe, eine Natur von so unendlichem Umfang, wie soll der popular werden! Kann doch kaum ein kleiner Theil von ihm popular werden! Kaum ein Lied, das lustige Bruͤder und verliebte Maͤdchen singen und das fuͤr Andere wiederum nicht da ist. Und, recht besehen, ist es nicht mit allen außeror¬ dentlichen Dingen so? Ist denn Mozart popular? Und ist es denn Raphael? — Und verhaͤlt sich nicht die Welt gegen so große Quellen uͤberschwenglichen geistigen Lebens uͤberall nur wie Naschende, die froh sind, hin und wieder ein Weniges zu erhaschen, das ihnen eine Weile eine hoͤhere Nahrung gewaͤhre? Ja! fuhr ich in meinen Gedanken fort, Goethe hat Recht! Er kann seinem Umfange nach nicht popular werden, und seine Werke sind nur fuͤr einzelne Men¬ schen, die etwas Ähnliches suchen und die in aͤhnlichen Richtungen begriffen sind. Sie sind im Ganzen fuͤr betrachtende Naturen, die in die Tiefen der Welt und Menschheit zu dringen wuͤnschen und seinen Pfaden nachgehen. — Sie sind im Einzelnen fuͤr leidenschaftlich Genießende, die des Herzens Wonne und Weh im Dichter suchen. — Sie sind fuͤr junge Poeten, die lernen wollen, wie man sich ausdruͤcke und wie man einen Gegenstand kunstgemaͤß behandele. — Sie sind fuͤr Critiker, die darin ein Muster empfangen, nach welchen Maximen man urthei¬ len solle, und wie man auch eine Recension interessant und anmuthig mache, so daß man sie mit Freuden lese. — Seine Werke sind fuͤr den Kuͤnstler, weil sie ihm im Allgemeinen den Geist aufklaͤren und er im Be¬ sonderen aus ihnen lernt, welche Gegenstaͤnde eine kunst¬ gemaͤße Bedeutung haben, und was er demnach dar¬ stellen solle und was nicht. — Sie sind fuͤr den Na¬ turforscher, nicht allein weil gefundene große Gesetze ihm uͤberliefert werden, sondern auch vorzuͤglich, weil er darin eine Methode empfaͤngt, wie ein guter Geist mit der Natur verfahren muͤsse, damit sie ihm ihre Ge¬ heimnisse offenbare. Und so gehen denn alle wissenschaftlich und kuͤnst¬ 3 * lerisch Strebenden bey den reichbesetzten Tafeln seiner Werke zu Gaste, und in ihren Wirkungen zeugen sie von der allgemeinen Quelle eines großen Lichtes und Lebens, aus der sie geschoͤpft haben. Diese und aͤhnliche Gedanken gingen mir bey Tisch durch den Kopf. Ich dachte an einzelne Personen, an manchen wackeren deutschen Kuͤnstler, Naturforscher, Dichter und Critiker, die einen großen Theil ihrer Bil¬ dung Goethen zu danken haben. Ich dachte an geist¬ reiche Italiener, Franzosen und Englaͤnder, die auf ihn ihre Augen richten und die in seinem Sinne handeln. Unterdessen hatte man um mich her heiter gescherzt und gesprochen und es sich an guten Gerichten wohl seyn lassen. Ich hatte auch mitunter ein Woͤrtchen mit drein geredet, aber alles, ohne eigentlich bey der Sache zu seyn. Eine Dame hatte eine Frage an mich gerichtet, worauf ich vielleicht nicht die beste Antwort mochte ge¬ geben haben. Ich wurde geneckt. „Laßt nur den Eckermann, sagte Goethe, er ist im¬ mer abwesend, außer wenn er im Theater sitzt.“ Man lachte auf meine Kosten; doch war es mir nicht unlieb. Ich war heute in meinem Gemuͤth beson¬ ders gluͤcklich. Ich segnete mein Geschick, das mich, nach manchen wunderlichen Fuͤgungen, den Wenigen zugesellet hatte, die den Umgang und das naͤhere Ver¬ trauen eines Mannes genießen, dessen Groͤße mir noch vor wenig Augenblicken lebhaft durch die Seele gegan¬ gen war, und den ich nun in seiner vollen Liebenswuͤr¬ digkeit persoͤnlich vor Augen hatte. Biscuit und schoͤne Trauben wurden zum Nachtisch aufgetragen. Letztere waren aus der Ferne gesendet und Goethe that geheimnißvoll, woher sie gekommen. Er vertheilte sie und reichte mir eine sehr reife uͤber den Tisch. „Hier, mein Guter, sagte er, essen Sie von diesen Suͤßigkeiten und seyn Sie vergnuͤgt.“ Ich ließ mir die Traube aus Goethe's Haͤnden wohlschmecken und war nun mit Leib und Seele voͤllig in seiner Naͤhe. Man sprach vom Theater, von Wolff's Verdien¬ sten, und wie viel Gutes von diesem trefflichen Kuͤnst¬ ler ausgegangen. „Ich weiß sehr wohl, sagte Goethe, daß unsere hie¬ sigen aͤlteren Schauspieler manches von mir gelernt ha¬ ben, aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur Wolff meinen Schuͤler nennen. Wie sehr er in meine Maximen eingedrungen war, und wie er in meinem Sinne handelte, davon will ich einen Fall erzaͤhlen, den ich gerne wiederhole.“ „Ich war einst gewisser anderer Ursachen wegen auf Wolff sehr boͤse. Er hatte Abends zu spielen und ich saß in meiner Loge. Jetzt, dachte ich, sollst du ihm doch einmal recht aufpassen; es ist doch heute nicht die Spur einer Neigung in dir, die fuͤr ihn sprechen und ihn entschuldigen koͤnnte. — Wolff spielte und ich wen¬ dete mein geschaͤrftes Auge nicht von ihm. Aber wie spielte er! wie war er sicher! wie war er fest! — Es war mir unmoͤglich, ihm nur den Schein eines Ver¬ stoßes gegen die Regeln abzulisten, die ich ihm einge¬ pflanzt hatte, und ich konnte nicht umhin, ich mußte ihm wieder gut seyn. Montag, den 20. October 1828. Oberbergrath Noeggerath aus Bonn, von dem Verein der Naturforscher aus Berlin zuruͤckkehrend, war heute an Goethe's Tisch ein sehr willkommener Gast. Über Mineralogie ward viel verhandelt; der werthe Fremde gab besonders gruͤndliche Auskunft uͤber die mi¬ neralogischen Vorkommen und Verhaͤltnisse in der Naͤhe von Bonn. Nach aufgehobener Tafel traten wir in das Zimmer mit der colossalen Buͤste der Juno. Goethe zeigte den Gaͤsten einen langen Papierstreifen mit Contouren des Frieses vom Tempel zu Phigalia. Man betrachtete das Blatt und wollte bemerken, daß die Griechen, bey ihren Darstellungen von Thieren, sich weniger an die Na tur gehalten, als daß sie dabey nach einer gewissen Conve¬ nienz verfahren. Man wollte gefunden haben, daß sie in Darstellungen dieser Art hinter der Natur zuruͤckge¬ blieben, und daß Widder, Opferstiere und Pferde, wie sie auf Basreliefs vorkommen, haͤufig sehr steife, unfoͤrm¬ liche und unvollkommene Geschoͤpfe seyen. „Ich will daruͤber nicht streiten, sagte Goethe, aber vor allen Dingen muß man unterscheiden, aus welcher Zeit und von welchem Kuͤnstler solche Werke herruͤhren. Denn so ließen sich wohl Musterstuͤcke in Menge vorle¬ gen, wo griechische Kuͤnstler, in ihren Darstellungen von Thieren, die Natur nicht allein erreicht, sondern sogar weit uͤbertroffen haben. Die Englaͤnder, die ersten Pferdekenner der Welt, muͤssen doch jetzt von zwei an¬ tiken Pferdekoͤpfen gestehen, daß sie in ihren Formen so vollkommen befunden werden, wie jetzt gar keine Ra ç en mehr auf der Erde existiren. Es sind diese Koͤpfe aus der besten griechischen Zeit; und wenn uns nun solche Werke in Erstaunen setzen, so haben wir nicht sowohl anzunehmen, daß jene Kuͤnstler nach einer mehr vollkom¬ menen Natur gearbeitet haben, wie die jetzige ist, als vielmehr, daß sie im Fortschritte der Zeit und Kunst sel¬ ber etwas geworden waren, so daß sie sich mit persoͤn¬ licher Großheit an die Natur wandten.“ Waͤhrend dieses gesprochen wurde, stand ich mit einer Dame seitwaͤrts an einem Tisch, um ein Kupfer¬ werk zu betrachten, und ich konnte zu Goethe's Worten nur ein halbes Ohr wenden; desto tiefer aber ergriff ich sie mit meiner Seele. Die Gesellschaft war nach und nach gegangen und ich mit Goethe allein gelassen, der sich zum Ofen stellte. Ich trat in seine Naͤhe. Euer Excellenz, sagte ich, haben vorhin in der Äuße¬ rung, daß die Griechen sich mit persoͤnlicher Großheit an die Natur gewandt, ein gutes Wort gesprochen, und ich halte dafuͤr, daß man sich von diesem Satz nicht tief genug durchdringen koͤnne. „Ja, mein Guter, sagte Goethe, hierauf kommt alles an. Man muß etwas seyn , um etwas zu ma¬ chen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Cultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Roth¬ schild ist reich, aber es hat mehr als Ein Menschen¬ alter gekostet, um zu solchen Schaͤtzen zu gelangen. Diese Dinge liegen alle tiefer, als man denkt. Unsere guten altdeutschelnden Kuͤnstler wissen davon nichts, sie wenden sich mit persoͤnlicher Schwaͤche und kuͤnstlerischem Unvermoͤgen zur Nachahmung der Natur, und meinen es waͤre was. Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so ge¬ steigert haben, daß er gleich den Griechen im Stande sey, die geringere reale Natur zu der Hoͤhe seines Gei¬ stes heranzuheben, und dasjenige wirklich zu machen, was in natuͤrlichen Erscheinungen, aus innerer Schwaͤch e oder aus aͤußerem Hinderniß, nur Intention gebli e b en ist.“ Mittwoch, den 22. Ottober 1828. Heute war bey Tisch von den Frauen die Rede, und Goethe aͤußerte sich daruͤber sehr schoͤn. „Die Frauen, sagte er, sind silberne Schalen, in die wir gol¬ dene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, son¬ dern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden, Gott weiß wie. Meine dargestellten Frauen-Charactere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.“ Dienstag, den 18. November 1828. Goethe sprach von einem neuen Stuͤck des Edin¬ burgh Review . „Es ist eine Freude, zu sehen, sagte er, zu welcher Hoͤhe und Tuͤchtigkeit die englischen Cri¬ tiker sich jetzt erheben. Von der fruͤheren Pedanterie ist keine Spur mehr, und große Eigenschaften sind an de¬ ren Stelle getreten. In dem letzten Stuͤck, in einem Aufsatz uͤber deutsche Literatur, finden Sie folgende Äußerung: „Es giebt Leute unter den Poeten, deren Neigung es ist, immer in solchen Dingen zu verkehren, die ein Anderer sich gerne aus dem Sinne schlaͤgt.“ Nun, was sagen Sie? da wissen wir mit einem Male, woran wir sind, und wissen, wohin wir eine große Zahl unserer neuesten Literatoren zu classificiren haben.“ Dienstag, den 16. December 1828. Ich war heute mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tisch; wir sprachen uͤber verschiedene literari¬ sche Dinge. „Die Deutschen, sagte er, koͤnnen die Philisterey nicht loswerden. — Da quaͤngeln und streiten sie jetzt uͤber verschiedene Distichen, die sich bey Schiller gedruckt finden und auch bey mir, und sie meinen, es waͤre von Wichtigkeit, entschieden herauszubringen, welche denn wirklich Schillern gehoͤren und welche mir. Als ob et¬ was darauf ankaͤme, als ob etwas damit gewonnen wuͤrde, und als ob es nicht genug waͤre, daß die Sachen da sind!“ „Freunde wie Schiller und ich, Jahre lang verbun¬ den, mit gleichen Interessen, in taͤglicher Beruͤhrung und gegenseitigem Austausch, lebten sich in einander so sehr hinein, daß uͤberhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage seyn konnte, ob sie dem Einen ge¬ hoͤrten oder dem Andern. Wir haben viele Distichen ge¬ meinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede seyn! Man muͤßte wirklich selbst noch tief in der Philisterey stecken, wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte.“ Etwas Ähnliches, sagte ich, kommt in der literari¬ schen Welt haͤufig vor, indem man z. B. an dieses oder jenes beruͤhmten Mannes Originalitaͤt zweifelt, und die Quellen auszuspuͤren sucht, woher er seine Cultur hat. „Das ist sehr laͤcherlich! sagte Goethe; man koͤnnte eben so gut einen wohlgenaͤhrten Mann nach den Och¬ sen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kraͤfte gegeben. Wir bringen wohl Faͤhigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns an¬ eignen was wir koͤnnen und was uns gemaͤß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shak¬ speare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig ge¬ worden. Allein damit sind die Quellen meiner Cultur nicht nachgewiesen; es wuͤrde ins Grenzenlose gehen und waͤre auch nicht noͤthig. Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es aufnimmt wo sie es findet.“ „Überhaupt, fuhr Goethe fort, ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im Einzelnen vor mir das¬ selbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte, und daß ich dafuͤr strebte, in einer confusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.“ „Und denn, man muß das Wahre immer wiederho¬ len, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder geprediget wird, und zwar nicht von Einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Encyklopaͤdien, auf Schulen und Universitaͤten, uͤberall ist der Irrthum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefuͤhl der Majoritaͤt, die auf seiner Seite ist.“ „Oft lehret man auch Wahrheit und Irrthum zu¬ gleich und haͤlt sich an letzteren. So las ich vor eini¬ gen Tagen in einer englischen Encyklopaͤdie die Lehre von der Entstehung des Blauen . Obenan stand die wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der groͤßten Ruhe aber folgte zugleich der Newtonische Irrthum, und zwar mit dem Bemerken, daß man sich an diesen zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene sey.“ Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieses hoͤrte. Jede Wachskerze, sagte ich, jeder erleuchtet e Kuͤchenrauch, der etwas Dunkeles hinter sich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen liegt, uͤberzeugen mich taͤglich von der Entstehung der blauen Farbe und lehren mich die Blaͤue des Himmels begreifen. Was aber die Newtonischen Schuͤler sich da¬ bey denken moͤgen, daß die Luft die Eigenschaft besitze, alle uͤbrigen Farben zu verschlucken und nur die blaue zuruͤckzuwerfen, dieses ist mir voͤllig unbegreiflich, und ich sehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude man an einer Lehre haben kann, wobey jeder Gedanke voͤllig stille steht und jede gesunde Anschauung durchaus verschwindet. „Gute Seele, sagte Goethe, um Gedanken und An¬ schauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu thun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewußt und nicht uͤbel ausgesprochen hat: Vor allem haltet euch an Worte! Dann geht ihr durch die sich're Pforte Zum Tempel der Gewißheit ein; Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. ꝛc. Goethe recitirte diese Stelle lachend und schien uͤberall in der besten Laune. „Es ist nur gut, sagte er, daß schon alles gedruckt steht, und so will ich fortfahren, fer¬ ner drucken zu lassen, was ich gegen falsche Lehren und deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.“ „Treffliche Menschen, fuhr er nach einer Pause fort, kommen jetzt in den Naturwissenschaften heran und ich sehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber sie halten sich nicht; ihr vorwaltendes Subjective fuͤhrt sie in die Irre. Wiederum Andere halten zu sehr auf Facta und sammeln deren zu einer Unzahl, wodurch nichts bewiesen wird. Im Ganzen fehlt der theoretische Geist, der faͤhig waͤre, zu Urphaͤnomenen durchzudrin¬ gen und der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.“ Ein kurzer Besuch unterbrach unsere Unterhaltung; bald aber wieder allein gelassen lenkte sich das Gespraͤch auf die Poesie, und ich erzaͤhlte Goethen, daß ich die¬ ser Tage seine kleinen Gedichte wieder betrachtet, und besonders bey zweyen verweilet habe, bey der Bal¬ lade naͤmlich von den Kindern und dem Alten und bey den gluͤcklichen Gatten . „Ich halte auf diese beyden Gedichte selber etwas, sagte Goethe, wiewohl das deutsche Publicum bis jetzt nicht viel daraus hat machen koͤnnen.“ In der Ballade, sagte ich, ist ein sehr reicher Ge¬ genstand in große Enge zusammengebracht, mittelst aller poetischen Formen und Kuͤnste und Kunstgriffe, worun¬ ter ich besonders den hochschaͤtze, daß das Vergangene der Geschichte den Kindern von dem Alten bis zu dem Punkt erzaͤhlt wird, wo die Gegenwart eintritt und das Übrige sich vor unsern Augen entwickelt. „Ich habe die Ballade lange mit mir herumgetra¬ gen, sagte Goethe, ehe ich sie niederschrieb; es stecken Jahre von Nachdenken darin, und ich habe sie drey bis vier Mal versucht, ehe sie mir so gelingen wollte wie sie jetzt ist.“ Das Gedicht von den gluͤcklichen Gatten, fuhr ich fort, ist gleichfalls sehr reich an Motiven; es erscheinen darin ganze Landschaften und Menschenleben, durchwaͤrmt von dem Sonnenschein eines anmuthigen Fruͤhlingshim¬ mels, der sich uͤber dem Ganzen ausbreitet. „Ich habe das Gedicht immer lieb gehabt, sagte Goethe, und es freut mich, daß Sie ihm ein besonderes Interesse schenken. Und daß der Spaß zuletzt noch auf eine Doppel-Kindtaufe hinausgeht, daͤchte ich, waͤre doch artig genug.“ Wir kamen sodann auf den Buͤrgergeneral , wo¬ von ich erzaͤhlte, daß ich dieses heitere Stuͤck in diesen Tagen mit einem Englaͤnder gelesen, und daß in uns beyden der lebhafte Wunsch entstanden, es auf dem Theater zu sehen. Dem Geiste nach, sagte ich, ist darin nichts veraltet, und im Einzelnen der dramatischen Ent¬ wickelung ist darin kein Zug, der nicht fuͤr die Buͤhne gedacht waͤre. „Es war zu seiner Zeit ein sehr gutes Stuͤck, sagte Goethe, und es hat uns manchen heiteren Abend ge¬ macht. Freylich, es war trefflich besetzt, und so vortreff¬ lich einstudirt, daß der Dialog Schlag auf Schlag ging, im voͤlligsten Leben Malkolmi spielte den Maͤrten, man konnte nichts Vollkommneres sehen.“ Die Rolle des Schnaps , sagte ich, erscheint mir nicht weniger gluͤcklich; ich daͤchte, das Repertoir haͤtte nicht viele aufzuweisen, die dankbarer und besser waͤren. Es ist in dieser Figur, wie im ganzen Stuͤck, eine Deutlichkeit, eine Gegenwart, wie sie das Theater nur wuͤnschen kann. Die Scene, wo er mit dem Felleisen kommt und nach einander die Sachen hervorbringt, wo er Maͤrten den Schnurbart anklebt und sich selbst mit Freyheitsmuͤtze, Uniform und Degen bekleidet, gehoͤrt zu den vorzuͤglichsten. „Diese Scene, sagte Goethe, hat in fruͤherer Zeit auf unserm Theater immer viel Gluͤck gemacht. Es kam dazu noch der Umstand, daß das Felleisen mit den Sachen ein wirklich historisches war. Ich fand es naͤmlich zur Zeit der Revolution auf meiner Reise an der franzoͤsi¬ schen Grenze, wo die Flucht der Emigrirten durchge¬ gangen war, und wo es einer mochte verloren oder weggeworfen haben. Die Sachen, so wie sie im Stuͤck vorkommen, waren alle darin; ich schrieb danach die Scene, und das Felleisen mit allem Zubehoͤr spielte nachher, zu nicht geringem Vergnuͤgen unserer Schau¬ spieler, immer mit, so oft das Stuͤck gegeben wurde.“ Die Frage, ob man den Buͤrgergeneral noch jetzt mit Interesse und Nutzen sehen koͤnne, machte noch eine Weile den Gegenstand unserer Unterhaltung. Goethe erkundigte sich sodann nach meinen Fort¬ schritten in der franzoͤsischen Literatur, und ich erzaͤhlte ihm, daß ich mich abwechselnd noch immer mit Vol¬ taire beschaͤftige, und daß das große Talent dieses Mannes mir das reinste Gluͤck gewaͤhre. Ich kenne immer nur noch wenig von ihm, sagte ich; ich halte mich noch immer in dem Kreise seiner kleinen Gedichte an Personen, die ich lese und immer wieder lese und von denen ich mich nicht trennen kann. „Eigentlich, sagte Goethe, ist alles gut, was ein so großes Talent wie Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten gelten lassen moͤchte. Aber Sie haben nicht Unrecht, wenn Sie so lange bey seinen klei¬ nen Gedichten an Personen verweilen; sie gehoͤren ohne Frage zu den liebenswuͤrdigsten Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmuth waͤre.“ Und man sieht darin, sagte ich, seine Verhaͤltnisse zu allen Großen und Maͤchtigen der Erde, und bemerkt mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire selber spielt, indem er sich den Hoͤchsten gleich zu empfinden scheint, und man ihm nie anmerkt, daß irgend eine Majestaͤt seinen freyen Geist nur einen Augenblick hat geniren koͤnnen. „Ja, sagte Goethe, vornehm war er. Und bey all seiner Freyheit und Verwegenheit hat er sich immer in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt, welches fast noch mehr sagen will. Ich kann wohl die Kaiserin von Östreich als eine Autoritaͤt in solchen Dingen anfuͤhren, die sehr oft gegen mich wiederholt hat, daß in Voltaire's Gedichten an fuͤrstliche Personen II . 4 keine Spur seh, daß er je die Linie der Convenienz uͤberschritten habe.“ Erinnern sich Euer Excellenz, sagte ich, des kleinen Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen Koͤnigin von Schweden, die artige Liebeserklaͤrung macht, indem er sagt, daß er sich im Traum zum Rang der Koͤnige habe erhoben gesehen? „Es ist eins seiner vorzuͤglichsten, sagte Goethe, indem er recitirte: Je vous aimais princesse et j'osais vous le dire, Les Dieux à mon reveil ne m'ont pas tout oté, Je n'ai perdu que mon empire. Ja, das ist artig! — Und dann, fuhr Goethe fort, hat es wohl nie einen Poeten gegeben, dem sein Talent jeden Augenblick so zur Hand war wie Voltaire. Ich erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum Besuch bey seiner Freundin Du Chatelet gewesen war, und in dem Augenblick der Abreise, als schon der Wagen vor der Thuͤre steht, einen Brief von einer gro¬ ßen Anzahl junger Maͤdchen eines benachbarten Klosters erhaͤlt, die zum Geburtstag ihrer Äbtissin den Tod Ju¬ lius Caͤsars auffuͤhren wollen und ihn um einen Prolog bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn ablehnen konnte; schnell laͤßt er sich daher Feder und Papier geben, und schreibt stehend auf dem Rande eines Kamins das Verlangte. Es ist ein Gedicht von etwa zwanzig Versen, durchaus durchdacht und vollendet, ganz fuͤr den gegebenen Fall passend, genug, von der besten Sorte.“ Ich bin sehr begierig, es zu lesen sagte ich. „Ich zweifle, sagte Goethe, daß es in Ihrer Sammlung steht, es ist erst kuͤrzlich zum Vor¬ schein gekommen, wie er denn solche Gedichte zu Hun¬ derten gemacht hat, von denen noch manche hie und dort im Privatbesitz verborgen seyn moͤgen.“ Ich fand dieser Tage eine Stelle in Lord Byron, sagte ich, woraus zu meiner Freude hervorging, welche außerordentliche Achtung auch Byron vor Voltaire ge¬ habt. Auch sieht man es ihm wohl an, wie sehr er Voltaire mag gelesen, studirt und benutzt haben. „Byron, sagte Goethe, wußte zu gut wo etwas zu holen war, und er war zu gescheidt, als daß er aus dieser allgemeinen Quelle des Lichts nicht auch haͤtte schoͤpfen sollen.“ Das Gespraͤch wendete sich hiernaͤchst ganz auf By¬ ron und einzelne seiner Werke; wobey Goethe haͤufigen Anlaß fand, manche seiner fruͤheren Äußerungen von Anerkennung und Bewunderung jenes großen Talentes zu wiederholen. In alles was Euer Excellenz uͤber Byron sagen, erwiederte ich, stimme ich von Herzen bey; allein wie bedeutend und groß jener Dichter als Talent auch seyn mag, so moͤchte ich doch sehr zweifeln, daß aus seinen Schriften fuͤr reine Menschenbildung ein entschie¬ dener Gewinn zu schoͤpfen. 4 * „Da muß ich Ihnen widersprechen, sagte Goethe. Byrons Kuͤhnheit, Keckheit und Grandiositaͤt, ist das nicht alles bildend? — Wir muͤssen uns huͤten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. — Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.“ 1829. Mittwoch, den 4. Februar 1829. „ I ch habe im Schubart zu lesen fortgefahren, sagte Goethe; er ist freylich ein bedeutender Mensch, und er sagt sogar manches sehr Vorzuͤgliche, wenn man es sich in seine eigene Sprache uͤbersetzt. Die Hauptrichtung seines Buches geht darauf hinaus, daß es einen Stand¬ punct außerhalb der Philosophie gebe, naͤmlich den des gesunden Menschenverstandes; und daß Kunst und Wis¬ senschaft, unabhaͤngig von der Philosophie, mittelst freyer Wirkung natuͤrlicher menschlicher Kraͤfte, immer am besten gediehen sey. Dieß ist durchaus Wasser auf unsere Muͤhle. Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frey erhalten; der Standpunct des gesunden Menschenverstan¬ des war auch der meinige, und Schubart bestaͤtiget also, was ich mein ganzes Leben selber gesagt und gethan habe. Das Einzige, was ich an ihm nicht durchaus loben kann, ist, daß er gewisse Dinge besser weiß als er sie sagt, und daß er also nicht immer ganz ehrlich zu Werke geht. So wie Hegel zieht auch er die christliche Reli¬ gion in die Philosophie herein, die doch nichts darin zu thun hat. Die christliche Religion ist ein maͤchtiges Wesen fuͤr sich, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder empor¬ gearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zuge¬ steht, ist sie uͤber aller Philosophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stuͤtze. So auch bedarf der Philosoph nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemaͤß, und er darf auf re¬ ligioͤse Zusagen bauen; wenn aber der Philosoph den Beweis fuͤr die Unsterblichkeit unserer Seele aus einer Legende hernehmen will, so ist das sehr schwach und will nicht viel heißen. Die Überzeugung unserer Fort¬ dauer entspringt mir aus dem Begriff der Thaͤtigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Da¬ seyns anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag.“ Mein Herz schlug bey diesen Worten vor Bewun¬ derung und Liebe. Ist doch, dachte ich, nie eine Lehre ausgesprochen worden, die mehr zu edlen Thaten reizt, als diese. Denn wer will nicht bis an sein Ende un¬ ermuͤdlich wirken und handeln, wenn er darin die Buͤrg¬ schaft eines ewigen Lebens findet. Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen und Kupferstichen vorlegen. Nachdem er einige Blaͤtter stille betrachtet und umgewendet, reichte er mir einen schoͤnen Stich nach einem Gemaͤlde von Ostade . „Hier, sagte er, haben Sie die Scene zu unserm Good man und good wife .“ — Ich betrachtete das Blatt mit großer Freude. Ich sah das Innere einer Bauernwoh¬ nung vorgestellt, wo Kuͤche, Wohn- und Schlafzimmer alles in Einem und nur ein Raum war. Mann und Frau saßen sich nahe gegenuͤber; die Frau spinnend, der Mann Garn windend; ein Bube zu ihren Fuͤßen. Im Hintergrunde sah man ein Bette, so wie uͤberall nur das roheste allernothwendigste Hausgeraͤthe; die Thuͤr ging unmittelbar ins Freye. Den Begriff beschraͤnkten ehelichen Gluͤckes gab dieses Blatt vollkommen; Zufrie¬ denheit, Behagen und ein gewisses Schwelgen in lie¬ benden ehelichen Empfindungen, lag auf den Gesichtern vom Manne und der Frau wie sie sich einander an¬ blickten. Es wird einem wohler zu Muthe, sagte ich, je laͤnger man dieses Blatt ansieht; es hat einen Reiz ganz eigener Art. „Es ist der Reiz der Sinnlichkeit, sagte Goethe, den keine Kunst entbehren kann, und der in Gegenstaͤnden solcher Art in seiner ganzen Fuͤlle herrscht. Bey Darstellungen hoͤherer Richtung dagegen, wo der Kuͤnstler ins Ideelle geht, ist es schwer, daß die gehoͤ¬ rige Sinnlichkeit mitgehe, und daß er nicht trocken und kalt werde. Da koͤnnen nun Jugend oder Alter guͤnstig oder hinderlich seyn, und der Kuͤnstler muß daher seine Jahre bedenken und danach seine Gegenstaͤnde waͤhlen. Meine Iphigenie und mein Tasso sind mir gelun¬ gen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinn¬ lichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben zu koͤnnen. Jetzt in meinem Alter waͤren so ideelle Ge¬ genstaͤnde nicht fuͤr mich geeignet, und ich thue vielmehr wohl, solche zu waͤhlen, wo eine gewisse Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Wenn Genasts hier bleiben, so schreibe ich euch zwey Stuͤcke, jedes in einem Act und in Prosa. Das eine von der heitersten Art, mit einer Hochzeit endend, das andere grausam und erschuͤt¬ ternd, so daß am Ende zwey Leichname zuruͤckbleiben. Das letztere ruͤhrt noch aus Schillers Zeit her, und er hat auf mein Antreiben schon eine Scene davon geschrie¬ ben. Beyde Suͤjets habe ich lange durchdacht, und sie sind mir so vollkommen gegenwaͤrtig, daß ich jedes in acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem Buͤr¬ gergeneral gethan habe.“ Thun Sie es, sagte ich, schreiben Sie die beyden Stuͤcke auf jeden Fall; es ist Ihnen nach den Wan¬ derjahren eine Erfrischung und wirkt wie eine kleine Reise. Und wie wuͤrde die Welt sich freuen, wenn Sie dem Theater noch etwas zu Liebe thaͤten, was Niemand mehr erwartet. „Wie gesagt, fuhr Goethe fort, wenn Genasts hier bleiben, so bin ich gar nicht sicher, daß ich euch nicht den Spaß mache. Aber ohne diese Aussicht waͤre dazu wenig Reiz, denn ein Stuͤck auf dem Papiere ist gar nichts. Der Dichter muß die Mittel kennen, mit denen er wirken will, und er muß seine Rollen denen Figuren auf den Leib schreiben, die sie spielen sollen. Habe ich also auf Genast und seine Frau zu rechnen, und nehme ich dazu La Roche, Herrn Winterberger und Madam Seidel, so weiß ich was ich zu thun habe, und kann der Ausfuͤhrung meiner Intentionen gewiß seyn.“ „Fuͤr das Theater zu schreiben, fuhr Goethe fort, ist ein eigenes Ding, und wer es nicht durch und durch kennet, der mag es unterlassen. Ein interessantes Fac¬ tum, denkt jeder, werde auch interessant auf den Bret¬ tern erscheinen; aber mit nichten! — Es koͤnnen Dinge ganz huͤbsch zu lesen und huͤbsch zu denken seyn, aber, auf die Bretter gebracht, sieht das ganz anders aus, und was uns im Buche entzuͤckte, wird uns von der Buͤhne herunter vielleicht kalt lassen. Wenn man meinen Hermann und Dorothea lieset, so denkt man, das waͤre auch auf dem Theater zu sehen. Toͤpfer hat sich ver¬ fuͤhren lassen es hinaufzubringen; allein was ist es, was wirkt es, zumal wenn es nicht ganz vorzuͤglich gespielt wird, und wer kann sagen, daß es in jeder Hinsicht ein gutes Stuͤck sey? — Fuͤr das Theater zu schreiben ist ein Metier, das man kennen soll, und will ein Talent, das man besitzen muß. Beydes ist selten, und wo es sich nicht vereinigt findet, wird schwerlich etwas Gutes an den Tag kommen.“ Montag, den 9. Februar 1829. Goethe sprach viel uͤber die Wahlverwandtschaften, besonders daß jemand sich in der Person des Mittler getroffen gefunden, den er fruͤher im Leben nie gekannt und gesehen. „Der Charakter, sagte er, muß also wohl einige Wahrheit haben, und in der Welt mehr als Ein Mal existiren. Es ist in den Wahlverwandtschaften uͤberall keine Zeile, die ich nicht selber erlebt haͤtte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bey einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande waͤre.“ Dienstag, den 10. Februar 1829. Ich fand Goethe umringt von Charten und Plaͤnen in Bezug auf den Bremer Hafenbau , fuͤr welches großartige Unternehmen er ein besonderes Interesse zeigte. Sodann viel uͤber Merck gesprochen, von welchem er mir eine poetische Epistel an Wieland vom Jahre 1776 vorlieset, in hoͤchst geistreichen aber etwas derben Knittelversen. Der sehr heitere Inhalt geht besonders gegen Jacobi, den Wieland, in einer zu guͤnstigen Re¬ cension im Merkur, uͤberschaͤtzt zu haben scheint, welches Merck ihm nicht verzeihen kann. Über den Zustand damaliger Cultur, und wie schwer es gehalten, aus der sogenannten Sturm- und Drang¬ periode sich zu einer hoͤheren Bildung zu retten. Über seine ersten Jahre in Weimar. Das poetische Talent im Conflict mit der Realitaͤt, die er, durch seine Stellung zum Hof, und verschiedenartige Zweige des Staatsdienstes, zu hoͤherem Vortheil in sich aufzunehmen genoͤthigt ist. Deßhalb in den ersten zehn Jahren nichts Poetisches von Bedeutung hervorgebracht. Fragmente vorgelesen. Durch Liebschaften verduͤstert. Der Vater fortwaͤhrend ungeduldig gegen das Hofleben. Vortheile, daß er den Ort nicht veraͤndert, und daß er dieselbigen Erfahrungen nicht noͤthig gehabt zweymal zu machen. Flucht nach Italien, um sich zu poetischer Producti¬ vitaͤt wieder herzustellen. Aberglaube, daß er nicht hin¬ komme, wenn jemand darum wisse. Deßhalb tiefes Geheimniß. Von Rom aus an den Herzog geschrieben. Aus Italien zuruͤck mit großen Anforderungen an sich selbst. Herzogin Amalie . Vollkommene Fuͤrstin mit voll¬ kommen menschlichem Sinne und Neigung zum Lebens¬ genuß. Sie hat große Liebe zu seiner Mutter, und wuͤnscht, daß sie fuͤr immer nach Weimar komme. Er ist dagegen. Über die ersten Anfaͤnge des Faust . „Der Faust entstand mit meinem Werther; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich huͤtete mich, eine Zeile niederzuschrei¬ ben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte.“ Mittwoch, den 11. Februar 1829. Mit Oberbaudirector Coudray bey Goethe zu Tisch. Coudray erzaͤhlt viel von der weiblichen Industrie-Schule und dem Waisen-Institut, als den besten Einrichtungen dieser Art des Landes; erstere von der Großfuͤrstin , letzteres vom Großherzog Carl August gegruͤndet. Mancherley uͤber Theater-Decoration und Wegebau. Coudray legt Goethen den Riß zu einer fuͤrstlichen Ca¬ pelle vor. Über den Ort, wo der herrschaftliche Stuhl anzubringen; wogegen Goethe Einwendungen macht, die Coudray annimmt. Nach Tisch Soret . Goethe zeigt uns abermals die Bilder von Herrn von Reutern . Donnerstag, den 12. Februar 1829. Goethe lieset mir das frisch entstandene, uͤberaus herr¬ liche Gedicht: Kein Wesen kann zu nichts zer¬ fallen ꝛc. „Ich habe, sagte er, dieses Gedicht als Widerspruch der Verse: Denn alles muß zu n chts zerfallen , wenn es im Seyn beharren will ꝛc. geschrieben, welche dumm sind, und welche meine Ber¬ liner Freunde, bey Gelegenheit der naturforschenden Ver¬ sammlung, zu meinem Ärger in goldenen Buchstaben ausgestellt haben.“ Über den großen Mathematiker Lagrange , an wel¬ chem Goethe vorzuͤglich den trefflichen Character hervor¬ hebt. „Er war ein guter Mensch, sagte er, und eben deßwegen groß. Denn wenn ein guter Mensch mit Talent begabt ist, so wird er immer zum Heil der Welt sittlich wirken, sey es als Kuͤnstler, Naturforscher, Dich¬ ter, oder was alles sonst.“ „Es ist mir lieb, fuhr Goethe fort, daß Sie Coudray gestern naͤher kennen gelernt haben. Er spricht sich in Gesellschaft selten aus, aber so unter uns haben Sie gesehen, welch ein trefflicher Geist und Cha¬ racter in dem Manne wohnt. Er hat anfaͤnglich vielen Widerspruch erlitten, aber jetzt hat er sich durchgekaͤmpft und genießt vollkommene Gunst und Vertrauen des Ho¬ fes. Coudray ist einer der geschicktesten Architekten un¬ serer Zeit. Er hat sich zu mir gehalten und ich mich zu ihm, und es ist uns beyden von Nutzen gewesen. Haͤtte ich den vor funfzig Jahren gehabt!“ — Über Goethe's eigene architektonische Kenntnisse. Ich bemerke, er muͤsse viel in Italien gewonnen haben. „Es gab mir einen Begriff vom Ernsten und Großen, ant¬ wortete er, aber keine Gewandtheit. Der Weimarische Schloßbau hat mich vor allem gefoͤrdert. Ich mußte mit einwirken, und war sogar in dem Fall, Gesimse zeichnen zu muͤssen. Ich that es den Leuten von Metier gewissermaßen zuvor, weil ich ihnen in der Intention uͤberlegen war.“ Das Gespraͤch kam auf Zelter . „Ich habe einen Brief von ihm, sagte Goethe; er schreibt unter andern, daß die Auffuͤhrung des Messias ihm durch eine sei¬ ner Schuͤlerinnen verdorben sey, die eine Arie zu weich, zu schwach, zu sentimental gesungen. Das Schwache ist ein Characterzug unsers Jahrhunderts. Ich habe die Hypothese, daß es in Deutschland eine Folge der An¬ strengung ist, die Franzosen los zu werden. Maler, Naturforscher, Bildhauer, Musiker, Poeten, es ist, mit wenigen Ausnahmen, alles schwach, und in der Masse steht es nicht besser.“ Doch, sagte ich, gebe ich die Hoffnung nicht auf, zum Faust eine passende Musik kommen zu sehen. „Es ist ganz unmoͤglich, sagte Goethe. Das Ab¬ stoßende, Widerwaͤrtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten muͤßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik muͤßte im Character des Don Juan seyn; Mozart haͤtte den Faust componiren muͤssen. Meyer-Beer waͤre vielleicht dazu faͤhig, allein der wird sich auf so etwas nicht ein¬ lassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.“ Sodann, ich weiß nicht mehr in welcher Verbindung und welchem Bezug, sagte Goethe folgendes sehr Be¬ deutende. „Alles Große und Gescheidte, sagte er, existirt in der Minoritaͤt. Es hat Minister gegeben, die Volk und Koͤnig gegen sich hatten, und die ihre großen Plane einsam durchfuͤhrten. Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft popular werde. Leidenschaften und Gefuͤhle moͤgen popular werden, aber die Vernunft wird immer nur im Besitz einzelner Vorzuͤglicher seyn.“ Freytag, den 13. Februar 1829. Mit Goethe allein zu Tisch. „Ich werde nach Be¬ endigung der Wanderjahre , sagte er, mich wieder zur Botanik wenden, um mit Soret die Übersetzung weiter zu bringen. Nur fuͤrchte ich, daß es mich wieder ins Weite fuͤhrt, und daß es zuletzt abermals ein Alp wird. Große Geheimnisse liegen noch verborgen, man¬ ches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahndung. Et¬ was will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich aus¬ druͤcken.“ „Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der Bluͤthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm, geht von Knoten zu Knoten und bildet ll . 5 zuletzt einen Kopf; bey den hoͤher stehenden Thieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfuͤgen und anfuͤgen und mit dem Kopf abschließen, in welchem sich die Kraͤfte concentriren.“ „Was so bey Einzelnen geschieht, geschieht auch bey ganzen Corporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelnheiten, die sich aneinander schließen, bringen als Gesammtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht, und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienen- Koͤnig . Wie dieses geschieht ist geheimnißvoll, schwer auszusprechen, aber ich koͤnnte sagen, daß ich daruͤber meine Gedanken habe.“ „So bringt ein Volk seine Helden hervor, die, gleich Halbgoͤttern, zu Schutz und Heil an der Spitze stehen; und so vereinigten sich die poetischen Kraͤfte der Fran¬ zosen in Voltaire . Solche Haͤuptlinge eines Volkes sind groß in der Generation in der sie wirken; manche dauren spaͤter hinaus; die meisten werden durch Andere ersetzt und von der Folgezeit vergessen.“ Ich freute mich dieser bedeutenden Gedanken. Goethe sprach sodann uͤber Naturforscher, denen es vor allem nur daran liege, ihre Meinung zu beweisen. „Herr von Buch , sagte er, hat ein neues Werk herausgege¬ ben, das gleich im Titel eine Hypothese enthaͤlt. Seine Schrift soll von Granitbloͤcken handeln, die hier und dort umherliegen, man weiß nicht wie und woher. Da aber Herr v. Buch die Hypothese im Schilde fuͤhrt, daß solche Granitbloͤcke durch etwas Gewaltsames von Innen hervorgeworfen und zersprengt worden, so deutet er dieses gleich im Titel an, indem er schon dort von zerstreuten Granitbloͤcken redet, wo denn der Schritt zur Zerstreuung sehr nahe liegt, und dem arglosen Leser die Schlinge des Irrthums uͤber den Kopf gezogen wird, er weiß nicht wie.“ „Man muß alt werden, um dieses alles zu uͤber¬ sehen, und Geld genug haben, seine Erfahrungen bezah¬ len zu koͤnnen. Jedes Bonmot das ich sage, kostet mir eine Boͤrse voll Gold; eine halbe Million meines Privatvermoͤgens ist durch meine Haͤnde gegangen, um das zu lernen was ich jetzt weiß, nicht allein das ganze Vermoͤgen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als funfzig Jahren. Außerdem habe ich anderthalb Millionen zu großen Zwecken von fuͤrstlichen Personen ausgeben sehen, denen ich nahe verbunden war und an deren Schritten, Gelingen und Mißlingen ich Theil nahm.“ „Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es ge¬ hoͤrt mehr dazu, um gescheidt zu werden; man muß auch in großen Verhaͤltnissen leben, und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren der Zeit in die Karten zu sehen, und selber zu Gewinn und Verlust mitzu¬ spielen.“ „Ohne meine Bemuͤhungen in den Naturwissenschaf¬ 5* ten haͤtte ich jedoch die Menschen nie kennen gelernt wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen Anschauen und Denken, den Irrthuͤmern der Sinne wie des Verstandes, den Character-Schwaͤchen und -Staͤrken nicht so nachkommen; es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend, und laͤßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrthuͤmer sind immer des Menschen. Den Unzulaͤnglichen verschmaͤht sie, und nur dem Zulaͤngli¬ chen, Wahren und Reinen ergiebt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.“ „Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch muß faͤhig seyn, sich zur hoͤchsten Vernunft erheben zu koͤnnen, um an die Gottheit zu ruͤhren, die sich in Ur¬ phaͤnomenen, physischen wie sittlichen, offenbaret, hinter denen sie sich haͤlt und die von ihr ausgehen.“ „Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Todten; sie ist im Werdenden und sich Ver¬ wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Goͤttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu thun; der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.“ „Die Mineralogie ist daher eine Wissenschaft fuͤr den Verstand, fuͤr das practische Leben, denn ihre Ge¬ genstaͤnde sind etwas Todtes, das nicht mehr entsteht, und an eine Synthese ist dabey nicht zu denken. Die Gegenstaͤnde der Meteorologie sind zwar etwas Le¬ bendiges, das wir taͤglich wirken und schaffen sehen, sie setzen eine Synthese voraus; allein der Mitwirkungen sind so mannigfaltige, daß der Mensch dieser Synthese nicht gewachsen ist, und er sich daher in seinen Beob¬ achtungen und Forschungen unnuͤtz abmuͤhet. Wir steuern dabey auf Hypothesen los, auf imaginaͤre Inseln, aber die eigentliche Synthese wird wahrscheinlich ein unent¬ decktes Land bleiben. Und mich wundert es nicht, wenn ich bedenke, wie schwer es gehalten, selbst in so einfachen Dingen, wie die Pflanze und die Farbe, zu einiger Synthese zu gelangen.“ Sonntag, den 15. Februar 1829. Goethe empfing mich mit großem Lobe wegen mei¬ ner Redaction der naturhistorischen Aphorismen fuͤr die Wanderjahre. „Werfen Sie sich auf die Natur, sagte er, Sie sind dafuͤr geboren, und schreiben Sie zunaͤchst ein Compendium der Farbenlehre.“ Wir sprachen viel uͤber diesen Gegenstand. Eine Kiste vom Niederrhein langte an, mit ausge¬ grabenen antiken Gefaͤßen, Mineralien, kleinen Dom¬ bildern und Gedichten des Carnevals, welches alles nach Tisch ausgepackt wurde. Dienstag, den 17. Februar 1829. Viel uͤber den Großkophta gesprochen. „ Lavater , sagte Goethe, glaubte an Cagliostro und dessen Wun¬ der. Als man ihn als einen Betruͤger entlarvt hatte, behauptete Lavater: dieß sey ein anderer Cagliostro, der Wunderthaͤter Cagliostro sey eine heilige Person.“ „Lavater war ein herzlich guter Mann, allein er war gewaltigen Taͤuschungen unterworfen, und die ganz strenge Wahrheit war nicht seine Sache; er belog sich und An¬ dere. Es kam zwischen mir und ihm deßhalb zum voͤlli¬ gen Bruch. Zuletzt habe ich ihn noch in Zuͤrich gesehen, ohne von ihm gesehen zu werden. Verkleidet ging ich in einer Allee, ich sah ihn auf mich zukommen, ich bog außerhalb, er ging an mir voruͤber und kannte mich nicht. Sein Gang war wie der eines Kranichs, we߬ wegen er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt.“ Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur Natur gehabt, wie man fast wegen seiner Physiognomik schließen sollte. „Durchaus nicht, antwortete Goethe, seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religioͤse. Was in Lavaters Physiognomik uͤber Thierschaͤdel vor¬ kommt, ist von mir.“ Das Gespraͤch lenkte sich auf die Franzosen, auf die Vorlesungen von Guizot , Villemain und Cousin , und Goethe sprach mit hoher Achtung uͤber den Stand¬ punct dieser Maͤnner, und wie sie alles von einer freyen und neuen Seite betrachteten, und uͤberall grade aufs Ziel losgingen. „Es ist, sagte Goethe, als waͤre man bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Kruͤm¬ mungen gelangt; diese Maͤnner aber sind kuͤhn und frey genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thuͤr an derjenigen Stelle zu machen, wo man sogleich auf den breitesten Weg des Gartens tritt.“ Von Cousin kamen wir auf indische Philosophie. „Diese Philosophie, sagte Goethe, hat, wenn die Nach¬ richten des Englaͤnders wahr sind, durchaus nichts Frem¬ des, vielmehr wiederholen sich in ihr die Epochen, die wir alle selber durchmachen. Wir sind Sensualisten, so lange wir Kinder sind; Idealisten, wenn wir lieben und in den geliebten Gegenstand Eigenschaften legen, die nicht eigentlich darin sind. Die Liebe wankt, wir zwei¬ feln an der Treue und sind Skeptiker ehe wir es glaub¬ ten. Der Rest des Lebens ist gleichguͤltig, wir lassen es gehen wie es will, und endigen mit dem Quietis¬ mus, wie die indischen Philosophen auch.“ „In der deutschen Philosophie waͤren noch zwey große Dinge zu thun. Kant hat die Critik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt muͤßte ein Faͤhiger, ein Bedeutender, die Critik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben, und wir wuͤrden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehen, in der deutschen Phi¬ losophie nicht viel mehr zu wuͤnschen haben.“ „ Hegel , fuhr Goethe fort, hat in den Berliner Jahrbuͤchern eine Recension uͤber Hamann geschrieben, die ich in diesen Tagen lese und wieder lese und die ich sehr loben muß. Hegels Urtheile als Critiker sind im¬ mer gut gewesen.“ „ Villemain steht in der Critik gleichfalls sehr hoch. Die Franzosen werden zwar nie ein Talent wie¬ der sehen, das dem von Voltaire gewachsen waͤre. Von Villemain aber kann man sagen, daß er in seinem gei¬ stigen Standpunct uͤber Voltairen erhaben ist, so daß er ihn in seinen Tugenden und Fehlern beurtheilen kann.“ Mittwoch, den 18. Februar 1829. Wir sprachen uͤber die Farbenlehre, unter andern uͤber Trinkglaͤser, deren truͤbe Figuren gegen das Licht gelb und gegen das Dunkele blau erscheinen, und die also die Betrachtung eines Urphaͤnomens gewaͤhren. „Das Hoͤchste, wozu der Mensch gelangen kann, sagte Goethe bey dieser Gelegenheit, ist das Erstaunen; und wenn ihn das Urphaͤnomen in Erstaunen setzt, so sey er zufrieden; ein Hoͤheres kann es ihm nicht gewaͤh¬ ren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphaͤnomens gewoͤhnlich noch nicht genug, sie denken es muͤsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern aͤhnlich, die, wenn sie in einen Spiegel gegukt, ihn so¬ gleich umwenden, um zu sehen was auf der anderen Seite ist.“ Das Gespraͤch lenkte sich auf Merck , und ich fragte, ob Merck sich auch mit Naturstudien befaßt. „O ja, sagte Goethe, er besaß sogar bedeutende naturhistorische Sammlungen. Merck war uͤberall ein hoͤchst vielseitiger Mensch. Er liebte auch die Kunst, und zwar ging die¬ ses so weit, daß, wenn er ein gutes Werk in den Haͤn¬ den eines Philisters sah, von dem er glaubte, daß er es nicht zu schaͤtzen wisse, er Alles anwendete, um es in seine eigene Sammlung zu bringen. Er hatte in solchen Dingen gar kein Gewissen, jedes Mittel war ihm recht, und selbst eine Art von grandiosem Betrug wurde nicht verschmaͤht, wenn es nicht anders gehen wollte.“ Goethe erzaͤhlte dieser Art einige sehr interes¬ sante Beyspiele. „Ein Mensch wie Merck, fuhr er fort, wird gar nicht mehr geboren, und wenn er geboren wuͤrde, so wuͤrde die Welt ihn anders ziehen. Es war uͤberall eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war. Die deut¬ sche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man mit Lust viel Gutes zu malen hoffte. Jetzt ist sie so beschrieben und besudelt, daß man keine Freude hat sie anzublicken, und daß ein gescheidter Mensch nicht weiß, wohin er noch etwas zeichnen soll.“ Donnerstag, den 19. Februar 1829. Mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tisch. — Er war sehr heiter und erzaͤhlte mir, daß ihm am Tage manches Gute widerfahren, und daß er auch ein Ge¬ schaͤft mit Artaria und dem Hof gluͤcklich beendigt sehe. Wir sprachen sodann viel uͤber Egmont , der am Abend vorher, nach der Bearbeitung von Schiller , gegeben worden, und es kamen die Nachtheile zur Er¬ waͤhnung, die das Stuͤck durch diese Redaction zu lei¬ den hat. Es ist in vielfacher Hinsicht nicht gut, sagte ich, daß die Regentin fehlt; sie ist vielmehr dem Stuͤcke durchaus nothwendig. Denn nicht allein, daß das Ganze durch diese Fuͤrstin einen hoͤheren, vornehmeren Character erhaͤlt, sondern es treten auch die politischen Verhaͤltnisse, be¬ sonders in Bezug auf den spanischen Hof, durch ihre Dialoge mit Machiavell durchaus reiner und entschiede¬ ner hervor. „Ganz ohne Frage, sagte Goethe. Und dann ge¬ winnet auch Egmont an Bedeutung durch den Glanz, den die Neigung der Fuͤrstin auf ihn wirft, so wie auch Claͤrchen gehoben erscheint, wenn wir sehen, daß sie, selbst uͤber Fuͤrstinnen siegend, Egmonts ganze Liebe allein besitzt. Dieses sind alles sehr delicate Wirkungen, die man freylich ohne Gefahr fuͤr das Ganze nicht ver¬ letzen darf.“ Auch will mir scheinen, sagte ich, daß bey den vie¬ len bedeutenden Maͤnnerrollen, eine einzige weibliche Fi¬ gur, wie Claͤrchen, zu schwach und etwas gedruͤckt er¬ scheint. Durch die Regentin aber erhaͤlt das ganze Gemaͤlde mehr Gleichgewicht. Daß von ihr im Stuͤcke gesprochen wird, will nicht viel sagen; das persoͤnliche Auftreten macht den Eindruck. „Sie empfinden das Verhaͤltniß sehr richtig, sagte Goethe. — Als ich das Stuͤck schrieb, habe ich, wie Sie denken koͤnnen, alles sehr wohl abgewogen, und es ist daher nicht zu verwundern, daß ein Ganzes sehr empfindlich leiden muß, wenn man eine Hauptfigur herausreißt, die ins Ganze gedacht worden und wodurch das Ganze besteht. Aber Schiller hatte in seiner Natur etwas Gewaltsames; er handelte oft zu sehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hinlaͤngliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war.“ Man moͤchte auf Sie schelten, sagte ich, daß Sie es gelitten und daß Sie in einem so wichtigen Fall ihm so unbedingte Freyheit gegeben. „Man ist oft gleichguͤltiger als billig, antwortete Goethe. Und dann war ich in jener Zeit mit anderen Dingen tief beschaͤftigt. Ich hatte so wenig ein Interesse fuͤr Egmont wie fuͤr das Theater; ich ließ ihn gewaͤh¬ ren. Jetzt ist es wenigstens ein Trost fuͤr mich, daß das Stuͤck gedruckt dasteht, und daß es Buͤhnen giebt, die verstaͤndig genug sind, es treu und ohne Verkuͤrzung ganz so aufzufuͤhren wie ich es geschrieben.“ Goethe erkundigte sich sodann nach der Farben¬ lehre und ob ich seinem Vorschlage, ein Compendium zu schreiben, weiter nachgedacht. Ich sagte ihm wie es damit stehe, und so geriethen wir unvermuthet in eine Differenz, die ich bey der Wichtigkeit des Gegenstandes mittheilen will. Wer es beobachtet hat, wird sich erinnern, daß bey heiteren Wintertagen und Sonnenschein, die Schatten auf dem Schnee haͤufig blau gesehen werden. Dieses Phaͤnomen bringt Goethe in seiner Farbenlehre unter die subjectiven Erscheinungen, indem er als Grundlage annimmt, daß das Sonnenlicht zu uns, die wir nicht auf den Gipfeln hoher Berge wohnen, nicht durchaus weiß , sondern, durch eine mehr oder weniger dunst¬ reiche Atmosphaͤre dringend, in einem gelblichen Schein herabkomme; und daß also der Schnee, von der Sonne beschienen, nicht durchaus weiß, sondern eine gelblich tingirte Flaͤche sey, die das Auge zum Gegensatz und also zur Hervorbringung der blauen Farbe anreize. Der auf dem Schnee gesehen werdende blaue Schatten sey demnach eine geforderte Farbe, unter welcher Rubrik Goethe denn auch das Phaͤnomen abhandelt, und danach die von Saussuͤre auf dem Montblanc gemachten Beob¬ achtungen sehr consequent zurechtlegt. Als ich nun in diesen Tagen die ersten Capitel der Farbenlehre abermals betrachtete, um mich zu pruͤfen, ob es mir gelingen moͤchte, Goethe's freundlicher Auf¬ forderung nachzukommen und ein Compendium seiner Farbenlehre zu schreiben, war ich, durch Schnee und Sonnenschein beguͤnstigt, in dem Fall, ebengedachtes Phaͤnomen des blauen Schattens abermals naͤher in Augenschein zu nehmen, wo ich denn zu einiger Über¬ raschung fand, daß Goethe's Ableitung auf einem Irr¬ thum beruhe. Wie ich aber zu diesem Aper ç uͤ gelangte, will ich sagen. Aus den Fenstern meines Wohnzimmers sehe ich grade gegen Suͤden, und zwar auf einen Garten, der durch ein Gebaͤude begrenzt wird, das, bey dem niede¬ ren Stande der Sonne im Winter, mir entgegen einen so großen Schatten wirft, daß er uͤber die halbe Flaͤche des Gartens reicht. Auf diese Schattenflaͤche im Schnee blickte ich nun vor einigen Tagen, bey voͤllig blauem Himmel und Sonnenscheine, und war uͤberrascht, die ganze Masse vollkommen blau zu sehen. Eine geforderte Farbe, sagte ich zu mir selber, kann dieses nicht seyn, denn mein Auge wird von keiner von der Sonne beschienenen Schneeflaͤche beruͤhrt, wodurch jener Gegensatz hervorge¬ rufen werden koͤnnte; ich sehe nichts als die schattige blaue Masse. Um aber durchaus sicher zu gehen und zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbar¬ ten Daͤcher nicht etwa mein Auge beruͤhre, rollte ich einen Bogen Papier zusammen, und blickte durch solche Roͤhre auf die schattige Flaͤche, wo denn das Blau un¬ veraͤndert zu sehen blieb. Daß dieser blaue Schatten also nichts Subjectives seyn konnte, daruͤber blieb mir nun weiter kein Zweifel. Die Farbe stand da, außer mir, selbststaͤndig, mein Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war es? und da sie nun einmal da war, wodurch konnte sie entstehen? Ich blickte noch einmal hin und umher, und siehe! die Aufloͤsung des Raͤthsels kuͤndigte sich mir an. Was kann es seyn, sagte ich zu mir selber, als der Wieder¬ schein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt, und der Neigung hat, im Schatten sich anzusiedeln? Denn es steht geschrieben: die Farbe ist dem Schatten verwandt, sie verbindet sich gerne mit ihm, und erscheint uns gerne in ihm und durch ihn, sobald der Anlaß nur gegeben ist. Die folgenden Tage gewaͤhrten Gelegenheit, meine Hypothese wahr zu machen. Ich ging in den Feldern, es war kein blauer Himmel, die Sonne schien durch Duͤnste, einem Heerrauch aͤhnlich, und verbreitete uͤber den Schnee einen durchaus gelben Schein; sie wirkte maͤchtig genug, um entschiedene Schatten zu werfen, und es haͤtte in diesem Fall, nach Goethe's Lehre, das frischeste Blau entstehen muͤssen. Es entstand aber nicht, die Schatten blieben grau . Am naͤchsten Vormittage, bey bewoͤlkter Atmosphaͤre, blickte die Sonne von Zeit zu Zeit herdurch, und warf auf dem Schnee entschiedene Schatten. Allein sie waren ebenfalls nicht blau , sondern grau . In beyden Faͤllen fehlte der Wiederschein des blauen Himmels, um dem Schatten seine Faͤrbung zu geben. Ich hatte demnach eine hinreichende Überzeugung gewonnen, daß Goethe's Ableitung des mehrgedachten Phaͤnomens von der Natur nicht als wahr bestaͤtiget werde, und daß seine diesen Gegenstand behandelnden Paragraphen der Farbenlehre einer Umarbeitung dringend beduͤrften. Etwas Ähnliches begegnete mir mit den farbigen Doppelschatten, die mit Huͤlfe eines Kerzenlichtes Mor¬ gens fruͤh bey Tagesanbruch, so wie Abends in der ersten Daͤmmerung, deßgleichen bey hellem Mondschein, besonders schoͤn gesehen werden. Daß hiebey der eine Schatten, naͤmlich der vom Kerzenlichte erleuchtete, gelbe, objectiver Art sey und in die Lehre von den truͤben Mit¬ teln gehoͤre, hat Goethe nicht ausgesprochen, obgleich es so ist; den andern, vom schwachen Tages- oder Mond¬ lichte erleuchteten, blaͤulichen, oder blaͤulich-gruͤnen Schat¬ ten aber, erklaͤrt er fuͤr subjectiv, fuͤr eine geforderte Farbe, die durch den auf dem weißen Papier verbreite¬ ten gelben Schein des Kerzenlichtes im Auge hervorge¬ rufen werde. Diese Lehre fand ich nun, bey sorgfaͤltigster Beob¬ achtung des Phaͤnomens, gleichfalls nicht durchaus be¬ staͤtigt; es wollte mir vielmehr erscheinen, als ob das von außen hereinwirkende schwache Tages- oder Mond¬ licht einen blaͤulich faͤrbenden Ton bereits mit sich bringe, der denn, theils durch den Schatten, theils durch den fordernden gelben Schein des Kerzenlichtes verstaͤrkt werde, und daß also auch hiebey eine objective Grund¬ lage Statt finde und zu beachten sey. Daß das Licht des anbrechenden Tages, wie des Mondes, einen bleichen Schein werfe, ist bekannt. Ein bey Tagesanbruch oder im Mondschein angeblicktes Ge¬ sicht erscheint blaß, wie genugsame Erfahrungen bestaͤti¬ gen. Auch Shakspeare scheint dieses gekannt zu ha¬ ben, denn jener merkwuͤrdigen Stelle, wo Romeo bey Tagesanbruch von seiner Geliebten geht, und in freyer Luft Eins dem Andern ploͤtzlich so bleich erscheint, liegt diese Wahrnehmung sicher zum Grunde. Die bleich¬ machende Wirkung eines solchen Lichtes aber waͤre schon genugsame Andeutung, daß es einen gruͤnlichen oder blaͤulichen Schein mit sich fuͤhren muͤsse, indem ein sol¬ ches Licht dieselbige Wirkung thut, wie ein Spiegel aus blaͤulichem oder gruͤnlichem Glase. Doch stehe noch Fol¬ gendes zu weiterer Bestaͤtigung. Das Licht, vom Auge des Geistes geschaut, mag als durchaus weiß gedacht werden; allein das empirische, vom koͤrperlichen Auge wahrgenommene Licht wird selten in solcher Reinheit gesehen; vielmehr hat es, durch Duͤnste oder sonst modificirt, die Neigung, sich entweder fuͤr die Plus- oder Minus-Seite zu bestimmen, und entweder mit einem gelblichen oder blaͤulichen Ton zu erscheinen. Das unmittelbare Sonnenlicht neigt sich in solchem Fall entschieden zur Plus-Seite, zum gelblichen, das Kerzenlicht gleichfalls; das Licht des Mondes aber, so wie das bey der Morgen- und Abenddaͤmmerung wirkende Tageslicht, welches beydes keine directe, sondern reflectirte Lichter sind, die uͤberdieß durch Daͤmmerung und Nacht modificirt werden, neigen sich auf die passive, auf die Minus-Seite und kommen zum Auge in einem blaͤulichen Ton. Man lege in der Daͤmmerung, oder bey Monden¬ schein, einen weißen Bogen Papier so, daß dessen eine Haͤlfte vom Mond oder Tageslichte, dessen andere aber vom Kerzenlichte beschienen werde, so wird die eine Haͤlfte einen blaͤulichen, die andere einen gelblichen Ton haben, und so werden beyde Lichter, ohne hin¬ zugekommenen Schatten, und ohne subjective Stei¬ gerung, bereits auf der activen oder passiven Seite sich befinden. II . 6 Das Resultat meiner Beobachtungen ging demnach dahin, daß auch Goethe's Lehre von den farbigen Dop¬ pelschatten nicht durchaus richtig sey, daß bey diesem Phaͤnomen mehr Objectives einwirke als von ihm be¬ obachtet worden, und daß das Gesetz der subjectiven Forderung dabey nur als etwas Secundaͤres in Betracht komme. Waͤre das menschliche Auge uͤberall so empfindlich und empfaͤnglich, daß es bey der leisesten Beruͤhrung von irgend einer Farbe sogleich disponirt waͤre die ent¬ gegengesetzte hervorzubringen; so wuͤrde das Auge stets eine Farbe in die andere uͤbertragen, und es wuͤrde das unangenehmste Gemisch entstehen. Dieß ist aber gluͤcklicher Weise nicht so, vielmehr ist ein gesundes Auge so organisirt, daß es die gefor¬ derten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf aufmerksam gemacht, sie doch nur mit Muͤhe hervor¬ bringt; ja daß diese Operation sogar einige Übung und Geschicklichkeit verlangt, ehe sie, selbst unter guͤnstigen Bedingungen, gelingen will. Das eigentlich Charakteristische solcher subjectiven Erscheinungen, daß naͤmlich das Auge zu ihrer Hervor¬ bringung gewissermaßen einen maͤchtigen Reiz verlangt, und daß, wenn sie entstanden, sie keine Staͤtigkeit ha¬ ben, sondern fluͤchtige, schnell verschwindende Wesen sind, ist bey den blauen Schatten im Schnee, so wie bey den farbigen Doppelschatten, von Goethe zu sehr außer Acht gelassen; denn in beyden Faͤllen ist von einer kaum merklich tingirten Flaͤche die Rede, und in beyden Faͤllen steht die geforderte Farbe beym ersten Hinblick so¬ gleich entschieden da. Aber Goethe, bey seinem Festhalten am einmal er¬ kannten Gesetzlichen, und bey seiner Maxime, es selbst in solchen Faͤllen vorauszusetzen, wo es sich zu verber¬ gen scheine, konnte sehr leicht verfuͤhrt werden eine Synthese zu weit greifen zu lassen, und ein liebgewon¬ nenes Gesetz auch da zu erblicken, wo ein ganz anderes wirkte. Als er nun heute seine Farbenlehre zur Erwaͤhnung brachte, und sich erkundigte, wie es mit dem besproche¬ nen Compendium stehe, haͤtte ich die so eben entwickelten Puncte gerne verschweigen moͤgen, denn ich fuͤhlte mich in einiger Verlegenheit, wie ich ihm die Wahrheit sagen sollte, ohne ihn zu verletzen. Allein da es mir mit dem Compendium wirklich ernst war, so mußten, ehe ich in dem Unternehmen sicher vor¬ schreiten konnte, zuvor alle Irrthuͤmer beseitigt und alle Mißverstaͤndnisse besprochen und gehoben seyn. Es blieb mir daher nichts uͤbrig, als voll Vertrauen ihm zu bekennen, daß ich nach sorgfaͤltigen Beobachtun¬ gen mich in dem Fall befinde, in einigen Puncten von ihm abweichen zu muͤssen, indem ich sowohl seine Ablei¬ tung der blauen Schatten im Schnee, als auch seine 6* Lehre von den farbigen Doppelschatten, nicht durchaus bestaͤtiget finde. Ich trug ihm meine Beobachtungen und Gedanken uͤber diese Puncte vor; allein da es mir nicht gegeben ist, Gegenstaͤnde im muͤndlichen Gespraͤch mit einiger Klarheit umstaͤndlich zu entwickeln, so beschraͤnkte ich mich darauf, bloß die Resultate meines Gewahr¬ werdens hinzustellen, ohne in eine naͤhere Eroͤrterung des Einzelnen einzugehen, die ich mir schriftlich vor¬ behielt. Ich hatte aber kaum zu reden angefangen, als Goethe's erhaben-heiteres Wesen sich verfinsterte, und ich nur zu deutlich sah, daß er meine Einwendungen nicht billige. Freylich, sagte ich, wer gegen Euer Excellenz Recht haben will, muß fruͤh aufstehen; allein doch kann es sich fuͤgen, daß der Muͤndige sich uͤbereilt und der Un¬ muͤndige es findet. „Als ob Ihr es gefunden haͤttet! antwortete Goethe etwas ironisch spoͤttelnd; mit Eurer Idee des farbigen Lichtes gehoͤrt Ihr in das vierzehnte Jahrhundert, und im Übrigen steckt Ihr in der tiefsten Dialektik. Das Einzige, was an Euch Gutes ist, besteht darin, daß Ihr wenigstens ehrlich genug seyd, um grade herauszu¬ sagen, wie Ihr denket.“ „Es geht mir mit meiner Farbenlehre, fuhr er dar¬ auf etwas heiterer und milder fort, gerade wie mit der christlichen Religion. Man glaubt eine Weile treue Schuͤler zu haben, und ehe man es sich versieht, wei¬ chen sie ab und bilden eine Sekte. Sie sind ein Ketzer wie die anderen auch, denn Sie sind der erste nicht, der von mir abgewichen ist. Mit den trefflichsten Menschen bin ich wegen bestrittener Puncte in der Farbenlehre auseinander gekommen. Mit *** wegen ..... und mit *** wegen ....“ Er nannte mir hier einige bedeu¬ tende Namen. Wir hatten indeß abgespeist, das Gespraͤch stockte, Goethe stand auf und stellte sich ans Fenster. Ich trat zu ihm und druͤckte ihm die Hand, denn, wie er auch schalt, ich liebte ihn, und dann hatte ich das Gefuͤhl, daß das Recht auf meiner Seite und daß er der lei¬ dende Theil sey. Es waͤhrte auch nicht lange, so sprachen und scherz¬ ten wir wieder uͤber gleichguͤltige Dinge; doch als ich ging und ihm sagte, daß er meine Widerspruͤche zu besserer Pruͤfung schriftlich haben solle, und daß bloß die Ungeschicklichkeit meines muͤndlichen Vortrages Schuld sey, warum er mir nicht Recht gebe, konnte er nicht umhin, Einiges von Ketzern und Ketzerey mir noch in der Thuͤre halb lachend halb spottend zuzuwerfen. Wenn es nun problematisch erscheinen mag, daß Goethe in seiner Farbenlehre nicht gut Widerspruͤche vertragen konnte, waͤhrend er bey seinen poetischen Wer¬ ken sich immer durchaus laͤßlich erwies und jede gegruͤn¬ dete Einwendung mit Dank aufnahm, so loͤset sich viel¬ leicht das Raͤthsel, wenn man bedenkt, daß ihm, als Poet, von außen her die voͤlligste Genugthuung zu Theil ward, waͤhrend er bey der Farbenlehre, diesem groͤßten und schwierigsten aller seiner Werke, nichts als Tadel und Mißbilligung zu erfahren hatte. Ein halbes Leben hindurch toͤnte ihm der unverstaͤndigste Widerspruch von allen Seiten entgegen, und so war es denn wohl natuͤr¬ lich, daß er sich immer in einer Art von gereiztem krie¬ gerischen Zustand, und zu leidenschaftlicher Opposition stets geruͤstet, befinden mußte. Es ging ihm in Bezug auf seine Farbenlehre, wie einer guten Mutter, die ein vortreffliches Kind nur desto mehr liebt, je weniger es von Andern er¬ kannt wird. „Auf Alles was ich als Poet geleistet habe, pflegte er wiederholt zu sagen, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch Trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir seyn. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf thue ich mir etwas zu gute, und ich habe daher ein Bewußtseyn der Su¬ perioritaͤt uͤber Viele.“ Freytag, den 20. Februar 1829. Mit Goethe zu Tisch. Er ist froh uͤber die Been¬ digung der Wanderjahre, die er morgen absenden will. In der Farbenlehre tritt er etwas heruͤber zu meiner Meinung, hinsichtlich der blauen Schatten im Schnee. Er spricht von seiner italienischen Reise, die er gleich wieder vorgenommen. „Es geht uns wie den Weibern, sagte er; wenn sie gebaͤren, verreden sie es wieder beym Manne zu schlafen, und ehe man sich's versieht, sind sie wieder schwanger.“ Über den vierten Band seines Lebens; in welcher Art er ihn behandeln will, und daß dabey meine No¬ tizen vom Jahre 1824, uͤber das bereits Ausgefuͤhrte und Schematisirte, ihm gute Dienste thuen. Er lieset mir das Tagebuch von Goͤttling vor, der mit großer Liebenswuͤrdigkeit von fruͤheren jenai¬ schen Fechtmeistern handelt. Goethe spricht viel Gutes von Goͤttling. Montag, den 23. Maͤrz 1829. „Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefun¬ den, sagte Goethe heute, wo ich die Baukunst eine er¬ starrte Musik nenne. Und wirklich, es hat etwas; die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effect der Musik nahe.“ „Praͤchtige Gebaͤude und Zimmer sind fuͤr Fuͤrsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fuͤhlt man sich be¬ ruhigt, man ist zufrieden und will nichts weiter.“ „Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer praͤchtigen Wohnung, wie ich sie in Carlsbad ge¬ habt, sogleich faul und unthaͤtig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeuner¬ haft, ist fuͤr mich das Rechte; es laͤßt meiner inneren Naur volle Freyheit thaͤtig zu seyn und aus mir selber zu schaffen.“ Wir sprachen von Schillers Briefen und dem Leben, das sie mit einander gefuͤhrt, und wie sie sich taͤglich zu gegenseitigen Arbeiten gehetzt und getrieben. Auch an dem Faust, sagte ich, schien Schiller ein großes Interesse zu nehmen; es ist huͤbsch wie er Sie treibt, und sehr liebenswuͤrdig wie er sich durch seine Idee verlei¬ ten laͤßt, selber am Faust fortzuerfinden. Ich habe dabey bemerkt, daß etwas Voreilendes in seiner Natur lag. „Sie haben Recht, sagte Goethe, er war so, wie alle Menschen, die zu sehr von der Idee ausgehen. Auch hatte er keine Ruhe und konnte nie fertig werden, wie Sie an den Briefen uͤber den Wilhelm Meister sehen, den er bald so und bald anders haben will. Ich hatte nur immer zu thun, daß ich fest stand und seine wie meine Sachen von solchen Einfluͤssen frey hielt und schuͤtzte.“ Ich habe diesen Morgen, sagte ich, seine nadowessi¬ sche Todtenklage gelesen, und mich gefreut, wie das Ge¬ dicht so vortrefflich ist. „Sie sehen, antwortete Goethe, wie Schiller ein großer Kuͤnstler war, und wie er auch das Objective zu fassen wußte, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen kam. Gewiß die nadowessische Todtenklage gehoͤrt zu seinen allerbesten Gedichten, und ich wollte nur, daß er ein Dutzend in dieser Art gemacht haͤtte. Aber koͤn¬ nen Sie denken, daß seine naͤchsten Freunde ihn dieses Gedichtes wegen tadelten, indem sie meinten, es trage nicht genug von seiner Idealitaͤt? — Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt! — Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea , daß sie bey dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und drein geschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug, ist ja der Character des außerordentlichen Maͤdchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zustaͤnden recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewoͤhnlichen herab. — Aber Sie werden bey weite¬ rem Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen faͤhig sind, sich auf den Fuß dessen zu setzen, was seyn muß, und daß vielmehr Alle nur immer das loben und das hervorgebracht wissen wollen, was ihnen selber ge¬ maͤß ist. Und das waren die Ersten und Besten, und Sie moͤgen nun denken, wie es um die Meinungen der Masse aussah, und wie man eigentlich immer allein stand.“ — „Haͤtte ich in der bildenden Kunst und in den Na¬ turstudien kein Fundament gehabt, so haͤtte ich mich in der schlechten Zeit und deren taͤglichen Einwirkungen auch schwerlich oben gehalten; aber das hat mich ge¬ schuͤtzt, so wie ich auch Schillern von dieser Seite zu Huͤlfe kam.“ Dienstag, den 24. Maͤrz 1829. „Je hoͤher ein Mensch, sagte Goethe, desto mehr steht er unter dem Einfluß der Daͤmonen, und er muß nur immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerathe.“ „So waltete bey meiner Bekanntschaft mit Schil¬ lern durchaus etwas Daͤmonisches ob; wir konnten fruͤher, wir konnten spaͤter zusammengefuͤhrt werden; aber daß wir es grade in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte, und Schiller der philosophischen Speculationen muͤde zu werden anfing, war von Bedeutung und fuͤr Beyde von groͤßtem Erfolg.“ Donnerstag, den 2. April 1829. „Ich will Ihnen ein politisches Geheimniß entdecken, sagte Goethe heute bey Tisch, das sich uͤber kurz oder lang offenbaren wird. Capodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Laͤnge nicht halten, denn ihm fehlet eine Qualitaͤt, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist: er ist kein Soldat . Wir haben aber kein Beyspiel, daß ein Cabinetsmann einen revolutionairen Staat haͤtte organisiren und Mili¬ taͤr und Feldherren sich haͤtte unterwerfen koͤnnen. Mit dem Saͤbel in der Faust, an der Spitze einer Armee, mag man befehlen und Gesetze geben, und man kann sicher seyn, daß man gehorcht werde; aber ohne dieses ist es ein mißliches Ding. Napoleon , ohne Soldat zu seyn, haͤtte nie zur hoͤchsten Gewalt emporsteigen koͤn¬ nen, und so wird sich auch Capodistrias als Erster auf die Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er sehr bald eine secundaͤre Rolle spielen. Ich sage Ihnen dieses voraus, und Sie werden es kommen sehen; es liegt in der Na¬ tur der Dinge und ist nicht anders moͤglich.“ Goethe sprach darauf viel uͤber die Franzosen, beson¬ ders uͤber Cousin , Villemain und Guizot . „Die Einsicht, Umsicht und Durchsicht dieser Maͤnner, sagte er, ist groß; sie verbinden vollkommene Kenntniß des Vergangenen, mit dem Geist des neunzehnten Jahrhun¬ derts, welches denn freylich Wunder thut.“ Von diesen kamen wir auf die neuesten franzoͤsischen Dichter und auf die Bedeutung von classisch und romantisch . „Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen, sagte Goethe, der das Verhaͤltniß nicht uͤbel bezeichnet. Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Ro¬ mantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen classisch wie der Homer , denn beyde sind gesund und tuͤchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kraͤnklich und krank ist, und das Alte ist nicht classisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitaͤten Classisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im Reinen seyn.“ Das Gespraͤch lenkte sich auf B é rangers Gefan¬ genschaft. „Es geschieht ihm ganz Recht, sagt Goethe. Seine letzten Gedichte sind wirklich ohne Zucht und Ord¬ nung, und er hat gegen Koͤnig, Staat und friedlichen Buͤrgersinn seine Strafe vollkommen verwirkt. Seine fruͤheren Gedichte dagegen sind heiter und harmlos, und ganz geeignet, einen Zirkel froher gluͤcklicher Menschen zu machen, welches denn wohl das Beste ist, was man von Liedern sagen kann.“ Ich bin gewiß, versetzte ich, daß seine Umgebung nachtheilig auf ihn gewirkt hat, und daß er, um seinen revolutionairen Freunden zu gefallen, manches gesagt hat, was er sonst nicht gesagt haben wuͤrde. Euer Ex¬ cellenz sollten Ihr Schema ausfuͤhren und das Capitel von den Influenzen schreiben, der Gegenstand ist wich¬ tiger und reicher, jemehr man daruͤber nachdenkt. „Er ist nur zu reich, sagte Goethe, denn am Ende ist Alles Influenz, insofern wir es nicht selber sind.“ Man hat nur darauf zu sehen, sagte ich, ob eine Influenz hinderlich oder foͤrderlich, ob sie unserer Natur angemessen und beguͤnstigend, oder ob sie ihr zuwider ist. „Das ist es freylich, sagte Goethe, worauf es an¬ kommt; aber das ist auch eben das Schwere, daß un¬ sere bessere Natur sich kraͤftig durchhalte und den Daͤ¬ monen nicht mehr Gewalt einraͤume als billig.“ Beym Nachtisch ließ Goethe einen bluͤhenden Lorbeer und eine japanesische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen. Ich bemerkte, daß von beyden Pflanzen eine verschiedene Stimmung ausgehe, daß der Anblick des Lorbeers heiter, leicht, milde und ruhig mache, die ja¬ panesische Pflanze dagegen barbarisch melancholisch wirke. „Sie haben nicht Unrecht, sagte Goethe, und daher kommt es denn auch, daß man der Pflanzenwelt eines Landes einen Einfluß auf die Gemuͤthsart seiner Be¬ wohner zugestanden hat. Und gewiß! wer sein Leben¬ lang von hohen ernsten Eichen umgeben waͤre, muͤßte ein anderer Mensch werden, als wer taͤglich unter luf¬ tigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im Allgemeinen nicht so sensibler Na¬ tur sind als wir andern, und daß sie im Ganzen kraͤf¬ tig vor sich hinleben, ohne den aͤußeren Eindruͤcken so viele Gewalt einzuraͤumen. Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Ra ç e, sowohl Boden und Clima, als Nahrung und Beschaͤftigung einwirkt, um den Character eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die fruͤhesten Staͤmme meistentheils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem angeborenen Character der Menschen bereits in Harmonie stand.“ „Sehen Sie sich einmal um, fuhr Goethe fort, hin¬ ter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu betrachten bitte.“ Dieses blaue Briefcouvert? sagte ich. „Ja, sagte Goethe. — Nun, was sagen Sie zu der Handschrift? Ist das nicht ein Mensch, dem es groß und frey zu Sinne war, als er die Adresse schrieb? — Wem moͤchten Sie die Hand zutrauen?“ Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Zuͤge der Handschrift waren sehr frey und grandios. Merck koͤnnte so geschrieben haben, sagte ich. „Nein, sagte Goethe, der war nicht edel und positiv genug. Es ist von Zelter ! — Papier und Feder hat ihn bey diesem Couvert beguͤnstigt, so daß die Schrift ganz seinen gro¬ ßen Character ausdruͤckt. Ich will das Blatt in meine Sammlung von Handschriften legen.“ Freytag, den 3. April 1829. Mit Oberbaudirector Coudray bey Goethe zu Tisch. — Coudray erzaͤhlte von einer Treppe im Gro߬ herzoglichen Schloß zu Belvedere, die man seit Jahren hoͤchst unbequem gefunden, an deren Verbesserung der alte Herrscher immer gezweifelt habe, und die nun un¬ ter der Regierung des jungen Fuͤrsten vollkommen gelinge. Auch von dem Fortgange verschiedener Chaussee- Bauten gab Coudray Nachricht, und daß man den Weg uͤber die Berge nach Blankenhain , wegen zwey Fuß Steigung auf die Ruthe, ein wenig haͤtte umleiten muͤssen, wo man doch an einigen Stellen noch achtzehn Zoll auf die Ruthe habe. Ich fragte Coudray, wie viel Zoll die eigentliche Norm sey, welche man beym Chaussee-Bau in huͤge¬ ligen Gegenden zu erreichen trachte. „Zehn Zoll auf die Ruthe, antwortete er, da ist es bequem.“ Aber, sagte ich, wenn man von Weimar aus irgend eine Straße nach Osten, Suͤden, Westen oder Norden faͤhrt, so findet man sehr bald Stellen, wo die Chaussee weit mehr als zehn Zoll Steigung auf die Ruthe haben moͤchte. „Das sind kurze, unbedeutende Strecken, ant¬ wortete Coudray, und dann geht man oft beym Chaussee- Bau uͤber solche Stellen in der Naͤhe eines Ortes ab¬ sichtlich hin, um demselben ein kleines Einkommen fuͤr Vorspann nicht zu nehmen.“ Wir lachten uͤber diese redliche Schelmerey. „Und im Grunde, fuhr Coudray fort, ist's auch eine Kleinigkeit; die Reisewagen gehen uͤber solche Stellen leicht hinaus, und die Frachtfahrer sind einmal an einige Plackerey gewoͤhnt. Zudem, da solcher Vorspann gewoͤhnlich bey Gastwirthen genommen wird, so haben die Fuhrleute zugleich Gelegenheit ein¬ mal zu trinken, und sie wuͤrden es einem nicht danken, wenn man ihnen den Spaß verduͤrbe.“ „Ich moͤchte wissen, sagte Goethe, ob es in ganz ebenen flachen Gegenden nicht sogar besser waͤre, die grade Straßen-Linie dann und wann zu unterbrechen, und die Chaussee kuͤnstlich hier und dort ein wenig stei¬ gen und fallen zu lassen; es wuͤrde das bequeme Fahren nicht hindern, und man gewoͤnne, daß die Straße we¬ gen besserem Abfluß des Regenwassers immer trocken waͤre.“ Das ließe sich wohl machen, antwortete Coudray, und wuͤrde sich hoͤchst wahrscheinlich sehr nuͤtz¬ lich erweisen. Coudray brachte darauf eine Schrift hervor, den Entwurf einer Instruction fuͤr einen jungen Architekten, den die Ober-Baubehoͤrde zu seiner weiteren Ausbildung nach Paris zu schicken im Begriff stand. Er las die Instruktion, sie ward von Goethe gut befunden und ge¬ billigt. Goethe hatte beym Ministerium die noͤthige Unterstuͤtzung ausgewirkt, man freute sich, daß die Sache gelungen, und sprach uͤber die Vorsichtsmaßregeln, die man nehmen wolle, damit dem jungen Manne das Geld gehoͤrig zu gute komme, und er auch ein Jahr damit ausreiche. Bey seiner Zuruͤckkunft hatte man die Absicht, ihn an der neu zu errichtenden Gewerkschule als Lehrer anzustellen, wodurch denn einem talentreichen jungen Mann alsobald ein angemessener Wirkungskreis eroͤffnet sey. Es war alles gut und ich gab dazu mei¬ nen Segen im Stillen. Baurisse, Vorlegeblaͤtter fuͤr Zimmerleute von Schin¬ kel wurden darauf vorgezeigt und betrachtet. Coudray fand die Blaͤtter bedeutend und zum Gebrauch fuͤr die kuͤnftige Gewerkschule vollkommen geeignet. Man sprach von Bauten, vom Schall und wie er zu vermeiden, und von großer Festigkeit der Gebaͤude der Jesuiten. „In Messina, sagte Goethe, waren alle Gebaͤude vom Erdbeben zusammengeruͤttelt, aber die Kirche und das Kloster der Jesuiten standen ungeruͤhrt, als waͤren sie gestern gebaut. Es war nicht die Spur an ihnen zu bemerken, daß die Erderschuͤtterung den geringsten Effect auf sie gehabt.“ II . 7 Von Jesuiten und deren Reichthuͤmern lenkte sich das Gespraͤch auf Catholiken und die Emancipation der Irlaͤnder. „Man sieht, sagte Coudray, die Emancipa¬ tion wird zugestanden werden, aber das Parlament wird die Sache so verklausuliren, daß dieser Schritt auf keine Weise fuͤr England gefaͤhrlich werden kann.“ „Bey den Catholiken, sagte Goethe, sind alle Vor¬ sichtsmaßregeln unnuͤtz. Der paͤbstliche Stuhl hat In¬ teressen, woran wir nicht denken, und Mittel, sie im Stillen durchzufuͤhren, wovon wir keinen Begriff haben. Saͤße ich jetzt im Parlament, ich wuͤrde auch die Eman¬ cipation nicht hindern, aber ich wuͤrde zu Protocoll neh¬ men lassen, daß wenn der erste Kopf eines bedeutenden Protestanten durch die Stimme eines Catholiken falle, man an mich denken moͤge.“ Das Gespraͤch lenkte sich auf die neueste Literatur der Franzosen, und Goethe sprach abermals mit Bewun¬ derung von den Vorlesungen der Herren Cousin , Villemain und Guizot . „Statt des Voltairischen leichten oberflaͤchlichen Wesens, sagte er, ist bey ihnen eine Gelehrsamkeit, wie man sie fruͤher nur bey Deut¬ schen fand. Und nun ein Geist, ein Durchdringen und Auspressen des Gegenstandes, herrlich! es ist als ob sie die Kelter traͤten. Sie sind alle drey vortrefflich, aber dem Herrn Guizot moͤchte ich den Vorzug geben, er ist mir der liebste.“ Wir sprachen darauf uͤber Gegenstaͤnde der Weltge¬ schichte, und Goethe aͤußerte Folgendes uͤber Regenten. „Um popular zu seyn, sagte er, braucht ein großer Regent weiter keine Mittel als seine Groͤße. Hat er so gestrebt und gewirkt, daß sein Staat im Innern gluͤck¬ lich und nach Außen geachtet ist, so mag er mit allen seinen Orden im Staatswagen, oder er mag im Baͤren¬ felle und die Cigarre im Munde auf einer schlechten Troschke fahren, es ist alles gleich, er hat einmal die Liebe seines Volkes und genießt immer dieselbige Achtung. Fehlt aber einem Fuͤrsten die persoͤnliche Groͤße, und weiß er nicht durch gute Thaten bey den Seinen sich in Liebe zu setzen, so muß er auf andere Vereinigungs¬ mittel denken, und da giebt es kein besseres und wirk¬ sameres, als die Religion, und den Mitgenuß und die Mituͤbung derselbigen Gebraͤuche. Sonntaͤglich in der Kirche erscheinen, auf die Gemeinde herabsehen, und von ihr ein Stuͤndchen sich anblicken lassen, ist das trefflichste Mittel zur Popularitaͤt, das man jedem jungen Regen¬ ten anrathen moͤchte, und das, bey aller Groͤße, selbst Napoleon nicht verschmaͤhet hat.“ Das Gespraͤch wendete sich nochmals zu den Catho¬ liken und wie groß der Geistlichen Einfluß und Wirken im Stillen sey. Man erzaͤhlte von einem jungen Schriftsteller in Hanau, der vor kurzem in einer Zeit¬ schrift, die er herausgegeben, ein wenig heiter uͤber den Rosenkranz gesprochen. Diese Zeitschrift sey sogleich ein¬ 7 * gegangen, und zwar durch den Einfluß der Geistlichen in ihren verschiedenen Gemeinden. „Von meinem Wer¬ ther , sagte Goethe, erschien sehr bald eine italienische Übersetzung in Mayland. Aber von der ganzen Auflage war in kurzem auch nicht ein einziges Exemplar mehr zu sehen. Der Bischof war dahinter gekommen und hatte die ganze Edition von den Geistlichen in den Ge¬ meinden aufkaufen lassen. Es verdroß mich nicht, ich freute mich vielmehr uͤber den klugen Herrn, der sogleich einsah, daß der Werther fuͤr die Catholiken ein schlech¬ tes Buch sey, und ich mußte ihn loben, daß er auf der Stelle die wirksamsten Mittel ergriffen, es ganz im Stillen wieder aus der Welt zu schaffen.“ Sonntag, den 5. April 1829. Goethe erzaͤhlte mir, daß er vor Tisch nach Belve¬ dere gefahren sey, um Coudray's neue Treppe im Schloß in Augenschein zu nehmen, die er vortrefflich gefunden. Auch sagte er mir, daß ein großer verstei¬ nerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle. „Solche versteinerte Staͤmme, sagte er, finden sich unter dem einundfunfzigsten Grade ganz herum bis nach Amerika, wie ein Erdguͤrtel. Man muß immer mehr erstaunen! Von der fruͤheren Organisation der Erde hat man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von Buch nicht verdenken, wenn er die Menschen endoctri¬ nirt, um seine Hypothesen zu verbreiten. Er weiß nichts, aber niemand weiß mehr, und da ist es denn am Ende einerley was gelehret wird, wenn es nur eini¬ germaßen einen Anschein von Vernunft hat.“ Von Zelter gruͤßte mich Goethe, welches mir Freude machte. Dann sprachen wir von seiner italienischen Reise, und er sagte mir, daß er in einem seiner Briefe aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle. Er bat mich, ihm ein Paket Schriften zu reichen, das mir gegenuͤber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm, es waren seine Briefe aus Italien; er suchte das Ge¬ dicht und las: Cupido, loser, eigensinniger Knabe! Du batst mich um Quartier auf einige Stunden. Wie viele Tag' und Naͤchte bist du geblieben! Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden. Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben; Nun sitz' ich an der Erde, Naͤchte gequaͤlet. Dein Muthwill' schuͤret Flamm' auf Flamme des Herdes, Verbrennet den Vorrath des Winters und senget mich Armen. Du hast mir mein Geraͤth verstellt und verschoben. Ich such' und bin wie blind und irre geworden; Du laͤrmst so ungeschickt; ich fuͤrchte das Seelchen Entflieht, um dir zu entfliehn, und raͤumet die Huͤtte. Ich freute mich sehr uͤber dieß Gedicht, das mir voll¬ kommen neu erschien. „Es kann Ihnen nicht fremd seyn, sagte Goethe, denn es steht in der Claudina von Villa Bella , wo es der Rugantino singt. Ich habe es jedoch dort zerstuͤckelt, so daß man daruͤber hinauslieset und niemand merkt was es heißen will. Ich daͤchte aber, es waͤre gut! Es druͤckt den Zustand artig aus und bleibt huͤbsch im Gleichniß; es ist in Art der Anakreontischen. Eigentlich haͤtten wir dieses Lied, und aͤhnliche andere aus meinen Opern, unter den Gedichten wieder sollen abdrucken lassen, damit der Componist doch die Lieder beysammen haͤtte.“ Ich fand dieses gut und vernuͤnftig, und merkte es mir fuͤr die Folge. Goethe hatte das Gedicht sehr schoͤn gelesen; ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse: Du laͤrmst so ungeschickt, ich fuͤrchte das Seelchen Entflieht, um dir zu entfliehn, und raͤumet die Huͤtte. sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin. Er erzaͤhlte mir sodann von einem neu erschienenen Buch uͤber Napoleon , das von einem Jugendbekann¬ ten des Helden verfaßt sey, und worin man die merk¬ wuͤrdigsten Aufschluͤsse erhalte. „Das Buch, sagte er, ist ganz nuͤchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabey, welchen großartigen Character das Wahre hat, wenn es einer zu sagen wagt.“ Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters erzaͤhlte mir Goethe. „Es ist ein pathologisches Product, sagte er; die Saͤfte sind Theilen uͤberfluͤssig zugeleitet, die sie nicht haben wollen, und andern, die sie bedurft haͤtten, sind sie entzogen. Das Suͤjet war gut, sehr gut, aber die Scenen, die ich erwartete, waren nicht da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß und Liebe behandelt. Ich daͤchte, das waͤre pathologisch oder auch romantisch, wenn Sie nach unserer neuen Theorie lieber wollen.“ Wir waren darauf noch eine Weile heiter beysam¬ men, und Goethe bewirthete mich zuletzt noch mit vie¬ lem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm. Montag, den 6. April 1829. Goethe gab mir einen Brief von Egon Ebert , den ich bey Tische las und der mir Freude machte. Wir sprachen viel Loͤbliches von Egon Ebert und Boͤh¬ men, und gedachten auch des Professors Zauper mit Liebe. „Das Boͤhmen ist ein eigenes Land, sagte Goethe, ich bin dort immer gerne gewesen. Die Bildung der Literatoren hat noch etwas Reines, welches im noͤrdli¬ chen Deutschland schon anfaͤngt selten zu werden, indem hier jeder Lump schreibt, bey dem an ein sittliches Fun¬ dament und eine hoͤhere Absicht nicht zu denken ist.“ Goethe sprach sodann von Egon Eberts neuestem epischen Gedicht, deßgleichen von der fruͤheren Weiber¬ herrschaft in Boͤhmen, und woher die Sage von den Amazonen entstanden. Dieß brachte die Unterhaltung auf das Epos eines anderen Dichters, der sich viel Muͤhe gegeben, sein Werk in oͤffentlichen Blaͤttern guͤnstig beurtheilt zu sehen. „Solche Urtheile, sagte Goethe, sind denn auch hier und dort erschienen. Nun aber ist die Hallische Lite¬ raturzeitung dahinter gekommen, und hat gradezu aus¬ gesprochen, was von dem Gedicht eigentlich zu halten, wodurch denn alle guͤnstigen Redensarten der uͤbrigen Blaͤtter vernichtet worden. Wer jetzt nicht das Rechte will, ist bald entdeckt; es ist nicht mehr die Zeit, das Publicum zum Besten zu haben und es in die Irre zu fuͤhren.“ Ich bewundere, sagte ich, daß die Menschen um ein wenig Namen es sich so sauer werden lassen, so daß sie selbst zu falschen Mitteln ihre Zuflucht nehmen. „Liebes Kind, sagte Goethe, ein Name ist nichts Geringes. Hat doch Napoleon eines großen Namens wegen fast die halbe Welt in Stuͤcke geschlagen!“ — Es entstand eine kleine Pause im Gespraͤch, dann aber erzaͤhlte Goethe mir Ferneres von dem neuen Buche uͤber Napoleon. „Die Gewalt des Wahren ist groß, sagte er. Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poeten uͤber Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der entsetzlichen Realitaͤt dieses Buchs; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, viel¬ mehr waͤchst er, so wie er an Wahrheit zunimmt.“ Eine eigene Zaubergewalt, sagte ich, mußte er in seiner Persoͤnlichkeit haben, daß die Menschen ihm so¬ gleich zufielen und anhingen und sich von ihm leiten ließen. „Allerdings, sagte Goethe, war seine Persoͤnlichkeit eine uͤberlegene. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die Menschen gewiß waren, ihre Zwecke unter ihm zu erreichen. Deßhalb fielen sie ihm zu, so wie sie es jedem thun, der ihnen eine aͤhnliche Gewißheit einfloͤßt. Fallen doch die Schauspieler einem neuen Regisseur zu, von dem sie glauben, daß er sie in gute Rollen brin¬ gen werde. Dieß ist ein altes Maͤhrchen, das sich im¬ mer wiederholt; die menschliche Natur ist einmal so ein¬ gerichtet. — Niemand dienet einem Andern aus freyen Stuͤcken; weiß er aber, daß er damit sich selber dient, so thut er es gerne. Napoleon kannte die Menschen zu gut, und er wußte von ihren Schwaͤchen den gehoͤrigen Gebrauch zu machen.“ Das Gespraͤch wendete sich auf Zelter . „Sie wissen, sagte Goethe, daß Zelter den preußischen Orden bekommen. Nun hatte er aber noch kein Wappen; aber eine große Nachkommenschaft ist da, und somit die Hoff¬ nung auf eine weit hinaus dauernde Familie. Er mußte also ein Wappen haben, damit eine ehrenvolle Grund¬ lage sey, und ich habe den lustigen Einfall gehabt, ihm eins zu machen. Ich schrieb an ihn und er war es zu¬ frieden; aber ein Pferd wollte er haben. Gut! sagte ich, ein Pferd sollst du haben, aber eins mit Fluͤ¬ geln. — Sehen Sie sich einmal um, hinter Ihnen liegt ein Papier, ich habe darauf mit einer Bleifeder den Entwurf gemacht.“ Ich nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung. Das Wappen sah sehr stattlich aus und die Erfindung mußte ich loben. Das untere Feld zeigte die Thurm¬ zinne einer Stadtmauer, um anzudeuten, daß Zelter in fruͤherer Zeit ein tuͤchtiger Maurer gewesen. Ein ge¬ fluͤgeltes Pferd hebt sich dahinter hervor, nach hoͤheren Regionen strebend, wodurch sein Genius und Aufschwung zum Hoͤheren ausgesprochen war. Dem Wappenschilde oben fuͤgte sich eine Lyra auf, uͤber welcher ein Stern leuchtete, als ein Symbol der Kunst, wodurch der treff¬ liche Freund, unter dem Einfluß und Schutz guͤnstiger Gestirne, sich Ruhm erworben. Unten, dem Wappen an, hing der Orden, womit sein Koͤnig ihn begluͤckt und geehrt, als Zeichen gerechter Anerkennung großer Verdienste. „Ich habe es von Facius stechen lassen, sagte Goethe, und Sie sollen einen Abdruck sehen. Ist es aber nicht artig, daß ein Freund dem andern ein Wap¬ pen macht, und ihm dadurch gleichsam den Adel giebt?“ Wir freuten uns uͤber den heiteren Gedanken, und Goethe schickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu lassen. Wir saßen noch eine Weile am Tisch, indem wir zu gutem Biscuit einige Glaͤser alten Rheinwein tran¬ ken. Goethe summte Undeutliches vor sich hin. Mir kam das Gedicht von gestern wieder in den Kopf; ich recitirte: Du hast mir mein Geraͤth verstellt und verschoben; Ich such', und bin wie blind und irre geworden. ꝛc. Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, sagte ich, es ist durchaus eigenartig, und druͤckt die Unord¬ nung so gut aus, die durch die Liebe in unser Leben gebracht wird. „Es bringt uns einen duͤsteren Zustand vor Augen,“ sagte Goethe. Es macht mir den Ein¬ druck eines Bildes, sagte ich, eines niederlaͤndischen. „Es hat so etwas von Good man und good wife ,“ sagte Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge, sagte ich, denn ich habe schon fortwaͤhrend an jenes Schottische denken muͤssen, und das Bild von Ostade war mir vor Augen. „Aber wunderlich ist es, sagte Goethe, daß sich beyde Gedichte nicht malen lassen; sie geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine aͤhnliche Stimmung, aber gemalt, waͤren sie nichts.“ Es sind dieses schoͤne Beyspiele, sagte ich, wo die Poesie der Malerey so nahe als moͤglich tritt, ohne aus ihrer eigentlichen Sphaͤre zu gehen. Solche Gedichte sind mir die liebsten, indem sie Anschauung und Empfindung zugleich gewaͤhren. Wie sie aber zu dem Gefuͤhl eines solchen Zustandes gekommen sind, begreife ich kaum; das Gedicht ist wie aus einer anderen Zeit und einer ande¬ ren Welt. „Ich werde es auch nicht zum zweyten Male machen, sagte Goethe, und wuͤßte auch nicht zu sagen, wie ich dazu gekommen bin, wie uns denn die¬ ses sehr oft geschieht.“ Noch etwas Eigenes, sagte ich, hat das Gedicht. Es ist mir immer als waͤre es gereimt, und doch ist es nicht so. Woher kommt das? „Es liegt im Rhyth¬ mus, sagte Goethe. Die Verse beginnen mit einem Vorschlag, gehen trochaͤisch fort, wo denn der Dactylus gegen das Ende eintritt, welcher eigenartig wirkt und wodurch es einen duͤster klagenden Character bekommt.“ Goethe nahm eine Bleyfeder und theilte so ab: Vo͝n | m͞eine͝m | br͞eite͝n | L͞age͝r | b͞in ic͝h ve͝r | t͞riebe͝n. Wir sprachen uͤber Rhythmus im Allgemeinen und kamen darin uͤberein, daß sich uͤber solche Dinge nicht denken lasse. „Der Tact, sagte Goethe, kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man daruͤber denken, wenn man ein Gedicht macht, man wuͤrde verruͤckt und braͤchte nichts Gescheidtes zu Stande.“ Ich wartete auf den Abdruck des Siegels; Goethe fing an uͤber Guizot zu reden. „Ich gehe in seinen Vorlesungen fort, sagte er, und sie halten sich trefflich. Die dießjaͤhrigen gehen etwa bis ins achte Jahr¬ hundert. Er besitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie er mir bey keinem Geschichtsschreiber groͤßer vorgekom¬ men. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in sei¬ nen Augen die groͤßte Wichtigkeit, als Quellen bedeu¬ tender Ereignisse. Welchen Einfluß z. B. das Vorwal¬ ten gewisser religioͤser Meinungen auf die Geschichte gehabt, wie die Lehre von der Erbsuͤnde, von der Gnade, von guten Werken, gewissen Epochen eine solche und eine andre Gestalt gegeben, sehen wir deut¬ lich hergeleitet und nachgewiesen. Auch das roͤmische Recht, als ein fortlebendes, das, gleich einer untertau¬ chenden Ente, sich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht, und immer einmal wieder leben¬ dig hervortritt, sehen wir sehr gut behandelt, bey wel¬ cher Gelegenheit denn auch unserm trefflichen Savigny volle Anerkennung zu Theil wird.“ „Wie Guizot von den Einfluͤssen redet, welche die Gallier in fruͤher Zeit von fremden Nationen empfan¬ gen, ist mir besonders merkwuͤrdig gewesen, was er von den Deutschen sagt. „„Die Germanen, sagt er, brach¬ ten uns die Idee der persoͤnlichen Freyheit, welche die¬ sem Volke vor allem eigen war.““ Ist das nicht sehr artig, und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam? — Die Reformation kam aus dieser Quelle, wie die Burschenverschwoͤrung auf der Wartburg, Ge- scheidtes wie Dummes. Auch das Buntschaͤckige unserer Literatur, die Sucht unserer Poeten nach Originalitaͤt, und daß jeder glaubt eine neue Bahn machen zu muͤssen, so wie die Absonderung und Verisolirung unserer Ge¬ lehrten, wo jeder fuͤr sich steht und von seinem Puncte aus sein Wesen treibt, Alles kommt daher. Franzosen und Englaͤnder dagegen halten weit mehr zusammen und richten sich nach einander. In Kleidung und Be¬ tragen haben sie etwas Übereinstimmendes. Sie fuͤrch¬ ten von einander abzuweichen, um sich nicht auffallend oder gar laͤcherlich zu machen. Die Deutschen aber gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu thun; er fragt nicht nach dem Andern, denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persoͤnlichen Freyheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes.“ Dienstag, den 7. April 1829. Ich fand, als ich hereintrat, Hofrath Meyer , der einige Zeit unpaͤßlich gewesen, mit Goethe am Tisch sitzen, und freute mich, ihn wieder so weit hergestellt zu sehen. Sie sprachen von Kunstsachen, von Peel , der einen Claude Lorrain fuͤr viertausend Pfund ge¬ kauft, wodurch Peel sich denn besonders in Meyers Gunst gesetzt hatte. Die Zeitungen wurden gebracht, worin wir uns theilten, in Erwartung der Suppe. Als an der Tagesordnung kam die Emancipation der Irlaͤnder sehr bald zur Erwaͤhnung. „Das Lehr¬ reiche fuͤr uns dabey ist, sagte Goethe, daß bey dieser Gelegenheit Dinge an den Tag kommen, woran niemand gedacht hat, und die ohne diese Veranlassung nie waͤren zur Sprache gebracht worden. Recht klar uͤber den irlaͤndischen Zustand werden wir aber doch nicht, denn die Sache ist zu verwickelt. So viel aber sieht man, daß dieses Land an Übeln leidet, die durch kein Mittel und also auch nicht durch die Emancipation gehoben werden koͤnnen. War es bis jetzt ein Ungluͤck, daß Irland seine Übel alleine trug, so ist es jetzt ein Ungluͤck, daß England mit hineingezogen wird. Das ist die Sache. Und den Catholiken ist gar nicht zu trauen. Man sieht, welchen schlimmen Stand die zwei Millionen Protestanten, gegen die Übermacht der fuͤnf Millionen Ca¬ tholiken, bisher in Irland gehabt haben, und wie z. B. arme protestantische Paͤchter gedruͤckt, chikanirt und ge¬ quaͤlt worden, die von catholischen Nachbarn umgeben waren. Die Catholiken vertragen sich unter sich nicht, aber sie halten immer zusammen, wenn es gegen einen Protestanten geht. Sie sind einer Meute Hunden gleich, die sich unter einander beißen, aber, sobald sich ein Hirsch zeigt, sogleich einig sind und in Masse auf ihn los gehen.“ Von den Irlaͤndern wendete sich das Gespraͤch zu den Haͤndeln in der Tuͤrkey. Man wunderte sich, wie die Russen, bey ihrer Übermacht, im vorigjaͤhrigen Feld¬ zuge nicht weiter gekommen. „Die Sache ist die, sagte Goethe, die Mittel waren unzulaͤnglich, und deßhalb machte man zu große Anforderungen an Einzelne, wo¬ durch denn persoͤnliche Großthaten und Aufopferungen geschahen, ohne die Angelegenheit im Ganzen zu foͤr¬ dern.“ Es mag auch ein verwuͤnschtes Local seyn, sagte Meyer; man sieht, in den aͤltesten Zeiten, daß es in dieser Gegend, wenn ein Feind von der Donau her zu dem noͤrdlichen Gebirg eindringen wollte, immer Haͤn¬ del setzte, daß er immer den hartnaͤckigsten Widerstand gefunden, und daß er fast nie hereingekommen ist. Wenn die Russen sich nur die Seeseite offen halten, um sich von dorther mit Proviant versehen zu koͤnnen! „Das ist zu hoffen,“ sagte Goethe. „Ich lese jetzt Napoleons Feldzug in Egypten, und zwar was der taͤgliche Begleiter des Helden, was Bourrienne davon sagt, wo denn das Abenteuer¬ liche von vielen Dingen verschwindet, und die Facta in ihrer nackten erhabenen Wahrheit dastehen. Man sieht, er hatte bloß diesen Zug unternommen, um eine Epoche auszufuͤllen, wo er in Frankreich nichts thun konnte, um sich zum Herrn zu machen. Er war an¬ faͤnglich unschluͤssig, was zu thun sey; er besuchte alle franzoͤsischen Haͤfen an der Kuͤste des atlantischen Meeres hinunter, um den Zustand der Schiffe zu sehen und sich zu uͤberzeugen, ob eine Expedition nach England moͤglich oder nicht. Er fand aber, daß es nicht gera¬ then sey, und entschloß sich daher zu dem Zuge nach Egypten.“ Ich muß bewundern, sagte ich, wie Napoleon, bey solcher Jugend, mit den großen Angelegenheiten der Welt so leicht und sicher zu spielen wußte, als waͤre eine vieljaͤhrige Praxis und Erfahrung vorangegangen. „Liebes Kind, sagte Goethe, das ist das Angeborene des großen Talents. Napoleon behandelte die Welt wie Hummel seinen Fluͤgel; Beydes erscheint uns wunderbar, wir begreifen das Eine so wenig wie das Andere, und doch ist es so und geschieht vor unsern Augen. Napoleon war darin besonders groß, daß er zu jeder Stunde derselbige war. Vor einer Schlacht, waͤhrend einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer Niederlage, er stand i m mer auf festen Fuͤßen, und war immer klar und entschieden was zu thun sey. Er war immer in seinem Element und jedem Augenblick und jedem Zustande gewachsen, so wie es Hummeln gleich¬ viel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Baß oder im Discant spielt. Das ist die Facilitaͤt, die sich uͤberall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden ist, in Kuͤnsten des Friedens wie des Krieges, am Cla¬ vier wie hinter den Kanonen.“ II . 8 „Man sieht aber an diesem Buch, fuhr Goethe fort, wie viele Maͤhrchen uns von seinem egyptischen Feld¬ zuge erzaͤhlet worden. Manches bestaͤtiget sich zwar, allein Vieles gar nicht, und das Meiste ist anders.“ „Daß er die achthundert tuͤrkischen Gefangenen hat erschießen lassen, ist wahr; aber es erscheint als reifer Be¬ schluß eines langen Kriegsrathes, indem, nach Erwaͤgung aller Umstaͤnde, kein Mittel gewesen ist, sie zu retten.“ „Daß er in die Pyramiden soll hinabgestiegen seyn, ist ein Maͤhrchen. Er ist huͤbsch außerhalb stehen ge¬ blieben und hat sich von den Andern erzaͤhlen lassen was sie unten gesehen.“ „So auch verhaͤlt sich die Sage, daß er orientali¬ sches Costuͤm angelegt, ein wenig anders. Er hat bloß ein einziges Mal im Hause diese Maskerade gespielt, und ist so unter den Seinigen erschienen, zu sehen wie es ihn kleide. Aber der Turban hat ihm nicht gestan¬ den, wie er denn allen laͤnglichen Koͤpfen nicht steht, und so hat er dieses Costuͤm nie wieder angelegt.“ „Die Pestkranken aber hat er wirklich besucht, und zwar um ein Beyspiel zu geben, daß man die Pest uͤberwinden koͤnne, wenn man die Furcht zu uͤberwinden faͤhig sey. Und er hat Recht! — Ich kann aus mei¬ nem eigenen Leben ein Factum erzaͤhlen, wo ich bey einem Faulfieber der Ansteckung unvermeidlich ausgesetzt war, und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die Krankheit von mir abwehrte. Es ist unglaublich, was in solchen Faͤllen der moralische Wille vermag! Er durchdringt gleichsam den Koͤrper und setzt ihn in einen activen Zustand, der alle schaͤdlichen Einfluͤsse zu¬ ruͤckschlaͤgt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand traͤger Schwaͤche und Empfaͤnglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Besitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, seiner Armee ein imposantes Beyspiel zu geben.“ „Aber, fuhr Goethe sehr heiter scherzend fort, habt Respect! Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was fuͤr ein Buch? — meinen Werther !“ — Daß er ihn gut studirt gehabt, sagte ich, sieht man bey seinem Lever in Erfurt. „Er hatte ihn studirt wie ein Criminalrichter seine Acten, sagte Goethe, und in diesem Sinne sprach er auch mit mir daruͤber.“ „Es findet sich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liste der Buͤcher, die Napoleon in Egypten bey sich gefuͤhrt, worunter denn auch der Werther steht. Das Merkwuͤrdige an dieser Liste aber ist, wie die Buͤcher unter verschiedenen Rubriken classificirt werden. Unter der Aufschrift Politique z. B. finden wir aufge¬ fuͤhrt: Le vieux testament, le nouveau testament, le coran, woraus man denn sieht, aus welchem Gesichtspunct Napoleon die religioͤsen Dinge angesehen.“ Goethe erzaͤhlte uns noch manches Interessante aus dem Buche, das ihn beschaͤftigte. Unter andern auch 8* kam zur Sprache, wie Napoleon mit der Armee, an der Spitze des rothen Meeres, zur Zeit der Ebbe durch einen Theil des trockenen Meerbettes gegangen, aber von der Fluth eingeholt worden sey, so daß die letzte Mannschaft bis unter die Arme im Wasser habe waten muͤssen, und es also mit diesem Wagestuͤck fast ein pha¬ raonisches Ende genommen haͤtte. Bey dieser Gelegen¬ heit sagte Goethe manches Neue uͤber das Herankommen der Fluth. Er verglich es mit den Wolken, die uns nicht aus weiter Ferne kommen, sondern die an allen Orten zugleich entstehen, und sich uͤberall gleichmaͤßig fortschieben. Mittwoch, den 8. April 1829. Goethe saß schon am gedeckten Tisch, als ich herein¬ trat; er empfing mich sehr heiter. „Ich habe einen Brief erhalten, sagte er, woher? — Von Rom ! Aber von wem? — Vom Koͤnig von Bayern .“ Ich theile Ihre Freude, sagte ich. Aber ist es nicht eigen, ich habe mich seit einer Stunde auf einem Spa¬ ziergange sehr lebhaft mit dem Koͤnige von Bayern in Gedanken beschaͤftigt, und nun erfahre ich diese ange¬ nehme Nachricht. „Es kuͤndigt sich oft etwas in un¬ serm Innern an, sagte Goethe. Dort liegt der Brief, nehmen Sie, setzen Sie sich zu mir her und lesen Sie.“ Ich nahm den Brief, Goethe nahm die Zeitung, und so las ich denn ganz ungestoͤrt die Koͤniglichen Worte. Der Brief war datirt: Rom, den 26. Maͤrz 1829, und mit einer stattlichen Hand sehr deutlich ge¬ schrieben. Der Koͤnig meldete Goethen, daß er sich in Rom ein Besitzthum gekauft, und zwar die Villa di Malta mit anliegenden Gaͤrten, in der Naͤhe der Villa Ludovisi , am nordwestlichen Ende der Stadt, auf einem Huͤgel gelegen, so daß er das ganze Rom uͤberschauen koͤnne und gegen Nordost einen freyen An¬ blick von Sanct Peter habe. „Es ist eine Aussicht, schreibt er, welche zu genießen man weit reisen wuͤrde, und die ich nun bequem zu jeder Stunde des Tages aus den Fenstern meines Eigenthums habe.“ Er faͤhrt fort sich gluͤcklich zu preisen, nun in Rom auf eine so schoͤne Weise ansaͤssig zu seyn. „Ich hatte Rom in zwoͤlf Jahren nicht gesehen, schreibt er, ich sehnte mich danach wie man sich nach einer Geliebten sehnt; von nun an aber werde ich mit der beruhigten Empfindung zuruͤckkehren, wie man zu einer geliebten Freundin geht.“ Von den erhabenen Kunstschaͤtzen und Gebaͤuden spricht er sodann mit der Begeisterung eines Kenners, dem das wahrhaft Schoͤne und dessen Foͤrderung am Herzen liegt, und der jede Abweichung vom guten Geschmack lebhaft empfindet. Überall war der Brief durchweg so schoͤn und menschlich empfunden und ausgedruͤckt, wie man es von so hohen Personen nicht erwartet. Ich aͤußerte meine Freude daruͤber gegen Goethe. „Da sehen Sie einen Monarchen, sagte er, der neben der Koͤniglichen Majestaͤt seine angeborene schoͤne Menschen¬ natur gerettet hat. Es ist eine seltene Erscheinung und deßhalb um so erfreulicher.“ Ich sah wieder in den Brief und fand noch einige treffliche Stellen. „Hier in Rom, schreibt der Koͤnig, erhole ich mich von den Sorgen des Thrones; die Kunst, die Natur, sind meine taͤglichen Genuͤsse, Kuͤnstler meine Tischgenossen.“ Er schreibt auch, wie er oft an dem Hause vorbeygehe wo Goethe gewohnt, und wie er dabey seiner gedenke. Aus den roͤmischen Elegieen sind einige Stellen angefuͤhrt, woraus man sieht, daß der Koͤnig sie gut im Gedaͤcht¬ niß hat und sie in Rom, an Ort und Stelle, von Zeit zu Zeit wieder lesen mag. „Ja, sagte Goethe, die Elegieen liebt er besonders; er hat mich hier viel damit geplagt, ich sollte ihm sagen was an dem Factum sey, weil es in den Gedichten so anmuthig erscheint, als waͤre wirklich was Rechtes daran gewesen. Man be¬ denkt aber selten, daß der Poet meistens aus geringen Anlaͤssen was Gutes zu machen weiß.“ „Ich wollte nur, fuhr Goethe fort, daß des Koͤnigs Gedichte jetzt dawaͤren, damit ich in meiner Antwort etwas daruͤber sagen koͤnnte. Nach dem Wenigen zu schließen was ich von ihm gelesen, werden die Gedichte gut seyn. In der Form und Behandlung hat er viel von Schiller, und wenn er nun, in so praͤchtigem Ge¬ faͤß, uns den Gehalt eines hohen Gemuͤthes zu geben hat, so laͤßt sich mit Recht viel Treffliches erwarten.“ „Indessen freue ich mich, daß der Koͤnig sich in Rom so huͤbsch angekauft hat. Ich kenne die Villa, die Lage ist sehr schoͤn, und die deutschen Kuͤnstler woh¬ nen alle in der Naͤhe.“ Der Bediente wechselte die Teller, und Goethe sagte ihm, daß er den großen Kupferstich von Rom im Decken-Zimmer am Boden ausbreiten moͤge. „Ich will Ihnen doch zeigen, an welch einem schoͤnen Platz der Koͤnig sich angekauft hat, damit Sie sich die Loca¬ litaͤt gehoͤrig denken moͤgen.“ Ich fuͤhlte mich Goethen sehr verbunden. Gestern Abend, versetzte ich, habe ich die Clau¬ dine von Villa Bella gelesen und mich sehr daran erbauet. Es ist so gruͤndlich in der Anlage, und so verwegen, locker, frech und froh in der Erscheinung, daß ich den lebhaften Wunsch fuͤhle, es auf dem Theater zu sehen. „Wenn es gut gespielt wird, sagte Goethe, macht es sich gar nicht schlecht.“ Ich habe schon in Gedanken das Stuͤck besetzt, sagte ich, und die Rollen vertheilt. Herr Genast muͤßte den Rugantino machen, er ist fuͤr die Rolle wie geschaffen. Herr Franke den Don Pedro, denn er ist von einem aͤhnlichen Wuchs, und es ist gut, wenn zwey Bruͤder sich ein wenig gleich sind. Herr La Roche den Basko, der dieser Rolle, durch treffliche Maske und Kunst, den wilden Anstrich geben wuͤrde, dessen sie bedarf. „Madam Eberwein , fuhr Goethe fort, daͤchte ich, waͤre eine sehr gute Lu¬ cinde, und Demoiselle Schmidt machte die Claudine.“ Zum Alonzo, sagte ich, muͤßten wir eine stattliche Figur haben, mehr einen guten Schauspieler als Saͤnger, und ich daͤchte, Herr Oels oder Herr Graff wuͤrden da am Platze seyn. Von wem ist denn die Oper compo¬ nirt, und wie ist die Musik? „Von Reichardt , ant¬ wortete Goethe, und zwar ist die Musik vortrefflich. Nur ist die Instrumentirung, dem Geschmack der fruͤhe¬ ren Zeit gemaͤß, ein wenig schwach. Man muͤßte jetzt in dieser Hinsicht etwas nachhelfen, und die Instrumen¬ tirung ein wenig staͤrker und voller machen. Unser Lied: Cupido , loser , eigensinniger Knabe ꝛc. ist dem Componisten ganz besonders gelungen.“ Es ist eigen an diesem Liede, sagte ich, daß es in eine Art behag¬ lich traͤumerische Stimmung versetzt, wenn man es sich recitirt. „Es ist aus einer solchen Stimmung hervor¬ gegangen, sagte Goethe, und da ist denn auch mit Recht die Wirkung eine solche.“ Wir hatten abgespeist. Friedrich kam und meldete, daß er den Kupferstich von Rom im Deckenzimmer aus¬ gebreitet habe. Wir gingen ihn zu betrachten. Das Bild der großen Weltstadt lag vor uns; Goethe fand sehr bald die Villa Ludovisi und in der Naͤhe den neuen Besitz des Koͤnigs, die Villa di Malta. „Sehen Sie, sagte Goethe, was das fuͤr eine Lage ist! — Das ganze Rom streckt sich ausgebreitet vor Ihnen hin, der Huͤgel ist so hoch, daß Sie gegen Mittag und Morgen uͤber die Stadt hinaussehen. Ich bin in dieser Villa gewesen und habe oft den Anblick aus diesen Fenstern genossen. Hier, wo die Stadt jenseit der Tiber gegen Nordost spitz auslaͤuft, liegt Sanct Peter, und hier der Vatikan in der Naͤhe. Sie sehen, der Koͤnig hat aus den Fenstern seiner Villa den Fluß heruͤber eine freye Ansicht dieser Gebaͤude. Der lange Weg hier, von Nor¬ den herein zur Stadt, kommt aus Deutschland; das ist die Porta del Populo; in einer dieser ersten Straßen zum Thor herein wohnte ich, in einem Eckhause. Man zeigt jetzt ein anderes Gebaͤude in Rom, wo ich gewohnt haben soll, es ist aber nicht das rechte. Aber es thut nichts; solche Dinge sind im Grunde gleichguͤltig, und man muß der Tradition ihren Lauf lassen.“ Wir gingen wieder in unser Zimmer zuruͤck. — Der Canzler, sagte ich, wird sich uͤber den Brief des Koͤnigs freuen. „Er soll ihn sehen,“ sagte Goethe. „Wenn ich in den Nachrichten von Paris die Reden und Debatten in den Kammern lese, fuhr Goethe fort, muß ich immer an den Canzler denken, und zwar daß er dort recht in seinem Element und an seinem Platz seyn wuͤrde. Denn es gehoͤrt zu einer solchen Stelle nicht allein, daß man gescheidt sey, sondern daß man auch den Trieb und die Lust zu reden habe, welches sich doch Beydes in unserm Canzler vereinigt. Napoleon hatte auch diesen Trieb zu reden, und wenn er nicht reden konnte, mußte er schreiben oder dictiren. Auch bey Bluͤcher finden wir, daß er gerne redete, und zwar gut und mit Nachdruck, welches Talent er in der Loge ausgebildet hatte. Auch unser Großherzog redete gerne, obgleich er lakonischer Natur war, und wenn er nicht reden konnte, so schrieb er. Er hat manche Ab¬ handlung, manches Gesetz abgefaßt, und zwar meisten¬ theils gut. Nur hat ein Fuͤrst nicht die Zeit und die Ruhe, sich in allen Dingen die noͤthige Kenntniß des Details zu verschaffen. So hatte er in seiner letzten Zeit noch eine Ordnung gemacht, wie man restaurirte Gemaͤlde bezahlen solle. Der Fall war sehr artig. Denn wie die Fuͤrsten sind, so hatte er die Beurtheilung der Restaurationskosten mathematisch auf Maß und Zah¬ len festgesetzt. Die Restauration, hatte er verordnet, soll fußweise bezahlt werden. Haͤlt ein restaurirtes Ge¬ maͤlde zwoͤlf Quadratfuß, so sind zwoͤlf Thaler zu zahlen; haͤlt es vier , so zahlet vier . Dieß war fuͤrst¬ lich verordnet, aber nicht kuͤnstlerisch. Denn ein Gemaͤlde von zwoͤlf Quadratfuß kann in einem Zustande seyn, daß es mit geringer Muͤhe an einem Tage zu restauri¬ ren waͤre; ein anderes aber von vier, kann sich der Art befinden, daß zu dessen Restauration kaum der Fleiß und die Muͤhe einer ganzen Woche hinreichen. Aber die Fuͤrsten lieben als gute Militairs mathematische Be¬ stimmungen, und gehen gerne nach Maß und Zahl gro߬ artig zu Werke.“ Ich freute mich dieser Anecdote. Sodann sprachen wir noch Manches uͤber Kunst und derartige Gegen¬ staͤnde. „Ich besitze Handzeichnungen, sagte Goethe, nach Gemaͤlden von Raphael und Dominichin , woruͤber Meyer eine merkwuͤrdige Äußerung gemacht hat, die ich Ihnen doch mittheilen will.“ „Die Zeichnungen, sagte Meyer, haben etwas Un¬ geuͤbtes, aber man sieht, daß derjenige, der sie machte, ein zartes richtiges Gefuͤhl von den Bildern hatte, die vor ihm waren, welches denn in die Zeichnungen uͤber¬ gegangen ist, so daß sie uns das Original sehr treu vor die Seele rufen. Wuͤrde ein jetziger Kuͤnstler jene Bil¬ der copiren, so wuͤrde er alles weit besser und vielleicht auch richtiger zeichnen; aber es ist vorauszusagen, daß ihm jene treue Empfindung des Originals fehlen, und daß also seine bessere Zeichnung weit entfernt seyn wuͤrde uns von Raphael und Dominichin einen so reinen voll¬ kommenen Begriff zu geben.“ „Ist das nicht ein sehr artiger Fall? sagte Goethe. Es koͤnnte ein Ähnliches bey Übersetzungen Statt finden. Voß hat z. B. sicher eine treffliche Übersetzung vom Homer gemacht; aber es waͤre zu denken, daß jemand eine naivere, wahrere Empfindung des Originals haͤtte besitzen und auch wiedergeben koͤnnen, ohne im Ganzen ein so meisterhafter Übersetzer wie Voß zu seyn.“ Ich fand dieses alles sehr gut und wahr und stimmte vollkommen bey. Da das Wetter schoͤn und die Sonne noch hoch am Himmel war, so gingen wir ein wenig in den Garten hinab, wo Goethe zunaͤchst einige Baum¬ zweige in die Hoͤhe binden ließ, die zu tief in die Wege herabhingen. Die gelben Crokus bluͤhten sehr kraͤftig. Wir blick¬ ten auf die Blumen und dann auf den Weg, wo wir denn vollkommen violette Bilder hatten. „Sie meinten neulich, sagte Goethe, daß das Gruͤne und Rothe sich gegenseitig besser hervorrufe als das Gelbe und Blaue, indem jene Farben auf einer hoͤherer Stufe standen und deßhalb vollkommener, gesaͤttigter und wirksamer waͤren als diese. — Ich kann das nicht zugeben. Jede Farbe, sobald sie sich dem Auge entschieden darstellt, wirkt zur Hervorrufung der geforderten gleich kraͤftig; es kommt bloß darauf an, daß unser Auge in der rechten Stim¬ mung, daß ein zu helles Sonnenlicht nicht hindere, und daß der Boden zur Aufnahme des geforderten Bildes nicht unguͤnstig sey. Überall muß man sich huͤten, bey den Farben zu zarte Unterscheidungen und Bestimmun¬ gen zu machen, indem man gar zu leicht der Gefahr ausgesetzt wird, vom Wesentlichen ins Unwesentliche, vom Wahren in die Irre, und vom Einfachen in die Verwickelung gefuͤhrt zu werden.“ Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre in meinen Studien. Indessen war die Zeit des Theaters heran¬ geruͤckt und ich schickte mich an zu gehen. „Sehen Sie zu, sagte Goethe lachend, indem er mich entließ, daß Sie die Schrecknisse der dreyßig Jahre aus dem Leben eines Spielers heute gut uͤberstehen.“ Freytag, den 10. April 1829. „In Erwartung der Suppe will ich Ihnen indeß eine Erquickung der Augen geben.“ Mit diesen freund¬ lichen Worten legte Goethe mir einen Band vor, mit Landschaften von Claude Lorrain . Es waren die ersten, die ich von diesem großen Meister gesehen. Der Eindruck war außerordentlich, und mein Erstaunen und Entzuͤcken stieg, so wie ich ein folgendes und abermals ein folgendes Blatt um¬ wendete. Die Gewalt der schattigen Massen huͤben und druͤben, nicht weniger das maͤchtige Sonnenlicht aus dem Hintergrunde hervor in der Luft und dessen Wie¬ derglanz im Wasser, woraus denn immer die große Klarheit und Entschiedenheit des Eindrucks hervorging, empfand ich als stets wiederkehrende Kunstmaxime des großen Meisters. So auch hatte ich mit Freude zu be¬ wundern, wie jedes Bild durch und durch eine kleine Welt fuͤr sich ausmachte, in der nichts existirte was nicht der herrschenden Stimmung gemaͤß war und sie befoͤr¬ derte. War es ein Seehafen mit ruhenden Schiffen, thaͤtigen Fischern und dem Wasser angrenzenden Pracht¬ gebaͤuden; war es eine einsame duͤrftige Huͤgelgegend mit naschenden Ziegen, kleinem Bach und Bruͤcke, etwas Buschwerk und schattigem Baum, worunter ein ruhen¬ der Hirte die Schalmei blaͤst; oder war es eine tiefer¬ liegende Bruchgegend mit stagnirendem Wasser, das bey maͤchtiger Sommerwaͤrme die Empfindung behaglicher Kuͤhle giebt, immer war das Bild durch und durch nur Eins, nirgends die Spur von etwas Fremdem, das nicht zu diesem Element gehoͤrte. „Da sehen Sie einmal einen vollkommenen Men¬ schen, sagte Goethe, der schoͤn gedacht und empfunden hat, und in dessen Gemuͤth eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. — Die Bil¬ der haben die hoͤchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schoͤnen Seele auszudruͤcken. Und das ist eben die wahre Idealitaͤt, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Taͤuschung hervorbringt als sey es wirklich .“ Ich daͤchte, sagte ich, das waͤre ein gutes Wort, und zwar eben so guͤltig in der Poesie wie in den bil¬ denden Kuͤnsten. „Ich sollte meinen,“ sagte Goethe. „Indessen, fuhr er fort, waͤre es wohl besser, Sie sparten sich den ferneren Genuß des trefflichen Claude zum Nachtisch, denn die Bilder sind wirklich zu gut um viele davon hinter einander zu sehen.“ Ich fuͤhle so, sagte ich, denn mich wandelt jedesmal eine gewisse Furcht an, wenn ich das folgende Blatt umwenden will. Es ist eine Furcht eigener Art, die ich vor diesem Schoͤ¬ nen empfinde, so wie es uns wohl mit einem trefflichen Buche geht, wo gehaͤufte kostbare Stellen uns noͤthigen inne zu halten, und wir nur mit einem gewissen Zau¬ dern weiter gehen. „Ich habe dem Koͤnig von Bayern geantwortet, versetzte Goethe nach einer Pause, und Sie sollen den Brief lesen.“ Das wird sehr lehrreich fuͤr mich seyn, sagte ich, und ich freue mich dazu. „Indeß, sagte Goethe, steht hier in der allgemeinen Zeitung ein Ge¬ dicht an den Koͤnig, das der Canzler mir gestern vor¬ las und das Sie doch auch sehen muͤssen.“ Goethe gab mir das Blatt und ich las das Gedicht im Stillen. „Nun, was sagen Sie dazu?“ sagte Goethe. Es sind die Empfindungen eines Dilettanten, sagte ich, der mehr guten Willen als Talent hat und dem die Hoͤhe der Literatur eine gemachte Sprache uͤberliefert, die fuͤr ihn toͤnet und reimet, waͤhrend er selber zu reden glaubt. „Sie haben vollkommen recht, sagte Goethe, ich halte das Gedicht auch fuͤr ein sehr schwaches Product; es giebt nicht die Spur von aͤußerer Anschauung, es ist bloß mental, und das nicht im rechten Sinne.“ Um ein Gedicht gut zu machen, sagte ich, dazu ge¬ hoͤren bekanntlich große Kenntnisse der Dinge, von de¬ nen man redet, und wem nicht, wie Claude Lorrain, eine ganze Welt zu Gebote steht, der wird, bey den besten ideellen Richtungen, selten etwas Gutes zu Tage bringen. „Und das Eigene ist, sagte Goethe, daß nur das geborene Talent eigentlich weiß, worauf es ankommt, und daß alle Übrigen mehr oder weniger in der Irre gehen.“ Das beweisen die Ästhetiker, sagte ich, von denen fast keiner weiß was eigentlich gelehrt werden sollte, und welche die Verwirrung der jungen Poeten vollkommen machen. Statt vom Realen zu handeln, handeln sie vom Idealen, und statt den jungen Dichter darauf hin¬ zuweisen, was er nicht hat, verwirren sie ihm das was er besitzt. Wem z. B. von Haus aus einiger Witz und Humor angeboren waͤre, wird sicher mit diesen Kraͤften am besten wirken, wenn er kaum weiß, daß er damit begabt ist; wer aber die gepriesenen Abhandlun¬ gen uͤber so hohe Eigenschaften sich zu Gemuͤthe fuͤhrte, wuͤrde sogleich in dem unschuldigen Gebrauch dieser Kraͤfte gestoͤrt und gehindert werden, das Bewußtseyn wuͤrde diese Kraͤfte paralysiren und er wuͤrde, statt einer gehofften Foͤrderung, sich unsaͤglich gehindert sehen. „Sie haben vollkommen Recht, und es waͤre uͤber dieses Ca¬ pitel Vieles zu sagen.“ „Ich habe indeß, fuhr er fort, das neue Epos von Egon Ebert gelesen und Sie sollen es auch thun, damit wir ihm vielleicht von hier aus ein wenig nach¬ helfen. — Das ist nun wirklich ein recht erfreuliches Talent, aber diesem neuen Gedicht mangelt die eigent¬ liche poetische Grundlage, die Grundlage des Realen. Landschaften, Sonnen-Auf- und Untergaͤnge, Stellen, wo die aͤußere Welt die seinige war, sind vollkommen gut und nicht besser zu machen. Das Übrige aber, was in vergangenen Jahrhunderten hinauslag, was der Sage angehoͤrte, ist nicht in der gehoͤrigen Wahrheit erschie¬ nen und es mangelt diesem der eigentliche Kern. Die Amazonen und ihr Leben und Handeln sind ins Allge¬ meine gezogen, in das was junge Leute fuͤr poetisch und romantisch halten und was dafuͤr in der aͤsthetischen Welt gewoͤhnlich passirt.“ Es ist dieß ein Fehler, sagte ich, der durch die ganze jetzige Literatur geht. Man vermeidet das specielle Wahre, aus Furcht, es sey nicht poetisch, und verfaͤllt dadurch in Gemeinplaͤtze. „Egon Ebert, sagte Goethe, haͤtte sich sollen an die Überlieferung der Chronik halten, da haͤtte aus sei¬ nem Gedicht etwas werden koͤnnen. Wenn ich bedenke, wie Schiller die Überlieferung studirte, was er sich fuͤr Muͤhe mit der Schweiz gab als er seinen Tell II . 9 schrieb, und wie Shakspeare die Chroniken benutzte und ganze Stellen daraus woͤrtlich in seine Stuͤcke auf¬ genommen hat, so koͤnnte man einem jetzigen jungen Dichter auch wohl dergleichen zumuthen. In meinem Clavigo habe ich aus den Memoiren des Beau¬ marchais ganze Stellen.“ Es ist aber so verarbeitet, sagte ich, daß man es nicht merkt, es ist nicht stoff¬ artig geblieben. „So ist es recht, sagte Goethe, wenn es so ist.“ Goethe erzaͤhlte mir sodann einige Zuͤge von Beau¬ marchais . „Er war ein toller Christ, sagte er, und Sie muͤssen seine Memoiren lesen. — Processe waren sein Element, worin es ihm erst eigentlich wohl wurde. Es existiren noch Reden von Advocaten aus einem sei¬ ner Processe, die zu dem Merkwuͤrdigsten, Talentreich¬ sten und Verwegensten gehoͤren was je in dieser Art ver¬ handelt worden. Eben diesen beruͤhmten Proceß verlor Beaumarchais. Als er die Treppe des Gerichtshofes hinabging, begegnete ihm der Canzler, der hinauf wollte. Beaumarchais sollte ihm ausweichen, allein dieser wei¬ gerte sich, und bestand darauf, daß jeder zur Haͤlfte Platz machen muͤsse. Der Canzler, in seiner Wuͤrde beleidigt, befahl den Leuten seines Gefolges, Beaumar¬ chais auf die Seite zu schieben, welches geschah; worauf denn Beaumarchais auf der Stelle wieder in den Ge¬ richtssaal zuruͤckging, und einen Proceß gegen den Canz¬ ler anhaͤngig machte, den er gewann.“ Ich freute mich uͤber diese Anecdote und wir unter¬ hielten uns bey Tische heiter fort uͤber verschiedene Dinge. „Ich habe meinen zweyten Aufenthalt in Rom wieder vorgenommen, sagte Goethe, damit ich ihn endlich loswerde und an etwas Anderes gehen kann. Meine gedruckte Italienische Reise habe ich, wie Sie wissen, ganz aus Briefen redigirt. Die Briefe aber, die ich waͤhrend meines zweyten Aufenthaltes in Rom geschrieben, sind nicht der Art, um davon vorzuͤg¬ lichen Gebrauch machen zu koͤnnen; sie enthalten zu viele Bezuͤge nach Haus, auf meine Weimarischen Verhaͤlt¬ nisse, und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen inneren Zustand ausdruͤcken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln uͤber einander zu setzen, und sie so meiner Er¬ zaͤhlung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung uͤbergehen wird.“ Ich fand dieses vollkommen gut und bestaͤtigte Goethe in dem Vorsatz. „Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt, fuhr Goethe fort, man solle trachten sich selber zu kennen. Dieß ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genuͤget hat und der eigentlich auch niemand genuͤgen soll. Der Mensch ist mit allen seinen Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er 9* hat zu thun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er bloß wenn er genießt oder lei¬ det, und so wird er auch bloß durch Leiden und Freu¬ den uͤber sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat. Übrigens aber ist der Mensch ein dunkeles Wesen, er weiß nicht woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht und Gott soll mich auch davor behuͤten. Was ich aber sagen wollte ist dieses, daß ich in Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war, um mich selber insoweit zu kennen, daß ich kein Talent zur bildenden Kunst habe, und daß diese meine Tendenz eine falsche sey. Wenn ich etwas zeichnete, so fehlte es mir an genugsamem Trieb fuͤr das Koͤrperliche; ich hatte eine gewisse Furcht die Ge¬ genstaͤnde auf mich eindringend zu machen, vielmehr war das Schwaͤchere, das Maͤßige nach meinem Sinn. Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwa¬ chen Fernen durch die Mittelgruͤnde heran, so fuͤrchtete ich immer dem Vordergrund die gehoͤrige Kraft zu geben, und so that denn mein Bild nie die rechte Wirkung. Auch machte ich keine Fortschritte, ohne mich zu uͤben, und ich mußte immer wieder von vorne anfangen wenn ich eine Zeitlang ausgesetzt hatte. Ganz ohne Talent war ich jedoch nicht, besonders zu Landschaften, und Hackert sagte sehr oft: wenn Sie achtzehn Monate bey mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und Andere Freude haben.“ Ich hoͤrte dieses mit großem Interesse. Wie aber, sagte ich, soll man erkennen, daß einer zur bildenden Kunst ein wahrhaftes Talent habe? „Das wirkliche Talent, sagte Goethe, besitzt einen angeborenen Sinn fuͤr die Gestalt, die Verhaͤltnisse und die Farbe, so daß es alles dieses unter weniger Anlei¬ tung sehr bald und richtig macht. Besonders hat es den Sinn fuͤr das Koͤrperliche, und den Trieb, es durch die Beleuchtung handgreiflich zu machen. Auch in den Zwischenpausen der Übung schreitet es fort und waͤchst im Innern. Ein solches Talent ist nicht schwer zu er¬ kennen, am besten aber erkennt es der Meister.“ „Ich habe diesen Morgen das Fuͤrstenhaus besucht, fuhr Goethe sehr heiter fort; die Zimmer der Großher¬ zogin sind hoͤchst geschmackvoll gerathen und Coudray hat mit seinen Italienern neue Proben großer Geschick¬ lichkeit abgelegt. Die Maler waren an den Waͤnden noch beschaͤftigt; es sind ein paar Maylaͤnder; ich redete sie gleich italienisch an und merkte, daß ich die Sprache nicht vergessen hatte. Sie erzaͤhlten mir, daß sie zuletzt das Schloß des Koͤnigs von Wuͤrtemberg gemalt, daß sie sodann nach Gotha verschrieben worden, wo sie indeß nicht haͤtten einig werden koͤnnen; man habe zur selben Zeit in Weimar von ihnen erfahren, und sie hieher be¬ rufen, um die Zimmer der Großherzogin zu decoriren. Ich hoͤrte und sprach das Italienische einmal wieder gern, denn die Sprache bringt doch eine Art von Atmo¬ sphaͤre des Landes mit. Die guten Menschen sind seit drey Jahren aus Italien heraus; sie wollen aber, wie sie sagten, von hier directe nach Haus eilen, nachdem sie zuvor in Auftrag des Herrn von Spiegel noch ein Decoration fuͤr unser Theater gemalt haben, woruͤber Ihr wahrscheinlich nicht boͤse seyn werdet. Es sind sehr geschickte Leute; der Eine ist ein Schuͤler des ersten De¬ corations-Malers in Mayland, und Ihr koͤnnt also eine gute Decoration hoffen.“ Nachdem Friedrich den Tisch abgeraͤumt hatte, ließ Goethe sich einen kleinen Plan von Rom vorlegen. „Fuͤr uns Andere, sagte er, waͤre Rom auf die Laͤnge kein Aufenthalt; wer dort bleiben und sich ansiedeln will, muß heirathen und catholisch werden, sonst haͤlt er es nicht aus und hat eine schlechte Existenz. Hackert that sich nicht wenig darauf zu gute, daß er sich als Protestant so lange dort erhalten.“ Goethe zeigte mir sodann auch auf diesem Grundriß die merkwuͤrdigsten Gebaͤude und Plaͤtze. „Dieß, sagte er, ist der Farnesische Garten.“ War es nicht hier, sagte ich, wo Sie die Hexenscene des Faust geschrieben? „Nein, sagte er, das war im Garten Borghese.“ Ich erquickte mich darauf ferner an den Landschaften von Claude Lorrain , und wir sprachen noch Man¬ ches uͤber diesen großen Meister. Sollte ein jetziger junger Kuͤnstler, sagte ich, sich nicht nach ihm bilden koͤnnen? „Wer ein aͤhnliches Gemuͤth haͤtte, antwortete Goethe, wuͤrde ohne Frage sich an Claude Lorrain auf das treff¬ lichste entwickeln. Allein wen die Natur mit aͤhnlichen Gaben der Seele im Stiche gelassen, wuͤrde diesem Meister hoͤchstens nur Einzelnheiten absehen und sich deren nur als Phrase bedienen.“ Sonnabend, den 11. April 1829. Ich fand heute den Tisch im langen Saale gedeckt und zwar fuͤr mehrere Personen. Goethe und Frau v. Goethe empfingen mich sehr freundlich. Es traten nach und nach herein: Madame Schopenhauer , der junge Graf Reinhard von der franzoͤsischen Gesandt¬ schaft, dessen Schwager Herr v. D., aus einer Durch¬ reise begriffen, um gegen die Tuͤrken in russische Dienste zu gehen; Fraͤulein Ulrike , und zuletzt Hofrath Vogel . Goethe war in besonders heiterer Stimmung; er unterhielt die Anwesenden, ehe man sich zu Tisch setzte, mit einigen guten Frankfurter Spaͤßen, besonders zwi¬ schen Rothschild und Bethmann , wie der Eine dem Andern die Speculationen verdorben. Graf Reinhard ging an Hof, wir Andern setzten uns zu Tisch. Die Unterhaltung war anmuthig belebt, man sprach von Reisen, von Baͤdern, und Madame Schopenhauer interessirte besonders fuͤr die Einrichtung ihres neuen Besitzes am Rhein, in der Naͤhe der Insel Nonnenwerth. Zum Nachtisch erschien Graf Reinhard wieder, der wegen seiner Schnelle gelobt wurde, womit er waͤhrend der kurzen Zeit nicht allein bey Hofe gespeist, sondern sich auch zweymal umgekleidet hatte. Er brachte uns die Nachricht, daß der neue Papst gewaͤhlet sey, und zwar ein Castiglione, und Goethe erzaͤhlte der Gesellschaft die Foͤrmlichkeiten, die man bey der Wahl herkoͤmmlich beobachtet. Graf Reinhard, der den Winter in Paris gelebt, konnte manche erwuͤnschte Auskunft uͤber bekannte Staats¬ maͤnner, Literatoren und Poeten geben. Man sprach uͤber Chateaubriand , Guizot , Salvandy , B é ¬ ranger , Merim é e und Andere. Nach Tisch und als jedermann gegangen war, nahm Goethe mich in seine Arbeitsstube und zeigte mir zwey hoͤchst merkwuͤrdige Scripta, woruͤber ich große Freude hatte. Es waren zwey Briefe aus Goethe's Jugendzeit, im Jahre 1770 aus Straßburg an seinen Freund Dr . Horn in Frankfurt geschrieben, der eine im July, der andere im December. In beyden sprach sich ein junger Mensch aus, der von großen Dingen eine Ahndung hat die ihm bevorstehen. In dem letzteren zeigten sich schon Spuren vom Werther; das Verhaͤltniß in Sesenheim ist angeknuͤpft, und der gluͤckliche Juͤngling scheint sich in dem Taumel der suͤßesten Empfindungen zu wiegen und seine Tage halb traͤumerisch hinzuschlendern. Die Hand¬ schrift der Briefe war ruhig, rein und zierlich, und schon zu dem Character entschieden, den Goethe's Hand spaͤter immer behalten hat. Ich konnte nicht aufhoͤren, die liebenswuͤrdigen Briefe wiederholt zu lesen, und ver¬ ließ Goethe in der gluͤcklichsten, dankbarsten Empfindung. Sonntag, den 12. April 1829. Goethe las mir seine Antwort an den Koͤnig von Bayern . Er hatte sich dargestellt wie einen der per¬ soͤnlich die Stufen der Villa hinaufgeht und sich in des Koͤnigs unmittelbarer Naͤhe muͤndlich aͤußert. Es mag schwer seyn, sagte ich, das richtige Verhaͤltniß zu treffen wie man sich in solchen Faͤllen zu halten habe. „Wer wie ich, antwortete Goethe, sein ganzes Leben hindurch mit hohen Personen zu verkehren gehabt, fuͤr den ist es nicht schwer. Das Einzige dabey ist, daß man sich nicht durchaus menschlich gehen lasse, vielmehr sich stets innerhalb einer gewissen Convenienz halte.“ Goethe sprach darauf von der Redaction seines zweyten Aufenthaltes in Rom , die ihn jetzt be¬ schaͤftiget. „Bey den Briefen, sagte er, die ich in jener Pe¬ riode geschrieben, sehe ich recht deutlich, wie man in jedem Lebensalter gewisse Avantagen und Desavantagen, in Vergleich zu fruͤheren oder spaͤteren Jahren hat. So war ich in meinem vierzigsten Jahre uͤber einige Dinge vollkommen so klar und gescheidt als jetzt und in man¬ chen Hinsichten sogar besser; aber doch besitze ich jetzt in meinem achtzigsten Vortheile, die ich mit jenen nicht vertauschen moͤchte.“ Waͤhrend Sie dieses reden, sagte ich, steht mir die Metamorphose der Pflanze vor Augen, und ich begreife sehr wohl, daß man aus der Periode der Bluͤthe, nicht in die der gruͤnen Blaͤtter, und aus der des Samens und der Fruͤchte nicht in die des Bluͤthen¬ standes zuruͤcktreten moͤchte. „Ihr Gleichniß, sagte Goethe, druͤckt meine Mei¬ nung vollkommen aus. Denken Sie sich ein recht aus¬ gezacktes Blatt, fuhr er lachend fort, ob es aus dem Zustande der freyesten Entwickelung in die dumpfe Be¬ schraͤnktheit der Cotyledone zuruͤckmoͤchte? — Und nun ist es sehr artig, daß wir sogar eine Pflanze haben, die als Symbol des hoͤchsten Alters gelten kann, indem sie, uͤber die Periode der Bluͤthe und der Frucht hinaus, ohne weitere Production noch munter fortwaͤchst.“ „Das Schlimme ist, fuhr Goethe fort, daß man im Leben so viel durch falsche Tendenzen ist gehindert worden und daß man nie eine solche Tendenz erkannt, als bis man sich bereits davon frey gemacht.“ Woran aber, sagte ich, soll man sehen und wissen daß eine Tendenz eine falsche sey? „Die falsche Tendenz, antwortete Goethe, ist nicht productiv, und wenn sie es ist, so ist das Hervorge¬ brachte von keinem Werth. Dieses an Andern gewahr zu werden ist nicht so gar schwer, aber an sich selber, ist ein eigenes Ding und will eine große Freyheit des Geistes. Und selbst das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschlie¬ ßen, so wie es schwer haͤlt, sich von einem geliebten Maͤdchen los zu machen, von deren Untreue man laͤngst wiederholte Beweise hat. Ich sage dieses, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einsah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunst eine falsche sey, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich da¬ von loszumachen.“ Aber doch, sagte ich, hat Ihnen diese Tendenz so vielen Vortheil gebracht, daß man sie kaum eine falsche nennen moͤchte. „Ich habe an Einsicht gewonnen, sagte Goethe, weßhalb ich mich auch daruͤber beruhigen kann. Und das ist der Vortheil, den wir aus jeder falschen Ten¬ denz ziehen. Wer mit unzulaͤnglichem Talent sich in der Musik bemuͤhet, wird freylich nie ein Meister wer¬ den, aber er wird dabey lernen, dasjenige zu erkennen und zu schaͤtzen, was der Meister gemacht hat. Trotz aller meiner Bestrebungen bin ich freylich kein Kuͤnstler geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der Kunst versuchte, habe ich gelernt von jedem Strich Rechenschaft zu geben, und das Verdienstliche vom Mangelhaften zu unterscheiden. Dieses ist kein kleiner Gewinn, so wie denn selten eine falsche Tendenz ohne Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzuͤge zur Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine falsche Tendenz; aber sie hat das Gute gehabt, daß dadurch die Tuͤrken immerfort geschwaͤcht und gehindert worden sind sich zu Herren von Europa zu machen.“ Wir sprachen noch uͤber verschiedene Dinge, und Goethe erzaͤhlte sodann von einem Werk uͤber Peter den Großen von Seguͤr , das ihm interessant sey und ihm manchen Aufschluß gegeben. „Die Lage von Petersburg, sagte er, ist ganz unverzeihlich, um so mehr wenn man bedenkt, daß gleich in der Naͤhe der Boden sich hebt, und daß der Kaiser die eigentlich Stadt ganz von aller Wassersnoth haͤtte frey halten koͤnnen, wenn er mit ihr ein wenig hoͤher hinaufgegangen waͤre, und bloß den Hafen in der Niederung gelassen haͤtte. Ein alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorstellungen, und sagte ihm voraus, daß die Population alle siebenzig Jahre ersaufen wuͤrde. Es stand auch ein alter Baum da, mit verschiedenen Spuren eines hohen Wasserstan¬ des. Aber es war alles umsonst, der Kaiser blieb bey seiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit er nicht gegen ihn zeugen moͤchte.“ „Sie werden gestehen, daß in diesem Verfahren eines so großen Characters durchaus etwas Problemati¬ sches liege. Aber wissen Sie wie ich es mir erklaͤre? Der Mensch kann seine Jugendeindruͤcke nicht los wer¬ den, und dieses geht so weit, daß selbst mangelhafte Dinge, woran er sich in solchen Jahren gewoͤhnt, und in deren Umgebung er jene gluͤckliche Zeit gelebt hat, ihm auch spaͤter in dem Grade lieb und werth bleiben, daß er daruͤber wie verblendet ist, und er das Fehlerhafte daran nicht einsieht. So wollte denn Peter der Große das liebe Amsterdam seiner Jugend in einer Hauptstadt am Ausflusse der Newa wiederholen; so wie die Hollaͤn¬ der immer versucht worden sind, in ihren entfernten Besitzungen ein neues Amsterdam wiederholt zu gruͤnden.“ Montag, den 13. April 1829. Heute, nachdem Goethe uͤber Tisch mir manches gute Wort gesagt, erquickte ich mich zum Nachtisch noch an einigen Landschaften von Claude Lorrain . „Die Sammlung, sagte Goethe, fuͤhrt den Titel: Liber veri¬ tatis , sie koͤnnte eben so gut liber naturae et artis hei¬ ßen, denn es findet sich hier die Natur und Kunst auf der hoͤchsten Stufe und im schoͤnsten Bunde.“ Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude Lorrain und in welcher Schule er sich gebildet. „Sein naͤchster Meister, sagte Goethe, war Antonio Tasso ; dieser aber war ein Schuͤler von Paul Brill , so daß also dessen Schule und Maximen sein eigentliches Fun¬ dament ausmachten und in ihm gewissermaßen zur Bluͤthe kamen; denn dasjenige was bey diesen Meistern noch ernst und strenge erscheint, hat sich bey Claude Lorrain zur heitersten Anmuth und lieblichsten Freyheit entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht hinaus.“ „Übrigens ist von einem so großen Talent, das in einer so bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum zu sagen von wem es gelernt. Es sieht sich um, und eignet sich an, wo es fuͤr seine Intentionen Nahrung findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule der Carracci's eben so viel wie seinen naͤchsten namhaf¬ ten Meistern.“ „So sagt man gewoͤhnlich: Julius Roman war ein Schuͤler von Raphael; aber man koͤnnte eben so gut sagen: er war ein Schuͤler des Jahrhunderts. Nur Guido Reni hatte einen Schuͤler, der Geist, Gemuͤth und Kunst seines Meisters so in sich aufgenommen hatte, daß er fast dasselbige wurde und dasselbige machte, wel¬ ches indeß ein eigener Fall war, der sich kaum wieder¬ holt hat. Die Schule der Carracci dagegen war be¬ freyender Art, so daß durch sie jedes Talent in seiner angeborenen Richtung entwickelt wurde, und Meister hervorgingen, von denen keiner dem andern gleich sah. Die Carracci waren zu Lehrern der Kunst wie geboren; sie fielen in eine Zeit wo nach allen Seiten hin bereits das Beste gethan war, und sie daher ihren Schuͤlern das Musterhafteste aus allen Faͤchern uͤberliefern konn¬ ten. Sie waren große Kuͤnstler, große Lehrer, aber ich koͤnnte nicht sagen daß sie eigentlich gewesen was man geistreich nennt. Es ist ein wenig kuͤhn, daß ich so sage, allein es will mir so vorkommen.“ Nachdem ich noch einige Landschaften von Claude Lorrain betrachtet, schlug ich ein Kuͤnstler-Lexicon auf, um zu sehen, was uͤber diesen großen Meister ausge¬ sprochen. Wir fanden gedruckt: „Sein Hauptverdienst bestand in der Palette.“ Wir sahen uns an und lach¬ ten. „Da sehen Sie, sagte Goethe, wie viel man ler¬ nen kann, wenn man sich an Buͤcher haͤlt und sich dasjenige aneignet was geschrieben steht.“ Dienstag, den 14. April 1829. Als ich diesen Mittag hereintrat, saß Goethe mit Hofrath Meyer schon bey Tisch, in Gespraͤchen uͤber Italien und Gegenstaͤnde der Kunst. Goethe ließ einen Band Claude Lorrain vorlegen, worin Meyer uns diejenige Landschaft aussuchte und zeigte, von der die Zeitungen gemeldet, daß Peel sich das Original fuͤr viertausend Pfund angeeignet. Man mußte gestehen, daß es ein schoͤnes Stuͤck sey, und daß Herr Peel kei¬ nen schlechten Kauf gethan. An der rechten Seite des Bildes fiel der Blick auf eine Gruppe sitzender und ste¬ hender Menschen. Ein Hirte buͤckt sich zu einem Maͤd¬ chen, das er zu unterrichten scheint wie man die Schal¬ mei blasen muͤsse. Mitten sah man auf einen See im Glanz der Sonne, und an der linken Seite des Bildes gewahrte man weidendes Vieh im Schatten eines Ge¬ hoͤlzes. Beyde Gruppen balancirten sich auf das Beste, und der Zauber der Beleuchtung wirkte maͤchtig, nach gewohnter Art des Meisters. Es war die Rede, wo das Original sich zeither befunden, und in wessen Besitz Meyer es in Italien gesehen. Das Gespraͤch lenkte sich sodann auf das neue Be¬ sitzthum des Koͤnigs von Bayern in Rom. „Ich kenne die Villa sehr gut, sagte Meyer, ich bin oft darin gewesen und gedenke der schoͤnen Lage mit Ver¬ gnuͤgen. Es ist ein maͤßiges Schloß, das der Koͤnig nicht fehlen wird sich auszuschmuͤcken und nach seinem Sinne hoͤchst anmuthig zu machen. Zu meiner Zeit wohnte die Herzogin Amalie darin, und Herder in dem Nebengebaͤude. Spaͤter bewohnte es der Herzog von Susser und der Graf Muͤnster . Fremde hohe Herrschaften haben es immer wegen der gesunden Lage und herrlichen Aussicht besonders geliebt.“ Ich fragte Hofrath Meyer wie weit es von der Villa di Malta bis zum Vatican sey. „Von Trinita di Monte, in der Naͤhe der Villa, sagte Meyer, wo wir Kuͤnstler wohnten, ist es bis zum Vatican eine gute halbe Stunde. Wir machten taͤglich den Weg und oft mehr als einmal.“ Der Weg uͤber die Bruͤcke, sagte ich, scheint etwas um zu seyn; ich daͤchte man kaͤme naͤher, wenn man sich uͤber die Tiber setzen ließe und durch das Feld ginge. „Es ist nicht so, sagte Meyer, aber wir hatten auch diesen Glauben und ließen uns sehr oft uͤbersetzen. Ich erinnere mich einer solchen Über¬ fahrt, wo wir in einer schoͤnen Nacht bey hellem Mond¬ schein vom Vatican zuruͤckkamen. Von Bekannten wa¬ ren Bury , Hirt und Lips unter uns, und es hatte sich der gewoͤhnliche Streit entsponnen, wer groͤßer sey, Raphael oder Michel Angelo . So bestiegen wir die Faͤhre. Als wir das andere Ufer erreicht hatten und der Streit noch in vollem Gange war, schlug ein lusti¬ ger Vogel, ich glaube es war Bury, vor, das Wasser nicht eher zu verlassen, als bis der Streit voͤllig abge¬ than sey und die Parteyen sich vereiniget haͤtten. Der Vorschlag wurde angenommen, der Faͤhrmann mußte wieder abstoßen und zuruͤckfahren. Aber nun wurde das Disputiren erst recht lebhaft, und wenn wir das Ufer erreicht hatten, mußten wir immer wieder zuruͤck, denn der Streit war nicht entschieden. So fuhren wir Stundenlang hinuͤber und heruͤber, wobey niemand sich II . 10 besser stand als der Schiffer, dem sich die Bajoc's bey jeder Überfahrt vermehrten. Er hatte einen zwoͤlfjaͤhri¬ gen Knaben bey sich, der ihm half, und dem die Sache endlich gar zu wunderlich erscheinen mochte. „Vater, sagte er, was haben denn die Maͤnner, daß sie nicht ans Land wollen, und daß wir immer wieder zuruͤck muͤssen wenn wir sie ans Ufer gebracht?“ „„Ich weiß nicht mein Sohn, antwortete der Schiffer, aber ich glaube sie sind toll.““ Endlich, um nicht die ganze Nacht hin und her zu fahren, vereinigte man sich noth¬ duͤrftig und wir gingen zu Lande.“ Wir freuten uns und lachten uͤber diese anmuthige Anecdote von kuͤnstlerischer Verruͤcktheit. Hofrath Meyer war in der besten Laune, er fuhr fort uns von Rom zu erzaͤhlen, und Goethe und ich hatten Genuß ihn zu hoͤren. „Der Streit uͤber Raphael und Michel Angelo, sagte Meyer, war an der Ordnung und wurde taͤglich gefuͤhrt, wo genugsame Kuͤnstler zusammentrafen, so daß von beyden Parteyen sich einige anwesend fanden. In einer Osterie, wo man sehr billigen und guten Wein trank, pflegte er sich zu entspinnen; man berief sich auf Gemaͤlde, auf einzelne Theile derselben, und wenn die Gegenpartey widerstritt und dieß und jenes nicht zuge¬ ben wollte, entstand das Beduͤrfniß der unmittelbaren Anschauung der Bilder. Streitend verließ man die Osteri und ging raschen Schrittes zur Sixtinischen Ca¬ pelle, wozu ein Schuster den Schluͤssel hatte, der immer fuͤr vier Groschen aufschloß. Hier, vor den Bildern, ging es nun an Demonstrationen, und wenn man lange ge¬ nug gestritten, kehrte man in die Osterie zuruͤck, um bey einer Flasche Wein sich zu versoͤhnen und alle Con¬ troversen zu vergessen. So ging es jeden Tag, und der Schuster an der Sixtinischen Capelle erhielt manche vier Groschen.“ Bey dieser heiteren Gelegenheit erinnerte man sich eines anderen Schusters, der auf einem antiken Mar¬ morkopf gewoͤhnlich sein Leder geklopft. „Es war das Portrait eines roͤmischen Kaisers, sagte Meyer; die Antike stand vor des Schusters Thuͤre, und wir haben ihn sehr oft in in dieser loͤblichen Beschaͤftigung gesehen wenn wir vorbeygingen.“ Mittwoch, den 15. April 1829. Wir sprachen uͤber Leute, die, ohne eigentliches Ta¬ lent, zur Productivitaͤt gerufen werden, und uͤber An¬ dere, die uͤber Dinge schreiben die sie nicht verstehen. „Das Verfuͤhrerische fuͤr junge Leute, sagte Goethe, ist dieses. Wir leben in einer Zeit, wo so viele Cultur verbreitet ist, daß sie sich gleichsam der Atmosphaͤre mit¬ getheilt hat, worin ein junger Mensch athmet. Poe¬ 10 * tische und philosophische Gedanken leben und regen sich in ihm, mit der Luft seiner Umgebung hat er sie einge¬ sogen, aber er denkt sie waͤren sein Eigenthum, und so spricht er sie als das Seinige aus. Nachdem er aber der Zeit wiedergegeben hat was er von ihr empfangen, ist er arm. Er gleicht einer Quelle, die von zugetragenem Wasser eine Weile gesprudelt hat, und die aufhoͤrt zu rieseln, sobald der erborgte Vorrath erschoͤpft ist.“ Dienstag, den 1. September 1829. Ich erzaͤhlte Goethe von einem Durchreisenden, der bey Hegeln ein Collegium uͤber den Beweis des Da¬ seyns Gottes gehoͤrt. Goethe stimmte mir bey, daß dergleichen Vorlesungen nicht mehr an der Zeit seyen. „Die Periode des Zweifels, sagte er, ist voruͤber; es zweifelt jetzt so wenig jemand an sich selber als an Gott. Zudem sind die Natur Gottes, die Un¬ sterblichkeit, das Wesen unserer Seele und ihr Zu¬ sammenhang mit dem Koͤrper, ewige Probleme, worin uns die Philosophen nicht weiter bringen. Ein franzoͤ¬ sischer Philosoph der neuesten Tage faͤngt sein Capitel ganz getrost folgendermaßen an: „Es ist bekannt, daß der Mensch aus zwey Theilen besteht, aus Leib und Seele. Wir wollen demnach mit dem Leibe anfangen und sodann von der Seele reden.“ Fichte ging doch schon ein wenig weiter und zog sich etwas kluͤger aus der Sache, indem er sagte: Wir wollen handeln vom Men¬ schen als Leib betrachtet und vom Menschen als Seele betrachtet. Er fuͤhlte zu wohl, daß sich ein so enge verbundenes Ganzes nicht trennen lasse. Kant hat un¬ streitig am meisten genuͤtzt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen faͤhig sey, und daß er die unaufloͤslichen Probleme liegen ließ. Was hat man nicht alles uͤber Unsterblichkeit philoso¬ phirt! und wie weit ist man gekommen! — Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren. Aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich kuͤnftig als große Entelechie zu manifestiren, muß man auch eine seyn.“ „Waͤhrend aber die Deutschen sich mit Aufloͤsung philosophischer Probleme quaͤlen, lachen uns die Eng¬ laͤnder mit ihrem großen practischen Verstande aus, und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Declama¬ tionen gegen den Sclavenhandel, und waͤhrend sie uns weiß machen wollen, was fuͤr humane Maximen solchem Verfahren zu Grunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Object sey, ohne welches es die Englaͤnder bekanntlich nie thun, und welches man haͤtte wissen sollen. An der westlichen Kuͤste von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Besitzun¬ gen, und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort ausfuͤhre. In Amerika haben sie selbst große Neger- Colonieen angelegt, die sehr productiv sind und jaͤhrlich einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen versehen sie die nordamerikanischen Beduͤrfnisse, und in¬ dem sie auf solche Weise einen hoͤchst eintraͤglichen Han¬ del treiben, waͤre die Einfuhr von Außen ihrem mer¬ kantilischen Interesse sehr im Wege, und sie predigen daher, nicht ohne Object, gegen den inhumanen Han¬ del. Noch auf dem Wiener Congreß argumentirte der englische Gesandte sehr lebhaft dagegen; aber der por¬ tugiesische war klug genug, in aller Ruhe zu antwor¬ ten, daß er nicht wisse, daß man zusammengekommen sey, ein allgemeines Weltgericht abzugeben, oder die Grundsaͤtze der Moral festzusetzen. — Er kannte das englische Object recht gut, und so hatte auch er das seinige, wofuͤr er zu reden und welches er zu erlangen wußte.“ Sonntag, den 6. December 1829. Heute nach Tisch las Goethe mir die erste Scene vom zweyten Act des Faust . Der Eindruck war groß, und verbreitete in meinem Innern ein hohes Gluͤck. Wir sind wieder in Fausts Studirzimmer versetzt, und Mephistopheles findet noch alles am alten Platze wie er es verlassen hat. Fausts alten Studirpelz nimmt er vom Haken; tausend Motten und Insecten flattern her¬ aus, und indem Mephistopheles ausspricht, wo diese sich wieder unterthun, tritt uns die umgebende Localitaͤt sehr deutlich vor die Augen. Er zieht den Pelz an, um, waͤhrend Faust hinter einem Vorhange im paraly¬ sirten Zustande liegt, wieder einmal den Herrn zu spie¬ len. Er zieht die Klingel; die Glocke giebt in den ein¬ samen alten Kloster-Hallen einen so fuͤrchterlichen Ton, daß die Thuͤren aufspringen und die Mauern erbeben. Der Famulus stuͤrzt herbey und findet in Fausts Stuhle den Mephistopheles sitzen, den er nicht kennt, aber vor dem er Respect hat. Auf Befragen giebt er Nachricht von Wagner, der unterdeß ein beruͤhmter Mann gewor¬ den und auf die Ruͤckkehr seines Herrn hofft. Er ist, wie wir hoͤren, in diesem Augenblick in seinem Labora¬ torium tief beschaͤftigt, einen Homunculus hervorzubrin¬ gen. Der Famulus wird entlassen; es erscheint der Baccalaureus, derselbige, den wir vor einigen Jahren als schuͤchternen jungen Studenten gesehen, wo Mephi¬ stopheles, in Fausts Rocke, ihn zum Besten hatte. Er ist unterdeß ein Mann geworden und so voller Duͤnkel, daß selbst Mephistopheles nicht mit ihm auskommen kann, der mit seinem Stuhle immer weiter ruͤckt und sich zuletzt ans Parterre wendet. Goethe las die Scene bis zu Ende. Ich freute mich an der jugendlich productiven Kraft, und wie alles so knapp beysammen war. „Da die Conception so alt ist, sagte Goethe, und ich seit funfzig Jahren daruͤber nachdenke, so hat sich das innere Material so sehr gehaͤuft, daß jetzt das Aus¬ scheiden und Ablehnen die schwere Operation ist. Die Erfindung des ganzen zweyten Theiles ist wirklich so alt wie ich sage. Aber daß ich ihn erst jetzt schreibe, nachdem ich uͤber die weltlichen Dinge so viel klarer geworden, mag der Sache zu Gute kommen. Es geht mir damit wie Einem, der in seiner Jugend sehr viel kleines Silber- und Kupfer-Geld hat, das er waͤhrend dem Lauf seines Lebens immer bedeutender einwechselt, so daß er zuletzt seinen Jugendbesitz in reinen Gold¬ stuͤcken vor sich sieht.“ Wir sprachen uͤber die Figur des Baccalaureus. Ist in ihm, sagte ich, nicht eine gewisse Classe ideeller Phi¬ losophen gemeint? „Nein, sagte Goethe, es ist die An¬ maßlichkeit in ihm personificirt, die besonders der Ju¬ gend eigen ist, wovon wir in den ersten Jahren nach unserm Befreyungskriege so auffallende Beweise hatten. Auch glaubt jeder in seiner Jugend, daß die Welt eigentlich erst mit ihm angefangen, und daß Alles eigent¬ lich um seinetwillen da sey. Sodann hat es im Orient wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen seine Leute um sich versammelte, und sie nicht eher an die Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen auf¬ zugehen. Aber hiebey war er so klug, diesen Befehl nicht eher auszusprechen, als bis die Sonne wirklich auf dem Punkt stand von selber zu erscheinen.“ Wir sprachen noch Vieles uͤber den Faust und dessen Composition, so wie uͤber verwandte Dinge. Goethe war eine Weile in stilles Nachdenken ver¬ sunken; dann begann er folgendermaßen. „Wenn man alt ist, sagte er, denkt man uͤber die weltlichen Dinge anders als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Daͤmonen, um die Menschheit zu necken und zum Besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, daß jeder nach ihnen strebt, und so groß, daß niemand sie erreicht. So stellten sie den Raphael hin, bey dem Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne treffliche Nachkommen haben sich ihm genaͤhert, aber erreicht hat ihn niemand. So stellten sie den Mo¬ zart hin, als etwas Unerreichbares in der Musik. Und so in der Poesie Shakspeare . Ich weiß was Sie mir gegen diesen sagen koͤnnen, aber ich meine nur das Na¬ turell, das große Angeborene der Natur. So steht Napoleon unerreichbar da. Daß die Russen sich ge¬ maͤßigt haben und nicht nach Constantinopel hineinge¬ gangen sind, ist zwar sehr groß, aber auch ein solcher Zug findet sich in Napoleon, denn auch er hat sich ge¬ maͤßigt und ist nicht nach Rom gegangen.“ An dieses reiche Thema knuͤpfte sich viel Verwandtes; bey mir selbst aber dachte ich im Stillen, daß auch mit Goethe die Daͤmonen so etwas moͤchten im Sinne haben, indem auch er eine Figur sey, zu anlockend, um ihm nicht nachzustreben, und zu groß, um ihn zu erreichen. Mittwoch, den 16. December 1829. Heute nach Tisch las Goethe mir die zweyte Scene des zweyten Acts von Faust , wo Mephistopheles zu Wagner geht, der durch chemische Kuͤnste einen Menschen zu machen im Begriff ist. Das Werk gelingt, der Ho¬ munculus erscheint in der Flasche, als leuchtendes We¬ sen, und ist sogleich thaͤtig. Wagners Fragen uͤber un¬ begreifliche Dinge lehnt er ab, das Raisonniren ist nicht seine Sache; er will handeln , und da ist ihm das Naͤchste unser Held Faust, der in seinem paralysirten Zustande einer hoͤheren Huͤlfe bedarf. Als ein Wesen, dem die Gegenwart durchaus klar und durchsichtig ist, sieht der Homunculus das Innere des schlafenden Faust, den ein schoͤner Traum von der Leda begluͤckt, wie sie, in anmuthiger Gegend badend, von Schwaͤnen besucht wird. Indem der Homunculus diesen Traum ausspricht, erscheint vor unserer Seele das reizendste Bild. Me¬ phistopheles sieht davon nichts, und der Homunculus verspottet ihn wegen seiner nordischen Natur. „Überhaupt, sagte Goethe, werden Sie bemerken, daß der Mephistopheles gegen den Homunculus in Nach¬ theil zu stehen kommt, der ihm an geistiger Klarheit gleicht, und durch seine Tendenz zum Schoͤnen und foͤrderlich Thaͤtigen so viel vor ihm voraus hat. Übri¬ gens nennt er ihn Herr Vetter; denn solche geistige Wesen, wie der Homunculus, die durch eine vollkom¬ mene Menschwerdung noch nicht verduͤstert und beschraͤnkt worden, zaͤhlte man zu den Daͤmonen, wodurch denn unter Beyden eine Art von Verwandtschaft existirt.“ Gewiß, sagte ich, erscheint der Mephistopheles hier in einer untergeordneten Stellung; allein ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß er zur Entstehung des Homunculus heimlich gewirkt hat, so wie wir ihn bisher kennen und wie er auch in der Helena immer als heimlich wirkendes Wesen erscheint. Und so hebt er sich denn im Ganzen wieder, und kann sich in seiner superioren Ruhe im Einzelnen wohl etwas gefallen lassen. „Sie empfinden das Verhaͤltniß sehr richtig, sagte Goethe; es ist so, und ich habe schon gedacht, ob ich nicht dem Mephistopheles, wie er zu Wagner geht und der Homunculus im Werden ist, einige Verse in den Mund legen soll, wodurch seine Mitwirkung ausgespro¬ chen und dem Leser deutlich wuͤrde.“ Das koͤnnte nicht schaden, sagte ich. Angedeutet jedoch ist es schon, indem Mephistopheles die Scene mit den Worten schließt: Am Ende haͤngen wir doch ab Von Creaturen die wir machten. „Sie haben Recht, sagte Goethe, dieß koͤnnte dem Aufmerkenden fast genug seyn; indeß will ich doch noch auf einige Verse sinnen.“ Aber, sagte ich, jenes Schlußwort ist ein großes, das man nicht so leicht ausdenken wird. „Ich daͤchte, sagte Goethe, man haͤtte eine Weile daran zu zehren. Ein Vater, der sechs Soͤhne hat, ist verloren, er mag sich stellen wie er will. Auch Koͤnige und Minister, die viele Personen zu großen Stellen ge¬ bracht haben, moͤgen aus ihrer Erfahrung sich etwas dabey denken koͤnnen.“ Fausts Traum von der Leda trat mir wieder vor die Seele, und ich uͤbersah dieses im Geist als einen hoͤchst bedeutenden Zug in der Composition. Es ist wunderbar, sagte ich, wie in einem solchen Werke die einzelnen Theile auf einander sich beziehen, auf einander wirken und einander ergaͤnzen und heben. Durch diesen Traum von der Leda hier im zweyten Act gewinnt spaͤter die Helena erst das eigentliche Funda¬ ment. Dort ist immer von Schwaͤnen und einer Schwanerzeugten die Rede; aber hier erscheint diese Handlung selbst, und wenn man nun mit dem sinnli¬ chen Eindruck solcher Situation spaͤter zur Helena kommt, wie wird dann alles deutlicher und vollstaͤndiger erschei¬ nen! — Goethe gab mir Recht, und es schien ihm lieb, daß ich dieses bemerkte. „So auch, sagte er, werden Sie finden, daß schon immer in diesen fruͤheren Acten das Classische und Romantische anklingt und zur Sprache gebracht wird, damit es, wie auf einem steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beyde Dichtungs¬ formen entschieden hervortreten und eine Art von Aus¬ gleichung finden.“ „Die Franzosen, fuhr Goethe fort, fangen nun auch an uͤber diese Verhaͤltnisse richtig zu denken. „„Es ist alles gut und gleich, sagen sie, Classisches wie Ro¬ mantisches, es kommt nur darauf an, daß man sich dieser Formen mit Verstand zu bedienen und darin vor¬ trefflich zu seyn vermoͤge. So kann man auch in Bey¬ den absurd seyn, und dann taugt das Eine so wenig wie das Andere.““ Ich daͤchte das waͤre vernuͤnftig und ein gutes Wort, womit man sich eine Weile beru¬ higen koͤnnte.“ Sonntag, den 20. December 1829. Bey Goethe zu Tisch. Wir sprachen vom Canz¬ ler , und ich fragte Goethe, ob er ihm bey seiner Zu¬ ruͤckkunft aus Italien keine Nachricht von Manzoni mitgebracht. „Er hat mir uͤber ihn geschrieben, sagte Goethe. Der Canzler hat Manzoni besucht, er lebt auf seinem Landgute in der Naͤhe von Mayland und ist zu meinem Bedauern fortwaͤhrend kraͤnklich.“ Es ist eigen, sagte ich, daß man so haͤufig bey ausgezeichneten Talenten, besonders bey Poeten, findet, daß sie eine schwaͤchliche Constitution haben. „Das Außerordentliche was solche Menschen leisten, sagte Goethe, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen faͤhig seyn und die Stimme der Himmlischen vernehmen moͤgen. Nun ist eine solche Organisation, im Conflict mit der Welt und den Elementen, leicht gestoͤrt und verletzt, und wer nicht, wie Voltaire , mit großer Sensibilitaͤt eine außerordentliche Zaͤhheit verbindet, ist leicht einer fort¬ gesetzten Kraͤnklichkeit unterworfen. Schiller war auch bestaͤndig krank. Als ich ihn zuerst kennen lernte, glaubte ich, er lebte keine vier Wochen. Aber auch er hatte eine gewisse Zaͤhheit; er hielt sich noch die vielen Jahre und haͤtte sich bey gesuͤnderer Lebensweise noch laͤnger halten koͤnnen.“ Wir sprachen vom Theater und inwiefern eine ge¬ wisse Vorstellung gelungen sey. „Ich habe Unzelmann in dieser Rolle gesehen, sagte Goethe, bey dem es einem immer wohl wurde, und zwar durch die große Freyheit seines Geistes, die er uns mittheilte. Denn es ist mit der Schauspielkunst wie mit allen uͤbrigen Kuͤnsten. Was der Kuͤnstler thut oder gethan hat, setzt uns in die Stimmung, in der er selber war, da er es machte. Eine freye Stimmung des Kuͤnstlers macht uns frey, dagegen eine beklommene macht uns baͤnglich. Diese Freyheit im Kuͤnstler ist ge¬ woͤhnlich dort, wo er ganz seiner Sache gewachsen ist, weßhalb es uns denn bey niederlaͤndischen Gemaͤlden so wohl wird, indem jene Kuͤnstler das naͤchste Leben dar¬ stellten, wovon sie vollkommen Herr waren. Sollen wir nun im Schauspieler diese Freyheit des Geistes empfin¬ den, so muß er durch Studium, Phantasie und Na¬ turell vollkommen Herr seiner Rolle seyn, alle koͤrper¬ lichen Mittel muͤssen ihm zu Gebote stehen, und eine gewisse jugendliche Energie muß ihn unterstuͤtzen. Das Studium ist indessen nicht genuͤgend ohne Einbildungs¬ kraft, und Studium und Einbildungskraft nicht hinrei¬ chend ohne Naturell. Die Frauen thun das Meiste durch Einbildungskraft und Temperament, wodurch denn die Wolff so vortrefflich war.“ Wir unterhielten uns ferner uͤber diesen Gegenstand, wobey die vorzuͤglichsten Schauspieler der Weimarischen Buͤhne zur Sprache kamen, und mancher einzelnen Rolle mit Anerkennung gedacht wurde. Mir trat indeß der Faust wieder vor die Seele, und ich gedachte des Homunculus, und wie man diese Figur auf der Buͤhne deutlich machen wolle. Wenn man auch das Persoͤnchen selber nicht saͤhe, sagte ich, doch das Leuchtende in der Flasche muͤßte man sehen, und das Bedeutende was er zu sagen hat, muͤßte doch so vorgetragen werden, wie es von einem Kinde nicht geschehen kann. „Wagner, sagte Goethe, darf die Flasche nicht aus den Haͤnden lassen, und die Stimme muͤßte so kommen, als wenn sie aus der Flasche kaͤme. Es waͤre eine Rolle fuͤr einen Bauchredner, wie ich deren gehoͤrt habe, und der sich gewiß gut aus der Affaire ziehen wuͤrde.“ So auch gedachten wir des großen Carnevals und inwiefern es moͤglich, es auf der Buͤhne zur Erscheinung zu bringen. Es waͤre doch noch ein wenig mehr, sagte ich, wie der Markt von Neapel. „Es wuͤrde ein sehr großes Theater erfordern, sagte Goethe, und es ist fast nicht denkbar.“ Ich hoffe es noch zu erleben, war meine Antwort. Besonders freue ich mich auf den Ele¬ phanten, von der Klugheit gelenkt, die Victoria oben, und Furcht und Hoffnung in Ketten an den Seiten. Es ist doch eine Allegorie wie sie nicht leicht besser existiren moͤchte. „Es waͤre auf der Buͤhne nicht der erste Elephant, sagte Goethe. In Paris spielt einer eine voͤllige Rolle; er ist von einer Volkspartey und nimmt dem einen Koͤ¬ nig die Krone ab und setzt sie dem andern auf, welches freylich grandios seyn muß. Sodann, wenn am Schlusse des Stuͤcks der Elephant herausgerufen wird, erscheint er ganz alleine, macht seine Verbeugung und geht wie¬ der zuruͤck. Sie sehen also, daß bey unserm Carneval auf den Elephanten zu rechnen waͤre. Aber das Ganze ist viel zu groß und erfordert einen Regisseur wie es deren nicht leicht giebt.“ Es ist aber so voller Glanz und Wirkung, sagte ich, daß eine Buͤhne es sich nicht leicht wird entgehen lassen. Und wie es sich aufbaut und immer bedeutender wird! Zuerst schoͤne Gaͤrtnerinnen und Gaͤrtner, die das Theater decoriren und zugleich eine Masse bilden, so daß es den immer bedeutender werdenden Erscheinun¬ gen nicht an Umgebung und Zuschauern mangelt. Dann, nach dem Elephanten, das Drachengespann aus dem Hintergrunde durch die Luͤfte kommend, uͤber den Koͤpfen hervor. Ferner die Erscheinung des großen Pan und wie zuletzt alles in scheinbarem Feuer steht und schlie߬ lich von herbeyziehenden feuchten Nebelwolken gedaͤmpft und geloͤscht wird! — Wenn das alles so zur Erschei¬ nung kaͤme wie Sie es gedacht haben, das Publicum muͤßte vor Erstaunen dasitzen und gestehen, daß es ihm an Geist und Sinnen fehle, den Reichthum solcher Er¬ scheinungen wuͤrdig aufzunehmen. „Geht nur, sagte Goethe, und laßt mir das Publi¬ cum, von dem ich nichts hoͤren mag. Die Haupsache ist, daß es geschrieben steht; mag nun die Welt damit II . 11 gebahren so gut sie kann, und es benutzen so weit sie es faͤhig ist.“ Wir sprachen darauf uͤber den Knabe Lenker . „Daß in der Maske des Plutus der Faust steckt, und in der Maske des Geizes der Mephistophe¬ les , werden Sie gemerkt haben. Wer aber ist der Knabe Lenker .“ — Ich zauderte und wußte nicht zu antworten. „Es ist der Euphorien !“ sagte Goethe. — Wie kann aber dieser, fragte ich, schon hier im Carneval erscheinen, da er doch erst im dritten Act geboren wird? — „Der Euphorion, antwortete Goethe, ist kein menschliches, sondern nur ein alle¬ gorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie per¬ sonificirt, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist. Derselbige Geist, dem es spaͤter beliebt Euphorien zu seyn, erscheint jetzt als Knabe Lenker, und er ist darin den Gespenstern aͤhn¬ lich, die uͤberall gegenwaͤrtig seyn und zu jeder Stunde hervortreten koͤnnen.“ Sonntag, den 27. December 1829. Heute nach Tisch las Goethe mir die Scene vom Papiergelde. „Sie erinnern sich, sagte er, daß bey der Reichs¬ versammlung das Ende vom Liede ist, daß es an Geld fehlt, welches Mephistopheles zu verschaffen verspricht. Dieser Gegenstand geht durch die Maskerade fort, wo Mephistopheles es anzustellen weiß, daß der Kaiser in der Maske des großen Pan ein Papier unterschreibt, welches, dadurch zu Geldeswerth erhoben, tausendmal vervielfaͤltigt und verbreitet wird.“ „In dieser Scene nun wird die Angelegenheit vor dem Kaiser zur Sprache gebracht, der noch nicht weiß was er gethan hat. Der Schatzmeister uͤber¬ giebt die Banknoten und macht das Verhaͤltniß deutlich. Der Kaiser, anfaͤnglich erzuͤrnt, dann bey naͤherer Ein¬ sicht in den Gewinn hoch erfreut, macht mit der neuen Papier-Gabe seiner Umgebung reichliche Geschenke, und laͤßt im Abgehen noch einige tausend Kronen fallen, die der dicke Narr zusammenrafft und sogleich geht, um das Papier in Grundbesitz zu verwandeln.“ Indem Goethe die herrliche Scene las, freute ich mich uͤber den gluͤcklichen Griff, daß er das Papiergeld von Mephistopheles herleitet und dadurch ein Haupt¬ interesse des Tages so bedeutend verknuͤpft und verewigt. Kaum war die Scene gelesen und manches daruͤber hin und her gesprochen als Goethe's Sohn herunterkam und sich zu uns an den Tisch setzte. Er erzaͤhlte uns von Coopers letztem Roman, den er gelesen und den er in sei¬ ner anschaulichen Art auf das Beste referirte. Von unserer gelesenen Scene verriethen wir nichts, aber er selbst fing 11* sehr bald an, viel uͤber preußische Tresorscheine zu reden und daß man sie uͤber den Werth bezahle. Waͤhrend der junge Goethe so sprach, blickte ich den Vater an mit einigem Laͤcheln, welches er erwiederte und wodurch wir uns zu verstehen gaben, wie sehr das Dargestellte an der Zeit sey. Mittwoch, den 30. December 1829. Heute nach Tisch las Goethe mir die fernere Scene. „Nachdem sie nun am Kaiserlichen Hofe Geld haben, sagte er, wollen sie amuͤsirt seyn. Der Kaiser wuͤnscht Paris und Helena zu sehen, und zwar sollen sie durch Zau¬ berkuͤnste in Person erscheinen. Da aber Mephistopheles mit dem griechischen Alterthum nichts zu thun und uͤber solche Figuren keine Gewalt hat, so bleibt dieses Werk Fausten zugeschoben, dem es auch vollkommen gelingt. Was aber Faust unternehmen muß um die Erscheinung moͤglich zu machen, ist noch nicht ganz vollendet, und ich lese es Ihnen das naͤchste Mal. Die Erscheinung von Paris und Helena selbst aber sollen Sie heute hoͤren.“ Ich war gluͤcklich im Vorgefuͤhl des Kommenden und Goethe fing an zu lesen. In dem alten Ritter¬ saale sah ich Kaiser und Hof einziehen, um das Schau¬ spiel zu sehen. Der Vorhang hebt sich und das Thea¬ ter, ein griechischer Tempel, ist mir vor Augen. Me¬ phistopheles im Souffleurkasten, der Astrolog auf der einen Seite des Prosceniums, Faust auf der andern mit dem Dreyfuß heraufsteigend. Er spricht die noͤthige Formel aus und es erscheint, aus dem Weihrauch¬ dampf der Schale sich entwickelnd, Paris . Indem der schoͤne Juͤngling bey aͤtherischer Musik sich be¬ wegt, wird er beschrieben. Er setzt sich, er lehnt sich, den Arm uͤber den Kopf gebogen, wie wir ihn auf alten Bildwerken dargestellt finden. Er ist das Ent¬ zuͤcken der Frauen, die die Reize seiner Jugendfuͤlle aussprechen; er ist der Haß der Maͤnner, in denen sich Neid und Eifersucht regt und die ihn herunterziehen wie sie nur koͤnnen. Paris entschlaͤft und es erscheint Helena . Sie naht sich dem Schlafenden, sie druͤckt einen Kuß auf seine Lippen; sie entfernt sich von ihm und wendet sich, nach ihm zuruͤckzublicken. In dieser Wendung erscheint sie besonders reizend. Sie macht den Eindruck auf die Maͤnner, wie Paris auf die Frauen. Die Maͤnner zu Liebe und Lob entzuͤndet, die Frauen zu Neid, Haß und Tadel. Faust selber ist ganz Entzuͤcken und vergißt, im Anblick der Schoͤnheit die er hervorgerufen, Zeit, Ort und Verhaͤltniß, so daß Mephistopheles jeden Augenblick noͤthig findet, ihn zu erinnern, daß er ja ganz aus der Rolle falle. Neigung und Einverstaͤndniß scheint zwischen Paris und Helena zuzunehmen, der Juͤngling umfaßt sie, um sie zu ent¬ fuͤhren; Faust will sie ihm entreißen, aber, indem er den Schluͤssel gegen ihn wendet, erfolgt eine heftige Explosion, die Geister gehen in Dunst auf und Faust liegt paralysirt am Boden. 1830. Sonntag, den 3. Januar 1830. G oethe zeigte mir das englische Taschenbuch Keepsake fuͤr 1830, mit sehr schoͤnen Kupfern und einigen hoͤchst interessanten Briefen von Lord Byron , die ich zum Nachtische las. Er selbst hatte derweil die neueste fran¬ zoͤsische Übersetzung seines Faust von Gérard zur Hand genommen, worin er blaͤtterte und mitunter zu lesen schien. „Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den Kopf, sagte er, wenn ich bedenke, daß dieses Buch noch jetzt in einer Sprache gilt, in der vor funfzig Jahren Voltaire geherrscht hat. Sie koͤnnen sich hiebey nicht denken was ich mir denke, und haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeit¬ genossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Bio¬ graphie nicht deutlich hervor was diese Maͤnner fuͤr einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene Fuͤße in ein wahreres Verhaͤltniß zur Natur zu stellen.“ Wir sprachen uͤber Voltaire Ferneres, und Goethe recitirte mir das Gedicht les Systèmes , woraus ich mir abnahm, wie sehr er solche Sachen in seiner Jugend mußte studirt und sich angeeignet haben. Die erwaͤhnte Übersetzung von G é rard, obgleich groͤ߬ tentheils in Prosa, lobte Goethe als sehr gelungen. „Im Deutschen, sagte er, mag ich den Faust nicht mehr lesen; aber in dieser franzoͤsischen Übersetzung wirkt alles wieder durchaus frisch, neu und geistreich.“ „Der Faust, fuhr er fort, ist doch ganz etwas In¬ commensurabeles, und alle Versuche, ihn dem Verstand naͤher zu bringen, sind vergeblich. Auch muß man be¬ denken, daß der erste Theil aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie muͤhen sich daran ab, wie an allen unaufloͤsbaren Problemen.“ Sonntag, den 10. Januar 1830. Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo Faust zu den Muͤttern geht. Das Neue, Ungeahndete des Gegenstandes, so wie die Art und Weise, wie Goethe mir die Scene vortrug, ergriff mich wundersam, so daß ich mich ganz in die Lage von Faust versetzt fuͤhlte, den bey der Mittheilung des Mephistopheles gleichfalls ein Schauer uͤberlaͤuft. Ich hatte das Dargestellte wohl gehoͤrt und wohl empfunden, aber es blieb mir so vieles raͤthselhaft, daß ich mich gedrungen fuͤhlte, Goethe um einigen Ausschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewoͤhnlichen Art, huͤllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte und mir die Worte wiederholte: Die Muͤtter! Muͤtter! 's klingt so wunderlich! — „Ich kann Ihnen weiter nichts verrathen, sagte er darauf, als daß ich beym Plutarch gefunden, daß im griechischen Alterthume von Muͤttern , als Gottheiten, die Rede gewesen. Dieß ist alles was ich der Überlie¬ ferung verdanke, das Übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuscript mit nach Hause, studi¬ ren Sie alles wohl und sehen Sie zu wie Sie zurecht kommen.“ Ich war darauf gluͤcklich bey wiederholter ruhiger Betrachtung dieser merkwuͤrdigen Scene, und entwickelte mir uͤber der Muͤtter eigentliches Wesen und Wirken, uͤber ihre Umgebung und Aufenthalt, die nachfolgende Ansicht. Koͤnnte man sich den ungeheuren Weltkoͤrper unserer Erde im Innern als leeren Raum denken, so daß man hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzu¬ streben vermoͤchte, ohne auf etwas Koͤrperliches zu sto¬ ßen, so waͤre dieses der Aufenthalt jener unbekannten Goͤttinnen, zu denen Faust hinabgeht. Sie leben gleich¬ sam außer allem Ort, denn es ist nichts Festes das sie in einiger Naͤhe umgiebt; auch leben sie außer aller Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Gestirn, welches auf¬ oder unterginge und den Wechsel von Tag und Nacht andeutete. So, in ewiger Daͤmmerung und Einsamkeit behar¬ rend, sind die Muͤtter schaffende Wesen, sie sind das schaffende und erhaltende Prinzip , von dem alles ausgeht, was auf der Oberflaͤche der Erde Gestalt und Leben hat. Was zu athmen aufhoͤrt, geht als geistige Natur zu ihnen zuruͤck, und sie bewahren es, bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Daseyn zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was einst war und kuͤnftig seyn wird, schweift in dem endlosen Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es umgiebt die Muͤtter, und der Magier muß also in ihr Reich gehen, wenn er durch die Macht seiner Kunst uͤber die Form eines Wesens Gewalt haben, und ein fruͤheres Geschoͤpf zu einem Scheinleben hervorrufen will. Die ewige Metamorphose des irdischen Daseyns, des Entstehens und Wachsens, des Zerstoͤrens und Wieder¬ bildens, ist also der Muͤtter nie aufhoͤrende Beschaͤfti¬ gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde durch Fortzeugung ein neues Leben erhaͤlt, das Weib¬ liche hauptsaͤchlich wirksam ist, so moͤgen jene schaffen¬ den Gottheiten mit Recht weiblich gedacht, und es mag der ehrwuͤrdige Name Muͤtter ihnen nicht ohne Grund beygelegt werden. Freylich ist dieses alles nur eine poetische Schoͤpfung; allein der beschraͤnkte Mensch vermag nicht viel weiter zu dringen, und er ist zufrieden etwas zu finden, wo¬ bey er sich beruhigen moͤchte. Wir sehen auf Erden Erscheinungen und empfinden Wirkungen, von denen wir nicht wissen woher sie kommen und wohin sie ge¬ hen. Wir schließen auf einen geistigen Urquell, auf ein Goͤttliches, wofuͤr wir keine Begriffe und keinen Ausdruck haben, und welches wir zu uns herabzie¬ hen und anthropomorphisiren muͤssen, um unsere dun¬ kelen Ahndungen einigermaßen zu verkoͤrpern und fa߬ lich zu machen. So sind alle Mythen entstanden, die von Jahrhun¬ dert zu Jahrhundert in den Voͤlkern fortlebten, und ebenso diese neue von Goethe, die wenigstens den Schein einiger Naturwahrheit hat, und die wohl den besten gleichzustellen seyn duͤrfte, die je gedacht worden. Sonntag, den 24. Januar 1830. „Ich habe dieser Tage einen Brief von unserm be¬ ruͤhmten Salzbohrer in Stotternheim erhalten, sagte Goethe, der einen merkwuͤrdigen Eingang hat und wo¬ von ich Ihnen erzaͤhlen muß.“ „Ich habe eine Erfahrung gemacht, schreibt er, die mir nicht verloren seyn soll.“ Was aber folgt auf sol¬ chen Eingang? Es handelt sich um nichts Geringeres, als den Verlust von wenigstens Tausend Thalern. Den Schacht, wo es durch weicheren Boden und Gestein zwoͤlfhundert Fuß tief zum Steinsalz hinabgeht, hat er unvorsichtiger Weise an den Seiten nicht unterstuͤtzt; der weichere Boden hat sich abgeloͤst und die Grube unten so verschlaͤmmt, daß es jetzt einer hoͤchst kostspie¬ ligen Operation bedarf, um den Schlamm herauszu¬ bringen. Er wird sodann, die zwoͤlfhundert Fuß hin¬ unter, metallene Roͤhren einsetzen, um fuͤr die Folge vor einem aͤhnlichen Ungluͤck sicher zu seyn. Er haͤtte es gleich thun sollen, und er haͤtte es auch sicher gleich gethan, wenn solche Leute nicht eine Verwegenheit be¬ saͤßen, wovon man keinen Begriff hat, die aber dazu gehoͤrt, um eine solche Unternehmung zu wagen. Er ist aber durchaus ruhig bey dem Unfall und schreibt ganz getrost: „Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir nicht verloren seyn soll.“ Das nenne ich doch noch einen Menschen an dem man Freude hat, und der, ohne zu klagen, gleich wieder thaͤtig ist und immer auf den Fuͤßen steht. Was sagen Sie dazu, ist es nicht artig?“ Es erinnert mich an Sterne , antwortete ich, welcher beklagt, sein Leiden nicht wie ein vernuͤnftiger Mann be¬ nutzt zu haben. „Es ist etwas Ähnliches,“ sagte Goethe. Auch muß ich an Behrisch denken, fuhr ich fort, wie er Sie belehrt was Erfahrung sey, welches Capitel ich gerade dieser Tage zu abermaliger Erbauung gelesen: „Erfahrung aber ist, daß man erfahrend erfaͤhrt, was erfahren zu haben, man nicht gerne erfahren haben moͤchte.“ „Ja, sagte Goethe lachend, das sind die alten Spaͤße, womit wir so schaͤndlich unsere Zeit ver¬ darben!“ Behrisch, fuhr ich fort, scheint ein Mensch gewesen zu seyn voller Anmuth und Zierlichkeit. Wie artig ist der Spaß im Weinkeller, wo er Abends den jungen Menschen verhindern will zu seinem Liebchen zu gehen, und dieses auf die heiterste Weise vollbringt, in¬ dem er seinen Degen, umschnallet, bald so und bald so, so daß er Alle zum Lachen bringt, und den jungen Menschen die Stunde des Rendezvous daruͤber vergessen macht. „Ja, sagte Goethe, es war artig; es waͤre eine der anmuthigsten Scenen auf der Buͤhne, wie denn Behrisch uͤberall fuͤr das Theater ein guter Cha¬ racter war.“ Wir wiederholten darauf gespraͤchsweise alle die Wunderlichkeiten, die von Behrisch in Goethe's Leben erzaͤhlt werden. Seine graue Kleidung, wo Seide, Sammt und Wolle gegen einander eine abstechende Schattirung gemacht, und wie er darauf studirt habe, immer noch ein neues Grau auf seinen Koͤrper zu brin¬ gen. Dann wie er die Gedichte geschrieben, den Setzer nachgeaͤfft und den Anstand und die Wuͤrde des Schrei¬ benden hervorgehoben. Auch wie es sein Lieblings- Zeitvertreib gewesen, im Fenster zu liegen, die Vorbey¬ gehenden zu mustern und ihren Anzug in Gedanken so zu veraͤndern, daß es hoͤchst laͤcherlich gewesen seyn wuͤrde, wenn die Leute sich so gekleidet haͤtten. „Und dann sein gewoͤhnlicher Spaß mit dem Postboten, sagte Goethe, wie gefaͤllt Ihnen der, ist der nicht auch lustig?“ Der ist mir unbekannt, sagte ich, es steht davon nichts in Ihrem Leben. „Wunderlich! sagte Goethe, so will ich es Ihnen denn erzaͤhlen.“ „Wenn wir zusammen im Fenster lagen, Beh¬ risch in der Straße den Brieftraͤger kommen sah, wie er von einem Hause ins andere ging, nahm er gewoͤhn¬ lich einen Groschen aus der Tasche und legte ihn bey sich ins Fenster. Siehst Du den Brieftraͤger? sagte er dann zu mir gewendet, er kommt immer naͤher und wird gleich hier oben seyn, das sehe ich ihm an. Er hat einen Brief an Dich, und was fuͤr einen Brief, keinen gewoͤhn¬ lichen Brief, er hat einen Brief mit einem Wechsel, — mit einem Wechsel! ich will nicht sagen wie stark. — Siehst Du, jetzt kommt er herein. Nein! — Aber er wird gleich kommen. Da ist er wieder. Jetzt! — Hier! hier herein mein Freund! hier herein! — Er geht vor¬ bey? Wie dumm! o wie dumm! Wie kann einer nur so dumm seyn und so unverantwortlich handeln! So unverantwortlich in doppelter Hinsicht! Unverantwort¬ lich gegen Dich, indem er Dir den Wechsel nicht bringt, den er fuͤr Dich in Haͤnden hat, und ganz unverant¬ wortlich gegen sich selbst, indem er sich um einen Gro¬ schen bringt, den ich schon fuͤr ihn zurecht gelegt hatte und den ich nun wieder einstecke.“ So steckte er denn den Groschen mit hoͤchstem Anstande wieder in die Tasche und wir hatten etwas zu lachen.“ Ich freute mich dieses Scherzes, der den uͤbrigen vollkommen gleich sah. Ich fragte Goethe, ob er Beh¬ risch spaͤter nie wieder gesehen. „Ich habe ihn wieder gesehen, sagte Goethe, und zwar bald nach meiner Ankunft in Weimar, ungefaͤhr im Jahre 1776, wo ich mit dem Herzog eine Reise nach Dessau machte, wohin Behrisch von Leipzig aus als Erzieher des Erbprinzen berufen war. Ich fand ihn noch ganz wie sonst, als feinen Hofmann und vom besten Humor.“ Was sagte er dazu, fragte ich, daß Sie in der Zwischenzeit so beruͤhmt geworden? „Hab' ich es Dir nicht gesagt? war sein Erstes, war es nicht gescheidt, daß Du damals die Verse nicht drucken ließest, und daß Du gewartet hast bis Du etwas II . 12 ganz Gutes machtest? Freylich, schlecht waren damals die Sachen auch nicht, denn sonst haͤtte ich sie nicht geschrieben. Aber waͤren wir zusammen geblieben, so haͤttest Du auch die andern nicht sollen drucken lassen; ich haͤtte sie Dir auch geschrieben und es waͤre eben so gut gewesen.“ Sie sehen, er war noch ganz der Alte. Er war bey Hof sehr gelitten, ich sah ihn immer an der fuͤrstlichen Tafel.“ „Zuletzt habe ich ihn im Jahre 1801 gesehen, wo er schon alt war, aber immer noch in der besten Laune. Er bewohnte einige sehr schoͤne Zimmer im Schloß, de¬ ren eines er ganz mit Geranien angefuͤllt hatte, womit man damals eine besondere Liebhaberey trieb. Nun hatten aber die Botaniker unter den Geranien einige Unterscheidungen und Abtheilungen gemacht, und einer gewissen Sorte den Namen Pelargonien beygelegt. Daruͤber konnte sich nun der alte Herr nicht zufrieden geben und er schimpfte auf die Botaniker. „Die dum¬ men Kerle! sagte er; ich denke ich habe das ganze Zim¬ mer voll Geranien und nun kommen sie und sagen es seyen Pelargonien. Was thu ich aber damit wenn es keine Geranien sind, und was soll ich mit Pelar¬ gonien!“ So ging es nun halbe Stunden lang fort und Sie sehen, er war sich vollkommen gleich ge¬ blieben.“ Wir sprachen sodann uͤber die classische Walpurgis¬ nacht, deren Anfang Goethe mir vor einigen Tagen ge¬ lesen. „Der mythologischen Figuren, die sich hiebey zudraͤngen, sagte er, sind eine Unzahl; aber ich huͤte mich und nehme bloß solche, die bildlich den gehoͤrigen Eindruck machen. Faust ist jetzt mit dem Chiron zu¬ sammen und ich hoffe die Scene soll mir gelingen. Wenn ich mich fleißig dazu halte, kann ich in ein paar Monaten mit der Walpurgisnacht fertig seyn. Es soll mich nun aber auch nichts wieder vom Faust abbringen; denn es waͤre doch toll genug, wenn ich es erlebte ihn zu vollenden! Und moͤglich ist es; — der fuͤnfte Act ist so gut wie fertig, und der vierte wird sich sodann wie von selber machen.“ Goethe sprach darauf uͤber seine Gesundheit, und pries sich gluͤcklich, sich fortwaͤhrend vollkommen wohl zu befinden. „Daß ich mich jetzt so gut halte, sagte er, verdanke ich Vogel ; ohne ihn waͤre ich laͤngst abgefahren. Vogel ist zum Arzt wie geboren, und uͤber¬ haupt einer der genialsten Menschen, die mir je vorge¬ kommen sind. Doch wir wollen nicht sagen wie gut er ist, damit er uns nicht genommen werde.“ Sonntag, den 31. Januar 1830. Bey Goethe zu Tisch. Wir sprachen uͤber Mil¬ ton . „Ich habe vor nicht langer Zeit seinen Simson 12 * gelesen, sagte Goethe, der so im Sinne der Alten ist; wie kein anderes Stuͤck irgend eines neueren Dichters. Er ist sehr groß; und seine eigene Blindheit ist ihm zu Statten gekommen, um den Zustand Simsons mit sol¬ cher Wahrheit darzustellen. Milton war in der That ein Poet und man muß vor ihm allen Respect haben.“ Es kommen verschiedene Zeitungen, und wir sehen in den Berliner Theaternachrichten, daß man Seeunge¬ heuer und Wallfische auf dortige Buͤhne gebracht. Goethe liest in der franzoͤsischen Zeitschrift, le Temps , einen Artikel uͤber die enorme Besoldung der englischen Geistlichkeit, die mehr betraͤgt, als die in der ganzen uͤbrigen Christenheit zusammen. „Man hat behauptet, sagte Goethe, die Welt werde durch Zahlen regiert; das aber weiß ich, daß die Zahlen uns belehren ob sie gut oder schlecht regiert werde.“ Mittwoch, den 3. Februar 1830. Bey Goethe zu Tisch. Wir sprachen uͤber Mozart . „Ich habe ihn als siebenjaͤhrigen Knaben gesehen, sagte Goethe, wo er auf einer Durchreise ein Concert gab. Ich selber war etwa vierzehn Jahr alt, und ich erinnere mich des kleinen Mannes in seiner Frisur und De¬ gen noch ganz deutlich.“ Ich machte große Augen, und es war mir ein halbes Wunder zu hoͤren, daß Goethe alt genug sey, um Mozart als Kind gesehen zu haben. Sonntag, den 7. Februar 1830. Mit Goethe zu Tisch. Mancherley Gespraͤche uͤber Fuͤrst Primas ; daß er ihn an der Tafel der Kaiserin von Östreich durch eine geschickte Wendung zu vertheidi¬ gen gewagt. Des Fuͤrsten Unzulaͤnglichkeit in der Phi¬ losophie, sein dilettantischer Trieb zur Malerey, ohne Geschmack. Bild, der Miß Gore geschenkt. Seine Gutherzigkeit und Weichheit, Alles wegzugeben, so daß er zuletzt in Armuth dagestanden. Gespraͤche uͤber den Begriff des Desobligeanten. Nach Tisch stellt sich der junge Goethe, mit Walter und Wolf, in seinem Maskenanzuge als Klingsohr dar und faͤhrt an Hof. Mittwoch, den 10. Februar 1830. Mit Goethe zu Tisch. Er sprach mit wahrer Aner¬ kennung uͤber das Festgedicht Riemers zur Feyer des 2. Februar. „Überall, fuͤgte Goethe hinzu, was Riemer macht, kann sich vor Meister und Gesellen sehen lassen.“ Wir sprachen sodann uͤber die classische Walpurgis¬ nacht, und daß er dabey auf Dinge komme, die ihn sel¬ ber uͤberraschen. Auch gehe der Gegenstand mehr aus¬ einander als er gedacht. „Ich habe jetzt etwas uͤber die Haͤlfte, sagte er, aber ich will mich dazu halten und hoffe bis Ostern fertig zu seyn. Sie sollen fruͤher nichts weiter davon sehen, aber sobald es fertig ist, gebe ich es Ihnen mit nach Hause, damit Sie es in der Stille pruͤfen. Wenn Sie nun den 38sten und 39sten Band zusammenstellten, so daß wir Ostern die letzte Lieferung absenden koͤnnten, so waͤre es huͤbsch und wir haͤtten den Sommer zu et¬ was Großem frey. Ich wuͤrde im Faust bleiben und den vierten Act zu uͤberwinden suchen.“ Ich freute mich dazu und versprach ihm meinerseits jeden Beystand. Goethe schickte darauf seinen Bedienten, um sich nach der Großherzogin Mutter zu erkundigen, die sehr krank geworden und deren Zustand ihm bedenklich schien. „Sie haͤtte den Maskenzug nicht sehen sollen, sagte er; aber fuͤrstliche Personen sind gewohnt ihren Willen zu haben, und so ist denn alles Protestiren des Hofes und der Ärzte vergeblich gewesen. Dieselbige Willens¬ kraft, mit der sie Napoleon widerstand, setzt sie auch ihrer koͤrperlichen Schwaͤche entgegen; und so sehe ich es schon kommen: sie wird hingehen, wie der Großher¬ zog, in voller Kraft und Herrschaft des Geistes, wenn der Koͤrper schon aufgehoͤrt haben wird zu gehorchen.“ Goethe schien sichtbar betruͤbt und war eine Weile stille. Bald aber sprachen wir wieder uͤber heitere Dinge, und er erzaͤhlte mir von einem Buch, zur Rechtfertigung von Hudson Lowe geschrieben. „Es sind darin Zuͤge der kostbarsten Art, sagte er, die nur von unmittelbaren Augenzeugen herruͤhren koͤn¬ nen. Sie wissen, Napoleon trug gewoͤhnlich eine dun¬ kelgruͤne Uniform. Von vielem Tragen und Sonne war sie zuletzt voͤllig unscheinbar geworden, so daß die Nothwendigkeit gefuͤhlt wurde, sie durch eine andere zu ersetzen. Er wuͤnschte dieselbe dunkelgruͤne Farbe, allein auf der Insel waren keine Vorraͤthe dieser Art; es fand sich zwar ein gruͤnes Tuch, allein die Farbe war unrein und fiel ins Gelbliche. Eine solche Farbe auf seinen Leib zu nehmen, war nun dem Herrn der Welt un¬ moͤglich, und es blieb ihm nichts uͤbrig, als seine alte Uniform wenden zu lassen und sie so zu tragen.“ — „Was sagen Sie dazu? Ist es nicht ein vollkom¬ men tragischer Zug? Ist es nicht ruͤhrend, den Herrn der Koͤnige zuletzt soweit reducirt zu sehen, daß er eine gewendete Uniform tragen muß? Und doch, wenn man bedenkt, daß ein solches Ende einen Mann traf, der das Leben und Gluͤck von Millionen mit Fuͤßen getreten hatte, so ist das Schicksal, das ihm widerfuhr, immer noch sehr milde; es ist eine Nemesis, die nicht umhin kann, in Erwaͤgung der Groͤße des Helden, immer noch ein wenig galant zu seyn. Napoleon giebt uns ein Beyspiel, wie gefaͤhrlich es sey, sich ins Absolute zu erheben und alles der Ausfuͤhrung einer Idee zu opfern.“ Wir sprachen noch manches dahin Bezuͤgliche, und ich ging darauf ins Theater um den Stern von Sevilla zu sehen. Sonntag, den 14. Februar 1830. Diesen Mittag auf meinem Wege zu Goethe, der mich zu Tisch eingeladen hatte, traf mich die Nachricht von dem so eben erfolgten Tode der Großherzogin Mutter . Wie wird das bey seinem hohen Alter auf Goethe wirken! war mein erster Gedanke, und so betrat ich mit einiger Apprehension das Haus. Die Diener¬ schaft sagte mir, daß seine Schwiegertochter so eben zu ihm gegangen sey, um ihm die betruͤbende Botschaft mitzutheilen. Seit laͤnger als funfzig Jahren, sagte ich mir, ist er dieser Fuͤrstin verbunden gewesen, er hat ihrer besonderen Huld und Gnade sich zu erfreuen ge¬ habt, ihr Tod muß ihn tief beruͤhren. Mit solchen Ge¬ danken trat ich zu ihm ins Zimmer; allein ich war nicht wenig uͤberrascht, ihn vollkommen heiter und kraͤf¬ tig mit seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln am Tisch sitzen und seine Suppe essen zu sehen, als ob eben nichts passirt waͤre. Wir sprachen ganz heiter fort uͤber gleichguͤltige Dinge; nun fingen alle Glocken der Stadt an zu laͤuten; Frau v. Goethe blickte mich an und wir redeten lauter, damit die Toͤne der Todes- Glocken sein Inneres nicht beruͤhren und erschuͤttern moͤchten; denn wir dachten er empfaͤnde wie wir. Er empfand aber nicht wie wir, es stand in seinem Innern gaͤnzlich anders. Er saß vor uns, gleich einem Wesen hoͤherer Art, von irdischen Leiden unberuͤhrbar. Hofrath Vogel ließ sich melden; er setzte sich zu uns und erzaͤhlte die einzelnen Umstaͤnde von dem Hinscheiden der hohen Verewigten, welches Goethe in seiner bisherigen voll¬ kommensten Ruhe und Fassung aufnahm. Vogel ging wieder und wir setzten unser Mittagsessen und Gespraͤche fort. Auch vom Chaos war viel die Rede, und Goethe pries die Betrachtungen uͤber das Spiel , in der letzten Nummer, als ganz vorzuͤglich. Als Frau v. Goethe mit ihren Soͤhnen hinaufgegangen war blieb ich mit Goethe allein. Er erzaͤhlte mir von seiner classi¬ schen Walpurgisnacht, daß er damit jeden Tag weiter komme, und daß ihm wunderbare Dinge uͤber die Er¬ wartung gelaͤngen. Dann zeigte er mir einen Brief des Koͤnigs von Bayern , den er heute erhalten und den ich mit großem Interesse las. Die edle treue Ge¬ sinnung des Koͤnigs sprach sich in jeder Zeile aus, und Goethen schien es besonders wohl zu thun, daß der Koͤnig gegen ihn sich fortwaͤhrend so gleich bleibe. Hof¬ rath Soret ließ sich melden und setzte sich zu uns. Er kam mit beruhigenden Trostesworten der Kaiserlichen Hoheit an Goethe, die dazu beytrugen, dessen heiter¬ gefaßte Stimmung noch zu erhoͤhen. Goethe setzt seine Gespraͤche fort; er erwaͤhnt die beruͤhmte Ninon de Lenclos , die in ihrem sechzehnten Jahre bey großer Schoͤnheit dem Tode nahe gewesen, und die Umstehen¬ den in voͤlliger Fassung mit den Worten getroͤstet habe: Was ist's denn weiter? lasse ich doch lauter Sterbliche zuruͤck! — Übrigens habe sie fortgelebt und sey neunzig Jahr alt geworden, nachdem sie bis in ihr achtzigstes hunderte von Liebhabern begluͤckt und zur Verzweiflung gebracht. Goethe spricht darauf uͤber Gozzi und dessen Thea¬ ter zu Venedig, wobey die improvisirenden Schauspieler bloß die Suͤjets erhielten. Gozzi habe die Meinung gehabt, es gebe nur sechs und dreyßig tragische Situa¬ tionen; Schiller habe geglaubt, es gebe mehr, allein es sey ihm nicht einmal gelungen, nur so viele zu finden. Sodann manches Interessante uͤber Grimm , dessen Geist und Character und sehr geringes Vertrauen zum Papiergelde. Mittwoch, den 17. Februar 1830. Wir sprachen uͤber das Theater, und zwar uͤber die Farben der Decorationen und Anzuͤge. Das Resultat war folgendes. Im Allgemeinen sollen die Decorationen einen fuͤr jede Farbe der Anzuͤge des Vordergrundes guͤnstigen Ton haben, wie die Decorationen von Beuther , welche mehr oder weniger ins Braͤunliche fallen und die Far¬ ben der Gewaͤnder in aller Frische heraussetzen. Ist aber der Decorationsmaler von einem so guͤnstigen un¬ bestimmten Tone abzuweichen genoͤthigt, und ist er in dem Fall, etwa ein rothes oder gelbes Zimmer, ein weißes Zelt, oder einen gruͤnen Garten darzustellen, so sollen die Schauspieler klug seyn und in ihren Anzuͤgen dergleichen Farben vermeiden. Tritt ein Schauspieler mit einer rothen Uniform und gruͤnen Beinkleidern in ein rothes Zimmer, so verschwindet der Oberkoͤrper und man sieht bloß die Beine; tritt er mit demselbigen An¬ zuge in einen gruͤnen Garten, so verschwinden seine Beine und sein Oberkoͤrper geht auffallend hervor. So sah ich einen Schauspieler mit weißer Uniform und ganz dunkelen Beinkleidern, dessen Oberkoͤrper, in einem wei¬ ßen Zelt, und dessen Beine, auf einem dunkelen Hin¬ tergrund, gaͤnzlich verschwanden. „Und selbst, fuͤgte Goethe hinzu, wenn der Deco¬ rationsmaler in dem Fall waͤre, ein rothes oder gelbes Zimmer, oder einen gruͤnen Garten oder Wald zu ma¬ chen, so sollen diese Farben immer etwas schwach und duftig gehalten werden, damit jeder Anzug im Vorder¬ grunde sich abloͤse und die gehoͤrige Wirkung thue.“ Wir sprechen uͤber die Ilias , und Goethe macht mich auf das schoͤne Motiv aufmerksam, daß der Achill eine Zeitlang in Unthaͤtigkeit versetzt werde, damit die uͤbrigen Helden zum Vorschein kommen und sich ent¬ wickeln moͤgen. Von seinen Wahlverwandtschaften sagt er, daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden. Dasselbe von der Geschichte in Sesenheim. Nach Tisch ein Portefeuille der niederlaͤndischen Schule durchgesehen. Ein Hafenstuͤck, wo Maͤnner auf der einen Seite frisches Wasser einnehmen und auf der andern Wuͤrfel auf einer Tonne spielen, gab Anlaß zu schoͤnen Betrachtungen, wie das Reale vermieden, um der Wir¬ kung der Kunst nicht zu schaden. Der Deckel der Tonne hat das Hauptlicht; die Wuͤrfel sind geworfen, wie man an den Geberden der Maͤnner sieht, aber sie sind auf der Flaͤche des Deckels nicht gezeichnet, weil sie das Licht unterbrochen und also nachtheilig gewirkt haben wuͤrden. Sodann die Studien von Ruysdael zu seinem Kirch¬ hof betrachtet, woraus man sah, welche Muͤhe sich ein solcher Meister gegeben. Sonntag, den 21. Februar 1830. Mit Goethe zu Tisch. Er zeigt mir die Luftpflanze die ich mit großem Interesse betrachte. Ich bemerke darin ein Bestreben, ihre Existenz so lange wie moͤglich fortzusetzen, ehe sie einem folgenden Individuum erlaubt, sich zu manifestiren. „Ich habe mir vorgenommen, sagte Goethe darauf, in vier Wochen so wenig den Temps als Globe zu lesen. Die Sachen stehen so, daß sich innerhalb dieser Periode etwas ereignen muß, und so will ich die Zeit erwarten, bis mir von Außen eine solche Nachricht kommt. Meine classische Walpurgisnacht wird dabey gewinnen, und ohnehin sind Jenes Interessen wovon man nichts hat, welches in manchen Faͤllen nicht genug bedacht wird.“ Er giebt mir sodann einen Brief von Boisser é e aus Muͤnchen, der ihm Freude gemacht und den ich gleichfalls mit hohem Vergnuͤgen lese. Boisser é e spricht besonders uͤber den zweyten Aufenthalt in Rom , so wie uͤber einige Punkte des letzten Heftes von Kunst und Alterthum. Er urtheilt uͤber diese Dinge so wohl¬ wollend als gruͤndlich, und wir finden Veranlassung, uͤber die seltene Bildung und Thaͤtigkeit dieses bedeu¬ tenden Mannes viel zu reden. Goethe erzaͤhlt mir darauf von einem neuen Bilde von Cornelius , als sehr brav durchdacht und ausge¬ fuͤhrt, und es kommt zur Sprache, daß die Gelegenheit zur guten Faͤrbung eines Bildes in der Composition liege. Spaͤter, auf einem Spaziergange, kommt mir die Luftpflanze wieder vor die Seele, und ich habe den Ge¬ danken, daß ein Wesen seine Existenz fortsetzt so lange es geht, dann aber sich zusammennimmt, um wieder seines Gleichen hervorzubringen. Es erinnert mich dieses Naturgesetz an jene Legende, wo wir uns die Gottheit im Urbeginn der Dinge alleine denken, sodann aber den Sohn erschaffend, welcher ihr gleich ist. So auch ha¬ ben gute Meister nichts Angelegentlicheres zu thun, als sich gute Schuͤler zu bilden, in denen sie ihre Grund¬ saͤtze und Thaͤtigkeiten fortgesetzt sehen. Nicht weniger ist jedes Werk eines Kuͤnstlers, oder Dichters, als sei¬ nes Gleichen zu betrachten, und in demselbigen Grade, wie ein solches Werk vortrefflich ist, wird der Kuͤnstler oder Dichter vortrefflich gewesen seyn, da er es machte. Ein treffliches Werk eines Andern soll daher niemals Neid in mir erregen, indem es mich auf einen vortreff¬ lichen Menschen zuruͤckschließen laͤßt, der es zu machen werth war. Mittwoch, den 24. Februar 1830. Mit Goethe zu Tisch. Wir sprechen uͤber den Ho¬ mer . Ich bemerke, daß sich die Einwirkung der Goͤt¬ ter unmittelbar ans Reale anschließe. — „Es ist un¬ endlich zart und menschlich, sagte Goethe, und ich danke Gott, daß wir aus den Zeiten heraus sind, wo die Franzosen diese Einwirkung der Goͤtter Maschinerie nannten. Aber freylich! so ungeheure Verdienste nach¬ zuempfinden, bedurfte einiger Zeit, denn es erforderte eine gaͤnzliche Umwandlung ihrer Cultur.“ Goethe sagte mir sodann, daß er in die Erscheinung der Helena noch einen Zug hineingebracht, um ihre Schoͤnheit zu erhoͤhen, welches durch eine Bemerkung von mir veranlaßt worden, und meinem Gefuͤhl zur Ehre gereiche. Nach Tisch zeigte Goethe mir den Umriß eines Bil¬ des von Cornelius : den Orpheus vor Pluto's Throne darstellend, um die Eurydice zu befreyen. Das Bild erschien uns wohl uͤberlegt und das Einzelne vortreff¬ lich gemacht, doch wollte es nicht recht befriedigen und dem Gemuͤth kein rechtes Behagen geben. Vielleicht, dachten wir, bringt die Faͤrbung eine groͤßere Harmo¬ nie hinein; vielleicht auch waͤre der folgende Moment guͤnstiger gewesen, wo Orpheus uͤber das Herz des Pluto bereits gesiegt hat und ihm die Eurydice zuruͤck¬ gegeben wird. Die Situation haͤtte sodann nicht mehr das Gespannte, Erwartungsvolle, vielmehr wuͤrde sie vollkommene Befriedigung gewaͤhren. Montag, den 1. Maͤrz 1830. Bey Goethe zu Tisch mit Hofrath Voigt aus Jena. Die Unterhaltung geht um lauter naturhistori¬ sche Gegenstaͤnde, wobey Hofrath Voigt die vielseitigsten Kenntnisse entwickelt. Goethe erzaͤhlt, daß er einen Brief erhalten, mit der Einwendung, daß die Cotyle¬ donen keine Blaͤtter seyen, und zwar, weil sie kein Auge hinter sich haͤtten. Wir uͤberzeugen uns aber an verschiedenen Pflanzen, daß die Cotyledonen allerdings Augen hinter sich haben, so gut wie jedes folgende Blatt. Voigt sagt, daß das Aper ç uͤ von der Metamor¬ phose der Pflanze eine der fruchtbarsten Entdeckungen sey, welche die neuere Zeit im Fache der Naturforschung erfahren. Wir reden uͤber Sammlungen ausgestopfter Voͤgel, wobey Goethe erzaͤhlt, daß ein Englaͤnder mehrere Hun¬ derte lebendiger Voͤgel in großen Behaͤltern gefuͤttert habe. Von diesen seyen einige gestorben und er habe sie ausstopfen lassen. Diese ausgestopften haͤtten ihm nun so gefallen, daß ihm der Gedanke gekommen: ob es nicht besser sey, sie alle todtschlagen und ausstopfen zu lassen, welchen Gedanken er denn auch alsobald aus¬ gefuͤhrt habe. Hofrath Voigt erzaͤhlt, daß er im Begriff sey Cu¬ viers Naturgeschichte, in fuͤnf Baͤnden, zu uͤbersetzen und mit Ergaͤnzungen und Erweiterungen herauszu¬ geben. Nach Tische, als Voigt gegangen war, zeigt Goethe mir das Manuscript seiner Walpurgisnacht, und ich bin erstaunt uͤber die Staͤrke, zu der es in den wenigen Wochen herangewachsen. Mittwoch, den 3. Maͤrz 1830. Mit Goethe vor Tisch spazieren gefahren. Er spricht guͤnstig uͤber mein Gedicht in Bezug auf den Koͤnig von Bayern , indem er bemerkt, daß Lord Byron vortheilhaft auf mich gewirkt. Mir fehle jedoch noch dasjenige was man Convenienz heiße, worin Voltaire so groß gewesen. Diesen wolle er mir zum Muster vor¬ schlagen. Darauf bey Tisch reden wir viel uͤber Wieland , besonders uͤber den Oberon , und Goethe ist der Mei¬ nung, daß das Fundament schwach sey, und der Plan vor der Ausfuͤhrung nicht gehoͤrig gegruͤndet worden. Daß zur Herbeyschaffung der Barthaare und Backen¬ II . 13 zaͤhne ein Geist benutzt werde, sey gar nicht wohl er¬ funden, besonders weil der Held sich dabey ganz unthaͤ¬ tig verhalte. Die anmuthige, sinnliche und geistreiche Ausfuͤhrung des großen Dichters aber mache das Buch dem Leser so angenehm, daß er an das eigentliche Fun¬ dament nicht weiter denke und daruͤber hinauslese. Wir reden fort uͤber viele Dinge und so kommen wir auch wieder auf die Entelechie. „Die Hartnaͤckig¬ keit des Individuums und daß der Mensch abschuͤttelt was ihm nicht gemaͤß ist, sagte Goethe, ist mir ein Beweis daß so etwas existire.“ Ich hatte seit einigen Minuten dasselbige gedacht und sagen wollen, und so war es mir doppelt lieb, daß Goethe es aussprach, „ Leibnitz , fuhr er fort, hat aͤhnliche Gedanken uͤber solche selbststaͤndige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Mo¬ naden.“ Ich nahm mir vor das Weitere daruͤber in Leibnitz an Ort und Stelle nachzulesen. Sonntag, den 7. Maͤrz 1830. Um zwoͤlf Uhr zu Goethe, den ich heute besonders frisch und kraͤftig fand. Er eroͤffnete mir, daß er seine classische Walpurgisnacht habe zuruͤcklegen muͤssen, um die letzte Lieferung fertig zu machen. „Hiebey aber, sagte er, bin ich klug gewesen, daß ich aufgehoͤrt habe, wo ich noch in gutem Zuge war, und noch viel bereits Erfundenes zu sagen hatte. Auf diese Weise laͤßt sich viel leichter wieder anknuͤpfen, als wenn ich so lange fortgeschrieben haͤtte bis es stockte.“ Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre. Es war die Absicht gewesen, vor Tisch eine Spazier¬ fahrt zu machen; allein wir fanden es beyderseits so angenehm im Zimmer, daß die Pferde abbestellt wurden. Unterdessen hatte der Bediente Friedrich eine große von Paris angekommene Kiste ausgepackt. Es war eine Sendung vom Bildhauer David , in Gips abge¬ gossene Portraits, Basreliefs, von sieben und funfzig beruͤhmten Personen. Friedrich trug die Abguͤsse in ver¬ schiedenen Schieblaͤden herein, und es gab große Unter¬ haltung, alle die interessanten Persoͤnlichkeiten zu be¬ trachten. Besonders erwartungsvoll war ich auf M é ¬ rim é e ; der Kopf erschien so kraͤftig und verwegen, wie sein Talent, und Goethe bemerkte, daß er etwas Hu¬ moristisches habe. Victor Hugo , Alfred de Vigny , Emile Deschamps , zeigten sich als reine, freye, heitere Koͤpfe. Auch erfreuten uns die Portraits der Demoiselle Gay , der Madame Tastuͤ und anderer jun¬ ger Schriftstellerinnen. Das kraͤftige Bild von Fabvier erinnerte an Menschen fruͤherer Jahrhunderte, und wir hatten Genuß, es wiederholt zu betrachten. So gingen 13 * wir von einer bedeutenden Person zur andern, und Goethe konnte nicht umhin wiederholt zu aͤußern, daß er durch diese Sendung von David einen Schatz besitze, wofuͤr er dem trefflichen Kuͤnstler nicht genug danken koͤnne. Er werde nicht unterlassen, diese Sammlung Durchreisenden vorzuzeigen und sich muͤndlich uͤber ein¬ zelne ihm noch unbekannte Personen unterrichten zu lassen. Auch Buͤcher waren in der Kiste verpackt gewesen, die er in die vorderen Zimmer tragen ließ, wohin wir folgten und uns zu Tisch setzten. Wir waren heiter und sprachen von Arbeiten und Vorsaͤtzen hin und her. „Es ist nicht gut daß der Mensch alleine sey, sagte Goethe, und besonders nicht daß er alleine arbeite; viel¬ mehr bedarf er der Theilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll. Ich verdanke Schillern die Achil¬ leïs und viele meiner Balladen , wozu er mich ge¬ trieben, und Sie koͤnnen es sich zurechnen, wenn ich den zweyten Theil des Faust zu Stande bringe. Ich habe es Ihnen schon oft gesagt, aber ich muß es wie¬ derholen, damit Sie es wissen.“ Ich freute mich dieser Worte, im Gefuͤhl daß daran viel Wahres seyn moͤge. Beym Nachtisch oͤffnete Goethe eins der Pakete. Es waren die Gedichte von Emile Deschamps , begleitet von einem Brief den Goethe mir zu lesen gab. Hier sah ich nun zu meiner Freude, welcher Einfluß Goethen auf das neue Leben der franzoͤsischen Literatur zugestanden wird, und wie die jungen Dichter ihn als ihr geistiges Oberhaupt verehren und lieben. So hatte in Goethe's Jugend Shakspeare gewirkt. Von Vol¬ taire laͤßt sich nicht sagen, daß er auf junge Poeten des Auslandes einen Einfluß der Art gehabt, daß sie sich in seinem Geist versammelten und ihn als ihren Herrn und Meister erkannten. Überall war der Brief von Emile Deschamps mit sehr liebenswuͤrdiger herzli¬ cher Freyheit geschrieben. „Man blickt in den Fruͤhling eines schoͤnen Gemuͤths,“ sagte Goethe. Ferner befand sich unter der Sendung von David ein Blatt mit dem Hute Napoleons , in den ver¬ schiedensten Stellungen. „Das ist etwas fuͤr meinen Sohn,“ sagte Goethe, und sendete das Blatt schnell hinauf. Es verfehlte auch seine Wirkung nicht, indem der junge Goethe sehr bald herunter kam, und voller Freude diese Huͤte seines Helden fuͤr das non plus ultra seiner Sammlung erklaͤrte. Ehe fuͤnf Minuten vergin¬ gen befand sich das Bild unter Glas und Rahmen und an seinem Ort, unter den uͤbrigen Attributen und Denkmaͤlern des Helden. Dienstag, den 16. Maͤrz 1830. Morgens besucht mich Herr v. Goethe und eroͤffnet mir, daß seine lange beabsichtigte Reise nach Italien entschieden, daß von seinem Vater die noͤthigen Gelder bewilligt worden, und daß er wuͤnsche daß ich mitgehe. Wir freuen uns gemeinschaftlich uͤber diese Nachricht und bereden viel wegen der Vorbereitung. Als ich darauf gegen Mittag bey Goethe's Hause vorbeygehe, winkt Goethe mir am Fenster, und ich bin schnell zu ihm hinauf. Er ist in den vorderen Zimmern und sehr heiter und frisch. Er faͤngt sogleich an von der Reise seines Sohnes zu reden, daß er sie billige, sie vernuͤnftig finde, und sich freue daß ich mitgehe. „Es wird fuͤr Euch beyde gut seyn, sagte er, und Ihre Cultur insbesondere wird sich nicht schlecht dabey be¬ finden.“ Er zeigt mir sodann einen Christus mit zwoͤlf Aposteln , und wir reden uͤber das Geistlose solcher Figuren, als Gegenstaͤnde der Darstellung fuͤr den Bild¬ hauer. „Der eine Apostel, sagte Goethe, ist immer ungefaͤhr wie der andere, und die wenigsten haben Leben und Thaten hinter sich, um ihnen Character und Be¬ deutung zu geben. Ich habe mir bey dieser Gelegen¬ heit den Spaß gemacht, einen Cyclus von zwoͤlf bibli¬ schen Figuren zu erfinden, wo jede bedeutend, jede an¬ ders und daher jede ein dankbarer Gegenstand fuͤr den Kuͤnstler ist.“ „Zuerst Adam , der schoͤnste Mann, so vollkommen wie man sich ihn nur zu denken faͤhig ist. Er mag die eine Hand auf einen Spaten legen, als ein Symbol, daß der Mensch berufen sey die Erde zu bauen.“ „Nach ihm Noah , womit wieder eine neue Schoͤpfung angeht. Er cultivirt den Weinstock, und man kann die¬ ser Figur etwas von einem indischen Bachus geben.“ „Naͤchst diesem Moses , als ersten Gesetzgeber.“ „Sodann David , als Krieger und Koͤnig.“ „Auf diesen Jesaias , ein Fuͤrst und Prophet.“ „ Daniel sodann, der auf Christus, den kuͤnfti¬ gen , hindeutet.“ „ Christus .“ „Ihm zunaͤchst Johannes , der den gegenwaͤrti¬ gen liebt. Und so waͤre denn Christus von zwey jugend¬ lichen Figuren eingeschlossen, von denen der eine (Daniel) sanft und mit langen Haaren zu bilden waͤre, der an¬ dere (Johannes) leidenschaftlich mit kurzem Lockenhaar. Nun, auf den Johannes, wer kommt?“ „Der Hauptmann von Capernaum , als Re¬ praͤsentant der Glaͤubigen, eine unmittelbare Huͤlfe Er¬ wartenden.“ „Auf diesen die Magdalena , als Symbol der reuigen, der Vergebung beduͤrfenden, der Besserung sich zuwendenden Menschheit. In welchen beyden Figuren der Inbegriff des Christenthums enthalten waͤre.“ „Dann mag Paulus folgen, welcher die Lehre am kraͤftigsten verbreitet hat.“ „Auf diesen Jacobus , der zu den entferntesten Voͤlkern ging, und die Missionaire repraͤsentirt.“ „ Petrus machte den Schluß. Der Kuͤnstler muͤßte ihn in die Naͤhe der Thuͤr stellen und ihm einen Aus¬ druck geben, als ob er die Hereintretenden forschend be¬ trachte, ob sie denn auch werth seyen, das Heiligthum zu betreten.“ „Was sagen Sie zu diesem Cyclus? — Ich daͤchte er waͤre reicher als die zwoͤlf Apostel, wo jeder aussieht wie der andere. Den Moses und die Magdalene wuͤrde ich sitzend bilden.“ Ich war sehr gluͤcklich dieses Alles zu hoͤren und bat Goethe, daß er es zu Papier bringen moͤge, wel¬ ches er mir versprach. „Ich will es noch alles durch¬ denken, sagte er, und es dann nebst andern neuesten Dingen Ihnen zum neununddreyßigsten Band geben.“ Mittwoch, den 17. Maͤrz 1830. Mit Goethe zu Tisch. Ich sprach mit ihm uͤber eine Stelle in seinen Gedichten, ob es heißen muͤsse: „Wie es dein Priester Horaz in der Entzuͤckung verhieß“ wie in allen aͤlteren Ausgaben steht; oder: „Wie es dein Priester Properz ꝛc.“ welches die neue Ausgabe hat. „Zu dieser letzteren Lesart, sagte Goethe, habe ich mich durch Goͤttling verleiten lassen. Priester Pro¬ perz klingt zudem schlecht, und ich bin daher fuͤr die fruͤhere Lesart.“ So, sagte ich, stand auch in dem Manuscript Ihrer Helena, daß Theseus sie entfuͤhret als ein zehenjaͤh¬ rig schlankes Reh. Auf Goͤttling's Einwendungen da¬ gegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjaͤh¬ rig schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl fuͤr das schoͤne Maͤdchen, als fuͤr die Zwillingsbruͤder Castor und Pollux, die sie befreyen. Das Ganze liegt ja so in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann wie alt sie eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so versatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am bequemsten und huͤbschesten ist. „Sie haben Recht, sagte Goethe; ich bin auch dafuͤr, daß sie zehn Jahr alt gewesen sey als Theseus sie entfuͤh¬ ret, und ich habe daher auch spaͤter geschrieben: vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt. In der kuͤnf¬ tigen Ausgabe moͤgt Ihr daher aus dem siebenjaͤhrigen Reh immer wieder ein zehnjaͤhriges machen.“ Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwey frische Hefte von Neureuther , nach seinen Balladen, und wir be¬ wunderten vor allen den freyen heitern Geist des lie¬ benswuͤrdigen Kuͤnstlers. Sonntag, den 21. Maͤrz 1830. Mit Goethe zu Tisch. Er spricht zunaͤchst uͤber die Reise seines Sohnes, und daß wir uns uͤber den Er¬ folg keine zu große Illusion machen sollen. „Man kommt gewoͤhnlich zuruͤck wie man gegangen ist, sagte er, ja man muß sich huͤten, nicht mit Gedanken zuruͤck¬ zukommen, die spaͤter fuͤr unsere Zustaͤnde nicht passen. So brachte ich aus Italien den Begriff der schoͤnen Treppen zuruͤck, und ich habe dadurch offenbar mein Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner ausgefallen sind als sie haͤtten sollen. Die Hauptsache ist, daß man lerne sich selbst zu beherrschen. Wollte ich mich ungehindert gehen lassen, so laͤge es wohl in mir, mich selbst und meine Umgebung zu Grunde zu richten.“ Wir sprachen sodann uͤber krankhafte koͤrperliche Zu¬ staͤnde, und uͤber die Wechselwirkung zwischen Koͤrper und Geist. „Es ist unglaublich, sagte Goethe, wie viel der Geist zur Erhaltung des Koͤrpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibes, allein der geistige Wille und die Kraͤfte des oberen Theiles halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Koͤrper nicht nach¬ geben! — So arbeite ich bey hohem Barometerstande leichter als bey tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich, bey tiefem Barometer, durch groͤßere Anstrengung die nachtheilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir.“ „In der Poesie jedoch lassen sich gewisse Dinge nicht zwingen, und man muß von guten Stunden er¬ warten, was durch geistigen Willen nicht zu erreichen ist. So lasse ich mir jetzt in meiner Walpurgisnacht Zeit, damit Alles die gehoͤrige Kraft und Anmuth erhalten moͤge. Ich bin gut vorgeruͤckt und hoffe es zu vollen¬ den bevor Sie gehen.“ „Was darin von Piquen vorkommt, habe ich so von den besonderen Gegenstaͤnden abgeloͤst und ins All¬ gemeine gespielt, daß es zwar dem Leser nicht an Be¬ ziehungen fehlen, aber niemand wissen wird, worauf es eigentlich gemeint ist. Ich habe jedoch gestrebt, daß Alles, im antiken Sinne, in bestimmten Umrissen da¬ stehe, und daß nichts Vages, Ungewisses vorkomme, welches dem romantischen Verfahren gemaͤß seyn mag.“ „Der Begriff von classischer und romantischer Poesie, der jetzt uͤber die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht, fuhr Goethe fort, ist ur¬ spruͤnglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich hatte in der Poesie die Maxime des objectiven Verfah¬ rens, und wollte nur dieses gelten lassen. Schiller aber, der ganz subjectiv wirkte, hielt seine Art fuͤr die rechte, und, um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz uͤber naive und sentimentale Dichtung. Er be¬ wies mir, daß ich selber, wider Willen, romantisch sey, und meine Iphigenie , durch das Vorwalten der Em¬ pfindung, keineswegs so classisch und im antiken Sinne sey, als man vielleicht glauben moͤchte. Die Schlegel ergriffen die Idee und trieben sie weiter, so daß sie sich denn jetzt uͤber die ganze Welt ausgedehnt hat, und nun jedermann von Classicismus und Romanticismus redet, woran vor funfzig Jahren niemand dachte.“ Ich lenkte das Gespraͤch wieder auf den Cyclus der zwoͤlf Figuren, und Goethe sagte mir noch Einiges zur Ergaͤnzung. „Den Adam muͤßte man bilden wie ich gesagt, jedoch nicht ganz nackt, indem ich ihn mir am besten nach dem Suͤndenfall denke; man muͤßte ihn mit einem duͤnnen Rehfellchen bekleiden. Und zugleich, um auszu¬ druͤcken, daß er der Vater der Menschheit, so wuͤrde man wohl thun, ihm seinen aͤltesten Sohn beyzugeben, einen trotzigen, kuͤhn um sich blickenden Knaben, einen kleinen Herkules, in der Hand eine Schlange erdruͤckend.“ „Auch wegen Noah haben ich einen anderen Ge¬ danken gehabt, der mir besser gefaͤllt; ich wuͤrde ihn nicht dem indischen Bachus anaͤhneln, sondern ich wuͤrde ihn als Winzer darstellen, wobey man sich eine Art von Erloͤser denken koͤnnte, der, als erster Pfleger des Wein¬ stocks, die Menschheit von der Qual der Sorgen und Bedraͤngnisse frey machte.“ Ich war begluͤckt uͤber diese guten Gedanken und nahm mir vor sie zu notiren. Goethe zeigte mir sodann das Blatt von Neureu¬ ther zu seiner Legende vom Hufeisen. Der Kuͤnstler, sagte ich, hat dem Heiland nur acht Juͤnger beygegeben. „Und schon diese acht, fiel Goethe ein, waren ihm zu viel, und er hat sehr klug getrachtet, sie durch zwey Gruppen zu trennen und die Monotonie eines geistlosen Zuges zu vermeiden.“ Mittwoch, den 24. Maͤrz 1830. Bey Goethe zu Tisch in den heitersten Gespraͤchen. Er erzaͤhlt mir von einem franzoͤsischen Gedicht, das als Manuscript in der Sammlung von David mitge¬ kommen, unter dem Titel: le rire de Mirabeau . „Das Gedicht ist voller Geist und Verwegenheit, sagte Goethe, und Sie muͤssen es sehen. Es ist als haͤtte der Me¬ phistopheles dem Poeten dazu die Tinte praͤparirt. Es ist groß, wenn er es geschrieben, ohne den Faust gele¬ sen zu haben, und eben so groß, wenn er ihn ge¬ lesen.“ Mittwoch, den 21. April 1830. Ich nahm heute Abschied von Goethe, indem die Abreise nach Italien mit seinem Sohn dem Kammer¬ herrn auf morgen fruͤh bestimmt war. Wir sprachen manches auf die Reise Bezuͤgliche durch, besonders em¬ pfahl er mir, gut zu beobachten, und ihm dann und wann zu schreiben. Ich fuͤhlte eine gewisse Ruͤhrung Goethe zu verlassen; doch troͤstete mich der Anblick seiner festen Gesundheit, und die Zuversicht, ihn gluͤcklich wiederzusehen. Als ich ging schenkte er mir ein Stammbuch, worin er sich mit folgenden Worten eingeschrieben: „Es geht voruͤber eh' ich's gewahr werde, Und verwandelt sich eh' ich's merke.“ Hiob . Den Reisenden Weimar den 21. April 1830. Goethe . Frankfurt, Sonnabend den 24. April 1830. Ich machte gegen eilf Uhr einen Spaziergang um die Stadt und durch die Gaͤrten, nach dem Taunusge¬ birge zu, und freute mich an dieser herrlichen Natur und Vegetation. Vorgestern, in Weimar, waren die Baͤume noch in Knospen; hier aber fand ich die neuen Triebe der Kastanien schon einen Fuß lang, die der Linden eine Viertel-Elle; das Laub der Birken war schon dunkelgruͤn, die Eichen waren alle ausgeschlagen. Das Gras sah ich einen Fuß hoch, so daß am Thor mir Maͤdchen begegneten, die schwere Graskoͤrbe herein¬ trugen. Ich ging durch die Gaͤrten, um eine freye Ansicht des Taunusgebirges zu gewinnen; es war ein muntrer Wind, die Wolken zogen aus Suͤdwest, und warfen ihre Schatten auf das Gebirge, so wie sie nach Nordost vorbeyzogen. Zwischen den Gaͤrten sah ich einige Stoͤrche niedergehen, und sich wieder aufheben, welches in dem Sonnenschein, zwischen den ziehenden weißen Wolken und blauen Himmel, ein schoͤner Anblick war und den Character der Gegend vollendete. Als ich zuruͤckging, kamen mir vor dem Thore die schoͤnsten Kuͤhe entgegen, braun, weiß, gefleckt und von glaͤnzender Haut. Die hiesige Luft ist anmuthig und wohlthaͤtig, das Wasser von suͤßlichem Geschmack. Beefsteaks habe ich seit Hamburg nicht so gute gegessen als hier; auch freue ich mich uͤber das treffliche Weißbrod. Es ist Messe, und das Getreide und Geleyer und Gedudel auf der Straße geht vom Morgen bis spaͤt in die Nacht. Ein Savoyardenknabe war mir merkwuͤrdig, der eine Leyer drehte, und hinter sich einen Hund zog, auf welchem ein Affe ritt. Er pfiff und sang zu uns herauf, und reizte uns lange, ihm etwas zu geben. Wir warfen ihm hinunter, mehr als er erwarten konnte, und ich dachte er wuͤrde einen Blick des Dankes herauf¬ senden. Er that aber nicht dergleichen, sondern steckte sein Geld ein und blickte sogleich nach Anderen, die ihm geben sollten. Frankfurt, Sonntag den 25. April 1830. Wir machten diesen Morgen eine Spazierfahrt um die Stadt, in einem sehr eleganten Wagen unseres Wir¬ thes. Die reizenden Anlagen, die praͤchtigen Gebaͤude, der schoͤne Strom, die Gaͤrten und einladenden Garten¬ haͤuser erquickten die Sinne; ich machte jedoch bald die Bemerkung, daß es ein Beduͤrfniß des Geistes sey, den Gegenstaͤnden einen Gedanken abzugewinnen, und daß, ohne dieses, am Ende alles gleichguͤltig und ohne Be¬ deutung an uns voruͤbergehe. Mittags, an Table d'hôte , sah ich viele Gesichter, allein wenige von solchem Ausdruck, daß sie mir merk¬ wuͤrdig seyn konnten. Der Oberkellner jedoch interessirte mich in hohem Grade, so daß denn meine Augen nur ihm und seinen Bewegungen folgten. Und wirklich, er war ein merkwuͤrdiger Mensch! Gegen zweyhundert Gaͤste saßen wir an langen Tischen, und es klingt beynahe unglaublich, wenn ich sage, daß dieser Oberkellner fast allein die ganze Bedienung machte, indem er alle Ge¬ richte aufsetzte und abnahm, und die uͤbrigen Kellner ihm nur zureichten und aus den Haͤnden nahmen. Da¬ bey wurde nie etwas verschuͤttet, auch nie jemand der Speisenden beruͤhrt, sondern alles geschah luftartig, be¬ hende, wie durch Geistergewalt. Und so flogen Tau¬ send von Schuͤsseln und Tellern aus seinen Haͤnden auf den Tisch, und wiederum vom Tisch in die Haͤnde ihm folgender Bedienung. Ganz in seine Intention vertieft war der ganze Mensch bloß Blick und Hand, und er oͤffnete seine geschlossenen Lippen nur zu fluͤchtigen Ant¬ worten und Befehlen. Und er besorgte nicht bloß den Tisch, sondern auch die einzelnen Bestellungen an Wein und dergleichen; und dabey merkte er sich alles, so daß er am Ende der Tafel eines jeden Zeche wußte und das Geld eincassirte. Ich bewunderte den Überblick, die Gegenwart des Geistes und das große Gedaͤchtniß die¬ ses merkwuͤrdigen jungen Mannes. Dabey war er im¬ mer vollkommen ruhig und sich bewußt, und immer be¬ reit zu einem Scherz und einer geistreichen Erwiederung, so daß ein bestaͤndiges Laͤcheln auf seinen Lippen schwebte. Ein franzoͤsischer Rittmeister der alten Garde beklagte ihn gegen Ende der Tafel, daß die Damen sich entfern¬ ten; er antwortete schnell ablehnend: C'est pour vous autres; nous sommes sans passion. Das Franzoͤsische II . 14 sprach er vollkommen, ebenso das Englische, und man versicherte mich, daß er noch drey andere Sprachen in seiner Gewalt habe. Ich ließ mich spaͤter mit ihm in ein Gespraͤch ein, und hatte nach allen Seiten hin eine seltene Bildung an ihm zu schaͤtzen. Abends im Don Juan hatten wir Ursache, mit Liebe an Weimar zu denken. Im Grunde waren alles gute Stimmen und huͤbsche Talente, allein sie spielten und redeten fast alle wie Naturalisten, die keinem Meister etwas schuldig geworden. Sie waren undeutlich, und thaten als ob kein Publicum da waͤre. Das Spiel eini¬ ger Personen gab zu der Bemerkung Anlaß, daß das Unedle, ohne Character, sogleich gemein und unertraͤg¬ lich werde, waͤhrend es durch Character sich sogleich in die hoͤhere Sphaͤre der Kunst erhebt. Das Publicum war sehr laut und ungestuͤm, und es fehlte nicht an vielfaͤltigem Da Capo- und Hervorgerufe. Der Zerline ging es gut und uͤbel zugleich, indem die eine Haͤlfte des Hauses zischte, waͤhrend die andere applaudirte, so daß sich die Parteyen steigerten, und es jedesmal mit einem wuͤsten Laͤrm und Tumult endigte. Mailand, den 28. May 1830. Ich bin nun bald drey Wochen hier und es ist wohl Zeit, daß ich Einiges aufschreibe. Das große Theater della Scala ist zu unserm Be¬ dauren geschlossen; wir waren darin und sahen es an¬ gefuͤllt mit Geruͤsten. Man nimmt verschiedene Repa¬ raturen vor und bauet, wie man sagt, noch eine Reihe Logen. Die ersten Saͤnger und Saͤngerinnen haben diesen Zeitpunct wahrgenommen und sind auf Reisen gegangen. Einige, sagt man, sind in Wien, andere in Paris. Das Marionetten-Theater habe ich gleich nach mei¬ ner Ankunft besucht, und habe mich gefreut an der außerordentlichen Deutlichkeit der redenden Personen. Dieß Marionetten-Theater ist vielleicht das beste in der Welt; es ist beruͤhmt, und man hoͤrt davon reden, so wie man Mailand nahe kommt. Das Theater della Canobiana, mit fuͤnf Reihen Lo¬ gen uͤber einander, ist nach der Scala das groͤßte. Es faßt dreytausend Menschen. Es ist mir sehr angenehm; ich habe es oft besucht und immer dieselbige Oper und dasselbige Ballet gesehen. Man giebt seit drey Wochen il Conte Ory , Oper von Rossini , und das Ballet l'Orfana di Genevra . Die Decorationen von San Quirico oder unter dessen Anleitung gemacht, wirken durchaus angenehm, und sind bescheiden genug, um sich 14* von den Anzuͤgen der spielenden Figuren uͤberbieten zu lassen. San Quirico, sagt man, hat viele geschickte Leute in seinem Dienst; alle Bestellungen gehen an ihn, er uͤbertraͤgt sie ferner, und giebt die Anleitungen, so daß alles unter seinem Namen geht und er selbst sehr wenig macht. Er soll vielen geschickten Kuͤnstlern jaͤhr¬ lich ein schoͤnes Fixum geben, und dieses auch bezahlen, wenn sie krank sind und das ganze Jahr nichts zu thun haben. Bey der Oper selbst war es mir zunaͤchst lieb, kei¬ nen Souffleurkasten zu sehen, der sonst, so unangenehm, immer die Fuͤße der handelnden Personen verdeckt. Sodann gefiel mir der Platz des Capellmeisters. Er stand so, daß er sein ganzes Orchester uͤbersieht, und rechts und links winken und leiten kann, und von Allen gesehen wird, ein wenig erhoͤht, in der Mitte, zunaͤchst am Parket, so daß er, uͤber das Orchester hinaus, frey auf die Buͤhne sieht. In Weimar dagegen steht der Capellmeister so, daß er zwar frey auf die Buͤhne sieht, aber das Orchester im Ruͤcken hat, so daß er sich immer umwenden muß, wenn er jemanden etwas bedeuten will. Das Orchester selbst ist sehr stark besetzt, ich zaͤhlte sechzehn Baͤsse, und zwar an jedem aͤußersten Ende acht. Das gegen hundert Personen sich belaufende Personal ist von beyden Seiten zu nach innen auf den Capell¬ meister gewendet, und zwar so, daß sie den Ruͤcken ge¬ gen die ins Proscenium hineingehenden Parterre-Logen haben, und mit dem einen Auge auf die Buͤhne und mit dem andern ins Parterre sehen; grade aus aber auf den Capellmeister. Die Stimmen der Saͤnger und Saͤngerinnen betref¬ fend, so entzuͤckte mich dieser reine Klang und die Staͤrke der Toͤne, dieses leichte Ansprechen und freye Heraus¬ gehen ohne die geringste Anstrengung. Ich dachte an Zelter und wuͤnschte ihn an meiner Seite zu seyn. Vor allen begluͤckte mich die Stimme der Signora Corradi- Pantanelli , welche den Pagen sang. Ich sprach uͤber diese treffliche Saͤngerin gegen Andere, und hoͤrte, sie sey auf naͤchsten Winter fuͤr die Scala engagirt. Die Prima-Donna, als Contessa Adele, war eine junge Anfaͤngerin, Signora Albertini ; in ihrer Stimme liegt etwas sehr Zartes, Hellreines, wie das Licht der Sonne. Jeden aus Deutschland Kommenden muß sie in hohem Grade erfreuen. Sodann ein junger Bassist ragte hervor. Seine Stimme hat den gewaltigsten Ton, ist jedoch noch ein wenig unbeholfen, so wie auch sein Spiel, obgleich frey, auf die Jugend seiner Kunst schlie¬ ßen ließ. Die Choͤre gingen vortrefflich und mit dem Orchester auf das Praͤciseste. Die Koͤrperbewegung der spielenden Personen anlan¬ gend, so war mir eine gewisse Maͤßigkeit und Ruhe merkwuͤrdig, indem ich Äußerungen des lebhaften italie¬ nischen Characters erwartet hatte. Die Schminke war nur ein Hauch von Roͤthe, so wie man es in der Natur gerne sieht, und so, daß man nicht an geschminkte Wangen erinnert wird. Bey der starken Besetzung des Orchesters war es mir merkwuͤrdig, daß es nie die Stimmen der Saͤnger uͤbertoͤnte, sondern daß diese immer die herrschenden blieben. Ich sprach daruͤber an Table d'hôte , und hoͤrte einen verstaͤndigen jungen Mann Folgendes er¬ wiedern. „Die deutschen Orchester, sagte er, sind egoistisch und wollen als Orchester sich hervorthun und etwas seyn. Ein italienisches Orchester dagegen ist discret. Es weiß recht gut, daß in der Oper der Gesang der menschlichen Stimmen die Hauptsache ist, und daß die Begleitung des Orchesters diesen nur tragen soll. Zudem haͤlt der Italiener dafuͤr, daß der Ton eines Instruments nur schoͤn sey, wenn man ihn nicht forcirt. Moͤgen daher in einem italienischen Orchester noch so viele Geigen, Clarinetten, Trompeten und Baͤsse gespielt und geblasen werden, der Total-Eindruck des Ganzen wird immer sanft und angenehm bleiben, waͤhrend ein deutsches Or¬ chester, bey dreyfach schwaͤcherer Besetzung, sehr leicht laut und rauschend wird.“ Ich konnte so uͤberzeugenden Worten nicht wider¬ sprechen, und freute mich, mein Problem so klar geloͤst zu sehen. Aber sollten nicht auch, versetzte ich, die neuesten Componisten schuld seyn, indem sie die Orchester-Beglei¬ tung der Oper zu stark instrumentiren? „Allerdings, erwiederte der Fremde, sind neuere Componisten in diesen Fehler gefallen; allein niemals wirklich große Meister wie Mozart und Rossini . Ja es findet sich sogar bey diesen, daß sie, in der Beglei¬ tung, eigene, von der Melodie des Gesanges unabhaͤn¬ gige, Motive ausgefuͤhrt haben; allein demungeachtet haben sie sich immer so maͤßig gehalten, daß die Stimme des Gesanges immer das Herrschende und Vorwaltende geblieben ist. Neueste Meister dagegen uͤbertoͤnen, bey wirklicher Armuth an Motiven in der Begleitung, durch eine gewaltsame Instrumentirung sehr oft den Gesang.“ Ich gab dem verstaͤndigen jungen Fremden meinen Beyfall. Mein Tischnachbar sagte mir, es sey ein jun¬ ger lieflaͤndischer Baron, der sich lange in Paris und London aufgehalten und nun seit fuͤnf Jahren hier sey und viel studire. Noch etwas muß ich erwaͤhnen, das ich in der Oper bemerkt, und welches mir Freude machte zu bemerken. Es ist naͤmlich dieses, daß die Italiener auf dem Thea¬ ter die Nacht nicht als wirkliche Nacht, sondern nur symbolisch behandeln. Auf deutschen Theatern war es mir immer unangenehm, daß in naͤchtlichen Scenen eine vollkommene Nacht eintrat, wo denn der Ausdruck der handelnden Figuren, ja oft die Personen selber, ganz verschwanden, und man eben nichts mehr sah als die leere Nacht. Die Italiener behandeln das weiser. Ihre Theater-Nacht ist nie eine wirkliche, sondern nur eine Andeutung. Nur der Hintergrund des Theaters ver¬ dunkelte sich ein Weniges, und die spielenden Personen zogen sich so sehr in den Vordergrund, daß sie durchaus beleuchtet blieben, und kein Zug in dem Ausdruck ihrer Gesichter uns entging. In der Malerey sollte es billig auch so seyn, und es soll mich wundern, ob ich Bilder finden werde, wo die Nacht die Gesichter so verdunkelt hat, daß der Ausdruck unkenntlich wird. Ich hoffe von guten Meistern kein solches Bild zu finden. Dieselbige schoͤne Maxime fand ich auch im Ballet angewendet. Eine naͤchtliche Scene war vorgestellt, wo ein Maͤdchen von einem Raͤuber uͤberfallen wird. Das Theater ist nur ein Weniges verdunkelt, so daß man alle Bewegungen und den Ausdruck der Gesichter voll¬ kommen sieht. Auf das Geschrey des Maͤdchens entflieht der Moͤrder, und die Landleute eilen aus ihren Huͤtten herzu mit Lichtern. Aber nicht mit Lichtern von truͤber Flamme, sondern dem Weißfeuer aͤhnlichen, so daß uns durch diesen Contrast der hellesten Beleuchtung erst fuͤhl¬ bar wird, daß es in der vorigen Scene Nacht war. Was man mir in Deutschland von dem lauten ita¬ lienischen Publicum voraussagte, habe ich bestaͤtigt ge¬ funden, und zwar nimmt die Unruhe des Publicums zu, je laͤnger eine Oper gegeben wird. Vor vierzehn Tagen sah ich eine der ersten Vorstellungen von dem Conte Ory. Die besten Saͤnger und Saͤngerinnen empfing man bey ihrem Auftreten mit Applaus; man sprach wohl in gleichguͤltigen Scenen, allein bey dem Eintritt guter Arien wurde alles stille, und ein allgemeiner Bey¬ fall lohnte den Saͤnger. Die Choͤre gingen vortrefflich, und ich bewunderte die Praͤcision, wie Orchester und Stimmen stets zusammentrafen. Jetzt aber, nachdem man die Oper seit der Zeit jeden Abend gegeben hat, ist beym Publicum jede Aufmerksamkeit hin, so daß alles redet und das Haus von einem lauten Getoͤse summet. Es regt sich kaum eine Hand mehr, und man begreift kaum wie man auf der Buͤhne noch die Lippe oͤffnen und im Orchester noch einen Strich thun mag. Man bemerkt auch keinen Eifer und keine Praͤcision mehr, und der Fremde, der gerne etwas hoͤren moͤchte, waͤre in Verzweiflung, wenn man in so heiterer Umgebung uͤberall verzweifeln koͤnnte. Mailand, den 30. May 1830, am 1. Pfingsttage. Ich will noch Einiges notiren was mir bis jetzt in Italien zu bemerken Freude machte, oder sonst ein In¬ teresse erweckte. Oben auf dem Simplon, in der Einoͤde von Schnee und Nebel, in der Naͤhe einer Refuge, kam ein Knabe mit seinem Schwesterchen den Berg herauf an unsern Wagen. Beyde hatten kleine Koͤrbe auf dem Ruͤcken, mit Holz, das sie in dem untern Gebirge, wo noch einige Vegetation ist, geholt hatten. Der Knabe reichte uns einige Bergkristalle und sonstiges Gestein, wofuͤr wir ihm einige kleine Muͤnze gaben. Nun hat sich mir als unvergeßlich eingepraͤgt, mit welcher Wonne er ver¬ stohlen auf sein Geld blickte, indem er an unserm Wa¬ gen herging. Diesen himmlischen Ausdruck von Gluͤck¬ seligkeit habe ich nie vorher gesehen. Ich hatte zu be¬ denken, daß Gott alle Quellen und alle Faͤhigkeiten des Gluͤcks in das menschliche Gemuͤth gelegt hat, und daß es zum Gluͤck voͤllig gleich ist, wo und wie einer wohnt. Ich wollte in meinen Mittheilungen fortfahren, allein ich ward unterbrochen, und kam waͤhrend meines ferne¬ ren Aufenthaltes in Italien, wo freylich kein Tag ohne bedeutende Eindruͤcke und Beobachtungen verging, nicht wieder zum Schreiben. Erst nachdem ich mich von Goethe dem Sohne getrennt und die Alpen im Ruͤcken hatte, richtete ich Folgendes wieder an Goethe. Genf, Sonntag den 12. September 1830. Ich habe Ihnen dießmal soviel mitzutheilen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich endi¬ gen soll. Eure Excellenz haben oft im Scherz gesagt, daß das Fortreisen eine recht gute Sache sey, wenn nur das Wiederkommen nicht waͤre. Ich finde dieß nun zu mei¬ ner Qual bestaͤtigt, indem ich mich an einer Art von Scheideweg befinde, und nicht weiß welchen ich einschla¬ gen soll. Mein Aufenthalt in Italien, so kurz er auch war, ist doch wie billig nicht ohne große Wirkung fuͤr mich gewesen. Eine reiche Natur hat mit ihren Wundern zu mir gesprochen und mich gefragt, wie weit ich denn ge¬ kommen, um solche Sprache zu vernehmen. Große Werke der Menschen, große Thaͤtigkeiten, haben mich angeregt und mich auf meine eigenen Haͤnde blicken lassen, um zu sehen was denn ich selbst vermoͤge. Existenzen tausendfacher Art haben mich beruͤhrt und mich gefragt, wie denn die meinige beschaffen. Und so sind drey große Beduͤrfnisse in mir lebendig: Mein Wissen zu vermehren, meine Existenz zu verbessern, und, daß beydes moͤglich sey, vor allen Dingen etwas zu thun. Was nun dieses letztere betrifft, so bin ich uͤber das, was zu thun sey, keineswegs in Zweifel. Es liegt mir seit lange ein Werk am Herzen, womit ich mich diese Jahre her in freyen Stunden beschaͤftiget habe, und das so weit fertig ist, wie ungefaͤhr ein neugebautes Schiff, dem noch das Tauwerk und die Segel fehlen um in die See zu gehen. Es sind dieß jene Gespraͤche uͤber große Maximen in allen Faͤchern des Wissens und der Kunst, so wie Aufschluͤsse uͤber hoͤhere menschliche Interessen, Werke des Geistes und vorzuͤgliche Personen des Jahrhunderts, wozu sich im Laufe der sechs Jahre, die ich in Ihrer Naͤhe zu seyn das Gluͤck hatte, die haͤufigsten Anlaͤsse fanden. Es sind diese Gespraͤche fuͤr mich ein Funda¬ ment von unendlicher Cultur geworden, und wie ich im hoͤchsten Grade begluͤckt war, sie zu hoͤren und in mich aufzunehmen, so wollte ich auch anderen Guten dieses Gluͤck bereiten, indem ich sie niederschrieb und sie der besseren Menschheit bewahrte. Eure Excellenz haben von diesen Conversationen hin und wieder einige Bogen gesehen, Sie haben selbigen Ihren Beyfall geschenkt, und mich wiederholt aufgemun¬ tert, in diesem Unternehmen fortzufahren. Solches ist denn periodenweise geschehen, wie mein zerstreutes Leben in Weimar es zuließ, so daß sich etwa zu zwey Baͤnden reichliche Materialien gesammelt finden. Vor meiner Abreise nach Italien habe ich diese wich¬ tigen Manuscripte nicht mit meinen uͤbrigen Schriften und Sachen in meine Koffer verpackt, sondern ich habe sie, in einem besonderen Paket versiegelt, unserm Freunde Soret zur Aufbewahrung vertraut, mit dem Ersuchen, im Fall mir auf der Reise ein Unheil zustieße und ich nicht zuruͤckkaͤme, sie in Ihre Haͤnde zu geben. Nach dem Besuche in Venedig, bey unserm zweyten Aufenthalt in Mailand, uͤberfiel mich ein Fieber, so daß ich einige Naͤchte sehr krank war und eine ganze Woche, ohne Neigung zu der geringsten Nahrung, ganz schmaͤhlich danieder lag. In diesen einsamen verlassenen Stunden gedachte ich vorzuͤglich jenes Manuscripts, und es beunruhigte mich, daß es sich nicht in einem so kla¬ ren abgeschlossenen Zustand befinde, um davon entschie¬ den Gebrauch zu machen. Es trat mir vor Augen, daß es haͤufig nur mit der Bleyfeder geschrieben, daß einige Stellen undeutlich und nicht gehoͤrig ausgedruͤckt, daß Manches sich nur in Andeutungen befinde, und, mit einem Wort, eine gehoͤrige Redaction und die letzte Hand fehle. In solchen Zustaͤnden und bey solchem Gefuͤhl er¬ wachte in mir ein dringendes Verlangen nach jenen Pa¬ pieren. Die Freude, Neapel und Rom zu sehen, ver¬ schwand, und eine Sehnsucht ergriff mich, nach Deutsch¬ land zuruͤckzukehren, um, von allem zuruͤckgezogen, ein¬ sam, jenes Manuscript zu vollenden. Ohne von dem was tiefer in mir vorging zu reden, sprach ich mit Ihrem Herrn Sohn uͤber meine koͤrper¬ lichen Zustaͤnde; er empfand das Gefaͤhrliche, mich in der großen Hitze weiter mitzuschleppen, und wir wurden eins, daß ich noch Genua versuchen, und wenn dort mein Befinden sich nicht bessern sollte, es meiner Wahl uͤberlassen sey, nach Deutschland zuruͤckzugehen. So hatten wir uns einige Zeit in Genua aufgehal¬ ten, als ein Brief von Ihnen uns erreichte, worin Sie aus der Ferne her zu empfinden schienen, wie es unge¬ faͤhr mit uns stehen moͤchte, und worin Sie aussprachen, daß, im Fall ich etwa Neigung haͤtte zuruͤckzukehren, ich Ihnen willkommen seyn solle. Wir verehrten Ihren Blick, und waren erfreut, daß Sie jenseits der Alpen Ihre Zustimmung zu einer An¬ gelegenheit gaben, die so eben unter uns ausgemacht worden. Ich war entschlossen sogleich zu gehen, Ihr Herr Sohn jedoch fand es artig, wenn ich noch bleiben und an demselbigen Tage mit ihm zugleich abreisen wollte. Dieses that ich mit Freuden, und so war es denn Sonntag den 25. July Morgens vier Uhr, als wir uns auf der Straße in Genua zum Lebewohl umarm¬ ten. Zwey Wagen standen, der eine um an der Kuͤste hinauf nach Livorno zu gehen, welchen Ihr Herr Sohn bestieg, der andere uͤber das Gebirge nach Turin bereit, worin ich mich zu anderen Gefaͤhrten setzte. So fuhren wir auseinander, in entgegengesetzten Richtungen, beyde geruͤhrt und mit den treuesten Wuͤnschen fuͤr unser wech¬ selseitiges Wohl. Nach einer dreytaͤgigen Reise, in großer Hitze und Staub, uͤber Novi, Alexandria und Asti, kam ich nach Turin, wo es noͤthig war, mich einige Tage zu erholen und umzusehen, und eine weitere passende Gelegenheit uͤber die Alpen zu erwarten. Diese fand sich Montag den 2. August uͤber den Mont Cenis nach Chambery, wo wir Abends den 6. ankamen. Am 7., Nachmittags, fand ich weitere Gelegenheit nach Aix, und am 8. spaͤt, in Dunkelheit und Regen erreichte ich Genf, wo ich im Gasthof zur Krone ein Unterkommen fand. Hier war alles voll von Englaͤndern, die, von Paris geflohen, als Augenzeugen der dortigen außerordentlichen Auftritte viel zu erzaͤhlen hatten. Sie koͤnnen denken, welchen Eindruck das erste Erfahren jener welterschuͤttern¬ den Begebenheiten auf mich machte, mit welchem In¬ teresse ich die Zeitungen las, die im Piemontesischen unterdruͤckt waren, und wie ich den Erzaͤhlungen der taͤglich neu Ankommenden, so wie dem Hin- und Wie¬ derreden und Streiten politisirender Menschen an Table d'hôte zuhoͤrte. Alles war in der hoͤchsten Aufregung, und man versuchte die Folgen zu uͤbersehen, die aus so großen Gewaltschritten fuͤr das uͤbrige Europa hervor¬ gehen koͤnnten. Ich besuchte Freundin Sylvestre , Sorets Eltern und Bruder, und da jeder in so auf¬ geregten Tagen eine Meinung haben mußte, so bildete ich mir die, daß die franzoͤsischen Minister vorzuͤglich deßwegen strafbar seyen, weil sie den Monarchen zu Schritten verleitet, wodurch beym Volke das Vertrauen und das Koͤnigliche Ansehen verletzt worden. Es war meine Absicht gewesen, Ihnen bey meiner Ankunft in Genf sogleich ausfuͤhrlich zu schreiben; allein die Aufregung und Zerstreuung der ersten Tage war zu groß, als daß ich die Sammlung finden konnte, um mich Ihnen mitzutheilen wie ich es wollte. Sodann am 15. August erreichte mich ein Brief unsers Freundes Sterling aus Genua, mit einer Nachricht, die mich im Tiefsten betruͤbte und mir jede Communication nach Weimar untersagte. Jener Freund meldete, daß Ihr Herr Sohn, am Tage seiner Trennung von mir, bey einem Umsturz mit dem Wagen, das Schluͤsselbein ge¬ brochen habe und in Spezzia danieder liege. Ich schrieb sogleich als Erwiederung, daß ich bereit sey, auf den ersten Wink uͤber die Alpen zuruͤckzukommen, und daß ich Genf auf keinen Fall zur Fortsetzung meiner Reise nach Deutschland verlassen wuͤrde, bis nicht durchaus beruhigende Nachrichten aus Genua bey mir eingegan¬ gen. In Erwartung solcher, richtete ich mich in einem Privatlogis wirthschaftlich ein, und benutzte meinen Aufenthalt zu meiner weiteren Ausbildung in der fran¬ zoͤsischen Sprache. Endlich, am 28. August, ward mir ein doppelter Festtag bereitet, indem an diesem Tage ein zweyter Brief von Sterling des Inhalts mich begluͤckte, daß Ihr Herr Sohn von seinem Unfall in kurzer Zeit voͤllig hergestellt sey, und durchaus heiter, wohl und stark sich in Li¬ vorno befinde. So waren denn alle meine Besorgnisse von jener Seite mit einem Mal voͤllig gehoben, und ich betete in der Stille meines Herzens die Verse: Du, danke Gott wenn er dich preßt, Und dank' ihm wenn er dich wieder entlaͤßt. Ich schickte mich nun ernstlich an Ihnen Nachricht von mir zu geben; ich wollte Ihnen sagen was unge¬ faͤhr auf den vorliegenden Blaͤttern enthalten; ich wollte ferner ersuchen, ob es mir nicht vergoͤnnt seyn wolle, jenes Manuscript, das mir so sehr am Herzen liegt, von Weimar entfernt, in stiller Zuruͤckgezogenheit zu vollenden; indem ich nicht eher voͤllig frey und froh zu werden glaube, als bis ich Ihnen jenes lange gehegte Werk in deutlicher Reinschrift, geheftet, zur Genehmi¬ gung der Publication vorlegen koͤnne. Nun aber erhalte ich Briefe aus Weimar, woraus ich sehe, daß meine baldige Zuruͤckkunft erwartet wird, und daß man die Absicht hat, mir eine Stelle zu geben. Solches Wohlwollen habe ich zwar mit Dank zu er¬ kennen, allein es durchkreuzt meine jetzigen Plaͤne, und bringt mich in einen wunderlichen Zwiespalt mit mir selber. Kaͤme ich jetzt nach Weimar zuruͤck, so waͤre an eine schnelle Vollendung meiner naͤchsten literarischen Vorsaͤtze gar nicht zu denken. Ich kaͤme dort sogleich wieder in die alte Zerstreuung; ich waͤre in der kleinen Stadt, II . 15 wo Einer dem Andern auf dem Halse liegt, sogleich wieder von verschiedenen kleinen Verhaͤltnissen hin und hergezerrt, die mich zerstoͤren, ohne mir und Andern ent¬ schieden zu nutzen. Zwar enthaͤlt sie viel Gutes und Treffliches, das ich seit lange geliebt habe und das ich ewig lieben werde; denke ich aber daran zuruͤck, so ist es mir, als saͤhe ich vor den Thoren der Stadt einen Engel mit einem feu¬ rigen Schwerdt, um mir den Eingang zu wehren und mich davon hinwegzutreiben. Ich bin, wie ich mich kenne, ein wunderliches We¬ sen von einem Menschen. An gewissen Dingen haͤnge ich treu und fest, ich halte an Vorsaͤtzen durch viele Jahre hindurch, und fuͤhre sie aus, hartnaͤckig, durch tausend Umwege und Schwierigkeiten; aber in einzelnen Beruͤhrungen des taͤglichen Lebens ist niemand abhaͤn¬ giger, wankender, bestimmbarer, allerley Eindruͤcke faͤhi¬ ger, als ich, welches beydes denn das hoͤchst veraͤnder¬ liche und wiederum feste Geschick meines Lebens bildet. Sehe ich auf meine durchlaufene Bahn zuruͤck, so sind die Verhaͤltnisse und Zustaͤnde, durch die ich gegangen, hoͤchst bunt und verschieden; blicke ich aber tiefer, so sehe ich durch alle hindurch einen gewissen einfachen Zug eines hoͤheren Hinaufstrebens hindurchgehen, so daß es mir denn auch gelungen ist, von Stufe zu Stufe mich zu veredeln und zu verbessern. Aber eben jene große Bestimmbarkeit und Fuͤgsam¬ keit meines Wesens macht es von Zeit zu Zeit noͤthig, meine Lebensverhaͤltnisse zu rectificiren; so wie ein Schif¬ fer, den die Launen verschiedener Winde von seiner Bahn gebracht, immer wieder die alte Richtung sucht. Eine Stelle anzunehmen, ist mit meinen so lange zuruͤck¬ gedraͤngten literarischen Zwecken jetzt nicht zu vereinigen. Stunden an junge Englaͤnder zu geben, ist nicht ferner meine Absicht. Ich habe die Sprache gewonnen, und das ist alles was mir fehlte und woruͤber ich nun froh bin. Ich verkenne nicht das Gute, das mir aus dem langen Verkehr mit den jungen Fremdlingen erwachsen ist, allein jedes Ding hat seine Zeit und seinen Wechsel. Überall ist das muͤndliche Lehren und Wirken gar nicht meine Sache. Es ist ein Metier, wozu ich so wenig Talent als Ausbildung besitze. Es fehlt mir alle rednerische Gabe, indem jedes lebendige vis-à-vis ge¬ woͤhnlich eine solche Gewalt uͤber mich ausuͤbt, daß ich mich selber vergesse, daß es mich in sein Wesen und Interesse zieht, daß ich mich dadurch bedingt fuͤhle, und selten zur Freyheit und zu kraͤftigem Hinwirken des Ge¬ dankens gelange. Dagegen, dem Papiere gegenuͤber, fuͤhle ich mich durchaus frey und ganz im Besitz meiner selbst; das schriftliche Entwickeln meiner Gedanken ist daher auch meine eigentliche Lust und mein eigentliches Leben, und ich halte jeden Tag fuͤr verloren, an dem ich nicht einige Seiten geschrieben habe, die mir Freude machen. 15 * Meine ganze Natur draͤngt mich jetzt, aus mir sel¬ ber heraus auf einen groͤßeren Kreis zu wirken, in der Literatur Einfluß zu gewinnen, und zu weiterem Gluͤck mir endlich einigen Namen zu machen. Zwar ist der literarische Ruhm, an sich betrachtet, kaum der Muͤhe werth; ja ich habe gesehen, daß er etwas sehr Laͤstiges und Stoͤrendes seyn kann; allein doch hat er das Gute, daß er den Thaͤtig-Strebenden gewahr werden laͤßt, daß seine Wirkungen einen Boden gefunden, und dieß ist ein Gefuͤhl goͤttlicher Art, wel¬ ches erhebt und Gedanken und Kraͤfte giebt, wozu man sonst nicht gekommen waͤre. Wenn man sich dagegen zu lange in engen kleinen Verhaͤltnissen herumdruͤckt, so leidet der Geist und Cha¬ racter, man wird zuletzt großer Dinge unfaͤhig, und hat Muͤhe sich zu erheben. Hat die Frau Großherzogin wirklich die Absicht, etwas fuͤr mich zu thun, so finden so hohe Personen sehr leicht eine Form, um ihre gnaͤdigen Gesinnungen auszulassen. Will sie meine naͤchsten literarischen Schritte unterstuͤtzen und beguͤnstigen, so wird sie ein gutes Werk thun, dessen Fruͤchte nicht verloren seyn sollen. Vom Prinzen kann ich sagen, daß er eine besondere Stelle in meinem Herzen hat. Ich hoffe viel Gutes von seinen geistigen Faͤhigkeiten und seinem Character, und werde gern meine wenigen Kenntnisse zu seiner Disposition stellen. Ich werde mich immer weiter aus¬ zubilden suchen, und er wird immer aͤlter werden, um das empfangen zu koͤnnen, was ich etwa Besseres zu geben haͤtte. Zunaͤchst aber liegt mir vor allen Dingen die voͤllige Ausarbeitung jenes mehr erwaͤhnten Manuscripts am Herzen. Ich moͤchte einige Monate in stiller Zuruͤckge¬ zogenheit, bey meiner Geliebten und deren Verwandten in der Naͤhe von Goͤttingen, mich dieser Sache widmen, damit ich, von einer alten Buͤrde mich befreyend, zu kuͤnftigen neuen mich wieder geneigt und bereit machte. Mein Leben ist seit einigen Jahren in Stocken gerathen und ich moͤchte gern, daß es noch einmal einigen frischen Cours bekaͤme. Zudem ist meine Gesundheit schwach und wankend, ich bin meines langen Bleibens nicht sicher, und ich moͤchte gern etwas Gutes zuruͤcklassen, das meinen Namen in dem Andenken der Menschen eine Weile erhielte. Nun aber vermag ich nichts ohne Sie, ohne Ihre Zustimmung und Ihren Segen. Ihre ferneren Wuͤnsche in Bezug auf mich sind mir verborgen, auch weiß ich nicht was man hoͤchsten Orts vielleicht Gutes mit mir im Sinne hat. So aber, wie ich es ausgesprochen, steht es mit mir, und da ich Ihnen nun klar vorliege, so werden Sie leicht sehen, ob wichtigere Gruͤnde zu meinem Gluͤck meine naͤchste Zuruͤckkunft wuͤnschen lassen, oder ob ich getrost vor der Hand meinen eigenen geisti¬ gen Vorsaͤtzen folgen kann. Ich gehe in einigen Tagen von hier uͤber Neufchatel, Colmar und Straßburg, mit gehoͤriger Muße und Um¬ herschauung, nach Frankfurt, so wie ich die Reisegele¬ genheit finde. Nun wuͤrde es mich sehr begluͤcken, wenn ich in Frankfurt einige Zeilen von Ihnen erwarten koͤnnte, die ich dorthin poste restante an mich gehen zu lassen bitte. Ich bin nun froh, daß ich diese schwere Beichte von der Seele habe, und freue mich, in einem naͤchsten Brief uͤber Dinge leichterer Art mich Euer Excellenz mitzutheilen. Ich bitte um einen herzlichen Gruß an Hofrath Meyer, Oberbaudirector Coudray, Professor Riemer, Canzler von Muͤller und was Ihnen sonst nahe ist und meiner gedenken mag. Sie selbst aber druͤcke ich zu meinem Herzen, und verharre in den Gesinnungen der hoͤchsten Verehrung und Liebe, wo ich auch sey, ganz der Ihrige. E. Genf, den 14. September 1830. Zu meiner großen Freude habe ich aus einem Ihrer letzten Briefe in Genua ersehen, daß die Luͤcken und das Ende der classischen Walpurgisnacht gluͤcklich erobert worden. Die drey ersten Acte waͤren also vollkommen fertig, die Helena verbunden, und demnach das Schwie¬ rigste gethan. Das Ende ist, wie Sie mir sagten, schon da, und so wird, wie ich hoffe, der vierte Act sich Ih¬ nen bald uͤberwunden ergeben, und etwas Großes waͤre zu Stande gebracht, woran kuͤnftige Jahrhunderte sich erbauen und uͤben moͤchten. Ich freue mich dazu ganz außerordentlich, und werde jede Nachricht, die mir das Vorruͤcken der poetischen Maͤchte vermeldet, mit Jubel empfangen. Ich habe auf meiner Reise haͤufige Gelegenheit ge¬ habt, des Faust zu gedenken, und daraus einige classi¬ sche Stellen anzuwenden. Wenn ich in Italien die schoͤ¬ nen Menschen und das Gedeihen der frischen Kinder sah, waren mir die Verse zugegen: Hier ist das Wohlbehagen erblich! Die Wange heitert wie der Mund; Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich, Sie sind zufrieden und gesund. Und so entwickelt sich am reinen Tage Zu Vaterkraft d a s holde Kind. Wir staunen drob, noch immer bleibt die Frage: Ob's Goͤtter, ob es Menschen sind. Dagegen wenn ich, von dem Anblick der schoͤnen Natur hingerissen, Herz und Augen an Seen, Bergen und Thaͤlern weidete, schien irgend ein unsichtbarer kleiner Teufel sein Spiel mit mir zu treiben, indem er mir jedesmal die Verse zufluͤsterte: Und haͤtt' ich nicht geruͤttelt und geschuͤttelt, Wie waͤre diese Welt so schoͤn? Alle vernuͤnftige Anschauung war sodann mit einem Mal verschwunden, die Absurditaͤt fing an zu herrschen, ich fuͤhlte eine Art Umwaͤlzung in meinem Innern, und es war keine Huͤlfe, als jedesmal mit Lachen zu endigen. Bey solchen Gelegenheiten habe ich recht empfunden, daß der Poet eigentlich immer positiv seyn sollte. Der Mensch gebraucht den Dichter, um das auszusprechen, was er selbst nicht auszudruͤcken vermag. Von einer Erscheinung, von einer Empfindung wird er ergriffen, er sucht nach Worten, seinen eigenen Vorrath findet er unzulaͤnglich, und so muß ihm der Dichter zu Huͤlfe kommen, der ihn frey macht, indem er ihn befriedigt. In diesem Gefuͤhl habe ich denn jene ersteren Verse wiederholt gesegnet, und die letzteren taͤglich lachend verwuͤnscht. Wer aber moͤchte sie an der Stelle ent¬ behren, fuͤr die sie gemacht sind, und wo sie im schoͤn¬ sten Sinne wirken! Ein eigentliches Tagebuch habe ich in Italien nicht gefuͤhrt; die Erscheinungen waren zu groß, zu viel, zu schnell wechselnd, als daß man sich ihrer im naͤchsten Augenblick haͤtte bemaͤchtigen moͤgen und koͤnnen. Ich habe jedoch meine Augen und Ohren immer offen ge¬ habt und mir Vieles gemerkt. Solche Erinnerungen will ich nun zu einander gruppiren und unter einzelnen Rubriken behandeln. Besonders habe ich huͤbsche Be¬ merkungen zur Farbenlehre gemacht, auf deren naͤchste Darstellung ich mich freue. Es ist natuͤrlich nichts Neues, allein immer ist es erwuͤnscht, neue Manifesta¬ tionen des alten Gesetzes zu finden. In Genua hat Sterling fuͤr die Lehre ein großes Interesse gezeigt. Was ihm von Newtons Theorie uͤber¬ liefert worden, hat ihm nicht genuͤgt, und so hatte er denn offene Ohren fuͤr die Grundzuͤge, die ich ihm von Ihrer Lehre in wiederholten Gespraͤchen habe geben koͤn¬ nen. Wenn man Gelegenheit haͤtte, ein Exemplar des Werks nach Genua zu spediren, so koͤnnte ich wohl sa¬ gen, daß ihm ein solches Geschenk nicht unwillkommen seyn wuͤrde. Hier in Genf habe ich seit drey Wochen eine wi߬ begierige Schuͤlerin an Freundin Sylvestre gefunden. Ich habe dabey die Bemerkung gemacht, daß das Ein¬ fache schwerer zu fassen ist als man denkt, und daß es eine große Übung erfordert, in den mannigfaltigsten Ein¬ zelnheiten der Erscheinung immer das Grundgesetz zu finden. Dem Geist aber giebt es eine große Gewandt¬ heit, indem die Natur sehr delicat ist, und man immer auf der Hut seyn muß, durch einen zu raschen Aus¬ spruch ihr nicht Gewalt zu thun. Übrigens findet man hier in Genf an einer so gro¬ ßen Sache auch nicht die Spur einer Theilnahme. Nicht allein, daß man auf hiesiger Bibliothek Ihre Farben¬ lehre nicht hat, ja man weiß nicht einmal, daß so etwas in der Welt ist. Hieran moͤgen nun die Deutschen mehr Schuld seyn als die Genfer, allein es verdrießt mich doch und reizt mich zu schalkhaften Bemerkungen. Bekanntlich hat Lord Byron einige Zeit sich hier aufgehalten, und da er die Gesellschaft nicht liebte, so hat er sein Wesen bey Tag und Nacht in der Natur und auf dem See getrieben, wovon man hier noch zu erzaͤhlen hat, und wovon in seinem Childe Harold ein schoͤnes Denkmal geblieben. Auch die Farbe der Rhone hat er bemerkt, und wenn er auch die Ursache nicht ahnen konnte, so hat er doch ein empfaͤngliches Auge gezeigt. Er sagt in einer Bemerkung zum dritten Gesange: „ The colour of the Rhone at Geneva is blue , to a depth of tint which I have never seen equalled in water, salt or fresh, except in the Mediterranean and Archipelago. “ Die Rhone, wie sie sich zusammendraͤngt um durch Genf zu gehen, theilt sich in zwey Arme, uͤber welche vier Bruͤcken fuͤhren, auf denen hin und hergehend man die Farbe des Wassers recht gut beobachten kann. Nun ist merkwuͤrdig, daß das Wasser des einen Ar¬ mes blau ist, wie Byron es gesehen hat, das des an¬ dern aber gruͤn . Der Arm, wo das Wasser blau er¬ scheint, ist reißender, und hat den Grund so tief gehoͤhlt, daß kein Licht hinabdringen kann und also un¬ ten vollkommene Finsterniß herrschet. Das sehr klare Wasser wirkt als ein truͤbes Mittel und es entsteht aus den bekannten Gesetzen das schoͤnste Blau. Das Wasser des anderen Armes geht nicht so tief, das Licht erreicht noch den Grund, so daß man Steine sieht, und da es unten nicht finster genug ist, um blau zu werden, aber nicht flach und der Boden nicht rein, weiß und glaͤnzend genug, um gelb zu seyn, so bleibt die Farbe in der Mitte, und manifestirt sich als gruͤn. Waͤre ich nun, wie Byron, zu tollen Streichen auf¬ gelegt, und haͤtte ich die Mittel, sie auszufuͤhren, so wuͤrde ich folgendes Experiment machen. Ich wuͤrde in dem gruͤnen Arm der Rhone, in der Naͤhe der Bruͤcke, wo taͤglich Tausende von Menschen passiren, ein großes schwarzes Bret, oder so etwas, so tief befestigen lassen, daß ein reines Blau entstaͤnde, und nicht weit davon ein sehr großes Stuͤck weißes glaͤnzen¬ des Blech, in solcher Tiefe des Wassers, daß im Schein der Sonne ein entschiedenes Gelb erglaͤnzte. Wenn nun die Menschen vorbeygingen und in dem gruͤnen Wasser den gelben und blauen Fleck erblickten, so wuͤrde ihnen das ein Raͤthsel seyn, das sie neckte, und das sie nicht loͤsen koͤnnten. Man kommt auf Reisen zu allerley Spaͤßen; dieser aber scheint mir zu den guten zu gehoͤ¬ ren, worin einiger Sinn vorhanden ist und einiger Nutzen seyn koͤnnte. Vor einiger Zeit war ich in einem Buchladen, wo in dem ersten kleinen Duodezbaͤndchen, das ich zur Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in meiner Übersetzung also lautet: „Aber jetzt saget mir: wenn man eine Wahrheit entdeckt hat, muß man sie den anderen Menschen mit¬ theilen? Wenn ihr sie bekannt macht, so werdet ihr von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem entgegengesetzten Irrthum leben, indem sie versichern, daß eben dieser Irrthum die Wahrheit, und alles was dahin geht, ihn zu zerstoͤren, der groͤßte Irrthum sel¬ ber sey.“ Diese Stelle schien mir auf die Art, wie die Maͤn¬ ner vom Fach Ihre Farbenlehre aufgenommen, eine An¬ wendung zu finden, als waͤre sie dafuͤr geschrieben wor¬ den, und sie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe das ganze Buch kaufte. Es enthielt Paul und Vir¬ ginia und „ La Chaumière indienne “ von Bernardin de Saint Pierre , und ich hatte also auch uͤbrigens mei¬ nen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfassers er¬ quickte mich, und seine zarte Kunst, besonders wie er bekannte Gleichnisse schicklich anwendet, wußte ich zu erkennen und zu schaͤtzen. Auch die erste Bekanntschaft mit Rousseau und Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein Brief nicht selbst zum Buche werde, so will ich uͤber diese, so wie uͤber vieles Andere, das ich noch sagen moͤchte, fuͤr heute hinweggehen. Seitdem ich den langen Brief von vorgestern von der Seele habe, fuͤhle ich mich heiter und frey, wie nicht seit Jahren, und ich moͤchte immer schreiben und reden. Es ist mir wirklich das hoͤchste Beduͤrfniß, mich wenigstens vor der Hand von Weimar entfernt zu hal¬ ten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und sehe schon die Zeit, wo Sie sagen werden, daß ich recht gethan. Morgen wird das hiesige Theater mit dem Barbier von Sevilla eroͤffnet, welches ich noch sehen will; dann aber gedenke ich ernstlich abzureisen. Das Wetter scheint sich auch aufklaͤren und mich beguͤnstigen zu wollen. Es hat hier geregnet seit Ihrem Geburtstage, wo es schon morgens fruͤh mit Gewittern anfing, die den ganzen Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf uͤber den See zogen nach Lausanne zu, so daß es fast den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer fuͤr 16 Sous taͤglich, das mir die schoͤnste Aussicht auf den See und das Gebirge gewaͤhrt. Gestern regnete es unten, es war kalt, und die hoͤchsten Spitzen des Jura zeigten sich nach vorbeygezogenem Schauer zum ersten Mal weiß mit Schnee, der aber heute schon wieder ver¬ schwunden ist. Die Vorgebirge des Montblanc fangen schon an sich mit bleibendem Weiß zu umhuͤllen; an der Kuͤste des See's hinauf, in dem Gruͤn der reichen Ve¬ getation, stehen schon einige Baͤume gelb und braun; die Naͤchte werden kalt, und man sieht, daß der Herbst vor der Thuͤr ist. Ich gruͤße Frau v. Goethe, Fraͤulein Ulrike, und Walter, Wolf und die Alma herzlich. Ich habe an Frau v. Goethe Vieles uͤber Sterling zu schreiben, wel¬ ches morgen geschehen soll. Ich freue mich, von Ew. Excellenz einen Brief in Frankfurt zu erhalten, und bin gluͤcklich in dieser Hoffnung. Mit den besten Wuͤnschen und treuesten Gesinnun¬ gen verharrend. E. Ich reiste am 21. September von Genf ab, und nachdem ich mich in Bern ein paar Tage aufgehalten, kam ich am 27. nach Straßburg, wo ich abermals einige Tage verweilte. Hier, an dem Fenster eines Friseurs vorbeygehend, sah ich eine kleine Buͤste Napoleons, die, von der Straße zu gegen das Dunkel des Zimmers betrachtet, alle Ab¬ stufungen von Blau zeigte, vom milchigen Hellblau bis zum tiefen Violet. Ich hatte eine Ahndung, daß, vom Innern des Zimmers gegen das Licht angesehen, die Buͤste mir alle Abstufungen des Gelben gewaͤhren wuͤrde, und so konnte ich einem augenblicklichen lebhaf¬ ten Trieb nicht widerstehen, zu den mir ganz unbekann¬ ten Personen geradezu hineinzutreten. Mein erster Blick war nach der Buͤste, wo mir denn die herrlichsten Farben der activen Seite, vom blassesten Gelb bis zum dunkelen Rubinroth, zu großer Freude entgegenglaͤnzten. Ich fragte lebhaft, ob man nicht ge¬ neigt seyn wolle, mir dieses Brustbild des großen Hel¬ den zu uͤberlassen? — Der Wirth erwiederte mir, daß er, aus gleicher Anhaͤnglichkeit fuͤr den Kaiser, sich vor kurzem die Buͤste aus Paris mitgebracht habe; da jedoch meine Liebe die seinige noch um ein gutes Theil zu uͤbertreffen scheine, wie er aus meiner enthusiastischen Freude schließe, so gebuͤhre mir auch der Vorzug des Besitzes, und er wolle sie mir gerne uͤberlassen. In meinen Augen hatte dieß glaͤserne Bild einen unschaͤtzbaren Werth, und ich konnte daher nicht umhin, den guten Eigenthuͤmer mit einiger Verwunderung an¬ zusehen, als er es fuͤr wenige Franken in meine Haͤnde gab. Ich schickte es, nebst einer in Mailand gekauften, gleichfalls merkwuͤrdigen Medaille, als ein kleines Reise¬ geschenk an Goethe, der es denn nach Verdienst zu schaͤtzen wußte. In Frankfurt und spaͤter erhielt ich von ihm fol¬ gende Briefe. Erster Brief . „Nur mit dem Wenigsten vermelde: daß Ihre bey¬ den Schreiben von Genf gluͤcklich angekommen sind, freylich erst am 26. September. Ich eile daher nur so viel zu sagen: bleiben Sie ja in Frankfurt, bis wir wohl uͤberlegt haben, wo Sie Ihren kuͤnftigen Winter zubringen wollen.“ „Ich lege fuͤr dießmal nur ein Blaͤttchen an Herrn und Frau Geh. Rath von Willemer bey, welches ich baldigst abzugeben bitte. Sie werden ein paar Freunde finden, die im edelsten Sinne mit mir verbunden sind und Ihnen den Aufenthalt in Frankfurt nuͤtzlich und angenehm machen koͤnnen.“ „Soviel also fuͤr dießmal. Schreiben Sie mir also¬ bald wenn Sie diesen Brief erhalten haben.“ Unwandelbar Weimar den 26. Septbr. 1830. Goethe . Zweyter Brief . „Zum allerschoͤnsten begruͤße ich Sie, mein Theuer¬ ster, in meiner Vaterstadt, und hoffe, Sie werden die wenigen Tage in vertraulichem Vergnuͤgen mit meinen vortrefflichen Freunden zugebracht haben.“ „Wenn Sie nach Nordheim abzugehen und da¬ selbst einige Zeit zu verweilen wuͤnschen, so wuͤßt' ich nichts entgegen zu setzen. Wollen Sie sich in stiller Zeit mit dem Manuscripte beschaͤftigen, das in Sorets Haͤnden ist, so soll es mir um desto angenehmer seyn, weil ich zwar keine baldige Publication desselben wuͤn¬ sche, es aber gern mit Ihnen durchgehen und rectificiren moͤchte. Es wird seinen Werth erhoͤhen, wenn ich be¬ zeugen kann, daß es ganz in meinem Sinne aufge¬ faßt sey.“ „Mehr sage ich nicht, uͤberlasse Ihnen und erwarte das Weitere. Man gruͤßt Sie freundlich aus meinem Hause; von den uͤbrigen Theilnehmern habe, seit dem Empfang Ihres Briefes, niemand gesprochen.“ „Alles Gute wuͤnschend Weimar treulichst den 12. Octbr. 1830. J. W. v. Goethe .“ Dritter Brief . „Der lebhafte Eindruck, den Sie beym Anblick des merkwuͤrdigen, Farbe vermittelnden Brustbildes erfuh¬ ren, die Begierde, sich solches anzueignen, das artige Abenteuer, welches Sie deßhalb bestanden, und der gute Gedanke, mir solches als Reisegabe zu verehren, das alles deutet darauf: wie durchdrungen Sie sind von dem herrlichen Urphaͤnomen, welches hier in allen seinen II . 16 Äußerungen hervortritt. Dieser Begriff, dieses Gefuͤhl wird Sie mit seiner Fruchtbarkeit durch Ihr ganzes Leben begleiten, und sich noch auf manche productive Weise bey Ihnen legitimiren. Der Irrthum gehoͤrt den Bibliotheken an, das Wahre dem menschlichen Geiste; Buͤcher moͤgen sich durch Buͤcher vermehren, indessen der Verkehr mit lebendigen Urgesetzen dem Geiste ge¬ faͤllt, der das Einfache zu erfassen weiß, das Verwickelte sich entwirrt und das Dunkle sich aufklaͤrt.“ „Wenn Ihr Daͤmon Sie wieder nach Weimar fuͤhrt, sollen Sie jenes Bild in der heftigen klaren Sonne stehen sehen, wo, unter dem ruhigen Blau des durchscheinenden Angesichts, die derbe Masse der Brust und der Epauletten von dem maͤchtigsten Rubinroth in allen Schattirungen auf- und abwaͤrts leuchtet, und wie das Granitbild Memnons in Toͤnen, so sich hier das truͤbe Glasbild in Farbenpracht manifestirt. Man sieht hier wirklich den Helden auch fuͤr die Farbenlehre sieghaft. Haben Sie den schoͤnsten Dank fuͤr diese un¬ erwartete Bekraͤftigung der mir so werthen Lehre.“ „Auch mit der Medaille haben Sie mein Cabinet doppelt und dreyfach bereichert; ich bin auf einen Mann aufmerksam worden mit Namen Dupré . Ein vor¬ trefflicher Bildhauer, Erzgießer, Medailleur; er war es, der das Bildniß Heinrichs des Vierten auf dem Pontneuf modellirte und goß. Durch die gesendete Me¬ daille angeregt, sah ich meine uͤbrigen durch, fand noch sehr vorzuͤgliche mit demselben Namen, andere vermuth¬ lich von ihm, und so hat Ihre Gabe auch hier eine schoͤne Anregung veranlaßt.“ „Mit meiner Metamorphose , die Soret sche Übersetzung an der Seite, sind wir erst am fuͤnften Bo¬ gen; ich wußte lange nicht, ob ich diesem Unternehmen mit Fluch oder Segen gedenken sollte. Nun aber, da es mich wieder in die Betrachtung der organischen Na¬ tur hineindraͤngt, freu' ich mich daran und folge dem Berufe willig. Die fuͤr mich nun uͤber vierzig Jahr alte Maxime gilt noch immer fort; man wird durch sie in dem ganzen labyrinthischen Kreise des Begreiflichen gluͤcklich umher geleitet, und bis an die Grenze des Un¬ begreiflichen gefuͤhrt, wo man sich denn, nach großem Gewinn, gar wohl bescheiden kann. Alle Philosophen der alten und neuen Welt vermochten auch nicht weiter zu gelangen. Mehr darf man sich in Schriften auszu¬ sprechen kaum anmaßen.“ J. W. v. Goethe . Bey meinem Aufenthalte zu Nordheim, wo ich, nach einigem Verweilen zu Frankfurt und Cassel, erst gegen Ende Octobers angekommen war, vereinigten sich alle Umstaͤnde dahin, um meine Ruͤckkehr nach Weimar er¬ wuͤnscht zu machen. 16* Die baldige Herausgabe meiner Conversationen hatte Goethe nicht gebilligt, und somit war denn an eine er¬ folgreiche Eroͤffnung einer rein literarischen Laufbahn nicht mehr zu denken. Sodann das Wiedersehen meiner seit Jahren innigst Geliebten, und das taͤglich erneute Gefuͤhl ihrer großen Tugenden, erregten den Wunsch ihres baldigen Besitzes und das Verlangen nach einer sichern Existenz auf das lebhafteste. Unter solchen Umstaͤnden erreichte mich eine Botschaft aus Weimar, von der Frau Großherzogin befohlen, die ich mit Freuden ergriff, wie aus folgendem Brief an Goethe naͤher hervorgeht. Nordheim, den 6. November 1830. Der Mensch denkt und Gott lenkt, und ehe man eine Hand umwendet, sind unsere Zustaͤnde und Wuͤn¬ sche anders als wir es voraus dachten. Vor einigen Wochen hatte ich eine gewisse Furcht, nach Weimar zuruͤckzukehren, und jetzt stehen die Sachen so, daß ich nicht allein bald und gerne zuruͤckkomme, sondern auch mit Gedanken umgehe, mich dort haͤuslich einzurichten und fuͤr immer zu befestigen. Ich habe vor einigen Tagen ein Schreiben von Soret erhalten, mit dem Anerbieten eines fixen Ge¬ haltes von Seiten der Frau Großherzogin, wenn ich zuruͤckkommen und in meinem bisherigen Unterricht mit dem Prinzen fortfahren wolle. Noch anderes Gute will Soret mir muͤndlich mittheilen, und so sehe ich denn aus allem, daß man gnaͤdige Gesinnungen gegen mich hegen mag. Ich schriebe nun gerne eine zustimmende Antwort an Soret; allein ich hoͤre, er ist zu den Seinigen nach Genf gereiset, und so bleibt mir weiter nichts uͤbrig als mich an Eure Excellenz mit der Bitte zu wenden: der Kaiserlichen Hoheit den Entschluß meiner baldigen Zu¬ ruͤckkunft geneigtest mitzutheilen. Ihnen selbst hoffe ich zugleich durch diese Nachricht einige Freude zu machen, indem doch mein Gluͤck und meine Beruhigung Ihnen seit lange am Herzen liegt. Ich sende die schoͤnsten Gruͤße allen lieben Ihrigen und hoffe ein baldiges frohes Wiedersehen. E. Am 20. November Nachmittags reiste ich von Nord¬ heim ab, auf dem Wege nach Goͤttingen, das ich in der Dunkelheit erreichte. Abends an Table d'hôte , als der Wirth hoͤrte, daß ich aus Weimar sey und dahin zuruͤckwolle, aͤußerte er in gemuͤthlicher Ruhe, daß doch der große Dichter Goethe in seinem hohen Alter noch ein schweres Leid habe erfahren muͤssen, indem, wie er heut in den Zei¬ tungen gelesen, sein einziger Sohn in Italien am Schlage gestorben sey. Man mag denken, was ich bey diesen Worten em¬ pfand. Ich nahm ein Licht und ging auf mein Zim¬ mer, um nicht die anwesenden Fremden zu Zeugen mei¬ ner inneren Bewegung zu machen. Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Das mich so nahe beruͤhrende Ereigniß war mir bestaͤndig vor der Seele. Die folgenden Tage und Naͤchte unterwegs, und in Muͤhlhausen und Gotha, vergingen mir nicht besser. Einsam im Wagen, bey den truͤben November¬ tagen, und in den oͤden Feldern, wo nichts Äußeres mich zu zerstreuen und aufzuheitern geeignet war, be¬ muͤhte ich mich vergebens, andere Gedanken zu fassen, und in den Gasthoͤfen unter Menschen hoͤrte ich, als von einer Neuigkeit des Tages, immer von dem mich so nahe betreffenden traurigen Fall. Meine groͤßte Be¬ sorgniß war, daß Goethe in seinem hohen Alter den heftigen Sturm vaͤterlicher Empfindungen nicht uͤber¬ stehen moͤchte. „Und welchen Eindruck, sagte ich mir, wird deine Ankunft machen, da du mit seinem Sohne gegangen bist und nun alleine zuruͤckkommst! Er wird ihn erst zu verlieren glauben, wenn er dich wiedersieht.“ Unter solchen Gedanken und Empfindungen erreichte ich Dienstag den 23. November Abends sechs Uhr das letzte Chausseehaus vor Weimar. Ich fuͤhlte abermals in meinem Leben, daß das menschliche Daseyn schwere Momente habe, durch die man hindurch muͤsse. Meine Gedanken verkehrten mit hoͤheren Wesen uͤber mir, als mich ein Blick des Mondes traf, der auf einige Secun¬ den aus dichtem Gewoͤlk glaͤnzend hervortrat und sich dann wieder finster verhuͤllte wie zuvor. War dieses nun Zufall oder war es etwas mehr, genug ich nahm es als ein guͤnstiges Zeichen von oben, und gewann daraus eine unerwartete Staͤrkung. Kaum daß ich meine Wirthsleute begruͤßt hatte, so war mein erster Weg in das Goethesche Haus. Ich ging zuerst zu Frau v. Goethe. Ich fand sie bereis in tiefer Trauerkleidung, jedoch ruhig und gefaßt, und wir hatten viel gegen einander auszusprechen. Ich ging sodann zu Goethe hinunter. Er stand aufrecht und fest und schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter und ruhig; wir setzten uns und sprachen sogleich von gescheidten Dingen, und ich war hoͤchst begluͤckt, wieder bey ihm zu seyn. Er zeigte mir zwey angefangene Briefe, die er nach Nordheim an mich geschrieben, aber nicht hatte abgehen lassen. Wir sprachen sodann uͤber die Frau Großherzogin, uͤber den Prinzen und manches Andere; seines Sohnes jedoch ward mit keiner Sylbe gedacht. Donnerstag, den 25. November 1830. Goethe sendete mir am Morgen einige Buͤcher, die als Geschenk englischer und deutscher Autoren fuͤr mich angekommen waren. Mittags ging ich zu ihm zu Tisch. Ich fand ihn eine Mappe mit Kupferstichen und Hand¬ zeichnungen betrachtend, die ihm zum Verkauf zugesen¬ det waren. Er erzaͤhlte mir, daß die Frau Großherzogin ihn am Morgen mit einem Besuche erfreut, und daß er Ihr meine Ankunft verkuͤndiget habe. Frau v. Goethe gesellte sich zu uns und wir setzten uns zu Tisch. Ich mußte von meiner Reise erzaͤhlen. Ich sprach uͤber Venedig, uͤber Mailand, uͤber Genua, und es schien ihm besonders interessant, naͤhere Nach¬ richten uͤber die Familie des dortigen englischen Consuls zu vernehmen. Ich erzaͤhlte sodann von Genf, und er erkundigte sich theilnehmend nach der Familie Soret und Herrn von Bonstetten . Von letzterem wuͤnschte er eine naͤhere Schilderung, die ich ihm gab so gut es gelingen wollte. Nach Tisch war es mir lieb, daß Goethe von mei¬ nen Conversationen zu reden anfing. „Es muß Ihre erste Arbeit seyn, sagte er, und wir wollen nicht eher nachlassen, als bis alles vollkommen gethan und im Reinen ist.“ Übrigens erschien Goethe mir heute besonders stille und oft in sich verloren, welches mir kein gutes Zei¬ chen war. Dienstag, den 30. November 1830. Goethe setzte uns vorigen Freytag in nicht geringe Sorge, indem er in der Nacht von einem heftigen Blutsturz uͤberfallen wurde und den ganzen Tag nicht weit vom Tode war. Er verlor, einen Aderlaß mit eingerechnet, sechs Pfund Blut, welches bey seinem acht¬ zigjaͤhrigen Alter viel sagen will. Die große Geschick¬ lichkeit seines Arztes, des Hofraths Vogel , verbunden mit seiner unvergleichlichen Natur, haben jedoch auch dießmal gesiegt, so daß er mit raschen Schritten seiner Genesung entgegengeht, schon wieder den besten Appetit zeigt und auch die ganze Nacht wieder schlaͤft. Es darf niemand zu ihm, das Reden ist ihm verboten, doch sein ewig reger Geist kann nicht ruhen, er denkt schon wie¬ der an seine Arbeiten. Diesen Morgen erhielt ich von ihm folgendes Billet, das er mit der Bleyfeder im Bette geschrieben. „Haben Sie die Guͤte, mein bester Doctor, bey¬ kommende schon bekannte Gedichte nochmals durchzu¬ gehen und die voranliegenden neuen einzuordnen, damit es sich zum Ganzen schicke. Faust folgt hierauf! Ein frohes Wiedersehen! W. d. 30. Nov. 1830. Goethe .“ Nach Goethe's rasch erfolgender voͤlligen Genesung wendete er sein ganzes Interesse auf den vierten Act des Faust , so wie auf die Vollendung des vierten Bandes von Wahrheit und Dichtung . Mir empfahl er die Redaction seiner kleinen bis dahin ungedruckten Schriften, deßgleichen eine Durch¬ sicht seiner Tagebuͤcher und abgegangenen Briefe, damit es uns klar werden moͤchte, wie damit bey kuͤnftiger Herausgabe zu verfahren. An eine Redaction meiner Gespraͤche mit ihm war nicht mehr zu denken; auch hielt ich es fuͤr vernuͤnftiger, anstatt mich mit dem bereits Geschriebenen zu befassen, den Vorrath ferner durch Neues zu vermehren, so lange ein guͤtiges Geschick geneigt seyn wolle, es mir zu ver¬ goͤnnen. 1831 . Sonnabend, den 1. Januar 1831. V on Goethe's Briefen an verschiedene Personen, wo¬ von die Concepte seit dem Jahre 1807 geheftet aufbe¬ wahrt und vorhanden sind, habe ich in den letzten Wochen einige Jahrgaͤnge sorgfaͤltig betrachtet, und will nunmehr in nachstehenden Paragraphen einige allgemeine Bemerkungen niederschreiben, die bey einer kuͤnftigen Redaction und Herausgabe vielleicht moͤchten genutzt werden. §. 1. Zunaͤchst ist die Frage entstanden, ob es gerathen sey, diese Briefe stellenweise und gleichsam im Auszuge mitzutheilen. Hierauf sage ich, daß es im Allgemeinen Goethe's Natur und Verfahren ist, auch bey den kleinsten Gegen¬ staͤnden mit einiger Intention zu Werke zu gehen, wel¬ ches denn auch vorzuͤglich in diesen Briefen erscheint, wo der Verfasser immer als ganzer Mensch bey der Sache gewesen, so daß jedes Blatt von Anfang bis zu Ende nicht allein vollkommen gut geschrieben ist, sondern auch darin eine superiore Natur und vollendete Bildung sich in keiner Zeile verlaͤugnet hat. Ich bin demnach dafuͤr, die Briefe ganz zu geben von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende Stellen durch das Vorangehende und Nachfolgende oft erst ihren wahren Glanz und wirksamstes Verstaͤndniß erhalten. Und genau besehen, und diese Briefe vis-à-vis einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte sich denn anmaßen und sagen, welche Stelle bedeutend und also mitzutheilen sey und welche nicht? — Hat doch der Grammatiker, der Biograph, der Philosoph, der Ethiker, der Naturforscher, der Kuͤnstler, der Poet, der Academiker, der Schauspieler, und so ins Unend¬ liche, hat doch jeder seine verschiedenen Interessen, so daß der eine grade uͤber die Stelle hinauslieset, die der andere als hoͤchst bedeutend ergreift und sich aneignet. So findet sich z. B. in dem ersten Hefte von 1807 ein Brief an einen Freund, dessen Sohn sich dem Forst¬ fache widmen will, und dem Goethe die Carriere vor¬ zeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen solchen Brief wird vielleicht ein junger Literator uͤber¬ schlagen, waͤhrend ein Forstmann sicher mit Freuden bemerken wird, daß der Dichter auch in sein Fach hin¬ eingeblickt, und auch darin guten Rath hat ertheilen wollen. Ich wiederhole daher, daß ich dafuͤr bin, diese Briefe, ohne Zerstuͤckelung, ganz so zu geben wie sie sind, und zwar um so mehr, als sie in der Welt in solcher Gestalt verbreitet existiren, und man sicher darauf rechnen kann, daß die Personen, die sie erhalten, sie einst ganz so werden drucken lassen, wie sie geschrieben worden. §. 2. Faͤnden sich jedoch Briefe, deren unzerstuͤckte Publi¬ cation bedenklich waͤre, die aber im Einzelnen gute Sachen enthielten, so ließe man diese Stellen ausschrei¬ ben, und vertheilte sie entweder in das Jahr, wohin sie gehoͤren, oder machte auch daraus nach Gutbefinden eine besondere Sammlung. §. 3. Es koͤnnte der Fall vorkommen, daß ein Brief uns in dem ersten Hefte, wo wir ihm begegnen, von keiner sonderlichen Bedeutung erschiene und wir also nicht fuͤr seine Mittheilung gestimmt waͤren. Faͤnde sich nun aber in den spaͤteren Jahrgaͤngen, daß ein solcher Brief Folge gehabt, und also als Anfangsglied einer ferneren Kette zu betrachten waͤre, so wuͤrde er durch diesen Umstand bedeutend werden und unter die Mitzutheilenden aufzu¬ nehmen seyn. §. 4. Man koͤnnte zweifeln, ob es besser sey, die Briefe nach den Personen zusammen zu stellen, an die sie geschrieben worden; oder sie, nach den verschiedenen Jahren , bunt durch einander fortlaufen zu lassen. Ich bin fuͤr dieses Letztere, zunaͤchst, weil es eine schoͤne immer wieder anfrischende Abwechselung gewaͤhren wuͤrde, indem, einer anderen Person gegenuͤber, nicht allein immer ein anders nuͤancirter Ton des Vortrages eintritt, sondern auch stets andere Sachen zur Sprache gebracht werden, so daß denn Theater, poetische Arbei¬ ten, Naturstudien, Familienangelegenheiten, Bezuͤge zu hoͤchsten Personen, freundschaftliche Verhaͤltnisse u. s. w. sich abwechselnd darstellen. Sodann aber bin ich fuͤr eine gemischte Herausgabe nach Jahren auch aus dem Grunde, weil die Briefe eines Jahres, durch die Beruͤhrung dessen was gleich¬ zeitig lebte und wirkte, nicht allein den Character des Jahres tragen, sondern auch die Zustaͤnde und Beschaͤf¬ tigungen der schreibenden Person nach allen Seiten und Richtungen hin zur Sprache bringen, so daß denn solche Jahres-Briefe ganz geeignet seyn moͤchten, die bereits gedruckte summarische Biographie der Tag- und Jahres- Hefte mit dem frischen Detail des Augenblicks zu er¬ gaͤnzen. §. 5. Briefe, die andere Personen bereits haben drucken lassen, indem sie vielleicht eine Anerkennung ihrer Ver¬ dienste, oder sonst ein Lob und eine Merkwuͤrdigkeit ent¬ halten, soll man in dieser Sammlung noch einmal brin¬ gen, indem sie theils in die Reihe gehoͤren, anderntheils aber jenen Personen damit ein Wille geschehen moͤchte, indem sie dadurch vor der Welt bestaͤtiget sehen, daß ihre Documente echt waren. §. 6. Die Frage, ob ein Empfehlungsbrief in die Samm¬ lung aufzunehmen sey oder nicht, soll in Erwaͤgung der empfohlenen Person entschieden werden. Ist aus ihr nichts geworden, so soll man den Brief, im Fall er nicht sonstige gute Dinge enthaͤlt, nicht aufnehmen; hat aber die empfohlene Person sich in der Welt einen ruͤhm¬ lichen Namen gemacht, so soll man den Brief auf¬ nehmen. §. 7. Briefe an Personen, die aus Goethe's Leben bekannt sind, wie z. B. Lavater, Jung, Behrisch, Kniep, Hackert und Andere, haben an sich Interesse, und ein solcher Brief waͤre mitzutheilen, wenn er auch außerdem eben nichts Bedeutendes enthalten sollte. §. 8. Man soll uͤberhaupt in Mittheilung dieser Briefe nicht zu aͤngstlich seyn, indem sie uns von Goethe's breiter Existenz und mannigfaltiger Wirkung nach allen Ecken und Enden einen Begriff geben, und indem sein Benehmen gegen die verschiedensten Personen und in II . 17 den mannigfaltigsten Lagen als im hohen Grade lehr reich zu betrachten ist. §. 9. Wenn verschiedene Briefe uͤber eine und dieselbe Thatsache reden, so soll man die vorzuͤglichsten auswaͤh¬ len, und wenn ein gewisser Punct in verschiedenen Briefen vorkommt, so soll man ihn in einigen unter¬ druͤcken und ihn dort stehen lassen, wo er am besten ausgesprochen ist. §. 10. In den Briefen von 1811 und 1812 dagegen kom¬ men vielleicht zwanzig Stellen vor, wo um Handschrif¬ ten merkwuͤrdiger Menschen gebeten wird. Solche und aͤhnliche Stellen muͤssen nicht unterdruͤckt werden, indem sie als durchaus characterisirend und liebenswuͤrdig er¬ scheinen. Vorstehende Paragraphen sind durch Betrachtung der Briefe von den Jahren 1807, 1808 und 1809 an¬ geregt. Was sich im ferneren Verlauf der Arbeit an allgemeinen Bemerkungen noch ergeben moͤchte, soll Ge¬ genwaͤrtigem nachtraͤglich hinzugefuͤgt werden. W. d. 1. Januar 1831. E. Heute nach Tisch besprach ich mit Goethe die vor¬ stehende Angelegenheit punctweise, wo er denn diesen meinen Vorschlaͤgen seine beyfaͤllige Zustimmung gab. „Ich werde, sagte er, in meinem Testament Sie zum Herausgeber dieser Briefe ernennen, und darauf hin¬ deuten, daß wir uͤber das dabey zu beobachtende Ver¬ fahren im Allgemeinen mit einander einig geworden.“ Mittwoch, den 9. Februar 1831. Ich las gestern mit dem Prinzen in Vossens Luise weiter und hatte uͤber das Buch fuͤr mich im Stillen Manches zu bemerken. Die großen Verdienste der Darstellung der Localitaͤt und aͤußeren Zustaͤnde der Personen entzuͤckten mich; jedoch wollte mir erscheinen, daß das Gedicht eines hoͤheren Gehaltes entbehre, welche Bemerkung sich mir besonders an solchen Stellen auf¬ drang, wo die Personen in wechselseitigen Reden ihr Inneres auszusprechen in dem Fall sind. Im Vicar of Wakefield ist auch ein Landprediger mit seiner Familie dargestellt, allein der Poet besaß eine hoͤhere Weltcultur, und so hat sich dieses auch seinen Personen mitgetheilt, die alle ein mannigfaltigeres Innere an den Tag legen. In der Luise steht Alles auf dem Niveau einer be¬ schraͤnkten mittleren Cultur, und so ist freylich immer 17* genug da, um einen gewissen Kreis von Lesern durch¬ aus zu befriedigen. Die Verse betreffend, so wollte es mir vorkommen, als ob der Hexameter fuͤr solche be¬ schraͤnkte Zustaͤnde viel zu praͤtentioͤs, auch oft ein wenig gezwungen und geziert sey, und daß die Perioden nicht immer natuͤrlich genug hinfließen um bequem gelesen zu werden. Ich aͤußerte mich uͤber diesen Punct heute Mittag bey Tisch gegen Goethe. „Die fruͤheren Ausgaben jenes Gedichts, sagte er, sind in solcher Hinsicht weit besser, so daß ich mich erinnere, es mit Freuden vorgelesen zu haben. Spaͤter jedoch hat Voß viel daran gekuͤnstelt, und aus technischen Grillen das Leichte, Natuͤrliche der Verse verdorben. Überhaupt geht Alles jetzt aufs Tech¬ nische aus, und die Herren Critiker fangen an zu quaͤn¬ geln, ob in einem Reim ein s auch wieder auf ein s komme und nicht etwa ein ß auf ein s. — Waͤre ich noch jung und verwegen genug, so wuͤrde ich absichtlich gegen alle solche technische Grillen verstoßen, ich wuͤrde Allitterationen, Assonanzen und falsche Reime, Alles gebrauchen wie es mir kaͤme und bequem waͤre; aber ich wuͤrde auf die Hauptsache losgehen, und so gute Dinge zu sagen suchen, daß jeder gereizt werden sollte, es zu lesen und auswendig zu lernen.“ Freytag, den 11. Februar 1831. Heute bey Tisch erzaͤhlte mir Goethe, daß er den vierten Act des Faust angefangen habe und so fortzu¬ fahren gedenke, welches mich sehr begluͤckte. Sodann sprach er mit großem Lob uͤber Carl Schoͤne , einen jungen Philologen in Leipzig, der ein Werk uͤber die Costume in den Stuͤcken des Euripides geschrieben, und, bey großer Gelehrsamkeit, doch davon nicht mehr entwickelt habe, als eben zu seinen Zwecken noͤthig. „Ich freue mich, sagte Goethe, wie er mit produc¬ tivem Sinn auf die Sache losgeht, waͤhrend andere Philologen der letzten Zeit sich gar zu viel mit dem Technischen und mit langen und kurzen Sylben zu schaffen gemacht haben.“ „Es ist immer ein Zeichen einer unproductiven Zeit, wenn sie so ins Kleinliche des Technischen geht, und eben so ist es ein Zeichen eines unproductiven Indivi¬ duums, wenn es sich mit dergleichen befaßt.“ „Und dann sind auch wieder andere Maͤngel hinder¬ lich. So finden sich z. B. im Grafen Platen fast alle Haupterfordernisse eines guten Poeten: Einbildungs¬ kraft, Erfindung, Geist, Productivitaͤt besitzt er im ho¬ hen Grade; auch findet sich bey ihm eine vollkommene technische Ausbildung, und ein Studium und ein Ernst wie bey wenigen Andern; allein ihn hindert seine unse¬ lige polemische Richtung.“ „Daß er in der großen Umgebung von Neapel und Rom die Erbaͤrmlichkeiten der deutschen Literatur nicht vergessen kann, ist einem so hohen Talent gar nicht zu verzeihen. Der romantische Ödipus traͤgt Spuren daß, besonders was das Technische betrifft, grade Platen der Mann war, um die beste deutsche Tragoͤdie zu schrei¬ ben; allein, nachdem er in gedachtem Stuͤck die tragi¬ schen Motive parodistisch gebraucht hat, wie will er jetzt noch in allem Ernst eine Tragoͤdie machen!“ „Und dann, was nie genug bedacht wird, solche Haͤndel occupiren das Gemuͤth, die Bilder unserer Feinde werden zu Gespenstern, die zwischen aller freyen Pro¬ duction ihren Spuk treiben und in einer ohnehin zarten Natur große Unordnung anrichten. Lord Byron ist an seiner polemischen Richtung zu Grunde gegangen, und Platen hat Ursache, zur Ehre der deutschen Literatur, von einer so unerfreulichen Bahn fuͤr immer abzulenken.“ Sonnabend, den 12. Februar 1831. Ich lese im neuen Testament, und gedenke eines Bildes, das Goethe mir in diesen Tagen zeigte, wo Christus auf dem Meere wandelt, und Petrus, ihm auf den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick an¬ wandelnder Muthlosigkeit sogleich einzusinken anfaͤngt. „Es ist dieß eine der schoͤnsten Legenden, sagte Goe¬ the, die ich vor allen lieb habe. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, daß der Mensch durch Glauben und frischen Muth im schwierigsten Unternehmen siegen werde; dagegen bey anwandelndem geringsten Zweifel sogleich verloren sey.“ Sonntag, den 13. Februar 1831. Bey Goethe zu Tisch. Er erzaͤhlt mir, daß er im vierten Act des Faust fortfahre, und daß ihm jetzt der Anfang so gelungen wie er es gewuͤnscht. „Das, was geschehen sollte, sagte er, hatte ich, wie Sie wissen, laͤngst; allein mit dem Wie war ich noch nicht ganz zufrieden, und da ist es mir nun lieb, daß mir gute Gedanken gekommen sind. Ich werde nun diese ganze Luͤcke, von der Helena bis zum fertigen fuͤnften Act, durcherfinden und in einem ausfuͤhrlichen Schema nieder¬ schreiben, damit ich sodann mit voͤlligem Behagen und Sicherheit ausfuͤhren, und an den Stellen arbeiten kann, die mich zunaͤchst anmuthen. Dieser Act bekommt wie¬ der einen ganz eigenen Character, so daß er, wie eine fuͤr sich bestehende kleine Welt, das Übrige nicht beruͤhrt, und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehen¬ den und Folgenden sich dem Ganzen anschließt.“ Er wird also, sagte ich, voͤllig im Character des uͤbrigen seyn; denn im Grunde sind doch der Auerbach¬ sche Keller, die Hexenkuͤche, der Blocksberg, der Reichs¬ tag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium, die classische Walpurgisnacht, die Helena, lauter fuͤr sich bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich abge¬ schlossen, wohl auf einander wirken, aber doch einander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine mannig¬ faltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines beruͤhmten Helden bloß als eine Art von durch¬ gehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen was er Lust hat. Es ist mit der Odyssee und dem Gil-Blas auch nicht anders. „Sie haben vollkommen Recht, sagte Goethe; auch kommt es bey einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seyen, waͤh¬ rend es als ein Ganzes immer incommensurabel bleibt, aber eben deßwegen, gleich einem unaufgeloͤsten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt.“ Ich erzaͤhlte sodann von dem Brief eines jungen Militairs, dem ich, nebst anderen Freunden, gerathen hatte in auslaͤndische Dienste zu gehen, und der nun, da er die fremden Zustaͤnde nicht nach seinem Sinne gefunden, auf alle diejenigen schilt, die ihm gerathen. „Es ist mit dem Rathgeben ein eigenes Ding, sagte Goethe, und wenn man eine Weile in der Welt gesehen hat, wie die gescheidtesten Dinge mißlingen, und das Absurdeste oft zu einem gluͤcklichen Ziele fuͤhrt, so kommt man wohl davon zuruͤck, jemanden einen Rath ertheilen zu wollen. Im Grunde ist es auch von dem, der einen Rath verlangt, eine Beschraͤnktheit, und von dem, der ihn giebt, eine Anmaßung. Man sollte nur Rath geben in Dingen, in denen man selber mitwirken will. Bit¬ tet mich ein Anderer um guten Rath, so sage ich wohl, daß ich bereit sey ihn zu geben, jedoch nur mit dem Beding, daß er versprechen wolle, nicht danach zu handeln.“ Das Gespraͤch lenkte sich auf das neue Testament, indem ich erzaͤhlte, daß ich die Stelle nachgelesen wo Christus auf dem Meere wandelt und Petrus ihm ent¬ gegengeht. Wenn man die Evangelisten lange nicht ge¬ lesen, sagte ich, so erstaunt man immer wieder uͤber die sittliche Großheit der Figuren. Man findet in den hohen Anforderungen an unsere moralische Willenskraft auch eine Art von categorischem Imperativ. „Besonders, sagte Goethe, finden Sie den categorischen Imperativ des Glaubens, welches sodann Mahomet noch weiter getrieben hat.“ Übrigens, sagte ich, sind die Evange¬ listen, wenn man sie naͤher ansieht, voller Abweichun¬ gen und Widerspruͤche, und die Buͤcher muͤssen wun¬ derliche Schicksale gehabt haben, ehe sie so beysammen gebracht sind, wie wir sie nun haben. „Es ist ein Meer auszutrinken, sagte Goethe, wenn man sich in eine historische und critische Untersuchung dieserhalb ein¬ laͤßt. Man thut immer besser, sich ohne Weiteres an das zu halten, was wirklich da ist, und sich davon an¬ zueignen, was man fuͤr seine sittliche Cultur und Staͤr¬ kung gebrauchen kann. Übrigens ist es huͤbsch, sich die Localitaͤt deutlich zu machen, und da kann ich Ihnen nichts Besseres empfehlen, als das herrliche Buch von Roͤhr uͤber Palaͤstina. Der verstorbene Großherzog hatte uͤber dieses Buch eine solche Freude, daß er es zweymal kaufte, indem er das erste Exemplar, nachdem er es gelesen, der Bibliothek schenkte, und das andere fuͤr sich behielt, um es immer in seiner Naͤhe zu haben.“ Ich wunderte mich uͤber des Großherzogs Theilnahme an solchen Dingen. „Darin, sagte Goethe, war er groß. Er hatte Interesse fuͤr Alles, wenn es einiger¬ maßen bedeutend war, es mochte nun in ein Fach schla¬ gen in welches es wollte. Er war immer vorschreitend, und was in der Zeit irgend an guten neuen Erfindun¬ gen und Einrichtungen hervortrat, suchte er bey sich einheimisch zu machen. Wenn etwas mißlang, so war davon weiter nicht die Rede. Ich dachte oft wie ich dieß oder jenes Verfehlte bey ihm entschuldigen wollte, allein er ignorirte jedes Mißlingen auf die heiterste Weise, und ging immer sogleich wieder auf etwas Neues los. Es war dieses eine eigene Groͤße seines Wesens, und zwar nicht durch Bildung gewonnen, son¬ dern angeboren.“ Zum Nachtisch betrachteten wir einige Kupfer nach neuesten Meistern, besonders im landschaftlichen Fach, wobey mit Freuden bemerkt wurde, daß daran nichts Falsches wahrzunehmen. „Es ist seit Jahrhunderten so viel Gutes in der Welt, sagte Goethe, daß man sich billig nicht wundern sollte wenn es wirkt und wieder Gutes hervorruft.“ Es ist nur das Üble, sagte ich, daß es so viele falsche Lehren giebt, und daß ein junges Talent nicht weiß welchem Heiligen es sich widmen soll. „Davon haben wir Proben, sagte Goethe; wir haben ganze Generationen an falschen Maximen verloren gehen und leiden sehen, und haben selber darunter gelitten. Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irr¬ thum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu koͤnnen! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jah¬ ren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung oͤffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdeß gewirkt und wird auch kuͤnftig, gleich einem Schlingkraut, neben dem Guten immer fortwirken. Mein Trost ist nur, daß ein wirklich großes Talent nicht irre zu leiten und nicht zu verderben ist.“ Wir betrachteten die Kupfer weiter. „Es sind wirk¬ lich gute Sachen, sagte Goethe; Sie sehen reine huͤbsche Talente, die was gelernt und die sich Geschmack und Kunst in bedeutendem Grade angeeignet haben. Allein doch fehlet diesen Bildern allen etwas und zwar: das Maͤnnliche . — Merken Sie sich dieses Wort und unterstreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewisse zudringliche Kraft, die in fruͤheren Jahrhunderten sich uͤberall aussprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar nicht bloß in Werken der Malerey, sondern auch in allen uͤbrigen Kuͤnsten. Es lebt ein schwaͤcheres Geschlecht, von dem sich nicht sagen laͤßt ob es so ist durch die Zeu¬ gung, oder durch eine schwaͤchere Erziehung und Nahrung.“ Man sieht aber dabey, sagte ich, wie viel in den Kuͤnsten auf eine große Persoͤnlichkeit ankommt, die freylich in fruͤheren Jahrhunderten besonders zu Hause war. Wenn man in Venedig vor den Werken von Titian und Paul Veronese steht, so empfindet man den gewaltigen Geist dieser Maͤnner, in ihrem ersten Aper ç uͤ von dem Gegenstande, wie in der letzten Aus¬ fuͤhrung. Ihr großes energisches Empfinden hat die Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und diese hoͤhere Gewalt der kuͤnstlerischen Persoͤnlichkeit dehnet unser eigenes Wesen aus und erhebt uns uͤber uns selbst wenn wir solche Werke betrachten. Dieser maͤnn¬ liche Geist, von dem Sie sagen, findet sich auch ganz besonders in den Rubens schen Landschaften. Es sind freylich auch nur Baͤume, Erdboden, Wasser, Felsen und Wolken, allein seine kraͤftige Gesinnung ist in die Formen gefahren, und so sehen wir zwar immer die bekannte Natur, allein wir sehen sie von der Gewalt des Kuͤnstlers durchdrungen und nach seinem Sinne von neuem hervorgebracht. „Allerdings, sagte Goethe, ist in der Kunst und Poesie die Persoͤnlichkeit alles; allein doch hat es unter den Critikern und Kunstrichtern der neuesten Zeit schwache Personagen gegeben, die dieses nicht zugestehen, und die eine große Persoͤnlichkeit, bey einem Werke der Poesie oder Kunst, nur als eine Art von geringer Zugabe woll¬ ten betrachtet wissen.“ „Aber freylich, um eine große Persoͤnlichkeit zu em¬ pfinden und zu ehren, muß man auch wiederum selber etwas seyn. Alle, die dem Euripides das Erhabene abgesprochen, waren arme Heringe, und einer solchen Erhebung nicht faͤhig; oder sie waren unverschaͤmte Char¬ latane, die durch Anmaßlichkeit in den Augen einer schwachen Welt mehr aus sich machen wollten und auch wirklich machten als sie waren.“ Montag, den 14. Februar 1831. Mit Goethe zu Tisch. Er hatte die Memoiren des General Rapp gelesen, wodurch das Gespraͤch auf Napoleon kam, und welch ein Gefuͤhl die Madame Laͤtitia muͤsse gehabt haben, sich als Mutter so vieler Helden und einer so gewaltigen Familie zu wissen. Sie hatte Napoleon, ihren zweyten Sohn, geboren als sie achtzehn Jahr alt war und ihr Gemahl dreyundzwanzig, so daß also die frischeste Jugendkraft der Eltern seinem physischen Theile zu Gute kam. Neben ihm gebiert sie drey andere Soͤhne, alle bedeutend begabt, tuͤchtig und energisch in weltlichen Dingen und alle mit einem ge¬ wissen poetischen Talent. Auf solche vier Soͤhne folgen drey Toͤchter, und zuletzt Jerome, der am schwaͤchsten von Allen ausgestattet gewesen zu seyn scheint. Das Talent ist freylich nicht erblich, allein es will eine tuͤchtige physische Unterlage, und da ist es denn keineswegs einerley, ob jemand der Erst- oder Letztge¬ borene, und ob er von kraͤftigen und jungen, oder von schwachen und alten Eltern ist gezeugt worden. Merkwuͤrdig ist, sagte ich, daß sich von allen Ta¬ lenten das musikalische am fruͤhesten zeigt, so daß Mozart in seinem fuͤnften, Beethoven in seinem achten, und Hummel in seinem neunten Jahre schon die naͤchste Umgebung durch Spiel und Compositionen in Erstaunen setzten. „Das musikalische Talent, sagte Goethe, kann sich wohl am fruͤhesten zeigen, indem die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres ist, das von Außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfah¬ rung bedarf. Aber freylich, eine Erscheinung wie Mo¬ zart, bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu er¬ klaͤren ist. Doch wie wollte die Gottheit uͤberall Wunder zu thun Gelegenheit finden, wenn sie es nicht zuweilen in außerordentlichen Individuen versuchte, die wir an¬ staunen und nicht begreifen woher sie kommen.“ Dienstag, den 15. Februar 1831. Mit Goethe zu Tisch. Ich erzaͤhle ihm vom Thea¬ ter; er lobt das gestrige Stuͤck, Heinrich III . von Duͤmas , als ganz vortrefflich, findet jedoch natuͤrlich, daß es fuͤr das Publicum nicht die rechte Speise gewe¬ sen. „Ich haͤtte es unter meiner Direction nicht zu bringen gewagt, sagte er, denn ich erinnere mich noch gar wohl, was wir mit dem Standhaften Prinzen fuͤr Noth gehabt, um ihn beym Publicum einzuschwaͤr¬ zen, der doch noch weit menschlicher und poetischer ist und im Grunde weit naͤher liegt als Heinrich der Dritte .“ Ich rede vom Groß - Cophta , den ich in diesen Tagen abermals gelesen. Ich gehe die einzelnen Scenen gespraͤchsweise durch und schließe mit dem Wunsch, es einmal auf der Buͤhne zu sehen. „Es ist mir lieb, sagte Goethe, daß Ihnen das Stuͤck gefaͤllt, und daß Sie herausfinden, was ich hin¬ eingearbeitet habe. Es war im Grunde keine geringe Operation, ein ganz reales Factum erst poetisch, und dann theatralisch zu machen. Und doch werden Sie zugeben, daß das Ganze recht eigentlich fuͤr die Buͤhne gedacht ist. Schiller war auch sehr fuͤr das Stuͤck, und wir haben es einmal gegeben, wo es sich denn fuͤr hoͤhere Menschen wirklich brillant machte. Fuͤr das Publicum im Allgemeinen jedoch ist es nicht; die be¬ handelten Verbrechen behalten immer etwas Apprehen¬ sives, wobey es den Leuten nicht heimlich ist. Es faͤllt, seinem verwegenen Character nach, ganz in den Kreis der Clara Gazul , und der franzoͤsische Dichter koͤnnte mich wirklich beneiden, daß ich ihm ein so gutes Suͤjet vorweggenommen. Ich sage ein so gutes Suͤjet , denn im Grunde ist es nicht bloß von sittlicher, sondern auch von großer historischer Bedeutung; das Factum geht der franzoͤsischen Revolution unmittelbar voran und ist davon gewissermaßen das Fundament. Die Koͤnigin, der fatalen Halsbandsgeschichte so nahe verflochten, ver¬ lor ihre Wuͤrde, ja ihre Achtung, und so hatte sie denn in der Meinung des Volkes den Standpunct verloren, um unantastbar zu seyn. Der Haß schadet niemanden, aber die Verachtung ist es was den Menschen stuͤrzet. Kotzebue wurde lange gehaßt, aber damit der Dolch des Studenten sich an ihn wagen konnte, mußten ihn gewisse Journale erst veraͤchtlich machen.“ Donnerstag, den 17. Februar 1831. Mit Goethe zu Tisch. Ich bringe ihm seinen Aufenthalt in Carlsbad vom Jahre 1807, dessen Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden uͤber kluge Stellen, die darin als fluͤchtige Tagesbemerkungen vorkommen. „Man meint immer, sagte Goethe lachend, man muͤsse alt werden um gescheidt zu seyn; im Grunde aber hat man bey zunehmenden Jahren zu thun, sich so klug zu erhalten als man gewesen ist. Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein An¬ derer, aber er kann nicht sagen, daß er ein Besserer werde, und er kann in gewissen Dingen so gut in sei¬ nem zwanzigsten Jahre Recht haben, als in seinem sech¬ zigsten.“ „Man sieht freylich die Welt anders in der Ebene, anders auf den Hoͤhen des Vorgebirgs, und anders auf den Gletschern des Urgebirgs. Man sieht auf dem einen Standpunct ein Stuͤck Welt mehr als auf dem andern; aber das ist auch alles, und man kann nicht sagen, daß man auf dem einen mehr Recht haͤtte, als auf dem andern. Wenn daher ein Schriftsteller aus verschiedenen Stufen seines Lebens Denkmale zuruͤcklaͤßt, so kommt es vorzuͤglich darauf an, daß er ein angebo¬ renes Fundament und Wohlwollen besitze, daß er auf jeder Stufe rein gesehen und empfunden, und daß er ohne Nebenzwecke grade und treu gesagt habe wie er II . 18 gedacht. Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag sich auch spaͤter entwickeln und veraͤndern wie er wolle.“ Ich gab diesen guten Worten meine vollkommene Beystimmung. „Es kam mir in diesen Tagen ein Blatt Maculatur in die Haͤnde, fuhr Goethe fort, das ich las. Hm! sagte ich zu mir selber, was da geschrieben steht, ist gar nicht so unrecht, du denkst auch nicht an¬ ders, und wuͤrdest es auch nicht viel anders gesagt ha¬ ben. Als ich aber das Blatt recht besehe, war es ein Stuͤck aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬ mer vorwaͤrts strebe, so vergesse ich was ich geschrieben habe, wo ich denn sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen.“ Ich erkundigte mich nach dem Faust und wie er vorruͤcke. „Der laͤßt mich nun nicht wieder los, sagte Goethe, ich denke und erfinde taͤglich daran fort. Ich habe nun auch das ganze Manuscript des zweyten Theiles heute heften lassen, damit es mir als eine sinn¬ liche Masse vor Augen sey. Die Stelle des fehlenden vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefuͤllt, und es ist keine Frage, daß das Fertige anlocket und reizet, um das zu vollenden was noch zu thun ist. Es liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr als man denkt, und man muß dem Geistigen mit allerley Kuͤnsten zu Huͤlfe kommen.“ Goethe ließ den gehefteten neuen Faust hereinbrin¬ gen, und ich war erstaunt uͤber die Masse des Geschrie¬ benen, das im Manuscript als ein guter Folioband mir vor Augen war. Es ist doch alles, sagte ich, seit den sechs Jahren gemacht, die ich hier bin, und doch haben Sie bey dem andern Vielen, was seitdem geschehen, nur sehr wenige Zeit darauf verwenden koͤnnen. Man sieht aber wie etwas heranwaͤchst, wenn man auch nur hin und wieder etwas hinzuthut. „Davon uͤberzeugt man sich besonders wenn man aͤlter wird, sagte Goethe, waͤhrend die Jugend glaubt, es muͤsse alles an Einem Tage geschehen. Wenn aber das Gluͤck mir guͤnstig ist, und ich mich ferner wohl befinde, so hoffe ich in den naͤchsten Fruͤhlingsmonaten am vierten Act sehr weit zu kommen. Es war auch dieser Act, wie Sie wissen, laͤngst erfunden; allein da sich das Übrige waͤhrend der Ausfuͤhrung so sehr gestei¬ gert hat, so kann ich jetzt von der fruͤheren Erfindung nur das Allgemeinste brauchen, und ich muß nun auch dieses Zwischen-Stuͤck durch neue Erfindungen so heran¬ heben, daß es dem Anderen gleich werde.“ Es kommt doch in diesem zweyten Theil, sagte ich, eine weit reichere Welt zur Erscheinung als im ersten. „Ich sollte denken, sagte Goethe. Der erste Theil ist fast ganz subjectiv; es ist alles aus einem befange¬ neren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, 18* welches Halbdunkel den Menschen auch so wohl thun mag. Im zweyten Theile aber ist fast gar nichts Sub¬ jectives, es erscheint hier eine hoͤhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas um¬ gethan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit an¬ zufangen wissen.“ Es sind darin einige Denkuͤbungen, sagte ich, und es moͤchte auch mitunter einige Gelehrsamkeit erfordert werden. Es ist mir nur lieb, daß ich Schellings Buͤchlein uͤber die Kabiren gelesen, und daß ich nun weiß, wohin Sie in jener famoͤsen Stelle der classischen Walpurgisnacht deuten. „Ich habe immer gefunden, sagte Goethe lachend, daß es gut sey etwas zu wissen.“ Freytag, den 18. Februar 1831. Mit Goethe zu Tisch. Wir reden uͤber verschiedene Regierungsformen, und es kommt zur Sprache, welche Schwierigkeiten ein zu großer Liberalismus habe, indem er die Anforderungen der Einzelnen hervorrufe, und man vor lauter Wuͤnschen zuletzt nicht mehr wisse, welche man befriedigen solle. Man werde finden, daß man von oben herab mit zu großer Guͤte, Milde und mora¬ lischer Delicatesse auf die Laͤnge nicht durchkomme, in¬ dem man eine gemischte und mitunter verruchte Welt zu behandeln und in Respect zu erhalten habe. Es wird zugleich erwaͤhnt, daß das Regierungsgeschaͤft ein sehr großes Metier sey, das den ganzen Menschen verlange, und daß es daher nicht gut, wenn ein Regent zu große Nebenrichtungen, wie z. B. eine vorwaltende Tendenz zu den Kuͤnsten habe, wodurch nicht allein das Interesse des Fuͤrsten, sondern auch die Kraͤfte des Staates ge¬ wissen noͤthigeren Dingen entzogen wuͤrden. Eine vor¬ waltende Neigung zu den Kuͤnsten sey mehr die Sache reicher Privatleute. Goethe erzaͤhlte mir sodann, daß seine Metamor¬ phose der Pflanzen mit Sorets Übersetzung gut vorruͤcke, und daß ihm bey der jetzigen nachtraͤglichen Bearbeitung dieses Gegenstandes, besonders der Spirale, ganz unerwartet guͤnstige Dinge von Außen zu Huͤlfe kom¬ men. „Wir beschaͤftigen uns, sagte er, wie Sie wissen, mit dieser Übersetzung schon laͤnger als seit einem Jahre, es sind tausend Hindernisse dazwischen getreten, das Un¬ ternehmen hat oft ganz widerwaͤrtig gestockt, und ich habe es oft im Stillen verwuͤnscht. Nun aber komme ich in den Fall alle diese Hindernisse zu verehren, indem im Laufe dieser Zoͤgerungen, außerhalb, bey andern trefflichen Menschen, Dinge herangereift sind, die jetzt als das schoͤnste Wasser auf meine Muͤhle, mich uͤber alle Begriffe weiter bringen, und meiner Arbeit einen Abschluß erlangen lassen, wie es vor einem Jahre nicht waͤre denkbar gewesen. Dergleichen ist mir in meinem Leben oͤfter begegnet, und man kommt dahin, in solchen Faͤllen an eine hoͤhere Einwirkung, an etwas Daͤmoni¬ sches zu glauben, das man anbetet, ohne sich anzuma¬ ßen es weiter erklaͤren zu wollen.“ Sonnabend, den 19. Februar 1831. Bey Goethe zu Tisch mit Hofrath Vogel . Goe¬ then war eine Brochuͤre uͤber die Insel Helgoland zu¬ gekommen, worin er mit großem Interesse las und uns das Wesentlichste daraus mittheilte. Nach den Gespraͤchen uͤber eine so eigenthuͤmliche Localitaͤt kamen aͤrztliche Dinge an die Reihe, und Vo¬ gel erzaͤhlte, als das Neueste des Tages, von den na¬ tuͤrlichen Blattern, die, trotz aller Impfung, mit einem Male wieder in Eisenach hervorgebrochen seyen und in kurzer Zeit bereits viele Menschen hingerafft haͤtten. „Die Natur, sagte Vogel , spielt einem doch im¬ mer einmal wieder einen Streich, und man muß sehr aufpassen, wenn eine Theorie gegen sie ausreichen soll. Man hielt die Schutzblattern so sicher und so untruͤg¬ lich, daß man ihre Einimpfung zum Gesetz machte. Nun aber dieser Vorfall in Eisenach, wo die Geimpf¬ ten von den natuͤrlichen dennoch befallen worden, macht die Unfehlbarkeit der Schutzblattern verdaͤchtig und schwaͤcht die Motive fuͤr das Ansehen des Gesetzes.“ „Dennoch aber, sagte Goethe, bin ich dafuͤr, daß man von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehe, indem solche kleine Ausnahmen gegen die unuͤbersehbaren Wohlthaten des Gesetzes gar nicht in Betracht kommen.“ „Ich bin auch der Meinung, sagte Vogel , und moͤchte sogar behaupten, daß in allen solchen Faͤllen, wo die Schutzblattern vor den natuͤrlichen nicht gesichert, die Impfung mangelhaft gewesen ist. Soll naͤmlich die Impfung schuͤtzen, so muß sie so stark seyn, daß Fieber entsteht; ein bloßer Hautreiz ohne Fieber schuͤtzt nicht. Ich habe daher heute in der Session den Vorschlag ge¬ than, eine verstaͤrkte Impfung der Schutzblattern allen im Lande damit Beauftragten zur Pflicht zu machen.“ „Ich hoffe daß Ihr Vorschlag durchgegangen ist, sagte Goethe, so wie ich immer dafuͤr bin, strenge auf ein Gesetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige, wo man aus Schwaͤche und uͤbertriebener Liberalitaͤt uͤberall mehr nachgiebt als billig.“ Es kam sodann zur Sprache, daß man jetzt auch in der Zurechnungsfaͤhigkeit der Verbrecher anfange weich und schlaff zu werden, und daß aͤrztliche Zeugnisse und Gutachten oft dahingehen, dem Verbrecher an der ver¬ wirkten Strafe vorbey zu helfen. Bey dieser Gelegen¬ heit lobte Vogel einen jungen Physikus, der in aͤhn¬ lichen Faͤllen immer Character zeige, und der noch kuͤrz¬ lich, bey dem Zweifel eines Gerichtes, ob eine gewisse Kindesmoͤrderin fuͤr zurechnungsfaͤhig zu halten, sein Zeugniß dahin ausgestellt habe, daß sie es allerdings sey. Sonntag, den 20. Februar 1831. Mit Goethe zu Tisch. Er eroͤffnet mir, daß er meine Beobachtung uͤber die blauen Schatten im Schnee, daß sie naͤmlich aus dem Wiederschein des blauen Him¬ mels entstehen, gepruͤft habe und fuͤr richtig anerkenne. „Es kann jedoch Beydes zugleich wirken, sagte er, und die durch das gelbliche Licht erregte Forderung kann die blaue Erscheinung verstaͤrken.“ Ich gebe dieses vollkom¬ men zu, und freue mich daß Goethe mir endlich bey¬ stimmet. Es aͤrgert mich nur, sagte ich, daß ich meine Far¬ benbeobachtungen am Monterosa und Montblanc nicht an Ort und Stelle im Detail niedergeschrieben habe. Das Hauptresultat jedoch war, daß in einer Entfernung von achtzehn bis zwanzig Stunden, Mittags bei der hellesten Sonne, der Schnee gelb, ja roͤthlich gelb er¬ schien, waͤhrend die schneefreyen dunkelen Theile des Gebirgs im entschiedensten Blau heruͤbersahen. Das Phaͤnomen uͤberraschte mich nicht, indem ich mir haͤtte vorhersagen koͤnnen, daß die gehoͤrige Masse von zwi¬ schenliegender Truͤbe dem, die Mittagssonne reflectiren¬ den, weißen Schnee einen tiefgelben Ton geben wuͤrde; aber das Phaͤnomen freute mich besonders aus dem Grunde, weil es die irrige Ansicht einiger Naturforscher, daß die Luft eine blaufaͤrbende Eigenschaft besitze, so ganz entschieden widerlegt. Denn waͤre die Luft in sich blaͤulich, so haͤtte eine Masse von zwanzig Stun¬ den, wie sie zwischen mir und dem Monterosa lag, den Schnee muͤssen hellblau oder weißblaͤulich durchscheinen lassen, aber nicht gelb und gelbroͤthlich. „Die Beobachtung, sagte Goethe, ist von Bedeu¬ tung und widerlegt jenen Irrthum durchaus.“ Im Grunde, sagte ich, ist die Lehre vom Truͤben sehr einfach, so daß man gar zu leicht zu dem Glauben verfuͤhrt wird, man koͤnne sie einem Andern in wenig Tagen und Stunden uͤberliefern. Das Schwierige aber ist, nun mit dem Gesetz zu operiren und ein Urphaͤno¬ men in tausendfaͤltig bedingten und verhuͤllten Erschei¬ nungen immer wieder zu erkennen. „Ich moͤchte es dem Whist vergleichen, sagte Goe¬ the, dessen Gesetze und Regeln auch gar leicht zu uͤber¬ liefern sind, das man aber sehr lange gespielt haben muß, um darin ein Meister zu seyn. Überhaupt lernet niemand etwas durch bloßes Anhoͤren, und wer sich in gewissen Dingen nicht selbst thaͤtig bemuͤhet, weiß die Sachen nur oberflaͤchlich und halb.“ Goethe erzaͤhlte mir sodann von dem Buche eines jungen Physikers, das er loben muͤsse, wegen der Klar¬ heit mit der es geschrieben, und dem er die teleologische Richtung gerne nachsehe. „Es ist dem Menschen natuͤrlich, sagte Goethe, sich als das Ziel der Schoͤpfung zu betrachten, und alle uͤbrigen Dinge nur in Bezug auf sich, und in so fern sie ihm dienen und nuͤtzen. Er bemaͤchtiget sich der ve¬ getabilischen und animalischen Welt, und, indem er an¬ dere Geschoͤpfe als passende Nahrung verschlingt, erken¬ net er seinen Gott, und preiset dessen Guͤte, die so vaͤterlich fuͤr ihn gesorget. Der Kuh nimmt er die Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen ihm nuͤtzlichen Zweck giebt, glaubt er auch daß sie dazu sind geschaffen wor¬ den. Ja er kann sich nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut fuͤr ihn da sey, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwaͤrtig nicht erkannt hat, so glaubt er doch, daß solches sich kuͤnftig ihm gewiß entdecken werde.“ „Und wie der Mensch nun im Allgemeinen denkt, so denkt er auch im Besondern, und er unterlaͤßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wis¬ senschaft zu tragen, und auch bey den einzelnen Theilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen.“ „Dieß mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht, und wo er, ohne hoͤheren Halt, sich in lauter Widerspruͤchen verwickelt.“ „Solche Nuͤtzlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hoͤrner um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und, wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen?“ „Etwas Anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hoͤrnern weil er sie hat.“ „Die Frage nach dem Zweck, die Frage warum ? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie ? — Denn wenn ich frage: wie hat der Ochse Hoͤrner? so fuͤhret mich das auf die Betrachtung seiner Organisation, und belehret mich zugleich, warum der Loͤwe keine Hoͤrner hat und haben kann.“ „So hat der Mensch in seinem Schaͤdel zwey un¬ ausgefuͤllte hohle Stellen. Die Frage Warum ? wuͤrde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie ? mich belehret, daß diese Hoͤhlen Reste des thierischen Schaͤdels sind, die sich bey solchen geringeren Organi¬ sationen in staͤrkerem Maße befinden, und die sich beym Menschen, trotz seiner Hoͤhe, noch nicht ganz verloren haben.“ „Die Nuͤtzlichkeitslehrer wuͤrden glauben ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen die Hoͤrner gab, damit er sich vertheidige. Mir aber moͤge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichthum seiner Schoͤpfung so groß war, nach tausendfaͤltigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle uͤbrigen enthalten, und nach tausendfaͤltigen Thie¬ ren ein Wesen das sie alle enthaͤlt: den Menschen.“ „Man verehre ferner den , der dem Vieh sein Fut¬ ter giebt und dem Menschen Speise und Trank so viel er genießen mag. Ich aber bete den an, der eine solche Productionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Theil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschoͤpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermoͤ¬ gen. Das ist mein Gott! —“ Montag, den 21. Februar 1831. Goethe lobte sehr die neueste Rede von Schelling , womit dieser die Muͤnchener Studenten beruhigt. „Die Rede, sagte er, ist durch und durch gut, und man freuet sich einmal wieder uͤber das vorzuͤgliche Talent, das wir lange kannten und verehrten. Es war in die¬ sem Falle ein trefflicher Gegenstand und ein redlicher Zweck, wo ihm denn das Vorzuͤglichste gelungen ist. Koͤnnte man von dem Gegenstande und Zweck seiner Kabiren¬ schrift dasselbige sagen, so wuͤrden wir ihn auch da ruͤhmen muͤssen, denn seine rhetorischen Talente und Kuͤnste hat er auch da bewiesen.“ Schellings Kabiren brachten das Gespraͤch auf die classische Walpurgisnacht, und wie sich diese von den Brockenscenen des ersten Theiles unterscheide. „Die alte Walpurgisnacht, sagte Goethe, ist mon¬ archisch, indem der Teufel dort uͤberall als entschiedenes Oberhaupt respectirt wird. Die classische aber ist durch¬ aus republikanisch, indem Alles in der Breite neben ein¬ ander steht, so daß der Eine so viel gilt wie der An¬ dere, und niemand sich subordinirt und sich um den Andern bekuͤmmert.“ Auch, sagte ich, sondert sich in der classischen alles in scharf umrissene Individualitaͤten, waͤhrend auf dem deutschen Blocksberg jedes Einzelne sich in eine allge¬ meine Hexenmasse aufloͤset. „Deßhalb, sagte Goethe, weiß auch der Mephisto¬ pheles, was es zu bedeuten hat, wenn der Homuncu¬ lus ihm von thessalischen Hexen redet. Ein guter Kenner des Alterthums wird bey dem Wort thessali¬ sche Hexen sich auch Einiges zu denken vermoͤgen, waͤhrend es dem Ungelehrten ein bloßer Name bleibt.“ Das Alterthum, sagte ich, mußte Ihnen doch sehr lebendig seyn, um alle jene Figuren wieder so frisch ins Leben treten zu lassen, und sie mit solcher Freyheit zu gebrauchen und zu behandeln, wie Sie es gethan haben. „Ohne eine lebenslaͤngliche Beschaͤftigung mit der bildenden Kunst, sagte Goethe, waͤre es mir nicht moͤg¬ lich gewesen. Das Schwierige indessen war, sich bey so großer Fuͤlle maͤßig zu halten, und alle solche Figu¬ ren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention paßten. So habe ich z. B. von dem Minotaurus, den Harpyen, und einigen andern Ungeheuern, keinen Ge¬ brauch gemacht.“ Aber was Sie in jener Nacht erscheinen lassen, sagte ich, ist alles so zusammengehoͤrig und so gruppirt, daß man es sich in der Einbildungskraft leicht und gerne zuruͤckruft und alles willig ein Bild macht. Die Ma¬ ler werden sich so gute Anlaͤsse auch gewiß nicht entge¬ hen lassen; besonders freue ich mich den Mephistopheles bey den Phorkyaden zu sehen, wo er im Profil die fa¬ moͤse Maske probirt. „Es stecken darin einige gute Spaͤße, sagte Goethe, welche die Welt uͤber kurz oder lang auf manche Weise benutzen wird. Wenn die Franzosen nur erst die Helena gewahr werden, und sehen was daraus fuͤr ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stuͤck, wie es ist, ver¬ derben; aber sie werden es zu ihren Zwecken klug ge¬ brauchen, und das ist alles was man erwarten und wuͤnschen kann. Der Phorkyas werden sie sicher einen Chor von Ungeheuern beygeben, wie es an einer Stelle auch bereits angedeutet ist.“ Es kaͤme darauf an, sagte ich, daß ein tuͤchtiger Poet von der romantischen Schule das Stuͤck durchweg als Oper behandelte, und Rossini sein großes Talent zu einer bedeutenden Composition zusammennaͤhme, um mit der Helena Wirkung zu thun. Denn es sind darin Anlaͤsse zu praͤchtigen Decorationen, uͤberraschenden Ver¬ wandlungen, glaͤnzenden Costumen und reizenden Bal¬ letten, wie nicht leicht in einem anderen Stuͤck, ohne zu erwaͤhnen, daß eine solche Fuͤlle von Sinnlichkeit sich auf dem Fundament einer geistreichen Fabel bewegt, wie sie nicht leicht besser erfunden werden duͤrfte. „Wir wollen erwarten, sagte Goethe, was uns die Goͤtter Weiteres bringen. Es laͤßt sich in solchen Din¬ gen nichts beschleunigen. Es kommt darauf an, daß es den Menschen aufgehe, und daß Theater-Directoren, Poeten und Componisten darin ihren Vortheil gewahr werden.“ Dienstag, den 22. Februar 1831. Ober-Consistorialrath Schwabe begegnet mir in den Straßen; ich begleite ihn eine Strecke, wo er mir von seinen mannigfaltigen Geschaͤften erzaͤhlt und ich in den bedeutenden Wirkungskreis dieses vorzuͤglichen Mannes hineinblicke. Er sagt, daß er in den Nebenstunden sich mit Herausgabe eines Baͤndchens neuer Predigten be¬ schaͤftige, daß eins seiner Schulbuͤcher kuͤrzlich ins Daͤ¬ nische uͤbersetzt, daß davon vierzigtausend Exemplare ver¬ kauft worden, und man es in Preußen in den vorzuͤg¬ lichsten Schulen eingefuͤhrt habe. Er bittet mich, ihn zu besuchen, welches ich mit Freuden verspreche. Darauf mit Goethe zu Tisch, rede ich uͤber Schwabe, und Goethe stimmt in dessen Lob vollkommen ein. „Die Großherzogin , sagte er, schaͤtzet ihn auch im hohen Grade, wie denn diese Dame uͤberall recht gut weiß, was sie an den Leuten hat. Ich werde ihn zu meiner Portraitsammlung zeichnen lassen, und Sie thun sehr wohl, ihn zu besuchen, und ihn vorlaͤufig um diese Er¬ laubniß zu bitten. Besuchen Sie ihn ja, zeigen Sie ihm Theilnahme an dem was er thut und vorhat. Es wird fuͤr Sie von Interesse seyn, in einen Wirkungs¬ kreis eigener Art hineinzublicken, wovon man doch, ohne einen naͤheren Verkehr mit einem solchen Mann, keinen rechten Begriff hat.“ Ich verspreche dieses zu thun; indem die Kenntniß practisch-thaͤtiger, das Nuͤtzliche befoͤrdernder Menschen meine wahre Neigung ist. Mittwoch, den 23. Februar 1831. Vor Tisch, bey einem Spaziergange auf der Erfur¬ ter Chaussee, begegnet mir Goethe, welcher halten laͤßt und mich in seinen Wagen nimmt. Wir fahren eine gute Strecke hinaus bis auf die Hoͤhe neben das Tan¬ nenhoͤlzchen, und reden uͤber naturhistorische Dinge. Die Huͤgel und Berge waren mit Schnee bedeckt, und ich erwaͤhne die große Zartheit des Gelben, und daß in der Entfernung von einigen Meilen, mittelst zwischenliegender Truͤbe, ein Dunkeles eher blau erscheine als ein Weißes gelb. Goethe stimmet mir zu, und wir sprechen sodann von der hohen Bedeutung der Urphaͤ¬ nomene, hinter welchen man unmittelbar die Gottheit zu gewahren glaube. „Ich frage nicht, sagte Goethe, ob dieses hoͤchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fuͤhle: es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschoͤpfe sind davon durchdrungen und der Mensch hat davon soviel, daß er Theile des Hoͤchsten erkennen mag.“ Bey Tisch kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwaͤhnung, die, um die organische Welt zu durch¬ schreiten, von der Mineralogie aufwaͤrts gehen wollen. „Dieses ist ein großer Irrthum, sagte Goethe. In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Complicirteste. Man sieht also, daß beyde Welten ganz verschiedene Tenden¬ II . 19 zen haben, und daß von der einen zur andern keines¬ wegs ein stufenartiges Fortschreiten Statt findet.“ Ich merkte mir dieses, als von großer Bedeutung. Donnerstag, den 24. Februar 1831. Ich lese Goethe's Aufsatz uͤber Zahn in den Wie¬ ner Jahrbuͤchern, den ich bewundere, indem ich die Praͤ¬ missen bedenke, die es voraussetzte, um ihn zu schreiben. Bey Tisch erzaͤhlet mir Goethe, daß Soret bey ihm gewesen, und daß sie in der Übersetzung der Me¬ tamorphose einen huͤbschen Fortschritt gemacht. „Das Schwierige bey der Natur, sagte Goethe, ist: das Gesetz auch da zu sehen wo es sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irre machen zu lassen, die unsern Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch wahr. Daß die Sonne still stehe, daß sie nicht auf- und unter¬ gehe, sondern daß die Erde sich taͤglich in undenkbarer Geschwindigkeit herumwaͤlze, widerspricht den Sinnen so stark wie etwas, aber doch zweifelt kein Unterrichteter daß es so sey. Und so kommen auch widersprechende Erscheinungen im Pflanzenreiche vor, wobey man sehr auf seiner Hut seyn muß, sich dadurch nicht auf falsche Wege leiten zu lassen.“ Sonnabend, den 26. Februar 1831. Ich las heute viel in Goethe's Farbenlehre , und freute mich zu bemerken, daß ich diese Jahre her, durch vielfache Übung mit den Phaͤnomenen, in das Werk so hineingewachsen, um jetzt seine großen Verdienste mit einiger Klarheit empfinden zu koͤnnen. Ich bewundere, was es gekostet hat, ein solches Werk zusammenzubrin¬ gen, indem mir nicht bloß die letzten Resultate erschei¬ nen, sondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬ macht worden, um zu festen Resultaten zu gelangen. Nur ein Mensch von großer moralischer Kraft konnte das durchfuͤhren, und wer es ihm nachthun wollte, muͤßte sich daran sehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬ wahre, Egoistische wuͤrde aus der Seele verschwinden muͤs¬ sen, oder die reine, wahre Natur wuͤrde ihn verschmaͤhen. Bedaͤchten dieses die Menschen, so wuͤrden sie gern ei¬ nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis einer solchen Wissenschaft auf solche Weise durchmachen, um daran Sinne, Geist und Charakter zu pruͤfen und zu erbauen. Sie wuͤrden Respect vor dem Gesetzlichen gewinnen, und dem Goͤttlichen so nahe treten, als es einem irdischen Geiste uͤberall nur moͤglich. Dagegen beschaͤftiget man sich viel zu viel mit Poesie und uͤbersinnlichen Mysterien, welches subjective nach¬ giebige Dinge sind, die an den Menschen weiter keine Anforderungen machen, sondern ihm schmeicheln und im guͤnstigen Fall ihn lassen wie er ist. 19* In der Poesie ist nur das wahrhaft Große und Reine foͤrderlich, was wiederum wie eine zweyte Natur dasteht, und uns entweder zu sich heraufhebt, oder uns ver¬ schmaͤht. Eine mangelhafte Poesie hingegen entwickelt unsere Fehler, indem wir die ansteckenden Schwaͤchen des Poeten in uns aufnehmen. Und zwar in uns auf¬ nehmen, ohne es zu wissen, weil wir das unserer Na¬ tur Zusagende nicht fuͤr mangelhaft erkennen. Um aber in der Poesie aus Gutem wie aus Schlech¬ tem einigen Vortheil zu ziehen, muͤßte man bereits auf einer sehr hohen Stufe stehen, und ein solches Funda¬ ment besitzen, um dergleichen Dinge als außer uns lie¬ gende Gegenstaͤnde zu betrachten. Deßhalb lobe ich mir den Verkehr mit der Natur, die unsere Schwaͤchen auf keine Weise beguͤnstigt, und die entweder etwas aus uns macht, oder uͤberall nichts mit uns zu thun hat. Montag, den 28. Februar 1831. Ich beschaͤftige mich den ganzen Tag mit dem Ma¬ nuscript des vierten Bandes von Goethe's Leben, das er mir gestern zusandte, um zu pruͤfen was daran etwa noch zu thun seyn moͤchte. Ich bin gluͤcklich uͤber die¬ ses Werk, indem ich bedenke was es schon ist und was es noch werden kann. Einige Buͤcher erscheinen ganz vollendet und lassen nichts Weiteres wuͤnschen. An an¬ dern dagegen ist noch ein gewisser Mangel an Congruenz wahrzunehmen, welches daher entstanden seyn mag, daß zu sehr verschiedenen Epochen daran ist gearbeitet worden. Dieser ganze vierte Band ist sehr verschieden von den drey fruͤheren. Jene sind durchaus fortschreitend in einer gewissen gegebenen Richtung, so daß denn auch der Weg durch viele Jahre geht. Bey diesem dagegen scheint die Zeit kaum zu ruͤcken, auch sieht man kein entschiedenes Bestreben der Hauptperson. Manches wird unternommen, aber nicht vollendet, manches gewollt, aber anders geleitet, und so empfindet man uͤberall eine heimlich einwirkende Gewalt, eine Art von Schicksal, das mannigfaltige Faͤden zu einem Gewebe aufzieht, das erst kuͤnftige Jahre vollenden sollen. Es war daher in diesem Bande am Ort, von jener geheimen problematischen Gewalt zu reden, die Alle em¬ pfinden, die kein Philosoph erklaͤrt, und uͤber die der Religioͤse sich mit einem troͤstlichen Worte hinaushilft. Goethe nennet dieses unaussprechliche Welt- und Le¬ bens-Raͤthsel das Daͤmonische , und indem er sein Wesen bezeichnet, fuͤhlen wir daß es so ist, und es kommt uns vor, als wuͤrden vor gewissen Hintergruͤn¬ den unsers Lebens die Vorhaͤnge weggezogen. Wir glau¬ ben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald gewahr, daß der Gegenstand zu groß und mannigfaltig ist, und daß unsere Augen nur bis zu einer gewissen Grenze reichen. Der Mensch ist uͤberall nur fuͤr das Kleine geboren, und er begreift nur und hat nur Freude an dem was ihm bekannt ist. Ein großer Kenner begreift ein Ge¬ maͤlde, er weiß das verschiedene Einzelne dem ihm be¬ kannten Allgemeinen zu verknuͤpfen, und das Ganze wie das Einzelne ist ihm lebendig. Er hat auch keine Vorliebe fuͤr gewisse einzelne Theile, er fragt nicht ob ein Gesicht garstig oder schoͤn, ob eine Stelle hell oder dunkel, sondern er fragt ob Alles an seinem Ort stehe und gesetzlich und recht sey. Fuͤhren wir aber einen Unkundigen vor ein Gemaͤlde von einigem Umfang, so werden wir sehen, wie ihn das Ganze unberuͤhrt laͤsset oder verwirret, wie einzelne Theile ihn anziehen, andere ihn abstoßen, und wie er am Ende bey ihm bekannten ganz kleinen Dingen stehen bleibt, indem er etwa lobt, wie doch dieser Helm und diese Feder so gut gemacht sey. Im Grunde aber spielen wir Menschen vor dem großen Schicksalsgemaͤlde der Welt mehr oder weniger alle die Rolle dieses Unkundigen. Die Lichtpartien, das Anmuthige zieht uns an, die schattigen und widerwaͤr¬ tigen Stellen stoßen uns zuruͤck, das Ganze verwirrt uns und wir suchen vergebens nach der Idee eines ein¬ zigen Wesens, dem wir so Widersprechendes zuschreiben. Nun kann wohl einer in menschlichen Dingen ein großer Kenner werden, indem es denkbar ist, daß er sich die Kunst und das Wissen eines Meisters vollkom¬ men aneigne, allein in goͤttlichen Dingen koͤnnte es nur ein Wesen, das dem Hoͤchsten selber gleich waͤre. Ja und wenn nun dieses uns solche Geheimnisse uͤberliefern und offenbaren wollte, so wuͤrden wir sie nicht zu fassen und nichts damit anzufangen wissen, und wir wuͤrden wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemaͤlde gleichen, dem der Kenner seine Praͤmissen, nach denen er urtheilt, durch alles Einreden nicht mitzutheilen im Stande waͤre. In dieser Hinsicht ist es denn schon ganz recht, daß alle Religionen nicht unmittelbar von Gott selber gege¬ ben worden, sondern daß sie, als das Werk vorzuͤgli¬ cher Menschen, fuͤr das Beduͤrfniß und die Faßlichkeit einer großen Masse ihres Gleichen berechnet sind. Waͤren sie ein Werk Gottes, so wuͤrde sie niemand begreifen; da sie aber ein Werk der Menschen sind, so sprechen sie das Unerforschliche nicht aus. Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam nicht weiter, als daß sie einzelne Äußerungen des Un¬ erforschlichen durch besondere Gottheiten versinnlichte. Da aber solche Einzelnheiten beschraͤnkte Wesen waren, und im Ganzen des Zusammenhangs eine Luͤcke blieb, so erfanden sie die Idee des Fatums, das sie uͤber Alle setzten, wodurch denn, da dieses wiederum ein vielseitig Unerforschliches blieb, die Angelegenheit mehr abgethan als abgeschlossen wurde. Christus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle die Eigenschaften beylegte, die er in sich selbst als Voll¬ kommenheiten empfand. Er ward das Wesen seines eigenen schoͤnen Innern, voll Guͤte und Liebe wie er selber, und ganz geeignet, daß gute Menschen sich ihm vertrauensvoll hingeben und diese Idee, als die suͤßeste Verknuͤpfung nach oben, in sich aufnehmen. Da nun aber das große Wesen, welches wir die Gottheit nennen, sich nicht bloß im Menschen, sondern auch in einer reichen gewaltigen Natur, und in maͤchti¬ gen Weltbegebenheiten ausspricht, so kann auch natuͤr¬ lich eine nach menschlichen Eigenschaften von ihm gebil¬ dete Vorstellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende wird bald auf Unzulaͤnglichkeiten und Widerspruͤche sto¬ ßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen, wenn er nicht entweder klein genug ist, sich durch eine kuͤnstliche Ausrede beschwichtigen zu lassen, oder groß genug, sich auf den Standpunct einer hoͤheren Ansicht zu erheben. Einen solchen Standpunct fand Goethe fruͤh in Spinoza , und er erkennet mit Freuden, wie sehr die Ansichten dieses großen Denkers den Beduͤrfnissen seiner Jugend gemaͤß gewesen. Er fand in ihm sich selber, und so konnte er sich auch an ihm auf das Schoͤnste befestigen. Und da nun solche Ansichten nicht subjectiver Art waren, sondern in den Werken und Äußerungen Gottes durch die Welt ein Fundament hatten, so waren es nicht Schalen, die er bey seiner eigenen spaͤtern tiefen Welt- und Naturforschung als unbrauchbar abzuwerfen in den Fall kam, sondern es war das anfaͤngliche Keimen und Wurzeln einer Pflanze, die durch viele Jahre in gleich gesunder Richtung fortwuchs, und sich zuletzt zu der Bluͤthe einer reichen Erkenntniß entfaltete. Widersacher haben ihn oft beschuldigt, er habe keinen Glauben. Er hatte aber bloß den ihrigen nicht, weil er ihm zu klein war. Wollte er den seinigen ausspre¬ chen, so wuͤrden sie erstaunen, aber sie wuͤrden nicht faͤhig seyn ihn zu fassen. Goethe selbst aber ist weit entfernt zu glauben, daß er das hoͤchste Wesen erkenne wie es ist. Alle seine schriftlichen und muͤndlichen Äußerungen gehen darauf hin, daß es ein Unerforschliches sey, wovon der Mensch nur annaͤhernde Spuren und Ahndungen habe. Übrigens ist die Natur und sind wir Menschen alle vom Goͤttlichen so durchdrungen, daß es uns haͤlt, daß wir darin leben, weben und sind, daß wir nach ewigen Gesetzen leiden und uns freuen, daß wir sie ausuͤben und daß sie an uns ausgeuͤbt werden, gleichviel ob wir sie erkennen oder nicht. Schmeckt doch dem Kinde der Kuchen, ohne daß es vom Baͤcker weiß, und dem Sperling die Kirsche, ohne daß er daran denkt wie sie gewachsen ist. Mittwoch, den 2. Maͤrz 1831. Heute bey Goethe zu Tisch, kam das Gespraͤch bald wieder auf das Daͤmonische, und er fuͤgte zu dessen naͤ¬ heren Bezeichnung noch Folgendes hinzu. „Das Daͤmonische, sagte er, ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzuloͤsen ist. In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unter¬ worfen.“ Napoleon , sagte ich, scheint daͤmonischer Art ge¬ wesen zu seyn. „Er war es durchaus, sagte Goethe, im hoͤchsten Grade, so daß kaum ein Anderer ihm zu vergleichen ist. Auch der verstorbene Großherzog war eine daͤmonische Natur, voll unbegrenzter Thatkraft und Unruhe, so daß sein eigenes Reich ihm zu klein war, und das groͤßte ihm zu klein gewesen waͤre. Daͤ¬ monische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgoͤtter.“ Erscheint nicht auch, sagte ich, das Daͤmonische in den Begebenheiten? „Ganz besonders, sagte Goethe, und zwar in allen, die wir durch Verstand und Ver¬ nunft nicht aufzuloͤsen vermoͤgen. Überhaupt mani¬ festirt es sich auf die verschiedenste Weise in der gan¬ zen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschoͤpfe sind ganz daͤmonischer Art, in man¬ chen sind Theile von ihm wirksam.“ Hat nicht auch, sagte ich, der Mephistopheles daͤ¬ monische Zuͤge? — „Nein, sagte Goethe; der Mephi¬ stopheles ist ein viel zu negatives Wesen; das Daͤmo¬ nische aber aͤußert sich in einer durchaus positiven That¬ kraft.“ „Unter den Kuͤnstlern, fuhr Goethe fort, findet es sich mehr bey Musikern, weniger bey Malern. Bey Paganini zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt.“ Ich war sehr erfreut uͤber alle diese Bezeichnungen, wodurch es mir nun deutlicher wurde, was Goethe sich unter dem Begriff des Daͤmonischen dachte. Wir reden sodann viel uͤber den vierten Band, und Goethe bittet mich aufzuzeichnen, was noch daran moͤchte zu thun seyn. Donnerstag, den 3. Maͤrz 1831. Mittags mit Goethe. Er sah einige architectonische Hefte durch, und meinte, es gehoͤre einiger Übermuth dazu, Palaͤste zu bauen, indem man nie sicher sey, wie lange ein Stein auf dem andern bleiben wuͤrde. „Wer in Zelten leben kann, sagte er, steht sich am besten. Oder wie gewisse Englaͤnder thun, die von einer Stadt und einem Wirthshaus ins andere ziehen und uͤberall eine huͤbsche Tafel gedeckt finden.“ Sonntag, den 6. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tisch in mancherley Unterhaltungen. Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und er vergleicht sie den Stengelblaͤttern einer Pflanze, die nach und nach von selber abfallen, und wobey man es nicht so genau und so strenge zu nehmen brauche. „Der Mensch, sagte er, hat verschiedene Stufen, die er durchlaufen muß, und jede Stufe fuͤhrt ihre be¬ sonderen Tugenden und Fehler mit sich, die in der Epoche, wo sie kommen, durchaus als naturgemaͤß zu betrachten und gewissermaßen recht sind. Auf der fol¬ genden Stufe ist er wieder ein Anderer, von den fruͤhe¬ ren Tugenden und Fehlern ist keine Spur mehr, aber andere Arten und Unarten sind an deren Stelle getre¬ ten. Und so geht es fort, bis zu der letzten Verwand¬ lung, von der wir noch nicht wissen wie wir seyn werden.“ Zum Nachtisch las Goethe mir sodann einige seit 1775 sich erhaltene Fragmente von Hanswursts Hoch¬ zeit. Kilian Brustfleck eroͤffnet das Stuͤck mit einem Monolog, worin er sich beklagt, daß ihm Hanswursts Erziehung, trotz aller Muͤhe, so schlecht gegluͤckt sey. Die Scene, so wie alles Übrige, war ganz im Tone des Faust geschrieben. Eine gewaltige productive Kraft bis zum Übermuth sprach sich in jeder Zeile aus, und ich bedauerte bloß, daß es so uͤber alle Grenzen hinaus¬ gehe, daß selbst die Fragmente sich nicht mittheilen las¬ sen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stuͤck spielenden Personen, die fast drey Seiten fuͤllten und sich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbsten lustigsten Sorte, so daß man nicht aus dem Lachen kam. Manche gingen auf koͤrperliche Fehler, und zeich¬ neten eine Figur dermaßen, daß sie lebendig vor die Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigsten Unarten und Laster, und ließen einen tiefen Blick in die Breite der unsittlichen Welt voraussetzen. Waͤre das Stuͤck zu Stande gekommen, so haͤtte man die Er¬ findung bewundern muͤssen, der es gegluͤckt, so mannig¬ faltige symbolische Figuren in eine einzige lebendige Handlung zu verknuͤpfen. „Es war nicht zu denken, daß ich das Stuͤck haͤtte fertig machen koͤnnen, sagte Goethe, indem es einen Gipfel von Muthwillen voraussetzte, der mich wohl augen¬ blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernst meiner Natur lag, und auf dem ich mich also nicht hal¬ ten konnte. Und dann sind in Deutschland unsere Kreise zu beschraͤnkt, als daß man mit so etwas haͤtte hervor¬ treten koͤnnen. Auf einem breiten Terrain, wie Paris, mag dergleichen sich herumtummeln, so wie man auch dort wohl ein Béranger seyn kann, welches in Frank¬ furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken waͤre.“ Dienstag, den 8. Maͤrz 1831. Heute mit Goethe zu Tisch erzaͤhlte er mir zunaͤchst, daß er den Ivanhoe lese. „Walter Scott ist ein großes Talent, sagte er, das nicht seines Gleichen hat, und man darf sich billig nicht verwundern, daß er auf die ganze Lesewelt so außerordentliche Wirkungen hervorbringt. Er giebt mir viel zu denken, und ich ent¬ decke in ihm eine ganz neue Kunst, die ihre eigenen Gesetze hat.“ Wir sprachen sodann uͤber den vierten Band der Biographie, und waren im Hin- und Wiederreden uͤber das Daͤmonische begriffen, ehe wir es uns versahen. „In der Poesie, sagte Goethe, ist durchaus etwas Daͤmonisches, und zwar vorzuͤglich in der unbewußten, bey der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so uͤber alle Begriffe wirkt.“ „Deßgleichen ist es in der Musik im hoͤchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beykommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die Alles beherrscht und von der niemand im Stande ist, sich Rechenschaft zu geben. Der religioͤse Cultus kann sie daher auch nicht entbehren; sie ist eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken.“ „So wirft sich auch das Daͤmonische gern in be¬ deutende Individuen, vorzuͤglich wenn sie eine hohe Stel¬ lung haben, wie Friedrich und Peter der Große .“ „Beym verstorbenen Großherzog war es in dem Grade, daß niemand ihm widerstehen konnte. Er uͤbte auf die Menschen eine Anziehung durch seine ruhige Gegenwart, ohne daß er sich eben guͤtig und freundlich zu erweisen brauchte. Alles, was ich auf seinen Rath unternahm, gluͤckte mir, so daß ich in Faͤllen, wo mein Verstand und meine Vernunft nicht hinreichte, ihn nur zu fragen brauchte was zu thun sey, wo er es denn instinktmaͤßig aussprach, und ich immer im Voraus eines guten Erfolgs gewiß seyn konnte.“ „Ihm waͤre zu goͤnnen gewesen, daß er sich meiner Ideen und hoͤheren Bestrebungen haͤtte bemaͤchtigen koͤn¬ nen; denn wenn ihn der daͤmonische Geist verließ, und nur das Menschliche zuruͤckblieb, so wußte er mit sich nichts anzufangen und er war uͤbel daran.“ „Auch in Byron mag das Daͤmonische in hohem Grade wirksam gewesen seyn, weßhalb er auch die Attrac¬ tiva in großer Maße besessen, so daß ihm denn beson¬ ders die Frauen nicht haben widerstehen koͤnnen.“ In die Idee vom Goͤttlichen, sagte ich versuchend, scheint die wirkende Kraft, die wir das Daͤmonische nen¬ nen, nicht einzugehen. „Liebes Kind, sagte Goethe, was wissen wir denn von der Idee des Goͤttlichen, und was wollen denn unsere engen Begriffe vom hoͤchsten Wesen sagen! Wollte ich es, gleich einem Tuͤrken, mit hundert Namen nen¬ nen, so wuͤrde ich doch noch zu kurz kommen, und im Vergleich so grenzenloser Eigenschaften noch nichts ge¬ sagt haben.“ Mittwoch, den 9. Maͤrz 1831. Goethe fuhr heute fort, mit der hoͤchsten Anerken¬ nung uͤber Walter Scott zu reden. „Man lies't viel zu viel geringe Sachen, sagte er, womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen was man bewundert, wie ich in meiner Jugend that, und wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Ich habe jetzt den Rob Roy angefangen, und will so seine besten Romane hinter einander durchlesen. Da ist frey¬ lich Alles groß, Stoff, Gehalt, Charactere, Behandlung, und dann der unendliche Fleiß in den Vorstudien, so wie in der Ausfuͤhrung die große Wahrheit des Details! Man sieht aber, was die englische Geschichte ist, und was es sagen will, wenn einem tuͤchtigen Poeten eine solche Erbschaft zu Theil wird. Unsere deutsche Geschichte in fuͤnf Baͤnden ist dagegen eine wahre Armuth, so daß man auch, nach dem Goͤtz von Berlichingen , so¬ gleich ins Privatleben ging, und eine Agnes Ber¬ nauerin und einen Otto von Wittelsbach schrieb, womit freylich nicht viel gethan war.“ Ich erzaͤhlte, daß ich Daphnis und Chloe lese und zwar in der Übersetzung von Courier . „Das ist auch ein Meisterstuͤck, sagte Goethe, das ich oft gelesen und bewundert habe, worin Verstand, Kunst und Ge¬ schmack auf ihrem hoͤchsten Gipfel erscheinen, und wo¬ gegen der gute Virgil freylich ein wenig zuruͤcktritt. Das landschaftliche Local ist ganz im Poussinischen Styl, und erscheint hinter den Personen mit sehr wenigen Zuͤ¬ gen vollendet.“ „Sie wissen, Courier hat in der Bibliothek zu Flo¬ renz eine neue Handschrift gefunden, mit der Hauptstelle des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hat¬ ten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Ge¬ dicht in seiner mangelhaften Gestalt gelesen und bewun¬ dert habe, ohne zu fuͤhlen und zu bemerken, daß der eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieses fuͤr die Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegen¬ waͤrtige uns so befriedigte, daß man an ein Abwesen¬ des gar nicht dachte.“ Nach Tisch zeigte Goethe mir eine von Coudray gezeichnete hoͤchst geschmackvolle Thuͤr des Dornburger Schlosses, mit einer lateinischen Inschrift, ungefaͤhr da¬ hin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen und bewirthet werden solle, und man dem Vorbeyziehen¬ den die gluͤcklichsten Pfade wuͤnsche. Goethe hatte diese Inschrift in ein deutsches Disti¬ chon verwandelt und als Motto uͤber einen Brief gesetzt, II . 20 den er im Sommer 1828, nach dem Tode des Gro߬ herzogs, bey seinem Aufenthalte in Dornburg, an den Obersten von Beulwitz geschrieben. Ich hatte von diesem Brief damals viel im Publicum reden hoͤren, und es war mir nun sehr lieb, daß Goethe mir ihn heute mit jener gezeichneten Thuͤr vorlegte. Ich las den Brief mit großem Interesse, und hatte daran zu bewundern, wie er die Localitaͤt des Dorn¬ burger Schlosses sowohl, als das untere Terrain im Thale benutzt um daran die groͤßten Ansichten zu knuͤpfen, und zwar Ansichten solcher Art, um den Menschen, nach einem erlittenen großen Verlust, durchaus wieder auf¬ zurichten und auf die frischesten Fuͤße zu stellen. Ich war uͤber diesen Brief sehr gluͤcklich, indem ich fuͤr mich bemerkte, daß man nach einem guten Stoff nicht weit zu reisen brauche, sondern daß Alles auf einem tuͤchtigen Gehalt im Innern des Dichters ankomme, um aus den geringsten Anlaͤssen etwas Bedeutendes zu machen. Goethe legte den Brief und die Zeichnung in eine besondere Mappe zusammen, um Beydes fuͤr die Zu¬ kunft zu erhalten. Donnerstag, den 10. Maͤrz 1831. Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz sehr gluͤck¬ lich war, indem er den Effect einer großen Kunst em¬ pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Composition deutlich hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse Allgegen¬ wart des Gedankens, welches daher entstanden seyn mag, daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in sei¬ nem Innern hegte, und dadurch so sehr Herr seines Stof¬ fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬ ster Klarheit zugleich uͤbersehen, und jede einzelne Partie geschickt dahin stellen konnte, wo sie fuͤr sich nothwen¬ dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts und ist zugleich an seiner Stelle recht, so daß man als Composition sich nicht leicht etwas Vollkom¬ meneres denken kann. Indem wir weiter lasen empfand ich den lebhaften Wunsch, daß Goethe selbst dieses Ju¬ wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬ ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des Gegenstandes grade ein sehr guͤnstiges Maß habe, sowohl fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬ beiten, als fuͤr den Leser um dem Ganzen wie dem Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen. 20* Freytag, den 11. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tisch in mannigfaltigen Gespraͤchen. „Bey Walter Scott , sagte er, ist es eigen, daß eben sein großes Verdienst in Darstellung des Details ihn oft zu Fehlern verleitet. So kommt im Ivanhoe eine Scene vor, wo man Nachts in der Halle eines Schlosses zu Tische sitzt, und ein Fremder hereintritt. Nun ist es zwar recht, daß er den Fremden von oben herab beschrieben hat, wie er aussieht und wie er geklei¬ det ist, allein es ist ein Fehler, daß er auch seine Fuͤße, seine Schuhe und Struͤmpfe beschreibt. Wenn man Abends am Tische sitzt und jemand hereintritt, so sieht man nur seinen obern Koͤrper. Beschreibe ich aber die Fuͤße, so tritt sogleich das Licht des Tages herein, und die Scene verliert ihren naͤchtlichen Character.“ Ich fuͤhlte das Überzeugende solcher Worte, und merkte sie mir fuͤr kuͤnftige Faͤlle. Goethe fuhr sodann fort, mit großer Bewunderung uͤber Walter Scott zu reden. Ich ersuchte ihn seine Ansichten zu Papiere zu bringen, welches er jedoch mit dem Bemerken ablehnte, daß die Kunst in jenem Schrift¬ steller so hoch stehe, daß es schwer sey, sich daruͤber oͤffentlich mitzutheilen. Montag, den 14. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tisch, mit dem ich mancherley berede. Ich muß ihm von der Stummen von Portici er¬ zaͤhlen, die vorgestern gegeben worden, und es kommt zur Sprache, daß darin eigentlich gegruͤndete Motive zu einer Revolution gar nicht zur Anschauung gebracht worden, welches jedoch den Leuten gefalle, indem nun jeder in die leergelassene Stelle das hineintrage, was ihm selber in seiner Stadt und seinem Lande nicht be¬ hagen mag. „Die ganze Oper, sagte Goethe, ist im Grunde eine Satyre auf das Volk, denn wenn es den Liebeshandel eines Fischermaͤdchens zur oͤffentlichen An¬ gelegenheit macht, und den Fuͤrsten einen Tyrannen nennt, weil er eine Fuͤrstin heirathet, so erscheint es doch wohl so absurd und so laͤcherlich wie moͤglich.“ Zum Nachtisch zeigte Goethe mir Zeichnungen nach Berliner Redensarten, worunter die heitersten Dinge vorkommen, und woran die Maͤßigkeit des Kuͤnstlers gelobt wurde, der an die Caricatur nur heran-, aber nicht wirklich hineingegangen. Dienstag, den 15. Maͤrz 1831. Ich beschaͤftige mich den ganzen Morgen mit dem Manuscript des vierten Bandes von Wahrheit und Dichtung , und schreibe daruͤber folgende Notiz an Goethe. Das zweyte, vierte und fuͤnfte Buch sind als voll¬ endet anzusehen, bis auf einige Kleinigkeiten, die bey einer letzten Durchsicht sehr leicht werden abzu¬ thun seyn. Über das erste und dritte Buch folgen hier einige Bemerkungen. Erstes Buch . Die Erzaͤhlung von Jungs verungluͤckter Augen¬ kur ist von so ernster Bedeutung, daß es die Menschen auf innere tiefe Betrachtungen fuͤhrt, und daß, wenn in Gesellschaft erzaͤhlt, darauf sicherlich eine Pause im Gespraͤch entstehen wuͤrde. Ich rathe daher, das erste Buch damit zu schließen, damit auch auf solche Weise eine Art von Pause eintrete. Die artigen Anekdoten vom Feuer in der Juden¬ gasse und Schlittschuhlaufen im rothen Sammetpelz der Mutter, die jetzt am Ende des ersten Buches liegen und da nicht an passender Stelle sind, wuͤrden sehr schicklich dort zu verknuͤpfen seyn, wo von dem bewußt¬ losen ganz unvorbedachten poetischen Produciren die Rede ist. Denn jene Faͤlle deuten auf einen aͤhnlichen gluͤcklichen Zustand des Gemuͤths, das auch handelnd sich nicht lange fragt und besinnt was zu thun sey, son¬ dern schon gethan hat ehe noch der Gedanke kommt. Drittes Buch . Dieses wuͤrde nach der Verabredung dasjenige auf¬ nehmen, was uͤber den aͤußeren politischen Zustand von 1775, so wie uͤber den inneren von Deutschland, die Bildung des Adels u. s. w. noch zu dictiren seyn moͤchte. Was uͤber Hanswursts Hochzeit, so wie uͤber an¬ dere zu Stande gekommene und nicht zu Stande gekom¬ mene poetische Unternehmungen zu sagen waͤre, koͤnnte, im Fall es sich in dem bereits sehr starken vierten Buche nicht besser anschloͤsse, oder vielleicht gar dort den sehr gut verknuͤpften Zusammenhang unterbraͤche, sich gleichfalls diesem dritten Buche anfuͤgen. Ich habe alle Schemata und Fragmente zu diesem Zweck im dritten Buche zusammengelegt, und wuͤnsche nun Gluͤck und Neigung, auch dieses noch Fehlende mit frischem Geist und gewohnter Anmuth zu dictiren. E. Mittags zu Tisch mit dem Prinzen und Herrn Soret . Wir reden viel uͤber Courier und sodann uͤber den Schluß von Goethe's Novelle, wobey ich die Bemerkung mache, daß Gehalt und Kunst darin viel zu hoch stehen, als daß die Menschen wuͤßten was sie damit anzufangen haben. Man will immer wieder hoͤ¬ ren und wieder sehen, was man schon einmal gehoͤrt und gesehen hat; und wie man gewohnt ist, die Blume Poesie in durchaus poetischen Gefilden anzutreffen, so ist man in diesem Falle erstaunt, sie aus einem durch¬ aus realen Boden hervorwachsen zu sehen. In der poe¬ tischen Region laͤßt man sich alles gefallen, und ist kein Wunder zu unerhoͤrt, als daß man es nicht glauben moͤchte; hier aber, in diesem hellen Lichte des wirklichen Tages, macht uns das Geringste stutzen, was nur ein Weniges vom gewoͤhnlichen Gange der Dinge abweicht; und von tausend Wundern umgeben, an die wir gewohnt sind, ist uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt neu war. Auch faͤllt es dem Menschen durchaus nicht schwer, an Wunder einer fruͤheren Zeit zu glauben; allein einem Wunder, das heute geschieht, eine Art von Realitaͤt zu geben, und es, neben dem sichtbar Wirkli¬ chen, als eine hoͤhere Wirklichkeit zu verehren, dieses scheint nicht mehr im Menschen zu liegen, oder wenn es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬ den. Unser Jahrhundert wird daher auch immer prosai¬ scher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬ kehrs und Glaubens an das Übersinnliche, alle Poesie auch immer mehr verschwinden. Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung, daß der Mensch von hoͤheren Wesen nicht ganz ver¬ lassen sey, daß sie ihn vielmehr im Auge haben, an ihm Theil nehmen, und in der Noth ihm helfend zur Seite sind. Dieser Glaube ist etwas so Natuͤrliches, daß er zum Menschen gehoͤrt, daß er einen Bestandtheil seines We¬ sens ausmacht, und, als das Fundament aller Religion, allen Voͤlkern angeboren ist. In den ersten menschlichen Anfaͤngen zeigt er sich stark; er weicht aber auch der hoͤchsten Cultur nicht, so daß wir ihn unter den Grie¬ chen noch groß in Plato sehen, und zuletzt noch eben so glaͤnzend in dem Verfasser von Daphnis und Chloe . In diesem liebenswuͤrdigen Gedicht waltet das Goͤttliche unter der Form von Pan und den Nymphen, die an frommen Hirten und Liebenden Theil nehmen, welche sie am Tage schuͤtzen und retten, und denen sie Nachts im Traum erscheinen und ihnen sagen was zu thun sey. In Goethe's Novelle ist dieses behuͤtende Unsichtbare unter der Form des Ewigen und der Engel gedacht, die einst in der Grube, unter grimmigen Loͤ¬ wen, den Propheten bewahrten, und die hier, in der Naͤhe eines aͤhnlichen Ungeheuers, ein gutes Kind schuͤtzend umgeben. Der Loͤwe zerreißt den Knaben nicht, er zeigt sich vielmehr sanft und willig; denn die in alle Ewig¬ keit fort thaͤtigen hoͤheren Wesen sind vermittelnd im Spiele. Damit aber dieses einem unglaͤubigen neunzehnten Jahrhundert nicht zu wunderbar erscheine, so benutzt der Dichter noch ein zweytes maͤchtiges Motiv, naͤmlich das der Musik , deren magische Gewalt die Menschen von den aͤltesten Zeiten her empfunden haben, und von der auch wir uns noch taͤglich beherrschen lassen, ohne zu wissen wie uns geschieht. Und wie nun Orpheus durch eine solche Magie alle Thiere des Waldes zu sich heranzog, und in dem letz¬ ten griechischen Dichter ein junger Hirt mit seiner Floͤte die Ziegen leitet, so daß sie auf verschiedene Melodien sich zerstreuen und versammeln, vor dem Feind fliehen und ruhig hinweiden, so uͤbt auch in Goethe's Novelle die Musik auf den Loͤwen ihre Macht aus, indem das gewaltige Thier den Melodien der suͤßen Floͤte nachgeht, und uͤberall folget, wohin die Unschuld des Knaben ihn leiten will. Indem ich nun uͤber so unerklaͤrliche Dinge mit ver¬ schiedenen Leuten gesprochen, habe ich die Bemerkung gemacht, daß der Mensch von seinen trefflichen Vorzuͤ¬ gen so sehr eingenommen ist, daß er sie den Goͤttern beyzulegen gar kein Bedenken traͤgt, allein den Thieren daran einen Antheil zu vergoͤnnen sich nicht gerne ent¬ schließen mag. Mittwoch, den 16. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tisch, dem ich das Manuscript vom vierten Band seines Lebens zuruͤckbringe und daruͤber mancherley Gespraͤche habe. Wir reden auch uͤber den Schluß des Tell und ich gebe mein Verwundern zu erkennen, wie Schiller den Fehler habe machen koͤnnen, seinen Helden durch das unedle Benehmen gegen den fluͤchtigen Herzog von Schwaben so herabsinken zu lassen, indem er uͤber die¬ sen ein hartes Gericht haͤlt, waͤhrend er sich selbst mit seiner eigenen That bruͤstet. „Es ist kaum begreiflich, sagte Goethe, allein Schiller war dem Einfluß von Frauen unterworfen wie Andere auch; und wenn er in diesem Fall so fehlen konnte, so geschah es mehr aus solchen Einwirkungen, als aus sei¬ ner eigenen guten Natur.“ Freytag, den 18. Maͤrz 1831. Mit Goethe zu Tisch. Ich bringe ihm Daphnis und Chloe , welches er einmal wieder zu lesen wuͤnscht. Wir reden uͤber hoͤhere Maximen, und ob es gut und ob es moͤglich sey, sie anderen Menschen zu uͤber¬ liefern. „Die Anlage, das Hoͤhere aufzunehmen, sagte Goethe, ist sehr selten, und man thut daher im gewoͤhn¬ lichen Leben immer wohl, solche Dinge fuͤr sich zu be¬ halten, und davon nur so viel hervorzukehren, als noͤthig ist, um gegen die Andern in einiger Avantage zu seyn.“ Wir beruͤhren sodann den Punct, daß viele Men¬ schen, besonders Critiker und Poeten, das eigentlich Große ganz ignoriren, und dagegen auf das Mittlere einen außerordentlichen Werth legen. „Der Mensch, sagte Goethe, erkennet nur das an und preiset nur das, was er selber zu machen faͤhig ist; und da nun gewisse Leute in dem Mittleren ihre eigent¬ liche Existenz haben, so gebrauchen sie den Pfiff, daß sie das wirklich Tadelnswuͤrdige in der Literatur, was jedoch immer einiges Gute haben mag, durchaus schel¬ ten und ganz tief herabsetzen, damit das Mittlere, was sie anpreisen, auf einer desto groͤßeren Hoͤhe erscheine.“ Ich merkte mir dieses, damit ich wissen moͤchte, was ich von dergleichen Verfahren kuͤnftig zu denken. Wir sprachen sodann von der Farbenlehre , und daß gewisse deutsche Professoren noch immer fortfahren, ihre Schuͤler davor, als vor einem großen Irrthum, zu warnen. „Es thut mir nur um manchen guten Schuͤler leid, sagte Goethe; mir selbst aber kann es voͤllig einerley seyn, denn meine Farbenlehre ist so alt wie die Welt, und wird auf die Laͤnge nicht zu verlaͤugnen und bey Seite zu bringen seyn.“ Goethe erzaͤhlte mir sodann, daß er mit seiner neuen Ausgabe der Metamorphose der Pflanzen und Sorets immer besser gelingenden Übersetzung gut fort¬ schreite. „Es wird ein merkwuͤrdiges Buch werden, sagte er, indem darin die verschiedensten Elemente zu einem Ganzen verarbeitet werden. Ich lasse darin einige Stellen von bedeutenden jungen Naturforschern eintre¬ ten, wobey es erfreulich ist zu sehen, daß sich jetzt in Deutschland unter den Besseren ein so guter Styl ge¬ bildet hat, daß man nicht mehr weiß ob der eine redet oder der andere. Das Buch macht mir indeß mehr Muͤhe als ich dachte; auch bin ich anfangs fast wider Willen in das Unternehmen hereingezogen, allein es herrschte dabey etwas Daͤmonisches ob, dem nicht zu widerstehen war. Sie haben wohl gethan, sagte ich, solchen Einwir¬ kungen nachzugeben, denn das Daͤmonische scheint so maͤchtiger Natur zu seyn, daß es am Ende doch Recht behaͤlt. „Nur muß der Mensch, versetzte Goethe, auch wie¬ derum gegen das Daͤmonische Recht zu behalten suchen, und ich muß in gegenwaͤrtigem Fall dahin trachten, durch allen Fleiß und Muͤhe meine Arbeit so gut zu machen, als in meinen Kraͤften steht und die Umstaͤnde es mir anbieten. Es ist in solchen Dingen wie mit dem Spiel, was die Franzosen Codille nennen, wobey zwar die geworfenen Wuͤrfel viel entscheiden, allein wo es der Klugheit des Spielenden uͤberlassen bleibt, nun auch die Steine im Bret geschickt zu setzen.“ Ich verehrte dieses gute Wort und nahm es als eine treffliche Lehre an mein Herz, um danach zu handeln. Sonntag, den 20. Maͤrz 1831. Goethe erzaͤhlte mir bey Tisch, daß er in diesen Ta¬ gen Daphnis und Chloe gelesen. „Das Gedicht ist so schoͤn, sagte er, daß man den Eindruck davon, bey den schlechten Zustaͤnden in denen man lebt, nicht in sich behalten kann, und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder lies't. Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt lauter herculanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemaͤlde auf das Buch zuruͤckwirken und unserer Phantasie beym Lesen zu Huͤlfe kommen.“ Mir hat, sagte ich, eine gewisse Abgeschlossenheit sehr wohl gethan, worin alles gehalten ist. Es kommt kaum eine fremde Anspielung vor, die uns aus dem gluͤcklichen Kreise herausfuͤhrte. Von Gottheiten sind bloß Pan und die Nymphen wirksam, eine andere wird kaum genannt, und man sieht auch, daß das Beduͤrfniß der Hirten an diesen Gottheiten genug hat. „Und doch, bey aller maͤßigen Abgeschlossenheit, sagte Goethe, ist darin eine vollstaͤndige Welt entwickelt. Wir sehen Hirten aller Art, Feldbautreibende, Gaͤrtner, Win¬ zer, Schiffer, Raͤuber, Krieger und vornehme Staͤdter, große Herren und Leibeigene.“ Auch erblicken wir darin, sagte ich, den Menschen auf allen seinen Lebensstufen, von der Geburt herauf bis ins Alter; auch alle haͤuslichen Zustaͤnde, wie die wechselnden Jahreszeiten sie mit sich fuͤhren, gehen an unseren Augen voruͤber. „Und nun die Landschaft! sagte Goethe, die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Hoͤhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgaͤrten sehen, unten die Weideplaͤtze mit dem Fluß und ein wenig Waldung, so wie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von truͤben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste reinste Himmel, die anmuthigste Luft und ein bestaͤndig trockener Boden, so daß man sich uͤberall nackend hinlegen moͤchte.“ „Das ganze Gedicht, fuhr Goethe fort, verraͤth die hoͤchste Kunst und Cultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt, und alle von der gruͤndlichsten besten Art sind, wie z. B. das von dem Schatz bey dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Ge¬ schmack und eine Vollkommenheit und Delicatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt das je ge¬ macht worden. Alles Widerwaͤrtige, was von Außen in die gluͤcklichen Zustaͤnde des Gedichts stoͤrend herein¬ tritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das Schnelleste abgethan, und hinterlaͤßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Staͤdter, und zwar auch dort nicht in den Hauptperso¬ nen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebe¬ nen. Das ist alles von der ersten Schoͤnheit.“ Und dann, sagte ich, hat mir so wohl gefallen, wie das Verhaͤltniß der Herren und Diener sich ausspricht. In ersteren die humanste Behandlung, und in letzteren, bey aller naiven Freyheit, doch der große Respect und das Bestreben, sich bey dem Herrn auf alle Weise in Gunst zu setzen. So sucht denn auch der junge Staͤdter, der sich dem Daphnis durch das Ansinnen einer unna¬ tuͤrlichen Liebe verhaßt gemacht hat, sich bey diesem, da er als Sohn des Herrn erkannt ist, wieder in Gnade zu bringen, indem er den Ochsenhirten die geraubte Chloe auf eine kuͤhne Weise wieder abjagt und zu Daphnis zuruͤckfuͤhrt. „In allen diesen Dingen, sagte Goethe, ist ein großer Verstand; so auch daß Chloe gegen den beyder¬ seitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres ken¬ nen als nackt neben einander zu ruhen, durch den gan¬ zen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behaͤlt, ist gleichfalls vortrefflich, und so schoͤn motivirt, daß dabey die groͤßten menschlichen Dinge zur Sprache kommen.“ „Man muͤßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Wuͤrden zu schaͤtzen. Man thut wohl, es alle Jahr einmal zu le¬ sen, um immer wieder daran zu lernen, und den Ein¬ druck seiner großen Schoͤnheit aufs neue zu empfinden.“ Montag den 21. Maͤrz 1831. Wir sprachen uͤber politische Dinge, uͤber die noch immer fortwaͤhrenden Unruhen in Paris, und den Wahn der jungen Leute, in die hoͤchsten Angelegenheiten des Staates mit einwirken zu wollen. Auch in England, sagte ich, haben die Studenten vor einigen Jahren bey Entscheidung der katholischen Frage durch Einreichung von Bittschriften einen Einfluß zu erlangen versucht; allein man hat sie ausgelacht und nicht weiter davon Notiz genommen. „Das Beyspiel von Napoleon , sagte Goethe, hat besonders in den jungen Leuten von Frankreich, die unter jenem Helden heraufwuchsen, den Egoismus auf¬ geregt, und sie werden nicht eher ruhen, als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der hoͤchsten Stufe sehen, was sie selber zu seyn wuͤnschen. Es ist nur das Schlimme, daß ein Mann wie Napoleon nicht sobald wieder geboren wird, und ich fuͤrchte fast, daß noch einige hunderttausend Men¬ II . 21 schen darauf gehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe kommt.“ „An literarische Wirkung ist auf einige Jahre gar nicht zu denken, und man kann jetzt weiter nichts thun, als fuͤr eine friedlichere Zukunft im Stillen manches Gute vorzubereiten.“ Nach diesem wenigen Politischen waren wir bald wieder in Gespraͤchen uͤber Daphnis und Chloe . Goethe lobte die Übersetzung von Courier als ganz vollkommen. „Courier hat wohl gethan, sagte er, die alte Übersetzung von Amyot zu respectiren und beyzu¬ behalten, und sie nur an einigen Stellen zu verbessern und zu reinigen und naͤher an das Original hinanzu¬ treiben. Dieses alte Franzoͤsisch ist so naiv, und paßt so durchaus fuͤr diesen Gegenstand, daß man nicht leicht eine vollkommnere Übersetzung in irgend einer anderen Sprache von diesem Buche machen wird.“ Wir redeten sodann von Courier's eigenen Werken, von seinen kleinen Flugschriften, und der Vertheidigung des beruͤchtigten Tintenflecks auf dem Manuscript zu Florenz. „Courier ist ein großes Naturtalent, sagte Goethe, das Zuͤge von Byron hat, so wie von Beaumarchais und Diderot. Er hat von Byron die große Gegenwart al¬ ler Dinge, die ihm als Argument dienen; von Beau¬ marchais die große advocatische Gewandtheit; von Dide¬ rot das Dialektische, und zudem ist er so geistreich, daß man es nicht in hoͤherem Grade seyn kann. Von der Beschuldigung des Tintenflecks scheint er sich indeß nicht ganz zu reinigen, auch ist er in seiner ganzen Richtung nicht positiv genug, als daß man ihn durchaus loben koͤnnte. Er liegt mit der ganzen Welt im Streit, und es ist nicht wohl anzunehmen, daß nicht auch etwas Schuld und etwas Unrecht an ihm selber seyn sollte.“ Wir redeten sodann uͤber den Unterschied des deut¬ schen Begriffes von Geist und des franzoͤsischen esprit . „Das franzoͤsische esprit , sagte Goethe, kommt dem nahe, was wir Deutschen Witz nennen. Unser Geist wuͤrden die Franzosen vielleicht durch esprit und ame ausdruͤcken. Es liegt darin zugleich der Begriff von Productivitaͤt, welchen das franzoͤsische esprit nicht hat.“ Voltaire , sagte ich, hat doch nach deutschen Be¬ griffen dasjenige, was wir Geist nennen. Und da nun das franzoͤsische esprit nicht hinreicht, was sagen nun die Franzosen? „In diesem hohen Falle, sagte Goethe, druͤcken sie es durch génie aus.“ Ich lese jetzt einen Band von Diderot , sagte ich, und bin erstaunt uͤber das außerordentliche Talent dieses Mannes. Und welche Kenntnisse, und welche Gewalt der Rede! Man sieht in eine große bewegte Welt, wo Einer dem Andern zu schaffen machte, und Geist und Character so in bestaͤndiger Übung erhalten wurden, daß beyde gewandt und stark werden mußten. 21 * Was aber die Franzosen im vorigen Jahrhundert in der Literatur fuͤr Maͤnner hatten, erscheint ganz außer¬ ordentlich. Ich muß schon erstaunen, wie ich nur eben hineinblicke. „Es war die Metamorphose einer hundertjaͤhrigen Literatur, sagte Goethe, die seit Ludwig dem vierzehn¬ ten heranwuchs, und zuletzt in voller Bluͤthe stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, D'Alembert, Beaumarchais und Andere herauf, denn um neben Ihm nur etwas zu seyn, mußte man viel seyn, und es galt kein Feyern.“ Goethe erzaͤhlte mir sodann von einem jungen Pro¬ fessor der orientalischen Sprache und Literatur in Jena, der eine Zeit lang in Paris gelebt und eine so schoͤne Bildung habe, daß er wuͤnsche, ich moͤchte ihn kennen lernen. Als ich ging, gab er mir einen Aufsatz von Schroͤn uͤber den zunaͤchst kommenden Cometen, damit ich in solchen Dingen nicht ganz fremd seyn moͤchte. Dienstag den 22. Maͤrz 1831. Goethe las mir zum Nachtisch Stellen aus einem Briefe eines jungen Freundes aus Rom. Einige deut¬ sche Kuͤnstler erscheinen darin mit langen Haaren, Schnurrbaͤrten, uͤbergeklappten Hemdkragen auf alt¬ deutschen Roͤcken, Tabackspfeifen und Bullenbeißern. Der großen Meister wegen, und um etwas zu lernen, scheinen sie nicht nach Rom gekommen zu seyn. Ra¬ phael duͤnkt ihnen schwach, und Tizian bloß ein guter Colorist. „ Niebuhr hat Recht gehabt, sagte Goethe, wenn er eine barbarische Zeit kommen sah. Sie ist schon da, wir sind schon mitten darinne; denn worin besteht die Barbarey anders als darin, daß man das Vortreffliche nicht anerkennt.“ Der junge Freund erzaͤhlt sodann vom Carneval, von der Wahl des neuen Pabstes, und der gleich hinter¬ drein ausbrechenden Revolution. Wir sehen Horaz Vernet , welcher sich ritterlich verschanzet; einige deutsche Kuͤnstler dagegen sich ruhig zu Hause halten und ihre Baͤrte abschneiden, woraus zu bemerken, daß sie sich bey den Roͤmern durch ihr Betragen nicht eben sehr beliebt moͤgen gemacht haben. Es kommt zur Sprache, ob die Verirrung, wie sie an einigen jungen deutschen Kuͤnstlern wahrzunehmen, von einzelnen Personen ausgegangen sey, und sich als eine geistige Ansteckung verbreitet habe, oder ob sie in der ganzen Zeit ihren Ursprung gehabt. „Sie ist von wenigen Einzelnen ausgegangen, sagte Goethe, und wirkt nun schon seit vierzig Jahren fort. Die Lehre war: der Kuͤnstler brauche vorzuͤglich Froͤm¬ migkeit und Genie, um es den Besten gleich zu thun. Eine solche Lehre war sehr einschmeichelnd und man ergriff sie mit beyden Haͤnden. Denn um fromm zu seyn, brauchte man nichts zu lernen, und das eigene Genie brachte jeder schon von seiner Frau Mutter. Man kann nur etwas aussprechen, was dem Eigenduͤnkel und der Bequemlichkeit schmeichelt, um eines großen Anhan¬ ges in der mittelmaͤßigen Menge gewiß zu seyn.“ Freytag den 25. Maͤrz 1831. Goethe zeigte mir einen eleganten gruͤnen Lehnstuhl, den er dieser Tage in einer Auction sich hatte kaufen lassen. „Ich werde ihn jedoch wenig oder gar nicht gebrau¬ chen, sagte er, denn alle Arten von Bequemlichkeit sind eigentlich ganz gegen meine Natur. Sie sehen in mei¬ nem Zimmer kein Sopha; ich sitze immer in meinem alten hoͤlzernen Stuhl, und habe erst seit einigen Wo¬ chen eine Art von Lehne fuͤr den Kopf anfuͤgen lassen. Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Meublen hebt mein Denken auf, und versetzt mich in einen be¬ haglichen passiven Zustand. Ausgenommen, daß man von Jugend auf daran gewoͤhnt sey, sind praͤchtige Zimmer und elegantes Hausgeraͤthe etwas fuͤr Leute, die keine Gedanken haben und haben moͤgen.“ Sonntag den 27. Maͤrz 1831. Das heiterste Fruͤhlingswetter ist nach langem Er¬ warten endlich eingetreten; am durchaus blauen Himmel schwebt nur hin und wieder ein weißes Woͤlkchen, und es ist warm genug, um wieder in Sommerkleidern zu gehen. Goethe ließ in einem Pavillon am Garten decken, und so aßen wir denn heute wieder im Freyen. Wir sprachen uͤber die Großfuͤrstin , wie sie im Stillen uͤberall hinwirke und Gutes thue, und sich die Herzen aller Unterthanen zu eigen mache. „Die Großherzogin, sagte Goethe, hat so viel Geist und Guͤte, als guten Willen; sie ist ein wahrer Segen fuͤr das Land. Und wie nun der Mensch uͤberall bald empfindet, woher ihm Gutes kommt, und wie er die Sonne verehrt und die uͤbrigen wohlthaͤtigen Elemente, so wundert es mich auch nicht, daß alle Herzen sich ihr mit Liebe zuwenden, und daß sie schnell erkannt wird, wie sie es verdient.“ Ich sagte, daß ich mit dem Prinzen Minna von Barnhelm angefangen, und wie vortrefflich mir die¬ ses Stuͤck erscheine. Man hat von Lessing behauptet, sagte ich, er sey ein kalter Verstandesmensch; ich finde aber in diesem Stuͤck so viel Gemuͤth, liebenswuͤrdige Natuͤrlichkeit, Herz, und freye Weltbildung eines heite¬ ren frischen Lebemenschen, als man nur wuͤnschen kann. „Sie moͤgen denken, sagte Goethe, wie das Stuͤck auf uns jungen Leute wirkte, als es in jener dunkelen Zeit hervortrat. Es war wirklich ein glaͤnzendes Me¬ teor. Es machte uns aufmerksam, daß noch etwas Hoͤheres existire, als wovon die damalige schwache lite¬ rarische Epoche einen Begriff hatte. Die beyden ersten Acte sind wirklich ein Meisterstuͤck von Exposition, wo¬ von man viel lernte und wovon man noch immer ler¬ nen kann.“ „Heut zu Tage will freylich niemand mehr etwas von Exposition wissen; die Wirkung, die man sonst im dritten Act erwartete, will man jetzt schon in der ersten Scene haben, und man bedenkt nicht, daß es mit der Poesie wie mit dem Seefahren ist, wo man erst vom Ufer stoßen und erst auf einer gewissen Hoͤhe seyn muß, bevor man mit vollen Segeln gehen kann.“ Goethe ließ etwas trefflichen Rheinwein kommen, womit Frankfurter Freunde ihm zu seinem letzten Geburts¬ tag ein Geschenk gemacht. Er erzaͤhlte mir dabey einige Anekdoten von Merck , der dem verstorbenen Großherzog nicht habe verzeihen koͤnnen, daß er in der Ruhl bey Eisenach eines Tages einen mittelmaͤßigen Wein vor¬ trefflich gefunden. „Merck und ich, fuhr Goethe fort, waren immer mit einander wie Faust und Mepyistopheles. So mo¬ quirte er sich uͤber einen Brief meines Vaters aus Italien, worin dieser sich uͤber die schlechte Lebensweise, das ungewohnte Essen, den schweren Wein und die Muskito's beklagt, und er konnte ihm nicht verzeihen, daß in dem herrlichen Lande und der praͤchtigen Umge¬ bung, ihn so kleine Dinge wie Essen, Trinken und Fliegen haͤtten incommodiren koͤnnen.“ „Alle solche Neckereien gingen bey Merck unstreitig aus dem Fundament einer hohen Cultur hervor; all eida er nicht productiv war, sondern im Gegentheil eine ent¬ schieden negative Richtung hatte, so war er immer we¬ niger zum Lobe bereit als zum Tadel, und er suchte unwillkuͤhrlich alles hervor, um solchem Kitzel zu ge¬ nuͤgen.“ Wir sprachen uͤber Vogel und seine administrativen Talente, so wie uͤber *** und dessen Persoͤnlichkeit, „***, sagte Goethe, ist ein Mann fuͤr sich, den man mit keinem andern vergleichen kann. Er war der Ein¬ zige, der mit mir gegen den Unfug der Preßfreyheit stimmte; er steht fest, man kann sich an ihm halten, er wird immer auf der Seite des Gesetzlichen seyn.“ Wir gingen nach Tisch ein wenig im Garten auf und ab und hatten unsere Freude an den bluͤhenden weißen Schneegloͤckchen und gelben Crokus. Auch die Tulpen kamen hervor und wir sprachen uͤber die Pracht und Kostbarkeit der hollaͤndischen Gewaͤchse solcher Art. „Ein großer Blumenmaler, sagte Goethe, ist gar nicht mehr denkbar; es wird jetzt zu große wissenschaftliche Wahrheit verlangt, und der Botaniker zaͤhlt dem Kuͤnst¬ ler die Staubfaͤden nach, waͤhrend er fuͤr malerische Gruppirung und Beleuchtung kein Auge hat.“ Montag den 28. Maͤrz 1831. Ich verlebte heute mit Goethe wieder sehr schoͤne Stunden. „Mit meiner Metamorphose der Pflan¬ zen , sagte er, habe ich so gut wie abgeschlossen. Das¬ jenige, was ich uͤber die Spirale und Herrn von Martius noch zu sagen hatte, ist auch so gut wie fertig, und ich habe mich diesen Morgen schon wieder dem vierten Bande meiner Biographie zugewendet, und ein Schema von dem geschrieben, was noch zu thun ist. Ich kann es gewissermaßen beneidenswuͤrdig nen¬ nen, daß mir noch in meinem hohen Alter vergoͤnnt ist, die Geschichte meiner Jugend zu schreiben, und zwar eine Epoche, die in mancher Hinsicht von großer Be¬ deutung ist.“ Wir sprachen die einzelnen Theile durch, die mir wie ihm vollkommen gegenwaͤrtig waren. Bey dem dargestellten Liebesverhaͤltniß mit Lili, sagte ich, vermißt man Ihre Jugend keineswegs, viel¬ mehr haben solche Scenen den vollkommenen Hauch der fruͤhen Jahre. „Das kommt daher, sagte Goethe, weil solche Scenen poetisch sind, und ich durch die Kraft der Poesie das mangelnde Liebesgefuͤhl der Jugend mag ersetzt haben.“ Wir gedachten sodann der merkwuͤrdigen Stelle, wo Goethe uͤber den Zustand seiner Schwester redet. „Die¬ ses Capitel, sagte er, wird von gebildeten Frauen mit Interesse gelesen werden, denn es werden viele seyn, die meiner Schwester darin gleichen, daß sie, bey vor¬ zuͤglichen geistigen und sittlichen Eigenschaften, nicht zu¬ gleich das Gluͤck eines schoͤnen Koͤrpers empfinden.“ Daß sie, sagte ich, bey bevorstehenden Festlichkeiten und Baͤllen gewoͤhnlich von einem Ausschlag im Gesicht heimgesucht wurde, ist etwas so Wunderliches, daß man es der Einwirkung von etwas Daͤmonischem zuschreiben moͤchte. „Sie war ein merkwuͤrdiges Wesen, sagte Goethe, sie stand sittlich sehr hoch und hatte nicht die Spur von etwas Sinnlichem. Der Gedanke, sich einem Manne hinzugeben, war ihr widerwaͤrtig, und man mag denken, daß aus dieser Eigenheit in der Ehe manche unange¬ nehme Stunde hervorging. Frauen, die eine gleiche Abneigung haben, oder ihre Maͤnner nicht lieben, wer¬ den empfinden, was dieses sagen will. Ich konnte daher meine Schwester auch nie als verheirathet denken, vielmehr waͤre sie als Äbtissin in einem Kloster recht eigentlich an ihrem Platze gewesen.“ „Und da sie nun, obgleich mit einem der bravsten Maͤnner verheirathet, in der Ehe nicht gluͤcklich war, so widerrieth sie so leidenschaftlich meine beabsichtigte Verbindung mit Lili.“ Dienstag den 29. Maͤrz 1831. Wir sprachen heute uͤber Merck , und Goethe er¬ zaͤhlte mir noch einige characteristische Zuͤge. „Der verstorbene Großherzog, sagte er, war Mer¬ cken sehr guͤnstig, so daß er sich einst fuͤr eine Schuld von viertausend Thalern fuͤr ihn verbuͤrgte. Nun dauerte es nicht lange, so schickte Merck zu unserer Verwunde¬ rung die Buͤrgschaft zuruͤck. Seine Umstaͤnde hatten sich nicht verbessert, und es war raͤthselhaft, welche Art von Negotiation er mochte gemacht haben. Als ich ihn wiedersah, loͤste er mir das Raͤthsel in folgenden Worten.“ „Der Herzog, sagte er, ist ein freygebiger, treff¬ licher Herr, der Zutrauen hat und den Menschen hilft, wo er kann. Nun dachte ich mir: betruͤgst du diesen Herrn um das Geld, so wirket das nachtheilig fuͤr tausend Andere; denn er wird sein koͤstliches Zutrauen verlieren, und viele ungluͤckliche gute Menschen werden darunter leiden, daß Einer ein schlechter Kerl war. — Was habe ich nun gethan? — ich habe speculirt und das Geld von einem Schurken geliehen; denn wenn ich diesen darum betruͤge, so thut's nichts, haͤtte ich aber den guten Herrn darum betrogen, so waͤre es Schade gewesen.“ Wir lachten uͤber die wunderliche Großheit dieses Mannes. „Merck hatte das Eigene, fuhr Goethe fort, daß er im Gespraͤch mitunter he! he! herauszustoßen pflegte. Dieses Angewoͤhnen steigerte sich, wie er aͤlter wurde, so daß es endlich dem Bellen eines Hundes glich. Er fiel zuletzt in eine tiefe Hypochondrie, als Folge seiner vielen Speculationen, und endigte damit, sich zu erschie¬ ßen. Er bildete sich ein, er muͤsse bankerott machen; allein es fand sich, daß seine Sachen keineswegs so schlecht standen, wie er es sich gedacht hatte.“ Mittwoch den 30. Maͤrz 1831. Wir reden wieder uͤber das Daͤmonische. „Es wirft sich gern an bedeutende Figuren, sagte Goethe, auch waͤhlt es sich gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, faͤnde es kaum Gelegenheit sich zu manifestiren.“ Goethe sprach hiedurch aus, was ich selber vor einigen Tagen gedacht hatte, welches mir angenehm war, so wie es immer Freude macht, unsere Gedanken bestaͤ¬ tigt zu sehen. Gestern und diesen Morgen las ich den dritten Band seiner Biographie, wobey es mir war, wie bey einer fremden Sprache, wo wir, nach gemachten Fortschritten, ein Buch wieder lesen, das wir fruͤher zu verstehen glaubten, das aber erst jetzt in seinen kleinsten Theilen und Nuͤan ç en uns entgegentritt. Ihre Biographie ist ein Buch, sagte ich, wodurch wir in unserer Cultur uns auf die entschiedenste Weise gefoͤrdert sehen. „Es sind lauter Resultate meines Lebens, sagte Goethe, und die erzaͤhlten einzelnen Facta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine hoͤhere Wahrheit, zu bestaͤtigen.“ Was Sie unter andern von Basedow erwaͤhnen, sagte ich, wie er naͤmlich zu Erreichung hoͤherer Zwecke die Menschen noͤthig hat und ihre Gunst erwerben moͤchte, aber nicht bedenkt, daß er es mit allen verderben muß, wenn er so ohne alle Ruͤcksicht seine abstoßenden reli¬ gioͤsen Ansichten aͤußert, und den Menschen dasjenige, woran sie mit Liebe haͤngen, verdaͤchtig macht, solche und aͤhnliche Zuͤge erscheinen mir von großer Bedeutung. „Ich daͤchte, sagte Goethe, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens. Ich nannte das Buch Wahrheit und Dichtung , weil es sich durch hoͤhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realitaͤt erhebt. Jean Paul hat nun, aus Geist des Widerspruchs, Wahrheit aus seinem Leben geschrieben! — Als ob die Wahrheit aus dem Leben eines solchen Mannes et¬ was anderes seyn koͤnnte, als daß der Autor ein Phi¬ lister gewesen! — Aber die Deutschen wissen nicht leicht, wie sie etwas Ungewohntes zu nehmen haben, und das Hoͤhere geht oft an ihnen voruͤber, ohne daß sie es gewahr werden. Ein Factum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern in so fern es etwas zu bedeuten hatte.“ Donnerstag den 31. Maͤrz 1831. Zu Tafel beym Prinzen mit Soret und Meyer Wir redeten uͤber literarische Dinge, und Meyer erzaͤhlte uns seine erste Bekanntschaft mit Schiller . „Ich ging, sagte er, mit Goethe in dem sogenann¬ ten Paradies bey Jena spazieren, wo Schiller uns be¬ gegnete und wo wir zuerst mit einander redeten. Er hatte seinen Don Carlos noch nicht beendigt; er war eben aus Schwaben zuruͤckgekehrt und schien sehr krank und an den Nerven leidend. Sein Gesicht glich dem Bilde des Gekreuzigten. Goethe dachte, er wuͤrde keine vierzehn Tage leben, allein, als er zu groͤßerem Be¬ hagen kam, erholte er sich wieder und schrieb dann erst alle seine bedeutenden Sachen.“ Meyer erzaͤhlte sodann einige Zuͤge von Jean Paul und Schlegel , die er beyde in einem Wirthshause zu Heidelberg getroffen; so wie Einiges aus seinem Aufent¬ halte in Italien, heitere Sachen, die uns sehr be¬ hagten. In Meyers Naͤhe wird es mir immer wohl, welches daher kommen mag, daß er ein in sich abgeschlossenes zufriedenes Wesen ist, das von der Umgebung wenig Notiz nimmt, und dagegen sein eigenes behagliches In¬ nere in schicklichen Pausen hervorkehrt. Dabey ist er in allem fundirt, besitzt den hoͤchsten Schatz von Kennt¬ nissen, und ein Gedaͤchtniß, dem die entferntesten Dinge gegenwaͤrtig sind, als waͤren sie gestern geschehen. Er hat ein Übergewicht von Verstand, den man fuͤrchten muͤßte, wenn er nicht auf der edelsten Cultur ruhte; aber so ist seine stille Gegenwart immer angenehm, im¬ mer belehrend. Freitag den 1. April 1831. Mit Goethe zu Tisch in mannigfaltigen Gespraͤchen. Er zeigte mir ein Aquarell-Gemaͤlde von Herrn v. Reu¬ tern , einen jungen Bauern darstellend, der auf dem Markt einer kleinen Stadt bey einer Korb- und Decken- Verkaͤuferin steht. Der junge Mensch sieht die vor ihm liegenden Koͤrbe an, waͤhrend zwey sitzende Frauen und ein dabey stehendes derbes Maͤdchen den huͤbschen jun¬ gen Menschen mit Wohlgefallen anblicken. Das Bild componirt so artig, und der Ausdruck der Figuren ist so wahr und naiv, daß man nicht satt wird es zu be¬ trachten. „Die Aquarellmalerey, sagte Goethe, steht in diesem Bilde auf einer sehr hohen Stufe. Nun sagen die ein¬ faͤltigen Menschen, Herr von Reutern habe in der Kunst niemanden etwas zu verdanken, sondern habe alles von sich selber. Als ob der Mensch etwas anderes aus sich selber haͤtte, als die Dummheit und das Ungeschick! Wenn dieser Kuͤnstler auch keinen namhaften Meister gehabt, so hat er doch mit trefflichen Meistern verkehrt, und hat ihnen und großen Vorgaͤngern und der uͤberall gegenwaͤrtigen Natur das Seinige abgelernt. Die Na¬ tur hat ihm ein treffliches Talent gegeben, und Kunst und Natur haben ihn ausgebildet. Er ist vortrefflich, und in manchen Dingen einzig, aber man kann nicht sagen, daß er Alles von sich selber habe. Von einem durchaus verruͤckten und fehlerhaften Kuͤnstler ließe sich allenfalls sagen, er habe alles von sich selber, allein von einem trefflichen nicht.“ Goethe zeigte mir darauf, von demselbigen Kuͤnstler, einen reich mit Gold und bunten Farben gemalten Rah¬ men mit einer in der Mitte freygelassenen Stelle zu einer Inschrift. Oben sah man ein Gebaͤude im gothischen Styl; reiche Arabesken, mit eingeflochtenen Landschaften und haͤuslichen Scenen, liefen zu beyden Seiten hinab; unten schloß eine anmuthige Waldpartie mit dem fri¬ schesten Gruͤn und Rasen. II . 22 „Herr v. Reutern wuͤnscht, sagte Goethe, daß ich ihm in die freygelassene Stelle etwas hineinschreibe; al¬ lein sein Rahmen ist so praͤchtig und kunstreich, daß ich mit meiner Handschrift das Bild zu verderben fuͤrchte. Ich habe zu diesem Zweck einige Verse gedichtet, und schon gedacht, ob es nicht besser sey, sie durch die Hand eines Schoͤnschreibers eintragen zu lassen. Ich wollte es dann eigenhaͤndig unterschreiben. Was sagen Sie dazu, und was rathen Sie mir?“ Wenn ich Herr v. Reutern waͤre, sagte ich, so wuͤrde ich ungluͤcklich seyn, wenn das Gedicht in einer fremden Handschrift kaͤme, aber gluͤcklich, wenn es von Ihrer eigenen Hand geschrieben waͤre. Der Maler hat Kunst genug in der Umgebung entwickelt, in der Schrift braucht keine zu seyn, es kommt bloß darauf an, daß sie echt, daß sie die Ihrige sey. Und dann rathe ich sogar, es nicht mit lateinischen, sondern mit deutschen Let¬ tern zu schreiben, weil Ihre Hand darin mehr eigen¬ thuͤmlichen Character hat, und es auch besser zu der gothischen Umgebung paßt. „Sie moͤgen Recht haben, sagte Goethe, und es ist am Ende der kuͤrzeste Weg, daß ich so thue. Vielleicht kommt mir in diesen Tagen ein muthiger Augenblick, daß ich es wage. Wenn ich aber auf das schoͤne Bild einen Klecks mache, fuͤgte er lachend hinzu, so moͤgt Ihr es verantworten.“ Schreiben Sie nur, sagte ich, es wird recht seyn, wie es auch werde. Dienstag den 5. April 1831. Mittags mit Goethe. „In der Kunst, sagte er, ist mir nicht leicht ein erfreulicheres Talent vorgekommen, als das von Neureuther . Es beschraͤnkt sich selten ein Kuͤnstler auf das, was er vermag, die meisten wol¬ len mehr thun als sie koͤnnen, und gehen gar zu gern uͤber den Kreis hinaus, den die Natur ihrem Talente gesetzt hat. Von Neureuther jedoch laͤßt sich sagen, daß er uͤber seinem Talent stehe. Die Gegenstaͤnde aus allen Reichen der Natur sind ihm gelaͤufig, er zeichnet eben so wohl Gruͤnde, Felsen und Baͤume, wie Thiere und Menschen; Erfindung, Kunst und Geschmack besitzt er im hohen Grade, und indem er eine solche Fuͤlle in leichten Randzeichnungen gewissermaßen vergeudet, scheint er mit seinen Faͤhigkeiten zu spielen, und es geht auf den Beschauer das Behagen uͤber, welches die bequeme freye Spende eines reichen Vermoͤgens immer zu beglei¬ ten pflegt.“ „In Randzeichnungen hat es auch niemand zu der Hoͤhe gebracht wie er, und selbst das große Talent von Albrecht Duͤrer war ihm darin weniger ein Muster als eine Anregung.“ „Ich werde, fuhr Goethe fort, ein Exemplar dieser Zeichnungen von Neureuther an Herrn Carlyle nach 22* Schottland senden, und hoffe jenem Freunde damit kein unwillkommenes Geschenk zu machen.“ Montag den 2. May 1831. Goethe erfreute mich mit der Nachricht, daß es ihm in diesen Tagen gelungen, den bisher fehlenden An¬ fang des fuͤnften Actes von Faust so gut wie fertig zu machen. „Die Intention auch dieser Scenen, sagte er, ist uͤber dreyßig Jahre alt; sie war von solcher Bedeutung, daß ich daran das Interesse nicht verloren, allein so schwer auszufuͤhren, daß ich mich davor fuͤrchtete. Ich bin nun durch manche Kuͤnste wieder in Zug gekommen, und wenn das Gluͤck gut ist, so schreibe ich jetzt den vierten Act hintereinander weg.“ Goethe erwaͤhnte darauf eines bekannten Schrift¬ stellers. „Es ist ein Talent, sagte er, dem der Par¬ teyhaß als Alliance dient und das ohne ihn keine Wirkung gethan haben wuͤrde. Man findet haͤufige Proben in der Literatur, wo der Haß das Genie er¬ setzet, und wo geringe Talente bedeutend erscheinen, indem sie als Organ einer Partey auftreten. So auch findet man im Leben eine Masse von Perso¬ nen, die nicht Character genug haben, um alleine zu stehen; diese werfen sich gleichfalls an eine Partey, wodurch sie sich gestaͤrkt fuͤhlen und nun eine Figur machen.“ „ B é ranger dagegen ist ein Talent, das sich sel¬ ber genug ist. Er hat daher auch nie einer Partey gedient. Er empfindet zu viele Satisfaction in seinem Innern, als daß ihm die Welt etwas geben oder neh¬ men koͤnnte.“ Sonntag den 15. May 1831. Mit Goethe in seiner Arbeitsstube alleine zu Tisch. Nach manchen heiteren Unterhaltungen brachte er zuletzt das Gespraͤch auf seine persoͤnlichen Angelegenheiten, indem er aufstand und von seinem Pulte ein beschriebe¬ nes Papier nahm. „Wenn einer, wie ich, uͤber die achtzig hinaus ist, sagte er, hat er kaum noch ein Recht zu leben; er muß jeden Tag darauf gefaßt seyn, abgerufen zu werden, und daran denken, sein Haus zu bestellen. Ich habe, wie ich Ihnen schon neulich eroͤffnete, Sie in meinem Testament zum Herausgeber meines literarischen Nach¬ lasses ernannt, und habe diesen Morgen, als eine Art von Contract, eine kleine Schrift aufgesetzt, die Sie mit mir unterzeichnen sollen.“ Mit diesen Worten legte Goethe mir den Aufsatz vor, worin ich die nach seinem Tode herauszugebenden, theils vollendeten, theils noch nicht vollendeten Schrif¬ ten namentlich aufgefuͤhrt, und uͤberhaupt die naͤheren Bestimmungen und Bedingungen ausgesprochen fand. Ich war im Wesentlichen einverstanden, und wir unter¬ zeichneten darauf beyderseitig. Das benannte Material, mit dessen Redaction ich mich bisher schon von Zeit zu Zeit beschaͤftigt hatte, schaͤtzte ich zu etwa funfzehn Baͤnden; wir besprachen darauf einzelne noch nicht ganz entschiedene Puncte. „Es koͤnnte der Fall eintreten, sagte Goethe, daß der Verleger uͤber eine gewisse Bogenzahl hinauszugehen Bedenken truͤge, und daß demnach von dem mittheil¬ baren Material verschiedenes zuruͤckbleiben muͤßte. In diesem Fall koͤnnten Sie etwa den polemischen Theil der Farbenlehre weglassen. Meine eigentliche Lehre ist in dem theoretischen Theile enthalten, und da nun auch schon der historische vielfach polemischer Art ist, so daß die Hauptirrthuͤmer der Newtonischen Lehre darin zur Sprache kommen, so waͤre des Polemischen damit fast genug. Ich desavouire meine etwas scharfe Zergliederung der Newtonischen Saͤtze zwar keineswegs, sie war zu ihrer Zeit nothwendig und wird auch in der Folge ihren Werth behalten, allein im Grunde ist alles polemische Wirken gegen meine eigentliche Natur und ich habe daran wenig Freude.“ Ein zweyter Punct, der von uns naͤher besprochen wurde, waren die Maximen und Reflexionen, die am Ende des zweyten und dritten Theiles der Wanderjahre abgedruckt stehen. Bey der begonnenen Umarbeitung und Vervollstaͤn¬ digung dieses fruͤher in Einem Bande erschienenen Ro¬ mans, hatte Goethe naͤmlich seinen Anschlag auf zwey Baͤnde gemacht, wie auch in der Ankuͤndigung der neuen Ausgabe der saͤmmtlichen Werke gedruckt steht. Im Fortgange der Arbeit jedoch wuchs ihm das Manuscript uͤber die Erwartung, und da sein Schreiber etwas weitlaͤufig geschrieben, so taͤuschte sich Goethe und glaubte, statt zu zwey Baͤnden, zu dreyen genug zu haben, und das Manuscript ging in drey Baͤnden an die Verlags¬ handlung ab. Als nun aber der Druck bis zu einem gewissen Puncte gediehen war, fand es sich, daß Goethe sich verrechnet hatte, und daß besonders die beyden letzten Baͤnde zu klein ausfielen. Man bat um weiteres Manuscript, und da nun in dem Gang des Romans nichts mehr geaͤndert, auch in dem Drange der Zeit keine neue Novelle mehr erfunden, geschrieben und ein¬ geschaltet werden konnte, so befand sich Goethe wirklich in einiger Verlegenheit. Unter diesen Umstaͤnden ließ er mich rufen; er er¬ zaͤhlte mir den Hergang und eroͤffnete mir zugleich, wie er sich zu helfen gedenke, indem er mir zwey starke Manuscript-Buͤndel vorlegte, die er zu diesem Zweck hatte herbeyholen lassen. „In diesen beyden Paketen, sagte er, werden Sie verschiedene bisher ungedruckte Schriften finden, Einzeln¬ heiten, vollendete und unvollendete Sachen, Ausspruͤche uͤber Naturforschung, Kunst, Literatur und Leben, alles durcheinander. Wie waͤre es nun, wenn Sie davon sechs bis acht gedruckte Bogen zusammenredigirten, um damit vorlaͤufig die Luͤcken der Wanderjahre zu fuͤllen. Genau genommen gehoͤrt es zwar nicht dahin, allein es laͤßt sich damit rechtfertigen, daß bey Makarien von einem Archiv gesprochen wird, worin sich dergleichen Einzelnheiten befinden. Wir kommen dadurch fuͤr den Augenblick uͤber eine große Verlegenheit hinaus, und ha¬ ben zugleich den Vortheil, durch dieses Vehikel eine Masse sehr bedeutender Dinge schicklich in die Welt zu bringen.“ Ich billigte den Vorschlag und machte mich sogleich an die Arbeit und vollendete die Redaction solcher Ein¬ zelnheiten in weniger Zeit. Goethe schien sehr zufrieden. Ich hatte das Ganze in zwey Hauptmassen zusammen¬ gestellt; wir gaben der einen den Titel: Aus Maka¬ riens Archiv , und der anderen die Aufschrift: Im Sinne der Wanderer , und da Goethe gerade zu dieser Zeit zwey bedeutende Gedichte vollendet hatte, eins auf Schillers Schaͤdel , und ein anderes: Kein Wesen kann zu nichts zerfallen , so hatte er den Wunsch, auch diese Gedichte sogleich in die Welt zu bringen, und wir fuͤgten sie also dem Schlusse der beyden Abtheilungen an. Als nun aber die Wanderjahre erschienen, wußte niemand, wie ihm geschah. Den Gang des Romans sah man durch eine Menge raͤthselhafter Spruͤche unter¬ brochen, deren Loͤsung nur von Maͤnnern vom Fach, d. h. von Kuͤnstlern, Naturforschern und Literatoren zu erwarten war, und die allen uͤbrigen Lesern, zumal Le¬ serinnen, sehr unbequem fallen mußten. Auch wurden die beyden Gedichte so wenig verstanden, als es geah¬ net werden konnte, wie sie nur moͤchten an solche Stel¬ len gekommen seyn. Goethe lachte dazu. „Es ist nun einmal geschehen, sagte er heute, und es bleibt jetzt weiter nichts, als daß Sie bey Herausgabe meines Nachlasses diese ein¬ zelnen Sachen dahin stellen, wohin sie gehoͤren; damit sie, bey einem abermaligen Abdruck meiner Werke, schon an ihrem Orte vertheilt stehen, und die Wanderjahre sodann, ohne die Einzelnheiten und die beyden Gedichte, in zwey Baͤnden zusammenruͤcken moͤgen, wie anfaͤng¬ lich die Intention war.“ Wir wurden einig, daß ich alle auf Kunst bezuͤg¬ lichen Aphorismen in einen Band uͤber Kunstgegenstaͤnde, alle auf die Natur bezuͤglichen in einen Band uͤber Naturwissenschaften im Allgemeinen, so wie alles Ethi¬ sche und Literarische in einen gleichfalls passenden Band dereinst zu vertheilen habe. Mittwoch den 25. Mai 1831. Wir sprachen uͤber Wallensteins Lager. Ich hatte naͤmlich haͤufig erwaͤhnen hoͤren, daß Goethe an die¬ sem Stuͤcke Theil gehabt, und daß besonders die Capu¬ zinerpredigt von ihm herruͤhre. Ich fragte ihn deßhalb heute bey Tisch, und er gab mir folgende Antwort. „Im Grunde, sagte er, ist alles Schillers eigene Arbeit. Da wir jedoch in so e nem Verhaͤltniß mit einander lebten, und Schiller mir nicht allein den Plan mittheilte und mit mir durchsprach, sondern auch die Ausfuͤhrung, so wie sie taͤglich heranwuchs, commu¬ nicirte und meine Bemerkungen hoͤrte und nutzte, so mag ich auch wohl daran einigen Theil haben. Zu der Capuziner-Predigt schickte ich ihm die Reden des Abra¬ ham a Sancta Clara , woraus er denn sogleich jene Predigt mit großem Geiste zusammenstellte.“ „Daß einzelne Stellen von mir herruͤhren, erinnere ich mich kaum, außer jenen zwey Versen: Ein Hauptmann, den ein andrer erstach, Ließ mir ein paar gluͤckliche Wuͤrfel nach. Denn da ich gerne motivirt wissen wollte, wie der Bauer zu den falschen Wuͤrfeln gekommen, so schrieb ich diese Verse eigenhaͤndig in das Manuscript hinein. Schiller hatte daran nicht gedacht, sondern in seiner kuͤh¬ nen Art dem Bauer geradezu die Wuͤrfel gegeben, ohne viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein sorgfaͤltiges Motiviren war, wie ich schon gesagt, nicht seine Sache, woher denn auch die groͤßere Theater-Wirkung seiner Stuͤcke kommen mag.“ Sonntag den 29. May 1831. Goethe erzaͤhlte mir von einem Knaben, der sich uͤber einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhi¬ gen koͤnnen. „Es war mir nicht lieb, dieses zu bemerken, sagte er, denn es zeugt von einem zu zarten Gewissen, wel¬ ches das eigene moralische Selbst so hoch schaͤtzet, daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Thaͤtigkeit balancirt wird.“ Man hatte mir in diesen Tagen ein Nest junger Grasemuͤcken gebracht, nebst einem der Alten, den man in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern, wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr seine Jungen zu fuͤttern, sondern wie er sogar, aus dem Fenster frey gelassen, wieder zu den Jungen zuruͤck¬ kehrte. Eine solche, Gefahr und Gefangenschaft uͤber¬ windende, elterliche Liebe ruͤhrte mich innig, und ich aͤußerte mein Erstaunen daruͤber heute gegen Goethe. „Naͤrrischer Mensch! antwortete er mir laͤchelnd bedeu¬ tungsvoll, wenn Ihr an Gott glaubtet, so wuͤrdet Ihr Euch nicht verwundern.“ „Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So daß, was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt“ „Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem allmaͤch¬ tigen Trieb gegen seine Jungen, und ginge das Gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt wuͤrde nicht bestehen koͤnnen! — So aber ist die goͤtt¬ liche Kraft uͤberall verbreitet und die ewige Liebe uͤberall wirksam.“ Eine aͤhnliche Äußerung that Goethe vor einiger Zeit, als ihm von einem jungen Bildhauer das Modell von Myrons Kuh mit dem saͤugenden Kalbe gesendet wurde. „Hier, sagte er, haben wir einen Gegenstand der hoͤchsten Art; das, die Welt erhaltende, durch die ganze Natur gehende, ernaͤhrende Princip ist uns hier in einem schoͤnen Gleichniß vor Augen; dieses und aͤhn¬ liche Bilder nenne ich die wahren Symbole der All¬ gegenwart Gottes.“ Montag den 6. Juny 1831. Goethe zeigte mir heute den bisher noch fehlenden Anfang des fuͤnften Actes von Faust. Ich las bis zu der Stelle, wo die Huͤtte von Philemon und Baucis verbrannt ist, und Faust in der Nacht, auf dem Balkon seines Palastes stehend, den Rauch riecht, den ein leiser Wind ihm zuwehet. Die Namen Philemon und Baucis, sagte ich, ver¬ setzen mich an die phrygische Kuͤste, und lassen mich jenes beruͤhmten alterthuͤmlichen Paares gedenken; aber doch spielet unsere Scene in der neueren Zeit und in einer christlichen Landschaft. „Mein Philemon und Baucis, sagte Goethe, hat mit jenem beruͤhmten Paare des Alterthums und der sich daran knuͤpfenden Sage nichts zu thun. Ich gab meinem Paare bloß jene Namen, um die Charactere dadurch zu heben. Es sind aͤhnliche Personen und aͤhn¬ liche Verhaͤltnisse, und da wirken denn die aͤhnlichen Namen durchaus guͤnstig.“ Wir redeten sodann uͤber den Faust, den das Erb¬ theil seines Characters, die Unzufriedenheit, auch im Alter nicht verlassen hat, und den, bey allen Schaͤtzen der Welt, und in einem selbstgeschaffenen neuen Reiche, ein paar Linden, eine Huͤtte und ein Gloͤckchen genieren, die nicht sein sind. Er ist darin dem israelitischen Koͤ¬ nig Ahab nicht unaͤhnlich, der nichts zu besitzen waͤhnte, wenn er nicht auch den Weinberg Naboths haͤtte. „Der Faust, wie er im fuͤnften Act erscheint, sagte Goethe ferner, soll nach meiner Intention gerade hun¬ dert Jahr alt seyn, und, ich bin nicht gewiß, ob es II . 23 nicht etwa gut waͤre, dieses irgendwo ausdruͤcklich zu bemerken.“ Wir sprachen sodann uͤber den Schluß, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Boͤsen: Wer immer strebend sich bemuͤht, Den koͤnnen wir erloͤsen, Und hat an ihm die Liebe gar Von oben Theil genommen, Begegnet ihm die selige Schaar Mit herzlichem Willkommen „In diesen Versen, sagte er, ist der Schluͤssel zu Faust's Rettung enthalten. In Faust selber eine immer hoͤhere und reinere Thaͤtigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Huͤlfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religioͤsen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende goͤttliche Gnade.“ „Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich, bey so uͤbersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen haͤtte verlieren koͤnnen, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen, durch die scharf umrissenen christlich-kirch¬ lichen Figuren und Vorstellungen, eine wohlthaͤtig be¬ schraͤnkende Form und Festigkeit gegeben haͤtte.“ Den noch fehlenden vierten Act vollendete Goethe darauf in den naͤchsten Wochen, so daß im August der ganze zweyte Theil geheftet und vollkommen fertig da¬ lag. Dieses Ziel, wonach er so lange gestrebt, endlich erreicht zu haben, machte Goethe uͤberaus gluͤcklich. „Mein ferneres Leben, sagte er, kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im Grunde ganz einerley, ob und was ich noch etwa thue.“ Mittwoch, den 21. December 1831. Mit Goethe zu Tisch. Wir sprachen, woher es ge¬ kommen, daß seine Farbenlehre sich so wenig verbreitet habe. „Sie ist sehr schwer zu uͤberliefern, sagte er, denn sie will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studirt, sondern sie will gethan seyn, und das hat seine Schwierigkeit. Die Gesetze der Poesie und Malerey sind gleichfalls bis auf einen gewissen Grad mitzuthei¬ len, allein, um ein guter Poet und Maler zu seyn bedarf es Genie, das sich nicht uͤberliefern laͤßt. Ein einfaches Urphaͤnomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen productiven Geist, der Vieles zu uͤbersehen ver¬ mag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bey ganz vorzuͤglichen Naturen findet.“ 23* „Und auch damit ist es noch nicht gethan. Denn wie einer mit allen Regeln und allem Genie noch kein Maler ist, sondern wie eine unausgesetzte Übung hinzu kommen muß, so ist es auch bey der Farbenlehre nicht genug, daß einer die vorzuͤglichsten Gesetze kenne und den geeigneten Geist habe, sondern er muß sich immer¬ fort mit den einzelnen oft sehr geheimnißvollen Phaͤno¬ menen und ihrer Ableitung und Verknuͤpfung zu thun machen.“ „So wissen wir z. B. im Allgemeinen recht gut, daß die gruͤne Farbe durch eine Mischung des Gelben und Blauen entsteht; allein bis einer sagen kann, er begreife das Gruͤn des Regenbogens, oder das Gruͤn des Laubes, oder das Gruͤn des Meerwassers, dieses erfordert ein so allseitiges Durchschreiten des Farben¬ reiches und eine daraus entspringende solche Hoͤhe von Einsicht, zu welcher bis jetzt kaum jemand gelangt ist.“ Zum Nachtisch betrachteten wir darauf einige Land¬ schaften von Poussin . „Diejenigen Stellen, sagte Goethe bey dieser Gelegenheit, worauf der Maler das hoͤchste Licht fallen laͤßt, lassen kein Detail in der Aus¬ fuͤhrung zu; weßhalb denn Wasser, Felsstuͤcke, nackter Erdboden und Gebaͤude, fuͤr solche Traͤger des Haupt¬ lichtes die guͤnstigsten Gegenstaͤnde sind. Dinge dage¬ gen, die in der Zeichnung ein groͤßeres Detail erfordern, kann der Kuͤnstler nicht wohl an solchen Lichtstellen ge¬ brauchen.“ „Ein Landschaftsmaler, sagte Goethe ferner, muß viele Kenntnisse haben. Es ist nicht genug daß er Per¬ spective, Architektur und die Anatomie des Menschen und der Thiere verstehe, sondern er muß sogar auch einige Einsichten in die Botanik und Mineralogie be¬ sitzen. Erstere, damit er das Charakteristische der Baͤume und Pflanzen, und letztere, damit er den Character der verschiedenen Gebirgsarten gehoͤrig auszudruͤcken verstehe. Doch ist deßhalb nicht noͤthig, daß er ein Mineralog vom Fache sey, indem er es vorzuͤglich nur mit Kalk-, Thonschiefer- und Sandstein-Gebirgen zu thun hat, und er nur zu wissen braucht, in welchen Formen es liegt, wie es sich bey der Verwitterung spaltet, und welche Baumarten darauf gedeihen oder verkruͤppeln.“ Goethe zeigte mir sodann einige Landschaften von Hermann von Schwanefeld , wobey er uͤber die Kunst und Persoͤnlichkeit dieses vorzuͤglichen Menschen Verschiedenes aussprach. „Man findet bey ihm, sagte er, die Kunst als Nei¬ gung und die Neigung als Kunst, wie bey keinem an¬ dern. Er besitzt eine innige Liebe zur Natur und einen goͤttlichen Frieden, der sich uns mittheilt wenn wir seine Bilder betrachten. In den Niederlanden geboren, stu¬ dirte er in Rom unter Claude Lorrain, durch welchen Meister er sich auf das vollkommenste ausbildete und seine schoͤne Eigenthuͤmlichkeit auf das freyeste ent¬ wickelte.“ Wir schlugen darauf in einem Kuͤnstler-Lexicon nach, um zu sehen, was uͤber Hermann von Schwanefeld ge¬ sagt ward, wo man ihm denn vorwarf, daß er seinen Meister nicht erreicht habe. „Die Narren! sagte Goe¬ the, Schwanefeld war ein Anderer als Claude Lorrain, und dieser kann nicht sagen, daß er ein Besserer gewe¬ sen. Wenn man aber weiter nichts vom Leben haͤtte, als was unsere Biographen und Lexiconschreiber von uns sagen, so waͤre es ein schlechtes Metier, und uͤberall nicht der Muͤhe werth.“ Am Schlusse dieses und zu Anfange des naͤchsten Jahres wandte sich Goethe ganz wieder seinen Lieblings¬ studien, den Naturwissenschaften, zu, und beschaͤftigte sich theils, auf Anregung von Boisserée , mit fernerer Ergruͤndung der Gesetze des Regenbogens, so wie be¬ sonders auch, aus Theilnahme an dem Streit zwischen Cuvier und St . Hilaire , mit Gegenstaͤnden der Metamorphose der Pflanzen- und Thier-Welt. Auch redigirte er mit mir gemeinschaftlich den historischen Theil der Farbenlehre, so wie er auch an einem Capitel uͤber die Mischung der Farben innigen Antheil nahm, das ich auf seine Anregung, um in den theoretischen Band aufgenommen zu werden, bearbeitete. Es fehlte in dieser Zeit nicht an mannigfachen in¬ teressanten Unterhaltungen und geistreichen Äußerungen seinerseits. Allein, wie er in voͤlliger Kraft und Frische mir taͤglich vor Augen war, so dachte ich es wuͤrde im¬ mer so fortgehen, und war in Auffassung seiner Worte gleichguͤltiger als billig, bis es denn endlich zu spaͤt war, und ich am 22. Maͤrz 1832 mit Tausenden von edlen Deutschen seinen unersetzlichen Verlust zu bewei¬ nen hatte. Folgendes notirte ich nicht lange darauf aus der naͤchsten Erinnerung. Anfangs Maͤrz 1832. Goethe erzaͤhlte bey Tisch, daß der Baron Carl v. Spiegel ihn besucht, und daß er ihm uͤber die Maßen wohl gefallen. „Er ist ein sehr huͤbscher junger Mann, sagte Goethe; er hat in seiner Art, in seinem Benehmen ein Etwas, woran man sogleich den Edelmann erkennet. Seine Abkunft koͤnnte er eben so wenig verleugnen, als jemand einen hoͤheren Geist verleugnen koͤnnte. Denn Beydes, Geburt und Geist, geben dem, der sie einmal besitzet, ein Gepraͤge, das sich durch kein Incognito ver¬ bergen laͤßt. Es sind Gewalten wie die Schoͤnheit, de¬ nen man nicht nahe kommen kann, ohne zu empfinden, daß sie hoͤherer Art sind.“ Einige Tage spaͤter. Wir sprachen uͤber die tragische Schicksals-Idee der Griechen. „Dergleichen, sagte Goethe, ist unserer jetzigen Den¬ kungsweise nicht mehr gemaͤß, es ist veraltet, und uͤber¬ haupt mit unseren religioͤsen Vorstellungen in Wider¬ spruch. Verarbeitet ein moderner Poet solche fruͤhere Ideen zu einem Theaterstuͤck, so sieht es immer aus wie eine Art von Affectation. Es ist ein Anzug, der laͤngst aus der Mode gekommen ist, und der uns, gleich der roͤmischen Toga, nicht mehr zu Gesichte steht.“ „Wir Neueren sagen jetzt besser mit Napoleon: die Politik ist das Schicksal. Huͤten wir uns aber mit unseren neuesten Literatoren zu sagen, die Politik sey die Poesie , oder sie sey fuͤr den Poeten ein passender Gegenstand. Der englische Dichter Thomson schrieb ein sehr gutes Gedicht uͤber die Jahreszeiten, allein ein sehr schlechtes uͤber die Freyheit; und zwar nicht aus Man¬ gel an Poesie im Poeten, sondern aus Mangel an Poesie im Gegenstande.“ „So wie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partey hingeben; und so wie er dieses thut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freyen Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen, und da¬ gegen die Kappe der Bornirtheit und des blinden Hasses uͤber die Ohren ziehen.“ „Der Dichter wird als Mensch und Buͤrger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kraͤfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schoͤne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freyem Blick uͤber Laͤndern schwebt, und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er hinab¬ schießt, in Preußen oder in Sachsen laͤuft.“ „Und was heißt denn: sein Vaterland lieben, und was heißt denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslaͤnglich bemuͤht war, schaͤdliche Vorurtheile zu be¬ kaͤmpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklaͤren, dessen Geschmack zu reinigen, und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er denn da Besseres thun? und wie soll er denn da patriotischer wirken? — An einen Dichter so unge¬ hoͤrige und undankbare Anforderungen zu machen, waͤre eben so, als wenn man von einem Regiments-Chef ver¬ langen wolle: er muͤsse, um ein rechter Patriot zu seyn, sich in politische Neuerungen verflechten und daruͤber sei¬ nen naͤchsten Beruf vernachlaͤssigen. Das Vaterland II . 24 eines Regiments-Chefs aber ist sein Regiment , und er wird ein ganz vortrefflicher Patriot seyn, wenn er sich um politische Dinge gar nicht bemuͤht als so weit sie ihn angehen, und wenn er dagegen seinen ganzen Sinn und seine ganze Sorge auf die ihm untergebenen Bataillons richtet, und sie so gut einzuexerciren und in so guter Zucht und Ordnung zu erhalten sucht, daß sie, wenn das Vaterland einst in Gefahr kommt, als tuͤch¬ tige Leute ihren Mann stehen.“ „Ich hasse alle Pfuscherey wie die Suͤnde, besonders aber die Pfuscherey in Staatsangelegenheiten, woraus fuͤr Tausende und Millionen nichts als Unheil hervor¬ geht.“ „Sie wissen, ich bekuͤmmere mich im Ganzen wenig um das was uͤber mich geschrieben wird, aber es kommt mir doch zu Ohren, und ich weiß recht gut, daß, so sauer ich es mir auch mein Lebelang habe werden las¬ sen, all mein Wirken in den Augen gewisser Leute fuͤr nichts geachtet wird, eben weil ich verschmaͤht habe, mich in politische Parteyungen zu mengen. Um diesen Leuten recht zu seyn, haͤtte ich muͤssen Mitglied eines Jacobiner-Clubs werden und Mord und Blutvergießen predigen! — Doch kein Wort mehr uͤber diesen schlech¬ ten Gegenstand, damit ich nicht unvernuͤnftig werde, indem ich das Unvernuͤnftige bekaͤmpfe.“ Gleicherweise tadelte Goethe die von Anderen so sehr gepriesene politische Richtung in Uhland. „Geben Sie Acht, sagte er, der Politiker wird den Poeten aufzehren. Mitglied der Staͤnde seyn und in taͤglichen Reibungen und Aufregungen leben, ist keine Sache fuͤr die zarte Natur eines Dichters. Mit seinem Gesange wird es aus seyn, und das ist gewissermaßen zu bedauern. Schwaben besitzt Maͤnner genug, die hinlaͤnglich unter¬ richtet, wohlmeinend, tuͤchtig und beredt sind, um Mit¬ glied der Staͤnde zu seyn, aber es hat nur Einen Dich¬ ter der Art wie Uhland.“ Der letzte Fremde, den Goethe gastfreundlich bey sich bewirthete, war der aͤlteste Sohn der Frau von Arnim; das Letzte was er geschrieben, waren einige Verse in das Stammbuch des gedachten jungen Freundes. Am andern Morgen nach Goethe's Tode ergriff mich eine tiefe Sehnsucht, seine irdische Huͤlle noch einmal zu sehen. Sein treuer Diener Friedrich schloß mir das Zimmer auf, wo man ihn hingelegt hatte. Auf dem Ruͤcken ausgestreckt, ruhte er wie ein Schlafender; tiefer Friede und Festigkeit waltete auf den Zuͤgen seines erha¬ ben-edlen Gesichts. Die maͤchtige Stirn schien noch Ge¬ danken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer 24* Locke von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm abzuschneiden. Der Koͤrper lag nackend in ein weißes Betttuch gehuͤllet, große Eisstuͤcke hatte man in einiger Naͤhe umhergestellt, um ihn frisch zu erhalten so lange als moͤglich. Friedrich schlug das Tuch auseinander, und ich erstaunte uͤber die goͤttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust uͤberaus maͤchtig, breit und gewoͤlbt; Arme und Schenkel voll und sanft mus¬ kuloͤs; die Fuͤße zierlich und von der reinsten Form; und nirgends am ganzen Koͤrper eine Spur von Fettig¬ keit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schoͤnheit vor mir, und das Entzuͤcken, das ich daruͤber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Huͤlle verlassen. Ich legte meine Hand auf sein Herz, — es war uͤberall eine tiefe Stille, — und ich wendete mich abwaͤrts, um meinen verhaltenen Thraͤ¬ nen freyen Lauf zu lassen.